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"Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben"

2012
978-3-7720-5467-9
A. Francke Verlag 
Angelika Baier

Im vorliegenden Band werden erstmals deutschsprachige Rap-Texte aus dem 21. Jahrhundert einer eingehenden literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen.Geklärt werden soll, welchem Text-Genre sie anhören, welche unterschiedlichen medialen Dimensionen Einfluss auf die Bedeutungsproduktion von Rap-Texten haben, u.a. Zudem wird das Verhältnis zwischen Text und Künstler/in neu ausgelotet. Während Rap-Texte bisher meist als ,authentisches' Ausdrucksmittel eines dem Text vorgängigen, sprechenden selbst verstanden wurden, soll in den Analysendieses Bandes der Lektürefokus auf die Performativität von Rap-Texten gelegt werden. Herausgearbeitet wird, auf welche Weise die Texte mittels rhetorischer Strategien das selbst erst generieren.

K U L T U R - H E R R S C H A F T - D I F F E R E N Z 1 6 Angelika Baier „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap KULTUR - HERRSCHAFT - DIFFERENZ Herausgegeben von Moritz Csáky, Wolfgang Müller-Funk und Klaus R. Scherpe Band 16 · 2012 „Ich muss meinen Namen in den Himmel schreiben“ Narration und Selbstkonstitution im deutschsprachigen Rap von Angelika Baier Gefördert durch die Universität Wien Gefördert mit Unterstützung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: info@francke.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 1862-2518 ISBN 978-3-7720-8467-6 Umschlagabbildung: Sternstunde, suze/ photocase.com Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung ......................................................................................................... 7 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte ...................................................... 19 2.1 Liedtexte als Lyrik.......................................................................................... 20 2.2 Populärmusiktexte ........................................................................................ 24 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand.................................................. 29 2.4 Populärmusiktexte als Sänger/ Schauspieler .............................................. 37 3. Die Populärmusik des Raps ......................................................................... 41 3.1 Der historische Hintergrund des Black Noise ........................................... 41 3.2 The Global Nation ......................................................................................... 47 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops .......................................... 50 3.3.1 Der politisch korrekte Rap als Abgrenzung vom Party-Rap ................... 50 3.3.2 Der Gangsta-Rap: Hyper- oder Entpolitisierung? .................................... 53 3.3.3 Der kleinste gemeinsame Nenner (? ) ......................................................... 58 3.4 Frauen im Rap-Diskurs ................................................................................ 59 3.5 HipHop/ Rap und der Identitäts-Diskurs................................................... 65 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps................... 69 4.1 Rap und/ als Lyrik? ......................................................................................... 69 4.2 Das Medium I: Text und Musik .................................................................. 74 4.3 Das Medium II: Stimme und Schrift .......................................................... 77 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten...................................... 81 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik ........................................................................ 82 5.1.1 Idealistisch geprägte Ansätze ....................................................................... 82 5.1.2 Linguistische Ansätze ................................................................................... 86 5.1.3 Poststrukturalistische Ansätze..................................................................... 89 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen......................................... 91 5.2.1 Pop- und Rockmusik .................................................................................... 92 5.2.2 Rap................................................................................................................... 95 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text..................... 105 6.1 (Text-)Stimmen ........................................................................................... 106 6.2 Der Name und die Referenz ...................................................................... 111 Inhaltsverzeichnis 6 6.2.1 Der Name vor dem Rap-Text .................................................................... 117 6.2.2 Der Name im Text....................................................................................... 124 6.2.3 Selbstreferentialität im Text ....................................................................... 127 Exkurs: Albumspezifische Textsorten................................................................... 129 Die Titel (und Albumcover)................................................................................... 129 Die Intros .................................................................................................................. 148 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text ............................. 167 7.1 Zu Ricœurs Konzept der Dimensionen des Ich ...................................... 167 7.2 Textanalysen ................................................................................................ 174 7.2.1 Ich-Erzählungen .......................................................................................... 174 7.2.2 Rap über Rap................................................................................................ 209 7.2.3 Soziales/ Nachdenken .................................................................................. 245 7.2.4 Texte über die ‚Liebe‘ .................................................................................. 283 8. Das Ich (‚ich‘) im Text und die/ der RezipientIn ..................................... 317 9. Zusammenfassende Bemerkungen ........................................................... 321 Bibliographie ............................................................................................................ 333 A. Sekundärliteratur......................................................................................... 333 B. Internetadressen .......................................................................................... 344 C. Primärtexte / Diskographie / Siglenverzeichnis...................................... 345 1. Einleitung HipHop zählt zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu den weltweit erfolgreichsten Jugendkulturen. Rap als die bekannteste künstlerische Ausdrucksform der übergeordneten Jugendkulturpraxis ist trotz seiner mittlerweile 30-jährigen Geschichte nach wie vor in Hitparaden zu finden und stellt ein viel diskutiertes Thema der Medien dar: Homophobie, Sexismus und Gewaltverherrlichung sind in diesem Zusammenhang nur einige der Attribute, die Rap seit seinen Ursprüngen in den ‚schwarzen Ghettos‘ der New Yorker Bronx der ausgehenden 1970er Jahre immer wieder begleitet haben: „Willkommen in der Klärgrube musikalischer Jugendkultur! “ 1 Obgleich das Verhältnis zwischen Rap und vor allem den Printmedien immer auch ein gespanntes war, 2 so ist die globale Verbreitung der jugendkulturellen Praxis nicht ohne Medien zu denken. Seien es Filme, das Musikfernsehen, Tonträger, Werbekampagnen, Fan-Magazine, Internetforen oder auch Flyer, 3 nur über die Vermittlung durch Medien ist der kulturelle Transfer der Kulturtechniken des Raps ausgehend von der US-amerikanischen Mutterkultur in die Welt zu denken. Dieser kulturelle Transfer hat aber keine weltweit homogene musikalische Jugendkultur begründet, sondern zu lokalen Ausdifferenzierungen der global zirkulierenden Kunstformen geführt. Hip- Hop stellt nachgerade das Paradigma eines „global verbreitete[n] Geflecht[s] alltagskultureller Praktiken, die in sehr unterschiedlichen lokalen Kontexten produktiv angeeignet werden“ 4 , dar: Wie alle Popkulturen sind auch HipHop-Kulturen globalisierte Kulturen, insofern sie fast mühelos regionale und nationale Grenzen überspringen und wenig an spezifische Orte gebunden scheinen, obwohl sie freilich […] ihren Entstehungshintergrund in bestimmten Städten haben. Aber wie in keiner anderen Popkultur provoziert die Globalisierung des HipHop die Herausbildung differenter lokaler Popkulturen, die sich wiederum in und mit spezifischen urbanen Räumen entwickeln. Kulturelle Globalisierung bewirkt also nicht nur die Loslösung kultureller Praktiken von lokalen Orten. Vielmehr befördern Medien- und Kulturindustrien die Zirkulation von Produkten, Bildern und Symbolen und werden damit auch zum Anlass für die Bildung neuer lokaler 1 Martin Knobbe und Rainer Fromm: Die verlorene Unschuld. In: Der Stern 23/ 2005, S. 144-152, hier S. 145. 2 Vgl. Kap. 3, S. 41ff. in diesem Band. 3 Vgl. Jannis Androutsopoulos: HipHop und Sprache. Vertikale Intertextualität und die drei Sphären der Popkultur. In: ders. (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003b, S. 111-136, hier S. 122. 4 Jannis Androutsopoulos: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003a, S. 9-23, hier S. 11. 1. Einleitung 8 kultureller Praxisformen, mittels derer die global zirkulierenden Produkte in den kulturell disparaten Ausdrucks- und Lebensformen verankert werden. 5 Auf diese Weise hat sich Rap mit einer bereits 25-jährigen Geschichte im deutschsprachigen Raum unter Übernahme der in den USA entwickelten Kulturtechniken als Ausdrucksform der Jugendkultur HipHop etabliert. Lieder mit seitenlangen Texten ertönen aus dem Radio, aus dem MP3-Player, von Platten oder sind bei Live-Performances zu hören, wie z. B. dieser Anfang der ersten Strophe des Raps Goldjunge (Sido 2006): Weißt du noch, wie alles anfing / Damals als ich noch auf jede HipHop-Jam gerannt bin / Splash im Zelt auf’m Feld voll mit Kuhmist / Ich hab die ander’n rappen sehen und wusste, was zu tun ist / Rappen üben, ich wollt’ der Beste sein / Ich hatte Wissen, Flow und Talent und ich setzt’ es ein / Ich hab’ Tapes verkauft mit Royal Bunker [ein Plattenlabel, Anm. A. B.] / Und plötzlich war die Sekte [eine Gruppe von RapperInnen, Anm. A. B.] der Big Boss im Untergrund / Weißt du noch, als Specter mit dieser Idee kam / Und wir sofort das Geniale daran gesehen haben / Eine Plattenfirma mit Mut zum Risiko / Ein dicker Schwanz in eurem Arsch / Aggro Berlin [ein Plattenlabel, Anm. A. B.] und so […] (Si 20). In diesem Beispiel gibt es ein Ich, das eine ErzählerInnenhaltung einnimmt und mittels des „Weißt du noch,…“ eine Erzählgemeinschaft aufruft, sich an eine gemeinsam erlebte Vergangenheit zu erinnern. Erzählt wird in gereimten Versen vom Beginn einer Rap-Karriere in Zusammenhang mit dem Aufstieg des Berliner Platten-Labels Aggro Berlin, wobei das Ich seine eigene Rap- Karriere mit seinen Kontakten zu Plattenlabeln und der Möglichkeit, seine Kunst einem größeren Publikum zugänglich zu machen, parallelisiert. Das Ich verortet sich dergestalt auch innerhalb bestimmter lokaler wie temporaler Bezüge, denn „Erzählungen berichten davon, dass der Mensch handelnd in der Welt ist und dass er ein Wesen auf Zeit und in der Zeit ist […].“ 6 Rap schöpft seine Ursprünge aus afrikanischen Traditionen oralen Erzählens, welche auch mit Liedtraditionen verbunden sind, 7 also aus Erzählsituationen, in denen die/ der ErzählerIn in einer Erzählgemeinschaft anwesend ist und eine Geschichte als ‚Performance‘ preisgibt. Wiewohl Live-Performances konstitutiver Bestandteil der Rap-Kultur sind, 8 ist Rap als Kulturprodukt von 5 Gabriele Klein und Malte Friedrich: Is this real? Die Kultur des HipHop. Frankfurt am Main 2003, S. 85. 6 Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. New York/ Wien 2002, S. 19. 7 Vgl. David Toop: Rap Attack #3. African Jive bis Global HipHop. Dritte, erweiterte Auflage. Höfen 2000 [1992], S. 42. Für nähere Ausführungen siehe Kap. 4.3 in diesem Band. 8 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 154ff.; vgl. auch Stefanie Menrath: Represent what. Performativität von Identitäten im HipHop. Berlin 2001, S. 41ff. 1. Einleitung 9 seiner Verbreitung über Plattenlabel und die von diesen herausgegebenen Tonträger abhängig, d. h. um an ein breiteres Publikum zu gelangen, ist eine medienvermittelte (Massen-)Distribution notwendig. Obwohl auf Tonträgern nun eine ‚tatsächliche‘ menschliche Stimme zu hören ist, ist die Rezeptionssituation jener eines Buches ähnlich, „[w]er einer Geschichte zuhört, der ist in der Gesellschaft des Erzählers; […]. Der Leser eines Romans ist aber einsam.“ 9 Obgleich Musik auch auf Tonträger im Kollektiv rezipiert werden kann, ist die/ der KünstlerIn zum Zeitpunkt der Rezeption nicht anwesend. In diesem Sinne treffen im Rap in Hinsicht auf kulturelle Bezugsysteme zwei Extreme aufeinander, die zur zentralen Problemstellung der folgenden Überlegungen führen: Die oralen Wurzeln früher afrikanischer Erzählkulturen und die massenmediale, an direktem Kontakt zu den ErzählerInnen arme Kultur unserer technologischen Welt des 20. und 21. Jahrhunderts. Es wird also erzählt im Rap, in Live-Situationen, aber in noch viel größerem Ausmaß vermittelt über einen Tonträger. Und was für das Buch Gültigkeit beansprucht, trifft auch auf Rap-Alben zu: Mit der zunehmenden Abstraktion der Welt werden auch die kommunikativen Spielregeln, die dem Erzählen immer schon zugrunde liegen, unangreifbar und anonym. Aber noch in dem naiven Interesse des Lesers für die Biographie des Autors […] findet sich ein Nachhall jener Idee des Erzählens: dass es jemand geben muss, der für die Geschichte einsteht […]. Sichtbar ist Erzählen seriell geworden. 10 Naturgemäß spielt diese Serialität auch in der massenmedial verbreiteten Kultur des Raps eine Rolle, und die/ der ZuhörerIn mag sich fragen: Wer ist die Person, die hier erzählt? Wer steht für die Erzählung ein? Im Gegensatz zur Populärmusik im Allgemeinen stellt sich diese Frage in Bezug auf Rap seit Beginn seiner Entwicklung in umso größerem Ausmaße, als die Frage nach der/ m ErzählerIn im Rap mit der Frage nach deren/ dessen Legitimation in dieser Funktion gekoppelt wurde: Ja, jede/ r (mit und ohne Talent) kann sich prinzipiell die Kulturpraktiken des Raps aneignen, aber darf auch jede/ r? Wer macht richtigen, d. h. authentischen, Rap, oder wer ist fake, d. h. imitiert bloß ein Original? In den USA galten mit Verweis auf die afroamerikanischen Wurzeln der Kulturtechniken bald die VertreterInnen der dort ansässigen, sozial benachteiligten, afro-amerikanischen Minderheiten als TrägerInnen des authentischen HipHops, d. h. bald nach seinem Entstehen wurde HipHop als kulturelle Praxis trotz seiner durchaus hybriden Wurzeln essentialisiert und zum Sprachrohr der ‚schwarzen‘ Bevölkerung stilisiert. Im globalen Kontext wurde dieses Bild in den darauffolgenden Jahren dahingehend variiert, als es nur RapperInnen mit Migrationshintergrund sein konnten, die aufgrund ähnlicher Erfahrungen des sozialen Ausschlusses in der 9 Walter Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Siegfried Unseld. Frankfurt am Main 1955, S. 427. 10 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 24f. 1. Einleitung 10 Lage waren, ‚echten‘ Rap zu machen. 11 Zudem waren die Hauptrepräsentanten des HipHops vor allen Dingen männlich, während Frauen von Beginn an als Randerscheinung definiert wurden. Aufgrund dieser Tatsachen wurden dem HipHop und Rap als Stimme der sozialen Unterschicht jedoch sozialkritisches resp. politisch-widerständisches Potential zugeschrieben, was schließlich zu einem gesteigerten akademischen Interesse vor allem seitens der Cultural Studies, der Sozial- und der Medienwissenschaften wie auch in geringerem Ausmaß der Musikwissenschaften führte, die HipHop und Rap in seinen unterschiedlichen geographischen Kontexten zum Teil frenetisch feierten. 12 In vielen Untersuchungen stehen dabei insbesondere die Möglichkeiten der Aneignung des Diskurses des Hip- Hops seitens der RezipientInnen im Zentrum des Forschungsinteresses, wobei die Identifikation mit den Werten und Symbolwelten des HipHops integralen Bestandteil der Identität der RezipientInnen ausmacht. HipHop stellt diesen Analysen gemäß einen „Sozialkomplex“ dar, „in dem man sich mit Persönlichkeiten/ Identitäten verortet, die sich nicht einfach wieder ‚ausziehen‘ lassen.“ 13 HipHop wird als performative Kulturpraxis demnach mit Konzepten einer auf performative Weise konstituierten Identität in Verbindung gebracht. Trotz des anhaltenden Interesses der Sozialwissenschaften an den performativen Dimensionen der Identitätskonstitution und der Medien an der Skandalträchtigkeit der Texte fanden diese, welche zwar nach Dorsey „a critical part of rapper’s identity“ 14 ausmachen, in der Forschung bis dato wenig Beachtung; wurden die Texte zu Analysen herangezogen, dienten sie vielfach nur zur Erstellung von Listen der im Rap relevanten Themen. Den Textstruk- 11 In der Theorie wurde dieser Ursprungsmythos des HipHops als (rein) schwarzer Widerstandkultur kritisch betrachtet, vgl. Kap. 3.2, S. 49 in diesem Band. 12 Im englischsprachigen Raum seien hier u. a. die Arbeiten von Rose (1994, 2008), Potter (1995), Mitchell (1996), Frith (1992, 1996), Dorsey (2000), Dimitriadis (2004) oder El- Tayep (2011) genannt, während es im deutschsprachigen Kontext als zentrale Texte Karrer/ Kerkhoff (1995), Jacob (1993, 1995), Mikos (2000, 2003), Menrath (2001, 2003), Androutsopoulos (2003), Scholz (2004), Berns/ Schlobinski (2003), Klein/ Friedrich (2003), Kimminich (2003, 2004), Hörner/ Kautny (2009), Ismer (2009) oder in Bezug auf Frauen und HipHop Glowania/ Heil (1995), Jurasek (2003), Stegmüller (2004) oder Leibnitz (2007) zu nennen gilt. Auch Untersuchungen der Soziolinguistik sind verfügbar, welche die jugendkulturellen und umgangssprachlichen Besonderheiten des Hip- Hop-Jargons untersuchen, vgl. Androutsopoulos/ Scholz (2002), Auzanneau (2003). 13 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 67; vgl. dazu auch Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 197 oder Eva Kimminich: „Lost Elements“ im „MikroKosmos“. Identitätsbildungsstrategien in der Vorstadt- und Hip-Hop-Kultur. In: dies. (Hrsg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen. Frankfurt am Main/ Wien/ New York et al. 2003b, S. 45-88, hier S. 47. 14 Brian Dorsey: Spirituality, Sensuality, Literality. Blues, Jazz and Rap as Music and Poetry. Wien 2000, S. 200. 1. Einleitung 11 turen als solchen wurde in diesem Zusammenhang wenig Bedeutung beigemessen, da diese nach Meinung vieler Cultural Studies-VertreterInnen, welche Populärmusik als politische Praxis betrachten, ungeachtet ihrer ästhetischen wie stilistischen Struktur erst durch ihre Aneignung von Seiten der RezipientInnen ihre Relevanz offenbaren würden. 15 Die Vernachlässigung der Texte seitens der Literaturwissenschaft scheint indes in komplexen Ursachen begründet zu liegen. Zum einen hält das hartnäckige Diktum Adornos 16 bis in die Gegenwart seinen Einfluss, dem gemäß Populärmusiktexte standardisiertes, ästhetisch minderwertiges ‚formula writing‘ seien und Populärmusik generell nur dem Eskapismus einer homogenen, unmündigen und durchwegs passiven Masse diene. 17 Es gibt einzelne Abhandlungen, welche in Bezug auf Rap diesen Vorwürfen entgegen arbeiten wollen, wie u. a. Shusterman (1994), welcher in Bezug auf englischsprachigen Rap dessen ästhetische Qualitäten verteidigt. 18 Asquith (2005) analysiert (französischen) Rap als Poesie und Mittel der Sozialkritik und fasst RapperInnen als „Erben Rimbauds“ 19 auf. Verlans (2003a und b) Fokus hingegen liegt nur scheinbar auf dem Versuch, (deutschen) Rap als ‚schöne Kunst‘ 20 zu betrachten, da Verlan Rap im Gegensatz zu Asquith der klassischen, literarischen Tradition enthebt („Die Rapper kennen ihre vermeintlichen Vorbilder nicht“ 21 ) und die Gleichsetzung von Lyrics (engl. Ausdruck für Liedtexte) und Lyrik als „babylonische Sprachverwirrung“ 22 bezeichnet. 15 John Fiske: Lesarten des Populären. Hrsg. von Christina Lutter und Markus Reisenleitner. Wien 2000 [1989], S. 19. 16 Vgl. Sascha Verlan: HipHop als schöne Kunst betrachtet - oder: die kulturellen Wurzeln des Rap. In: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003b, S. 138-146, hier S. 144. 17 Vgl. Theodor W. Adorno: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt am Main 1962, S. 37ff. 18 In Bezug auf die ästhetische Qualität von Populärmusiktexten ist Shusterman zuzustimmen, welcher konstatiert: „Wenn ich populäre Kunst […] verteidige, dann versuche ich nicht, sie vollständig reinzuwaschen. Ich gebe zu, dass die Produkte der populären Kunst oft ästhetisch erbärmlich und bedauernswert wenig ansprechend sind […]. Was ich allerdings bestreiten werde, sind die philosophischen Argumente, die darauf hinauslaufen, dass die populäre Kunst immer und notwendig ein ästhetischer Fehlschlag, ihrem Wesen nach minderwertig und unangemessen ist […]“ (in: Richard Shusterman: Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Frankfurt am Main 1994 [1992], S. 120). 19 Nicole Valérie Asquith: Poetry as Social Practice: Rimbaud, Graffiti, Rap. Dissertation: Baltimore/ Maryland 2005, S. 3. 20 Vgl. dazu Sascha Verlans Buchbeitrag „schlaue beats und schlaue Sätze. HipHop als schöne Kunst betrachtet“ in: Sascha Verlan und Hannes Loh: 25 Jahre HipHop in Deutschland. Höfen 2006, S. 270-273. Vgl. auch Verlan, HipHop als schöne Kunst betrachtet (Anm. 16), S. 138-146. 21 Verlan, HipHop als schöne Kunst betrachtet (Anm. 16), S. 145. 22 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 271. 1. Einleitung 12 In dem Umstand, dass PopulärmusikerInnen nicht demselben kulturellen Feld (im Sinne Bourdieus) 23 wie Kunstschaffende einer vermeintlich legitimen Kultur 24 angehören, dürfte ein weiterer wichtiger Grund dafür liegen, dass viele LiteraturwissenschafterInnen sich nicht an die Analyse von Populärmusiktexten wagten, schließlich haben, wie oben ausgeführt, Populärmusiktexte ein spezifisches kulturelles Umfeld, in dem sie funktionieren. Burdorf merkt an, Populärmusiktexte würden bis heute von der Literaturwissenschaft vernachlässigt, „vermutlich aus Unsicherheit gegenüber dem komplexen Phänomen der musikalischen Subkulturen, dem man nur in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Musikwissenschaft und Jugendsoziologie gerecht werden könnte.“ 25 Wenn auch die Literaturwissenschaft dem komplexen Phänomen der Populärmusik kaum gerecht werden kann, so wird sich im Folgenden zeigen, dass die Methoden einer kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft hilfreich sein können, bestimmte Aspekte der Populärmusik besser zu verstehen. Dergestalt soll es Ziel der folgenden Ausführungen sein, literaturwie auch kulturwissenschaftliche Ansätze für eine Untersuchung von bestimmten Fragestellungen in Bezug auf Rap-Texte fruchtbar zu machen. Denn mit den oben aufgeworfenen Fragen nach der Authentizität, der Legitimation und damit einhergehend dem Einstehen für eine Geschichte ist von Beginn der Rap-Geschichte an die Biographie der RapperInnen als Vergleichswert zu ihren Texten in den Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit geraten. Um dem Problem der vermeintlichen ‚Authentizität‘ der Texte auf den Grund zu gehen, kreisen zahllose, szene-interne Diskussionen, viele Medienartikel und wissenschaftliche Analysen immer wieder um die Frage, in welchem Verhältnis das (private) Leben der KünstlerInnen und die jeweiligen Textinhalte stehen. Sind Raps Inszenierungen, wie in der Populärmusik üblich, oder ‚Autobiophonographien‘? Und wie kann man das überprüfen? Oder - ist das überhaupt Sinn der Sache? Dass es sich bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen einem Text und seiner/ m AutorIn um ein traditionelles Problemfeld der Literaturwissenschaft handelt, ist evident, wenn man z. B. Fragen nach dem Subjekt der Autobiographie oder nach dem lyrischen Ich eines Gedichtes ins Auge fasst. Aufgrund der Tatsache, dass sich bisweilen hauptsächlich die Sozialwissenschaften und Cultural Studies mit Rap-Texten beschäftigten, begnügte man sich in den akademischen Arbeiten zur Frage nach dem Ich in Rap-Texten mit relativ 23 Zum Begriff des ‚Feldes‘ bei Bourdieu vgl. Pierre Bourdieu und Loïc J.D. Wacquant: Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main 1996, S. 127. Siehe auch Anm. 301, S. 70 in diesem Band. 24 Der Ausdruck der ‚legitimen Kultur‘ (verdinglicht, hierarchisch, intellektuell) stammt von Grossberg, vgl. Lawrence Grossberg: What's going on? Cultural Studies und Popularkultur. Mit einem Nachwort von Roman Horak. Wien 2000, S. 52. 25 Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. 2., überarbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar 1997, S. 27. 1. Einleitung 13 einfachen Antworten. So führt z. B. Stegmüller (2004) aus, dass „[d]ie Texte der Rapperinnen sich oft um sie selbst [drehen]. Sie sind Ausdruck persönlicher Probleme und Anliegen. Es geht um Dinge, die sie bewegen oder die sie stören, die sie einfach einem Publikum näher bringen wollen.“ 26 Gänzlich undifferenziert wird in dieser Aussage - sowie in unzähligen anderen Analysen wie u. a. bei Hüser (2004), Androutsopoulos/ Scholz (2002), Berns/ Schlobinski (2003) oder El-Tayep (2011) - das Ich in den Texten mit den KünstlerInnen als Privatpersonen gleichgesetzt und die dargebotenen Texte als mehr oder wenig künstlerisch verfremdet autobiographisch oder zumindest in Bezug auf die eigenen Erfahrungen als aufrichtig gelesen. Indem eine dergestalt verstandene Authentizität oder Aufrichtigkeit aber als Kategorien nur dann Relevanz erlangen, wenn das Privatleben der KünstlerInnen als Referenzobjekt dient, zeigt sich die Wichtigkeit einer Herangehensweise mit literaturtheoretischen Ansätzen, in welchen spätestens seit Einzug des Poststrukturalismus einfache Referenzbeziehungen zwischen Text und AutorIn verabschiedet worden sind. 27 Dies trifft umso mehr zu als mit de Man davon auszugehen ist, dass eine konstatierte Referenzbeziehung zwischen Text und AutorIn nichts anderes heißt, als dass jedes Buch [und somit jeder Text, Anm. A. B.] mit einem lesbaren Titelblatt [und auch Albumcover oder einfach mit einem Namen, unter dem er publiziert wurde, Anm. A. B.] in gewisser Weise autobiographisch ist. Wenn wir aber aus diesem Grund behaupten wollen, alle Texte seien autobiographisch, dann müssen wir aufgrund desselben Merkmals auch sagen, kein Text sei autobiographisch. 28 Wenn u. a. Klein und Friedrich immer wieder die Wichtigkeit der Performativität innerhalb der HipHop-Kultur hervorheben, so stellt es Prämisse des folgenden Bandes dar, diese performative Dimension auch in Bezug auf Rap- Texte ernst zu nehmen und es gilt, rhetorische Strategien innerhalb der (Para-)Texte ausfindig zu machen, welche eine Beziehung zwischen den Texten 26 Claudia Stegmüller: ‚Weibliche‘ Identität im HipHop. Mediale Repräsentation vs. Selbstbild. Eine empirische Studie mit Rapperinnen aus Österreich. Diplomarbeit: Wien 2004, S. 135. 27 Bossinade führt zu Subjekt und Poststrukturalismus aus: „Wie im Poststrukturalismus über Subjekt und Autorschaft gedacht wird, ist wesentlich durch die Kritik am repräsentationslogischen Modell von Sprache und Zeichen bestimmt. Das Subjekt wird in den Artikulationszusammenhang zurückgestellt, dessen generative Kraft im Verlauf der abendländischen Geschichte verdrängt worden sei. Kein Subjekt verfügt so über die Sprache, dass es sie lediglich in einen Text umzusetzen brauchte, um diesen als nachträgliches Produkt seiner Kunstanstrengung ausweisen zu können. Den Zeichen, die es verwendet, ist es von Grund auf unterworfen“ (in: Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie. Stuttgart/ Weimar 2000, S. 137). 28 Paul de Man: Autobiographie als Maskenspiel. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main 1993b [1984], S. 131-146, hier S. 134. 1. Einleitung 14 und dem so genannten Ich vor dem Text (dem Namen der/ s Künstlerin/ s sozusagen) herstellen. Dabei soll im Unterschied zu sozialwissenschaftlichen Analysemethoden nicht von der/ vom KünstlerIn (und der Frage, wie diese/ r sich mittels performativer Praktiken setzt) ausgegangen werden, sondern vom Kunstprodukt, indem es unter Verweis auf die performativen wie repräsentativen Funktionen von Sprache im Allgemeinen zu untersuchen gilt, auf welche Weise die/ der KünstlerIn Produkt ihres/ seines künstlerischen Erzeugnisses darstellt: Ziel dieser Ausführungen soll also die Analyse der AutorInnen- Funktion im Rap sein, „als ein Prozess der Subjektivierung, durch den ein Individuum als Autor eines bestimmten corpus von Texten identifiziert und konstituiert wird.“ 29 Da die/ der KünstlerIn im Werk nur in ihrer/ seiner Abwesenheit präsent ist, gilt es jenen Strukturen nachzuforschen, welche als performative Gesten die KünstlerInnen anwesend erscheinen lassen. Nachgegangen werden soll dieser Fragestellung an einem ausgewählten Textcorpus an deutschsprachigen Rap-Texten. Mit dem Hinweis darauf, dass HipHop zu den populärsten Jugendkulturen der heutigen Zeit gehört, wird bereits angezeigt, dass das potentielle Textcorpus tausende Texte umfasst. Auch im deutschsprachigen Raum wurden bis ins Jahr 2012 unzählige Rap- Alben veröffentlicht. 30 Es stellt sich als ein unmögliches Unterfangen dar, qualitativ und dennoch repräsentativ zu arbeiten. Um dessen ungeachtet einen Einblick in die Funktionsweise von Rap- Texten (und Rapalben) im 21. Jahrhundert geben zu können, wurden vier KünstlerInnen ausgewählt, von denen zwei weiblich (Fiva, Pyranja) und zwei männlich (Sido, Manges) sind. Diese vier KünstlerInnen haben im Zeitraum 2002-2006 mindestens zwei Alben (resp. EPs) veröffentlicht, wobei in diesen Ausführungen jeweils das Debütalbum und die Letztveröffentlichung (Stand 2006) den Textpool zur Verfügung stellen. Da alle gewählten KünstlerInnen zur selben Zeit ihre Tätigkeit als RapperInnen aufgenommen haben, kann eine gewisse Vergleichbarkeit in Bezug auf das historische Umfeld der KünstlerInnen gewährleistet werden. Dass die Wahl gerade auf diesen Zeitraum fiel, erklärt sich aus der Tatsache, dass sich nach der Jahrtausendwende in der deutschsprachigen Rap-Szene große Veränderungen ergeben hatten. Der neue Gangsta-Rap Berliner Provenienz konnte plötzlich sehr großen kommerziellen Erfolg für sich verbuchen, was der Rap-Szene insgesamt erhöhtes (mediales) Interesse entgegenbrachte. Dies legt die Vermutung nahe, dass der Erfolg einzelner RapperInnen dazu führte, dass sich im Laufe der ersten Jahre des neuen Jahrtausends das gesamte Feld neu zu positionieren hatte. Auf 29 Giorgio Agamben: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005, S. 60 (Markierung im Original enthalten). 30 Verlan und Loh listen in ihrer HipHop-Geschichte die ersten 200, in Deutschland veröffentlichten HipHop-Alben auf, welche im Zeitraum von 1986 bis 1997 erschienen sind (vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Anm. 20, S. 423ff.). Seither dürfte die Zahl der Veröffentlichungen allerdings noch einmal sprunghaft angestiegen sein. 1. Einleitung 15 diese Weise kann mittels einer Analyse von Texten, die in diesem Zeitraum veröffentlicht wurden, auch ein zentraler Teil der rezenten deutschsprachigen Rap-Geschichte erstmals in einer wissenschaftlichen Untersuchung dokumentiert werden. Die vier gewählten KünstlerInnen nehmen indes unterschiedliche Positionen im Feld der Rap-Szene ein: Während Fiva, Pyranja sowie Manges eher dem Rap-Underground angehör(t)en, zählt Sido als ein Vertreter der Berliner Gangsta-Rap-Szene zu den größten Rap-Stars im deutschsprachigen Raum, welcher auf hunderttausende verkaufte Platten sowie zahlreiche Fernseh- und Showauftritte zurückblicken kann. Sein Debütalbum Maske X veröffentlichte der Berliner 2004. Der griechisch-stämmige Manges zählte hingegen eher zu den lokalen Größen in Darmstadt. Der Qualität seines Debütalbums Regenzeit in der Wüste (2003) wegen wurde er als intellektueller „Geheimtipp[…]“ 31 gehandelt; mittlerweile hat der Rapper allerdings seine Karriere bzw. das „Projekt Manges beendet.“ 32 Dass er trotzdem in diese Untersuchung aufgenommen wurde, erklärt sich aus der Tatsache, dass er zum einen zum gegebenen Zeitpunkt Teil der Rap-Szene darstellte. Zum anderen zählen seine Texte zu den außergewöhnlichsten Raps, die in diesem Zeitraum veröffentlicht wurden. Die beiden weiblichen Rapperinnen, Fiva MC aus München sowie Pyranja aus Rostock, können sowohl auf jeweils mehrere Tonträger- Veröffentlichungen, Radio- und Poetry-Slam-Tätigkeit als auch auf die Etablierung eigener Labels zurückblicken. Sie sind in der Öffentlichkeit durchaus sichtbar, wenngleich eher für eine HipHop-interessierte Community denn für eine breitere Öffentlichkeit. Während Fiva ihr Debüt Spiegelschrift 2002 veröffentlichte, gelangte Pyranjas Debüt Wurzeln und Flügel 2003 an die Öffentlichkeit. In Bezug auf die weiblichen Künstlerinnen ist zu sagen, dass es sich bei den beiden Gewählten um die einzigen handelt, die - meinen Recherchen zufolge - im deutschsprachigen Raum den oben genannten Kriterien entsprechen. Auf diese Weise wird deutlich, dass meine Auswahl zweier ‚Paare‘ keinem statistischen Verhältnis entspricht, was die geschlechterspezifischen Veröffentlichungszahlen im deutschsprachigen Rap betrifft. Sinn dieser verzerrenden Auswahl ist es, die im Rap sehr oft anzutreffende Marginalisierung des ‚weiblichen‘ Beitrages von Rap nicht weiterzuführen. Bei den männlichen Künstlern hingegen sollte die Wahl eines kommerziell sehr erfolgreichen Künstlers (Sido), bekannt für sein „unappetitliche[s] Werk“ 33 , und eines als ‚intellektuellen Geheimtipps‘ (Manges) gehandelten Künstlers aus der Viel- 31 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 415. 32 Vgl. dazu den Kommentar auf der myspace-Seite von Manges: URL: http: / / www.myspace.com/ madingermany (Stand: 31.12. 2011). 33 Michael Braun, Triumph der Maulhelden. Gewalt-Tabu von Smudo zu Sido. In: Freitag 47 vom 25.11. 2005, URL: http: / / www.freitag.de/ 2005/ 47/ 05471101.php (Stand: 31.12. 2011). 1. Einleitung 16 zahl möglicher Kandidaten die Weite des Spektrums innerhalb der deutschsprachigen Rap-Produktion sichtbar machen. Da der Textpool der acht zur Verfügung stehenden Alben immer noch ca. 160 Texte umfasst, wurde nach vier Themengebieten geordnet je ein Text pro KünstlerIn gewählt. Die vier Themenbereiche gehören laut Studien zu den im Rap besonders prominent vertretenen (Ich-Erzählungen / Sozialkritisches / Geschlechterbeziehungen-Liebe / Rap über Rap). Als Textbasis dient für die Analyse zunächst die geschriebene Fassung der Texte in den Booklets der Tonträger. Bei sechs von den acht gewählten Alben sind die Texte im Booklet (zumindest teilweise) angefügt. Wenn es Unterschiede zwischen den schriftlichen und mündlichen Versionen auf den Tonträgern zu konstatieren gab, wurde den mündlichen der Vorzug gegeben. Da bei zwei Alben (Sidos Alben Maske X und Ich) keine Texte angefügt sind, diente die verschriftlichte Fassung aus Internetforen als Basis, die von mir Korrekturen und Ergänzungen erfuhr. Hinsichtlich einer Vereinheitlichung des Textmaterials wurde im Analyseteil (Kap. 7.2) eine Anpassung aller Texte an die allgemeinen Regeln der Orthographie der deutschen Sprache (Stand 2012) vorgenommen. Bei Textanalysen von Teilabschnitten von Raps im allgemeinen Teil wurde die Orthographie des Quellentextes beibehalten. Kapitelübersicht Im Anschluss an die einleitenden Worte in Kap. 1 soll in Kap. 2 zunächst der Frage nachgegangen werden, um welche Textsorte es sich bei Populärmusiktexten handelt. Gehören sie zur Lyrik? Welche Rolle spielt dabei das Verhältnis von Musik und Text? Desweiteren gilt es zu untersuchen, in welchem theoretischen Umfeld Populärmusiktexte bisher Untersuchungsgegenstand darstellten. Dabei soll insbesondere auf die Einschätzungen der Frankfurter Schule (Kap. 2.2) sowie der Cultural Studies (Kap. 2.3) eingegangen werden. Schließlich wird am Ende des Kapitels (Kap. 2.4) der Fokus auf eine alternative Zugangsmöglichkeit zu Populärmusiktexten gelegt. Kap. 3 hat zum Ziel, die Jugendkultur des HipHops genauer vorzustellen. Dabei heißt es auf die Entstehungshintergründe sowie auch auf weitere Entwicklungen unterschiedlicher Richtungen des HipHops einzugehen. Im Auge zu behalten sind sowohl die Entwicklungen in den USA wie auch jene in Deutschland. Es gilt herauszuarbeiten, welchen Stellenwert das Konzept der ‚Authentizität‘ in der jugendkulturellen Praxis hatte und immer noch innehat. Schließlich soll näher auf das Verhältnis von Frauen und Rap (Kap. 3.4) eingegangen werden, bevor die Rolle von Rap und HipHop in der Ausbildung einer Identitätsposition der KünstlerInnen einer Analyse unterzogen wird (Kap. 3.5). Kap. 4 kombiniert die Fragestellungen der beiden vorangegangenen: Zunächst stehen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Rap-Texten und 1. Einleitung 17 ‚klassischer‘ Lyrik im Zentrum der Aufmerksamkeit. Danach gilt es, mediale Fragestellungen zu behandeln: Welches Verhältnis gehen bei Rap-Texten der Text und die Musik ein? Was steht im Vordergrund? Welche Rolle spielt dabei die mündliche Performance und welche die schriftliche Textfassung? Im folgenden fünften Kapitel sollen die Grundlagen der zentralen Fragestellung dieser Untersuchung vorgestellt werden. Wenn im Rap das Konzept der ‚Authentizität‘ von großer Bedeutung ist, wer ist das Ich im Text? Zunächst heißt es dazu auf Konzepte des ‚lyrischen Ich‘ in Bezug auf die moderne Lyrik einzugehen. Danach sollen bereits vorliegende Beurteilungen seitens der Wissenschaft und der KünstlerInnen bezüglich der Rolle des Ich in Rap- Texten dargestellt werden. Diese Positionen gelten als Ausgangspunkt für meine weiteren Untersuchungen zur Rolle des Ich im Rap-Text. Kap. 6 und 7 führen die Positionen meiner Analysen genauer aus. In Kap. 6 steht dabei das ‚Ich vor dem Text‘ im Vordergrund. Eine (Text-)Stimme verweist auf ein dahinter liegendes Subjekt. Es gilt also zu untersuchen, welche rhetorischen Strategien in Rap-Texten Anwendung finden, um eine referentielle Beziehung zwischen Text und Ich vor dem Text (als Name einer/ s Künstlerin/ s) zu etablieren. In Kap. 7 hingegen wird der Fokus auf das ‚Ich im Text‘ gelegt: Paul Ricœurs Konzept der narrativen Identität (2005), in welchem verschiedene Dimensionen des Ich vorgestellt werden, gilt dabei als theoretische Basis für die Untersuchung der ausgewählten Texte. In Kap. 8 sollen kurze Überlegungen zu möglichen Beziehungen zwischen dem ‚ich‘ im Text als Leerdeixis und den RezipientInnen durchgeführt werden, bevor schließlich die Ergebnisse der vorliegenden Analysen in Kap. 9 zusammengefasst werden. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte „Wer liest heute schon noch freiwillig Gedichte? […]. Lyrik lesen? Viel zu langweilig. Von wegen: Lyrik lebt und ist allgegenwärtig, nur ihre Form hat sich verändert. Denn die Poesie von heute bestimmen nicht die Dichter, sondern die Songtexter. Wer kann nicht aus dem Stegreif mindestens ein Dutzend Refrains singen? Oder zumindest aufsagen? Jetzt noch schwarz auf weiß abgedruckt, und schon werden die Pop-Poeten zu Dichtern, und die Dichter zu Pop-Poeten […].“ 34 In diesen einführenden Worten zu der von ihm herausgegebenen Text- Sammlung Explicit Lyrics - Songtexte und Gedichte stellt der Journalist und Autor Ralf Schweikart zunächst die im Band präsentierten Populärmusiktexte des ausgehenden 20. Jahrhunderts als moderne Form der Lyrik dar. An späterer Stelle seiner Einleitung jedoch streicht er heraus, in seinem Band die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Textsorten suchen zu wollen, die der/ m LeserIn wohl nicht sofort ins Auge zu fallen scheinen. 35 In der Gegenüberstellung sollten sich beide Textsorten gegenseitig erhellen, kommentieren oder konterkarieren, so das Ziel des Bandes und seines Herausgebers. 36 Sind Texte von Populärmusik des 20. und 21. Jahrhunderts also (keine) Lyrik? Im englischsprachigen Raum steht der Begriff Lyrics zunächst für beides: Gedichte und Liedtexte, während es im Deutschen zwei Begriffe gibt. Liegt der Unterschied also, wie das obige Zitat von Schweikart suggeriert, im Bereich des verwendeten Mediums der gesprochenen resp. gesungenen Sprache oder der Schrift? Ist es dann legitim, wie Schweikart in seinem Band das Medium zu wechseln? Oder zeigt sich, dass Liedtexte und Gedichte nur die Spektren innerhalb eines Genres abstecken, wenn Liedtexte schriftlich, also „schwarz auf weiß abgedruckt“, vorliegen? Oder legt Schweikart nahe, dass Liedtexte erst in verschriftlichter Form als Gedichte und somit in ihrer ‚eigentlichen‘ Qualität wahrgenommen werden können? Immerhin bedient sich Schweikart mit der Wendung Explicit Lyrics einer üblicherweise auf Tonträgern von aktueller Populärmusik angebrachten Warnung an die potentiellen KonsumentInnen vor etwaigen anstößigen Liedtexten. Sollte Schweikarts Textband implizit das Ziel haben, Liedtexte dem Vorwurf der Banalität zu entreißen und sie mit der Aura der Poesie zu umgeben, wie dies in seinen Worten mitschwingt, dass „Pop-Poeten zu Dichtern“ 34 Ralf Schweikart: Intro. In: ders. (Hrsg.): Explicit Lyrics. Songtexte und Gedichte. Ausgewählt von Cappuccino, Cora E., Moses Pelham, Schiffmeister und Smudo. Reinbek bei Hamburg 2 2000b, S. 11-12, hier S. 11. 35 Vgl. ebenda, S. 11. 36 Vgl. ebenda, S. 12. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 20 und umgekehrt werden sollten? Liegt der Unterschied also weniger im Medium als in der Qualität der Texte? Indem im Folgenden eine Antwort auf diese Fragen gesucht werden soll, gilt es zu untersuchen, mit welchem Textphänomen wir es eigentlich zu tun haben, wenn wir von Liedtexten resp. von Populärmusiktexten sprechen resp. von welcher theoretischen Seite Populärmusiktexte bereits Gegenstände der Forschung darstellten. 2.1 Liedtexte als Lyrik Zunächst ist gerade die eindeutige mediale Zuordnung von Schriftlichkeit zu Gedicht und Mündlichkeit resp. Sangbarkeit zu Lied, die aus Schweikarts Einleitung hervorgeht, nicht aufrechtzuerhalten, denn „das Lied“, so Burdorf, der singende, oft mit Musik begleitete Vortrag, ist die älteste Form der Lyrik, ja aller Dichtung überhaupt: Damit der dichterische Text sich dem musikalischen Rhythmus anpasste und sich dem Gedächtnis der Singenden wie der Zuhörenden besser einprägte als die Prosa, wurde er in Versen verfasst und erhielt eine musiknahe Rhythmik und Metrik. 37 Bis ins 20. Jahrhundert gelten in manchen Theoriewerken zur Lyrik die Verbindung zur Musik und die Sangbarkeit als die wichtigsten Kennzeichen der Lyrik. 38 So spricht z. B. Gelfert in seinem Band Wie interpretiert man ein Gedicht? davon, dass [a]uf dem Gebiet der lautlichen Ausdrucksmittel die Lyrik viel mit der Musik gemein [hat]. Wie diese kennt sie Rhythmus, Klangfarbe und Melodie. Nur die Harmonik ist ihr verschlossen, da Sprachlaute Geräusche und keine reinen Töne sind […]. 39 Horn wiederum geht in seiner Theorie der literarischen Gattungen von 1998 von einer „besondere[n] Affinität“ zwischen Musik und Lyrik aus, da doch beide tendenziell gefühlsbetont, expressiv, von Seele zu Seele sprechend [sind]. Daher die Dominanz des Musikalischen in lyrischer Sprache heute noch, […] konkret die wichtige Rolle, die Klang und Rhythmus in ihr spielen. 40 Schenk führt diese anhaltende, paradigmatische Verbindung von Lyrik zur gesprochenen Sprache und darüber hinaus zur Musik auf den besonderen 37 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 22f. 38 Vgl. ebenda, S. 23. 39 Hans-Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Gedicht? Für die Sekundarstufe. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1994, S. 24. 40 András Horn: Theorie der literarischen Gattungen. Ein Handbuch für Studierende der Literaturwissenschaft. Würzburg 1998, S. 19. 2.1 Liedtexte als Lyrik 21 Einfluss von Hegels Vorlesungen zur Ästhetik zurück. 41 Denn laut Hegel ist „die Poesie […] ihrem Begriffe nach wesentlich tönend, und dies Erklingen darf ihr, wenn sie vollständig als Kunst heraustreten soll, um so weniger fehlen, als es ihre einzige Seite ist, nach welcher sie mit der äußeren Existenz in realen Zusammenhang kommt.“ 42 Hegel fordert daher „eine entschiedene Äußerlichkeit“ des Vortrages von Poesie, um von der/ vom DichterIn ausgehend „denselben Zustand des Gemüts, die ähnliche Richtung der Reflexion im Zuhörer zu erregen.“ 43 Dies glückt nach Hegel umso besser, wenn der Vortrag von Lyrik mit Musik kombiniert wird: Weil er [der Vortrag, Anm. A. B.] innerlicher bleibt, muss er äußerlich erregender werden. Diese sinnliche Erregung aber des Gemüts vermag nur die Musik hervorzubringen. So finden wir denn auch in Rücksicht auf äußere Exekution die lyrische Poesie durchgängig fast in der Begleitung der Musik. 44 Im Laufe des 20. Jahrhunderts geht allerdings die Interpretation des Gedichts als naheverwandter Textform des Liedes bei den LyriktheoretikerInnen zunehmend zurück - ohne, wie wir gesehen haben, zu verschwinden. Es bleibt aber zunächst die Auffassung, die gesprochene Sprache sei das Medium der Lyrik. So führt Kayser in seiner Geschichte des deutschen Verses von 1960 aus: Der Vers will gehört werden. Ursprünglich war ja unser Gegenstand nichts Gedrucktes und garnicht [sic! ] zur optischen Aufnahme bestimmt. Mittelalterliche Gedichte z. B. sind optisch nicht als Verse geschrieben, und manches optisch - also im Druckbild - als Vers Geschriebene ist wohlmöglich garkein [sic! ] Vers. Das Druckbild ist erst eine spätere optische Anweisung für ein ursprünglich akustisches Phänomen. 45 Auch Zumthor (1990) geht davon aus, dass das „Begehren nach der lebendigen Stimme jeder Dichtung inne[wohnt], die in der Schrift im Exil ist.“ 46 Schenk hingegen moniert, dass seit Hegel „Aspekte der Schriftlichkeit lyrischer Texte hinter die Dominanz ihrer lautlichen Gestaltung zurücktreten [mussten].“ 47 Die Schrift spiele die Rolle eines „verdeckten Mediums“ 48 , das nicht wahrgenommen werde, sobald es gelte, den toten Buchstaben in Form des lauten Vortrages wieder Leben einzuhauchen: „Bei der Lektüre bzw. im 41 Vgl. Klaus Schenk: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift. Stuttgart/ Weimar 2000, S. 13ff. 42 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Dritter Teil, XV 320, zitiert nach Schenk, Medienpoesie (Anm. 41), S. 15. 43 Hegel: Ästhetik. Dritter Teil, XIV 442-443, in: ebenda, mit einem einführenden Essay von Georg Lukács. Berlin 1955, S. 1014 (Markierung von mir, Anm. A. B.). 44 Hegel, Ästhetik Dritter Teil, XIV 452-454, in: ebenda, S. 1021. 45 Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. Zehn Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten. Bern/ München 1960, S. 12. 46 Paul Zumthor: Einführung in die mündliche Dichtung. Berlin 1990, S. 144. 47 Schenk, Medienpoesie (Anm. 41), S. 9f. 48 Ebenda, S. 10. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 22 Sprechen muss der poetische Text seine Schriftlichkeit aufheben.“ 49 Schenk hingegen versucht, in Anschluss an Derridas Phonozentrismuskritik gerade in Bezug auf moderne Lyrik, „die Schrift von ihrer sekundären Funktion zu entbinden“ 50 , da sie seiner Meinung nach sowohl im Produktionsals auch im Rezeptionsprozess von Lyrik eine wichtige Rolle spiele. Es gebe ja u. a. schriftliche Elemente (wie Interpunktion, Ziffer oder Verräumlichung), die nicht in lautliche übertragen werden könnten. 51 Schenk scheint allerdings mit seiner Kritik Eulen nach Athen tragen zu wollen, schließlich wird u. a. von Burdorf ausgeführt, dass im 21. Jahrhundert Gedichte den RezipientInnen meist ohnehin als gedruckte Texte begegnen und folglich (still) gelesen würden. 52 Dies wird auch in Freunds Band Deutsche Lyrik deutlich, in dem dieser ganz selbstverständlich davon spricht, dass „[d]as Gedicht Fragen an den Leser [stellt]“ 53 . Burdorf erläutert in diesem Zusammenhang: Liedhaftigkeit ist aber nur für einen Teil der Lyrik kennzeichnend, dessen Bedeutung im 20. Jahrhundert weiter abgenommen hat. Auch das Sprechen, das auswendige Rezitieren oder Vorlesen von Gedichten wird immer weniger praktiziert. Unverzichtbar dagegen ist […] heute die Schriftform als Medium des Dokumentierens, Tradierens und Rezipierens von Lyrik: Wenn wir von Gedichten sprechen, meinen wir zunächst die in Einzeldrucken, häufiger aber in Sammelbänden und Anthologien zusammengestellten Gedicht-Texte; das Sprechen dieser Texte erscheint als sekundäres Phänomen. 54 Korte wiederum ortet anhand experimenteller Arbeiten von Kling oder Ostermaier, welcher seinem Gedichtband Heartcore (1999) eine CD beifügte, eine „sich abzeichnende Renaissance der Rolle des Sprechens und Hörens von Lyrik.“ 55 Auch die sich zunehmender Bekanntheit und Beliebtheit erfreuende Poetry-Slam-Szene im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert belegt diesen Trend. 56 49 Ebenda, S. 16. 50 Ebenda, S. 28. 51 Vgl. ebenda, S. 24. Was Schenk nicht ausführt, ist die Tatsache, dass es auch lautliche Phänomene eines vorgetragenen Gedichtes gibt, die nicht in Schrift übersetzbar sind. Zur Stimme und ihren Möglichkeiten vgl. Sigrid Weigel: Die Stimme als Medium des Nachlebens: Pathosformel, Nachhall, Phantom, kulturwissenschaftliche Perspektiven. In: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 16-39, hier S. 17ff. 52 Vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 41. 53 Winfried Freund: Deutsche Lyrik. München 21990, S. 11. 54 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 23f. 55 Franz-Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte et al.: Geschichte der deutschen Lyrik. Stuttgart 2004, S. 659. 56 Für den englischsprachigen Raum vgl. die Dissertation von Julia Novak: Live Poetry: An Integrated Approach to Poetry in Performance. Dissertation: Wien 2010. 2.1 Liedtexte als Lyrik 23 Es bleibt also zu konstatieren, dass die Mediendiskussion in Bezug auf die Lyrik keine ein für alle Mal beantwortete Frage darstellt. Gedichte können sowohl gelesen als auch (auf musikalische Weise) vorgetragen werden, wenngleich nicht alle Möglichkeiten bei allen Gedichten realisierbar sind. Ein Wechsel des Mediums von Stimme auf Schrift stellt einen jahrhundertealten Usus dar, wie sich am Beispiel der Notation von Liedtexten von Volks- und Kirchenliedern zeigt. 57 Diese Praktiken haben sich bis ins 21. Jahrhundert auch in den Bereich der Populärmusik forttradiert, indem Platten oder CDs Textbooklets beigefügt oder Internetforen angelegt werden, deren Zweck der Download von Songtexten darstellt. 58 Was den Wechsel vom Medium der Schrift auf die Stimme angeht, so zeigt sich u. a. im Falle von Vertonungen wie Beethovens Fassung von Schillers Ode an die Freude, dass auch dieser über die Jahrhunderte erfolgreich praktiziert wurde. Dabei darf in Hinblick auf das Zusammenspiel der unterschiedlichen Medien nicht außer Acht gelassen werden, dass bei einem (musikalischen) Vortrag der schriftlichen Fassung mitunter neue Bedeutungsqualitäten und -modalitäten verliehen werden. So kann über den Einsatz verschiedener Vortragsmodalitäten (laut-leise, langsam-schnell, hoch-tief u. a.) 59 und das Spiel mit spezifischen Qualitäten der vortragenden Stimme Einfluss auf die semantische Ebene des Textes geübt werden. 60 Auch eine Veränderung des musikalischen Rahmens - wie dies bei Neuvertonungen oder im Falle der Populärmusik bei Coverversionen 61 der Fall ist - kann Bedeutungsebenen des Textinhalts verändern. Wiewohl sich die medialen Fragen als komplex erweisen, hat sich gezeigt, dass Lieder und Gedichte eine jahrtausendealte gemeinsame Tradition aufweisen. Dementsprechend beansprucht auch Lampings unten stehende „Minimaldefinition“ 62 von Lyrik sowohl für Liedtexte als auch Gedichte i. e. S. Gültigkeit. Denn beide stellen eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen dar, wobei 57 Vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 24. 58 Als Beispiel sei folgende Liedtextdatenbank genannt: URL: http: / / www.songtext.net (Stand Dezember 2011). 59 Vgl. Helmut Rösing: III. Klangfarbe und Sound in der westlichen Musik. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil Bd. 8. Kassel/ Basel/ London et al. 21996, Sp. 156-159, hier Sp. 155f. 60 Zu den unterschiedlichen Möglichkeiten des Einflusses der Intonation auf die semantische Ebene des Satzes vgl. Ekkehard König und Johannes Brandt: Die Stimme - Charakterisierung aus linguistischer Perspektive. In: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 111-129, hier S. 122f. 61 Ein berühmtes Beispiel dafür ist Jimi Hendrix’ Interpretation der amerikanischen Bundeshymne A Star-Spangled Banner, vgl. Jimi Hendrix: Live at Woodstock. (Deluxe Edition). Universal 2005. 62 Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definitionen zu Theorie und Geschichte der Gattung. Göttingen 21993, S. 79. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 24 [a]ls Versrede hier jede Rede bezeichnet werden [soll], die durch ihre besondere Art der Segmentierung rhythmisch von normalsprachlicher Rede abweicht. Das Prinzip dieser Segmentierung ist die Setzung von Pausen, die durch den Satzrhythmus der Prosa, und das heißt vor allem: durch die syntaktische Segmentierung des Satzes nicht gefordert werden. Das Segment, das durch zwei solche, aufeinander folgende Pausen geschaffen wird, ist der Vers. In diesem Sinne ist der Vers zunächst als eine rhythmische Einheit aufzufassen, und als solche stellt er ein grundsätzlich anderes Redesegment dar als die syntaktische Einheit des Satzes. 63 Sowohl Liedtexte als auch Gedichte sind in Versen gegliedert, wobei die Verseinteilung und rhythmische Gliederung nicht mit der syntaktischen Einheit der Sätze resp. dem Satzrhythmus der Prosa zusammenfällt. Auf formaler Ebene lassen sich also keine Unterschiede ausmachen. Damit widmen wir uns der zweiten eingangs gestellten Frage nach einem von welcher Seite auch immer unterstellten qualitativen Unterschieds zwischen Liedtexten und Gedichten. Dabei zeigt sich, dass insbesondere die seit Anfang des 20. Jahrhunderts massenhaft produzierte Populärmusik dem Vorwurf der qualitativen Minderwertigkeit ausgesetzt ist. 2.2 Populärmusiktexte Das anhaltende, negative Image der Populärmusik des 20. Jahrhunderts geht u. a. auf die Haltung der Frankfurter Schule, insbesondere auf Theodor W. Adornos Kritik zurück, nach der es sich im Gegensatz zu klassischer resp. zu Avantgarde-Musik bei populärer Musik um „standardized, repetitive music“ 64 handelt. In einem Text von 1941 heißt es: A clear judgement concerning the relation of serious music to popular music can be arrived at only by strict attention to the fundamental characteristic of 63 Ebenda, S. 24f. Unter ‚Rede‘ versteht Lamping „jede sprachliche Äußerung […], die eine sinnhaltige, endliche Folge sprachlicher Zeichen darstellt“ (ebenda, S. 23). Merkmale der mündlichen oder schriftlichen Rede sind also Sprachlichkeit, Sinnhaltigkeit, Sukzessivität und Endlichkeit (vgl. ebenda, S. 23). Metrische Regelmäßigkeit und Reim stellen für Lamping fakultative Eigenschaften eines Verses dar (vgl. ebenda, S. 25ff.). Lampings Definition des Gedichts als Versrede schließt Gedichte der Visuellen Poesie, die keine sprachlichen Zeichen enthalten, dezidiert aus (vgl. ebenda, S. 31). Burdorf bezeichnet Lampings Definition als „dürr“ (in: Burdorf, Gedichtanalyse, Anm. 25, S. 21), da sie seiner Meinung nach der Fülle der historischen Formen des Gedichts nicht gerecht wird. Er nennt weitere fakultative Definitionsmerkmale von Gedichten: eine über die Versform hinausgehende grammatische Abweichung von der Alltagssprache (z. B. mittels Reim, Metrum, klanglicher Besonderheiten u. Ä.); relative Kürze des Textes; Selbstreflexivität des Textes; unvermittelte, einfache Redesituation; unmittelbare Ansprache der/ s Lesenden; verdichteter, von Wiederholungen gekennzeichneter Wortgebrauch; liedartiger Charakter (vgl. ebenda, S. 21). 64 Keith Negus: Popular Music in Theory. An Introduction. Cambridge 1996, S. 9. 2.2 Populärmusiktexte 25 popular music: standardization. The whole structure of popular music is standardized, even where the attempt is to circumvent standardization. Standardization extends from the most general features to the most specific ones. Best known is the rule that the chorus consists of thirty-two bars and that the range is limited to one octave and one note. The general types of hits are also standardized: not only the dance types, the rigidity of whose pattern is understood, but also the ‘characters’ such as mother songs, home songs, nonsense or ‘novelty’ songs, pseudo-nursery rhymes, laments for a lost girl. […]. Serious music, for comparative purposes, may thus be characterized: Every detail derives its musical sense from the concrete totality of the piece which, in turn, consists of the life relationship of the details and never of a mere enforcement of a musical scheme. 65 Wie aus diesen Worten hervorgeht, ist es laut Adorno nicht nur die Musik, sondern auch der Text der Lieder, der einer Standardisierung unterliegt. Wie Frith viele Jahre nach Adorno betont, ist es vor allem der Vorwurf der Banalität, mit dem Songtexte wiederholt konfrontiert werden, 66 da die Kunst des Textens von Populärmusik als „formula writing“ 67 aufgefasst wird. Es sind also einerseits die mangelnde ästhetische Qualität und andererseits die fehlende Kreativität sowie Originalität seitens der/ s Künstlerin/ s, welche beklagt werden. 68 Die/ Der HörerIn rezipiert nach Adorno diese Art Musik in der Freizeit, „to escape from work” und „to escape boredom” 69 , sie/ er bleibe dabei passiv. Populärmusik wird nach Adorno produziert, um in der Gesellschaft den Status Quo aufrechtzuerhalten, anstatt kritisches Denken und Auseinanderset- 65 Theodor W. Adorno (unter Mitarbeit von George Simpson): On Popular Music [1941]. In: Simon Frith und Andrew Goodwin (Hrsg.): On Record. Rock, Pop and the Written Word. New York 1990, S. 301-314, hier S. 302f. 66 Vgl. Simon Frith: Music for Pleasure. Essays in the Sociology of Pop. New York 1988, S. 108. 67 Ebenda, S. 105. Wie Frith a. a. O. ausführt, äußert sich dieser Umstand u. a. auch in dem Usus, dass zwar für Musikstücke nicht aber für Liedtexte Tantiemen an die/ den AutorIn bezahlt werden. 68 Vgl. Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 116f. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten zu Populärmusiktexten - im US-amerikanischen Raum durchgeführte Inhaltsanalysen in den 1940er Jahren - bestätigen zunächst dieses Diktum, wobei Frith konstatiert, dass „such a findig is, one could say, a necessary result of the coding process“ (in: Simon Frith: Performing Rites. On the Value of Popular Music. Oxford 1996, S. 160). Frith geht in seinem Essay Why Do Songs Have Words? auf frühe soziologische Inhaltsanalysen im Amerika der 1950er und 1960er Jahre ein. Ziel dieser Arbeiten war es nach Frith nicht, die Texte hinsichtlich ihrer Textstrukturen oder ihrer inhaltlichen Qualitäten zu untersuchen, sondern die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Text zu analysieren: Untersucht werden sollte, ob Poplyrics gesellschaftliche Bedürfnisse oder Einstellungen der RezipientInnen widerspiegeln, manipulieren o. Ä., vgl. Frith, Essays (Anm. 66), S. 105ff. 69 Beide Zitate: Adorno, Popular Music (Anm. 65), S. 310. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 26 zung mit der eigenen Position anzuregen. 70 Die Funktionsweise der populären Kunst bestehe lediglich darin, Pseudo-Bedürfnisse zu erwecken und zu befriedigen, während das Publikum von der ‚Wirklichkeit‘ abgelenkt werde, d. h. Kultur werde zu Zwecken der Dominierung und Manipulation der Massen instrumentalisiert. 71 Nach Adorno ist populäre Kunst also nachgerade schädlich für die Bevölkerung - eine Position, die er wohl durch seine Eindrücke im nationalsozialistischen Deutschland und, nach seiner Flucht, in den USA erworben hat: Während die Nazis die neuen Technologien des Phonographen, des Radios oder Tonkinos zu Propagandazwecken nutzen, werden in den USA dieselben zur Distribution kommerzieller Kulturprodukte verwendet. 72 Das Herausbilden der neuen Technologien zur Aufzeichnung und Reproduktion von musikalischen Darbietungen Ende des 19. Jahrhunderts hat also einen entscheidenden Anteil daran, dass sich vermehrt (politische) Einsatzmöglichkeiten für Musik entwickelt haben. 73 Musik erscheint in diesem Zusammenhang als eine vom Industriekapitalismus geprägte Massenkultur, 74 wobei Strinati Massenkultur definiert als „popular culture which is produced by mass production industrial techniques and is marketed for a profit to a mass public of consumers.“ 75 Für das Feld der Musik spezifiziert Adorno allerdings, dass nur die Distribution und Promotion als ‚industriell‘ zu kennzeichnen sind, während die Produktion immer noch ‚individualistisch‘, also in verschiedenen Händen bleibt - sprich denen der KomponistInnen, der TontechnikerInnen, der MusikerInnen etc. 76 Was die/ den Rezipientin/ en betrifft, so spricht Adorno von einer ‚Pseudo- Individualisierung‘, indem dieser/ m suggeriert werde, sie/ er habe durch den offenen Markt die Möglichkeit zur Wahl der individuell passenden Produkte, vergessend, dass diese schon einmal für sie/ ihn gehört, also ‚vorverdaut‘ worden seien. 77 Im eigentlichen Sinne aber stelle das Publikum der populären Musik eine homogene Masse dar. 78 Gerade die Sichtweise einer populären, standardisierten, ästhetisch minderwertigen Massenkultur, die einer hehren Hochkultur mit Anspruch auf Originalität jedes einzelnen Produkts, garantiert durch die Genialität der 70 Vgl. Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 9f. Vgl. auch Strinati: „The masses, in Adorno’s eyes, become completely powerless. Power lies with the culture industry. Its products encourage conformity and consensus which ensure obedience to authority, and the stability of the capitalist system” (in: Dominic Strinati: An Introduction to Theories of Popular Culture. London/ New York 1995, S. 64). 71 Vgl. ebenda, S. 67f. 72 Vgl. Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 8f. 73 Vgl. ebenda, S. 7. 74 Vgl. Christina Lutter und Markus Reisenleitner: Cultural Studies. Eine Einführung. Wien 2002. Lutter/ Reisenleitner 2002, S. 47. 75 Strinati, Theories of Popular Music (Anm. 70), S. 10. 76 Vgl. Adorno, Popular Music (Anm. 65), S. 306. 77 Vgl. ebenda, S. 308. 78 Vgl. Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 136. 2.2 Populärmusiktexte 27 KünstlerInnenpersönlichkeit, gegenübersteht, scheint es zu sein, die in Schweikarts Worten zu Beginn unseres Kapitels mitschwingt, wenn er davon spricht, dass „Pop-Poeten“ plötzlich zu „Dichtern“ werden könnten, indem „schwarz auf weiß“ 79 nebeneinander gedruckt der Unterschied zwischen beider Dichtwerk gar nicht mehr so groß sei. Dieser Rechtfertigungsversuch Schweikarts in Bezug auf sein eigenes Unternehmen im Jahre 2000 mag erstaunen, zeigt allerdings die anhaltende Wirkung der Sichtweise Adornos und seiner NachfolgerInnen. Im deutschsprachigen Raum liegen dementsprechend kaum akademische und im speziellen literaturwissenschaftliche Analysen von populären Liedtexten vor - „[z]u Unrecht“ 80 , wie Burdorf in seiner Einführung in die Gedichtanalyse 1997 feststellt, womit er wohl auf die unterschätzte Qualität der Texte hinweist. 81 Laut Laferl haben lediglich populäre Lieder politischen Inhalts Einzug in literaturwissenschaftliche Agenden gehalten, die vor allem dem Genre des sogenannten Protestliedes angehören, wozu Werke von Wolf Biermann 82 oder Franz Josef Degenhardt zu zählen sind. 83 Dabei bleibt festzuhalten, dass es für Biermann oder Degenhardt ganz natürlich war, ihre Lieder auch in Gedichtanthologien, also in gedruckter Form, zu publizieren. Laferl bezeichnet das Phänomen des Protestliedes als „rather short-lived“ und setzt seine ‚Hochzeiten‘ zwischen 1960 und 1980 fest, während danach sowohl die Produktion als auch das Interesse seitens der WissenschafterInnen seiner Meinung nach wieder abebbte. 84 Den Grund für die zunächst gesteigerte Beachtung des Protestliedes ortet Laferl in einem veränderten Status Quo der Kunsttheorie, da seit den 1960er Jahren das Politische und Soziale in den „catalogue of criteria for aesthetic judgement […]“ 85 aufgenommen worden waren. So geht auch Korte in der von ihm mitverfassten Geschichte der deutschen Lyrik von einer Zäsur in der Lyrik der 1960er aus, die sich wie folgt charakterisieren lässt: 79 Schweikart, Intro (Anm. 34), S. 11. 80 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 27. 81 So stellt Burdorf den einzigen mir bekannten Autor/ Herausgeber dar, der in eine Sammlung oder Analyse von deutschsprachiger Lyrik (nach 1945) einen Populärmusiktext aufnimmt (ebenda, S. 27f.). Burdorf analysiert Herbert Grönemeyers Lied Luxus aus dem Jahre 1990, das ein politisches Thema aufgreift: Es stellt nach Burdorf einen „Abgesang auf die Gesellschaft der alten Bundesrepublik vor dem Beitritt der ostdeutschen Länder“ (ebenda, S. 27) dar. 82 Siehe dazu z. B. Thomas Rothschilds Analyse von Wolf Biermanns Chile - Ballade vom Kameramann, in: Walter Hinck (Hrsg.): Geschichte im Gedicht. Texte und Interpretationen. Protestlied, Bänkelsang, Ballade, Chronik. Frankfurt am Main 1979, S. 272-279. 83 Vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 26f. 84 Direktes und indirektes Zitat in: Christopher Laferl: „Record it, and let it be known“. Song Lyrics, Gender, and Ethnicity in Brazil, Cuba, Martinique, and Trinidad and Tobago from 1920 to 1960. Wien 2005, S. 62. 85 Ebenda, S. 62. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 28 Der Konnex von Politik und Lyrik war ein deutliches Indiz für die Epochenzäsur der sechziger Jahre. Lyrik hatte indes im Selbstverständnis ihrer Produzenten keine andere politische Funktion als diejenige einer unabhängigen Stimme der Kritik. 86 DichterInnen geht es also nunmehr darum, sich an der ‚Wirklichkeit‘ zu orientieren und das Schreiben als gesellschafts- und zeitkritisches Unterfangen aufzufassen. 87 Auf diese Weise entstehen sowohl das Protestgedicht als auch das Protestlied, welche nach Korte unmittelbare Reaktionen auf aktuelle Ereignisse, Missstände und Skandale darstellen und sich als Teil einer politischen Bewegung präsentieren. 88 Der/ m ProtestlyrikerIn schwebt dabei „ein Begriff politischen Handelns“ vor, „der sein Gedicht unmittelbar zur Aktion werden lassen möchte. Die Präsentation von Lyrik in schmalen schmucken Bändchen wird für einen Moment obsolet.“ 89 Die Gründe für den darauffolgenden Rückzug des unmittelbaren, sich in konkrete Aktionen überführbaren Politischen aus der Lyrik ortet Korte in der Enttäuschung der 1968er-Bewegung, welche zu einem neuen Selbstverständnis der AutorInnen führt. Es sollte ein „Schwenk vom politisch-agitatorischen Utopie-Panorama hin zur Konzentration auf die Widersprüchlichkeit von Alltagshandeln und politischer Selbsteinschätzung, von utopischem Traumziel und gegenwärtiger Lebenspraxis“ 90 vollzogen werden. Insgesamt aber weist die deutschsprachige Lyrik eine lange politische Tradition auf, wie Hinderer nachzuweisen versucht, wobei er ‚Politik‘ mit Max Weber als Streben nach einem Machtanteil oder nach Beeinflussung der Verteilung der Macht definiert. 91 Dementsprechend unterscheidet Hinderer politische Lyrik, welche sich als herrschaftsstabilisierend, oder solche, welche sich als herrschaftskritisch darstellt. Zudem können Kennzeichen politischer Lyrik die implikativ-thetische (d. h. sein Publikum zu Agitation aufrufen wollende) Rede oder die explikativ-argumentative (d. h. sein Publikum rational überzeugen wollende) Rede sein. 92 Allerdings wird, so Hinderer, der politischen Lyrik immer wieder der Vorwurf ästhetischer Armut gemacht: Zwischen Politik und Ästhetik scheint ein gewisser Widerspruch zu bestehen, schließlich gehe es dieser Art von Dichtung nicht um die Autonomie ästhetischer Reizwerte, sondern um die Zweckdienlichkeit ästhetischer Mittel für spezifische Intenti- 86 Holznagel/ Kemper/ Korte et al., Geschichte der deutschen Lyrik (Anm. 55), S. 598. 87 Vgl. ebenda, S. 596. 88 Vgl. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2., völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart/ Weimar 2004, S. 122f. 89 Ebenda, S. 124 (Markierung aus dem Original nicht übernommen). 90 Holznagel/ Kemper/ Korte et al., Geschichte der deutschen Lyrik (Anm. 55), S. 629f. 91 Vgl. Walter Hinderer: Versuch über den Begriff und die Theorie politischer Lyrik. In: ders. (Hrsg.): Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland. Stuttgart 1978, S. 9-42, hier S. 22. 92 Vgl. ebenda, S. 27. 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand 29 onen […]. Solche Texte wählen deshalb ihre ästhetischen Mittel nach der Maßgabe ihrer Zweckdienlichkeit aus, ihre Struktur wird also durch den Intentionsgegenstand bestimmt, und sie haben von Anfang an Gebrauchswertcharakter. 93 Politische Lyrik entsteht zudem in bestimmten historischen Situationen und wird in manchen Fällen - ist dieser spezifische Produktions- und Rezeptionskontext nicht mehr gegeben - unverständlich oder verliert an Aktualität, d. h. an Relevanz. Sie scheint für den Moment produziert, was Korte auch für das Protestlied bestätigt, indem er davon ausgeht, dass nicht „alles, was in jenen Jahren produziert wurde, den Tag überdauert hat. […]. Ein Beispiel dafür ist der Protestsong der 60er Jahre.“ 94 Populärmusik und politische Lyrik teilen also in ihrer Beurteilung das Schicksal des Verdikts der Vergänglichkeit und ästhetischen Schlichtheit, während es die hohe Lyrik ob ihrer ästhetischen Fülle ist, die ‚bleibt‘. Diese binäre Konstruktion ist indes auch bei AutorInnen vorzufinden, so z. B. meint ‚Poplitertat‘ Rolf Dieter Brinkmann: „Ich hätte gern viele Gedichte so einfach geschrieben wie Songs.“ 95 Korte schließlich zitiert Thomas Kling in Bezug auf die Lyrik der 1990er Jahre: „Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptions- und Unterhaltungsindustrie.“ 96 Trotz der anhaltenden Vernachlässigung der ‚formula writing‘-Texte der Populärmusik von Seiten der Literaturwissenschaft gibt es von akademischer Seite auch jahrzehntelange Bemühungen, dem nachgeordneten Status der populären Kunst als ‚minderwertiger, banaler Kunst‘, also dem „verdammenden Pessimismus“ seitens der an der Frankfurter Schule orientierten Kritik, mit einem „begeisterten Optimismus“ 97 entgegenzutreten, was interessanterweise wieder mit einer Politisierung der Kunst einhergeht. Hierbei richtet sich das (akademische) Interesse in Bezug auf die Populärmusik allerdings nicht auf die (politischen) Texte per se, sondern auf das Politische der Populärmusik als alltäglicher Praxis. 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand Es sind die Cultural Studies 98 britischer Provenienz, die sich 1964 in Birmingham im Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) institutionalisier- 93 Ebenda, S. 10. 94 Korte, Deutschsprachige Lyrik seit 1945 (Anm. 88), S. 126. 95 Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1 & 2. Gedichte. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 7. 96 Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt am Main 1997, S. 51; vgl. dazu Holznagel/ Kemper/ Korte et al., Geschichte der deutschen Lyrik (Anm. 55), S. 663. 97 Beide Zitate: Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 120. 98 Zur Geschichte und Institutionalisierung der Cultural Studies, auf die hier nur marginal und in sehr verkürzter Form eingegangen werden kann, vgl. Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 15-45; vgl. auch Roger Bromley, Udo Göttlich und Cars- 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 30 ten, die den Versuch einer vollkommen neuen Bestimmung der (Populär-)Kultur unternehmen. Kritisiert wird zunächst das Verständnis von Kultur als „Ideal […], das sich im Kanon klassischer Werte von Kunst und Philosophie verkörpert“ 99 , dem entsprechend sich Kultur als „Produkt hervorragender Geister“ präsentiert, die es verstanden, die zeitlos gültigen Wahrheiten zu erkennen und auf besondere, ästhetische Weise zu vermitteln. Dieser Elite an Künstlern war durch das Studium ihrer Werke und das Nachvollziehen ihrer Einsichten Ehre zu erweisen; […]. In dieser romantisch-zivilisatorischen Metapher wurde Kultur jedoch niemals als Produkt alltäglicher Kreativität verstanden, sondern stets in normativ-ästhetischem Sinn. 100 Fiske kritisiert genau diese Dichotomisierung zwischen dem Alltagsleben der RezipientInnen und einer ästhetischen Kunsterfahrung: [T]he separation of the aesthetic from the social is a practice of the elite who can afford to ignore the constraints of material necessity, and who thus construct an aesthetic which not only refuses to assign any value at all to material conditions, but validates only those art forms which transcend them. This critical and aesthetic distance is thus, finally, a marker of distinction between those able to separate their culture from the social and economic conditions of the everyday and those who cannot. There is no ‘distancing’, however, in the culture of everyday life. […] the culture of the people denies categorical boundaries between art and life: popular art is part of the everyday, not distanced from it. […]. The culture of everyday life is concrete, contextualized, and lived […]. 101 Im Laufe der Herausbildung der Cultural Studies steht zunächst die Erweiterung des Forschungsinteresses auf die Alltagskultur (insbesondere der Arbeiterklasse) im Mittelpunkt, wobei nach Raymond Williams’ berühmtem Diktum Kultur als „Lebensweise definiert“ wird, „die sich in Institutionen und im Alltagsverhalten ebenso ausdrückt wie in Kunst und Literatur.“ 102 Mit der Erforschung der Alltagskultur der Arbeiterklasse geht eine Aufwertung der ‚popular culture‘ einher, die sich seitens der TheoretikerInnen in einem gesteigerten Interesse an ‚nicht elitären‘ Kulturprodukten wie Fernsehsendun- ten Winter (Hrsg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999, S. 9-188. 99 Udo Göttlich und Carsten Winter: Wessen Cultural Studies? Zur Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. In: Roger Bromley, Udo Göttlich und Carsten Winter (Hrsg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999, S. 25-39, hier S. 27. 100 Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 17. 101 John Fiske: Cultural Studies and the Culture of Everyday Life. In: Lawrence Grossberg, Cary Nelson und Paula A. Treichler (Hrsg.): Cultural Studies. New York/ London 1992, S. 154-165, hier S. 154f. 102 Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 24. 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand 31 gen, Popmusik, Werbung, Sport, Trivialliteratur u. a. äußert. 103 Bei Populärkultur handelt es sich auch im Bereich der Cultural Studies um industriell produzierte (Massen-)Kultur, wobei diese einerseits das Gegenteil von elitärer Hochkultur und andererseits das Gegenteil einer nicht industriell produzierten, innerhalb der sozialen Formation, die sie benutzt, gefertigten Volkskultur darstellt. 104 Dank der marxistischen Ausrichtung der Cultural Studies gilt es, unter der Adaption von Theorien Gramscis sowie de Certeaus Kultur als ein von ideologischen Kämpfen um die Definition von ‚Bedeutung‘ geprägtes Feld zu sehen. 105 Aber im Gegensatz zu Adorno, der Populärmusik als „catharsis for the masses, but catharsis which keeps them all the more firmly in line“ 106 , sieht, stehen jetzt Möglichkeiten der subversiven, antihegemonialen Aneignung von Produkten der Populärkultur seitens der nicht-dominanten Bevölkerungsgruppen im (Forschungs-)Vordergrund. Von einer vollständigen Dominanz der herrschenden Klassen über die Bedeutungen im kulturellen Feld kann keine Rede mehr sein, der Ausgang der Konflikte wird als prinzipiell offen gesehen. 107 Schließlich lässt die allen Kulturprodukten inhärente Polysemie einerseits Raum für dominant-hegemoniale Deutungen, bietet aber andererseits Optionen für widerständische Lesarten. 108 Fiske, der Populärkultur für „in ihrem Kern immer politisch“ 109 hält, geht davon aus, dass die Be- 103 Vgl. u. a. Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Reinbek bei Hamburg 22002, S.12; vgl. auch Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 45. 104 Vgl. John Fiske: Politik. Die Linke und der Populismus. In: Roger Bromley, Udo Göttlich und Carsten Winter (Hrsg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999, S. 237-278, hier S. 251; vgl. dazu Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 47. Zu Recht weisen Lutter und Reisenleitner darauf hin, wie problematisch die Dichotomisierung einer vermeintlich ‚authentischen‘ Volkskultur und einer industriell gefertigten Massenkultur ist, da die vielfältigen Gemeinsamkeiten beider außer Acht gelassen werden, vgl. ebenda, S. 46ff.; Lutter und Reisenleitner heben in diesem Zusammenhang auch die Schwierigkeiten einer Periodisierung von Massenkultur hervor. Denn oft werde der Beginn der Massenkultur mit dem Auftreten der industriellen Revolution festgesetzt. Dies berücksichtige jedoch die Unterschiede der jeweiligen Kulturprodukte nicht, so z. B. werde Literatur schon Mitte des 18. Jahrhunderts weit verbreitet, während dies für Musik erst Ende des 19. Jahrhunderts zutreffe, vgl. ebenda, S. 48f. 105 Vgl. ebenda, S. 30; vgl. auch Udo Göttlich: Wie repräsentativ kann populäre Kultur sein? Die Bedeutung der Cultural Studies für die Populärkulturanalyse. In: Udo Göttlich, Clemens Albrecht und Winfried Gebhardt (Hrsg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln 2002, S. 33-51, hier S. 47. 106 Adorno, Popular Music (Anm. 65), S. 314. 107 Vgl. Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 32. 108 Vgl. Rupert Weinzierl: Fight the power: eine Geheimgeschichte der Popkultur und die Formierung neuer Substreams. Wien 2000, S. 242. 109 Fiske, Politik (Anm. 104), S. 237. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 32 völkerung sich als eine unterdrückte erlebe, was durch die Aneignung von Produkten der Populärkultur in populare Oppositionsbewegungen münden könne, welche zwar progressiv, aber nur „in einer Zeit verschärfter gesellschaftlicher Widersprüche“ revolutionär seien: ‚Populare‘ Gegenbewegungen arbeiten zwar nicht unbedingt aktiv darauf hin, den Machtblock zu stürzen, setzen ihn jedoch ständig unter Duck und beharren ebenso unnachgiebig wie nachdrücklich auf ihrer oppositionellen Stoßrichtung. 110 Fiske weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das politische Potential von kulturellen Formen „unter der Oberfläche schlummern“ 111 könne. Sollte es einmal mobilisiert werden, sei vor diesem Zeitpunkt nicht zu beurteilen, ob die Aneignung auf reaktionäre oder progressive Weise geschehen werde. So sei Bruce Springsteens 112 Born in the USA sowohl von der politischen Linken als auch Rechten für deren jeweilige Definition des ‚amerikanischen Wesens’ vereinnahmt worden. 113 Das Lied The Beds are burning von Midnight Oil 114 , das vom Recht der australischen Aborigines auf Land handelt, sei wiederum sehr beliebt bei australischen Minenarbeitern, deren politische Interessen zu denen der Aborigines in einem konträren Verhältnis stünden. Die Minenarbeiter nähmen, so Fiske, allerdings nur die Musik, nicht den Text wahr. 115 Auf diese Weise kommt Fiske zu dem Schluss, die verbal-semantische Ebene eines populärmusikalischen Liedes sei von nachgeordneter Wichtigkeit in der Rezeption von Musik, schließlich [existieren] [d]ie Bedeutungen der Popularkultur nur in ihrer Zirkulation, nicht in ihren Texten; die Texte, die in diesem Prozess entscheidend sind, dürfen nicht für und durch sich selbst verstanden werden, sondern in ihren Wechselwirkungen mit anderen Texten und dem sozialen Leben […]. 116 Allerdings ist es nach Fiske gerade die Widersprüchlichkeit eines Produktes der Populärkunst, die eine aktive Auseinandersetzung seitens der RezipientInnen fordert und somit eine produktive Wahrnehmung ermöglicht. Denn dank der Widersprüchlichkeit seien die RezipientInnen gefordert, sich in Bezug auf das Produkt gemäß ihrer Lage und Situation zu positionieren. 117 Nur indem es zur Lebenswelt der/ s Rezipientin/ ens in Beziehung gesetzt werde, könne sich das politische Potential des Produktes entfalten. 118 110 Beide Zitate: Fiske, Politik (Anm. 104), S. 239. 111 Ebenda, S. 247. 112 Bruce Springsteen: Born in the U.S.A. Auf: Born in the U.S.A. Columbia Records 1984. 113 Vgl. Fiske, Politik (Anm. 104), S. 247. 114 Midnight Oil: The Beds are burning. Auf: Diesel and Dust. Columbia Records 1987. 115 Vgl. Fiske, Politik (Anm. 104), S. 247. 116 Fiske, Lesarten des Populären (Anm. 15), S. 17. 117 Vgl. Fiske, Politik (Anm. 104), S. 266. 118 Vgl. ebenda, S. 248. 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand 33 Besondere Bedeutung erlangt diese Einschätzung der Populärkultur als inhärent politischen Phänomens in Zusammenhang mit der Subkulturforschung, die insbesondere mit dem Namen Dick Hebdiges, dem „‚amtierende[n] Hohepriester‘ der Subkulturforschung“ 119 , verbunden wird. Nach Hebdige u. a. sind Subkulturen eine Form des Widerstands gegen die herrschende Ideologie, die in einem spezifischen, zur Schau getragenen Stil, der u. a. die Kleidung, die körperliche Ausdrucksweise, den Jargon sowie auch die bevorzugte Musikrichtung einer Person umfasst, ihren Ausdruck findet: 120 Die von den Subkulturen dargestellte Herausforderung an die Hegemonie geht jedoch von ihnen nicht direkt aus. Sie wird vielmehr indirekt ausgedrückt: im Stil. Die Einwände werden auf der im Grunde oberflächlichen Ebene der Erscheinungen eingebracht und die Widersprüche dort zur Schau gestellt […]: das heißt, auf der Ebene der Zeichen. 121 Wie aus dem Zitat deutlich wird, verbindet Hebdige seine Subkulturtheorie mit der semiologisch orientierten, ideologie-kritischen Mythos-Theorie von Roland Barthes. In Mythen des Alltags fasst dieser aufbauend auf de Saussure das Zeichen als assoziative Gesamtheit eines Bedeutenden und eines Bedeuteten. 122 Im bürgerlichen Mythos allerdings, einem sekundären semiologischen System, wird das Zeichen als Bedeutendes mit einem neuen Bedeuteten kombiniert. 123 Der Mythos ist damit eine Deformation, eine Abwandlung, 124 allerdings eine ideologisch motivierte, da jedes semiologische System ein System von Werten darstellt. 125 Es ist dabei dem Mythos als „entpolitisierte[r] Aussage“ 126 inhärent, als ‚naturgegeben‘ 127 zu erscheinen, für die/ den Mythos- LeserIn ist es, „als ob das Bild 128 auf natürliche Weise den Begriff hervorriefe, als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete.“ 129 Laut Hebdige werden nun von den TeilnehmerInnen einer Subkultur Zeichen der bürgerlichen Alltagskultur - dabei kann es sich, wie dies z. B. bei den Punks der Fall ist, um eine 119 Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 243. 120 Vgl. ebenda, S. 243f.; Weinzierl nimmt Bezug auf Dick Hebdige: Subcultures. The Meaning of Style. London/ New York 1979. Deutsche Fassung: Diedrich Diederichsen, Dick Hebdige und Olaph-Dante Marx: Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek bei Hamburg 1983. 121 Diederichsen/ Hebdige/ Marx, Subkultur (Anm. 120), S. 22. 122 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964 [1957], S. 90. 123 Vgl. ebenda, S. 92. 124 Vgl. ebenda, S. 112. 125 Vgl. ebenda, S. 115. 126 Ebenda, S. 130. 127 Vgl. Diederichsen/ Hebdige/ Marx, Subkultur (Anm. 120), S. 14. 128 Barthes beruft sich hier auf sein viel zitiertes Beispiel des Bildes eines vor der französischen Flagge salutierenden Schwarzen, der mit dieser Geste den Kolonialismus und die französische Imperialität als gewollte, natürliche Institutionen ins Bild setzt, vgl. Barthes, Mythen (Anm. 122), S. 95ff. 129 Ebenda, S. 113 (Markierungen dem Orginal entnommen). 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 34 Sicherheitsnadel handeln - ihrem ‚normalen‘ Kontext entfremdet und in einen neuen Kontext eingefügt. Diese Abwandlungen sind für die/ den NormalbürgerIn „‚wider die Natur‘, denn sie unterbrechen den Prozess der Normalisierung. Als solche werden sie zu Gesten und Bewegungen einer Sprache, die die schweigende Mehrheit vor den Kopf stoßen […].“ 130 Aus diesem Grund sind Subkulturen nach Hebdige „Lärm“, und „Missklang“ 131 , da sie die Konturen zwischen vermeintlicher ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ verschwimmen lassen: 132 „Sie stellen ihre eigenen Kodes zur Schau (beispielsweise die zerrissenen Punk-T-Shirts) oder demonstrieren zumindest, dass man Kodes gebrauchen und missbrauchen kann […].“ 133 Diese Aneignung von Zeichen dient einerseits der Selbstrepräsentanz, als Ausdruck einer spezifischen (Gruppen-)Identität, andererseits der absichtlichen Kommunikation nach außen. 134 Während Hebdige den Begriff der Subkultur vorwiegend in Verbindung mit Jugendlichen bringt, weist der Soziologe Brake darauf hin, Subkulturen nach Alter, Generations- und Schichtenzugehörigkeit näher zu bestimmen. 135 Für ihn stellen Subkulturen Subsysteme in großen kulturellen Formationen dar, wobei zwischen jenen unterschieden werden soll, deren Erscheinungsbild in der Gesellschaft akzeptiert ist (z. B. Subkulturen, die sich aus Berufsgruppen herausbilden) und jenen, bei denen dies nicht der Fall ist (z. B. delinquenten Subkulturen). Brake betont zudem das identitätsstiftende Element von Subkulturen: „Der Einsteiger benutzt die Werte und Vorstellungen der Subkultur um sein Selbstbild zu ändern.“ 136 Auf diese Weise bietet die Subkultur nach Brake der/ m Einzelnen Orientierung sowie ein Potential an Identifikationsmöglichkeiten und stellt somit eine wichtige außerfamiliäre Sozialisationsinstanz dar. 137 Insgesamt allerdings bleibt der Begriff der Subkultur, wie auch Brake moniert, sehr schwammig. 138 Die Liste der Kritikpunkte an der Subkulturtheorie ist dementsprechend lang und kann hier nur in verkürzter Form Erwähnung finden: 139 Kritisiert wird neben einer Vernachlässigung von ethnischen und 130 Diederichsen/ Hebdige/ Marx, Subkultur (Anm. 120), S. 23. 131 Ebenda, S. 82. 132 Vgl. ebenda, S. 93. 133 Ebenda, S. 93 (Markierung dem Original entnommen). 134 Vgl. Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 244. 135 Vgl. Mike Brake: Soziologie der jugendlichen Subkulturen. Eine Einführung. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Rolf Lindner. Frankfurt/ New York 1981, S. 17. 136 Ebenda, S. 25. 137 Vgl. ebenda, S. 168. Zum Zusammenhang zwischen Subkultur und Identitätskonstitution siehe Kap. 3.5, S. 65ff. in diesem Band. 138 Vgl. Brake, Soziologie (Anm. 135), S. 19. 139 Für ausführlicher Kritik an der Subkulturforschung siehe Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 14ff. oder Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 246ff. 2.3 Populärmusik als politischer Widerstand 35 Gender-Aspekten innerhalb der Theoriebildung 140 vor allen Dingen eine Romantisierung der (männlich geprägten) Subkulturen, wenn durch eine Überbewertung des Stils das Konsumverhalten als protopolitischer Akt verstanden wird. 141 Außerdem wird die Subkulturtheorie des Elitismus in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand verdächtigt, da Subkulturvertreter als aktive Mitglieder ihrer Gruppe einer großen, passiven Mehrheit der Bevölkerung, dem sogenannten Mainstream, gegenübergestellt werden. 142 Wie Wicke ausführt, bleibt zudem innerhalb der Subkulturtheorie weitestgehend unklar, aus welchem Grund gerade bestimmte Stilelemente oder bestimmte Musikstile von subkulturellen Gruppen gewählt werden: Der musikalische Stilbegriff, der hinter Bezeichnungen wie Punk, Rock, Reggae oder Heavy Metal steht, ist mit Hebdiges Stilbegriff, der mit ihm das gegenständliche Ensemble eines kulturellen Symbolsystems meint, alles andere als identisch. So bleibt der Zusammenhang zwischen dem kulturellen Stil einerseits und dem musikalischen Stil andererseits unerklärt, muss als gegeben vorausgesetzt werden. […]. Problematischer noch ist an Hebdiges Ansatz, dass er ein Musikverständnis nur auf der Metaebene der Stilistik zulässt. Unterhalb dieser Ebene scheinen die gestaltspezifischen Besonderheiten des Musikalischen hier austauschbar. Die populären Musikformen würden danach lediglich als Verkörperung von Stilistiken existieren, was offenkundig nicht zutreffend ist. 143 Weinzierl wiederum weist in Bezug auf Hebdiges Ausführungen darauf hin, dass „mittlerweile auch klar geworden [ist], dass die ‚historischen‘ Pop- Subkulturen (Mods, Punks, Gothics, Popper, Skinheads…) nicht nur strukturell sexistisch, rassistisch […] und oft homophob, sondern auch politisch weitgehend völlig unwirksam waren.“ 144 Auch Grossberg betont, dass von einer eindeutigen Zuordnung von Populärkultur im Allgemeinen und Subkultur im Besonderen zu politisch-widerständischem Engagement nicht gesprochen werden kann: „Populärkultur ist niemals bloß ideologisch. Sie stellt 140 Vgl. Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 18. Vgl. auch McRobbie für eine ausführliche Darstellung zu Hebdiges Konzept und der Vernachlässigung des Gender-Aspekts: „If subculture offers a (temporary? ) escape from the demands of traditional sex roles, then the absence of predominantly girl subcultures - their denial of access to such ‘solutions’ - is the evidence of their deeper oppression and of the monolithic heterosexual norms which surround them […]. My point, then, is […] to show that the possibility of escaping oppressive aspects of adolescent heterosexuality within a youth culture or a gang with a clearly signaled identity remains more or less unavailable to girls” (in: Angela McRobbie: Settling Accounts with Subcultures. A Feminist Critique [1980]. In: Simon Frith und Andrew Goodwin (Hrsg.): On Record. Rock, Pop and the Written Word. New York 1990, S. 66-80, hier S. 74f.). 141 Vgl. Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 248. 142 Vgl. Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 19. 143 Peter Wicke: ‚Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept. In: PopScriptum 1/ 1992, S. 6- 42, URL: http: / / www2.hu-berlin.de/ fpm/ texte/ popkonz.htm (Stand: 31.12. 2011). 144 Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 16. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 36 Orte der Entspannung, der Privatheit und des Vergnügens zur Verfügung und bietet Genuss, Wohlbefinden, Spaß, Leidenschaft und Gefühl.“ 145 Dennoch oder gerade deshalb bleibe Populärkultur Ort der Auseinandersetzung, wobei sich sowohl konservative als auch progressive oder oppositionelle Werte und Positionen in ihr begegnen können. 146 Grossberg hebt also den Konnex von Populärkultur und Affekt hervor und geht davon aus, dass die Funktionsweise von Populärkultur nicht durch formale Charakteristika, sondern nur in Zusammenhang mit einer Empfindungsweise erklärt werden kann: 147 Meine Studenten sind in der Regel gegen Seminare über Rockmusik, weil sie spüren, dass solch eine intellektuelle Aufwertung ihre Wirkung verändern wird. Sie wird mehr und mehr zu einer bedeutungsschwangeren Form avancieren, die interpretiert werden muss, und keine populäre Form bleiben, die körperlich empfunden und leidenschaftlich und emotional ausgelebt werden kann. 148 Wicke geht auf ähnliche Weise davon aus, dass populäre Musik keine ‚Textsammlung‘ darstellt, sondern vielmehr eine mediale Funktion zur Umsetzung von sozialen Erfahrungen in Sinn innehat: 149 Populärmusik betreibt „Sinnvermittlung […], obwohl dies an ihrer eigenen Gestalt nicht unmittelbar fassbar ist.“ 150 Auf diese Weise wird deutlich, dass die Cultural Studies ihren Forschungsschwerpunkt auf die/ den Rezipientin/ en und deren/ dessen Umgang mit Kulturprodukten setzen, 151 während die ProduzentInnen resp. die Strukturen der Produkte in ihrer produktimmanenten Ästhetik nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen. In diesem Zusammenhang formuliert Wicke programmatisch: „Nicht die Analyse der kulturellen Objekte macht somit eine Kultur verstehbar, sondern vielmehr die Analyse jener Verhaltensformen und Verhältnisse, in denen diese Objekte ihren Sinn, ihre Bedeutung und ihren Wert erhalten.“ 152 Auch nach Fiske sind „[p]opuläre Texte […] in sich unvollständig - sie sind niemals unabhängige Bedeutungsstrukturen […]; sie werden 145 Lawrence Grossberg: Zur Verortung der Populärkultur. In: Roger Bromley, Udo Göttlich und Carsten Winter (Hrsg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg 1999, S. 215-236, hier S. 226f. 146 Vgl. ebenda, S. 224f.; vgl. auch Grossberg, What’s going on? (Anm. 24), S. 57. 147 Vgl. Grossberg, Zur Verortung der Populärkultur (Anm. 145), S. 227. 148 Ebenda, S. 227. 149 Vgl. Wicke, ‚Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept (Anm. 143), Quelle: Internet. 150 Ebenda. 151 Vgl. u. a. Simon Frith: The Cultural Study of Popular Music. In: Lawrence Grossberg, Cary Nelson und Paula A. Treichler (Hrsg.): Cultural Studies. New York/ London 1992, S. 174-186, hier S. 178. Vgl. auch Lutter/ Reisenleitner, Cultural Studies (Anm. 74), S. 78ff. 152 Wicke, ‚Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept (Anm. 143), Quelle: Internet. 2.4 Populärmusiktexte als Sänger/ Schauspieler 37 nur dann komplett, wenn sie von den Menschen aufgenommen werden und in ihre Alltagskultur eingesetzt werden.“ 153 Insgesamt bedeutet dies, dass es im Projekt der Cultural Studies zwar zu einer Aufwertung der Populärmusik kommt, aber nicht unbedingt zu einer Aufwertung der Musiktexte in ihrer eigenständigen ästhetischen Qualität und Funktionsweise. So spricht auch Wicke von einem „hohe[n] Grad von Stereotypisierung und struktureller Redundanz in den populären Musikformen“, die Musik verfüge über „keine textuelle, sondern vielmehr eine mediale Qualität“ 154 . Auf diese Weise treffen sich die Einschätzungen der VertreterInnen der Cultural Studies mit denen der KritikerInnen von Populärmusik in Adornos Tradition. Während es aber KritikerInnen nach Adorno ablehnen, Populärmusiktexte aus Gründen ästhetischer Armut zu analysieren, gilt es innerhalb der Cultural Studies den Fokus auf die Rezeptionsweisen zu legen. Im Zusammenhang dieses Bandes gilt es allerdings nicht (wie Shusterman 1994) Adorno zu widerlegen und die ästhetische Qualität von Populärmusiktexten zu verteidigen. Auch eine RezipientInnen-orientierte Forschung, wie von Seiten der Cultural Studies bevorzugt, welche die (politischen) Aneignungsmöglichkeiten von Populärmusiktexten in den Vordergrund stellt, ist nicht Anliegen dieses Bandes. In den folgenden Ausführungen soll eine andere Zugangsweise zu Populärmusiktexten angedacht werden. 2.4 Populärmusiktexte als Sänger/ Schauspieler Hügel geht davon aus, dass von RezipientInnenseite das populäre Kulturprodukt nicht im Sinne Fiskes oder Grossbergs nur emotional über den Körper aufgenommen wird, sondern er konstatiert in Bezug auf Musiktexte, dass diese auch rational ‚funktionieren‘ würden. Schließlich seien [d]ie Bemühungen der Hörer […] von Popsongs um die Texte […] und die zahlreichen Angebote im Internet, auf Plattencovern und Booklets, in Übersetzungen und Songbooks, die die Lyrics nachlesbar machen, nur ein Indiz von vielen, die dafür sprechen, dass auch beim populären Text Bedeutungsproduktion als Realisation von Bedeutung und nicht als eigenschöpferisches Herstellen von Bedeutung aufzufassen ist. Der Rezipient produziert nicht beliebig aus seiner sozialen oder gar aus seiner psychischen Befindlichkeit heraus die Bedeutung des Textes, sondern realisiert etwas, das Text und Kontext strukturiert anbieten. 155 153 Fiske, Lesarten des Populären (Anm. 15), S. 19. 154 Beide Zitate: Wicke, ‚Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept (Anm. 143), Quelle: Internet. 155 Hans-Otto Hügel: Zugangsweisen zur Populären Kultur. Zu ihrer ästhetischen Begründung und zu ihrer Erforschung. In: Udo Göttlich, Clemens Albrecht und Winfried Gebhardt (Hrsg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln 2002, S. 52-78, hier S. 60. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 38 Auch Barthes kommt zu dem Schluss: „Ich lese den Text. Diese […] Formulierung ist nicht immer wahr. Je pluraler der Text ist, um so weniger ist er geschrieben, bevor ich ihn lese.“ 156 Ähnlich wie Wicke oder Fiske oben, weist Barthes darauf hin, dass „Lesen […] Sinne finden [heißt]“ 157 und Texte von Natur aus polysemisch sind. Im Gegensatz zu oben genannten Positionen betonen Fechner-Smarsly und Neef in Bezug auf Barthes jedoch, wie wichtig es aufgrund der Polysemie von Texten sei, „im Detail zu lesen.“ 158 Obwohl also ein Text tatsächlich erst in seiner Aneignung entsteht und niemals auf einen Sinn reduziert werden kann, heißt das nicht, dass Textstrukturen in Bezug auf die Rezeption vernachlässigbar sind. Nach Bal sind bei der Analyse von kulturellen Artefakten drei ‚Personen‘ vonnöten: Neben einer ersten Person (z. B. der/ m KuratorIn einer Ausstellung, einer/ m VerlegerIn, einer/ m MusikproduzentIn) und einer zweiten Person (der/ m BesucherIn, Rezipientin/ en) stellt Bal eine dritte Person 159 (das publizierte, exponierte Objekt) ins Zentrum ihrer Überlegungen: Die ‚erste Person‘ bleibt unsichtbar. Die ‚zweite Person‘ hat als reagierende implizit eine potentielle ‚Erste-Person‘-Position; ihre Reaktion auf das Exponieren ist die vorrangige und entscheidende Bedingung dafür, dass das Exponieren überhaupt stattfindet. Die von der diskursiven Situation zum Schweigen gebrachte ‚dritte Person‘ ist zugleich das wichtigste - in diesem Diskurs das einzig sichtbare [oder hörbare Anm. A. B.] Element. Diese Sichtbarkeit, diese Präsenz ermöglicht paradoxerweise Aussagen über das Objekt, die gar nicht darauf zutreffen; diese Diskrepanz zwischen ‚Ding‘ und ‚Zeichen‘ ist genau das, was Zeichen notwenig und nützlich macht. […]. So kommt es, dass das ausgestellte Ding für etwas anderes steht, nämlich für die Aussage über es. Es bekommt einen Sinn. Das Ding tritt zurück und wird unsichtbar, indes sein Status als Zeichen Vorrang erhält, um die Aussage zu machen. […]. Das Ding wird dann also so etwas wie ein Schauspieler oder Sänger. 160 Wenn nun Populärmusiktexte der Lyrik zugerechnet werden, kann im Rahmen einer Lektüre dieser ‚Objekte‘ als Zeichen auf das traditionsreiche, breit gefächerte Instrumentarium der Literaturwissenschaften zurückgegriffen werden. So liegt nahe, auch bei der Analyse von Populärmusiktexten neben inhaltlichen oder formalen Aspekten (wie Reimschema oder Metrik), die 156 Roland Barthes: S/ Z. Frankfurt am Main 1987 [1970], S. 14. 157 Ebenda, S. 15. 158 Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef: Kulturanalyse. Zur interdisziplinären Methodologie Mieke Bals. (Nachwort). In: Mieke Bal: Kulturanalyse. Frankfurt am Main 2002, S. 335-356, hier S. 339. 159 Vgl. Mieke Bal: Kulturanalyse. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt am Main 2002, S. 36. 160 Ebenda, S. 37 (Markierungen dem Original entnommen). 2.4 Populärmusiktexte als Sänger/ Schauspieler 39 Verwendung der rhetorischen Stilmittel (im Sinne von Stilfiguren) zu untersuchen. 161 Obwohl das traditionelle, literaturwissenschaftliche Instrumentarium zur Lyrik-Interpretation in diesem Zusammenhang durchaus erhellende Ergebnisse zum Verständnis von Populärmusiktexten beitragen kann, verdeutlichen die Ausführungen von Bal oben, dass Populärmusiktexte als exponierte, publizierte Objekte, als Sänger und Schauspieler, etwas tun. In diesem Sinne gilt es im Folgenden auch den performative 162 sowie den narrative 163 Turn, die die Literaturwissenschaften der letzten Jahrzehnte geprägt haben, ernst zu nehmen: Denn während im Zuge des performative Turn der Handlungscharakter von Sprache in den Vordergrund des Forschungsinteresses gerückt wurde, galt es im Rahmen des narrative Turn die Wichtigkeit des Erzählens in gesellschaftlichen sowie auch individuellen Kontexten hervorzuheben. 164 Auf diese Weise ist es Ziel der folgenden Untersuchungen, die Texte selbst „als Bühne sprachlicher Performanz zu begreifen, und den inszenatorischen Akt nicht nur an den Akteur, sondern auch an die Schrift zu binden.“ 165 Indem der Analysefokus der folgenden Text-Lektüren auf rhetorische Textstrukturen in ihrer performativen und narrativen Dimension gelegt wird, soll mittels eines Close Readings untersucht werden, was Populärmusiktexte auf welche Weise tun, wenn sie Sinn erzeugen. Diese Überlegungen heißt es in den Kapiteln 5, 6, und 7 näher auszuführen. Allerdings darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden, dass die Populärmusiktexte des ausgehenden 20. sowie beginnenden 21. Jahrhunderts dank einer Vielzahl an verschiedenen Populärmusikgenres keineswegs eine homogene Masse darstellen. Im Rahmen dieses Bandes gilt es sich daher auf ein Genre und dessen Funktionsweisen zu konzentrieren (das bereits innerhalb seiner Grenzen eine beinah unüberschaubare Vielfalt bietet): Dazu soll im nächsten Kapitel die ausgewählte Populärmusikkultur des Raps/ Hip- Hops in ihren Entstehungshintergründen näher betrachtet werden, bevor in 161 Einen Überblick über die zu interpretierenden Aspekte eines Gedichtes bieten Burdorf (1997) oder Gelfert (1994); einen Überblick über rhetorische Figuren offerieren Lausberg (1963) oder Groddeck (1995). 162 Zum performative/ narrative Turn in den Literaturwissenschaften vgl. Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick: Narrating Gender. Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme. Köln/ Weimar/ Wien 2006, S. 7-19, hier S. 8; zum performative Turn in den Kulturwissenschaften im Allgemeinen vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 22007, S. 104ff.; zu den Literaturwissenschaften im Besonderen vgl. ebenda, S. 121ff. 163 Vgl. Nieberle/ Strowick, Narrating Gender (Anm. 162), S. 8. 164 Für einen Überblick zum Konzept und Begriff des Narrativen in der Kultur siehe den Band von Müller-Funk (2002); in Bezug auf Erzählung und Identitätsbildung vgl. die Beiträge in: Straub (1998a). 165 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 158. 2. Zur Verortung der Populärmusiktexte 40 Kap. 4 die Überlegungen der Kap. 2 und 3 zusammengeführt werden, um den Lektürefokus der folgenden Untersuchungen zu präzisieren. 3. Die Populärmusik des Raps Das Auftauchen und die globale Verbreitung der populären Musikkultur des Raps sind es, die die bisher behandelten Punkte der Literarizität, der Schädlichkeit oder der politischen Implikationen von Populärmusiktexten auf neue Weise in den Brennpunkt der Diskussionen der WissenschafterInnen, der Feuilleton-SchreiberInnen oder der RezipientInnen führen: HipHop als Jugendkultur sowie Rap als dessen musikalisch/ sprachliche Ausdrucksform werden immer wieder mit Politik in Verbindung gebracht, wobei es meist die Texte der Lieder sind, die im Mittelpunkt des Interesses stehen. Aber wie eine Vielzahl an Publikationen zu HipHop und Rap zeigt, ist die Sache nicht so einfach, was die Richtung angeht, gemäß der sich Rap und Politik verbinden: Handelt es sich bei der Rap-Szene um eine revolutionäre, politische, antirassistische Subkultur? Also um eine Kulturpraxis der politisch Ausgegrenzten? Um eine ‚schwarze‘ Kultur? Oder eine hybride? Um eine Kultur homophober, misogyner, zu Gewalt aufrufender Krimineller? Um eine kommerzielle Massenkultur, authentische Volkskultur oder gar eine literarische Revolution? Wie die folgenden Ausführungen zeigen, passt Rap - je nach Einordnung in gewisse narrative Erzählzusammenhänge - in praktisch alle Schubladen. Ziel der folgenden Darlegungen ist es weniger, eine möglichst detaillierte Darstellung der Geschichte des HipHops mit allen Namen und Daten zu liefern, sondern in Hinblick auf die später folgende Lektüre ausgewählter Rap-Texte die Entstehung und anhaltende Wirksamkeit der großen narrativen Zusammenhänge nachzuzeichnen, in die Rap immer wieder gestellt wurde und wird. 3.1 Der historische Hintergrund des Black Noise Über die Geschichte und Entwicklung des HipHops ist bereits eine Flut an Texten erschienen, wobei bereits die Titel der bekanntesten Überblicksbände zeigen, dass HipHop als Phänomen auf eine längere Geschichte verweisen kann, so bei Nelson Georges XXX - Drei Jahrzehnte HipHop (amerikanische Erstausgabe 1998, dt.: 2002) oder David Toops Klassiker der HipHop- Geschichte Rap Attack #3 (amerikanische Erstausgabe der dritten, überarbeiteten Auflage 1992, dt.: 2000) oder Sascha Verlans und Hannes Lohs 25 Jahre HipHop in Deutschland (2006), das auf dem 2000 erschienen Band 20 Jahre HipHop in Deutschland fußt. Dass diese lange Geschichte der populären Musikkultur für viele eine Überraschung darstellt, zeigen die Anmerkungen der Autoren: Heute, bereits im dritten Jahrzehnt, ist der Einfluss des HipHop überall zu spüren. Trotz Zeichen der Schwäche - die starke Abhängigkeit von großen Unternehmen, die zuweilen hämische Zelebrierung antisozialer Tendenzen - 3. Die Populärmusik des Raps 42 sieht es nicht danach aus, als wäre die HipHop-Bewegung in absehbarer Zeit auf künstliche Ernährung angewiesen. HipHop hat all seine Feinde überlebt, seine begeisterten Anhänger durch ständige Veränderungen überrascht und bei Laune gehalten und mit jeder Veränderung seine Anhängerschaft vergrößert. […]. Ein Ende ist nicht in Sicht. 166 Gegen 1984 verfassten Experten bereits ihre Nachrufe auf HipHop: ein vergänglicher Spleen, der kaum mehr als eine Fußnote in der Musikgeschichte füllen werde. […]. Zur gleichen Zeit verwandelte Hollywood die Geschichte des HipHop in eine Romanze […]. Aber wie so häufig wurden die tödlichen Effekte dieser Entwicklung durch eine explosive Entwicklung im Underground ausbalanciert. […]. HipHop konnte nicht mehr als Lifestyle abgetan werden, als vergänglicher Spleen, der von hyperaufmerksamen Plattenfirmen, Galerien oder Filmstudios erst umworben und dann wieder fallen gelassen wird. […]. HipHop hat sich nicht sofort wieder aufgebraucht, wie es seine Kritiker zwingend vorhergesagt hatten. Stattdessen ist die Musik gewachsen und hat sich in ein Konfliktfeld widerstreitender Weltanschauungen verwandelt […]. 167 Auf den ersten Blick scheint der Begriff ‚HipHop‘ in diesen Zitaten als Metonymie aufzutreten, als Begriff, der die einzelnen AktantInnen der HipHop- Szene umfasst. Bei näherem Blick allerdings zeigt sich, dass HipHop selbst - mittels des rhetorischen Verfahrens eines Anthropomorphismus - als biologisches Wesen, als Mensch, gezeichnet wird, das wachsen und überleben kann oder künstlich ernährt werden muss, wobei mit de Man festgestellt werden muss, dass „ein ‚Anthropomorphismus‘ nicht einfach eine Trope [ist], sondern eine Identifizierung auf der Ebene der Substanz. Ein Anthropomorphismus ist […] ein Eigenname […].“ 168 HipHop wird „als [Megasubjekt] imaginiert, [das] eine ähnlich stürmische Geschichte durchl[äuft] wie in Märchen, Bildungsromanen […]“, wodurch er „in den Status der Erfahrbarkeit versetzt werden“ kann, indem er „‚körpernah‘ und alltagsgerecht konstruiert [wird].“ 169 Und die Geschichte des HipHops scheint wahrlich stürmisch zu sein, wie aus den obigen Zitaten hervorgeht: HipHop hat Feinde und KritikerInnen, zeigt Abhängigkeiten von AusbeuterInnen, wird umworben und eventuell fallen gelassen, und er hat auf alle Fälle viele Veränderungen durchgemacht, an denen er gewachsen ist. Diese im wahrsten Sinne des Wortes ‚körpernahe‘ Konstruktion des HipHops als, wie Kimminich meint, „organische[s] Holon“ 170 ist es auch, die ihn zu einem immanent zeitlichen Subjekt macht, das als Subjekt einen An- 166 Nelson George: XXX. Drei Jahrzehnte HipHop. Freiburg 2002 [1998], S. 11 (Markierungen von mir, Anm. A. B.). 167 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. IXff. (Markierungen von mir, Anm. A. B.). 168 Paul de Man: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main 1988 [1979], S. 181. 169 Beide Zitate: Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 13. 170 Kimminich, Lost Elements (Anm. 13), S. 56. 3.1 Der historische Hintergrund des Black Noise 43 fang und ein (wenn auch noch nicht vorherzusehendes) Ende in der Welt hat. Schließlich ist „Zeit […] Voraussetzung und Resultat für dieses In-der-Welt- Sein, wie es die Narration bekräftigt“ 171 , so Müller-Funk. Dementsprechend lassen bereits die ersten Sätze der Anfangserzählungen in jenen Bänden, die die HipHop-Geschichte aufarbeiten, narrative Grundmuster, d. h. ein Emplotment, nicht vermissen. Schließlich ist nur ganz, „was Anfang, Mitte und Ende hat“ 172 , auch wenn ‚Anfang‘ nicht heißt, dass vorher nichts gewesen ist, nur präsentiert sich das Vorher als nicht notwendig für die narrative Kohärenz einer Geschichte. Hayden White weist in diesem Zusammenhang auf den Konstruktionscharakter jeder Geschichtserzählung hin, indem er betont, dass eine gegebene Menge von zufällig überlieferten Ereignissen niemals für sich selbst eine Geschichte darstellen kann. […]. Die Ereignisse werden zu einer Geschichte gemacht durch das Weglassen oder die Unterordnung bestimmter Ereignisse und die Hervorhebung anderer, […] Wechsel in Ton und Perspektive, […] - kurz mit Hilfe all der Verfahren, die wir normalerweise beim Aufbau einer Plotstruktur eines Romans oder Dramas erwarten. 173 Auf diese Weise zeigen sich die Geschichten über die Entwicklung des HipHops und Raps als narrative Konfigurationen, die bestimmte Ereignisse zu einem kohärenten Ganzen formen: Natürlich ist diese Geschichte von den Anfängen der HipHop-Kultur schon unzählige Male erzählt worden. Die übliche Version ist: Die Jugendlichen aus der Bronx waren zu jung, hatten kein Geld oder nicht die richtigen Klamotten, als dass man sie in die schicken Clubs und Diskotheken gelassen hätte. Also veranstalteten sie ihre eigenen Partys in den Parks und Hinterhöfen: Block Partys. […]. Den Strom für das Soundsystem des DJs holte man sich bei irgendwelchen Nachbarn oder noch lieber aus dem öffentlichen Netz, indem man die nächste Straßenlaterne anzapfte. […]. Und dann konnte die Party beginnen, bis die Polizei kam und den Spaß beendete […]. 174 Im Jahr 1979 eroberte eine kleine Underground-Bewegung mit bescheidenen Mitteln und Ambitionen eine breitere Öffentlichkeit. Eine neue Musik, die in den Clubs der Bronx, auf Schulsportplätzen und Straßenpartys ihren Anfang genommen hatte, wurde zum ersten Mal auf Platte veröffentlicht […]. 175 171 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 71. 172 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1. Zeit und historische Erzählung. München 1988 [1983], S. 66; vgl. auch Aristoteles, Poetik, 1450b, in: ebenda, Griechisch/ Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Auflage. Stuttgart 1994, S. 25. 173 Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Einführung von Reinhart Koselleck. Stuttgart 1986, S. 104 (Markierung dem Original entnommen). 174 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 128. 175 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. VII. 3. Die Populärmusik des Raps 44 Wie in diesen Zitaten deutlich wird, haben Erzählungen immer eine ‚Raumzeit‘, einen, nach Bachtinscher Terminologie, Chronotopos, d. h. „die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“ 176 Beide Dimensionen, Zeit und Raum, verschmelzen zu einem konkreten Ganzen. 177 So ist es zunächst das ‚schwarze‘, arme, US-amerikanische New Yorker Ghetto, das in den 1970er Jahren den zeitlichen und geographischen Ursprung des HipHops 178 bildet. Von hier aus setzt sich die Geschichte der neuen Musikrichtung fort, repräsentiert durch den ‚schwarzen‘ Rapper, der, so die ‚Geschichte‘, immer ein bisschen mit dem Gesetz in Konflikt steht. Hier werden die Techniken des DJings (unter Anleihen der aus Jamaika stammenden Techniken des Soundsystems) 179 und des Rappens (rückgreifend auf Traditionen des Umgangs mit Sprache und Rhythmus von westafrikanischen Kulturen) 180 entwickelt. 181 Zu Anfang scheint es sich bei HipHop, wie auch den obigen Zitaten zu entnehmen ist, um eine Party-Kultur zu handeln. Die DJs versuchen, das Publikum zum Tanzen zu animieren, wobei anfangs die MCs [die RapperInnen, Anm. A. B.] helfen, indem sie mit den Leuten kommunizieren: „Throw your hands up in the sky […]! “ 182 Schließlich aber werden die Texte der RapperInnen „zum Leidwesen der DJs“ 183 immer wichtiger und eigenständiger gegenüber den Tätigkeiten der DJ(ane)s, die von nun an in der Rezeption seitens der RezipientInnen oder auch der Theorie und Medien in den Hintergrund treten. Der Grund für die erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der/ m RapperIn liegt in diesem Zusammenhang wohl nicht nur in der immer ausgefeilteren 176 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski und Michael Wegner. Frankfurt am Main 1989 [1975], S. 8. 177 Vgl. ebenda, S. 8. 178 Begrifflich gilt es zwischen HipHop und Rap zu unterscheiden, wobei mit Rap nach Dorsey ein „fluent and lively way of talking“ (in: Dorsey, Spirituality, Anm. 14, S. 326) oder nach Wicke ein „rhythmisch skandierte[r] Sprechgesang“ (in: Peter Wicke: Rap. In: Ludwig Finscher (Hrsg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil Bd. 8. Kassel/ Basel/ London et al. 21996, Sp. 69-71, hier Sp. 70) bezeichnet wird, während HipHop als Bezeichnung für die damit in Zusammenhang stehende kulturelle (Lebens-)Praxis zu verstehen ist. Zur Kultur des HipHops gehören neben Rap und DJing auch die Kunstrichtungen des Breakdancings und Graffiti-Sprühens. 179 Vgl. Tony Mitchell: Popular Music and Local Identity. Rock, Pop and Rap in Europe and Oceania. London/ New York 1996, S. 29. 180 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 15. 181 Vgl. u. a. Lothar Mikos: Vergnügen und Widerstand. Aneignungsformen von HipHop und Gangsta Rap. In: Udo Göttlich und Rainer Winter (Hrsg.): Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies. Köln 2000, S. 103-123, hier S. 106. 182 Kurtis Blow zitiert nach Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 25. 183 Sascha Verlan (Hrsg): Rap-Texte. Für die Sekundarstufe. Stuttgart 2003a, S. 9. 3.1 Der historische Hintergrund des Black Noise 45 Technik des Sprechgesangs, sondern vor allen Dingen auch in den Inhalten der Texte: Ab den 1980er Jahren wird mit der Geburt des Message-Raps Rap zunehmend als politisches Medium wahrgenommen. Grundlegend dafür ist Grandmaster Flashs Rap The Message 184 aus dem Jahr 1982, der erstmals das Thema des harten und von Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und Kriminalität geprägten Lebens der ‚Schwarzen‘ im Ghetto anspricht - „eine Zäsur in der Geschichte der Bewegung“ 185 , so Bärnthaler. Rap wird fortan - von den RapperInnen, der Theorie, den Medien - zum Sprachrohr der ‚schwarzen‘ Bevölkerung stilisiert. Die Kulturwissenschafterin Tricia Rose definiert in ihrem Standardwerk zu HipHop Black Noise (1994) Rap als a black cultural expression that prioritizes black voices from the margins of urban America. […]. Rap tales are told in elaborate and ever-changing black slang and refer to black cultural figures and rituals […]. [T]he stories, ideas, and thoughts articulated in rap lyrics invoke and revise stylistic and thematic elements that are deeply wedded to a number of black cultural storytelling forms, most prominently toasting and the blues. 186 Auch Brian Dorsey spricht im Jahre 2000 davon, dass Rap by definition, has a political content. Even when not explicitly issues-oriented, rap is about giving a voice to a black community otherwise underrepresented, if not silent, in the mass media. […]. Rap cannot afford the luxury of rock’s sentimentality, but perhaps is the only place in contemporary popular music where politics is and must be constantly marked. […]. In this argument, rap constructs and reconstructs a black community which reinterprets the preexisting forms of culture, in a far more radical way than punk, in a widely circulating form of music. 187 Die Geschichte des HipHops unterliegt somit einer ersten Narrativisierung, die zu einer Essentialisierung der Kulturtechnik des Raps führt. Rap wird fortan als „Ausdruck des Widerstandes und Medium der Befreiung schwarzer Jugendlicher“ 188 verstanden. Rap gibt den ‚Schwarzen‘ die Möglichkeit, sich selbst in der sie ausgrenzenden amerikanischen Gesellschaft zu positionieren resp. eine als positiv erlebte, ‚schwarze‘ Identität zu konstituieren und zum Ausdruck zu bringen. 189 Es kommt zu einer „Notgemeinschaft der Marginali- 184 Grandmaster Flash: The Message. Auf: The Message. Sanctuary (rough trade) 2002 [1982]. 185 Thomas Bärnthaler: Two Turntables and a Microphone. Widerständigkeit und Subversivität in der HipHop Kultur, 1997, URL: http: / / www.lrz-muenchen.de/ ~uf121as/ www/ jive.htm (Stand: 31.12. 2011). 186 Tricia Rose: Black Noise. Rap Music and Black Culture in Contemporary America. Hannover/ London 1994, S. 2f. 187 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 363. 188 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 60 (Markierung von mir, Anm. A. B.). 189 Vgl. ebenda, S. 63. 3. Die Populärmusik des Raps 46 sierten“ 190 , was auch zu Ideen einer kollektiven, afrikanisch-amerikanischen Diaspora-Identität unter den AnhängerInnen des HipHops führt: „In this context, the Hip Hop Nation becomes a vague and amourphously local relation to other African-American nationalist projects.“ 191 In diesem Zusammenhang gilt insbesondere die Band Public Enemy 192 mit ihrem Album It takes a Nation of Millions to hold us back (1988) als Wendepunkt in der Geschichte des Raps, they „envisioned an African- American community that could be linked together through postmodern media technology.“ 193 Dem „unverbindlichen Sozialrealismus“ des früheren HipHop, stellen Public Enemy, so Bärnthaler, „einen Masterplan[,] […] ein[e] Befreiungsutopie aus Nationalismus und Separatismus“ 194 gegenüber. Die Wichtigkeit von Live-Performances tritt zurück hinter der Möglichkeit, über Medienprodukte in ganz neuen Dimensionen zu kommunizieren. 195 Wie Klein und Friedrich betonen, wird die Geschichte des HipHops in diesem Zusammenhang zu einem modernen Mythos, wobei moderne Mythen im Gegensatz zu den ‚alten‘, welche sich zumindest aus heutiger Perspektive auf Ursprungserzählungen in fernen Vergangenheiten beziehen, einen konkreten historischen Zeitpunkt als Beginn aufweisen. 196 Mythen bilden eine Gemeinschaft, „die sich […] wieder gefunden hat, eine[…] Gemeinschaft, in der jedwede Entfremdung und Entzweiung aufgehoben ist. Was der moderne Mythos erzählt, ist das an sich Unmögliche: die Erfahrbarkeit umfänglicher sozialer Entitäten.“ 197 Immer wieder wird nun von Seiten der Wissenschaft, der KünstlerInnen oder der Medien auf diese Ursprungserzählung hingewiesen, und diese wird auf diese Weise aktualisiert und in ihrer Gültigkeit bestätigt. 198 190 Günther Jacob: Agit-Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Texte zu Rassismus und Nationalismus, HipHop und Raggamuffin. Berlin/ Amsterdam 1993, S. 30. 191 Mitchell, Popular Music and Local Identity (Anm. 179), S. 24. 192 Public Enemy: It takes a Nation of Millions to hold us back. Def Jam (Columbia) 1988. 193 Greg Dimitriadis, Performing Identity/ Performing Culture. Hip Hop as Text, Pedagogy, and Lived Practice. New York 22004, S. 26. 194 Bärnthaler, Two Turntables and a Microphone (Anm. 185), Quelle: Internet. 195 Vgl. Dimitriadis, Performing Identity (Anm. 193), S. 26f. 196 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 62. 197 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 105. 198 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 62. Darauf, dass die Ursprünge des Raps aber mitnichten in einer rein ‚schwarzen‘ Kultur liegen, sondern einerseits eng mit jamaikanischen Traditionen verbunden sind und andererseits ihre Entwicklung auch ‚hispanischen‘ oder ‚weißen‘ MusikerInnen verdanken, haben u. a. Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 109 oder George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 85ff hingewiesen. 3.2 The Global Nation 47 3.2 The Global Nation Es stellt sich mittlerweile als eine unumstößliche Tatsache dar, dass Rap als kulturelle Ausdrucksform nicht mehr ausschließlich in seinem ursprünglichen geographischen Rahmen praktiziert wird, sondern global präsent ist. Dem Umstand der globalen Verbreitung des HipHops wird dabei von VerfechterInnen der Jugendkultur als genuin ‚schwarzer‘ Kultur wenig Enthusiasmus entgegengebracht. Kritisiert wird in diesem Zusammenhang eine Übernahme der ‚schwarzen‘ Kulturtechniken durch Angehörige anderen ethnischen Ursprungs. So sinniert George über der Frage: „Ähnlich wie die Soul-Musik gehört der HipHop heute nicht mehr denen, die ihn erschaffen haben. Wie konnte das - schon wieder - passieren? “ 199 , während Rose Folgendes konstatiert: Young white listeners’ genuine pleasure and commitment to black music are necessarily affected by dominant racial discourses regarding African Americans, the politics of racial segregation, and cultural difference in the United States. Given the racially discriminatory context within which cultural syncretism takes place, some rappers have equated white participation with a process of dilution and subsequent theft of black culture. Although the terms dilution and theft do not capture the complexity of cultural incorporation and syncretism, this interpretation has more than a grain of truth in it. There is abundant evidence that white artists imitating black styles have greater economic opportunity and access to larger audiences than black innovators. 200 Rose spricht in diesem Zitat zwei Punkte an, die für eine Analyse des HipHops von Wichtigkeit sind: Indem sie bekräftigt, dass eine „dilution“ von Rap möglich ist, geht sie davon aus, dass es so etwas wie eine Kernkultur des Raps gibt, die nicht verwässert und diesem Sinne ‚rein‘ ist, wobei diese durch den Rap von ‚Schwarzen‘ repräsentiert wird. Die Ausdrücke des „Gehörens“ bei George oder des „theft“ bei Rose implizieren zudem Eigentumsverhältnisse gegenüber der Kultur des HipHops. Während sich ‚nicht-schwarze‘ und insbesondere ‚weiße‘ RezipientInnen an der ‚Hipness‘ der ‚schwarzen‘ Kultur erfreuen, imitieren ‚weiße‘ KünstlerInnen ‚schwarze‘ Vorbilder, um kommerziellen Erfolg daraus zu schlagen. Diese Ansichten spiegeln sich auch in den Geschichtserzählungen über HipHop wider, die von der Vorstellung eines Niedergangs der kulturellen Praxis durch die ‚weiße‘ Partizipation geprägt sind. Dementsprechend führt Toop auf der letzten Seite von Rap Attack aus: Vielleicht war das eine ziemlich harte Geschichte für all die schwarzen Rap- Künstler, die dafür gekämpft haben, das Genre zu etablieren. Aber es gibt keine Gerechtigkeit in der populären Musik. Der Aufstieg des [weißen, Anm. 199 George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 10; das „schon wieder“ bezieht sich auf die Übernahme des Jazz, Blues, Rock’n’Roll und Soul seitens ‚weißer‘ MusikerInnen. 200 Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 5f. 3. Die Populärmusik des Raps 48 A. B.] Vanilla Ice war die letzte Stufe zur kompletten Eingliederung von Rap in die Musikindustrie. Ein neuer Tag, ein neuer Dollar. 201 Diese Interpretation mag für manche TeilnehmerInnen an der Kultur des HipHops richtig sein, was aber eine Vielzahl globaler RezipientInnen und KünstlerInnen betrifft, so bestätigt der weltweite Diskurs in Medien, Kulturprodukten und wissenschaftlichen Abhandlungen diese Ansichten nur partiell. Denn in weiten Teilen der globalen Rap-Szene wird nicht von Imitation, sondern von Identifikation gesprochen. Es bleibt aber mit Negus zu fragen: „[W]hat [are] we to make of subcultural styles that have ‘moved out’ from the initial location of their appearance […]“ 202 ? Was ist also mit HipHop im globalen Kontext passiert? Wie die Forschung aufzeigt, hat im Falle von HipHop und Rap ein kultureller Transfer stattgefunden, wobei Transfer nicht als lineare Verbindung zwischen zwei Untersuchungseinheiten gedacht [wird], sondern als ein auf Mehrdeutigkeit basierendes multiplexes Verfahren des Austauschs von Informationen, Symbolen und Praktiken, im Laufe dessen permanent Uminterpretation und Transformation stattfinden. 203 Bei einem kulturellen Transfer erfolgt also eine Deplatzierung spezifischer kultureller Elemente, die in neue Kontexte eingefügt werden und nun kontextabhängig neue Bedeutung erlangen. 204 So wurden auch die Kulturtechniken des Raps und HipHops im Allgemeinen innerhalb neuer Kontexte reterritorialisiert. Für die Verbreitung des HipHops sind dabei in erster Linie die modernen (Massen-)Medien verantwortlich, so stellen im deutschsprachigen Raum zunächst die US-amerikanischen Filme Wildstyle (USA 1983) und Beatstreet (USA 1984), die jeweils die Geschichte eines Breakdancers und eines Graffitischreibers erzählen, für viele den ersten Kontakt mit der amerikanischen Kulturpraxis des HipHops her, gefolgt von Platten, Magazinen, dem Musikfernsehen u. a. Wie innerhalb der Forschung, aber auch unter den Angehörigen des HipHops immer wieder betont wird, führt der Kontakt mit den global zirkulierenden Kulturprodukten des HipHops allerdings nicht zu einer monistischen, von der Kulturindustrie in Kontrolle gehaltenen, globalen Musikkul- 201 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 240. 202 Negus, Popular Music (Anm. 64), S. 24. 203 Federico Celestini und Helga Mitterbauer: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers. Tübingen 2003, S. 11-17, hier S. 12. 204 Vgl. Werner Suppanz: Transfer, Zirkulation, Blockierung. Überlegungen zum kulturellen Transfer als Überschreiten signifikatorischer Grenzen. In: Federico Celestini und Helga Mitterbauer (Hrsg.): Ver-rückte Kulturen. Zur Dynamik kulturellen Transfers. Tübingen 2003, S. 21-33, hier S. 24; vgl. dazu Arno Scholz: Kulturelle Hybridität und Strategien der Appropriation an Beispielen des romanischen Rap unter besonderer Berücksichtigung Frankreichs. In: Eva Kimminich (Hrsg.): Rap: More than Words. Frankfurt am Main/ Berlin/ Wien et al. 2004, S. 45-65, hier S. 48ff. 3.2 The Global Nation 49 tur: „Central to the localization of rap music then is a process of creative adoption and adaptation […].“ 205 Es entwickeln sich also weltweit lokale Szenen, die als lokale ‚Dialekte‘ der globalen Kulturpraxis verstanden werden können: 206 Die Kultur des Lokalen ist demnach abhängig vom Globalen, wie umgekehrt lokale Kulturpraxis einen Einfluss darauf hat, wie sich kulturelle Globalisierung inhaltlich gestaltet. […] [L]okale Orte [sind] zwar Bestandteile der globalen Logik der Warenproduktion, die lokale Praxis des Pop geht aber nicht vollständig in der Logik der Ware auf. 207 In den sich lokal ausbildenden Szenen kommt es zunehmend zu Differenzierungen und einer eigenständigen Adaption der kulturellen Praxen in der Produktion eigener Kulturprodukte. Die Tatsache, dass HipHop globale Verbreitung gefunden hat, führt allerdings zu der Frage, weshalb Menschen außerhalb des ‚schwarzen‘ US-amerikanischen Ghetto-Kontextes Rap rezipieren. Wie bei den eingangs zitierten ‚Anfangserzählungen‘ anklingt, ist der Protagonist der HipHop-Geschichten ein (‚schwarzer‘) Mann, ein „Kämpfer im feindlichen Dschungel“ 208 , der im Sumpf von Drogen, Gewalt, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung aufwächst, die Polizei zum ständigen Gegner hat, aber mittels der Kunst einen Weg aus diesem zerstörerischen Umfeld resp. zumindest eine Möglichkeit gefunden hat, sich zu artikulieren und auf diese Weise in die ‚Realität‘ einzugreifen. Und nur über die Artikulation und über das Kreieren eines eigenen Stils besteht die Chance, der Anonymität der Großstadt zu entkommen. Dies geschieht aber nicht allein, sondern innerhalb der Gruppe. 209 HipHop zeigt sich also der Erzählung gemäß als ‚authentischer‘ Ausdruck genau dieser Erfahrungen, die mittels der Kunst einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Dorsey geht in diesem Zusammenhang von einer „basic assupmtion” in der HipHop-Community aus, „that rap speaks to real people in a real language about real things.“ 210 Wiewohl in Bezug auf den amerikanischen Rap ausschließlich ‚Schwarze‘ diese Erfahrungen machen können, da nur sie im US-amerikanischen Ghetto leben, sind es die Attraktivität und Offenheit des narrativen Schemas des Widerstands des Schwachen und Unterdrückten gegen die ihn hemmenden, widrigen Umstände, die Rap so attraktiv für lokalspezifische Adaptionen machen. Im Zuge dieser Adaptionen im globalen Kontext erfolgt eine Umformulierung der ethnisch geprägten Authentizität zu einer sozialen Authentizität: ‚Echten‘ HipHop können im 205 Andy Bennett: Cultures of Popular Music. Maidenhead 2001, S. 94. 206 Vgl. Androutsopoulos, Einleitung (Anm. 4), S. 11. 207 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 89. 208 Ebenda, S. 23. 209 Vgl. ebenda, S. 21. 210 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 363. 3. Die Populärmusik des Raps 50 globalen Kontext nicht mehr nur ‚Schwarze‘, sondern auch all jene machen, die gesellschaftlich im Abseits stehen, die auf ähnliche soziale Erfahrungen zurückgreifen können. Narrative Adaptionen dieses Schemas gibt es nun so viele, wie es HipHop- InterpretInnen gibt. Im globalen Kontext haben sich aber ausgehend von den USA zwei ‚Master-Narratives‘ herausgebildet, die für den globalen Rap paradigmatisch geworden sind. In den folgenden Ausführungen sollen die Entwicklungen dieser narrativen Rahmungen der Rap-Geschichte in den USA und in Deutschland nachgezeichnet werden. 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops 3.3.1 Der politisch korrekte Rap als Abgrenzung vom Party-Rap Wie bereits erwähnt, überlagert nach dem Auftauchen des sogenannten Message-Raps nach 1982 das Bild des politischen sowie auch pädagogischen, im Kampf gegen Rassismus und Diskriminierung engagierten Raps das Bild des HipHops als Party-Kultur. Nach Rapper Chuck D sollte Rap „black America’s CNN“ 211 darstellen - man möchte also mittels der ‚authentischen Kunst‘ den Problemen im US-amerikanischen Ghetto Aufmerksamkeit verschaffen. 212 Während es dabei für den US-amerikanischen Kontext als ‚authentisch‘ gilt, sich als ‚Schwarzer‘ über das Leben im Ghetto zu äußern, wird der Erfahrungshorizont der ‚Schwarzen‘ im globalen Kontext zunächst auf andere ethnische Minderheiten übertragen. HipHop bildet sich dieser Sichtweise gemäß in den 1990er Jahren als Forum heraus, mittels dessen Themen wie Rassismus, Armut, Arbeitslosigkeit, urbanes Leben, soziale Marginalisierung u. Ä. behandelt werden. 213 Dies spiegelt sich in diversen Definitionen von Rap wider: Nach Stefanie Menrath bedeutet „‚Teil der Kultur zu sein‘“ einerseits, „‚dasselbe zu mögen und zu verstehen‘ als abstraktes Wissen, aber auch als Handlung“ 214 , basierend auf der „Erfahrung der Unterdrückung, als Gemeinsamkeit der HipHopper in den USA und Deutschland bzw. anderen Ländern, […]. Die Gemeinsamkeiten […] basieren auf ähnlichen Erfahrungshintergründen.“ 215 Winter konstatiert, HipHop sei eine „politische Gegenmacht“, denn „durch Rap werden Rassismus und Unterdrückung benannt und bekämpft.“ 216 Kimminich hingegen betont, dass es vielen HipHopperInnen um „Enttarnung und Umdeutung hegemonial geprägter […] Begriffe“ 217 gehe. 211 Chuck D zitiert nach Dimitriadis, Performing Identity (Anm. 193), S. 28. 212 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 123. 213 Vgl. Bennett, Popular Music (Anm. 205), S. 93f. 214 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 85. 215 Ebenda, S. 82f. 216 Rainer Winter: Vorbemerkung des Reihenherausgebers. In: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003, S. 7-8, hier S. 7. 217 Kimminich, Lost Elements (Anm. 13), S. 54. 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops 51 Laut vieler HipHop-Geschichten sind es in Ländern außerhalb der USA zunächst ethnische Minderheiten oder MigrantInnen der zweiten Generation die sich dem HipHop zuwenden. 218 Im deutschsprachigen Kontext herrscht allerdings Uneinigkeit darüber, wer genau den Anfang in der HipHop-Szene gemacht hat. So spricht Dufresne zunächst lediglich von der als nicht ‚authentisch‘ wahrgenommenen Gruppe Die Fantastischen Vier, wenn er über deutschen HipHop spricht, wobei sich in seiner Darstellung der Anfänge des deutschen Raps deutlich seine eigene Vorstellung von Rap als politischer Widerstandskultur widerspiegelt: Und Deutschland? Beginnen wir mit ‚Die Fantastischen Vier‘ aus Stuttgart. Ihr Debut-Album [sic! ] ‚Jetzt geht’s ab‘ (Sony) ist ganz schrecklich, und das ist durchaus schade. Wer HipHop/ Rap ernst nimmt, muss auch an deutschsprachigen Raps interessiert sein, weil Rap ‚Word‘ ist und ‚Message‘ (und nicht nur Groove) und weil beides verstanden gehört. Das Problem ist nun, dass die Fantastischen Vier diese Idee zwar aufgreifen, aber… nichts zu sagen haben. Wenn aber Deutsche, die nichts im Kopf haben, ‚Negermusik‘ imitieren, und sei es noch so perfekt, dann verfallen sie gerne in Rosenmontagslaune […]. 219 Verlan und Loh widersprechen der Vorreiterrolle der Fantastischen Vier, indem sie betonen, dass es deutschsprachigen Rap schon zehn Jahre vor deren Debüt von 1991 gegeben habe. Lediglich die Medien seien für den starken Fokus auf diese Gruppe verantwortlich, 220 deren „Mittelstandsrap“ auch von Verlan und Loh kritisiert wird, aber als nicht repräsentativ für die anderen, politisch engagierten deutschen Gruppen angesehen wird: „Da war nichts von dem Aufbegehren benachteiligter Jugendlicher, […]. Davon war bei den Fantastischen Vier nichts mehr zu spüren, sie standen ja auch nicht im Abseits.“ 221 Bennett oder Wicke wiederum betonen in Zusammenhang mit der Entwicklung der deutschen HipHop-Szene, dass es auch in Deutschland dem globalen Bild entsprechend zunächst MigrantInnen (der zweiten Generation) gewesen seien, die mittels Rap Probleme wie Rassismus oder Ausländerfeindlichkeit angesprochen hätten. 222 Klein und Friedrich gehen in diesem Zusammenhang auf die Vorreiterrolle der türkisch-sprachigen HipHop-Szene in Deutschland ein, die ihrer Meinung nach ab Mitte der 1990er mit dem Aufkommen der deutschen Sprache im Rap durch die Fantastischen Vier und 218 Vgl. Bennett, Popular Music (Anm. 205), S. 95; vgl. auch Fatima El-Tayep: European Others. Queering Ethnicity in Postnational Europe. Minneapolis/ London 2011, S. 29- 41. 219 David Dufresne: Yo! Rap Revolution. Geschichte - Gruppenbewegung. Mit einem Up- Date zur deutschen Ausgabe von Günter Jacob. Neustadt 1992, S. 195. 220 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 118. 221 Beide Zitate: ebenda, S. 118. 222 Vgl. Bennett, Popular Music (Anm. 205), S. 96; vgl. auch Wicke, Rap (Anm. 178), Sp. 71. 3. Die Populärmusik des Raps 52 deren großes Medienecho an Bedeutung und Publikum verloren habe. 223 Als Dokument für die Ursprünge des deutschsprachigen, politisch engagierten Raps gilt das unermüdlich zitierte Fremd im eigenen Land (1992) von Advanced Chemistry, in dem davon gesprochen wird, dass ein ‚grüner Pass‘ mit Bundesadler einem ‚Schwarzen‘ noch nicht garantiere, als Deutscher akzeptiert zu werden: 224 ‚[F]remd im eigenen land‘ wurde dann auch zum ersten Hit aus dem HipHop- Untergrund, und es war das erste Mal, dass Jugendliche fremdländischer Herkunft auf ihre Situation und Verletzungen in Deutschland aufmerksam machten. ‚fremd im eigenen land‘ machte vielen anderen Mut, sich zu wehren, und begründete das Ansehen und den Ruhm von Advanced Chemistry. 225 Wie aus den Ausführungen dieses Kapitels hervorgeht, wird in vielen Abhandlungen ein dichotomes Bild von Rap gezeichnet, dem gemäß der politische Rap dem Party-Rap gegenübersteht, wie u. a. Androutsopoulos 2003a bestätigt: Tatsache ist zwar, dass HipHop in vielen Ländern Westeuropas zu einem guten Teil von Migrantennachkommen getragen wird. Ebenso gilt, dass Rap nach wie vor als sozialkritisches Ausdrucksmittel genutzt wird (Scholz 2003: 117). Allerdings schlägt die Aneignung von HipHop in Europa auch ganz andere Richtungen ein, was beispielsweise im deutschsprachigen Kontext mit der Fantastische Vier-Formel ‚we are Mittelstand‘ zum Ausdruck kommt (vgl. auch Stecher 1999). Globaler HipHop entzieht sich eindeutiger Verortungen. Auszugehen ist vielmehr von einer ‚Koexistenz von Subversion und Kommerz‘ (Richard/ Krüger 1998: 13) in sich dynamisch ausdifferenzierenden, lokalen HipHop-Märkten. 226 223 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 72ff.; vgl. auch Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 217. 224 Für den Text des Raps siehe Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 70f.; zur Pionierstellung der Gruppe innerhalb der deutschen Rap-Szene vgl. Jacob, Agit-Pop (Anm. 190), S. 221; vgl. auch Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 58. 225 Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 70; zu den ‚Kämpfen‘ um den ‚wahren‘ deutschen HipHop zwischen den Fantastischen Vier und Advanced Chemistry vgl. die wenig neutral gehaltenen Ausführungen von Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 222. 226 Androutsopoulos, Einleitung (Anm. 4), S. 13f. Die Zitate im Text sind folgenden Publikationen entnommen: Birgit Richard und Heinz-Hermann Krüger: Die Techno- Szene. Sprachlose Jugendkultur der 90er Jahre? In: Deutschunterricht 6/ 1998, S. 6-14; Arno Scholz: ‚Explicito lingo‘. Funktionen von Substandard in romanischen Rap- Texten (Italien, Frankreich, Spanien). In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 65/ 2003, S. 111-130; Thomas Stecher: Rap der neuen Mitte. In: Die Zeit vom 7.1. 1999, S. 29-30. Zur These der Entgegenstellung von deutscher Party-Kultur und Underground vgl. auch Jan Berns und Peter Schlobinski: Constructions of Identity in German Hip-Hop Culture. In: Jannis Androutsopoulos und Alexandra Georgakopoulou 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops 53 Aus diesen Worten geht hervor, dass es zwei dominante Richtungen im Hip- Hop zu geben scheint: Den sozialkritischen, widerständischen, der von MigrantInnennachkommen getragen wird, und jenen, der kommerziell orientiert und mit Gruppen des Mittelstands in Verbindung zu bringen ist. Entgegen dem Anschein, dass dabei nur dem sozialkritischen Rap ‚Authentizität‘ bescheinigt werden kann, weisen Berns und Schlobinski darauf hin, dass im Sinne einer sozialen Authentizität eigentlich beide Strömungen, die des politisch-subversiven und die des Party-Raps, auf je eigene Weise als ‚authentisch‘ gelten sollten. Deutlich wird in den Ausführungen der Autoren, wie wichtig das Bild der ‚Aufrichtigkeit‘ in Zusammenhang mit Rap ist: Nonetheless both fractions, the commercial and the underground German hip-hop, produced ‘true’ lyrics, in the sense that they were related to the rappers’ social experience. The fun and party fraction mainly told stories about partying and having fun, while the underground old school dealt critically with the living conditions of ‘non-mainstream’ Germans, e. g. Afro-Germans, Italo-Germans or Turk-Germans. 227 Während in diesem Zitat der politisch-widerständische Rap mit sozialem Elend in Verbindung gebracht wird, stellt der Party-Rap dessen kommerzialisierte, d. h. in Hinblick auf monetären Gewinn produzierte, Variante dar. Die folgenden Erläuterungen werden allerdings zeigen, dass sich eine derartige Dichotomisierung in Bezug auf die Ausformungen des Raps als äußerst problematisch darstellt. 3.3.2 Der Gangsta-Rap : Hyper- oder Entpolitisierung? Zur gleichen Zeit, in der durch Raps à la Public Enemy HipHop im Sinne ‚schwarz‘-nationalistischer Tendenzen narrativisiert wird, entsteht Ende der 1980er Jahre an der US-amerikanischen Westküste im Raum Los Angeles der sogenannte Gangsta-Rap. N.W.A.s Album 228 Straight Outta Compton (1988) gilt als Anfangspunkt dieser Neuformation des Raps. Die rappenden Gangster brauchen nach Toop Raps über das Leben auf der Straße, schwarzen Stolz und Schusswaffen. Sie haben eine an Paranoia grenzende Angst, dass Frauen es nur auf ihr Geld abgesehen haben. Sie wollen eine Musik, die dicht, unordentlich, scharf, diskontinuierlich, halluzinogen, hypnotisch, in ständiger Bewegung ist und aus einer Unruhe aus Schreien, Kreischen und dem Schlachtruf: ‚Fuck The Police‘ besteht. 229 (Hrsg.): Discourse Constructions of Youth Identities. Amsterdam/ Philadelphia 2003, S. 197-217, hier S. 201f. 227 Berns/ Schlobinski, Constructions of Identity (Anm. 226), S. 210f. 228 N.W.A.: Straight Outta Compton. Ruthless/ Priority 1988. 229 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 196. 3. Die Populärmusik des Raps 54 Der Gangsta-Rap der US-Westküste stellt gewissermaßen eine Brutalisierung des Raps dar, indem er dem politisch korrekten Rap der Ostküste sein inkorrektes, scheinbar Gewalt und Sexismus verherrlichendes Pendant gegenüberstellt. Noch dazu haben die Platten des Gangsta-Raps einen enormen kommerziellen Erfolg zu verbuchen, was dazu führt, diese Variante des Raps als nicht mehr ‚authentisch‘ zu betrachten, sondern als dessen kommerzielle, entpolitisierte Form. 230 So geht Davis davon aus, dass im Gangsta-Rap bloß angeblich auf schonungslos authentische Weise das harte Leben der Straße wiedergegeben werde, während er im eigentlichen Sinne unkritischer Ausdruck von Machtphantasien sei, ohne jede Ideologie jenseits der Geldanhäufung. 231 Die RapperInnen selbst widersprechen diesen Ansichten und pochen ihrerseits auf die ‚Authentizität‘ ihrer Raps, wie u. a. Ice T.: „Where New Yorkers would rap about parties and clubs, I would rap about car chases and guns and the shit I was living through.” 232 Auch zahlreiche TheoretikerInnen attestieren dem Gangsta-Rap Authentizität, so meinen Berns und Schlobinksi lapidar: „The language of gangsta rap is very harsh, just like its music. It can be regarded as an authentic report of the situation in certain areas at the time of its inception.” 233 In diesem Zusammenhang findet das Gangsta-Rap-Genre positive Wertschätzung, da es zur Sichtbarmachung der Probleme der Bevölkerung in den ‚schwarzen‘ Ghettos in Los Angeles o. Ä. beiträgt. 234 Die Medien hingegen schließen sich mehrheitlich einer pessimistischen Sicht der neuen Art von Rap an, es entsteht eine moralische Panik. 235 Longhurst zitiert in diesem Zusammenhang einen Artikel aus The Guardian vom 11.3. 1993, Bezug nehmend auf den Rapper Ice Cube: He’s armed and he’s dangerous: Ice Cube’s lyrics are about race hate, the Los Angeles gangs and the glory of the gun. He’s America’s worst nightmare. And he’s over here. 236 Rap und RapperInnen werden kriminalisiert, die Texte werden seitens der Medien als unvermittelter Aufruf zur Gewalt verstanden, ein direkter Konnex zwischen Kunst und Wirklichkeit wird gezogen, weshalb z. B. Rapper Ice-T 237 seinen Rap Cop Killer nach großer Aufregung vom Markt zurückziehen 230 Vgl. Mikos, Vergnügen und Widerstand (Anm. 181), S. 109. 231 Vgl. Mike Davis: City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles. Berlin/ Göttingen 1994, S. 108ff. 232 Ice-T. in: Brian Longhurst: Popular Music and Society. Cambridge 1995, S. 153. 233 Berns/ Schlobinski, Constructions of Identity (Anm. 226), S. 199. 234 Vgl. Markus Spath: Hip-Hop in Los Angeles. Eine Genealogie der kulturellen Produktion von Identität zwischen Medialität und Widerstand. Diplomarbeit: Wien 1996, S. 41. 235 Vgl. Mikos, Vergnügen und Widerstand (Anm. 181), S. 109f; vgl. auch Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 1ff. 236 Caroline Sullivan in: The Guardian vom 11.3. 1993, in: Longhurst, Popular Music (Anm. 232), S. 153. 237 Ice-T.: Cop Killer. Warner 1992. 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops 55 muss. 238 Innerhalb der Medien wird Rap also vom Gewalt reflektierenden Medium zum Gewalt-Auslöser stilisiert, also zur Ursache der Gewalt in den Vorstädten erklärt. 239 Auf diese Weise läutet der Gangsta-Rap allerdings auch eine Hyperpolitisierung des Populärmusik-Genres ein, wobei ähnlich wie bei den Raps der Ostküsten-Rap-Gruppen die Texte im Vordergrund des Interesses zu stehen scheinen. Rap entwickelt sich zu einer „more ‚informational‘ narrative-based music.“ 240 In den USA und im globalen Diskurs hat der Gangsta-Rap der US- Westküste mittlerweile in den meisten Fällen seine Aufregerqualität eingebüßt und ist in den (populärkulturellen) Alltag eingegangen. Es bleibt aber die bis ins 21. Jahrhundert anhaltende Verbindung von Rap mit Gewalt, Misogynie resp. Kriminalität in den Köpfen insbesondere der MedienvertreterInnen und deren RezipientInnen das Verdienst des Gangsta-Raps. Zudem hat der Gangsta-Rap und natürlich die Medienberichterstattung über ihn in vermehrtem Ausmaße dazu beigetragen, das in den Köpfen der amerikanischen, europäischen u. a. Bevölkerung kursierende Bild des gewalttätigen, sexualisierten ‚schwarzen‘ Mannes zu reinszenieren und zu bekräftigen. So sehr Gangsta-Rap in Amerika bereits ein alter Hut ist, so neu ist die Aufregung um dessen Variante im deutschsprachigen Raum. Wiewohl Gangsta-Rap auch hier seit den 1990er Jahren bekannt ist und produziert wird, entsteht in Deutschland nach dem Jahrtausendwechsel rund um den Berliner Stadtteil Märkisches Viertel eine neue Art von deutschsprachigem Gangsta-Rap, die auch von Gewalt, Sexismus und einer Übertragung der Vorstellungen des harten US-Ghetto-Lebens auf Berlin geprägt ist - und enormen kommerziellen Erfolg für sich verbuchen kann. Dieser Umstand führt naturgemäß zu einer erhöhten Aufsamkeit gegenüber dem neuen Hype u. a. von Seiten der Medien. In einem Artikel des Magazins Der Stern vom 2.6. 2005 mit dem viel sagenden Titel Die verlorene Unschuld, welcher sich darauf bezieht, dass der „deutsche HipHop, jahrelang geprägt von den harmlosen Wortakrobaten der Fantastischen Vier, seine Unschuld verloren [hat]“ 241 , 238 Bärnthaler weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Sprache von Rap vor allem durch einen spielerischen Umgang von Signifikaten und Signifikanten geprägt sei, was sich in Sprachspielen wie dem Signifying, einem uneigentlichen Sprechen, äußere. Dieser Uneigentlichkeit des Sprechens steht die Interpretation u. a. von Seiten der aufgeregten Medien gegenüber, dergemäß Sprache im Rap unmittelbar in die Wirklichkeit übersetzbar sei. Auch der häufig angebrachte Aufkleber auf den Album- Covern Explicit Lyrics scheint diese Interpretation zu stützen, vgl. Bärnthaler, Two Turntables and a Microphone (Anm. 185), Quelle: Internet. 239 Vgl. Judith Butler: Hass spricht. Zur Politik des Performativen. Berlin 1998 [1997], S. 39. 240 Dimitriadis, Performing Identity (Anm. 193), S. 28; Ausdruck dieser Tatsache ist auch, dass der Aufkleber Explicit Lyrics mittlerweile beinah jedes Rap-Album-Cover ziert und die/ den KäuferIn vor der harschen Sprache der Texte warnt; vgl. auch den Titel für Schweikarts Textsammlung (2000a). 241 Knobbe/ Fromm, Die verlorene Unschuld (Anm. 1), S. 145. 3. Die Populärmusik des Raps 56 findet die neue Debatte um eine Indizierung der Rap-Texte aufgrund einer vermeintlichen Gefährdung der Jugend ihren Ausdruck: Willkommen in der Klärgrube musikalischer Jugendkultur: Seit Jahren dümpelt im Berliner Untergrund eine deutschsprachige Rap-Szene, die beim Texten keine Tabus kennt. Um Drogen, Gewalt und Sex geht es da, Vorbilder sind US-Gangsta-Rapper wie 50 Cent oder Eminem und deren Inszenierung einer Welt in Ton und Bild, aus der das Testosteron nur so trieft. Eine Welt mit fetten Knarren, fetten Autos und fetten Brüsten. Die deutschen Nachahmer […] kommen meist aus Stadtteilen, die als Problemviertel gelten. […]. Der Fäkalgeruch der Berliner Sex-Rapper weht mittlerweile auch in Tausende von Kinderzimmern, […]. 242 Und als Bildunterschrift zu einem Foto des Märkischen Viertels in Berlin heißt es im Artikel: „Die Realität: Märkisches Viertel in Berlin, Großbausiedlung und Trabantenstadt. Und Ort, an dem die Rap-Kultur höchst erfolgreich gedeiht.“ 243 Im Artikel wird das genannte Viertel auch als deutsche Variante des US-Ghettos, geprägt von Gewalt und Überlebenskampf seitens der dort Lebenden, dargestellt. In Hinsicht auf den Begriff des Ghettos meinte Jacob schon 1993: Der Begriff ‚Ghetto‘ erinnert die ökologisch geschulten Ohren irgendwie an ‚Biotop‘, wo es ja auch ziemlich ‚authentisch‘ sozialdarwinistisch zugehen soll. […]. Mit Rap, so das Lob, wird niemand betrogen wie beim satten Rock, wenn hier ‚Elend‘ draufsteht, ist auch wirklich welches drin. 244 Auch die Ausführungen im Stern nehmen auf diese Sicht insbesondere über die durchgängige Verwendung der biologischen Metaphern Bezug: Rap gedeiht, allerdings in einer Klärgrube, und er lässt Fäkalgeruch in die Kinderzimmer wehen. Auf ähnliche Weise wie zu Beginn dieses Kapitels konstatiert, wird Rap/ HipHop im Text als biologisches Wesen gesetzt, wobei es sich in diesem Fall weniger um einen Anthropomorphismus handelt, als um eine Naturalisierung des Raps in Form einer Setzung als stinkende Pflanze. Es wird auf diese Weise seitens der Journalisten auch auf den Ursprungsmythos des ‚schwarzen‘, oder immerhin US-amerikanischen, HipHops rekurriert, dementsprechend dieser eine ‚gewachsene‘, ‚natürliche‘ Volkskultur ist, die, einmal verpflanzt, im falschen Umfeld nicht ihren vertrauten Heimatboden findet: Zwar wuchert sie wild, wird aber faul dabei. Die neue Omnipräsenz des Berliner Gangsta-Raps bereitet allerdings nicht nur Medien und Eltern Sorgen, sondern auch Verlan und Loh, welche sich in der Erweiterung ihrer Geschichte 20 Jahre HipHop in Deutschland (2000) zu 25 Jahre HipHop in Deutschland (2006) genötigt sehen, ob der dazwischen liegenden Entwicklungen ihr altes Bild von HipHop zu revidieren: 242 Ebenda, S. 145f. 243 Ebenda, S. 144. 244 Jacob, Agit-Pop (Anm. 180), S. 193. 3.3 Die Master-Narratives des globalen HipHops 57 Unsere Ergänzungen sind […] keine Aufarbeitung der Geschehnisse der letzten fünf Jahre. Wer sich über Sido und Fler [zwei Vertreter der Berliner Rap- Szene, Anm. A. B.] informieren möchte, findet alle relevanten Details in der Bravo. Im Gegensatz zu den meisten Magazinen haben wir als Buchautoren das Privileg, dass wir nicht allem hinterherschreiben müssen, was sich gut verkauft. Ich möchte unseren Leser(inne)n mit dieser Fortschreibung Denkanstöße, Geschichten und Informationen geben, denen sie im gegenwärtigen Medien-Mainstream zum Thema HipHop nicht oder nur selten begegnen. […]. Das mag mir den Vorwurf einbringen, ich hinge den alten Zeiten nach und betrauerte den Verlust der Werte und des Lebensgefühls der Old School. Ganz falsch ist das nicht, schließlich bin ich auch nicht mehr der Jüngste. Welche Wünsche und Ängste zwölfjährige Aggro-Berlin-Hörer [das Label, das diese Art HipHop bekannt machte, Anm. A. B.] umtreiben, ist für mich tatsächlich nur noch schwer nachzuvollziehen, und - ehrlich gesagt - es interessiert mich nicht. An der Indizierungs- und Moraldebatte, die sowohl die Rap- Szene als auch die Feuilletons so eifrig beschäftigt, werde ich mich mit dieser Neuauflage nicht beteiligen. 245 Verlan und Loh weigern sich also, eine Re-Narrativisierung ihrer ursprünglichen Version der Geschichte von deutschsprachigem HipHop vorzunehmen, zumindest programmatisch. Dabei macht Loh gerade das Fehlen einer gemeinsamen Geschichte der deutschen RapperInnen, so wie sie vermeintlich den US-Rap im Kontext der ethnischen Diskussionen zusammenhält, für die neuen Entwicklungen verantwortlich: Im Gegensatz zu Deutschland wirkt in den USA die Identität stiftende Kraft der afroamerikanischen Diaspora, die als große Erzählung über Herkunft, Ursprung und Bestimmung die HipHop-Kultur in die Klammer eines gemeinsamen afroamerikanischen Geschichtsbewusstseins hineinholt. Rap als Black Oral Culture hat nach dieser Idee die Aufgabe, mit dem Geschichtenerzählen die Geschichte zu bewahren. […]. In Deutschland konnte sich ein solcher Bezug auf eine gemeinsame Geschichte nicht etablieren. […]. Der Verlust einer gemeinsamen HipHop-Erzählung brachte vor allem im Rap Künstler hervor, die der eigenen Geschichtslosigkeit ausgeliefert sind und sich entsprechend den Erwartungen entwickeln, welche die Konsumenten an sie haben. […]. Das Fehlen einer gemeinsamen Erzählung, die eine Vorstellung von Widerstand, Überwindung sozialer und politischer Ausgrenzung und Antirassismus in ihren Horizont mit einbezieht, führt zu inhaltlicher Beliebigkeit. 246 Die gemeinsame Geschichte der MigrantInnen der ersten HipHop- Generation sei mit dem Erfolg des Mittelstands-Deutsch-Raps der Richtung der Fantastischen Vier ‚verloren‘ gegangen. Denn im Gegensatz zu den USA sei durch deren Erfolg keine Erinnerungsarbeit in Bezug auf die eigene Ge- 245 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 18f. (Markierungen dem Original entnommen). 246 Ebenda, S. 27f. 3. Die Populärmusik des Raps 58 schichte mehr möglich gewesen. Geblieben sei lediglich eine inhaltliche, vom Markt gesteuerte Beliebigkeit des deutschen Raps, so Verlan und Loh. Trotz aller Kontroversen und bedauernden Abgesänge bleibt jedoch wichtig hervorzuheben, dass im deutschsprachigen Raum gerade durch den immensen Erfolg des neuen Gangsta-Raps am Übergang zum 21. Jahrhundert die Debatten darüber mit neuer Heftigkeit entflammt sind, was ‚richtiger‘ Rap ist und wer diesen Rap repräsentieren kann. 247 Naturgemäß spielen diese Diskussionen auch innerhalb der Rap-Texte eine große Rolle. In diesem Sinne ist es Anliegen der Text-Analysen in Kap. 7 dieses Bandes, die Umbruchzeit im deutschsprachigen Rap zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu dokumentieren. 3.3.3 Der kleinste gemeinsame Nenner (? ) Wie die Ausführungen in den letzten beiden Unterkapiteln gezeigt haben, stellt sich Rap sehr vielgestaltig dar. Aber sowohl für den politisch-korrekten Rap als auch den Gangsta-Rap scheint es trotz aller Heterogenität eine gemeinsame narrative Basis zu geben, welche sich in den wissenschaftlichen Abhandlungen, den historischen Ausführungen und den Medien als dominant erweist. In Abgrenzung vom Partyrap, der von vermeintlich geringer Qualität ist und ausschließlich von kommerziellen Interessen geprägt zu sein scheint, bleibt Rap in Anlehnung an den oben beschriebenen Ursprungsmythos Ausdruck des ‚realen, sozialen, als problematisch erfahrenen‘ Lebens. Diederichsen formuliert also den ‚kleinsten, gemeinsamen Nenner‘ der Hip- Hop-Kultur wie folgt: HipHop ist die Erzählung, das Master Narrative unserer Epoche. […]. Aber HipHop ist keine idealistische Musik mehr, die von etwas träumt und dann an falschen Verhältnissen scheitert. Die waren bei HipHop immer schon falsch […]. Hoffnung ist bei HipHop meist die Tatsache, dass es kaum schlimmer geht. Und dass die Formulierung von und Kommunikation über Verhältnisse selten zu deren Verschlechterung beiträgt. HipHop ist eine nur noch antiintegrationistische Musik, das ist ihr Nenner, das ist das, was alle ihre Anhänger auf der ganzen Welt eint: nicht mitmachen. 248 Wenngleich sich sehr stark unterscheidet, wogegen man ist und auf welche Weise dies seinen Ausdruck findet, bleibt Rap „musikalisches Aufklärungs- und Kommunikations-Medium“ 249 : 247 Verlan problematisiert diesbezügliche Schwierigkeiten: „Das ganz große Problem ist ja momentan, ob wir jetzt über Manges schreiben sollten, über Fiva, Tobias Borke oder eben über Sido und Aggro Berlin. Die einen sind eher Geheimtipps, die anderen haben hunderttausende Platten verkauft, aber von ihrer Entwicklung her, von ihrem künstlerischen Output her sind das alles Geschichten von Anfängen“ (in: Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Anm. 20, S. 415, Markierungen dem Original entnommen). 248 Diedrich Diederichsen: Freiheit macht arm. Das Leben nach Rock’n’Roll 1990-93. Köln 1993, S. 53f. 249 Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 202. 3.4 Frauen im Rap-Diskurs 59 Die analysierenden Polit-Rapper sehen HipHop in einer positiven Weise als Informations- und Aufklärungsinstrument, während die Gangsta-Rapper sich eher als (klagende) Geschichtenerzähler betrachten, die die (schlimme) Realität möglichst wahrheitsgetreu abzubilden versuchen. 250 Gangsta-Rap gliedert sich auf diese Weise in die Geschichte des Raps gut ein, da sich nichts am gesamt-narrativen Rahmen des Raps als politischer Widerstandskultur geändert hat. Vielfach wird sogar darauf hingewiesen, dass sich Rap in Form des Gangsta-Raps „der Inkorporation durch die dominante Kultur“ 251 entzogen hat. Eine Feststellung, die laut vieler AutorInnen auf Rap/ HipHop insgesamt zutrifft, so meint z. B. George mittels eines typischen Biologismus: Er [HipHop, Anm. A. B.] regeneriert sich immer wieder, gräbt mit jeder neuen Verzweigung auch seine Wurzeln tiefer in die Erde und stellt neue Verbindungen her. 252 Vermeintlich behält also Rap (resp. HipHop allgemein) über die ständige Neu-Definierung und wiederholte ästhetische Neuerung sein politischsubversives Potential und damit auch die ‚Fähigkeit‘, Sprachrohr für problembehaftete Jugendliche zu sein. 253 3.4 Frauen im Rap-Diskurs In den obigen Ausführungen wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass der männliche, ‚schwarze‘ Rapper den Repräsentanten der Populärmusikkultur HipHop darstellt. In diesem Zusammenhang stellt sich allerdings die Frage, ob die Welt des HipHops gleichermaßen eine der Frauen wie eine der Männer ist. Es gehört beinahe zum guten Ton von HipHop-Geschichten 254 zu betonen, HipHop sei vor allem eine Männersache. Dies betrifft zum einen eine quantitative, zum anderen eine vermeintlich qualitative Übermacht von männlichen Rappern. So führt George aus: In den mittlerweile weit über zwanzig Jahren, in denen es HipHop auf Platte und CD zu kaufen gibt, […] gab es nicht eine Frau, die entscheidend in die Entwicklung des Rap eingegriffen hätte. […] es käme niemand auf die Idee sie für innovativ zu halten. […]. Dennoch würde ich behaupten, dass selbst wenn 250 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 94, vgl. dazu Stephanie Grimm: Zur Repräsentation von Männlichkeit im Punk und Rap. Tübingen 1998, S. 79. 251 Mikos, Vergnügen und Widerstand (Anm. 181), S. 116. 252 George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 269; vgl. auch Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. XI; Weinzierl, Fight the power (Anm. 108), S. 203; Mikos, Vergnügen und Widerstand (Anm. 181), S. 116. 253 Vgl. Wicke, Rap (Anm. 178), Sp. 70. 254 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 332ff. 3. Die Populärmusik des Raps 60 es von all diesen Musikerinnen nicht eine Platte gäbe, die Geschichte des HipHop keine Spur anders verlaufen wäre. Im Unterschied zur Soulmusik […] entstand Rap in den Straßen der Ghettos, wo seit eh und je Macho-Werte regieren. Die Wettkampfnatur des HipHop hat Frauen bis auf wenige Ausnahmen ausgeschlossen. 255 Wie allerdings Glowania und Heil, Toop sowie Rose betonen, waren Frauen von Beginn an an der Entwicklung des Raps/ HipHops beteiligt, 256 „[a]lthough there are significantly fewer female than male rappers […].“ 257 Den Grund dafür, dass Frauen nicht in einem gebührenden Ausmaß wahrgenommen werden, sieht Rose in einem diskursiven Ausschluss von ‚schwarzen‘ Frauen aus dem Feld des HipHops, der eine gesamtgesellschaftliche Tendenz widerspiegelt, schließlich sei die „marginalization, deletion, and mischaracterization of women’s role in black cultural production […] routine practice.“ 258 Sie ortet ein sogenanntes „,what women? ‘ syndrome“ 259 in Bezug auf den Ort der ‚schwarzen‘ Frau im Rap-Diskurs. Dieses Verfahren hat schließlich über den kulturellen Transfer globale Verbreitung gefunden und ist auch im deutschsprachigen Raum zu beobachten. So widmete die Szene-Zeitschrift Backspin 2000/ 2001 den Frauen im deutschsprachigen HipHop eine zweiteilige Reportage, welche mit den folgenden Worten eingeleitet wurde: Wo sind sie… die Frauen im deutschen HipHop? Ist das überhaupt ein Thema? Und wenn ja, was für eines? Das Thema einer Minderheit oder einer Randgruppe? Ein schwieriges Thema oder sogar ein nicht vorhandenes? Viele Leute sind genau dieser Meinung und man kann es ihnen im Grunde genommen auch nicht einmal verübeln, denn wo wurde je mehr als stiefmütterlich über dieses Thema berichtet? 260 Frauen wird also innerhalb des HipHops allemal ein Exotinnenstatus zuerkannt, wobei Glowania und Heil davon ausgehen, dass die männliche Dominanz im Musikgeschäft im Allgemeinen und die damit zusammenhängende Schwierigkeit für Frauen, sich ohne ‚dahinter stehenden‘ Mann zu etablieren, für die strukturell schlechtere Position verantwortlich seien. 261 Abgesehen von den Tatsachen, dass Frauen (innerhalb und außerhalb der HipHop-Kultur) kaum wahrgenommen sowie institutionell aus dem Musik- 255 George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 239. 256 Vgl. Malgorzata Glowania und Andrea Heil: Das Persönliche und das Politische. Frauen im Rap. In: Wolfgang Karrer und Ingrid Kerkhoff (Hrsg.): Rap. Hamburg/ Berlin 1995, S. 99-118, hier S. 99; vgl. auch Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 152; vgl. auch Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 109. Toop spricht a. a. O. sogar davon, es hätte am Anfang mehr weibliche als männliche Crews gegeben. 257 Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 152. 258 Ebenda, S. 150. 259 Ebenda, S. 155. 260 Morenike Bemmè: Wo sind sie…? Teil 1. In: Backspin. Das HipHop Magazin 25/ 2000- 2001, S. 22-26, hier S. 21. 261 Vgl. Glowania/ Heil, Frauen im Rap (Anm. 256), S. 99f. 3.4 Frauen im Rap-Diskurs 61 geschäft ausgeschlossen werden, gilt es in den von Männern publizierten Rap- Texten Ausschlussverfahren zu konstatieren. Während Toop den Machismo in den Texten „[e]ine der Konstanten des Raps“ 262 nennt, fragt sich Dufresne: „Ist der Rap sexistischer als andere Musikrichtungen? Manche Gruppen wie Two Live Crew gehen sehr weit in der realistischen Beschreibung, andere, wie N.W.A., sind fast frauenfeindlich.“ 263 Aus dieser Feststellung zieht Dufresne den Schluss, dass [d]er Sexismus, der im Rap durchkommt, ein notwendiges Übel [ist]. In einer Gesellschaft, die von Armut und Analphabetismus verwildert ist, wo es leichter ist, Schwarze im Gefängnis als an der Uni zu treffen, erlaubt der Rap, die ökonomischen und sozialen Frustrationen auszudrücken. 264 Rose schließlich zeigt in ihren Ausführungen das komplexe Verhältnis der ‚schwarzen‘ Rapperinnen zum Sexismus in den Texten männlicher Kollegen. Viele Rapperinnen hätten sich in der Öffentlichkeit nicht gegen den Inhalt der Texte ausgesprochen, da dies bedeutet hätte, den ‚schwarzen‘ Männern öffentlich in den Rücken zu fallen. Die ethnisch bedingte Solidarität wird über eine geschlechtsspezifische gestellt, immerhin werde auch der Feminismus als ‚weißes‘ Projekt nicht unterstützt. 265 Allerdings lehnen es auch ‚weiße‘, deutschsprachige Rapperinnen ab, als Feministinnen bezeichnet zu werden. Dementsprechend antwortet die Berliner Rapperin Sookee im Interview mit Barbara Zeman von der Wiener Stadtzeitung City Folgendes auf die Frage, ob der Begriff Feministin für sie negativ besetzt sei: Absolut. Ich glaube, dass der Feminismus viel geleistet hat, er war etwa Vorreiter für die Gender-Studies. Aber es gibt feministische Texte aus den 70ern, in denen Männer als mindere Lebewesen betrachtet werden. Das ist meilenweit von mir entfernt. Letztlich geht es um Respekt. Darum, die Menschen unterschiedlich sein zu lassen. Auch in Bezug auf Ethnizität und Religion. 266 Dennoch gibt es im deutschsprachigen Raum eine begrenzte Anzahl von Texten, mittels derer getreu der Annahme des traditionellen Feminismus im Namen der ‚Frauen‘ im HipHop gesprochen wird. Die unten stehenden Beispiele zeigen jedoch die Schwierigkeiten dieses Unterfangens, schließlich werden in den Texten die Probleme ‚der Frauen‘ im HipHop/ Rap unterschiedlich bewertet: 262 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 109. 263 Dufresne, Rap Revolution (Anm. 219), S. 125. 264 Ebenda, S. 125. 265 Vgl. Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 175ff. 266 Barbara Zeman: Die Mitte von Blau und Rot. Interview mit der Rapperin Sookee. In: City. Stadtzeitung für Wien 19/ 2006, S. 8-9, hier S. 8. 3. Die Populärmusik des Raps 62 Ich […] glaube nicht, dass Frauenschrift sich anders liest. Nur wenn die Mauer bricht, wird man seh’n, ob das, was Schutz genießt, von Dauer ist. Bedauerlich, der Kompromiss, für ’ne Frau rappst du ganz gut, und wenn’s für uns anscheinend so einfach ist, frag’ ich, warum’s nicht jede tut. […] Mein Kalender drängt, dass man ihm Termine schenkt, um zu zeigen, dass sich mein Talent nicht auf feminin beschränkt, […] (Fi 1). Der Quatsch es wär schwer sich zu beweisen als Frau in Rap Kreisen ist nix als Kaffeeklatsch. Ich steh nicht auf Klischees und Schein, die These vom schwachen Geschlecht ist nur bequem (Co 1). Was sagst du, Rappen ist für ne Frau kein Beruf, ey ich lieb den Scheiß, den ich tu [...]. Ey, mein Name - Nina - MC meine Ambition Ich hab das Rapfieber trotz Doppel-X-Chromosom Ich mach Lieder für jeden hier, dem der Sound schmeckt, sach’ma hat noch irgendjemand was gegen Frauenrap? (Ni 2). Und noch ein wort an alle hier mit doppel x im genpaket vor allem die mit drang nach vorn und stopp&go identität ich kann euch flüstern hörn ihr wollt ja eh nicht so, ihr wartet noch, wenn es passieren soll wird euch schon jemand nach vorne führn ich frag mich oft, warum wir mit agiern im hintergrund zufrieden sind warum wir zögern bis es uns zerreißt und wir schon weit zurückgeblieben sind ich kenn die ausreden […] ihr müsst verstehen, dass niemand euch entdecken wird weil niemand will, dass ihr euch in die erste garnitur verirrt […] (Mie 1). Die Beurteilung der Situation der Frauen im Rap reicht von der Meinung, der Rap von Frauen sei zwar dem männlichen Rap gleich (Fi 1: „Glaube nicht, dass frauenschrift sich anders liest“), würde aber mit anderen Maßstäben gemessen (Fi 1: Frauenrap ist „das, was Schutz genießt“, „und wenn’s für uns anscheinend so einfach ist“), oder Frauen hätten es schwerer, weil ihr Talent nicht anerkannt würde (Ni 1: „Was sagst du, Rappen ist für ne Frau kein Beruf“) bis dahin, Frauen würden sich dahinter verstecken, ‚Frau‘ zu sein (Co 1: „Der Quatsch es wär schwer sich zu beweisen als Frau im Rap ist nix als Kaffeeklatsch“) oder in einer selbstgewählten Passivität verharren (Mie 1: „[I]ch frag mich oft, warum wir mit agier’n im hintergrund zufrieden sind“). Es zeigt sich also, wie schwierig es ist, im Namen der ‚Frauen‘ (Mie 1: „[I]ch frag’ mich 3.4 Frauen im Rap-Diskurs 63 oft, warum wir…“) zu sprechen, wenn nicht klar ist, wer diese Frauen überhaupt sind resp. in welchen Situationen sie sich befinden. Im globalen Kontext an den diskursiven Rand gedrängt und innerhalb des Diskurses beschimpft: Welche Möglichkeiten haben Frauen im Rap? Klein und Friedrich bieten zwei Lesarten. Einer ersten pessimistischen Sichtweise gemäß kann der globale HipHop gesehen werden als „eine patriarchal organisierte, männlich dominierte und sexistische Kulturpraxis, gekennzeichnet dadurch, dass primär zwischen Mann und Nicht-Mann unterschieden und Weiblichkeit als Projektionsfläche für männliche Phantasien begriffen wird.“ 267 Frauen bietet sich nur die Möglichkeit, sich den vorgegebenen männlichen Positionen anzupassen, was auf zwei Arten passieren kann. In manchen Fällen erfolgt dies über eine Imitation der Männer: „Der HipHop- Stil brachte Frauen dazu, sich wie Männer zu kleiden, wie sie zu reden und nicht nur die B-Boy-Ansichten zu übernehmen, sondern auch ihre harte Mentalität, die nichts auf weibliche Instinkte gab.“ 268 Jene Positionen wiederum, die sich nicht unmittelbar an den männlichen orientieren, bewegen sich ausgehend vom US-amerikanischen Kontext innerhalb der mittlerweile klischeebehafteten Begriffe der Queen/ Lady oder der Bitch 269 , wobei sich erstere 267 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 206. 268 George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 241. 269 Der Begriff der Bitch weist im Rap-Kontext eine interessante Geschichte auf. Ursprünglich wurde er von Seiten männlicher Rapper benutzt, um Frauen in den Raps auf abwertende Weise anzusprechen, im Gangsta-Rap gilt das Wort oft überhaupt als Synonym für ‚Frau‘ (vgl. Stegmüller, Weibliche Identität im HipHop, Anm. 26, S. 49). Jedoch kam es in der HipHop-Szene zu einer Rekontextualisierung des Begriffes, indem weibliche Rapperinnen, allen voran Roxanne Shanté, sich diesen Begriff zur Selbstbenennung aneigneten: „Ich kann mich noch genau erinnern, wann und wo das war: 1984 in Philadelphia, im Spectrum. Ich ging auf die Bühne und sagte: ‚Stellt die Musik ab, macht die Lichter aus… ’cause… I… am… one… bad… bitch… so throw your hands up, throw your hands up! ‘ Die Leute haben getobt. Eine bitch kann eine starke Frau sein, die bewundert und beneidet wird. Sie ist selbständig und erhält sich selbst und einen gewissen Lebensstil, ohne dafür mit einem Mann ins Bett zu gehen. So eine Art bitch bin ich. Das Wort für sich selbst neu zu bestimmen, ihm eine neue Bedeutung zu geben, heißt, ihm seine vorgefertigte negative Zuschreibung zu nehmen. Wenn sie dich beschimpfen, spürst du den Schmerz nicht mehr. Und wenn das Wort nicht mehr funktioniert, müssen sie ein neues suchen. Eine Hure war ich von Anfang an. […]. Mittlerweile sind ihnen die Schimpfworte ausgegangen“ (in: dies.: I am one bad bitch. In: Anette Baldauf und Katharina Weingartner (Hrsg.): Lips, Tits, Hits, Power? Popkultur und Feminismus. Wien/ Bozen 1998, S. 152-154, hier S. 153). Durch die Aneignung des diskriminierenden Wortes wird es aus seinem ursprünglichen Kontext genommen, in einen neuen eingesetzt und verliert somit die Bedeutung eines Schimpfwortes, zumindest in diesem bestimmten Kontext. Im gesamten Umfeld des Rap ist Ähnliches mit dem Begriff nigger passiert: Das abwertend rassistische Wort wurde im Rap wiederaufgenommen und verlor damit innerhalb des bestimmten Rap- Kontextes seine pejorative Bedeutung (vgl. Butler, Hass spricht, Anm. 239, S. 143f.). Dass eine derartige Rekontextualisierung möglich ist, erklärt Butler mit Derrida, demzufolge die Bedeutung von Begriffen sich aus den spezifischen Kontexten, in denen sie 3. Die Populärmusik des Raps 64 als starke, unabhängige Frau präsentiert, während für letztere das freie Ausleben der eigenen Sexualität von Wichtigkeit ist. 270 Offensichtlich werden aber auch diese beiden Positionen von einem patriarchalen System und dessen Idealvorstellungen des autonomen Subjekts abgeleitet. Egal für welche dieser Postionen sich frau also entscheidet: In Anlehnung an Bourdieu gehen Klein und Friedrich ihrer ersten Position gemäß davon aus, Frauen könnten im System des HipHops nur eine illegitime Sprecherinnenposition einnehmen, da sie zwar über die Reproduktion der feldinternen Strukturen den Regeln des Feldes konform handeln könnten. Es gelänge aber nicht, den männlichen Normenkodex zu durchbrechen. 271 Klein und Friedrich können allerdings einer zweiten Position entsprechend auch der Vorstellung etwas abgewinnen, dass es für Frauen innerhalb der Populärkultur des HipHops durchaus im Bereich des Möglichen liegt, den männlichen Normenkodex zu unterwandern: Denn indem die Frauen konventionelle Formen und Positionen von Weiblichkeit zitierend übernehmen, werden diese Positionen gleichzeitig parodiert und verfremdet. In Anlehnung an Positionen Butlers 272 gehen Klein und Friedrich davon aus, dass in der Aneignung und Zitation der Praxisformen des Raps die Möglichkeit für Rapperinnen besteht, diese zu verändern: „Indem sie beispielsweise einen sexistischen Sprachcode übernehmen, thematisieren sie den Prozess der Einschreibung von Geschlechternormen auf die Körper und deren Legitimierungspraxis im HipHop-Feld.“ 273 Die Handlungsfähigkeit des weiblichen Subjekts wird diesem Konzept gemäß zwar auch nur über die Unterordnung unter die Strukturen eines männlich geprägten Diskurses möglich, aber dies „impliziert […] nicht, dass seine gesamte Handlungsfähigkeit in diese Bedingungen verstrickt bleibt und dass diese Bedingungen in jeder Ausübung der Handlungsfähigkeit die gleichen bleiben.“ 274 gebraucht werden, ergibt, was auch heißt, Begriffe können mit einem überkommenen Kontext brechen, da sie von einem Kontext nie vollständig determiniert sind (vgl. Jacques Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext. In: Peter Engelmann (Hrsg.): Randgänge der Philosophie. Wien 1988, S. 291-314, hier S. 300ff.). Butler führt dazu aus: „Solche Wiederaneignungen zeigen, wie anfällig diese unreinen Begriffe sind, unerwartet wieder unschuldig zu werden. Diese Begriffe sind kein Eigentum, sie nehmen jeweils ein Leben an und richten sich auf Ziele, für die sie niemals gedacht waren“ (in: Butler, Hass spricht, Anm. 239, S. 227). Butler weist allerdings mit Bourdieu und gegen Derrida darauf hin, dass ein Bruch mit einem alten (in diesen Fällen verletzenden) Kontext aus soziologischen Gründen niemals vollständig sein kann (vgl. ebenda, S. 228). 270 Vgl. Glowania/ Heil, Frauen im Rap (Anm. 256), S. 103. 271 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 207. 272 Zur iterativen, subversiven Aneignung vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main 1991 [1990], S. 213ff. 273 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 208. 274 Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt am Main 2001 [1997], S. 17. 3.5 HipHop/ Rap und der Identitäts-Diskurs 65 Diese Ausführungen zeigen also, dass es sich generell für Frauen als schwierig darstellt, sich eine Position innerhalb der männlich dominierten Jugendkulturpraxis HipHop zu erkämpfen. Dennoch macht die oben angeführte Sichtweise, der gemäß Rap als Sprachrohr von Jugendlichen aufgefasst wird, deutlich, dass Rap resp. HipHop generell ein großer Einfluss in Bezug auf die Identitätskonstitution der männlichen sowie weiblichen Jugendlichen zugesprochen wird. So wurde innerhalb der Forschung u. a. von Scholz expliziert, „dass Rap in jedem Falle als globale identitätsstiftende kulturelle Praxis interpretiert werden darf.“ 275 3.5 HipHop/ Rap und der Identitäts-Diskurs Soziologische Studien der letzten Jahre weisen nach, dass Populärmusik einen wichtigen Bezugs- und Orientierungspunkt für Jugendliche darstellt. Die jungen Menschen wählen aus verschiedenen Angeboten jene musikalischen Milieus, Kulturen oder Szenen, denen sie angehören wollen: Denn Musikgeschmack, musikalische Kenntnisse und Umgehensweisen mit Musik spielen in Bezug auf die Konstitution der Identität der Jugendlichen eine bedeutende Rolle. 276 In diesem Zusammenhang wurde in der Forschung wiederholt auf die Besonderheit des HipHops/ Raps als jugendkulturellen Identifikationsangebots hingewiesen. Denn in Abgrenzung von jugendkulturellen Szenen um verschiedene Strömungen der Popmusik, des Techno etc. wird HipHop von vielen AnhängerInnen nicht als eine „eskapistische Freizeitkultur oder eine Gemeinschaft des Augenblicks, sondern als ein Lebensgefühl“ 277 begriffen. Dementsprechend konstatiert Menrath, dass HipHop für die/ den Einzelnen „vielmehr einen Sozialkomplex [bildet], in dem man sich mit Persönlichkeiten/ Identitäten verortet, die sich nicht einfach wieder ‚ausziehen‘ lassen […].“ 278 Dieser Aussage entspricht auch die Tatsache, dass TheoretikerInnen wie Klein und Friedrich auf das Habitus-Konzept 279 von Bourdieu zurückgreifen, um erklären zu können, auf welche Weise die HipHop-Identität im wahrsten Sinne des Wortes in Leib und Seele der AnhängerInnen übergeht: Der Habitus umfasst nach Bourdieu Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata einer Person, welche gesellschaftlich geprägt und nur in gerin- 275 Scholz, Kulturelle Hybridität (Anm. 204), S. 64. 276 Vgl. Renate Müller, Patrick Glogner, Stefanie Rhein et al.: Zum sozialen Gebrauch von Musik und Medien durch Jugendliche. Überlegungen im Lichte kultursoziologischer Theorien. In: Renate Müller (Hrsg.): Wozu Jugendliche Musik gebrauchen. Jugendliche Identität und musikalische und mediale Geschmacksbildung. Weinheim 2002, S. 9- 26, hier S. 13ff. 277 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 188. 278 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 67. 279 Vgl. ebenda, S. 28f. oder S. 38; vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 191-198. 3. Die Populärmusik des Raps 66 gem Maße bewusst zugänglich sind. 280 Bourdieu bezeichnet den Habitus dabei auch als „leibliche Hexis“ 281 , d. h. er ist verleiblicht, umfasst Körperhaltungen, Körperbewegungen und bestimmte Arten zu sprechen. 282 Nach Klein und Friedrich werden nun von den einzelnen Mitgliedern der HipHop- Gemeinschaft gängige Körpercodes, Bewegungstechniken, Kleider- und Sprechstile angeeignet, wobei die ForscherInnen diesen Vorgang der mimetischen Identifikation nicht als bloße Imitation der anderen sondern als performativen Akt verstehen: 283 Das heißt, in der mimetischen Identifikation wird nicht auf der Ebene des Körpers eine vorgegebene Wirklichkeit nachgeahmt, es wird eine neue Wirklichkeit hergestellt. Mimetische Identifikation meint also nicht nur Konventionalisierung im Sinne der Reproduktion eines Normengefüges, sondern beschreibt den performativen Akt der Neukontextualisierung und Aktualisierung. Dieser Vorgang erklärt, warum die Tradition des HipHop zwar immer fortgeschrieben, zugleich aber auch permanent aktualisiert wird. 284 Klein und Friedrich betonen, dass diese Art der Selbst-Inszenierung nichts mit einer Verstellung des Selbst zu tun habe, „sie dient der Selbstbeschreibung, und als solche nicht nur dem Selbst-Ausdruck, sondern auch der Selbst-Entdeckung. In den Blick gerät nicht der Verlust eines vermeintlichen Authentischen, sondern ein kreativer, transformierender Umgang des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt.“ 285 Wie in den vorigen Kapiteln angeklungen ist, stellt sich dabei der Vorgang der Konstitution von Identität in Zusammenhang mit HipHop auch als ein problematischer Akt dar, denn es scheint zur Identitätsverortung im Rahmen der Jugendkultur des HipHops „ein gemeinsamer Erfahrungshorizont gesellschaftlicher Exklusion“ 286 zu gehören: Daran schließt sich eine Suche nach einem materiellen wie symbolischen Entfaltungsraum von Identitäten, nach Anderssein und Authentizität sowie nach Umsetzungsmöglichkeiten anderer Wirklichkeitsentwürfe innerhalb von Gesellschaften, die aus verschiedenen Gründen nur wenige Perspektiven der Lebensplanung bieten. In der heutigen Risikogesellschaft sind junge Menschen früher als ihre Eltern mit der Gestaltung des eigenen Lebensalltags und auch 280 Vgl. Markus Schwingel: Pierre Bourdieu zur Einführung. 4., verbesserte Auflage. Hamburg 2003, S. 62. 281 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1987, S. 136. 282 Vgl. Schwingel, Pierre Bourdieu zur Einführung (Anm. 280), S. 64. 283 Vgl. Gabriele Klein: Popkulturen als performative Kulturen. Zum Verhältnis von lokaler Imageproduktion und lokaler Praxis. In: Udo Göttlich, Clemens Albrecht und Winfried Gebhardt (Hrsg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln 2002, S. 191-210, hier S. 206. 284 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 197. 285 Ebenda, S. 151. 286 Kimminich, Lost Elements (Anm. 13), S. 47. 3.5 HipHop/ Rap und der Identitäts-Diskurs 67 mit der Entwicklung ihres Lebenskonzepts konfrontiert. Die Ausgangsbedingungen, die ihnen die Gesellschaft bietet, sind unverbindlich und von Ungewissheiten dominiert. 287 Auch Menrath betont, dass im HipHop „Identität weniger destabilisiert und verweigert [wird] - wie z. B. im Punk […] -, sondern es geht zunächst einmal darum, überhaupt in eine Identitätsposition zu gelangen.“ 288 Wiewohl es m. E. kaum möglich ist, Identität (abgesehen von pathologischen Fällen) zu verweigern oder vor dem Eintritt in die HipHop-Welt gar keine zu haben, so zeigt sich dennoch, dass die Identität der/ s Einzelnen über das Eingliedern in das Kollektiv der HipHop-Gemeinschaft re-konstituiert wird. Jan Assmann zufolge definieren sich kollektive Identitäten als „Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen.“ 289 Zusammengehalten werden Gruppen von gemeinsam erlebten Ereignissen in der Vergangenheit, die in der Folge im kollektiven Gedächtnis behalten werden und Gemeinschaft stiften. 290 Assmann unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen einem kommunikativen Gedächtnis, das Erlebnisse der letzten drei bis vier Generationen einbezieht, sich daher auf die rezente Vergangenheit bezieht, und dem kulturellen Gedächtnis, welches weit in mythischer Vergangenheit zurückliegende Ereignisse umfasst. 291 Mikos macht nun diese für frühe Hochkulturen erarbeitete Begrifflichkeit für die Analyse von Rap und HipHop fruchtbar. Seinen Ausführungen zufolge spielt das kulturelle Gedächtnis innerhalb des Raps eine Rolle, da u. a. in Bezug auf die Produktion von Texten und die Vortragsweise auf alte afrikanische Traditionen (wie derjenigen des Sprachspiels u. Ä.) zurückgegriffen wird. 292 Als besonders wichtig für das Herausbilden der Gruppe stellt sich nach Mikos jedoch das kommunikative Gedächtnis heraus, das als kollektives Gedächtnis auf zwei Weisen funktioniert, „im Modus der fundierenden Erinnerung, die sich auf Ursprünge bezieht, und im Modus der biographischen 287 Ebenda, S. 47. 288 Stefanie Menrath: ‚I am not what I am‘. Die Politik der Repräsentation im HipHop. In: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003, S. 218-245, hier S. 223. 289 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Broschierte Sonderausgabe. München 5 2005 [1992], S. 132 (Markierung dem Original entnommen). 290 Vgl. ebenda, S. 132. 291 Vgl. ebenda, S. 50ff. 292 Vgl. Lothar Mikos: ,Interpolation and Sampling‘. Kulturelles Gedächtnis und Intertextualität im HipHop. In: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003, S. 64-84, hier S. 69f. 3. Die Populärmusik des Raps 68 Erinnerung, die sich auf eigene Erfahrungen und deren Rahmenbedingungen - das ‚recent past‘ - bezieht.“ 293 Diese Teilhabe am kommunikativen Gedächtnis wird nun damit bezeugt, dass man sich mit den Ursprüngen der Kultur befasst und den ‚großen Namen‘ der Vergangenheit Respekt zollt. Über die Aneignung von Wissen, über die Übernahme von Kleidungs-, Bewegungs- oder Sprechcodes u. Ä. wird eine Tradition gestiftet, die an die nächsten Generationen weitergegeben wird. Kreative Prozesse im Rahmen des HipHops stellen sich dementsprechend immer als eine „repetition with a difference“ 294 , eine „Re-Kreation“ 295 des bereits Vorhandenen, dar. Auf diese Weise wird über die ständige Referenz auf das im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis Gespeicherte die enge Verzahnung zwischen dem Identitätsentwurf der/ s Einzelnen und dem Bild der Gruppe als Kollektiv stets re-produziert und weitertradiert. In den folgenden Kapiteln soll nun ein Blick darauf geworfen werden, welche Rolle die Rap-Texte - die ja nach Dorsey „a critical part of a rapper’s identity“ 296 ausmachen - in diesem Prozess der Weitertradierung spielen. In Kap. 4 sollen dabei zunächst formale Charakteristika von Rap-Texten besprochen werden, bevor dann in den Kapiteln 5, 6 und 7 auf die Funktionen des Ich in Bezug auf Rap-Texte näher eingegangen werden soll. Schließlich gilt es im Rahmen dieser Untersuchung herauszufiltern, auf welche Weise und mittels welcher Mechanismen sich das Ich (in den Texten) als Selbst innerhalb der Kultur des Raps verortet und auf diese Weise den Prozess der Weitertradierung von szenespezifischem Wissen am Laufen hält. 293 Assmann, Kulturelles Gedächtnis (Anm. 289), S. 51f. (Markierungen dem Original entnommen). 294 Russel Potter: Spectacular Vernaculars: HipHop and the Politics of Postmodernism. New York 1995, S. 27. 295 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 74 (Markierung dem Original entnommen). 296 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 339. 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 4.1 Rap und/ als Lyrik? Während im zweiten Kapitel analysiert wurde, um welche Textsorte es sich bei Populärmusiktexten im Allgemeinen handelt, wurde im dritten Kapitel ein Populärmusikgenre - Rap - genauer unter die Lupe genommen. Im Folgenden heißt es, die Anliegen beider Kapitel zu verbinden. Denn es soll der Frage nachgegangen werden, wie Rap als Textsorte in einen größeren literarischen Kontext einzuordnen ist. Scholz gibt basierend auf der von ihm und Androutsopoulos 2002 297 durchgeführten, inhaltsanalytisch orientierten Studie zu fünf länderspezifischen HipHop-Kulturen in Europa an, für Rap-Texte im Allgemeinen gelte eine Charakterisierung als poetischer, lyrischer Text: in geschriebener Form - wie allgemein bei Liedtexttraditionen - tritt der Text (im Begleitheft der CD) als Folge von Versen auf, wobei als Ornatus oft der Reim das Versende kennzeichnet. In gesprochener Form haben wir es mit einem rhythmisch organisierten Rezitiermodus zu tun. 298 Dieser formalen Definition gemäß wird Rap als (gereimte) Versrede der Lyrik zugeordnet. 299 Der Literaturwissenschafter Verlan hingegen stellt eine derartige Einschätzung in Frage: Ist es überhaupt angemessen, Rap mit zeitgenössischer Lyrik zu vergleichen? Man darf der Jugend ihre Jugendlichkeit nicht vorwerfen, sagte Ale von Buback [ein Plattenlabel, Anm. A. B.] einmal. Man kann und darf den siebzehn-, achtzehn-, neunzehnjährigen Rappern nicht vorwerfen, die Tradition nicht zu kennen. 300 Verlan stellt also einen Unterschied zwischen Lyrik und Rap-Texten fest, indem er auf den Umstand verweist, dass die ProduzentInnen und das vermeintliche Zielpublikum von Rap oder Lyrik im künstlerischen Bereich nicht 297 Vgl. Jannis Androutsopoulos und Arno Scholz: On the recontextualization of hip-hop in European speech communities: a contrastive analysis of rap lyrics. In: Philologie im Netz, 19/ 2002, S. 1-42, URL: http: / / www.fu-berlin.de/ phin/ phin19/ p19t1.htm (Stand: 31.12. 2011). 298 Scholz, Kulturelle Hybridität (Anm. 204), S. 54. Bei den fünf Tochterkulturen handelt es sich um HipHop-Kulturen in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland. 299 Vgl. die Lyrik-Definition von Lamping auf S. 23f. in diesem Band. 300 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 271. 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 70 demselben sozialen Feld 301 angehören. Für Angehörige beider Felder ist zwar - mit Bourdieu gesprochen - sowohl ökonomisches, soziales, kulturelles als auch symbolisches Kapital vonnöten. Dies kommt aber auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck. 302 So führen Klein und Friedrich für die HipHop- Kultur aus: Die Positionierung des Einzelnen ist abhängig davon, inwieweit er über soziale Netzwerke und Kontakte verfügt. Die zentrale Kapitalform schließlich, die das lokale Feld konstituiert und entscheidend ist für die soziale Positionierung in der lokalen HipHop-Kultur, ist das szenespezifische Wissen. 303 Dass sich das szenespezifische Wissen unterscheidet, das ein/ e Roman- oder LyrikschriftstellerIn oder ein/ e RapperIn und ein Rap-Fan mitbringt, um sich in ihrem/ seinem sozialen Feld zu etablieren, scheint evident. Verlan bezeichnet denn auch die Gleichsetzung von Lyrik und Lyrics als „babylonische Sprachverwirrung“ 304 : Lyrics (Songtexte) und Lyrik (Gedichte) sind eben nur sprachgeschichtlich verwandt, meinen aber gerade im Rap etwas ganz anderes. Auch Reim, Vers, Gedicht, Dichter, Poet und so weiter bedeuten Unterschiedliches, je nachdem, ob ein Rapper oder ein traditioneller Schriftsteller/ Literaturwissenschaftler diese Begriffe verwendet. Ja, Moses P bezeichnet sich als Bundesreimer Nummer eins, aber was heißt das schon? Dass er meint, besser zu sein, als Goethe oder Grünbein? Moses P bezieht sich auf seine Rapkollegen, das ist HipHopintern zu verstehen, […]. Aber es ist ja schön, wenn sich nicht nur die anderen Rapper darüber ärgern, sondern auch der eine oder andere traditionelle Dichter. 305 Es mag dahingestellt bleiben, ob für alle RapperInnen vorausgesetzt werden kann, dass sie die literarische Tradition nicht kennen. Zumindest scheint es innerhalb der HipHop-Kultur nicht in derselben Form vonnöten zu sein, sich innerhalb dieser Tradition zu verorten als dies für SchriftstellerInnen der Fall ist, die genuin für den Literaturmarkt produzieren. Die Einordung in ein spezifisches kulturelles Feld führt indes von Seiten der RapperInnen dazu, dass die Sprache des Raps von jugendkulturellen resp. szenespezifischen Ausdrücken geprägt ist. Außerdem ist im (globalen wie 301 Bourdieu definiert den Begriff des Feldes folgendermaßen: „In hochdifferenzierten Gesellschaften besteht der soziale Kosmos aus der Gesamtheit dieser relativ autonomen sozialen Mikrokosmen, dieser Räume der objektiven Relationen, dieser Orte einer jeweils spezifischen Logik und Notwendigkeit, die sich nicht auf die für andere Felder geltenden reduzieren lassen“ (in: Bourdieu/ Wacquant, Reflexive Anthropologie, Anm. 23, S. 127). 302 Vgl. zum Begriff des Kapitals Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Frankfurt am Main 1992, S. 49-75. 303 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 187. 304 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 271. 305 Ebenda, S. 271. 4.1 Rap und/ als Lyrik? 71 auch deutschen) Rap im Gegensatz zur ‚klassischen‘ modernen Lyrik 306 eine Hinwendung zur Umgangs- und Alltagssprache zu vermerken. Je nach KünstlerIn und Thematik ist das gewählte Register der Texte unterschiedlich. Dialektale oder ethnische Einflüsse 307 sowie auch die Verwendung einer ‚Sprache der Straße‘ sind aber häufig zu beobachten. 308 Klein und Friedrich sprechen in Zusammenhang mit Rap von „inszenierte[m], alltägliche[m] Sprechen.“ 309 Die genannten jugendsprachlichen, szenespezifischen und alltagssprachlichen Einschläge sowie der Mangel an Referenz auf die literarische Tradition führen nun dazu, dass, wie bereits in Kap. 2 für Populärmusiktexte generell ausgeführt, Rap-Texte und Texte ‚klassischer‘ zeitgenössischer sowie traditioneller Lyrik bezüglich der ihnen zugestandenen Qualität sehr unterschiedlich bewertet werden. Während die ‚klassische‘ Lyrik zu den komplexesten Literaturformen gezählt wird, hat Rap wie Populärmusik im Allgemeinen mit dem Diktum ästhetischer Minderwertigkeit zu kämpfen. Nach Shusterman wird „populäre Kunst wegen ihrer einfachen semantischen Strukturen verdammt 306 Burdorf führt aus: „In der poetischen und besonders in der lyrischen Sprachverwendung entfernen sich die formalen Gestaltungsmittel und teilweise auch die Ziele des Sprechens und Schreibens von denen der Alltagssprache. Gedichte lösen sich durch ihre gezielte künstliche Form - in jedem Fall durch die Versstruktur, häufig durch Reim, Metrum und andere Abweichungen von der Schreib- und Sprechweise der Prosa - auch aus alltäglichen Nutz- und Zweckzusammenhängen“ (in: Burdorf, Gedichtanalyse, Anm. 25, S. 22). 307 Gerade für den US-amerikanischen Rap konnte von der Forschung herausgearbeitet werden, dass innerhalb der Texte auf sehr elaborierte Weise mit der verwendeten Alltagssprache in Verbindung mit den Besonderheiten des afro-amerikanischen Englisch gearbeitet wird. Dies geschieht mittels rhetorischer Figuren, die im US-amerikanischen Rap Bezeichnungen wie Playing the Dozens oder Signifyin(g) Monkey tragen. Darunter werden ironische Sprachspiele oder -wettkämpfe verstanden, bei denen es um ein Verdrehen von oder Spielen mit Wortbedeutungen geht, also um ein Verfahren, das mit der Arbitrarität der Verbindung von Signifikat und Signifikant des sprachlichen Zeichens arbeitet (vgl. Spath, Hip-Hop in Los Angeles, Anm. 234, S. 63). Spath führt aus: „Signifiziert wird gerade dadurch, dass keine andere Sprache gesprochen wird, sondern die selbe [sic! ], diese aber anders. Genau dieses Spiel zwischen Identität, Differenz und Wiederholung, diese Arbeit an und in der Sprache, […] [d]ie Strategien des Signifizierens verfolgen dabei nicht Kriterien eines Informationsaustausches, sondern beziehen sich allein auf die Verkettung von im Prinzip unabgeschlossenen Ketten von Signifikanten, aber nicht auf eine dahinterliegende Bedeutung“ (in: ebenda, S. 63). Für Bärnthaler liegt der Grund für die Verwendung dieser ‚Sprache der Uneigentlichkeit‘ darin, die Texte für Außenstehende schwerer verständlich zu machen, sich also abzugrenzen (vgl. Bärnthaler, Two Turntables and a Microphone, Anm. 185, Quelle: Internet). Vgl. zum ethnisch geprägten Deutsch von Jugendlichen mit Migrationshintergrund innerhalb der HipHop-Kultur Hannes Loh und Murat Güngor: Fear of a Kanak planet: HipHop zwischen Weltkultur und Nazi-Rap. Höfen: Hannibal 2002. 308 Vgl. Androutsopoulos, HipHop und Sprache (Anm. 3), S. 120f. 309 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 37. 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 72 […]“ sowie „weil ihr jeder tiefere Sinn abgeht“ 310 , wobei er Rap als „die am meisten verunglimpfte der populären Künste“ 311 bezeichnet. Der Eindruck der inhaltlichen Flachheit von Rap-Texten mag dabei zusätzlich zu den bereits genannten Gründen aufgrund eines weiteren wesentlichen Unterschieds zwischen Rap und ‚klassischer‘ moderner Lyrik entstehen: der Länge der Texte. Während Gedichte (von Ausnahmefällen abgesehen) von einer „relative[n] Kürze des Textes und Konzisheit des sprachlichen Ausdrucks“ 312 geprägt sind, ist es für Rap normal, dass die Texte einen größeren Umfang einnehmen. Typisch sind Strophen mit ca. sechzehn, mitunter aber auch über zwanzig Versen. Wie vielfach betont wird, „[bedeutet] Rap […] Lust an Kommunikation, endloses Reden und Argumentieren.“ 313 Diese „Worteflut“ 314 trägt dazu bei, dass das Wortmaterial in Rap-Texten nicht auf dergestalt verdichtete Weise verwendet wird, wie dies in lyrischen Texten im Allgemeinen der Fall ist. Ob dieser Umstand zu einer Verflachung des Inhalts führen muss, bleibe dahingestellt. 315 Die Länge der Texte wie auch die ‚Lust am Kommunizieren‘ weisen indes auf einen weiteren Unterschied zur zeitgenössischen Lyrikproduktion hin, denn Rap „revitalizes the author-function by situating the poetic speaker at the rhetorical epicenter of the poem.“ 316 Wiewohl das Ich und seine Empfindungen wie Erlebnisse in der Lyrik immer eine zentrale Rolle gespielt haben, 317 tritt das Ich im Rap in seiner ErzählerInnenfunktion verstärkt in den Vordergrund. Auf diesen Umstand wird im nächsten Kapitel gesondert zurückzukommen zu sein. Schließlich ist es das formale Kriterium der gereimten Sprache, das den Rap zum einen mit der historischen Lyrik-Tradition verbindet, zum anderen aber in Hinblick auf zeitgenössische Tendenzen von der Lyrik wieder abhebt. Denn für die zeitgenössische Lyrik im klassischen Sinne gilt, dass der Reim 310 Beide Zitate: Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 190. 311 Ebenda, S. 179. 312 So nennt Burdorf die „relative Kürze des Textes und die Konzisheit des sprachlichen Ausdrucks“ als fakultative, aber häufig auftretende Merkmale der Lyrik (in: Burdorf, Gedichtanalyse, Anm. 25, S. 21); Freund führt zudem aus: „Lyrische Texte sind immer Kernaussagen. Ihre Wahrheitskriterien sind Knappheit und Kürze. Geschwätzigkeit täuscht Substanz nur vor und erledigt sich von allein. Lyrik ist Empfindungskondensat, das, was nach dem Ausscheiden des bloß Ornamentalen, Deskriptiven, Theatralischen und Didaktischen übrigbleibt. Redundanz, in welcher Form auch immer, verwässert und löst die lyrische Substanz schließlich auf“ (in: Freund, Deutsche Lyrik, Anm. 53, S. 10). 313 Jacob, Agit-Pop (Anm. 180), S. 183. 314 Ebenda, S. 183. 315 Shusterman geht in seiner Analyse eines Rap-Texts vom Gegenteil aus, vgl. Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18). 316 Asquith, Poetry as Social Practice (Anm. 19), S. 145. 317 Vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 181ff. 4.1 Rap und/ als Lyrik? 73 nicht (mehr) zu ihren konstitutiven Merkmalen zählt. 318 Wiewohl auch im 20. Jahrhundert noch gereimt wird, stellt der Reim laut Burdorf innerhalb der zeitgenössischen Lyrikproduktion ein lediglich in kleinen Dosen eingesetztes und wohl reflektiertes Werkzeug der SchriftstellerInnen dar. 319 Für Rap gilt allerdings, dass der Reim zu den Genre-Konstituenten gehört. Ausgehend von der US-amerikanischen Mutterkultur wurde die gereimte Form des Raps in allen globalen Tochterkulturen übernommen. Damit hat nach Verlan die Rap-Musik dem Reim Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Renaissance verholfen, „[d]enn Rap hat eine literarische Revolution ausgelöst, die ihresgleichen sucht: In Kinderzimmern und Jugendhäusern, in Parks und auf der Straße, in Kneipen und Diskotheken wird heute wieder gereimt, gedichtet und in Versen gestritten.“ 320 Die Ursprünge der Verwendung des Reims im Rap liegen allerdings, wie bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnt, in der Übernahme afrikanischer Liedtraditionen in den USA des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Der Reim zeigt sich in diesem Zusammenhang als Kennzeichen mündlicher Kulturen im Allgemeinen, da er innerhalb eines Textes Kohärenz herstellt; über den Reim werden die einzelnen Verse eines längeren Textes zusammengehalten, ein gereimter Text ist einfacher im Gedächtnis zu behalten. 321 Im Rap wird dabei meistens in Paaren gereimt, aber auf unregelmäßige Weise werden auch komplexe Verschränkungen von End-, Binnen- und Kreuzreimen (u. a.) eingesetzt. Zudem gilt zu bedenken, dass die Reim- und Versstruktur des Raps nicht ohne die Begleitung von einer stark rhythmisierten Musik zu denken ist: Raps sind in den meisten Fällen mit geloopten Musikversatzstücken im 4/ 4- Takt 322 unterlegt, was den Sprechrhythmus organisiert; die Musik dient sozusagen als Korsett, denn „[d]ie Verseinteilung erfolgt also nach den von der 318 Für den deutschsprachigen Raum gilt, dass es vom 9. bis ins 18. Jahrhundert allgemeinen Usus darstellte, Gedichte (end)zu reimen. Insbesondere im Mittelalter wurde im gesamten abendländischen Raum die Verwendung des Reims nicht in Frage gestellt. Dies passierte erst im Laufe des 16. Jahrhunderts ausgehend von Italien und England. In deutschsprachigen Gebieten gelang es erst Klopstock um 1750, reimlose Gedichte in der Kunstpraxis durchzusetzen. Dem waren allerdings lange Debatten um eine vermeintliche Notwendigkeit des Reims resp. Diskussionen darüber, ob der Reim etwas Zwanghaftes und Einschränkendes bezüglich der Ausdrucksmöglichkeiten der Lyrik habe, vorangegangen, vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 32. 319 Vgl. ebenda, S. 32. 320 Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 20. 321 Auf diese Weise weist der Rap auch Bezüge zur mittelalterlichen deutschsprachigen Kultur auf. Borries führt aus: „Der [mittelalterliche, Anm. A. B.] Sänger arbeitet mit einer Anzahl von Musterversen, die, den Satzbau wie Schablonen vorgebend, es erlauben, das Lied improvisierend vorzutragen; neben diesen Formeln beherrscht er andere Versatzstücke wie Bilder und Vergleiche, Reime usw.“ (in: Erika und Ernst Borries: Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 1. Mittelalter - Humanismus - Reformationszeit - Barock. München 4 2000, S. 20). 322 Vgl. Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 23. 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 74 Musik vorgegebenen Taktabschnitten.“ 323 Asquith führt zum Zusammenspiel von Reim und Musik in einem Standard-Rap-Vers aus: In a standard metrical line, the rapper comes in on the first beat and ‘drop’ rhymes on the second and fourth. However, there are many variations on this pattern. Furthermore, since stress is measured in relation to the beat, the rapper can condense as many words between the ‘stopping points’ of the rhythmical line as possible or desirable. 324 Betont wird im Rap also auf der 1 und (etwas weniger stark) auf der 3, was zu einer Zäsur in der Mitte des Verses führt. Ein voller Takt besteht dabei normalerweise aus 16tel Noten, welche von verschiedenen Rhythmusinstrumenten gespielt werden, was die Möglichkeit eröffnet, an sechzehn verschiedenen Positionen Betonungen oder Reimwörter zu platzieren. Das Tempo von Rapmusik liegt dabei in der Regel zwischen 80 und 100 bpm (Beats per minute). 325 Die RapperInnen müssen sich allerdings, wie Asquith im obigen Zitat betont, keinem starren System fügen, der ‚Reiz‘ liegt im Spiel mit Betonung, Silbenanzahl und Wortlänge einerseits, Enjambements und Zäsur andererseits. Aus diesen Worten wird klar, dass im Rap keine strikten, alternierenden Betonungssysteme gelten. Es kommt zwar durch die Taktstruktur des Beats in vielen Versen zu einer regelmäßigen Anzahl von etwa vier Hebungen, die Anzahl der Senkungen wird aber frei gefüllt. Diese Ausführungen machen deutlich, dass Rap zwar als Versrede der Lyrik zuzurechnen ist, dass sich Rap aber hinsichtlich der durchgängigen Verwendung des Reims, der Abhängigkeit vom Beat, der Textlänge, der AutorInnenfunktion sowie auch hinsichtlich des gewählten Sprachregisters nicht in lyrische Traditionen der Gegenwart einfügt, sondern eigene formale und inhaltliche Traditionen begründet hat. 326 In den folgenden zwei Unterkapiteln gilt es dabei noch einmal besonderes Augenmerk auf die Tatsache zu legen, dass Raps im eigentlichen Sinne mündlich vorgetragene Texte darstellen, die von Musik begleitet werden. Es stellt sich also die Frage, welche (insbesondere formalen) Besonderheiten von Rap- Texten sich aus dem Zusammenspiel der unterschiedlichen Medien der gesprochenen Sprache und der Musik ergeben. 4.2 Das Medium I: Text und Musik Vielfach wird darauf hingewiesen, in der Betrachtung eines Raps das konstitutive Element der Musik nicht zu vergessen. So betont Dorsey: „Lyrics to rap songs are not just recited or read, […]. Essential to a song’s overall meaning 323 Ebenda, S. 23. 324 Asquith, Poetry as Social Practice (Anm. 19), S. 177. 325 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 439. 326 Zu inhaltlichen Traditionen des Raps vgl. Kap. 3.3, S. 50ff. in diesem Band. 4.2 Das Medium I: Text und Musik 75 are the music, its rhythmic patterns, and the idiosyncratic articulation of the rapper.“ 327 Wie bereits in Kap. 2 diskutiert, wird in Bezug auf die Lyrik der Frage nach der Wechselwirkung zwischen Musik und Text bereits seit einigen hundert Jahren nachgegangen. Walzel (1912) unterscheidet hierzu zwischen zwei Kategorien von Verhältnissen zwischen Text und Musik. Zum einen nennt er jene Lyrik, welche zusammen mit ihrer Tongestalt entstanden ist (wie z. B. der Minnesang, das Volkslied oder Wagners Opern-Libretti). Für diese Kategorie gilt, dass „die Musik sogar den seelischen Gehalt des Gedichts weit eindringlicher zur Wirkung gelangen lassen“ kann als der Text allein. Zum anderen führt Walzel Vertonungen an, bei denen in den meisten Fällen die Worte in der Musik „nur wie ein notwendiges Übel mitgenommen werden.“ 328 Für Walzel herrscht in der Dichtung ein ewiges Ringen und Kämpfen zwischen Rhythmus und Melodie einerseits und Sinn andererseits. Je musikalischer die Poesie ist, je rhythmischer und melodischer sie sich gibt, desto weniger wird sie dem Sinn gerecht. Und umgekehrt: je mehr sie alles auf den Sinn abstellt, desto weniger kann sie musikalische Wirkungen auslösen. 329 Auch Zumthor (1990) geht in Bezug auf das Verhältnis von Musik und Text von zwei Polen aus, zwischen denen es sich zu bewegen gilt: Es scheint sich eine ideale Abstufung abzuzeichnen: eines ihrer äußersten Enden wäre ein diskret rhythmisiertes und schwach melodisches Sprechen, das den Text seine Kraft und sein Gewicht aufzwingen lässt, wie es das Epos tut. Das andere wäre eine Opernarie, die durch die reine Musikalität der Stimme anrührt, auch wenn die ausgesprochenen Worte dabei nicht ganz überflüssig sind. 330 Für den Populärmusikbereich gilt es im englischsprachigen Raum eine rege Diskussion zum Thema ‚Text und Musik‘ zu verzeichnen. Insbesondere Frith (1996) und Middleton (1990, 2000) setzen sich mit der Frage nach deren Verhältnis auseinander, wobei Friths Forschungsinteresse eher in einer Analyse der Verbindung von (performtem) Text und KünstlerIn liegt, während sich Middleton tatsächlich mit der Interaktion von Text und Musik auseinandersetzt. Er arbeitet in Bezug auf populäre Musik drei mögliche Beziehungsarten zwischen Musik und Text heraus: 331 327 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 339. 328 Beide Zitate: Oskar Walzel: Leben, Erleben und Dichten. Leipzig 1912, S. 7. 329 Ebenda, S. 17f. 330 Zumthor, Einführung in die mündliche Dichtung (Anm. 46), S. 163. 331 Vgl. zur folgenden Darstellung Richard Middleton: Studying Popular Music. Buckingham/ Philadelphia 1990, S. 231. 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 76 affect: Words as expression tend to merge with melody; voice tends towards ‘song’. Als Beispiel nennt Middleton typische Pop-Balladen. gesture: Words as sound tend to become absorbed into music; voice tends becoming an instrument. Als Beispiel wird u. a. Little Richards Tutti Frutti genannt, das wegen seiner ‚Nonsense‘-Sprache in diese Kategorie fällt. story: Words as narrative tend to govern rhythmic/ harmonic flow; voice tends towards speech. Als Beispiel sei Folk (z. B. Bob Dylan) genannt. Wie die vorhergehenden Ausführungen hinlänglich belegen, fällt Rap als Sprechgesang, als ‚Worteflut‘, zweifelsohne in die letztgenannte Kategorie. Dementsprechend betont auch Dorsey, „[r]ap records [...] are dominated by the tone and/ or words of the rapper, while the music can be in balance with the rapper’s voice or may highlight it. If the music overwhelms the words, then it is not a rap record.“ 332 Zudem gilt es hervorzuheben, dass es im Rap keine Melodie im eigentlichen Sinn gibt, sondern der Text von einem geloopten Breakbeat begleitet wird, d. h. dass durch die Reproduktionstechnologien des Samplings meist ein Break (die instrumentale Überleitungspassage eines Musikstücks) isoliert und beliebig vervielfältigt aneinander gesetzt oder mit Breaks anderer Musikstücke kombiniert wird. 333 „Grundsätzlich“, so betont Wicke, „sind alle Klangereignisse [im Rap, Anm. A. B.] in einer überwiegend perkussiven Funktion eingesetzt.“ 334 Auch Toop geht von einer für die Popmusik ungewöhnlichen Dominanz des Textes im Rap aus: Es war schon immer fraglich, wie sehr Zuhörer auf die Texte achten. Bei gesungenen Texten gibt es ohnehin die Tendenz, dass sie sich mit der Instrumentalspur vermischen, so dass man sich später nur noch an den Titel erinnert. Ein Problem, das bei Tanzmusik logischerweise nur noch größer wird. Rap-Texte werden dagegen abgetrennter von der Musik vorgetragen und die Möglichkeit ins Detail zu gehen und direkt zu werden, ist größer. 335 Dass Rap-Texten also von Seiten der RezipientInnen erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wird, liegt auch an Vortragsweise und Tonmischung - und nicht nur, wie in Kap. 3 erwähnt, an den inhaltlichen Merkmalen der Texte (d. h. an ihren politischen ‚Aufregerqualitäten‘). Es zeigt sich, dass die Stimme in Rap-Texten sehr präsent ist, da es sich bei den Stimmen im Rap (als Sprechgesang) um Sprechstimmen handelt. Diese sind als eher grundtonlastig einzustufen, d. h. dass ihre höheren Teiltöne relativ konstant in ihrer Intensität abnehmen, was bei einer Gesangsstimme in der Regel nicht der Fall ist. Auf diese Weise werden die Stimmen aber nicht vom Bass verdeckt, weil ihre 332 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 327. 333 Vgl. Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 61 oder Wicke, Rap (Anm. 178), Sp. 69. 334 Ebenda, Sp. 70. 335 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 140. 4.3 Das Medium II: Stimme und Schrift 77 Teiltonstruktur und damit die spezifische Klangfarbe erhalten bleiben. Es kommt, wie Toop im Zitat oben konstatiert, zu dem Eindruck, im Rap würde der Text abgetrennter von der Musik vorgetragen, als dies der Fall ist, wenn eine Singstimme von Musik begleitet wird. Die Stimme stellt im Rap somit eine Figur, d. h. das vom musikalischen Konzept her ‚Gemeinte‘ dar, da ihr über im Gehirn angelegte Erfahrungsinventare erhöhte Aufmerksamkeit zugeführt wird, wobei diese Erfahrungsinventare als „sowohl erfahrungsabhängig und damit personenwie sozialisationsgebunden […] als auch universell hinsichtlich der Verarbeitungsstrategien des Gehirns“ 336 einzustufen sind. Aufgrund der erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber der Stimme liegt es nahe anzunehmen, dass diese mit einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber dem Text(inhalt) einhergeht. Auf diese Weise scheint es wiederum plausibel, in Analysen von Raps den Texten gesondertes Interesse zu schenken. Barrio meint in Bezug auf seine Untersuchung von Rap-Texten in Frankreich: Wenn man von Rap spricht, muss man v.a. den Texten Bedeutung beimessen, denn selbst wenn Musik und Sound eine wichtige Rolle spielen, siedelt der Kern eines Raplyrics im Wortlaut. Die Musik, sei sie eine Wiederverwendung einer dem Publikum bereits bekannten Melodie oder eine originale Eigenkomposition, wird im Folgenden deshalb zugunsten des Textes nur als dessen ‚Verzierung‘ wahrgenommen. 337 Shusterman hingegen bedauert in seiner literaturwissenschaftlich-philosophischen Textanalyse des (englischsprachigen) Raps Talkin’ All That Jazz zutiefst, die musikalische Dimension außer Acht lassen zu müssen, aber er argumentiert: „Wenn Rap selbst in seiner verarmten Form dennoch als niedergeschriebene Dichtung ästhetischen Standards genügen kann, kann er sie a fortiori auch in seiner reichen und robusten Aktualität als Musik und rhythmisches Sprechen erfüllen.“ 338 Ein Erfassen des Raps als Gesamtkunstwerk ist naturgemäß aber nur dann möglich, wenn die Musik in die Analyse miteinbezogen wird. 4.3 Das Medium II: Stimme und Schrift Wenn nun im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels von der Wichtigkeit der Stimme einerseits und der Textinhalte, die auch niedergeschrieben werden können, andererseits gesprochen wurde, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache im Rap. Ist das eigentliche Medium des Raps die gesprochene Sprache, während die Schrift, 336 Rösing, Klangfarbe und Sound (Anm. 59), Sp. 154. 337 Sébastien Barrio: Underground-Rap in Bobigny. Ideologie einer populären Kultur. In: Eva Kimminich (Hrsg.): Rap. More than Words. Frankfurt am Main/ Wien/ New York et al. 2004, S. 97-111, hier, S. 98. 338 Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 180 (Markierung dem Original entnommen). 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 78 wie dies im Zitat von Scholz 339 zu Beginn dieses vierten Kapitels angeklungen ist, lediglich das sekundäre Medium darstellt, das als Abschrift nur im Beiheft der CD auftritt? Der Sicht einer Abschrift gemäß erhält die schriftliche Fassung eines Raps erst dann ihre finale Form und produziert Sinn, wenn sie performt, also gesprochen wird. So betont Frith in Bezug auf Populärmusiktexte, dass der Unterschied zwischen diesen und Gedichten darin bestehe, dass Gedichte ob ihrer schriftlichen Form offen für multiple Interpretationen seien, während es sich bei Songtexten in Zusammenhang mit der Musik um eine bestimmte Realisation oder Lesart eines bestimmen Textes handle: 340 „The point is that as speakers we create meaning through stress; […]. The song becomes the preferred reading of the words.“ 341 In Bezug auf die Wichtigkeit einer mündlichen Vortragsweise von Populärmusiktexten scheint in diesem Zusammenhang nochmals der Hinweis auf die Wurzeln des Raps innerhalb afrikanischer, oraler Traditionen wichtig. Auch die Etymologie des Wortes ‚to rap‘ verweist auf diesen Ursprung; so wurde das Verb in den 1940er Jahren, nachdem es lange Zeit nicht verwendet worden war, im afrikanisch-amerikanischen Slang wiederaufgegriffen in den Bedeutungen von „to hold a conversation, a long, impressive, lyrical, social or political monologue. It is also associated with clever talk and rhyming monologues and conversation as a highly self-conscious art form.“ 342 In Bezug auf den Rap der 1970er Jahre weist Dorsey darauf hin, dass „[o]riginally rap was improvised, […].“ 343 Denn wie in Kap. 3 erwähnt, diente das Sprechen der/ s Rapperin/ s zunächst nur der Animation der dem DJ lauschenden Gäste, wie auch Dorsey bestätigt: Williams elaborates that rap […] was not initially a lyrical music, but rather an ‘instrumental dance music’. Rappers originally rapped about the DJs and the word took a back seat to the groove or beat. […] The MCs began to become rappers themselves after the Sugarhill Gang’s tremendous commercial success with ‘Rapper’s Delight’ (1979). In the tradition of the ‘bad nigger’ street toasts, aggressive, self-aggrandizing boasts about the rapper’s own prowess were added along with the latest sayings circulating in the streets. These improvised tributes, boasts, and slogans were strung together with internal rhymes, which were freed of melody because they were chanted rather than sung. 344 In der Weiterentwicklung der Kunstform hat sich schließlich durchgesetzt, dass RapperInnen ihre Texte aufgrund deren zunehmender Komplexität zu- 339 Vgl. die Definition von Scholz auf S. 69 in diesem Band. 340 Vgl. Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 178f. 341 Ebenda, S. 181. 342 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 326; vgl. ebenda auch die älteren etymologischen Wurzeln des Verbs. 343 Ebenda, S. 338. 344 Ebenda, S. 332f. 4.3 Das Medium II: Stimme und Schrift 79 nächst schreiben und später rezitieren. Dorsey durchleuchtet im folgenden Zitat unter Bezugnahme auf Rose das Verhältnis des Schreibens und Sprechens von Rap-Texten: They [raps, Anm. A. B.] are rhymes, written down first, memorized, and recited orally. In oral cultures, there is no written context to aid memorization. […]. Rose contends that rap lyrics […] are oral performances that display written (literate) forms of thought and communication. Precisely because they are informed by and dependent on literate forms of communication and reproduction for their complexity, rappers and rhymes are a far cry from traditional oral poetic forms and performers. For example, in rap the rhymed word is often located in the middle of a long sentence, and short punctuated phrases are worked against the meter of the bass line. 345 Der Bezug zur Schrift ist für die Kultur des Raps also mittlerweile von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wobei es unerheblich ist, ob tatsächlich alle Raps geschrieben werden, bevor sie performt werden. Denn der enge Bezug zur Schrift als Medium geht auch aus der Tatsache hervor, dass überhaupt Rap-Texte in Booklets abgedruckt oder im Internet veröffentlicht werden. Als zentral stellt sich auch der Bezug zu der zum HipHop gehörenden Kunstform des Graffiti-Schreibens heraus. 346 Die innerhalb der Graffiti-Kultur herausgebildeten ästhetischen Formen und Strukturen finden sich auf Album- Covers, 347 auf Flyern oder auch auf Homepages von Fans oder KünstlerInnen. Indiz für die immanente Schriftlichkeit des Raps (in Anlehnung an die Graffiti-Ästhetik) ist dabei die zu beobachtende Arbeit an den graphischen Signifikanten der Schrift. So gehören orthographische Verschiebungen im Hinblick auf phonetische Realisierungen bekannter Wörter zum Standarddruckbild des Raps: Beispiele seien hierfür der Name der deutschen Rap-Gruppe Midnite Sonz (<sons) oder Begriffe wie ‚Gangsta‘ (<gangster), ‚phat‘ (<fat), ‚eye‘ (<I) u. v. a. 348 Derartige Verschiebungen sind insbesondere für den englischsprachigen Rap typisch; aber sie sind auch bei deutschen Begriffen zu beobachten 345 Ebenda, S. 339. 346 Dieser Usus hat sich übrigens auch auf die Sekundärliteratur zu HipHop übertragen. So z. B. werden die Titel von Menraths Represent what (2001) oder Güngörs und Lohs Fear of a Kanak Planet (2002) als handschriftliche Graffiti-Tags dargestellt. 347 Dies ist z. B. der Fall beim Album Wurzeln und Flügel (Pyranja); vgl. die Analyse zum Cover im Exkurs zu Kap. 6, S. 139ff. 348 Vgl. Spath, Hip-Hop in Los Angeles (Anm. 234), S. 70f.: Spath liefert a. a. O. eine Systematisierung der orthographischen Verschiebungen für US-amerikanischen Rap. Er nennt als typische Vorgehensweisen: Assimilation der Schrift an die eigene phonetische Realisation (gangster>gangsta), Auslassung von Endkonsonanten (coming>comin’), Simplifikation oder Komplikation einiger Zischlaute und Frikative (guns>gunz), Substitution von Worten durch phonetisch gleichwertige Zeichen (are>R; too>2), Substitution von Zeichen durch phonetisch gleichlautende Worte (I>eye). 4. Die gereimte Kunst - formale und mediale Seiten des Raps 80 (wie die Songtitel S ist soweit oder 8tung 349 zeigen). Im deutschen Rap werden zudem im Sinne eines deutlichen (und absichtlich gesetzten) Hinweises auf den Kulturtransfer aus dem amerikanischen Raum viele Anglizismen inklusive des veränderten Schriftbildes übernommen. 350 Was die Produktion von Rap-Texten und den Umgang mit Sprache im Rap betrifft, zeigt sich, dass das Spiel zwischen Signifikat und (graphischem, phonetischem) Signifikant von großer Bedeutung ist. Besonders für die Produktion der Texte gilt, dass die gesprochene Sprache niemals von ihrem graphischen Signifikanten abgelöst ist, während dieser nicht von seiner lautlichen Realisation zu trennen ist. Nach diesen grundlegenden Ausführungen zu formalen und medialen Fragestellungen in Bezug auf Rap-Texte soll es im Folgenden darum gehen, diese formalen Fragen mit inhaltlichen zu kombinieren. Denn wenn Raps vorgetragen werden - schriftlich oder mündlich - so stellt sich doch immer die Frage: Wer ist denn eigentlich die/ der TrägerIn dieser (Text-)Stimme? 349 8tung auf: Sookee: Kopf, Herz, Arsch. Springstoff 2005; S ist soweit auf der gleichnamigen Platte von Schwester S: S ist soweit. MCA Music (BMG) 1995. 350 Für eine Systematisierung siehe Androutsopoulos/ Scholz, On the recontextualization of hip-hop in European speech communities (Anm. 297), Quelle: Internet. Die Autoren listen a. a. O. folgende Merkmale auf: cultural terminology (flow, skillz), slang items (bitch, homie), discourse markers (yo, yeah), formulaic expressions and patterns (X is in da house), code-switching on verse level or over large stretches of text including refrains and choral parts. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten Während in Kap. 4 die Genre-Konstituenten von Rap-Texten näher beleuchtet wurden, war in Kap. 3 ausgeführt worden, dass innerhalb der Populärmusikkultur des HipHops Fragen der Authentizität sowie Fragen nach der Legitimation der PartizipantInnen, Teil der Kultur zu sein und innerhalb ihres Rahmens sprechen zu dürfen, eine große Rolle spielen. Im Folgenden gilt es nun zu beleuchten, auf welche Weise diese Fragen in den Texten zur Sprache kommen. Denn es liegt nahe anzunehmen, dass innerhalb resp. im eigentlichen Sinne mittels der Rap-Texte verhandelt wird, wer für den Text und dessen vermeintliche Authentizität einsteht. Tatsächlich bestätigt ein Blick auf Rap-Texte, dass in einem Großteil der Raps der Text um ein ‚Ich‘ gebaut wird: 351 Es „wimmelt nur so vor […] ‚Ichs‘“ 352 , konstatiert George in Bezug auf Blues und in weiterer Hinsicht auf Rap. „Talking about oneself and the crew one belongs to, is one of the most prominent and traditional rap topics” 353 , bestätigen Androutsopoulos und Scholz 2002. Auch Wimmer weist in seiner 2009 publizierten Studie zu USamerikanischen Raps die ‚Selbstdarstellung‘ als zentrales Thema aus: „Für fast jeden Rapper ist es sehr wichtig, sich selbst vorzustellen, seinen Namen zu nennen, zu sagen, woher man kommt und auch wofür man steht.“ 354 Weder Androutsopoulos und Scholz noch Wimmer problematisieren indes in ihren Studien den Begriff der ‚Selbstdarstellung‘. Für die Forscher stellt sich die Frage danach nicht, wer denn gemeint ist, wenn sich ein Ich in einem Populärmusikstück selbst darstellt. Schließlich taucht gerade in Bezug auf Rap immer wieder die Biographie der KünstlerInnen als Vergleichsgröße zu den Texten auf. 355 Anhand der Biographie gilt es, den Grad der Authentizität eines Raps zu klären. Ein Song stellt sich dann als authentisch dar, wenn der - naturgemäß von der/ vom RapperIn selbst verfasste - Text des Raps das Leben der/ s Künstlerin/ s (wahrheitsgemäß) repräsentiert. Die Annahme einer direkten Referenzbeziehung zwischen Text und Biographie wird dabei zum zentralen Interpretationsmaßstab für Rap. Wie im Folgenden zu zeigen wird, führt dieser Interpretationsmodus allerdings zu vielfältigen Problemen und Widersprüchen. Es stellt sich also als Ziel der folgenden Ausführungen dar, einen Weg abseits einer rein 351 Vgl. George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 78f. 352 Ebenda, S. 80. 353 Androutsopoulos/ Scholz, On the recontextualization of hip-hop in European speech communities (Anm. 297), Quelle: Internet. 354 Florian Wimmer: Von der Block Party zum Business-Meeting. Eine Analyse von Rap- Lyrics. Wien 2009, S. 50. 355 Vgl. Tricia Rose: The hip hop wars. What we talk about when we talk about hip hop - and why it matters. New York 2008, S. 136. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 82 biographistischen Lesart zu finden, um die Beziehung zwischen dem Ich im Text und der Person der/ s Künstlerin/ s als Ich vor dem Text theoretisch fassen zu können. Dass es sich bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen einem Text und seiner/ m AutorIn um ein traditionelles Problemfeld der Literaturwissenschaft handelt, ist evident, wenn man z. B. die Debatten um das lyrische Ich oder das Subjekt der Autobiographie in Betracht zieht. Bevor es nun im weiteren Verlauf des Kapitels zu analysieren gilt, welche Positionen es gibt, das Ich und seine Referenzbeziehungen zur außersprachlichen Wirklichkeit in Populärmusiktexten im Allgemeinen resp. in Rap-Texten im Besonderen zu fassen, soll zunächst ein Blick in die Debatten der Literatur- und Sprachwissenschaft geworfen werden, um zu sehen, auf welche Weise diesen Fragestellungen in diesem Theoriefeld nachgegangen wurde/ wird. 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik Das Ich in lyrischen Texten beschäftigt die Wissenschaft schon seit geraumer Zeit. Überblicke über die historische Entwicklung resp. über verschiedene Forschungsansätze bieten Burdorf (1997) oder auch Fuchs (2009). Im Folgenden sollen einige wichtige Ansätze, die im Laufe des 19. und vor allen Dingen im Laufe des 20. Jahrhunderts Bedeutung erlangt haben, kurz vorgestellt werden. Das Hauptaugenmerk soll darauf gelegt werden, auf welche Weise innerhalb der Theoriegebäude das Verhältnis zwischen Ich im Text und der/ m KünstlerIn gefasst wird. 5.1.1 Idealistisch geprägte Ansätze In Bezug auf die Interpretation von Lyrik hat die Annahme einer Identität zwischen KünstlerIn und Ich des lyrischen Textes eine jahrhundertealte Geschichte, basierend auf der These, dass gerade der Lyrik „gegenüber den anderen Gattungen eine engere Verbindung zur Sphäre der Subjektivität und besonders auch zur Persönlichkeit und Erfahrungswelt des Autors zukomme […].“ 356 Insbesondere in der Literaturtheorie des 19. Jahrhunderts wird das lyrische Kunstwerk als unmittelbarer Ausdruck der subjektiven, inneren Realität der DichterInnenpersönlichkeit verstanden. 357 Hegels Ausführungen in seiner Ästhetik gelten als Referenzpunkt für Positionen dieser Art. Seinen Worten gemäß braucht der echt lyrische Dichter nicht von äußeren Begebenheiten auszugehn [sic! ], die er empfindungsreich erzählt, oder von sonstigen realen Umständen und Veranlassungen, die ihm zum Anstoß seines Ergusses werden, sondern er ist für sich eine subjektiv abgeschlossene Welt, so dass er die Anregung wie 356 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 182. 357 Vgl. Kaspar Spinner: Zur Struktur des lyrischen Ich. Frankfurt am Main 1975, S. 4f. 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik 83 den Inhalt in sich selber suchen und deshalb bei den inneren Situationen, Zuständen, Begebnissen und Leidenschaften seines eigenen Herzens und Geistes stehnbleiben [sic! ] kann. Hier wird sich der Mensch in seiner subjektiven Innerlichkeit selber zum Kunstwerk […]. 358 Für Hegel stellen die DichterInnen den „Mittelpunkt und eigentliche[n] Inhalt der lyrischen Poesie“ dar, wobei „äußere Veranlassungen […] in keiner Weise ausgeschlossen [sind]. Der große lyrische Dichter aber schweift in solchem Falle bald von dem eigentlichen Gegenstande ab und stellt sich selbst dar“, das „Allgemeine des Daseins“ sowie die „Mannigfaltigkeit des Besonderen“ 359 zusammenfassend. Für jene LiteraturtheoretikerInnen, die Hegel folgen, wird in diesem Zusammenhang das so genannte Erlebnisgedicht, in dem ein/ e AutorIn vermeintlich „,sich selbst‘ und nichts Erfundenes zum Ausdruck bringt“ 360 , zum Paradigma der Lyrik schlechthin. Dilthey (1905) versucht Goethe als den Repräsentanten des Erlebnisgedichtes zu fassen und führt aus: Goethe bringt das persönliche Erlebnis, die bildende Arbeit an ihm selbst zum Ausdruck, und in diesem Verhältnis von Erlebnis und seinem Ausdruck tritt das der Beobachtung immer Verborgene am Seelenleben, sein ganzer Verlauf und seine ganze Tiefe heraus. Überall ist hier das Verhältnis von persönlichem Erlebnis und Ausdruck mit dem von äußerem Gegebensein und Verstehen in verschiedener Mischung miteinander verwebt. Denn im persönlichen Erlebnis ist ein seelischer Zustand gegeben, aber zugleich in Beziehung auf ihn die Gegenständlichkeit der umgebenden Welt. 361 Bereits ein paar Jahre nach Diltheys Ausführungen wird eine dergestalt verstandene Einheit zwischen Ich im Text und AutorInnen-Ich in Zweifel gezogen. Von Susman 362 wird 1910 der von Walzel bekannt gemachte Begriff des lyrischen Ich eingeführt, welcher zwischen AutorInnen-Ich und Ich im Text unterscheidet, aber dennoch, von einer idealistischen Position ausgehend, die Lyrik als Ausdruck subjektiver Empfindungen fasst, die allerdings nicht mehr persönlicher, individueller Natur sind, sondern etwas Allgemeines, immer Wiederkehrendes darstellen. Das Ich im Text hat sich jedoch von der empirischen DichterInnen-Persönlichkeit emanzipiert. 363 Wiewohl sich im Laufe des 20. Jahrhunderts das Konzept des lyrischen Ich im Sinne einer von der AutorInnen-Persönlichkeit getrennten Instanz in der Literaturtheorie als Mini- 358 Hegel: Ästhetik, Dritter Teil, XIV 430-431, in: ebenda (Anm. 43), S. 1006 (Markierungen dem Original entnommen). 359 Alle Zitate: Hegel: Ästhetik, Dritter Teil, XIV 442-443, in: ebenda, S. 1014. 360 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 183. 361 Wilhelm Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung: Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig 1921, S. 198f. 362 Vgl. Margarete Susman: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik. Stuttgart 1910. 363 Vgl. Britta A. Fuchs: Poetologie elegischen Sprechens. Das lyrische Ich und der Engel in Rilkes „Duineser Elegien“. Würzburg 2009, S. 41. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 84 malkonsens durchsetzt, 364 bleiben auch die Ansätze einiger späterer TheoretikerInnen der idealistischen Tradition verhaftet, wenn es darum geht, das lyrische Ich theoretisch abzustecken. So versucht Sorg (1984) das Gedicht als Ausdruck eines lyrischen Subjekts zu fassen, ohne dabei die/ den AutorIn ins Spiel zu bringen. Seiner Theorie gemäß entsteht die lyrische Form aus einer „Spannung von Autonomieanspruch des Subjekts und empirischer Heteronomie […].“ 365 Nach Sorg steht das Subjekt zur Welt in einer antagonistischen Beziehung, wobei das Gedicht als „Kampfplatz“ 366 einen historisch wandelbaren, von Gedicht zu Gedicht verschiedenen „Abdruck eines Ringens von Ich-Bewusstsein und Welt- Präsenz und […] Ausdruck einer nur hic et nunc gefundenen Synthese“ 367 darstellt. In diesem Zusammenhang erweist sich das lyrische Ich im Text als „Kristallisationskern und Katalysator“ 368 , denn an diesem Ich können historisch verschiedene Konzeptionen des Verhältnisses zwischen Subjekt und Welt abgelesen werden. Für die LeserInnen gilt es dabei, „die Sehnsucht des Gedichts begrifflich nachzuzeichnen, […] angetrieben von der Hoffnung auf Teilhabe am Prozess der Selbstfindung durch lyrische Entäußerung.“ 369 Hamburger (1957) hingegen versucht das lyrische Ich in einem Jahrzehnte vor Sorg ausgearbeiteten Ansatz aus texttheoretischer Perspektive zu fassen. Auch sie stellt einen Bezug zwischen lyrischem Ich und Subjektivität her. Für sie stellt das Ich zunächst ein Aussagesubjekt dar, denn wenn wir ein Gedicht lesen, erleben wir das lyrische Aussagesubjekt, und nichts als dieses. Wir gehen nicht über sein Erlebnisfeld hinaus, in das es uns bannt. Dies aber besagt, dass wir die lyrische Aussage als Wirklichkeitsaussage erleben, die Aussage eines echten Aussagesubjekts, die auf nichts anderes bezogen werden kann als eben auf dieses selbst. Gerade das unterscheidet ja das lyrische Erlebnis von dem eines Romans oder Dramas, dass wir die Aussagen eines lyrischen Gedichtes nicht als Schein, Fiktion, Illusion erleben. 370 Für Hamburger ist zentral, dass wir es in der Lyrik „nur mit der Wirklichkeit zu tun [haben], die das lyrische Ich uns als die seine kundgibt, die subjektive, existenzielle Wirklichkeit, die mit irgend einer objektiven […] nicht verglichen werden kann.“ 371 Aus diesem Grund spielt es für Hamburger auch keine 364 Vgl. Simone Schiedermair: ‚Lyrisches Ich‘ und sprachliches ‚ich‘. Literarische Funktionen der Deixis. München 2004, S. 32. 365 Bernhard Sorg: Das lyrische Ich. Untersuchungen zu deutschen Gedichten von Gryphius bis Benn. Tübingen 1984, S. 13. 366 Ebenda, S. 13. 367 Ebenda, S. 13, vgl. zu ähnlichen Theorien Schiedermair, Lyrisches Ich (Anm. 364), S. 34ff. 368 Sorg, Das lyrische Ich (Anm. 365), S. 13. 369 Ebenda, S. 20. 370 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 181. 371 Ebenda, S. 203 (Markierungen dem Original entnommen). 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik 85 Rolle, ob das dargestellte Erlebnis des Subjekts tatsächlich erlebt oder erfunden ist, denn im Gedicht drückt sich auf unmittelbare Weise die ‚Wirklichkeit‘ eines poetischen Ich aus, während es für die/ den Rezipientin/ en gilt, das Ausgedrückte in der Lektüre nachzuerleben. 372 Aus dieser „Echtheit“ 373 des lyrischen Textes folgert Hamburger, „dass wir zwischen dem lyrischen Ich und dem Dichter-Ich nicht scheiden und unterscheiden können. Was wir als lyrisches Phänomen erleben, ist immer die Wirklichkeit der jeweiligen Existenz, die immer unmittelbar zu uns ist.“ 374 Als LeserInnen haben wir damit „weder die Möglichkeit und damit das Recht zu behaupten, dass der Dichter die Aussage des Gedichtes […] als die seines Erlebens gemeint habe, noch zu behaupten, dass er nicht ‚sich selbst‘ meine.“ 375 Die Nähe des lyrischen Textes zum subjektiven Erlebnis des lyrischen Aussage-Ich macht das Gedicht letztlich deutungsoffen. 376 Sowohl Sorg als auch Hamburger setzen in ihren Theorien den Fokus auf das Subjekt sowie auf das Verhältnis zwischen Welt und Subjekt. Während Sorg die/ den AutorIn außen vor lässt und Hamburger den Bezug in Ambiguität verharren lässt, werden am Übergang zwischen 20. und 21. Jahrhundert auch wieder Ansätze entwickelt, die die/ den AutorIn bewusst ins Boot der Lyrikinterpretation holen. So stellt Lamping (1993) eine fast kurios anmutende Gedicht-Typologie vor. Er unterscheidet vier Gedicht-Typen, 377 welche differenziert werden nach ihrer jeweiligen Beziehung zwischen Ich (im Text) und außersprachlicher Wirklichkeit. Zunächst führt Lamping jenen Gedicht-Typen an, bei dem das Ich des Textes mit der/ m DichterIn gleichzusetzen ist. Der Inhalt dieser Gedichte stellt sich allerdings als fiktional dar. Desweiteren definiert Lamping Gedichte, die (seinem Sprachgebrauch gemäß) fiktiv, aber nicht fiktional sind, d. h. dass sich die/ der SprecherIn des Gedichts als fiktiv präsentiert, während es sich beim Ausgesagten um etwas ‚Wahrhaftiges‘ (d. h. um eine Maxime oder Reflexion) handelt. Als dritten Typen kennzeichnet Lamping Gedichte, die sowohl fiktiv als auch fiktional sind: In diesen äußert eine fiktive Sprechinstanz Behauptungen oder erfundene Geschichten. Schließlich kennzeichnet Lamping Gedichte, die weder fiktiv noch fiktional sind. Hierzu zählt er die klassischen Erlebnisgedichte Goethes, im Falle derer Lamping davon ausgeht, dass der Dichter in ihnen tatsächlich stattgefundene Erlebnisse schildert. Nach Lamping geht die/ der LeserIn solcher Gedichte davon aus, dass „das jeweilige Erlebnis sowohl nach seiner subjektiven wie nach seiner objektiven Seite hin authentisch, dass die Rede des Dichters nicht nur wahrhaftig, son- 372 Vgl. ebenda, S. 182. 373 Ebenda, S. 187. 374 Ebenda, S. 191. 375 Ebenda, S. 184. 376 Vgl. ebenda, S. 187. 377 Vgl. Lamping, Das lyrische Gedicht (Anm. 62), S. 108. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 86 dern, soweit behauptend, auch wahr und im übrigen nichts fingiert sei.“ 378 Hinweise, wie ein Text mit Gewissheit einem der vier Typen zugeordnet werden kann, vermag Lamping nicht zu geben. Schließlich werden auch im 21. Jahrhundert Konzepte des lyrischen Ich vorgestellt, die weder auf eine Koppelung des Begriffs mit dem der Subjektivität noch auf die/ den AutorIn als Referenzpunkt für dieses Ich verzichten wollen. So etabliert Fuchs (2009) 379 eine Skala, bei der das Ich als abstrakte Allgemeinheit und das Ich als Autor-Ich einander als Plus- und Minuspol gegenüber [stehen]. Das Ich als abstrakte Allgemeinheit entwickelt durch die figurative Offenheit seiner Rede, die es vom Autor loslöst, das höchste Maß an Eigendynamik. […] Das Ich als Autor-Ich schließlich erscheint als mit dem Autor identisch, es bildet somit keine oder kaum Eigendynamik, denn selbst wenn es mit der Identität nur spielt, ist in ihm kein von dem Autor zu trennender Sprecher zu erkennen. 380 Im Laufe des 20. Jahrhunderts etabliert sich allerdings auch eine Reihe wirkmächtiger Positionen, welche nicht nur strikt zwischen AutorIn und Text-Ich unterscheidet, sondern auch das Ich im Text aus sämtlichen repräsentationslogischen Zusammenhängen befreien will. Zu diesen Theorien zum lyrischen Ich gehören zum einen linguistisch, zum anderen poststrukturalistisch geprägte Ansätze. 5.1.2 Linguistische Ansätze Sprachwissenschaftliche Ansätze zum lyrischen Ich gehen vielfach auf die Sprachtheorie von Karl Bühler (1934) zurück. In seinen Ausführungen unterteilt Bühler sämtliche Wörter in zwei Klassen, welche er als Symbolfeld und Zeigfeld bezeichnet. 381 Unter Bezugnahme auf Bühler erklärt Spinner den Unterschied zwischen beiden mit einem Hinweis darauf, dass sich [d]as Wort ‚ich‘ […] in seinem sprachlichen Verweischarakter grundsätzlich von Wörtern wie ‚Sonne‘, ‚schlafen‘, ‚fröhlich‘ [unterscheidet], mit denen jeder Teilhaber an einer Sprachgemeinschaft bestimmte, konvergente inhaltliche Vorstellungen verbindet. Das Pronomen ‚ich‘ bedeutet nicht einen derartigen Inhalt, sondern verweist innerhalb einer Redesituation auf den jeweiligen Sprecher. […] Zum Symbolfeld gehören die genannten Wörter ‚Sonne‘, […], zum Zeigfeld neben den Pronomina Wörter wie ‚hier‘, ‚dort‘, ‚jetzt‘, ‚morgen‘ usw. 382 378 Lamping, Das lyrische Gedicht (Anm. 62), S. 128f. 379 Für eine ähnliche Herangehensweise vgl. Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009, S. 11. 380 Fuchs, Poetologie elegischen Sprechens (Anm. 363), S. 53. 381 Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart 3 1999 [1934], S. 80f. 382 Spinner, Struktur des lyrischen Ich (Anm. 357), S. 12f. 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik 87 Während also die dem Symbolfeld zugehörenden Wörter inhaltliche Vorstellungen zum Ausdruck bringen, dienen die Ausdrücke des Zeigfeldes der Orientierung innerhalb einer Redesituation. Die/ Der SprecherIn setzt in der Redesituation eine ‚Hier-Jetzt-Ich-Origo‘ 383 , die für die/ den EmpfängerIn als Nullpunkt der Orientierung zu gelten hat. Dank der deiktischen Ausdrücke wird zwischen SenderIn und EmpfängerIn „ein hinreichendes Maß harmonischen Orientiertseins“ 384 ermöglicht. Bühler wundert es in diesem Zusammenhang nicht, dass dieses Zurechtfinden einer/ s Empfängerin/ s bei einer demonstratio ad oculos im Normalfall gelingt, schließlich können hier auch „vorsprachliche[…] Zeighilfen“ 385 - wie z. B. der ausgestreckte Zeigefinger - zu Hilfe genommen werden. Für Bühler stellt sich allerdings die Frage, warum eine derartige Orientierung auch in fiktionalen Texten möglich ist. In seiner Theorie der Deixis am Phantasma analysiert Bühler schließlich verschiedene Anwendungsmöglichkeiten der deiktischen Äußerungen, die „hinübergenommen [werden] in den ‚Phantasieraum‘“ 386 . Auf diese Weise kann sich die/ der RezipientIn in diesem Phantasieraum orientieren, weil sie/ er ihr/ sein jeweiliges Körpertastbild, das es ihr/ m ermöglicht, sich in der Welt zu orientieren, sozusagen in diesen Phantasieraum mitnimmt. 387 Diese Funktion der RezipientInnenleitung oder -führung ist es auch, die Spinner (1975) oder später Schiedermair (2004) in ihre Theorien des lyrischen Ich aufnehmen, während sie sich dezidiert von repräsentationslogischen Sichtweisen des Ich im Text absetzen. Schiedermair betont in Bezug auf die oben vorgestellten Ansätze von Sorg oder Hamburger, dass innerhalb dieser [d]er Ausdruck ‚ich‘ zwar aus der direkten Repräsentationsrelation herausgelöst [wird], aber die Funktion der Repräsentation bleibt doch weiterhin die wirksame. Repräsentierte er bisher den Autor als real existierendes Subjekt, wird seine Repräsentationsrelation nun lediglich verschoben auf allgemeine Instanzen wie ein Ich, das in der Erhebung zu sich selbst gekommen ist […]. 388 Sowohl Spinner als auch Schiedermair gehen in ihren Ausführungen auf das deiktische Wort ‚ich‘ und dessen referentielle Offenheit ein. Dabei stützt sich insbesondere Spinner auf Benveniste (1974), für den die Personalpronomen ‚ich‘ und ‚du‘ „einen Komplex ‚leerer‘, in Bezug auf die ‚Realität‘ nicht referentieller, immer verfügbarer Zeichen“ darstellen, die ‚voll‘ werden, sobald ein Sprecher sie in jede Instanz seiner Rede aufnimmt. […]. Wenn er sich als Einzelperson identifiziert, indem er ich sagt, 383 Vgl. Bühler, Sprachtheorie (Anm. 381), S. 126. 384 Ebenda, S. 124. 385 Ebenda, S. 125. 386 Ebenda, S. 126. 387 Vgl. ebenda, S. 137. 388 Schiedermair, Lyrisches Ich (Anm. 364), S. 39. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 88 stellt jeder der Sprecher sich jeweils als ‚Subjekt‘ hin. Die Anwendung hat also die Diskurs-Situation und keine andere zur Voraussetzung. 389 Das Pronomen ‚ich‘ verweist innerhalb bestimmter Redesituationen auf die/ den jeweiligen SprecherIn. In der Lyrik aber geht das ‚ich‘ „ins Leere, weil das Gedicht im Augenblick des Verstehens den Bezug zum Augenblick der Entstehung verloren“ 390 hat. Das Ich verweist also gerade nicht auf die/ den AutorIn, sondern stellt nach Spinner im Sinne einer „Leerdeixis“ 391 eine Leerstelle dar, die es von der/ vom Rezipientin/ en zu füllen gilt: Im Gedicht ist ein Mittel, eine neue Orientierung zu schaffen, die Ich-Deixis, die den fiktiven Ort kennzeichnet, von dem aus das Raum/ Zeitgefüge des Ich- Gedichts sich entwickelt. Der Leser muss sich, um den Text zu verstehen, die durch die Ich-Deixis geschaffene Blickrichtung in einer Art Simulation aneignen. 392 Schiedermair belässt es in ihren Ausführungen dabei, die Funktion des lyrischen Ich an der Lenkung der Aufmerksamkeit der RezipientInnen festzumachen, 393 Konzeptionen des lyrischen Ich als Ausdruck eines ‚zu sich selbst findenden Subjekts‘ lehnt sie kategorisch ab. 394 Auch Spinner setzt sich von Standpunkten idealistischer Tradition ab, damit macht er seine Theorien anschlussfähig an Subjekt- und Identitätstheorien poststrukturalistischer Provenienz. Da im Sinne der modernen Identitätspsychologie die Identität nicht etwas Vorhandenes ist, sondern sich immer neu herstellt, ist das lyrische Ich nicht als Bezeichnung oder Ausdruck einer bestehenden Identität, sondern als Funktionsteil im Prozess der Identitätsfindung zu sehen. 395 Auch Benveniste hebt hervor, dass Subjektivität als Effekt der Sprache zu verstehen sei: „In der Sprache und durch die Sprache stellt der Mensch sich als Subjekt hin; weil in Wirklichkeit die Sprache allein, in ihrer Realität […] den Begriff des ‚ego‘ begründet.“ 396 Auf diese Weise leisten die sprachwissenschaftlichen Ansätze zum lyrischen Ich einen wichtigen Beitrag zu den im Folgenden besprochenen poststrukturalistischen Ansätzen des lyrischen Ich. 389 Beide Zitate: Èmile Benveniste: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. München 1974, S. 283. 390 Spinner, Struktur des lyrischen Ich (Anm. 357), S. 15. 391 Ebenda, S. 17. 392 Ebenda, S. 18 (Markierung dem Original entnommen). 393 Vgl. Schiedermair, Lyrisches Ich (Anm. 364), S. 51f. 394 Vgl. ebenda, S. 36. 395 Spinner, Struktur des lyrischen Ich (Anm. 357), S. 24. 396 Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 289 (Markierungen von mir, Anm. A. B.). 5.1 Das lyrische Ich in der Lyrik 89 5.1.3 Poststrukturalistische Ansätze Unter Rückgriff auf die Linguistik und insbesondere de Saussures Zeichenbegriff wendet sich der Poststrukturalismus gegen die Auffassung, die Sprache könne eine außersprachliche Realität abbilden, d. h. repräsentieren. Zwischen dem Lautbild eines Zeichens (Signifikant) und der ausgedrückten Bedeutung (Signifikat) bestehe demnach keine ‚natürliche‘ Verbindung - das Verhältnis wird als arbiträres und der Konvention unterworfenes gefasst. 397 Damit eine Lautfolge als Signifikant funktionieren kann, muss sie innerhalb verschiedener Kontexte anwendbar, die Lautfolge muss also wiedererkennbar sein. 398 Wie Derrida betont, ist damit jedes sprachliche Zeichen iterierbar, d. h. es kann innerhalb verschiedenster Kontexte eingesetzt werden und Bedeutung generieren. 399 Dadurch kann es mit jedem gegebenen Kontext brechen, unendliche viele neue Kontexte auf eine absolut nicht saturierbare Weise erzeugen. Dies setzt nicht voraus, dass das Zeichen […] außerhalb von Kontext gilt, sondern im Gegenteil, dass es nur Kontexte ohne absolutes Verankerungszentrum gibt. Diese Zitathaftigkeit […], diese Iterierbarkeit des Zeichens […] ist kein Zufall und keine Anomalie, sondern das (Normale/ Anormale), ohne welches ein Zeichen […] nicht mehr auf sogenannt ‚normale‘ Weise funktionieren könnte. 400 Die Unabgeschlossenheit der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens hat zur Folge, dass auch Texte als „Gewebe von Zeichen“ 401 niemals gänzlich, d. h. ein für alle mal, in ihrem Sinn erfasst werden können, denn nach Barthes kann „[d]er Raum der Schrift […] durchwandert, aber nicht durchstoßen werden. Die Schrift bildet unentwegt Sinn, aber nur, um ihn wieder aufzulösen.“ 402 In diesem Sinne wendet sich Barthes in seinem vielzitierten Text Der Tod des Autors (1967) explizit von Auffassungen ab, die den Sinn eines Textes an der/ dem hinter ihm stehenden AutorIn festmachen wollen, denn seiner Meinung nach schränkt dieser Bezug auf die/ den AutorIn den Lektürehorizont der/ s Leserin/ s ein: Mit anderen Worten: Der Text wird von nun an so gemacht und gelesen, dass der Autor in jeder Hinsicht verschwindet. Zunächst einmal verändert sich die Zeit. Der Autor - wenn man denn an ihn glaubt - wird immer als Vergangenheit seines eigenen Buches verstanden. […] Der Autor ernährt vermeintlich das Buch, das heißt, er existiert vorher, denkt, leidet, lebt für sein Buch. […] 397 Vgl. Bossinade, Poststrukturalistische Literaturtheorie (Anm. 27), S. 28. 398 Vgl. Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Reinbek bei Hamburg 1999 [1982], S. 113. 399 Vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext (Anm. 269), S. 304. 400 Ebenda, S. 304. 401 Roland Barthes: Der Tod des Autors [1967]. In: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart 2000, S. 185-193, hier S. 191. 402 Ebenda, S. 191. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 90 Hingegen wird der moderne Schreiber [scripteur] im selben Moment wie sein Text geboren. Er hat überhaupt keine Existenz, die seinem Schreiben voranginge oder es überstiege; er ist in keiner Hinsicht ein Subjekt, dessen Prädikat sein Buch wäre. Es gibt nur die Zeit der Äußerung, und jeder Text ist immer hier und jetzt geschrieben. Und zwar deshalb, weil (oder: daraus folgt, dass) Schreiben nicht mehr länger eine Tätigkeit des Registrierens, des Konstatierens, des Repräsentierens […] bezeichnen kann, sondern vielmehr das, was die Linguisten […] ein Performativ nennen […]. 403 Mit dieser Hinwendung zur Performativität des Schreibens rückt Barthes die welterzeugende Funktion von Sprache ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 404 Sprache repräsentiert diesen Ansichten gemäß nicht eine ihr vorausliegende Realität (z. B. die/ den AutorIn), sondern setzt diese im Moment der Äußerung. Wie Haverkamp erläutert, referiert auf diese Weise auch das lyrische Ich in Texten nicht auf ein vorgängiges Subjekt, es stellt nicht Ausdruck dieses Subjekts dar, handle es sich dabei um die/ den AutorIn oder ein anderes Subjekt: Der fiktive Charakter des lyrischen Ichs indessen relativiert, was man nun noch Ausdruck nennen kann. […] Was hier Ausdruck heißen kann, repräsentiert nicht etwas diesem Ausdruck Vorgängiges; es trägt nach und produziert im Akte des Nachtragens etwas, dessen Darstellbarkeit sich nicht in Rücksicht auf Vorliegendes erschöpft, im Gegenteil Vorherliegendes allenfalls mit Rücksicht auf Darstellung zu erschließen erlaubt. 405 In der sprachlichen Darstellung lässt sich also erst erschließen, was die Sprache zu repräsentieren vorgibt. Da die Sprache aber aus notwendigerweise iterierbaren Zeichen besteht, trägt das lyrische Ich nach Haverkamp „das Stigma einer bloß ‚fiktiven Einzigartigkeit‘, einer im Akt des Fingierens hergestellten Subjektivität, die über ihre ‚Dezentrierung‘ ebenso notwendig sich hinwegtäuscht, wie sie sie darstellt und in der Darstellung thematisch macht.“ 406 Der Hinweis auf die Dezentrierung des Subjekts zeigt die Nähe des poststrukturalistischen Diskurses zu Theoremen der Psychoanalyse, denen gemäß das Subjekt seinen vormals als gegeben erachteten Status als autonome, selbst/ bewusste Entität verliert. Denn zum einen erweist sich in Anlehnung an Freud und Lacan das Unbewusste als nicht-kontrollierbarer Teil des Subjekts, 403 Ebenda, S. 188f. 404 Vgl. Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität. In: ders. (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 9-60, hier S. 26. 405 Anselm Haverkamp: Kryptische Subjektivität. Archäologie des Lyrisch-Individuellen. In: Manfred Frank und Anselm Haverkamp (Hrsg.): Individualität. München 1988, S. 347-383, hier S. 348. 406 Ebenda, S. 355. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 91 zum anderen kann sich das Ich nur über den Bezug zu einem Anderen als solches setzen. 407 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen Die obigen Ausführungen zeigen, dass das lyrische Ich innerhalb verschiedener Theorietraditionen einen auf sehr unterschiedliche Weise diskutierten Gegenstand der Forschung darstellt. Wie deutlich wird, spielen Populärmusik-Texte dabei keine nennenswerte Rolle, wenn es darum geht, den Status des lyrischen Ich sowie seine (Referenz-)Beziehung zur/ m KünstlerIn zu problematisieren. Die wenigen vorliegenden literaturwissenschaftlichen Analysen zu Populärmusiktexten reflektieren indes die dargestellte Verwirrung bezüglich der Referenzfunktion des lyrischen Ich im Text. So veröffentlicht die österreichische Tageszeitung Der Standard im Sommer 2006 in ihrer Wochenendbeilage Album vier „literaturwissenschaftliche Betrachtung[en]“ 408 von aktuellen ‚Sommerhits‘. Bezeichnenderweise wird von den vier gewählten KünstlerInnen jeweils ein Foto einer Live-Performance gezeigt, um die Analyse ihrer Texte zu illustrieren. Während es Zeyringer 409 und Fliedl 410 in ihren Analysen vermeiden, das Ich im Text zu thematisieren, fällt es Schmidt-Dengler in seiner Interpretation von Christina Stürmers 411 Nie genug nicht schwer, das Ich im Text der Künstlerin zuzuordnen: ‚Ich lebe den Augenblick‘, singt Christina Stürmer und knüpft durch die kühne Konstruktion des inneren Akkusativ an die antikisierende Lyrik der deutschen Vorklassik und Hölderlins an. Sie lebt nicht banal für den Augenblick, sie erlebt ihn auch nicht, sondern sie lebt ihn. […]. In einem Verspaar, das gerade wegen seiner dunklen Glanzstellen zu überzeugen vermag, bekennt sich Christina Stürmer - man denke an den Schluss von Fausts Bekenntnis zur Tat - zum Handeln: ‚Ich denke nicht oft <Vielleicht> / Ich tu es lieber gleich‘. 412 407 Vgl. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: ders.: Schriften 1. Ausgewählt und hrsg. von Norbert Haas. Olten/ Freiburg im Breisgau 1973 [1966], S. 61-70; zu Lacans Theorie des Unbewussten, des Subjekts und des Anderen vgl. Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft. Stuttgart/ Weimar 1995, S. 72ff.; zum unkontrollierbaren Unbewussten vgl. Judith Butler: Giving an Account of Oneself. New York 2005, S. 70ff. 408 O.N.: Dossier Sommerhit. In: Der Standard, Album vom 5.8. 2006, S. A1. 409 Vgl. Klaus Zeyringer: Mensch, Herbert! Grönemeyer tautologelt. In: Der Standard. Album vom 5.8. 2006, S. A2. 410 Vgl. Konstanze Fliedl: Kann denn Liebe Sünde sein? Reime so locker wie die Sitten - „Sin, sin, sin“ von Robbie Williams. In: Der Standard. Album vom 5.8. 2006, S. A3. 411 Christina Stürmer: Nie genug. Auf: Lebe lauter. Polydor (Universal) 2006. 412 Wendelin Schmidt-Dengler: Schalt den Sommer an. In: Der Standard. Album vom 5.8. 2006, S. A1-A2, hier S. A2 (Markierungen von mir, Anm. A. B.). 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 92 Vinken hingegen, welche Gnarls Barkleys 413 Crazy als „Geschichte einer Ich- Spaltung“ 414 liest, kann diesem Vorgehen nichts abgewinnen. Schließlich diagnostiziert sie dem Ich im Text eine pathologische Schizophrenie. Lebt also Stürmer doch nicht den Augenblick oder ist Barkley selbst schizophren? Wer ist das Ich im (Lied-)Text? 5.2.1 Pop- und Rockmusik Ein Blick in die Populärmusikforschung zeigt, dass für eine Bestimmung des Ich im Text in Bezug auf Populärmusik zum Teil ähnliche, zum Teil andere Faktoren eine Rolle spielen, als dies bei Lyrik, die als Text auf Papier Verbreitung findet, der Fall ist. So werden inhaltliche Fragestellungen der Populärmusiktexte ähnlich wie bei Lyrik beurteilt, was die referentielle Funktion des Ich im Text betrifft. Der Umstand, dass Populärmusiktexte in gesungener Form und häufig auf Konzerten ihr Publikum erreichen, führt allerdings zu Komplikationspunkten, was die Beurteilung der Referenzfunktion des Ich betrifft. Denn in diesem Zusammenhang spielt insbesondere die Stimme, mit der der Text vorgetragen wird, eine große Rolle in der Beurteilung der Referenzfunktion des Ich im Text. Die Stimme gilt dank ihrer Wiedererkennbarkeit als Zeichen der Individualität, sie stellt auch die „geschlechtsspezifische […] Spur des Körpers in der Sprache“ 415 dar. Dank der Stimme hält der Körper der/ s Sängerin/ s in die Analyse Einzug, da in Bezug auf die Stimme gilt: „[W]e assign them bodies, we imagine their physical production.“ 416 Barthes spricht in diesem Zusammenhang von einem „‚grain‘ of the voice“ 417 , einer Körnung der Stimme, welche durch den das Lied performenden Körper entsteht. Mittels stimmlicher Qualitäten kann einerseits über die semantische Dimension eines Liedtextes hinausgegangen werden, andererseits kann Inhalt vermittelt werden, ohne auf Worte zurückzugreifen. 418 Stimme erzeugt also einen „Überschuss“ 419 an Information. Frith betont in diesem Zusammenhang: 413 Gnarls Barkley: Crazy. Auf: St. Elsewhere. Wmi (Warner) 2006. 414 Barbara Vinken: Tatsächlicher Wahnsinn. ‚Crazy‘ erzählt die Geschichte einer Ich- Spaltung. In: Der Standard. Album vom 5.8. 2006, S. A3. 415 Sybille Krämer: Sprache - Stimme - Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität. In: Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 323-346, hier S. 340. 416 Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 196. 417 Roland Barthes: The Grain of the Voice. In: ders.: Image Music Text. Essays selected and translated by Stephen Heath. London 1977 [1967], S. 179-189, hier S. 188. 418 Vgl. dazu Doris Kolesch und Sybille Krämer: Stimmen im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band. In: dies. (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 7-15, hier S. 11. Vgl. auch Krämer, Sprache - Stimme - Schrift (Anm. 415), S. 340. 419 Ebenda, S. 340. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 93 In songs, words are the sign of a voice. A song is always a performance and song words are always spoken out, heard in someone’s accent. Songs are more like plays than poems; song words work as speech and speech acts, bearing meaning not just semantically, but also as structures of sound that are direct signs of emotion and marks of character. Singers use non-verbal as well as verbal devices to make their points - emphases, sighs, hesitations, changes of tone; […]. 420 Dieses Zitat von Frith weist darauf hin, dass die Vermittlung von Populärmusiktexten von der Performance geprägt ist, schließlich wird sowohl auf einem Konzert als auch auf einem Tonträger das Musikstück mittels der Stimme performt. Als Heimat des Begriffes der Performance 421 sieht Bal denn auch die Ästhetik, denn „[ü]blicherweise ist eine Performance die Ausführung einer Reihe ‚künstlerischer Vollzüge und Maßnahmen‘ (Alperson 1998, S. 464). Das Wort als solches wird häufig gebraucht.“ 422 Schließlich findet es einerseits für Aufführungen, für die Leistung einer/ s Schauspielerin/ s oder Musikerin/ s, aber andererseits auch für die spezielle Kunstform der Performance-Art, welche von zufälligen, nicht wiederholbaren Ereignissen geprägt ist, Verwendung. 423 Auf diese Weise kommt gerade der Live-Performance eine besondere Bedeutung zu, wenn es darum geht, die Referenzbeziehung zwischen dem Ich im Liedtext und der/ m KünstlerIn zu analysieren, denn die körperliche Präsenz der/ s Künstlerin/ s auf der Bühne scheint Originalität und Einzigartigkeit des Kunstwerkes zu garantieren - und damit seine Aura 424 zu konstituieren, denn „[d]as Hier und Jetzt des Originals macht den Begriff seiner Echtheit aus.“ 425 Dieser Sichtweise gemäß kommt dem Tonträger die Position eines Derivats der Live-Performance zu, wobei Fotos der KünstlerInnen auf dem Cover von Tonträgern oder auch die Veröffentlichung von ‚Live-Alben‘ eine ähnliche Referenzbeziehung zwischen KünstlerIn und Lied herstellen sollen. 426 Auslander argumentiert in diesem Zusammenhang, dass für RockmusikerInnen die Live-Performance der Authentisierung einer Band dient, denn Sinn und Zweck der Performance sei es, das Publikum zu überzeugen, dass 420 Frith, Essays (Anm. 66), S. 120. 421 Braidt weist darauf hin, dass diese Verengung des Begriffs auf einen Kunst-Kontext im englischsprachigen Raum nicht gegeben ist, vgl. Jutta Braidt: Permanente Parekbasen. Zur rhetorischen Verfasstheit der Geschlechter. Diplomarbeit: Wien 1996, S. 62ff. 422 Bal, Kulturanalyse (Anm. 159), S. 265. Es konnte nicht eruiert werden, aus welchem Band von Alperson Bal zitiert. 423 Vgl. ebenda, S. 265f. 424 Zum Begriff der Aura vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 2006 [1936], S. 16f. 425 Ebenda, S. 13. 426 Auslander vertritt die These, dass Tonträger keinesfalls ein Derivat der Live- Performance darstellen, vgl. Philip Auslander: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. London/ New York 1993, S. 84. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 94 die MusikerInnen tatsächlich in der Lage seien, das auf der Platte Gehörte mit eigenen Instrumenten zu spielen: 427 „Seeing is believing.“ 428 Während also im Rock die Stimme und die Performance eine wichtige Rolle dabei spielen, die Referenzfunktion des Ich im Text zu stärken, wird in Bezug auf die Popmusik wiederholt festgehalten, dass die Performance und die Stimme weniger einer Authentisierung der/ s Künstlerin/ s und ihrer/ seiner Fähigkeiten, denn einer Stilisierung oder Inszenierung ihres/ seines Images dienen würden, wie an Phänomenen wie Madonna oder David Bowie 429 exemplifiziert wurde. Von der Forschung wird nun in Zusammenhang mit Popmusik die Performance als Rollen-Spiel verstanden, wie Frith im obigen Zitat nahegelegt hat, in dem er von Songs als ‚plays‘ gesprochen hat. Im folgenden Zitat geht Frith in Bezug auf die/ den KünstlerIn sogar von einem „double enactment“ 430 aus: [T]hey [Popstars, Anm. A. B.] enact both a star personality (their image) and a song personality, the role that each lyric requires, and the pop star’s art is to keep both acts in play at once. 431 Der Popstar spielt also nach Frith sowohl seine Rolle als Star, als auch eine für jeden Song verschiedene Rolle. Die Stimme verleiht nun der jeweils unterschiedlichen Rolle Ausdruck. Diese Ausführungen zeigen, dass in Bezug auf Populärmusik je nach Genre eine unterschiedliche Antwort gegeben wird auf die Frage nach dem Verhältnis von KünstlerIn, Kunstwerk und Ich im Text. Dies betrifft aber nicht nur Stimme und Performance, sondern damit in Zusammenhang stehend auch inhaltliche Faktoren der Texte. Frith und McRobbie verweisen in diesem Zusammenhang auf eine oftmals vorgenommene Unterscheidung zwischen Popmusik und Folk, der gemäß Poptexte als Realitätsverzerrung (z. B. in Form einer Idealisierung der ‚Realität‘) und Folktexte als „deal[ing] with ‚the facts of life‘“ 432 eingeschätzt werden. Rockmusik wird auf ähnliche Weise von Popmusik abgegrenzt, so betont Auslander: The ideological distinction between rock and pop is precisely the distinction between the authentic and the inauthentic, the sincere and the cynical, the 427 Vgl. ebenda, S. 76ff. 428 Ebenda, S. 73. 429 Vgl. Simon Frith, Zur Ästhetik der populären Musik. In: PopScriptum 1/ 1992, S. 68-88, URL: http: / / www2.hu-berlin.de/ fpm/ frith.htm (Stand: 31.12. 2011). Zum Phänomen ‚Madonna‘ und einer Beurteilung siehe Longhurst, Popular Music (Anm. 232), S. 123ff. oder Sheila Whiteley: Women and Popular Music. Sexuality, Identity and Subjectivity. London/ New York 2000, S. 136ff. 430 Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 212 (Markierung dem Original entnommen). 431 Ebenda, S. 212. 432 Simon Frith und Angela McRobbie: Music and Sexuality [1978]. In: Simon Frith und Andrew Goodwin (Hrsg.): On Record. Rock, Pop and the Written Word. New York 1990, S. 371-389, hier S. 385. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 95 genuinely popular and the slickly commercial, the potentially resistant and the necessarily co-opted, art and entertainment. 433 Wie aus dem Zitat hervorgeht, wird hier das Authentische als ideologische Abgrenzung verstanden, als (u. a. inhaltliche) Ehrlichkeit und Widerständigkeit seitens der KünstlerInnen im Gegensatz zur reinen Unterhaltungsfunktion und Kommerzialität des Pop. Wiederholt wird auch in der Forschung darauf hingewiesen, dass es PopmusikerInnen lediglich darum gehe, sich als bewusst kalkuliertes Kunstbild zu inszenieren. 434 Festgemacht werden die Unterschiede zwischen den Genres, wie in diesem Kapitel ausgeführt, an inhaltlichen Faktoren der Texte, an der Rolle der Performance und der (fehlenden) Übernahme eines Rollen-Ich. Im Folgenden soll nun darauf eingegangen werden, wie Rap in Bezug auf diese Faktoren eingeordnet werden kann. 5.2.2 Rap Eine ähnliche Dichotomisierung wie bei Folk und Rock vs. Pop lässt sich auf die Einschätzungen in Bezug auf das Verhältnis von Pop und Rap 435 übertragen: Wie insbesondere in Kap. 3 deutlich geworden ist, wird Rap, angefangen von den Vorstellungen Rap sei authentischer Ausdruck der Erfahrungen von ‚Schwarzen‘ im Ghetto oder anderer Marginalisierter im globalen Kontext, sowohl von Seiten der Wissenschaft wie auch von Seiten der KünstlerInnen immer wieder als ‚authentische Kunst‘ gefeiert. 436 In diesem Argumentations- 433 Auslander, Liveness (Anm. 426), S. 69; für weitergehende Informationen bezüglich Rock und Authentizität siehe ebenda, S. 62-73. 434 Frith spricht in diesem Zusammenhang von David Bowie oder Madonna, vgl. Frith, Zur Ästhetik der populären Musik (Anm. 429), Quelle: Internet. Zum Phänomen ‚Madonna‘ und einer Beurteilung, siehe Longhurst, Popular Music (Anm. 232), S. 123ff. oder Whiteley, Women and Popular Music (Anm. 429), S. 136-151. 435 Die Diskussionen darüber, wie Popmusik zu definieren ist, sind lang und kontrovers, vgl. Wicke, ‚Populäre Musik‘ als theoretisches Konzept (Anm. 143), Quelle: Internet. Es gilt, eine äußerst unscharfe Begriffsverwendung zu konstatieren. In vielen Einschätzungen zum Verhältnis von Rap und Popmusik wird Rap nicht zu Pop gezählt. So stellt Weinzierl fest: „Gewalt bedeutet im HipHop-Kontext keine Fiktion wie im weißen Pop-Underground, sondern oft soziale Realität“ (in: Weinzierl, Fight the power, Anm. 108, S. 202). Jurasek hingegen trennt innerhalb des HipHops/ Raps zwischen Pop und Rap: „Pop dann, wenn Rap kommerziell erfolgreich ist und nur noch Unterhaltungsmusik ist. HipHop, wenn die Musik einem Lebensgefühl entspringt, das sich in ablehnender Haltung zur vorherrschenden Kultur sieht“ (in: Petra Jurasek: If you are dissing the sisters - you are not fighting the power. Ein Versuch einer feministischen Betrachtung von HipHop. Diplomarbeit: Wien 2003, S. 67). Man sieht, dass Pop eher mit Kommerz und Unterhaltung, Rap, Rock oder Folk mit ‚Realität‘ und Kritik/ Widerstand in Verbindung gebracht werden, wobei sich diese Unterteilung niemals als „clear-cut“ (in: Auslander, Liveness, Anm. 426, S. 69) erweist. 436 Wie aus diesen Worten deutlich wird, dient die dem Rap unterstellte Authentizität als Gütekriterium in der Bemessung der Qualität eines Raps: Während der als ‚realistisch‘ erachtete Rap als ‚richtig‘ und ‚gut‘ bewertet wird, gilt Imitation - von RapperInnen, 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 96 zusammenhang wird, ähnlich wie Folk oder Rock, eine enge Verbindung zwischen dem Ich in den Texten und der/ m MusikerIn gesetzt. Unter RapperInnen wird dementsprechend vielfach davon ausgegangen, dass im Lied die/ der SängerIn selbst spricht und ihre/ seine persönlich erlebten Widerfahrnisse und Meinungen kundtut. Menrath zitiert den HipHop- Veranstalter Serdar: Das waren keine Reime über irgendwas, was man erfunden hat, sondern es wurden einfach nur Tatsachen wiedergegeben. Der Mensch hat von sich erzählt, von seinen Problemen, von dem, was er scheiße findet, von dem, was er haben will, von dem, was er träumt. Und er hat’s offen rausgesagt, ganz offen. 437 Auch die Rapperin Cora E. gibt über ihr Lied Schlüsselkind an: „Dieses Lied ist mein Tagebuch! “ 438 Der Literaturwissenschaftler Verlan bestätigt diese Ansicht, indem er in seiner Textsammlung Rap-Texte in Zusammenhang mit eben diesem Lied von einem „schonungslos biographische[n] Text“ 439 spricht. Es zeigt sich also, dass es auch unter WissenschaftlerInnen nicht unüblich ist, von einer direkten Referenzbeziehung zwischen Ich im Rap-Text und KünstlerIn auszugehen. In vielen wissenschaftlichen Analysen von Rap ist der Usus bemerkbar, Rap-Texte als ungebrochene Statements der RapperInnen über ihre Erlebnisse und Meinungen anzuführen. So hatten, wie oben erwähnt, Androutsopoulos und Scholz (2002) 440 in ihrer Studie über Rap-Texte ‚Selbstdarstellung‘ ganz selbstverständlich als eines der wichtigsten Themata im Rap ausgewiesen. Auch Dorsey meint: „[R]ap die andere auf textueller und/ oder formaler Ebene imitieren, aber nicht auf einen eigenen Stil und das eigen Erlebte rückgreifen - als ‚Kardinalssünde‘ im HipHop, was sowohl für die RapperInnen als auch die WissenschafterInnen und Medien gültig ist. Die Möglichkeit einer Imitation beinhaltet dabei die Vorstellung eines Originals, das als ‚echt‘ und ‚real‘ gilt. Im Rahmen dieser Untersuchung wird allerdings nur ein Teilaspekt dessen behandelt, was im HipHop unter Authentizität verstanden wird. So geht es nicht nur darum, seine eigene Lebensgeschichte möglichst real und dem eigenen Stil gemäß darzustellen, sondern es gilt auch, szenespezifisches Wissen einzuarbeiten oder auf bereits vorhandene KünstlerInnen und deren Werke und Stile zu rekurrieren. Im HipHop hat sich ein so genannter Werke- und Wertekanon herausgebildet, auf den es Bezug zu nehmen gilt. Die eigene künstlerische Produktion solle dabei immer eine „repetition with a difference“ (in: Potter, Spectacular Vernaculars, Anm. 294, S. 74), also eine „Re-Kreation“ (in: Menrath, Represent What, Anm. 8, S. 74, Markierung im Original enthalten), sein. 437 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 98 (Markierungen im Original enthalten). 438 Cora E. in: Ralf Schweikart (Hrsg.): Explicit Lyrics. Songtexte und Gedichte. Ausgewählt von Cappuccino, Cora E., Moses Pelham, Schiffmeister und Smudo. Reinbek bei Hamburg 2 2000a, S. 208. 439 Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 103. 440 Vgl. Androutsopoulos/ Scholz, On the recontextualization of hip-hop in European speech communities (Anm. 297), Quelle: Internet. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 97 lyrics are closely linked to the author and are usually the voice of the composer/ performer.“ 441 Menrath bestätigt diese Position, schließlich ist [d]er Anspruch, das Leben möglichst ‚realistisch‘ darzustellen, […] eine [sic! ] wichtiges Moment in der Rapmusik. Es ist in so gegensätzlichen Genres wie dem politischen Rap und Gangsta-Rap zu finden. Die analysierenden Polit- Rapper sehen HipHop in einer positiven Weise als Informations- und Aufklärungsinstrument, während die Gangsta-Rapper sich eher als (klagende) Geschichtenerzähler betrachten, die die (schlimme) Realität möglichst wahrheitsgetreu abzubilden versuchen. 442 Auch Jurasek schließt von einer Aussage in einem Rap-Text direkt auf die Meinung des Künstlers: Ein Text-Beispiel von Snoop Doggy Dogg macht deutlich, wie er Frauen sieht: I have never met a girl that I loved in the whole wide world. Well if (I) gave a fuck about bitch I’d always be broke, […]. 443 Da Rap vielfach - wie ebenfalls bereits ausgeführt - als sozialkritische Kunst gehandelt wird, zeigt es sich, dass es sich im Falle politischer/ sozialkritischer Texte im Allgemeinen als schwieriger darstellt, zwischen KünstlerIn und Ich des Textes zu trennen. Jacob führt aus: Rap bedeutet zudem Lust an Kommunikation, endloses Reden und Argumentieren. […]. Eine derartige Worteflut hat nur einen Sinn, wo es ein gesellschaftliches Müssen, ein Bedürfnis nach Selbstaufklärung gibt. Und die Überzeugung, dass Diskurse dabei helfen können. Damit verstieß Rap gegen etliche Grundregeln der jüngeren Pop-Musik, insbesondere gegen den postmodernen Zwang zur Unverbindlichkeit. 444 Verlan nennt als paradigmatischen Text für politischen Rap Fremd im eigenen Land der Gruppe Advanced Chemistry, das in den Nächten der rechtsradikalen Krawalle von Rostock produziert [wurde]. Daran erinnern die Nachrichteneinspielungen am Anfang und am Ende des Songs, die dem Stück eine neue Dimension geben. Davor war es nur ein Text gegen Ausländerfeindlichkeit gewesen, formuliert von Betroffenen. Rostock machte deutlich wie wichtig und notwendig es war, mit einem solchen Text an die Öffentlichkeit zu gehen, […] es war das erste Mal, dass Jugendliche fremd- 441 Dorsey, Spirituality (Anm. 14), S. 339. 442 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 93f. 443 Jurasek, If you are dissing the sisters (Anm. 435), S. 86. 444 Jacob, Agit-Pop (Anm. 180), S. 183 (Markierung von mir, Anm. A. B.). 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 98 ländischer Herkunft auf ihre Situation und Verletzungen in Deutschland aufmerksam machten. 445 Dank der emphatischen Hinweise auf Augenzeugenschaft oder Involviertheit seitens der KünstlerInnen wie InterpretatorInnen in der Analyse ist ein Rückgriff auf traditionelle Subjektbegriffe im Umgang mit politischen Texten zu vermerken. Es gibt diesem Ansatz gemäß ein Subjekt, das eine außersprachliche Wirklichkeit wahrnimmt und mittels der Sprache einen unmittelbaren Zugang zu dieser Realität hat: Wirklichkeit ist sprachlich abbildbar. Authentizität wird dieser Interpretation gemäß maßgeblich als (auto-)biographische Authentizität gesehen, was die Beurteilung eines Raps der in Osnabrück tätigen Gruppe Midnite Sonz von Berns und Schlobinski bestätigt. Denn Berns und Schlobinski bezeichnen den Rap in ihrer Analyse als „mere copy“ des USamerikanischen Vorbilds, da es in Osnabrück ihrer Meinung nach keine Drive-by-shootings gebe, während sie US-Gangsta-Rap „as an authentic report of the situation“ 446 betrachten: Wird die Realität also falsch abgebildet, ist ein Text nicht authentisch. Insgesamt zeigt sich, dass es innerhalb der Einschätzungen davon, was Authentizität im Rap bedeutet, im Laufe der Jahrzehnte zu Verschiebungen gekommen ist. Während es zu Beginn vor allem ethnische Faktoren waren, welche die Authentizität des Raps und seiner Inhalte begründeten, so erfährt das Konzept der Authentizität im globalen, von KünstlerInnen verschiedenster ethnischer Abstammung aufgegriffenen Rap eine Erweiterung wie auch eine Verengung: Eine Erweiterung dahingehend, als Rap authentischer Ausdruck aller Menschen sein kann. Eine Verengung des Konzeptes ist durch eine zunehmende Referenz auf die biographisch-historische Situation der/ s Künstlerin/ s zu konstatieren. Probleme in der Beurteilung der vermeintlichen Authentizität eines Textes ergeben sich nun naturgemäß dann, wenn sich nicht beurteilen lässt, ob in den Texten tatsächlich die ‚Wahrheit‘ erzählt wird. Auch soll es vorkommen, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Auffassungen davon haben, was ‚wahr‘ und ‚real‘ ist. In größerem Ausmaß als eine ausschließlich autobiographische Interpretation der Texte, findet sich unter RapperInnen und auch unter WissenschaftlerInnen die Vorstellung, die RapperInnen sprächen in den Texten zwar über sich selbst, aber in künstlerisch-gebrochener Form. Authentisch sei nunmehr, was seitens der RapperInnen dem eigenen Leben und den eigenen Gefühlen entspricht, was aber nicht unbedingt in der ‚Realität‘ als Ereignis stattgefunden haben muss. Authentizität wird zu Aufrichtigkeit. 447 Verlan und Loh zitieren den Rapper Toni L: 445 Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 70 (Markierung von mir, Anm. A. B.). 446 Beide Zitate: Berns/ Schlobinski, Constructions of Identity (Anm. 226), S. 199. 447 Vgl. Barrio, Underground-Rap (Anm. 337), S. 107f. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 99 Wenn du deine Realität umsetzt, dann bist du real. Wenn du zum Beispiel ein romantischer Typ bist, der ständig Texte über Liebe oder so schreibt, dann bist du für mich genau so real wie einer, der eher flippig drauf ist und nur so Partykram bringt. Wenn du dich aber von dem entfernst, was du wirklich bist, wenn du zum Beispiel auf böse und Hardcore-Rapper machst, aber jede Woche dein Zimmer aufräumen musst und nachmittags zum Kaffee zu deiner Oma gehst, dann ist das nicht real, sondern ein Witz. Wenn du deine echten inneren Werte ausdrückst, dann bist du real. 448 Barrio hingegen zitiert den Rapper D’, welcher angibt: „Die Situation, die ich entwerfe, hätte real sein können […].“ 449 Dementsprechend geht Mikos davon aus, dass „authentisch nicht mehr das [ist], was sich authentisch gibt, sondern das, was für das eigene Lebensgefühl […] als authentisch erachtet wird.“ 450 Ob die ‚Wahrheit‘ erzählt wird, hängt also nicht davon ab, ob in den Texten auf tatsächlich Vorgefallenes rekurriert wird. 451 Die Anerkennung der ‚Fiktion des Faktischen‘ macht eine Beurteilung dessen, was ‚authentisch‘ ist, und woran genau die mutmaßliche Authentizität eines Textes festzumachen ist, allerdings nicht einfacher. Denn niemand außer der/ m RapperIn selbst kann abwägen, was den eigenen inneren Werten oder dem eigenen Leben entspricht. 452 Zudem wird auch dieser Sichtweise gemäß der Glauben an eine prinzipielle Abbildbarkeit von Realität nicht aufgegeben. Schließlich verfügt die/ der RapperIn über ihre/ seine Wahrheit und bleibt authentisch, solange diese aufrichtig (von Seiten der KünstlerInnen) und glaubwürdig (für die RezipientInnen) verfremdet wurde. Der Unterschied zur ungebrochen autobiographischen Lesart besteht also lediglich darin, dass eine verfremdende, künstlerische Ebene zwischen KünstlerIn und Text eingefügt wurde. Bezeichnenderweise gibt es kaum Einschätzungen zu Rap, die die Erzählinstanzen in Rap-Texten als genuin fiktiv interpretieren, gleichgültig, ob das Thema, über das gerappt wird, als fiktional eingeschätzt wird oder nicht. Lediglich Toop führt an, dass „Raps Fiktionen [sind].“ 453 Dementsprechend finden sich in Toops Rap-Geschichte Hinweise, die/ den RapperIn von einer dahinterstehenden Privatperson, d. h. aber auch die Sprechinstanz im Text, von der Person der/ s Künstlerin/ s zu trennen, wobei er auch im folgenden 448 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 321f. 449 Barrio, Underground-Rap (Anm. 337), S. 108. 450 Mikos, Vergnügen und Widerstand (Anm. 181), S. 118. 451 Schon Aristoteles hatte in Bezug auf sein Dichter-Verständnis eine ähnliche Position formuliert: „Aus dem Gesagten ergibt sich auch, dass es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwenigkeit Mögliche“ (in: Aristoteles: Poetik, 1451a-1451b, in: ebenda, Anm. 172, S. 29). 452 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 322. 453 Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 196. 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 100 Zitat die zunächst gezogene scharfe Trennung zwischen Realität und Text zunehmend verschwimmen lässt: Sicher, die Klischees bleiben erhalten, aber man sollte Ice-Ts Raps über Gangster, Zuhälter und Drogen nicht mit Ice-T dem Menschen verwechseln: ein artikulierter, geistreicher und ehrgeiziger Geschäftsmann. Einem Rap- Video-Magazin erzählte er: ‚Ich habe ein Telefon, einen Anrufbeantworter, Fernseher, Computer, Handgranaten - alles, was man zum Leben in Los Angeles braucht.‘ Viele Hollywood-Geschäftsleute würden möglicherweise die Unverzichtbarkeit von Handgranaten leugnen, […]. 454 Auch der Schweizer Rapper und Lyriker Raphael Urweider vollzieht nur auf den ersten Blick eine Trennung zwischen den Instanzen des Text-Ich und der/ s Autorin/ s: Während die Lyriktheorie und -analyse schon lange mit einem ‚lyrischen Ich‘ operiert (ja gar behauptet wird, es sei ein konstituierendes Merkmal für Gedichte insgesamt), wird der Rappende durch Authentizitäts-Ansprüche und Realness-Attitüden oft als deckungsgleich mit dem ‚Ich‘ seiner Texte wahrgenommen. Und dies nicht nur durch den Rezipienten, sondern auch von sich selbst. Wenn ich Gedichte schreibe, versuche ich meist, das Wort ‚Ich‘ zu umgehen, da ich der Ansicht bin, dass persönliches Sprechen und Persönlichkeit in Gedichten nicht durch syntaktische Form unterstrichen werden muss. Wenn ich nur von ‚Ich‘ spreche, besteht die Gefahr der Redundanz. Rap hingegen ist für mich […] eine dialektale, gesprochene Sprachkunst, in der das Ich als Sprecherrolle unabdingbar ist. Doch dass es eine Rolle ist, künstlich als Auftritt und im guten Sinne manieristisch in der Form, wird nur zu gern von Performenden und Zuhörern vergessen. 455 Obwohl Urweider in diesem Zitat zunächst eindeutig das Rollen-Ich von der/ vom KünstlerIn distanziert, rekurriert auch er an späterer Stelle auf den Begriff der Authentizität im Rap. Er gibt an, Authentizität folge seiner Ansicht nach „aus der Musikalität und der Artistik und nicht nur aus inhaltlicher Realness.“ 456 Ein ‚nicht nur‘ heißt naturgemäß, Authentizität ergebe sich auch durch die Inhalte (was wiederum auf ein Konzept der Authentizität als persönlicher Aufrichtigkeit schließen lässt). Urweider nähert seine Konzeption von Authentizität allerdings zudem dem oben angesprochenen, in Populärmusikkreisen häufig anzutreffenden Verständnis an, das Authentizität in besonderem Ausmaß von den künstlerischen und musikalischen Fähigkeiten der/ s Künstlerin/ s abhängig macht. Es kommt also zu einer verstärkten Rückführung der Authentizität auf die/ den KünstlerIn als PerformerIn. 454 Ebenda, S. 212. 455 Raphael Urweider: Richtig Blöd - oder das unlyrische Ich. In: Jannis Androutsopoulos (Hrsg.): HipHop. Globale Kultur - lokale Praktiken. Bielefeld 2003, S. 322-325, hier S. 322 (Markierung dem Original entnommen). 456 Ebenda, S. 323 (Markierung dem Original entnommen). 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 101 Da Urweider einerseits die Wichtigkeit der Performance und des ‚Rollen- Ich‘ hervorstreicht, aber andererseits von ‚persönlichem Sprechen‘ und ‚inhaltlicher Realness‘ ausgeht, ziehen seine Ausführungen eine Reihe von Fragen nach sich: Können RapperInnen als SchauspielerInnen gefasst werden, die mittels eines ‚Rollen-Ich‘ ‚persönlich‘ sprechen? Welche Beziehung gibt es dann aber zwischen KünstlerIn, Rollen-Ich und Text? Wie können RapperInnen eingeordnet werden, die ihre Texte nicht selbst geschrieben haben? Was, so Verlan und Loh, wenn sich RapperInnen wie „Tic Tac Toe als Schauspieler [verstehen], die es als eine Herausforderung betrachten, einen Text zu rappen, der von einer anderen Person verfasst wurde“ 457 ? Kann also von ‚Authentizität‘ gesprochen werden, wenn diese Künstlerinnen als Rollen-Ich mit guter Performance und stimmlicher Leistung auftreten? Oder fehlt doch das Persönliche im Text? Was aber ist das Persönliche im Text und wie wird es hergestellt? Schließlich führt gerade die Frage nach der AutorInnenschaft im Rap zu einem weiteren Aspekt des Authentizitätskonzepts, der innerhalb verschiedener Populärmusikkulturen, so auch des Raps, von Bedeutung ist: Wie Verlan und Loh im Zitat oben nahe legen, rappen RapperInnen Texte, die von anderen geschrieben wurden, vermeintlich deshalb, um auf dem Markt erfolgreich zu sein. Authentizität wird in diesem Zusammenhang verstanden als die im Kunstprodukt ausgedrückte Individualität der/ s Künstlerin/ s, welche einer Logik des Marktes widersteht, sich vielmehr gegen diesen durchzusetzen vermag. 458 Sie steht dem sogenannten Sell-Out entgegen, der bedeutet, sich als KünstlerIn dem Markt anzupassen und nur mehr in Hinblick auf den Verkauf zu produzieren, wobei Menrath konstatiert, dass in Bezug auf die kulturellen Produkte „beim Prozess der Kommerzialisierung ihre ‚Unmittelbarkeit‘ und damit ihre Authentizität verloren“ 459 gehe. Da es aber weder stets vorhersehbar ist, welchen kommerziellen Erfolg ein Rap haben wird, noch mit Blick auf das Kunstprodukt Einblick in die (vermeintlich ehrenhaften, nicht Markt orientierten) Intentionen der KünstlerInnen gewonnen werden kann, stellen sich auch hier bedeutende Hindernisse in den Weg, wenn es gilt, die ‚Authentizität‘ eines Textes zu beurteilen. Die Ausführungen zum Ich in Rap-Texten belegen, dass die Referenzbeziehung zwischen der Textwelt und der/ dem (schreibenden, performenden) KünstlerIn immer wieder Gegenstand von Diskussionen darstellt und dargestellt hat. Im Gegensatz zur Debatte um das lyrische Ich in klassisch literarischen Gedichten wird in Bezug auf Rap immer wieder eine direkte Referenzbeziehung angenommen. 460 Dieses Vorgehen erinnert an ein anderes 457 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 322. 458 Vgl. Frith, Zur Ästhetik der populären Musik (Anm. 429), Quelle: Internet. 459 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 105. 460 Dieser Umstand verdeutlicht, dass auch jene Positionen der Lyriktheorie, welche von einer strikten Trennung von AutorInnen-Ich und lyrischem Ich ausgehen, in unserer 5. Das lyrische Ich in der Lyrik und in Rap-Texten 102 traditionelles ‚Genre‘ der Literatur: die Autobiographie. 461 Volkening stellt in Bezug auf die Autobiographie fest, dass in der Beschäftigung mit derselben als ‚Gattung‘ in den letzten Jahrzehnten die/ der AutorIn den zentralen Parameter der Analyse dargestellt habe. 462 Auf ähnliche Weise trifft dies auf Rap-Texte und die damit verbundenen KünstlerInnen zu. Im Gegensatz zu Popmusik im Allgemeinen galt und gilt es immer wieder in den Medien, den theoretischen Analysen oder auch im alltäglichen Gespräch über Rap zu hinterfragen, welches Verhältnis zwischen dem Leben der KünstlerInnen und deren Texten besteht: Führt die/ der KünstlerIn tatsächlich das (oder ein ähnliches) Leben, über das sie/ er spricht? Allen Ansätzen (wie auch den frühen Ansätzen der Lyriktheorie in Bezug auf das ‚lyrische Ich‘ und der Autobiographie-Theorie) ist gemeinsam, dass Personen über ‚ihre‘ Wirklichkeit verfügen können und diese im Text offen, leicht verfremdet oder über ein (persönlich sprechendes) Rollen-Ich zum Ausdruck zu bringen in der Lage sind. Die ‚Wirklichkeit‘ existiert dabei als ontologische Entität, die mittels der Sprache abgebildet werden kann. Wenn aber - ähnlich wie in der Autobiographie - in Rap-Texten das Verhältnis KünstlerIn-Realität-Text so wichtig erscheint, so stellt sich die Frage, auf welche Weise die Texte selbst mittels ihrer Strukturen dieses Verhältnis herstellen. Wenn wir die Ergebnisse der rezenten Theoriediskussionen zu Autobiographie und lyrischem Ich und jene Debatten im Rap/ HipHop ernstnehmen, welche von der performativen Dimension der Kulturpraxis sprechen, so gilt es, das Verhältnis der/ s Künstlerin/ s zum Text auf neue Weise zu hinterfragen. Klein und Friedrich weisen in diesem Zusammenhang auf die „wirklichkeitsschaffende Bedeutungsproduktion im Rap“ hin, denn „Rapper erzählen in ihren Texten oft über ihr Leben, ihre Gefühle und Eindrücke. Der Text repräsentiert hier aber nicht unbedingt die Lebenswirklichkeit des Rappers, er stellt diese als Bild erst her - und mit diesem den Rapper als zentrale Figur.“ 463 Diese Ausführungen brechen mit dem Bild einer im Rap abbildbaren Wirklichkeit und weisen auf die Wichtigkeit sprachlicher Performanz hin. Klein und Friedrich gehen allerdings in ihrer soziologischen Analyse, welche die TeilnehmerInnen und die performative Dimension der ganzen Kulturpraxis des HipHops in den Vordergrund stellt, nicht näher auf die Arbeits- und Funktionsweise der Texte ein. Genau dies soll in den folgenden Kapiteln geschehen. Im Gegensatz zu den bisherigen Arbeiten zu Rap-Texten gilt es nicht, von der/ vom KünstlerIn und ihrer/ seiner Biographie auszugehen, um die Verbindung zwischen Text Debatte nicht weiterhelfen, da offensichtlich eine solche Referenzbeziehung immer wieder mittels der Rap-Texte hergestellt wird. 461 Ob es sich bei der Autobiographie tatsächlich um ein ‚Genre‘ handelt, wurde wiederholt problematisiert, vgl. de Man, Maskenspiel (Anm. 28). 462 Vgl. Heike Volkening: Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting - Signatur - Geschlecht. Bielefeld 2006, S. 53. 463 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 152. 5.2 Das (lyrische) Ich in Populärmusik-Diskursen 103 und der/ m KünstlerIn vor dem Text zu analysieren. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen die performativen Dimensionen der Texte selbst, es gilt „den Text selbst als Bühne sprachlicher Performanz zu begreifen, und den inszenatorischen Akt nicht nur an den Akteur, sondern auch an die Schrift zu binden.“ 464 Obwohl also jene Positionen im Folgenden abgelehnt werden sollen, welche das Ich im Text als Repräsentantin/ en eines dem Text vorgängigen Ich sehen, so wird sich auch zeigen, dass jene Theorien der klassischen Lyrik-Analyse, welche einfach strikt zwischen AutorInnen-Ich und lyrischem Ich trennen, nicht hinreichen, um die Funktionsweise von Rap- Texten zu erklären. Da Rap-Texte, wie erwähnt, auf exzessive Weise das Ich und seine Geschichte in den Vordergrund stellen, gilt es im Folgenden, linguistische und poststrukturalistische Ansätze fruchtbar zu machen, um die besonderen Mechanismen der Konstruktion dieser Referenzbeziehung zwischen dem Ich im Text und dem vermeintlichen Ich vor dem Text nachvollziehen zu können. 464 Ebenda, S. 158. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text Nach den Ausführungen zu bisher diskutierten Konzeptionen des lyrischen Ich in Rap-Texten stellt sich für das folgende Kapitel die Frage, auf welche Weise die Referenzbeziehung zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text (den vermeintlichen KünstlerInnen) gefasst werden kann, ohne die Texte einerseits als direkte Aussagen der KünstlerInnen zu begreifen oder diese andererseits als von diesen vollständig losgelöste Entitäten zu betrachten. Um der Frage nach dieser besonderen Referenzbeziehung nachzugehen, sollen im Folgenden Text-Theorien herangezogen werden, die nicht genuin für Rap oder Musik im Allgemeinen, sondern für gedruckte und in Buchform publizierte Texte ausgearbeitet wurden. Denn auf ähnliche Weise wie bei Rap steht bei einem ‚Genre‘ der Literatur, der Autobiographie, die Beziehung zwischen Textstimme und der Person der/ s Autorin/ s immer wieder im Mittelpunkt von Diskussionen. Auch im Falle des Genres der Autobiographie wird traditionell von einer „Identität von Autor, Erzähler und Protagonist“ 465 ausgegangen. Neuere Theorien zur Autobiographie (de Man 1993b, Babka 2002) brechen allerdings mit Vorstellungen einer direkten Referenzbeziehung zwischen Text(-stimme) und AutorIn und fokussieren im Gegenzug jene rhetorischen Strategien, die den Eindruck einer direkten Referenzbeziehung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text konstituieren. Wie die Ausführungen in den letzten Kapiteln verdeutlichen, liegt es im Zusammenhang dieses Bandes nahe, diese Theoriemodelle für ein Verständnis der Funktionsweise von Rap-Texten fruchtbar zu machen. Im Folgenden sollen also Rap-Texte und Autobiographien zusammengedacht werden, um herauszuarbeiten, auf welche Weise Text(-stimme) im Rap Referenz erzeugt. Dabei sollte allerdings bedacht werden, dass Theorien zur Autobiographie im Normalfall lediglich von Textstimmen im metaphorischen Sinne 466 sprechen, während Rap-Texte ihr Publikum nicht nur mittels einer (im Booklet oder auf Internetplattformen manifesten) Textstimme erreichen, sondern auch mittels ‚tatsächlicher‘ Stimmen, die den Text in der Live-Performance oder auf dem Tonträger transportieren. Aus diesem Grund soll im Folgenden zunächst auf Unterschiede resp. Ähnlichkeiten zwischen diesen ‚Stimmen‘ 465 Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart/ Weimar 22005, S. 10. 466 Zum metaphorischen Status des Begriffes der Erzählstimme vgl. Birgit Wagner: Erzählstimmen und mediale Stimmen. Mit einer Analyse von Assia Djebars Erzählung ‚Die Frauen von Algier‘. In: Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick (Hrsg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme. Köln/ Weimar/ Wien 2006, S. 141-158, hier S. 147f. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 106 eingegangen werden, bevor der Frage nachzugehen ist, auf welche Weise mittels der (Text-)Stimmen eine referentielle Verbindung zur/ m KünstlerIn hergestellt wird. Nach einigen theoretischen Ausführungen soll im weiteren Verlauf des nun folgenden Kapitels auf jene vier KünstlerInnen (Fiva, Pyranja, Manges, Sido) Bezug genommen werden, anhand deren musikalischen Veröffentlichungen es gilt, die hier postulierten Thesen zu veranschaulichen. Wie in der Einleitung dargelegt, werden jeweils zwei Veröffentlichungen (Publikationszeitraum: 2003-2006) der vier gewählten KünstlerInnen als Primärtext- Korpus für die nun folgenden Analysen herangezogen. 6.1 (Text-)Stimmen Generell gilt, dass Rap-Texte auf verschiedene Weise ihre RezipientInnen erreichen. So treten RapperInnen einerseits bei Live-Konzerten auf. Sie sind körperlich anwesend, und ihre Stimmen werden als von diesen Körpern hervorgebrachte wahrgenommen. Andererseits werden Raps über Tonträger disseminiert, was bedeutet, dass die Stimmen der KünstlerInnen auch ohne anwesenden Körper - als so genannte disembodied voices - rezipiert werden. Werden nun die Texte in Booklets abgedruckt oder auf Internetplattformen präsentiert, so wird die körperliche Stimme zur (Text-)Stimme im metaphorischen Sinne. Im Folgenden sollen nun auf Ähnlichkeiten resp. Unterschiede zwischen Text(-stimme) und (Text-)Stimme herausgearbeitet werden. Wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, gilt die körperliche Stimme im traditionellen Sinne als eines der individuellsten Attribute des Menschen. „[W]e assign them bodies“ 467 , betont Frith, und auf diese Weise wird der Stimme „ein eigener, unverwechselbarer Körper verliehen, der mit dem Körper des Sprechenden assoziiert werden kann. Volumen, Dynamik, Rhythmus und Klangfarbe zeichnen die individualisierte Stimme aus […]“ 468 , hebt Macho hervor. Die Stimme gilt in diesem Zusammenhang auch als die „geschlechtsspezifische […] Spur des Körpers in der Sprache“ 469 . Wie u. a. Derrida (1983, 2003) vielfach hervorgehoben hat, wird die Körper-Stimme traditionellerweise mit Präsenz assoziiert. Ihr wird eine große Nähe zum sprechenden Subjekt attestiert, denn „[d]as gesprochene Wort scheint in seiner Fluidität noch ein Attribut des Sprechers zu sein, ganz und gar verwoben mit ihm als Person.“ 470 Kolesch und Krämer (2006) betonen allerdings, dass sich über die Stimme das gesprochene Wort auch von der/ vom Produzentin/ en 467 Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 196. 468 Thomas Macho: Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme. In: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 130-146, hier S. 132. 469 Krämer, Sprache - Stimme - Schrift (Anm. 415), S. 340. 470 Ebenda, S. 340. 6.1 (Text-)Stimmen 107 ablöst. Ihrer Meinung nach ist die Stimme als „Schwellenphänomen“ zu begreifen, sie ist „physisch und psychisch; Körper und Seele, Materie und Geist bringen beide in ihr sich zur Geltung und prägen ihre phänomenalen Eigenschaften. […]. Die Stimme ist also nicht einfach Körper oder Geist […], sie verkörpert stets beides“ 471 , ohne beides wirklich ob ihrer nur flüchtig herstellbaren Präsenz zu sein, was nach Derrida damit „zusammen[hängt], dass der phänomenologische ‚Körper‘ des Signifikanten sich in genau dem Moment auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird.“ 472 Allerdings ist auf diese Weise nicht nur der ‚Körper‘ des Signifikanten als Spur 473 zu denken, sondern auch der Körper der/ s Sprecherin/ s, wie Hart Nibbrig ausführt: Die Affekte, die in der Stimme mitschwingen, verdanken sich […] einer Verabschiedung vom Körper, der ihr sein Mitschwingen auf den Weg gibt. Und so kann sie den Körper immer nur als verlorene Ganzheit, von der sie sich abgespalten hat, evozieren, insofern sie ihn, ihr Inneres, nach außen bringt als ihren Resonanzraum, als ihr Anderes setzt und sich als ihre Verschiedenheit von ihm. So erscheint sie denn - aufregend genug - als quasi materielle Grenze zwischen Körper und Geist wie jene ‚Sperre‘ im Saussureschen Zeichenmodell. 474 Der Hinweis auf die verlorene Ganzheit des Körpers impliziert nun, dass kein normaler Sprechakt unter Anwesenheit der/ s Sprechenden und natürlich insbesondere kein mittels technischer Geräte ‚aufgezeichneter‘ Sprechakt eine „absolute oder unmittelbare Anwesenheit des Körpers herbeiführ[en]“ 475 kann. Stimme ist einerseits Attribut des Körpers wie des Geistes, kann aber beides nur auf performative Weise konstituieren, nicht repräsentieren: Hart Nibbrig betont, wir haben Stimme nicht, wir sind Stimme und „ihr Träger als personale ‚Identität‘ erschließt sich, wie beim Echo, nur rückwirkend aus ihr, nachträglich, als Grund aus dessen Folge“ 476 : Die fiktive Gegenwärtigkeit des Subjekts des performative ist nicht die des ‚Autors‘ eines Sprechaktes, sondern vielmehr das durch diesen Akt erst Hervorgebrachte. Was in der Sprache geschieht und was sie geschehen macht, die Macht (oder Kraft) der Sprache setzt eine Instanz (voraus, die sie verantwortet) und schreibt dieser Geste ein Gesicht zu […]. 477 471 Beide Zitate: Kolesch/ Krämer, Stimmen im Konzert der Disziplinen (Anm. 418), S. 12 (Markierungen dem Original entnommen). 472 Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Frankfurt am Main 2003 [1967], S. 105. 473 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main 1983 [1967], S. 82. 474 Christaan L. Hart Nibbrig: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Weilerswist 2001, S. 14f. (Markierung dem Original entnommen). 475 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 215. 476 Hart Nibbrig, Geisterstimmen (Anm. 474), S. 8. 477 Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000, S. 167f. (Markierungen dem Original entnommen). 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 108 Genau an diesem Punkt setzt nun de Man in seiner Konzeption der Textstimme an. Denn in seinen Ausführungen zur Autobiographie als Maskenspiel (1993b) identifiziert de Man diesen Vorgang des Verleihens eines Gesichts an eine abwesende oder auch tote Person als die Trope der Prosopopöie: Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. 478 De Mans Lesart dieser rhetorischen Figur 479 zufolge stellt die Figur der Prosopopöie die Antwort auf die Frage ‚Wer spricht? ‘ dar. Mittels der Textstimme wird also einem Text ein sprechendes Gesicht gegeben, 480 wobei das Gesicht nach de Man die Bedingung der Existenz einer Person darstellt, nicht aber ihr Äquivalent. 481 So bestätigt Chase: De Man liest nicht nur Prosopopöie als das Geben eines Gesichts; er liest Gesicht als das, was durch die Prosopopöie gegeben wird. Gesicht ist nicht das natürliche Gegebensein einer Person. Es ist in einer Weise der Rede gegeben, gegeben durch einen Akt der Sprache. Was durch diesen Akt gegeben ist, ist die Figur. Die Figur ist nichts weniger als das Gesicht selbst. 482 Wie nun Menke ausführt, kann die Prosopopöie somit als Leseanweisung 483 gesehen werden: Unter der Metapher der Stimme, die Natur oder Texte in Gesichtern und Mündern figuriert, wird ein ‚Ich‘ im Text als dessen Figur der Bedeutung gelesen und die Instanz des Autors (die dieses verantwortet) dem Text vorausgesetzt, ‚vor‘ den Text gesetzt. Insofern muss der ‚Autor‘ das Gesicht abgeben für eine stets beunruhigende In-Szene-Setzung […]. 484 Indem mittels der Prosopopöie eine Verbindung zwischen einem Ich im Text mit einem Ich vor dem Text etabliert wird, zeigt sich, dass die Prosopopöie die Figur der Autobiographie und der Lyrik schlechthin darstellt. 485 Gleichzeitig wird klar, wie anschlussfähig diese Konzeption der (autobiographischen) Textstimme für Körper-Stimmen im Rap ist. 478 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 140 (Markierung dem Original entnommen). 479 Laut Chase definiert nur de Man die Prosopopöie auf diese Weise, während man ursprünglich unter dieser rhetorischen Figur eine ‚Personifikation‘ verstanden habe, vgl. Cynthia Chase: Einem Namen ein Gesicht geben. In: Anselm Haverkamp (Hrsg.): Die paradoxe Metapher. Frankfurt am Main 1998, S. 414-436, hier S. 415. 480 Vgl. Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 8. 481 Vgl. Chase, Einem Namen ein Gesicht geben (Anm. 479), S. 415. 482 Ebenda, S. 416 (Markierungen dem Original entnommen). 483 Vgl. Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 162. 484 Ebenda, S. 158f. 485 Vgl. Bettine Menke: De Mans ‚Prosopopöie‘ der Lektüre. Die Entleerung des Monuments. In: Karl Heinz Bohrer (Hrsg.): Ästhetik und Rhetorik. Lektüren zu Paul de Man. Frankfurt am Main 1993, S. 34-73, hier S. 35. 6.1 (Text-)Stimmen 109 Denn gerade im Rap wird über den Einsatz von Stimm-Samples deutlich, wie de/ figurativ die Verbindung zwischen (Text-)Stimme und deren Referentin/ en ist. Die Verwendung von Samples stellt ein Charakteristikum des Raps dar - nach Shusterman handelt es sich beim Sampling sogar um „die radikalste formale Innovation des Rap […].“ 486 Beim Sampling als postmoderner Technologie wird nun eine bereits existierende, technisch aufgezeichnete (sprachliche) Äußerung 487 aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst und in einen neuen eingefügt. Dabei werden diese Stimmfragmente in Beziehung zu jener Erzählstimme gesetzt, die den Haupt-Text eines Raps oder eines ganzen Albums trägt. Beim Einfügen können generell zwei Mechanismen unterschieden werden. Zum einen werden Samples ‚in der ersten Person‘ (als ‚ich‘) eingefügt, die als Prosopopöie jene Person setzen, die auch die Haupt-Erzählstimme inauguriert. Zum anderen werden Samples gewählt, die eine zweite Person generieren, die wiederum jene Person der Haupt- Erzählstimme vorstellt, adressiert etc. Solchermaßen wird deutlich, dass innerhalb eines Rap-Tracks durch Verwendung von Samples mehrere Personen gesetzt werden können, wobei beobachtet werden kann, dass im Prozess des Setzens der Subjekte sprachliche Indikatoren wie Personalpronomen für die Herstellung von Referenz wichtiger erscheinen, als die vermeintliche Geschlechtszugehörigkeit der gesampelten Stimme. Gerade die Aneignung von als gegengeschlechtlich konnotierten Stimmen im Prozess des Samplings subvertiert damit Vorstellungen eines naturhaft ‚männlichen‘ oder ‚weiblichen‘ Sprechens. Das Verwischen der Geschlechtergrenzen im angeeigneten Zitat erinnert an die oben implizit erwähnte mythische Figur der Echo aus den Metamorphosen [Buch III, 339-510] des Ovid. In der Episode war Echo von der Göttin Juno dazu verdammt worden, ihre ‚eigene‘ Stimme zu verlieren und fortan nur mehr anderen nachzusprechen, wobei nach Hart Nibbrig „in letzter Konsequenz, Junos Bestrafung der Nymphe darin [liegt], die Stimme anderer nachlallen zu müssen, ohne sie erwidern zu können, so dass sie am Ende verschwindet, abgeschnitten von ihrem Körper und dessen Bedürfnissen in der repetierenden Verkettung von Zeichen, die für nichts mehr stehen und für niemand.“ 488 Dieser Deutung widerspricht Culler, 489 denn seiner Meinung 486 Shusterman, Kunst Leben (Anm. 18), S. 202. Shusterman untersucht a. a. O. in seiner Lektüre von Talkin’ All That Jazz die Bedeutung des Samples im Rap. In seiner Analyse geht es aber weniger um einen Vergleich mit der Aneignung von Sprache und Stimme im Allgemeinen, denn um eine Verteidigung des Samples im künstlerisch-kreativen Sinne. Dem Rap wurde oftmals vorgeworfen durch die Verwendung von Samples lediglich zu kopieren, aber kein Original erschaffen zu können. 487 Im Rap werden sowohl Stimmsamples als auch Samples von anderen Musikstücken, von Geräuschen etc. verwendet. Im Kontext dieses Bandes sind aber vor allen Dingen Stimmsamples interessant. 488 Hart Nibbrig, Geisterstimmen (Anm. 474), S. 17. 489 Vgl. Culler, Dekonstruktion (Anm. 398), S. 286. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 110 nach verdeutlicht u. a. die folgende Textstelle, dass die zur Wiederholung verdammte Echo sehr wohl eigene Standpunkte vertreten kann: Einmal verlor der Knabe durch Zufall sein treues Gefolge, Und so rief er: „Ist jemand zugegen? “ „Zugegen! “, sagt Echo. Staunend steht er und schaut nach allen Seiten; dann ruft er Laut und deutlich: „So komm! “ - den Rufenden ruft sie desgleichen. Um sich blickt er; doch niemand erscheint. „Warum denn“, so spricht er, „Meidest du mich? “ und gleichviel Worte ertönen ihm wider. Nicht ablassend, getäuscht durch den Widerhall, ruft er: „Wir wollen Hier uns vereinigen! “ Gab’s einen Laut, dem Echo so freudig Jemals erwiderte? „Hier uns vereinigen! “ rief sie zur Antwort. 490 Obwohl also Echo die Aussagen von Narziss nur wiederholen kann, kommt es zu einer Kommunikation zwischen beiden. Culler führt aus, dass [o]bwohl Echos ‚Stimme‘ nur ein leeres Echo ist, eine Wiederholung der Worte des Narcissus, die er für eine andere Stimme hält, […] entscheidend [ist], […] uns zu versichern, dass Echo in ihren Echos ihr eigenes Begehren tatsächlich ausdrückt und so ihre Stimme, ihr Selbst, ihre Intelligibilität wiedergewinnt. 491 Menke wiederum verbindet (das) Echo mit der Figur der Prosopopöie: Echos als andere Formulierung für die Einlösung der Prosopopoiia, demarkieren als die Wiederholung, die sie sind, die Stimmen, die durch sie gegeben seien. Echos kommen aus dem Aufschub, dem Tunnel der Zeit, einer Abgeschiedenheit, die quasi-schriftlich ist, aus der die Worte wiederkehren. Im Abstand, aus dem die Stimme im Echo kommt, […] ist die Stimme ihrer Disfiguration ausgesetzt. Die Tropik der Stimme deplatziert die Stimme in Rhetorik; als Rhetorik spricht sie von einer Nicht-Gegenwärtigkeit der Stimme, einer Spur in der Stimme, die sie als Wiederholung markiert, von sich selbst trennt. 492 Echos wie Samples verweisen demnach auf die Funktionsweise von Sprache im Allgemeinen. Denn es gilt, dass jedes (sprachliche) Zeichen in beliebigen Kontexten aktualisierbar ist: „Jede Einschreibung ist Wieder-Einschreibung in die Sprache, Wiederholung, Zitation […].“ 493 Das (sprachliche) Zeichen existiert als solches, weil es zitiert, wiederholt und in einen neuen Kontext eingefügt werden kann. Auf diese Weise muss jede (Text-)Stimme im Sinne 490 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, Buch III, 379-387, in: ebenda, Epos in 15 Bänden. Übersetzt und hrsg. von Hermann Breitenbach. Stuttgart 2008, S. 103f. 491 Culler, Dekonstruktion (Anm. 398), S. 286 (Markierung dem Original entnommen). Culler begründet seine Sichtweise damit, dass man von der Tatsache, dass Echo ihr eigenes Begehren ausdrückt, ausgehen muss, um zu verstehen, warum und in welchem Ausmaß Narziss bestraft wird (vgl. ebenda, S. 286ff.). 492 Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 12 (Markierung dem Original entnommen). 493 Ebenda, S. 212. 6.2 Der Name und die Referenz 111 Derridas schriftlich gedacht werden, da sie nur getrennt von ihrem Ursprung wahrgenommen werden kann. 494 Insgesamt gilt allerdings, dass Rap mit widersprüchlichen Aspekten der Körper-Stimme arbeitet und diese gleichermaßen einsetzt. Denn wie im Kapitel eingangs erwähnt, ist die Stimme in ihrer individuellen Wiedererkennbarkeit für Rap (wie für Populärmusik im Allgemeinen) von großer Wichtigkeit. 495 Allerdings wird durch die Verwendung von Samples deutlich, dass die Beziehung zwischen einer Stimme und der mittels ihrer gesetzten Person stets eine gebrochene, aufgeschobene, darstellt. Letztlich gilt in Bezug auf Rap, dass der Einsatz von verschiedenen Stimm-Samples hauptsächlich dazu dient, auf eine Person zu verweisen. Denn schließlich bleibt eine Stimme (im Laufe eines Raps, im Verlauf eines Albums) die Haupterzählstimme, womit gerade die entfremdeten, abgelösten, gesampelten Stimmen dazu dienen, die Referenzfunktion dieser Stimme zu stärken. Aus diesem Grund gilt es im Folgenden einen Blick auf jene rhetorischen Strategien zu werfen, mittels denen dieser Prozess der Referentialisierung erfolgt. 6.2 Der Name und die Referenz Sowohl in Bezug auf die Lyrik als auch auf die Autobiographie kann festgehalten werden, dass im Rahmen der vielfältigen, im Laufe der Jahrhunderte geführten theoretischen Diskussionen um beide Gattungen immer wieder die Frage nach der speziellen Referenzbeziehung zwischen den (lyrischen) Ichs im Text und den AutorInnen als Ichs vor dem Text behandelt wurde. Während in den Ausführungen in Kap. 5 bereits auf die Lyrik-Debatten eingegangen wurde, soll im Folgenden das Genre der Autobiographie näher beleuchtet werden. Lejeune definiert die Autobiographie als „[r]ückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt.“ 496 Diese Definition eröffnet allerdings mehrere Problemkreise. So bezweifelt de Man prinzipiell, dass es sich bei der Autobiographie um eine Gattung mit eigenen Gesetzmäßigkeiten handelt, schließlich „[scheint] jeder Einzelfall eine Ausnahme von der Regel zu sein.“ 497 Auch die Tatsache, dass 494 Vgl. dazu Kap. 4.3, S. 77ff. in diesem Band. 495 Zur Wichtigkeit der individuellen Besonderheit der Stimme im Rap vgl. Murray Forman: Machtvolle Konstruktionen. Stimme und Authentizität im HipHop. In: Fernand Hörner und Oliver Kautny (Hrsg.): Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines intermedialen Phänomens. Bielefeld 2009, S. 23-50; vgl. auch Fernand Hörner und Oliver Kautny: Mostly Tha Voice! Zur Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines intermedialen Phänomens. Bielefeld 2009, S. 7-21. 496 Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Frankfurt am Main 1994 [1975], S. 14 (Markierung aus dem Original nicht übernommen). 497 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 132. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 112 die Autobiographie nach Lejeune lediglich eine Prosaerzählung sein könne, zieht de Man in Zweifel, denn es sei nicht verständlich, warum es keine Autobiographie in Versen geben solle. 498 Das größte Problem in der Auseinandersetzung mit Autobiographien zeigt allerdings, wie nah diese Rap-Texten sind. Denn Lejeunes Hinweis auf die ‚tatsächliche‘ Existenz der schreibenden Person, die über das eigene Leben berichtet, verdeutlicht, dass die Debatten um Autobiographien oftmals um die Frage der ‚Wahrheit‘ resp. Wahrhaftigkeit der dargestellten Erlebnisse kreisen, d. h. um Fragen der Referenz. Während in diesem Zusammenhang Lejeune von einer/ m AutorIn ausgeht, die/ der befähigt ist, das eigene Leben niederzuschreiben, kommt u. a. Volkening zu dem Schluss, dass sich das ‚Leben‘ mittels der Sprache nicht einholen lässt, denn „[d]ie Identität, die in einer Autobiographie in den Blick genommen werden und zur Darstellung gebracht werden soll, verflüchtigt sich in dem Maße, in dem sie sich ausspricht […].“ 499 Dementsprechend geht auch de Man davon aus, dass nicht die/ der AutorIn den Text hervorbringt, sondern dass es sich umgekehrt verhält: Wir nehmen an, das Leben würde die Autobiographie hervorbringen wie eine Handlung ihre Folgen, aber können wir nicht mit gleicher Berechtigung davon ausgehen, das autobiographische Vorhaben würde seinerseits das Leben hervorbringen und bestimmen? 500 De Man fasst nun die Autobiographie als rhetorische Figur, seiner Meinung nach ist Autobiographie Prosopopöie, was die Frage nach dem Unterschied zwischen Fiktion und Autobiographie unentscheidbar macht: Ergibt sich die Illusion der Referenz nicht als Korrelation der Struktur der Figur, so dass das ‚Referenzobjekt‘ überhaupt kein klares und einfaches Bezugsobjekt mehr ist, sondern in die Nähe einer Fiktion rückt, die damit ihrerseits ein gewisses Maß an referentieller Produktivität erlangt? 501 Die/ Der ReferentIn des Ich im Text rückt nach de Man also in die Nähe einer Fiktion; seiner Konzeption gemäß wird dem Ich vor dem Text mittels der Prosopopöie (also mittels des Ich im Text) ein Gesicht verliehen: „Der Referent wird als Name gesetzt und das referentielle Ich des Textes gibt sich als Ich im Text Stimme oder Gesicht und entzieht diese/ s wieder im selben Augenblick“ 502 , schließlich gilt, „[w]as verliehen wird, kann nicht eigentlich sein.“ 503 498 Vgl. ebenda, S. 132. Dementsprechend zeigt sowohl die Rezeption von Lyrik als auch von Rap-Texten, dass viele InterpretInnen kein Problem darin sehen, Texte in Versen als (auto)biographisch zu lesen. 499 Volkening, Am Rand der Autobiographie (Anm. 462), S. 11. 500 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 132 (Markierung dem Original entnommen). 501 Ebenda, S. 133. 502 Anna Babka: Unterbrochen. Gender und die Tropen der Autobiographie. Wien 2002, S. 37 (Markierung dem Original entnommen). 503 Ebenda, S. 29 (Markierung dem Original entnommen). 6.2 Der Name und die Referenz 113 Als Figur bedarf die Prosopopöie also eines willkürlichen Aktes der Setzung, was bedeutet, dass Figuration zur selben Zeit auch immer De-Figuration (defacement) ist, denn eine sprachliche Figur kann nicht die Sache selbst sein, sondern lediglich eine Repräsentation, ein Bild, das stumm ist, wie Bilder es eben sind, 504 so de Man. Wie aus diesen Worten hervorgeht, gilt es in der Autobiographie zwei (figurative) Instanzen zu unterscheiden: jene des Namens (des Ich vor dem Text, des Namens auf dem Titelblatt sozusagen) und jene des Ich im Text. Zu klären bleibt nun allerdings erst recht, mittels welcher rhetorischen Mittel diese beiden Instanzen verbunden werden. Als Lösung für dieses Problem hat Lejeune in seinem Text Der autobiographische Pakt vorgeschlagen, von einem Vertrag zwischen LeserIn und AutorIn auszugehen, welcher der/ m LeserIn eine formale Einheit zwischen AutorIn, ProtagonistIn und ErzählerIn garantiert. 505 Auf welche Weise aber kommt dieser Vertrag zustande? Für Lejeune liegt die Problematik der Referenz in Bezug auf die Autobiographie in der grundlegenden Problematik der Schrift; denn ein Text ist stets von seiner/ m UrheberIn getrennt, während in der mündlichen Kommunikation die GesprächspartnerInnen, welche ‚ich‘ sagen, anwesend und identifizierbar sind. In seiner Konzeption des ‚ich‘ geht Lejeune auf Benveniste zurück, welcher bestätigt, „ich ist die ‚Person, welche die gegenwärtige Diskursinstanz, die ich als Referiertes enthält, aussagt‘.“ 506 Auf ähnliche Weise führt de Man, Hegel zitierend, aus: Kein Wort ist spezifischer deiktisch als das auf sich selbst verweisende Wort ‚Ich‘, und doch ist es auch ‚die Existenz der ganz abstrakten Allgemeinheit‘. […]. ‚Ebenso wenn ich sage: <Ich>, meine ich mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder […]. 507 Das Personalpronomen ‚ich‘ erweist sich dementsprechend als shifter, der „jeweils bei jeder neuen Verwendung eine andere Person bezeichnet.“ 508 Während aber bei mündlicher Kommunikation klar zu sein scheint, auf welche Person das ‚ich‘ im Satz verweist - wiewohl auch puzzling cases zu nennen 504 Vgl. Bettine Menke: Rhetorik und Referentialität bei de Man und Benjamin. In: Sigrid Weigel (Hrsg.): Flaschenpost und Postkarte. Korrespondenzen zwischen Kritischer Theorie und Poststrukturalismus. Köln/ Weimar/ Wien 1995a, S. 49-70, hier S. 57; vgl. auch de Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 144; vgl. ebenso Chase, Einem Namen ein Gesicht geben (Anm. 479), S. 421. 505 Vgl. Volkening, Am Rand der Autobiographie (Anm. 462), S. 53. 506 Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 281 (Markierungen von mir, Anm. A. B.). 507 Paul de Man: Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik. In: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main 1993a, S. 39-58, hier S. 48 (Markierung dem Original entnommen). 508 Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. München 2 2005 [1990], S. 65. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 114 wären 509 - so erfolgt für Lejeune die Verknüpfung zwischen Person und Rede bei schriftlichen Texten über den Eigennamen, „noch bevor sie sich in der ersten Person verknüpfen […].“ 510 Auf diese Weise unterschreibt die/ der AutorIn ihren/ seinen Text gewissermaßen mit dem Eigennamen auf dem Buchcover und schließt damit mit den LeserInnen einen sogenannten autobiographischen Pakt, welcher die Identität von AutorIn, ErzählerIn und ProtagonistIn behauptet und „letztlich auf den Namen des Autors auf dem Umschlag verweist.“ 511 Wie unterschiedlich die Formen der Autobiographie auch sein mögen, so zeugten sie alle von dem Versuch, „dieser Signatur gerecht zu werden“ 512 , so Lejeune. Dieses Modell hilft, Referenz zu fassen, ohne unmittelbar auf die historische Person der/ s Autorin/ s rückgreifen zu müssen. De Man kritisiert allerdings Lejeunes Verständnis des Vertrages als Übereinkunft zwischen AutorIn und Publikum, für das der Name auf dem Titelblatt als Unterschrift fungiert, wobei die Tatsache, dass Lejeune „,Eigenname‘ und ‚Unterschrift‘ als austauschbar betrachtet, ein Zeichen für die verwirrende Komplexität des Problems [ist].“ 513 Hauptkritikpunkt stellt dar, dass es nunmehr der/ m LeserIn zufalle, diese Unterschrift und somit die Autobiographie als solche als ‚authentisch‘ zu verifizieren. Die/ Der RezipientIn verfüge nun plötzlich - im Gegensatz zur traditionellen Autobiographie-Theorie, dergemäß dies für die/ den AutorIn als souveränes Subjekt zutraf 514 - über eine „transzendentale 509 Lejeune nennt hierbei das Zitat und die mündliche Rede. Gerade in Bezug auf das ‚Zitat‘ räumt Lejeune Komplikationen in Bezug auf die eindeutige Personen-Referenz ein, welche im schriftlichen Kontext durch die Möglichkeit, Anführungszeichen zu setzen, nicht gegeben sind: „In der mündlichen Rede spielt die Betonung eine ähnliche Rolle [wie die Anführungszeichen, Anm. A. B.]. Sobald diese Zeichen jedoch verblassen oder verschwinden, tritt die Ungewissheit auf: Das gilt für das Re-Zitieren und ganz allgemein für das Theaterspielen. Wer sagt ‚ich‘, wenn Berma die Phaedra spielt? Die Theatersituation als solche kann zwar die Funktion der Anführungszeichen übernehmen und den fiktiven Charakter der Person, die ‚ich‘ sagt, anzeigen. Hier allerdings müssen wir langsam den Boden unter den Füssen verlieren, denn selbst den Naivsten befällt dabei der Gedanke, dass nicht die Person das ‚ich‘ definiert, sondern das ‚ich‘ die Person - das heißt, dass die Person nur in der Rede existiert…“ (in: Lejeune, Der Autobiographische Pakt, Anm. 496, S. 21). 510 Ebenda, S. 23. 511 Ebenda, S. 27. 512 Ebenda, S. 27. 513 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 135. 514 Zur Entwicklung des Subjekts der Autobiographie und dem vermeintlichen ‚Tod‘ dieses Subjekts vgl. Volkening, Am Rand der Autobiographie (Anm. 462), S. 13ff.; Volkening nennt a. a. O. als Ursprung des vermeintlichen ‚Todes des Autors‘ und des damit zusammenhängenden Endes der Autobiographie den 1967 erschienen Text Der Tod des Autors von Roland Barthes, in welchem Barthes auf die Ursprungslosigkeit der Schrift hinweist. So führt Barthes aus: „[D]ie Schrift […] [zerstört] jede Stimme, jeden Ursprung. Die Schrift ist der unbestimmte, uneinheitliche, unfixierbare Ort, wohin unser Subjekt entflieht, das Schwarzweiß, in dem sich jede Identität aufzulösen beginnt, 6.2 Der Name und die Referenz 115 Autorität“ 515 , sie/ er werde „zu einem mit Polizeigewalt versehenen Richter […].“ 516 Babka und Menke 517 wiederum bestätigen in ihren Lektüren von de Mans Text Autobiographie als Maskenspiel, dass bei einer Autobiographie mittels eines Vertrages die Verbindung zwischen den beiden Instanzen des Ich vor dem Text und im Text hergestellt werde, auf dass „der Text als Stimme des Subjekts der Äußerung zu lesen sei […].“ 518 Schließlich ist es de Man selbst, für den Lesen und Verstehen wechselseitige Spiegelung zwischen AutorIn und Text und zwischen LeserIn und Text bedeutet, wie C. Menke in Bezug auf de Man ausführt: Jedes Verstehen von literarischen Texten ist ihre (quasi-autobiographische) Zuschreibung an ein Subjekt, dessen Erfahrungs- und Sichtweise es zu erfassen gilt; darin besteht die erste Spiegelung, die zwischen dem Subjekt (vor dem Text) und (dem Subjekt in) dem Text. In diesem Verstehen vollzieht sich zugleich die (lesende) Selbstverständigung eines Subjekts; darin besteht die zweite Spiegelung, die zwischen (dem Subjekt in) dem Text und dem Subjekt (nach dem Text). […]. Das Verstehen richtet sich auf den Text als die Artikulation eines Subjektes, seiner Erfahrungs- oder Sichtweise, die aus dem Text gewusst werden kann; und da Wissen stets Geltung beansprucht, ist die wissende Aneignung dieses Sichwissens eines Subjekts zugleich das Medium, in dem ein anderes Subjekt Wissen von sich selbst gewinnt. 519 Festgehalten werden kann also, dass RezipientInnen beim Lesen eines Textes, welcher unter einem Namen publiziert wird, wohl davon ausgehen, dass es sich bei dem Namen, unter dem er veröffentlicht wurde, um „,etwas‘ Be- angefangen mit derjenigen des schreibenden Körpers“ (in: Barthes, Tod des Autors, Anm. 401, S. 185). Barthes ferner: „Die Abwesenheit des Autors macht es ganz überflüssig, einen Text ‚entziffern‘ […] zu wollen. Sobald ein Text einen Autor zugewiesen bekommt, wird er eingedämmt, mit einer endgültigen Bedeutung versehen, wird die Schrift angehalten“ (in: ebenda, S. 191; Markierungen dem Original entnommen). Nach Barthes übernimmt die/ der LeserIn die Stelle der/ s Autorin/ s: „Der Leser ist der Raum, in dem sich alle Zitate, aus denen sich eine Schrift zusammensetzt, einschreiben, ohne dass ein einziges verloren ginge. Die Einheit eines Textes liegt nicht in seinem Ursprung, sondern in seinem Zielpunkt […]“ (in: ebenda, S. 192). Dass es schwierig ist, die/ den AutorIn zur Gänze aus der Diskussion zu eliminieren, zeigt hingegen Foucault (1993), welcher die/ den AutorIn als Funktion des Diskurses wieder einsetzt. 515 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 135. 516 Ebenda, S. 135. 517 Vgl. Babka, Unterbrochen (Anm. 502), S. 37; vgl. auch Bettine Menke: Dekonstruktion. Lesen, Schrift, Figur, Performanz. In: Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck et al. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart/ Weimar 1995b, S. 122-156, hier S. 133. 518 Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 194. 519 Christoph Menke: ‚Unglückliches Bewusstsein‘. Literatur und Kritik bei Paul de Man. In: Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen. Hrsg. von Christoph Menke. Frankfurt am Main 1993, S. 265-299, hier S. 284. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 116 stimmtes“ 520 , also um ein intelligibles Subjekt, handelt. Auch der Name auf dem Titelblatt/ dem Cover stellt schließlich eine Prosopopöie dar, denn über den Namen wird das ‚Gesicht‘ des dahinter stehenden Subjekts konstituiert. In diesem Zusammenhang macht auch gerade der Name die Bedeutung der Prosopopöie als Katachrese 521 klar, als Trope dafür, Wörter für Bedeutungen zu finden, für die es noch kein Wort gibt. Es handelt sich beim Namen also zunächst um eine leere Instanz, „Namen sind als Punktuierungen, describing nothing, Artikulationen der ‚Frage nach dem Referenten‘ […].“ 522 Um bedeuten zu können, braucht der Name als Ich vor dem Text nun das Ich im Text (die Figur) als seine Stimme: Auf diese Weise wird gerade im Namen jene Aporie deutlich, welche der Sprache im Gesamten inhärent ist, jene Aporie zwischen der Setzung und der Repräsentation, schließlich kann eine sprachliche Äußerung im eigentlichen Sinne eine Entität nicht gleichzeitig produzieren sowie auch auf sie als der Setzung vorausliegende referieren. 523 Nach Menke ist es in diesem Zusammenhang nicht möglich, sich eine der beiden Funktionen der Sprache als vorrangige vorzustellen. Obwohl sie sich gegenseitig ausschließen, müssen sie gleichzeitig ‚existieren‘: Sagen und Meinen, Setzung und Besetzung, Akt und Figur schließen einander aus und setzen sich gegenseitig voraus. Beide Momente widersprechen gegenseitig ihrer jeweiligen Bedingung der Möglichkeit und beide ‚gibt es‘ nur gleichzeitig […]. Um zu sagen, was es meint, hat das Zeichen schon ein Gesicht angenommen, eine Figur präsentiert, aber indem es face (geworden) ist, verliert es die Kraft zu meinen, weil zu sagen. Denn es verstellt damit, was es eingesetzt hat, macht die arbiträre Kraft der Setzung des Zeichens vergessen. […] Die Figur für die Setzung, an der Stelle der Setzung, muss die Bedingung ihrer Möglichkeit, die arbiträre Kraft, zu setzen, vergessen machen, weil der dis/ abrupte Akt nicht - als solcher - in ihr System integriert, nicht in Bedeutung transformiert werden kann. Die Figuration selbst konfligiert mit der performativen Kraft der Sprache zu setzen, die sie ermöglicht, die aber Sprache als kognitive Struktur, als bedeutungsvolle Anordnung oder Gesicht dementiert. Darum löscht die Figur, indem sie die Illusion von Bedeutung erzeugt, die setzende Kraft der Sprache aus, die sie doch allererst einsetzte. Was also ständig erneut, wiederholend, geschieht, ist die Löschung der Setzung in der 520 Menke, De Mans ‚Prosopopöie‘ der Lektüre (Anm. 485), S. 60. 521 Zur genauen Definition der Katachrese im traditionellen wie poststrukturalistischen Sinne vgl. Vladimir Biti: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 436. 522 Menke, De Mans ‚Prosopopöie‘ der Lektüre (Anm. 485), S. 56. 523 Vgl. Menke, Dekonstruktion (Anm. 517), S. 132. Die Unterscheidung zwischen der konstativen/ beschreibenden und der performativen/ handelnden Funktion der Sprache hat prominent Austin (1972) in seinem Text How to do things with words eingeführt; vgl. dazu Wirth, Der Performanzbegriff, Anm. 404, S. 23f. Insbesondere Derrida konnte in seinen Anmerkungen zu Austin zeigen, dass der Sprache insgesamt durch ihre Struktur der Iterabilität ein performatives Element innewohnt (vgl. Derrida, Signatur, Ereignis, Kontext, Anm. 269, S. 310). 6.2 Der Name und die Referenz 117 Ein-Setzung einer Figur, der Zuschreibung einer Figur an die Stelle der Setzung, die diese - und damit den Gestus der Figuration selbst - vergessen macht. 524 Welche Bedeutung haben diese Ausführungen aber nun für das Verständnis von Rap-Texten und ihrer vermeintlichen Authentizität? Rap-Texte als Populärmusiktexte, egal wie immer ‚autobiographisch‘ sie auch sein mögen, stellen sozusagen den Schnittpunkt zwischen Autobiographie und Lyrik dar. Publiziert auf Tonträgern oder vorgetragen im Rahmen von Live-Performances wird in Rap-Texten ein Ich im Text und dessen Verhältnis zum Ich vor dem Text, dem Namen, verhandelt. Wie de Man für die Autobiographie konstatiert (aber als für die Literatur im Allgemeinen gültig hält), so gilt auch in Bezug auf Populärmusiktexte (und auf Rap-Texte im Besonderen, wie noch auszuführen sein wird): „Die Prosopopöie ist die Trope der Autobiographie, durch die jemandes Name […] so verstehbar und erinnerbar wird wie ein Gesicht“ 525 , denn „[d]as tiefe Thema der Autobiographie ist der Eigenname.“ 526 Im Folgenden gilt es also, die Bedeutung des Namens im Rap auszuloten, wobei im Anschluss an allgemeine theoretische Ausführungen Bezug zu den vier gewählten BeispielkünstlerInnen hergestellt werden soll. 6.2.1 Der Name vor dem Rap-Text Ähnlich wie bei geschriebenen Texten, gilt auch bei Musikstücken die Konvention, das Kunstwerk unter dem Namen der/ s Künstlerin/ s zu veröffentlichen. Auf diese Weise wird die/ der KünstlerIn als intelligibles Subjekt gesetzt, in einem Vorgang, „which constructs a certain rational being that we call ‚author‘“ 527 , oder in unserem Falle: MusikerIn. Oftmals wird dabei die etablierte Referenzbeziehung durch das Anbringen eines Fotos der/ s Künstlerin/ s (auf realen oder virtuellen Covern) verstärkt. In diesem Falle gilt es also nicht nur der setzenden Macht der Sprache zu vertrauen, dem Namen auf figurative Weise ein Gesicht zu verleihen, sondern dem Namen wird auf visueller Ebene ein Gesicht beigegeben. Das Foto stellt allerdings eine fakultative Möglichkeit dar, während Populärmusikalben (und auch einzelne Musikstücke) stets unter einem bestimmten Namen veröffentlicht werden müssen, unter welchem sie im Regal (oder in virtuellen Online-Stores) zu finden sind. Die/ Der KünstlerIn zeichnet also auf diese Weise verantwortlich für den dargebotenen Inhalt, was auch für das Urheberrecht von Bedeutung ist, denn „das Urheberrecht besteht wesentlich aus diesem Recht auf Namensnennung, mit dem der Autor die Verantwortung für sein Werk übernimmt und sich damit als Ad- 524 Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 181f. 525 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 140. 526 Lejeune, Der autobiographische Pakt (Anm. 496), S. 36. 527 Michel Foucault: What is an Author? [1969]. In: Simon During (Hrsg.): The Cultural Studies Reader. London/ New York 21993, S. 174-187, hier S. 180. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 118 ressaten von Ruhm und Ehre wie von potentieller Bestrafung einsetzt.“ 528 Das Urheberrecht schützt also das geistige Eigentum der/ s Künstlerin/ s. Der Name wird mit dem Inhalt in Verbindung gebracht, mittels des Kunstprodukts wird eine Person instituiert, welcher Erfolg beschert wird oder welche auch juristisch belangt werden kann. Im Rap verkompliziert sich diese Situation, da in vielen Fällen Musik und Text nicht von der gleichen Person, sondern von verschiedenen Personen gefertigt werden: Es finden sich im Booklet also Hinweise auf die/ den VerfasserIn der Texte sowie auf die/ den Produzentin/ en der Musik. Hinsichtlich der VerfasserInnenangaben im Rap existieren ferner unterschiedliche Strategien: So können einerseits die KünstlerInnennamen, andererseits die „amtlich verbürgten Namen“ 529 angegeben werden. Die Angabe der VerfasserInnen mag einerseits urheberrechtliche Gründe haben. 530 In der Nennung des KünstlerInnennamens oder des bürgerlichen Namens als VerfasserIn des Textes zeigt sich allerdings auch, wie oben erwähnt, eine rhetorische Struktur zur ‚Authentisierung‘ der Texte, indem ein Hinweis auf die tatsächliche AutorInnenschaft gegeben wird. Insbesondere über die Angabe des bürgerlichen Namens wird eine ‚Realitätsebene‘ eingesetzt, da die Verantwortung für den Text von einer vermeintlich ‚real‘ existierenden Person übernommen wird, wobei diese natürlich letztlich erst über den Diskurs als solche (mittels einer Prosopopöie) konstituiert wird. Um diesen ‚Realitätseffekt‘ zu erzeugen, muss allerdings die/ der RezipientIn in der Lage sein, eine Verbindung zwischen den zwei Namen herzustellen, d. h. sie/ er muss den bürgerlichen Namen kennen, um sich von der AutorInnenschaft der Texte überzeugen zu können. Dennoch gilt es gerade im Rap der Gefahr entgegen zu wirken, durch die Nennung von zwei Namen den Eindruck einer Spaltung (in die Instanz der/ s Künstlerin/ s und die einer Rolle) zu erwecken. Es stellt sich also die Frage nach der Bedeutung des Einsatzes von KünstlerInnennamen im Rap. Genette sieht zunächst in der Verwendung eines Pseudonyms oder KünstlerInnennamens (bei BuchautorInnen) kein Problem, schließlich führe das Pseudonym lediglich zu einer „Verdoppelung des Namens, die keinen Wechsel der Identität bedingt“ 531 , wobei bei BuchautorInnen dieses Pseudonym nicht innerhalb des Buches aufgelöst wird, indem der amtliche Name als eigentliche/ r VerfasserIn angegeben wird, während dies bei Rap-Texten oftmals der Fall ist. Es zeigt sich allerdings, dass bezüglich der Verwendung von KünstlerInnennamen im Rap eine besondere Beziehung zwischen beiden 528 Volkening, Am Rand der Autobiographie (Anm. 462), S. 77f. 529 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main 2001 [1987], S. 43. 530 Durch die Verwendung von musikalischen wie textlichen Samples haben die Rap- und HipHop-Szene insgesamt ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Thema ‚Urheberrecht‘, vgl. George, Drei Jahrzehnte HipHop (Anm. 166), S. 122-132 oder Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. 121-134. 531 Lejeune, Der autobiographische Pakt (Anm. 496), S. 25. 6.2 Der Name und die Referenz 119 Namen etabliert wird. Denn wenn nun oben gesagt wurde, dass ein Name ‚nichts beschreibt‘ und sich darauf beschränkt, „eine unwiederholbare und unteilbare Entität zu vereinzeln, ohne sie zu kennzeichnen, ohne sie auf der prädikativen Ebene zu bedeuten, also ohne irgendeine Information über sie zu geben“ 532 , so ist dies in Bezug auf Rap ergänzungsbedürftig. Prinzipiell handelt es sich beim bürgerlichen Eigennamen um eine Bezeichnung, welche von der Person nicht selbst gewählt wurde, was für den KünstlerInnennamen nicht der Fall ist. Nach Bärnthaler ist der „Hang zum sprechenden Pseudonym und Akronym innerhalb der Rapszene“ eine „Form der kommunikativen Tarnung. Nahezu alle Rapper und HipHop-Akteure benutzen Künstlernamen […]. Pseudonyme verbergen nicht nur die offizielle Identität - in der Hip- Hop-Szene verweisen sie auf Status und Haltung, dienen zur Selbststilisierung oder machen auf Fähigkeiten aufmerksam.“ 533 So räumt auch Genette ein, dass Pseudonyme in manchen Fällen mit einer besonderen Wirkabsicht gewählt werden. 534 Dies trifft nun auch auf die vier im Rahmen dieser Analyse gewählten KünstlerInnen zu. In einem Interview mit Fiva MC in der HipHop-Zeitschrift Backspin deutet die Journalistin Bemmè den KünstlerInnennamen der Rapperin, indem sie von den Assoziationen, die das Pseudonym wachruft, auf die vermeintlichen Charaktereigenschaften der Person, die den Namen trägt, schließt: Fiva, der Name steht für Feuer, Fieber, eben Temperament und wurde ihr von Freundinnen gegeben. Nach wenigen Minuten im Gespräch mit ihr weiß ich: Kein Name wird sie je besser beschreiben, denn - auch wenn es blöd klingen mag: Die Frau hat Feuer! Sie hat viel zu erzählen und redet schnell, aber nicht undurchdacht. Nina denkt viel nach über die Dinge, die ihr Leben betreffen. 535 532 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 41. 533 Bärnthaler, Two Turntables and a Microphone (Anm. 185), Quelle: Internet (Markierung von mir, Anm. A. B.). Man beachte die metaphorische Verwendung des ‚Sprechens‘ in Bezug auf den Namen. 534 Vgl. Genette, Paratexte (Anm. 529), S. 52. 535 Bemmè, Wo sind sie (Anm. 260), S. 25. Interessant an dieser Deutung des Namens sind die unausgesprochenen Hinweise darauf, dass dieser Name in Bezug auf eine Bimedialität und Bilingualität funktioniert: So wird der Name mit englischer Aussprache [faiva] ausgesprochen, was über den englischen Begriff fire die Assoziation zu ‚Feuer‘ hervorruft. Die deutsche (nicht korrekte) Aussprache [fıva] oder [fıfa] stellt allerdings Assoziationen zum englischen fever wie zum deutschen Fieber her. Im Falle von Fiva MC liefert der Name nicht nur Hinweise auf vermeintliche Charaktereigenschaften der mittels der Prosopopöie gesetzten Figur der Künstlerin, sondern lässt über den Zusatz des MC (Master of Ceremony) sofort einen Rückschluss auf die Genre- Zugehörigkeit der Musik zu: MC stellt eine szenespezifische Bezeichnung für RapperIn dar. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 120 Durch die Nennung des bürgerlichen Namens der Künstlerin (Nina) im letzten Satz des Interviewabschnitts wird, wie von Genette oben behauptet, eine unkomplizierte Identität zwischen beiden Namen angedeutet, wobei im Interview deutlich wird, dass das Pseudonym die Aufmerksamkeit auf bestimmte Charaktereigenschaften der bürgerlichen Person Nina Sonnenberg lenken soll. Der KünstlerInnenname der Rapperin Pyranja [py'ranja] lässt sich mit dem Namen eines Fischs assoziieren, welcher vom Duden definiert wird als ein „in südamerikanischen Flüssen lebender kleiner Raubfisch mit sehr scharfen Zähnen, der in einem Schwarm jagt und seine Beute in kürzester Zeit bis auf das Skelett abfrisst.“ 536 Der Name des Fischs wird dabei bei beinahe gleicher Aussprache anders geschrieben als der KünstlerInnenname, nämlich Piranha [pi'ranja]. Die Wahl des KünstlerInnennamens legt nun eine Übertragung der Eigenschaften des Fischs auf die Künstlerin nahe: Piranhas vernichten ihre ‚Gegner‘ schnell und vor allen Dingen mittels ihrer scharfen Zähne (als Metapher für die ‚scharfen Worte‘ der Rapperin). Dementsprechend gibt es auch einen Rap auf dem Debütalbum von Pyranja, Wurzeln und Flügel (2003), welcher den Titel Angriff und Verteidigung (piranhas) trägt und die Bilderwelt der Fischexistenz mit Battle-Metaphern 537 der HipHop-Szene durchsetzt. Dabei steht im Rap ein Ich als angriffslustiger Fisch einem apostrophierten gegnerischen Du gegenüber, das über die erwähnten Füße, Lungenflügel und Kopf als Mensch gesetzt wird: Refrain: Ey pass bloß auf, dass du nicht in meiner Aura auftauchst […] 1. Strophe: Yo, ich leb’ in der Stille der Gewässer mit Blutsbrüdern und Schwestern, such’ Opfer und stress’ dann, fress’ mein Festmahl, erst mal check’ ich die Gegend, kenn’ weder Nebel noch Regen und folg’ dem Beten der Verwesenden / Benehme [sic! ] dich nicht daneben, denn ich gebe nichts auf Tränen, wenn Du Probleme brauchst / Du steckst schon drin, oh Shit! Wo ist der Halt unter den Füssen? Massig Wasser in Lungenflügeln, fängt an / Sich rot zu trüben, doch anstatt dich tot zu prügeln, kommt dein Kopf in diesen Kübel! Übel zugerichtet wär’ untertrieben für deinen Zustand / […] Wie 536 Duden. Bd. 5. Das Fremdwörterbuch. 8., neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim/ Leipzip/ Wien et al. 2005, S. 804. 537 Klein und Friedrich bezeichnen den HipHop als „Kampfspiel“ (in: Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop, Anm. 5, S. 190). Dementsprechend sind in der HipHop-Kultur die sogenannten Battle-Raps weit verbreitet, d. h. Texte, „mit denen der jeweilige Rapper beweisen möchte, dass er der Allergrößte ist und beim Publikum am besten ankommt. In diesen Texten geht es weniger um konkrete Inhalte als um ausgefallene Reime (rhymes), komplexe Rhythmen (flow) und kunstvolle Metaphern und Vergleiche (skillz). […] In diesen BattleRhymes [sic! ] sind die Geschichte, die Entwicklungen, Freundschaften und Streitereien unter den Rappern überliefert und kommentiert“ (in: Verlan, Rap-Texte, Anm. 183, S. 25; Markierung aus dem Original nicht übernommen, Anm. A. B.). 6.2 Der Name und die Referenz 121 bei Flugangst, du bist der Stargast dieses Blutbads, Hut ab! Ich registrier’ ja, dass du Mut hast, doch mein Hunger ist halt zu krass! […] (Py 8). Über den Titel des Raps (und die mehrfache Nennung des Wortes ‚Piranhas‘ im Text) und die Beschreibung der Existenzweise des Fischs wird eine Verbindung zwischen dem Ich im Text und dem Namen auf dem Cover (dem Ich vor dem Text) aufgebaut. Der Name erhält dabei nicht nur ein ‚Gesicht‘, sondern wird über die für die HipHopwie Fischwelt passenden Metaphern auch näher beschrieben. Als Beispiele für die Fisch-Metaphernwelt seien genannt: das ‚Auftauchen‘ in der Aura, das Leben in der ‚Stille der Gewässer mit Blutsbrüdern und Schwestern‘, das Fressen des Festmahles u. a. Die dem Piranha zugeschriebene Grausamkeit und Blutrünstigkeit werden dabei zu Eigenschaften des Ich. Auf ähnliche Weise wird dieser Eindruck mit Track 19 des Debütalbums verstärkt, welcher den apokalyptischen Titel Anfang vom Ende (Py 19) trägt und kein Lied darstellt, sondern einen sogenannten Skit. Darunter wird eine kurze, hörspielartige Szene verstanden, die auf Rap-Alben oftmals als Intro oder Zwischenstück eingesetzt wird und in vielen Fällen satirischen Charakters ist. 538 Im Falle von Anfang vom Ende werden einzelne Dialogteile (aus einem Film? ) zu einem neuen Dialog gesampelt und mit einem Beat unterlegt; hier ein Auszug aus dem Dialog: Mann 1: Wir haben die Gene verschiedener Arten gekreuzt, um einen ganz neuartigen Killerfisch zu entwickeln. […], damit er außerhalb des Wassers leben kann. […]. Mann 2: Das ist vielleicht einer von denen. Frau 1: Nein, die haben mit einem Süßwasserfisch experimentiert. Aus der Piranha-Familie, glaube ich. […]. Mann (? ): 539 Hören Sie das Geräusch? Frau 1: Wir müssen das sofort melden. Du musst mitkommen, um den Leuten die Gefahr klarzumachen. Mann (? ): Es steckt zu viel Geld in der Sache, das müssen Sie verstehen. Darüber hinaus glaube ich nicht, dass Ihr kleiner Killerfisch den Weg in mein Gebiet finden wird. Mann (? ): Das sind nicht die Piranhas, die du kennst, die sind viel gefährlicher als du dir vorstellen kannst. Mann (? ): Denken Sie, die würden solche Machenschaften dulden? 538 Vgl. Stefan Neumann: HipHop-Skits. Grundlegende Betrachtungen zu einer Randerscheinung. In: Fernand Hörner und Oliver Kautny (Hrsg.): Die Stimme im HipHop. Untersuchungen eines intermedialen Phänomens. Bielefeld 2009, S. 121-139, hier S. 122. 539 Aufgrund der Sample-Technik sind die einzelnen Stimmen nicht immer bestimmten Personen zuordenbar; die in Klammern angegebenen Fragezeichen signalisieren also, dass die jeweilige Stimme keiner bestimmten Figur zugeordnet werden kann. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 122 Frau (? ): Er hat Recht. Die Regierung würde doch versuchen, sich von diesen bösen Spielchen zu distanzieren (Py 19). In diesem Dialog geht es um die Entwicklung eines neuen Killerfischs, welcher gefährlicher als andere ist und auf dem Land leben kann. Selbst die Regierung würde ein solches Experiment nicht dulden, und es steckt viel Geld dahinter: Diese Hinweise wie auch die Erwähnung der Piranha-Familie stellen Bezüge zum Ich vor dem Text her, das als zukünftiger Star auch Geld haben, in vielen Gebieten bekannt sein und eine Haltung gegen die Regierung einzunehmen bereit sein wird. Zudem stellt Piranha/ ‚Pyranja‘ eine neue ‚Züchtung‘ dar, bei der es sich um das erste ‚Produkt‘ einer neuen Sorte sowie auch um eine neuartige Weiterentwicklung bestehender Sorten handelt, die sich allerdings auch von etwaigen ZüchterInnen (Vorbildern? ) emanzipiert hat und außer Kontrolle geraten ist (schließlich kann sie sich frei bewegen und ihren Weg finden). Alle hier gehandelten Eigenschaften und Zuschreibungen können also über den Namen auf das Ich vor dem Text übertragen werden. Der Berliner Rapper Sido wiederum erklärt in einem Interview seinen Künstlernamen zu einem Akronym: Früher hieß Sido ‚Scheiße in dein Ohr‘, aber das fand ich dann ein bisschen behindert und habe mir etwas Neues überlegt. Und da hat einfach nichts besser gepasst als ‚Superintelligentes Drogenopfer‘. 540 Sido gehört zu den wenigen RapperInnen, welche ihren bürgerlichen Namen in den Alben als Verfasserhinweis und auch in Interviews (zumindest für längere Zeit) nicht genannt haben, so dass eine Diskussion um des Rappers ‚tatsächlichen‘ bürgerlichen Namen entbrannt ist. 541 Zudem trat Sido in den ersten Jahre seiner Karriere nur mit einer Maske (mutmaßlich zur „Identitätsverschleierung“ 542 ) auf die Bühne, sein Debütalbum trägt dementsprechend auch den Titel Maske (2004). Im Vergleich zu den beiden KünstlerInnennamen von Fiva und Pyranja weckt das vermeintliche Akronym ‚Sido‘ keine unmittelbaren Assoziationen vermittels der Lautgestalt. Es bedarf der Beschreibung seitens der KünstlerInnenpersönlichkeit, dieses (auf offenbar veränderliche Weise) aufzulösen. Der Status des Namens als Katachrese wird auf diese Weise deutlich, als Name für etwas, das noch keinen Namen hat, das aber auch niemals vor dem Namen sein kann. 540 Sido zitiert bei Jan Wigger: ‚Bei Mama zu Hause bin ich sehr lieb‘ (Interview mit Sido). In: Galore 9/ 2005, URL: http: / / www.galore.de/ index.php? id=45&interview=149# (Stand: 31.12. 2011). 541 Es scheint also unter den RezipientInnen ein Bedürfnis zu geben, die Pseudonyme aufzulösen, vgl. zur Geschichte von Sidos Pseudonym und seinen vermeintlichen bürgerlichen Namen die Einträge zu ‚Sido‘ in der Online-Enzyklopädie Wikipedia, URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Sido (Stand: 31.12. 2011). 542 Ebenda. 6.2 Der Name und die Referenz 123 Dies trifft in gewisser Weise auch auf Manges zu, dessen KünstlerInnenname (für Personen, welche des Griechischen nicht mächtig sind) ohne Erklärung von Seiten des Künstlers auf dessen Homepage 543 nicht zu dechiffrieren ist: Hier wird im ‚Tagebuch‘ erklärt, manges sei ein griechisches Wort für einen Draufgänger oder gesellschaftlichen Außenseiter in den städtischen Subkulturen Griechenlands. Die Wahl dieses Begriffs zum KünstlerInnennamen scheint dabei zweierlei zu verraten: Einerseits setzt sich hier ein Ich als Angehöriger einer Subkultur resp. eines gesellschaftlichen Außen, was - wie in Kap. 3 ausgeführt - zum grundlegenden Selbstverständnis vieler sich dem HipHop zugehörig Fühlender zählt. Andererseits wird das Ich, das diesen Namen trägt, in der Kultur Griechenlands verortet. Dementsprechend wird auf der Homepage erklärt, der Rapper Manges sei in Griechenland geboren, wiewohl später in Deutschland aufgewachsen. Auch findet sich an gleicher Stelle eine Erklärung für den bürgerlichen Namen des Künstlers. Die Eltern, so heißt es, hätten Manges (Markos Koderisch) nach dem berühmten Rembetiko-Musiker Markos Vamvakaris benannt: Auf diese Weise wird also auch der bürgerliche Name innerhalb einer musikalischen Tradition verortet. 544 Die über den Namen vermittelten Hinweise auf das Ich vor dem Text werden zusätzlich dadurch ergänzt, dass in vielen Fällen vom Namen auf das Geschlecht dieses Ich geschlossen werden kann. Der KünstlerInnenname ‚Manges‘ ist in diesem Falle sicherlich am schwierigsten einzuordnen. Die Morpheme am Ende der Namen Fiva, Pyranja oder Sido hingegen rufen Konventionen bezüglich der (nicht nur) deutschsprachigen geschlechterspezifischen Namensgebung auf: So gelten Namen, welche auf ‚a‘ enden, üblicherweise als weiblich, während Namen auf ‚o‘ männlich konnotiert sind. Damit wird deutlich, dass aufgrund der Tatsache, dass (KünstlerInnen-)Namen geschlechtliche Konnotationen hervorrufen, die Prosopopöie als geschlechtlich differenzierende Figur zu lesen ist. Es wird kein geschlechtlich neutrales Gesicht gesetzt, sondern ein männliches oder weibliches, wie auch Babka in Bezug auf Lacan bestätigt: Die Frage des Namens ist insofern von Gewicht, als sich, nach Lacan, die phantasmatische Integrität des Körpers nur dadurch erhalten kann, in dem sie der Sprache ausgesetzt wird und auf diese Weise sexuell markiert, das heißt differenziert wird. Körper werden ‚ganz‘ durch Namen, durch den performativen Akt der Benennung. 545 Wenn durch den Namen ein intelligibles Subjekt (das einen Körper ‚besitzt‘ oder im eigentlichen Sinne aus diesem Körper besteht) gesetzt wird, so steht fest, dass dieses in der Gesellschaft nur als intelligibles Subjekt gilt, wenn es 543 Vgl. URL: http: / / www.manges.biz (Stand: 31.12. 2011). 544 Zur Rembetiko-Musik siehe die Ausführungen zum Intro-Kapitel von Manges auf S. 150f. in diesem Band. 545 Babka, Unterbrochen (Anm. 502), S. 57. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 124 innerhalb des gängigen binären Systems einem Geschlecht zuordenbar ist: 546 Das obige Zitat macht deutlich, dass der Körper nur ‚ganz‘ wird, wenn er geschlechtlich differenziert ist. Die bisher dargelegten Ausführungen zur Funktion des (KünstlerInnen-)Namens im Rap zeigen, dass dieser seinen Status als Prosopopöie bestätigt, indem er die/ den KünstlerIn als solche/ n setzt wie auch (ansatzweise) beschreibt. Informationen über das Geschlecht wie auch über vermeintliche Charaktereigenschaften des Ich vor dem Text werden gegeben. Die Tatsache allerdings, dass viele Informationen nur über Homepages oder Interviewaussagen deutlich werden, macht offensichtlich, dass es neben der Nennung des Namens auf dem Cover (in Musikdatenbanken etc.) noch weiterer rhetorischer Strategien bedarf, um die Referenzbeziehung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text zu stärken. Dazu gilt es, eine Ebene weiter - in den Text - zu schauen. Auch hier spielt zunächst der Name eine große Rolle. 6.2.2 Der Name im Text Die für alle Musikgenres übliche Praxis der Nennung des Namens auf dem Cover wird im Rap mit einer wiederholten Nennung des Namens in den Texten gekoppelt: „Examples of such naming are endless“ 547 , so Tricia Rose. Die Nennung des Namens der KünstlerInnen in vielen Raps hat die offensichtliche Funktion, den Subjektstatus dieser mittels des Namens gesetzten KünstlerInnen-Figuren immer wieder zu bestätigen und die Beziehung zwischen Ich im Text und vor dem Text zu intensivieren: Pyranja und fiva wir machen gross was einst klein war / wir sind bis hierher gekommen und es war nicht immer einfach / ich bin nicht aggro und böse nein ich lass alles bloss raus / und ich mach weiter meine platten egal wie viel ihr davon kauft (Fi 14). Hier sind radrum und fiva weil’s längst an der zeit war / von der küche zum cypher übers studio bald live ja / zwei jahre album zwei ein dj ein mc / ich text er cuts und beats das team macht noch musik (Fi 21). Wer rappt? Pyranja …für alle die meinen Weg verstehen / Wer rappt? Pyranja… für Fans die mehr als Videos sehn / Wer rappt? Pyranja… damit Rap wieder was bewegt […] (Py 2). Hier kommt Pyranja für die Leute da draußen, für euer zu Hause. Pyranja bringt euch alle zum Bouncen. Pyranja für alle. Pyranja hat euch nix zu beweisen. Pyranja bleibt die Nummer eins, egal ob laut oder leise / Ich brauch’ nicht alles auf einmal, ich will von allem ein bisschen […] (Py 22). 546 Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main 1997 [1993], S. 31f. 547 Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 87. 6.2 Der Name und die Referenz 125 Aus’m Weg, jemand hat Sido wiederbelebt / lasst ihn durch nach vorne / er hat euch was zu sagen […] (Si 2). Erschreck dich nicht, Sido ist schrecklich frisch / ich hab dir schon auf’m ersten Tape gesagt, dass du zu hässlich bist (Si 5). Manges…. Marko, Marko, Marko, kannst du versteh’n, dreh die Musik so laut, dass die Nachbarn an die Decke geh’n / Merkwürdig, es ist unangenehm, viele Leute kennen, aber die können mich net versteh’n […] / Der Marko ist jetzt am Drücker (Ma 4). Ich weiß nur eins / ich will in den Himmel und in die Charts, wie war der Name? Marko ist am Mic, ist er wirklich so tight? (Ma 5). Wie das letzte Beispiel zeigt, wird in den Texten von Manges der bürgerliche Name als Synonym zum KünstlerInnennamen quantitativ sogar öfter als Referent für das Ich genannt. Die Texte spielen also mit dem Referenzwert der beiden Namen. In einem Track von Sido hingegen geht das Ich im Text auf die Diskussionen um den ‚wahren‘ bürgerlichen Namen des Ich vor dem Text ein: Ihr hattet eure Chance, ich war zwei Jahre weg / Doch es wird mal wieder Zeit, dass ihr meinen Arsch leckt / Ich will, dass ihr euch wieder das Maul zerreißt darüber, ob er nun Siegmund oder Paul heißt (Si 20). Im folgenden Text von Fiva, in welchem ein Ich an vergangene Zeiten mit Freundinnen/ en in München denkt, für welche das Ich nicht Fiva, sondern Nina heißt, werden die Namen in unterschiedliche narrative Bezüge gestellt, wobei beide Namen das gleiche Subjekt setzen: Wenn ich an euch denk denk ich an sommer auf wiesen liegen / bier genießen reden bis die worte fließen wie die isar / in der stadt die nie berlin war großes dorf mit schickeria / hier nicht fiva sondern nina geh gern weg und komm gern wieder (Fi 33). Wie insbesondere die Beispielliste oben zeigt, wird bei der Namensnennung in den Texten (oft übergangslos) zwischen Bezeichnungen in der ersten und dritten Person gewechselt. Die Verwendung der dritten Person weist dabei auf eine Objektivierung des eigenen Ich im Sprechen über sich selbst hin. In einigen Fällen (insbesondere, was die Intros der Alben betrifft) aber wird die Nennung des Namens auch gesampelt, der Name wird also von einer anderen Person gesprochen: This is Fiva MC and DJ Radrum (Fi 3). Jasu, Marko […] (Ma 1). Aus Berlin, hier ist Sido (Si 20). Pyranja […] (Py 1). 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 126 In Bezug auf die Verwendung des Namens gilt nach Butler, dass der Gebrauch der Sprache ermöglicht wird, indem man zuerst beim Namen genannt wurde; die Besetzung des Namens ist das, wodurch man, ganz ohne eine Wahl, im Diskurs situiert wird. Dieses ‚Ich‘, das durch die Häufung und die Konvergenz solcher ‚Rufe‘ hervorgebracht wird, kann sich nicht selbst aus der Geschichtlichkeit der Kette von Anrufungen herauslösen oder sich aufrichten und sich mit jener Kette konfrontieren, so als sei sie ein Objekt, das mir gegenübersteht, das ich nicht bin, sondern nur das, was andere aus mir gemacht haben. 548 Diese Ausführungen beanspruchen nur in Bezug auf den bürgerlichen Namen und die Konstitution des menschlichen Subjekts generell Gültigkeit, das durch Interpellation ins Leben gerufen und gleichermaßen in Diskursfeldern situiert wird. Im Rap allerdings werden diese Diskursstrukturen der Interpellation übernommen, d. h. imitiert: Der Name wird präsentiert, mittels der Technik des Samples werden Stimmen der KünstlerInnen mit anderen Stimmen zusammengeschnitten, wobei es auch hier Wechsel zwischen der ersten (‚Ich bin…‘) und dritten Person (‚Das ist…‘) gibt. Der Name wird eingeführt, meist unter Bezugnahme auf die Einzigartigkeit der künstlerischen Fähigkeiten der RapperInnen, wobei naturgemäß diese Strukturen der Interpellation bei den Intros der Debütalben von besonderer Wichtigkeit sind. 549 Das Sampling der fremden (oder auch eigenen, aber in einen verfremdenden Zusammenhang gestellten) Stimmen dient dem Zweck, die KünstlerInnen in einen (musikalischen) Kontext einzuführen, sie vorzustellen. Im Falle von englischsprachigen Samples wird dabei auch Bezug auf die USamerikanische, englischsprachige Mutterkultur des HipHops/ Raps genommen. Die KünstlerInnen werden als solche im Feld gesetzt, wobei die Verwendung (mutmaßlich) fremder Stimmen dazu führt, die KünstlerInnen als Subjekte als bereits von anderen anerkannt zu demonstrieren, schließlich kann ein Subjekt nur ‚existieren‘, wenn es von anderen anerkannt wird, wie wiederum Butler bestätigt: In der Tat kann ich nur in dem Maße ‚Ich‘ sagen, in dem ich zuerst angesprochen worden bin und dieses Ansprechen meinen Platz in der Rede mobilisiert hat. Paradoxerweise geht die diskursive Bedingung für soziales Wiedererkennen der Bildung des Subjekts vorher und bedingt es: Wiedererkennen wird einem Subjekt nicht zuteil, sondern bildet jenes Subjekt. 550 Durch das Zitat der fremden Stimmen wird (durch die Figur der Prosopopöie) der Eindruck erweckt, es gebe diese Personen, die nun den Namen der 548 Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 174 (Markierung dem Original entnommen). 549 Vgl. dazu die Introanalysen im Exkurs zu Kap. 6, S. 148ff. in diesem Band. 550 Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 310 (Markierung dem Original entnommen). 6.2 Der Name und die Referenz 127 RapperInnen wiedererkennen und ihn den HörerInnen mit den vermeintlichen Qualitäten der dahinter stehenden Person vorstellen. Es gilt in diesem Zusammenhang allerdings einzuwenden, dass jene Stimmen, welche die KünstlerInnen als solche setzen, von den KünstlerInnen als HerausgeberInnen beim Aufnehmen gewählt werden, sodass also die KünstlerInnen selbst ‚verantwortlich‘ für die fremden, gesampelten Stimmen sind. Auf diese Weise stellen die Namensnennungen über die Zusammenstellung der Samples in der dritten Person im eigentlichen Sinne eine Selbst-Autorisation oder nach Wagner eine „Selbst-Inthronisation“ 551 dar, welche sich als Anrufung tarnt, indem jene im Alltagsleben stattfindenden Mechanismen der Interpellation des Subjekts übernommen werden in dem Wissen, dass ein Subjekt die Anerkennung und Bestätigung von anderen braucht, um als intelligibel zu gelten. Auf diese Weise werden durch das Sampeln von Stimmen, welche in der dritten Person über die KünstlerInnen sprechen, mittels der Prosopopöie Subjekte gesetzt, deren scheinbarer/ illusionärer Charakter (der allen Subjekten inhärent ist) umso deutlicher wird, als sie im eigentlichen Sinne auf die KünstlerInnen selbst verweisen, welche diese zitieren, um sich selbst als Subjekt zu konstituieren. 6.2.3 Selbstreferentialität im Text Die Selbstreferentialität von Rap-Texten wird neben der multiplen Erwähnung der Namen durch unzählige Verweise des Ich im Text auf das eigene Schaffen ergänzt und verstärkt. Diese Selbstreferentialität in Bezug auf die eigene künstlerische Tätigkeit erfolgt je nach RapperIn innerhalb verschiedener narrativer Stränge: Einerseits setzt sich ein Ich als RapperIn in der Musik- Szene, andererseits wird auf das Schreiben selbst, das Leben als AutorIn Bezug genommen, oder aber es wird in den Vordergrund gestellt, dass Rap ein neues Leben (mit viel Geld) ermöglicht hat. Für die für diesen Band gewählten Beispiele lässt sich in diesem Zusammenhang feststellen, dass die Anzahl an selbstreferentiellen Angaben in den Debütalben größer ist als in den nachfolgenden Werken, was darauf schließen lässt, dass es in den Debütalben wichtiger erscheint, den Bezug zwischen Ich im und vor dem Text zu stärken: Fiva (2002): Spiegelschrift (11/ 4: in 11 von 15 Raps gibt es selbstreferentielle Angaben): 552 Fi 3, 4, 5, 6, 8, 9, 11, 13, 14, 16, 17. Fiva (2006): Kopfhörer (7/ 9): Fi 20, 21, 23, 24, 26, 33, 35. Pyranja (2002): Wurzeln und Flügel (15/ 4): Py 1, 2, 3, 4, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 17, 18. 551 Wagner, Erzählstimmen und mediale Stimmen (Anm. 466), S. 148. 552 Wenn die Angaben der Anzahl der Lieder mit der Anzahl an Tracks auf dem Album (siehe Bibliographie) nicht übereinstimmt, liegt das daran, dass es auf einigen Alben auch instrumentale Tracks gibt, die in die Auflistung nicht eingerechnet wurden; für das Siglenverzeichnis der Raps siehe die Bibliographie, S. 347ff. in diesem Band. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 128 Pyranja (2006): Laut und leise (6/ 8): Py 21, 22, 24, 25, 27, 32. Manges (2003): Regenzeit in der Wüste (14/ 9): Ma 1, 2, 3, 4, 5, 9, 11, 14, 17, 18, 21, 22, 25, 27. Manges (2004): Paradies/ Versuche (3/ 5): Ma 28, 29, 31. Sido (2004): Maske X (15/ 3): Si 1, 2, 5, 6, 7, 8, 9, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19. Sido (2006): Ich (12/ 6): Si 20, 21, 25, 26, 27, 28, 32, 34, 35, 37, 38, 40. Diese schiere Masse an selbstreflexiven Angaben zum eigenen Tun zusammen mit den Nennungen der Namen zeigt die Wichtigkeit im Rap, das Ich im Text mit dem Ich vor dem Text zu verbinden und dieses auf diesem Wege als KünstlerIn (als RapperIn, MusikerIn oder AutorIn und ErzählerIn) zu setzen. Bei allen vier hier vorgestellten KünstlerInnen ist dabei ein Alternieren in Bezug auf das verwendete Medium der Schrift (Beispiele siehe unten) oder der gesprochenen Sprache (Beispiele siehe unten) festzustellen, wiewohl das Medium keinen Ausschlag darüber zu geben scheint, wie ‚authentisch‘ die Texte sind, d. h. welchen Bezug die Texte und das Ich im Text zum Ich vor dem Text aufweisen. Schließlich finden in Verbindung mit beiden Medien ähnliche rhetorische Strategien der Authentisierung Anwendung. Sowohl in Verbindung mit Hinweisen auf das Sprechen/ Singen/ Erzählen der Texte als auch auf das Schreiben der Texte gibt es wiederholte Verweise auf den Körper des Ich oder auch auf den Körper der implizierten HörerInnen: Rap als körperliches Sprechen: „[I]ch lass alles bloss [sic! ] raus“ (Fi 14), „ich bin bewegungsloser stummfilm mit musik im kopf / und spühr [sic! ] nur wie mein fuss am boden jeden beat mitklopft (Fi 20), „Wenn der Marko Worte erbricht“ (Ma 4), „ Kapitel 1: Was Rap ist? Die Stimme über dem Beat“ (Ma 11), „S wie der Stress, den du kriegst, wenn ich am Mic bin“ (Si 2) 553 , „Komm, mach das laut - bounce - ich steh’ drauf, stand früh am Mic und nehm’ seitdem was geht auf“ (Py 11), „Aus’m Weg, jemand hat Sido wiederbelebt / lasst ihn durch nach vorne / er hat euch was zu sagen […]“ (Si 2), „Pyranja bringt euch alle zum Bouncen. Pyranja für alle. Pyranja hat euch nix zu beweisen. Pyranja bleibt die Nummer eins, egal ob laut oder leise“ (Py 22). Rap als köperliches Schreiben: „Doch bin krank denn ich schrieb bis zum inneren Krieg“ (Fi 5), „Gut sein kommt vom üben und solang mich diese lieben / die wert darauf legen dass meine texte handgeschrieben sind“ (Fi 13), „Ich 553 Interessanterweise wird das Mikrophon deshalb zum Körper gerechnet, weil ein Mikrophon als Verstärkung der Stimme benötigt wird, d. h. ein Mikrophon impliziert eine Stimme und damit einen präsenten Körper dahinter. Frith führt aus: „One effect of microphone use is to draw attention to the technique of singers as singers in ways that are not, I think, so obvious in classical music or opera, as they move with and around the instrument, as volume control takes on conversational nuances and vice versa. Another is to draw attention to the place of the music, to the arrangement of sounds behind and around it […]” (in: Frith, Performing Rites, Anm. 68, S. 188; Markierungen dem Original entnommen). Exkurs: Albumspezifische Textsorten 129 nehm’ den Pen in die Hände und wende das Blatt […] / verlinke die Worte und sinke ein“ (Ma 11), „Deswegen setz ich mich an meinen Schreibtisch und schließ mich für sieben Jahre in mein Zimmer ein / Oh, Mann, Rap so zu schreiben, wie ich ihn mein’ / dabei kommt es darauf an, was du fühlst“ (Ma 25), „Ich schreib mit leichtigkeit dass [sic! ] was sich reimt und gut passt / doch halt das gleichgewicht im satz nur mit hilfe vom bass“ (Fi 8), „Fieberhaft getrieben wird geschrieben“ (Py 4), „Ich hab die Seele aus mir raus geschrieben Tag und Nacht“ (Si 40), „Meine Texte schreibt das Leben / Ich brauche nur einen Stift in die Hand zu nehmen (Si 1). Gerade über diese Bezugnahme auf den Körper wird auch der Charakter der im Rap produzierten Stimmen als Prosopopöie, als Figur, welche nicht nur ein Gesicht sondern einen Körper verleiht, deutlich. Dabei zeigt sich auch die rhetorische Verfasstheit der Materialität des Körpers, gleichwohl, ob der Text gelesen oder gehört wird. Exkurs: Albumspezifische Textsorten Wie bereits erwähnt, erzeugt der Weg der Veröffentlichung eines Rap-Liedes Unterschiede bezüglich der Referenzbeziehungen zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text. Im folgenden Exkurs sollen zwei Textsorten untersucht werden, welche in Bezug auf das publizierte Album von Wichtigkeit sind, da sie nur abhängig vom Tonträger ein Publikum erreichen: der Titel des Albums (in Kombination mit der Covergestaltung) und das Intro (als Einleitungsstück des Albums). Diese Textsorten werden hier untersucht, da sie bislang kaum akademische Aufmerksamkeit 554 auf sich gezogen haben, aber aufgrund ihrer speziellen rhetorischen, poetisch-ästhetischen Strukturen im Zusammenhang dieser Untersuchung höchst interessant sind. Die Titel (und Albumcover) Genette bezeichnet den Titel eines Werkes als „Kommunikationsinstanz“, welche aus „einer Mitteilung (dem Titel als solchen), einem Adressanten und einem Adressaten“ 555 besteht. Die/ Der AdressatIn ist die/ der vermeintliche KünstlerIn als Ich vor dem Text, während die/ der AdressantIn das intendierte Publikum darstellt. Wenn also nun gesagt wird, die/ der KünstlerIn stelle die/ den AbsenderIn dar, so zeigt sich, dass auch der Titel die Funktion innehat, diese/ n als solche/ n zu setzen, zu instituieren als intelligibles Subjekt, das mit dem Kunstwerk etwas mitteilen möchte. Der Titel trägt im Sinne Bals auch dazu bei, das Kunstwerk selbst als Zeichen zu konstituieren. 556 554 Eine Analyse zum Textphänomen des Intros findet sich bei Neumann, HipHop-Skits (Anm. 538), S. 121-139. 555 Genette, Paratexte (Anm. 529), S. 75. 556 Vgl. Bal, Kulturanalyse (Anm. 159), S. 37. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 130 Was aber teilt nun der Titel des Albums mit? Einerseits stellt der Titel eines Albums einen Namen dar, mittels dessen es identifizierbar wird: Der Name setzt - wie wir das bereits für die/ den KünstlerIn ausgeführt haben - das Album als solches, als Kunstwerk, aber da - im Gegensatz zum Eigennamen - Titel nach Bühler meist aus sprachlichen Zeichen des Symbolfeldes bestehen, haben sie auch eine Repräsentationsfunktion, d. h. die Signifikanten haben eine Bedeutung, die Schlüsse auf den zu erwartenden Inhalt des Kunstwerks erlauben. Genette unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen thematischen Titeln, welche auf das Thema des Werkes (wie z. B. Krieg und Frieden) vorgreifen, und rhematischen Titeln, welche aus Gattungsbezeichnungen (z. B. Oden oder Gedichte) oder anderen formalen Eigenschaften des Werkes (wie z. B. Das Dekamerone) bestehen. 557 Im Folgenden gilt es nun die acht Titel der in diesem Band untersuchten Alben zu analysieren, wobei in den Vordergrund gestellt werden soll, welche Erwartungen die Titel zu wecken in der Lage sind. Da es bei Musikalben zwar Genrebezeichnungen, die ein Album einer bestimmten (Populär-)Musikrichtung zuordnen, aber keine Bezeichnungen dafür gibt, in welchem Bezug die KünstlerInnen zum Inhalt des Albums stehen (vgl. die Bezeichnungen Roman oder Autobiographie in der Literatur), ist im Zusammenhang dieser Ausführungen die Frage von besonderem Interesse, ob es im Titel selbst Hinweise für eine Verbindung zwischen den mittels der Alben gesetzten KünstlerInnen (den Ichs vor dem Text) und den Ichs im Text gibt. Da sich der Titel am prominentesten auf dem Albumcover ausnimmt, soll dessen visuelle Gestaltung in die Analyse miteinbezogen werden. In Bezug auf das Cover gilt es Verhältnisse zwischen Bild und Text auszuloten, d. h. Fragen danach, in welchem Maße sich diese beiden medialen Systeme in ihrer Aussage beeinflussen, verstärken oder konterkarieren. Unter den KünstlerInnennamen Fiva MC/ DJ Radrum wurden zwischen 2002 und 2006 zwei Alben veröffentlicht: Spiegelschrift (2002) und Kopfhörer (2006). Das Album Spiegelschrift enthält 16 Titel, wobei sich eine Titelliste (mit Angaben der Dauer der Raps) auf der Hinterseite des Albumcovers befindet. Der Titel des Albums Spiegelschrift (2002) stellt nun eine Kombination eines thematischen wie rhematischen Titels dar: Zunächst bezeichnet das Wort ‚Spiegelschrift‘ im Alltagsgebrauch eine ‚gespiegelte‘ Schrift. Normalerweise werden dabei die Buchstaben und schließlich die Wörter im Ganzen um die vertikale Achse, also um 180 Grad gedreht, sodass die Schrift nunmehr von rechts nach links verläuft. Auch eine Spiegelung entlang der horizontalen Achse ist möglich, allerdings stehen die Buchstaben dann von links nach rechts verlaufend ‚auf dem Kopf‘. Interessanterweise wurden beide Möglichkeiten auf dem hier besprochenen Albumcover kombiniert: Das Wort ‚Spiegelschrift‘ ist einmal in normaler, lateinischer Schreibweise zu finden und einmal um die vertikale Achse gespiegelt. Angeordnet werden die beiden 557 Vgl. Genette, Paratexte (Anm. 529), S. 82-89. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 131 Wörter allerdings übereinander, was auf den ersten Blick betrachtet, den Eindruck erweckt, das Wort sei um die horizontale Achse gespiegelt worden, erst bei genauerem Hinsehen merkt man den ‚Lesefehler‘. Es entsteht der Eindruck, dass die Spiegelung nicht ganz ‚passt‘. Dieser Eindruck wird durch die Farbgebung verdeutlicht, schließlich ist das ‚richtig‘ geschriebene Wort grün, während die Spiegelung weiß, also heller, ist. Die Anordnungsweise der Fotos auf dem Cover folgt ebenso der selben Strategie. Auf dem Cover befinden sich die Abbildungen von einem Mann und einer Frau, welche damit als ReferentInnen für die beiden Namen auf dem Cover gesetzt werden. Die Fotos sind in zwei übereinander liegenden Bändern angebracht, wobei die Köpfe jeweils ins Zentrum des Covers schauen. Während links ‚richtige‘ Fotos postiert sind, machen die rechten Fotos den Eindruck, sie seien (in Fenstern) gespiegelte Fotos, man sieht nur die Silhouette der Figuren. Auch handelt es sich bei den Silhouetten nicht um dieselben Fotos wie bei den linken, die Spiegelung ‚passt‘ wieder nicht. Überhaupt gehen bei diesen beiden Fotobändern, welche durch eine weiße Linie getrennt sind, die Fotos ineinander über, es gibt keine klaren Konturen, wie dies bei einem Spiegelbild normalerweise der Fall ist. Zerlegt man das Kompositum des Titelworts nun in seine beiden Komponenten, so bleibt einerseits die Schrift, welche auf das Schaffen der genannten KünstlerInnen verweist, wobei der Begriff der Schrift in Zusammenhang damit, dass es sich beim publizierten Werk um kein Buch, sondern um ein Musikalbum handelt, für Verwirrung sorgt. Der Spiegel hingegen gibt etwas wieder, das sich in ihm spiegelt, auf scheinbar identische, aber im eigentlichen Sinne gespiegelte, also ‚verkehrte‘ Weise. Die Schrift könnte also zunächst dazu da sein, ein Spiegelbild wiederzugeben, zu beschreiben. Im Normalfall wird ein Spiegel benutzt, um sich selbst anzusehen: Spiegelschrift erscheint in diesem Zusammenhang als Synonym für Autobiographie. Dass der Begriff der Schrift und nicht jener der Rede verwendet wird, kann zum einen auf den Produktionsprozess der Raps hinweisen. Zum anderen könnte es sich um einen Hinweis darauf handeln, dass die Rede der Funktionsweise der Schrift folgt, indem auch in der Rede allgemein verständliche, iterierbare Zeichen verwendet werden müssen 558 und der Rede wie der Schrift eines Ich über sich selbst ein Prozess der Objektivierung des eigenen Ich als Subjekt vorangehen muss: Die Rede sowie die Schrift machen es nicht möglich, ‚sich selbst im 558 Nach Culler bringt „Derrida den Nachweis, dass die Rede bereits eine Form der Schrift ist, wenn man die Schrift durch die Merkmale definiert, die ihr traditionell zugesprochen werden. Beispielsweise wird die Schrift oft als bloß technisches Hilfsmittel zur Wiedergabe der Rede in Inschriften abgetan, die wiederholt werden und in Abwesenheit der die Rede belebenden Bedeutungsintention zirkulieren können; man kann aber zeigen, dass diese Iterabilität die Bedingung jedes Zeichens ist. Eine Lautfolge kann als Signifikant nur funktionieren, wenn sie wiederholt, wenn sie als ‚dieselbe‘ unter verschiedenen Umständen erkannt werden kann. […]. Eine Wortfolge ist nur dann eine Zeichenfolge, wenn sie zitiert werden kann […]“ (in: Culler, Dekonstruktion, Anm. 398, S. 113f.). 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 132 Sprechen zu vernehmen‘, 559 durch die Verwendung von Zeichen ist die Stimme nicht näher beim Sein als die Schrift. Schließlich haben Raps als Plattenaufnahmen auch strukturelle Gemeinsamkeiten mit der Schrift: Sie sind von ihrer/ m UrheberIn getrennt, auch sie sind nur in der Lage, ‚Stimmen‘ ohne einen präsenten Körper wiederzugeben, welcher nur über eine Prosopopöie evoziert wird. Nun wurde oben bereits auf die normalsprachliche Verwendungsweise des Begriffes ‚Spiegelschrift‘ verwiesen: Für Kinder stellt diese eine Chiffriermethode dar. Die Spiegelschrift macht es auch für erwachsene, geübte LeserInnen, wenn schon nicht unmöglich, so doch schwieriger, einen Text zu entziffern. Der Rezeptionsvorgang wird erschwert und damit verlangsamt. Auf diese Weise ist der Spiegelschrift - im Gegensatz zum Begriff der klassischen Autobiographie - auch ein Moment der Verzerrung inhärent: Jacques Lacan geht in seinem berühmten Text über das so genannte Spiegelstadium darauf ein, dass ein Kleinkind über die Betrachtung seines Spiegelbilds ein Ich-Ideal ausbilden würde, dem es nun in seiner Entwicklung als Ich zeit seines Lebens nacheiferte, „denn das Ich der Spiegelerfahrung generiert sich auf imaginärer Basis, wie sie jeder Selbstreflexion eignet“ 560 : Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, dass diese Form [des Ich-Ideals, Anm. A. B.] vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjekts erreichen wird, wie erfolgreich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je), seine Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muss. 561 Für das Album Spiegelschrift könnte dies bedeuten, dass der Titel suggeriert, die Texte des Albums könnten als Spiegelschrift einen Versuch eines Ich (je) vor dem Text darstellen, durch ein Ich im Text die Möglichkeiten des Ich- Ideals (moi) auszuloten. Er erzeugt dabei eine Verdreifachung der Ich- Instanz: Denn der Titel bewirkt eine Verbindung zwischen dem Ich im Text als RepräsentantIn des Ich vor dem Text, das mittels des Texts versucht, sich einem Ich-Ideal anzunähern. Dabei bricht die Verbindung zwischen allen dreien durch die Unmöglichkeit einer Deckungsgleichheit zwischen den Ichs: Zum einen kann das Spiegelbild in der Spiegelschrift nicht erreicht werden, zum anderen stellen sowohl das Ich vor dem Text als auch das Ich im Text vermittels der Figur der Prosopopöie rhetorisch organisierte und damit figurative Setzungen dar. Die Metapher des Spiegels bezeugt also einerseits eine 559 Vgl. Derrida, Grammatologie (Anm. 473), S. 19. 560 Gerda Pagel: Jacques Lacan zur Einführung. 4., verbesserte Auflage. Hamburg 2002, S. 25. 561 Lacan, Das Spiegelstadium (Anm. 407), S. 64. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 133 Sehnsucht nach dem Eins-Sein-Wollen mit sich selbst 562 sowie auch die prinzipielle Unmöglichkeit dieses Unterfangens. Generell vermittelt aber der Titel des Albums, es gehe um eine Auslotung dieser Ich-Instanzen, die Verbindung des Ich vor dem Text zu den Texten wird als persönliche, wenn auch gebrochene hergestellt. 563 Der ‚persönliche‘ Eindruck entsteht zudem durch die Fotos auf dem Cover, welche in der Natur aufgenommen sind. Wiesen und Gräser gibt es in der Umgebung der beiden Personen zu sehen. Lediglich ein Foto ist von einem Auto aus durch die Scheibe hindurch fotografiert, was wiederum einen Bruch der ‚einfachen‘, ungefilterten Naturwahrnehmung zum Ausdruck bringt. Auch dass die Namen der KünstlerInnen in zweifacher Ausführung, einmal in normaler schriftlicher (weißer) Fassung, einmal als (in grün gehaltener) Lautschrift, angegeben sind, zeigt ein grundsätzlich arbiträres Verhältnis zwischen dem gesprochenen und geschriebenen Signifikanten, schließlich gäbe es mehrere Möglichkeiten, diese Namen stimmlich zu realisieren. Auf diese Weise wird aber auch deutlich, dass Sprache die Realität nicht abbilden kann, sondern ein arbiträres System darstellt, das diese erst schafft. Die Tatsache, dass sich neben den in der linken oberen Ecke des Covers angebrachten Namen Berufsbezeichnungen (MC; DJ) befinden, zeigt allerdings eine Einordnung des Albums und der KünstlerInnen in die Rap-Szene. In Kopfhörer (2006), dem zweiten, insgesamt 16 Tracks umfassenden Album von Fiva und Radrum, ist die Verbindung zwischen dem Ich im Text und vor dem Text nicht so klar gegeben. Auch als thematischer Titel scheint der Begriff der Kopfhörer zunächst zu verwirren, da er lediglich auf einen Alltagsgegenstand hinweist: Kopfhörer werden benutzt, um Musik oder Radio zu hören. Dass aber dieser Gegenstand im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, macht die Abbildung von Kopfhörern auf dem Albumcover deutlich. Auf welche Weise können diese Kopfhörer nun Thema eines Albums sein? Im Mittelpunkt steht vielleicht weniger der Gegenstand selbst, als das Musikhören über Kopfhörer, das eine private Tätigkeit darstellt, die allerdings in der Öffentlichkeit ausgelebt werden kann, schließlich benutzt man meist Kopfhörer, um die Menschen in der Umgebung nicht zu belästigen. Der Begriff ‚Kopfhörer‘ weckt also Assoziationen zu Vorstellungen von Privatheit resp. Privatheit in der Öffentlichkeit, Musikhören über Kopfhörer schafft den HörerInnen ‚eigene‘ Welten. Das Album beginnt schließlich nach dem Intro mit dem gleichnamigen Track Kopfhörer, welcher mit den Worten einsetzt: „[I]ch bin bewegungsloser stummfilm mit musik im kopf […] / es gibt mich und die musik und draußen 562 Vgl. Pagel, Jacques Lacan zur Einführung (Anm. 560), S. 31. 563 Natürlich bleibt dieses Angebot einer Spiegelung auch für die/ den Rezipientin/ en offen. Auch sie/ er kann ihr/ sein Ich ausloten, das (niemals vollständig, aber stets gebrochen) im Text gespiegelt wird. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 134 tobt das leben“ (Fi 20). 564 Dieser Vers setzt ein Ich, das über Kopfhörer Musik hört und sich in einer privaten, abgeschlossenen Situation befindet. Musik wird als etwas Persönliches, Privates dargestellt, das einen aus dem Sog des öffentlichen Lebens herauszureißen in der Lage ist, wofür die Kopfhörer das Symbol darstellen. Auf dem Albumcover sind allerdings unterhalb der Kopfhörer die Köpfe der KünstlerInnen (Fiva, Radrum) zu sehen. Die Bilder wurden verfremdet und bestehen nunmehr aus schwarz-weißen Silhouetten, deren Konturen teilweise über Stiftstriche verstärkt wurden. Dass sich unter den Kopfhörern auch Köpfe befinden, legt eine weitere Deutungsmöglichkeit nahe: Unter Kopfhörern gilt es nicht nur den Gegenstand zu verstehen, sondern Personen, HörerInnen, welche mit dem ‚Kopf‘ hören. Von der Musik wird also nicht nur die Gefühlsebene oder der Körper, sondern auch der Kopf, die rationale Ebene, angesprochen („[Ich] hör’ Musik mit meinem kopf, herz und verstand“, Fi 20). Und da Ratio und Reflexion ursächlich mit Sprache verbunden sind, wird auf diese Weise der Aufmerksamkeitsfokus auf den zu vernehmenden Text, welcher die Musik begleitet, gelegt. Auch diese Interpretation findet im Text des ersten Liedes Unterstützung, wenn es heißt: „[H]ier find ich mehr wortschatz als es in all den bars gäbe […] / ich leg platten auf und hör’ in meinen lebenslauf“. Der Text stellt also eine Reflexionsebene zur Verfügung, er vermittelt Informationen über ‚mich‘, die/ den Rezipientin/ en der Musik; ‚ich‘ reflektiere mittels des Textes. Wird aber nur der Titel (ohne ersten Track) betrachtet, dienen als ReferentInnen für diese Personen der KopfhörerInnen weniger die RezipientInnen als die KünstlerInnen (die Ichs vor dem Text). Ihre ‚Fotos‘ werden schließlich auf dem Cover veröffentlicht. Generell wird über das Bild ein Bezug zwischen Albuminhalt und Ich vor dem Text aufgebaut: Auf dem Bild ist eine schräg angebrachte CD zu sehen, welche in ein weißes, fest wirkendes, leicht geripptes Papier eingewickelt ist. Das Papier ist absolut undurchsichtig, man kann also nicht vermuten, wie die CD darunter aussieht: Auf diese Art wird deutlich, dass die Setzung und die Repräsentation eines Produktes unterschiedliche Prozesse sind, die normalerweise dennoch parallel ablaufen. So auch in diesem Fall, wenn auch auf eine künstlerisch verfremdete Weise: Im rechten oberen Eck befindet sich der Name der KünstlerInnen und der Titel des Albums (Kopfhörer). Auf diese Weise scheint es sich bei der verpackten CD um jene zu handeln, die die/ der RezipientIn in der Hand hält. Durch das Papier ist zunächst nichts Näheres zu sehen, der Inhalt scheint fest verpackt. Allerdings tut sich in der Mitte der CD eine Öffnung auf, durch welche explosionsartig ‚Dinge‘ hervortreten: Einerseits die Kopfhörer und die beiden Köpfe, jeweils einmal der Name der KünstlerInnen, aber auch gelbe Flecken, die in Verbindung mit den schwarzen, ebenfalls hervortretenden Strahlen wie 564 Für eine genaue Interpretation des Liedes wie auch dieses Verses siehe die Analyse im Exkurs zu Kap. 6, S. 154ff. in diesem Band. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 135 Sonnenlicht anmuten. Die anderen graphischen Elemente ähneln Blumenblüten und Blättern. Das zweimal in weißer Farbe handgeschriebene Wort ‚Kopfhörer‘ tritt ebenso aus der Mitte wie ein beinah durchsichtiges, aber kariertes, kleines Blatt Papier. Durch das Licht, die Blumen und Blätter werden Assoziationen zur Natur wachgerufen: Das, was aus dem Album springt, ist natürlich, es bringt Licht und Blumen, also ‚schöne‘ Dinge. Der Inhalt wird einerseits naturalisiert, scheint zu leben, andererseits wird über die handschriftlichen Wörter wie das Blatt Papier (wie auch generell über die Verfremdung der Fotos und der anderen Wörter mittels der Stiftstriche) ein Reflexionsprozess dokumentiert. Das Leben wird in den Werken des Albums reflektiert (mittels des Schreibens auf dem Papier). Die Handschrift deutet aber auch an, dass es sich um eine persönliche Auseinandersetzung handelt. Der Inhalt ist privat, er stellt kein industrielles Massenprodukt dar. Auf diese Weise wird den RezipientInnen eine Leseresp. Höranweisung gegeben, auch eine Verbindung zwischen den Ichs vor dem Text und dem zu erwartenden Inhalt wird etabliert. Ein weiterer Grund für die Namensgebung des Albums mag auch die Gründung des Plattenlabels Kopfhörer durch die KünstlerInnen sein: Das Logo befindet sich auf dem Albumcover im linken oberen Eck, zudem ist der Schriftzug (Kopfhörer Recordings) groß in jenem linken CD-Spalt, an dem der Deckel der Hülle befestigt ist, zu lesen. Der Schriftzug ist weiß auf schwarzem Hintergrund und wirkt gleichsam ein wenig erodiert, das Weiß ist an manchen Stellen durchsichtig. Dergestalt scheint der Schriftzug oft ‚kopiert‘ worden zu sein, er wirkt alt, wodurch das (neue! ) Label in seiner Herausgeber- und Repräsentationsfunktion als Autorität gestärkt wird. Insgesamt ist das Wort ‚Kopfhörer‘ fünf Mal abgedruckt, wobei die Häufigkeit der Nennung den Begriff wohl länger im Gedächtnis halten soll. Auf diese Weise scheint die Namensgebung auf marketingtechnische Gründe zu verweisen, durch die Namensgleichheit von Album und Label setzen sich die KünstlerInnen auch als ProduzentInnen, was sowohl ihnen (als Ichs vor dem Text) als auch dem Produkt und Label mehr Autorität verschafft. Sidos Debütalbum Maske wurde 2004 veröffentlicht, allerdings später wegen vermeintlich Drogen verherrlichender Texte indiziert. 2006 wurde es als Maske X (mit insgesamt 18 Titeln) mit gleicher Optik wieder publiziert, allerdings mit einem Track (Endlich Wochenende) weniger, ein Rap (Geh meinen Weg; Si 18) und ein Relax-Mix des Arschf*songs (Si 8) wurden hinzugefügt. Durch den gewählten thematischen Titel Maske wird entgegen dem Authentizitäts-Diskurs im Rap ein Verfremdungsmoment, ein Moment der Inszenierung, ausgedrückt. Eine Maske verhindert, das Gesicht dahinter sehen zu können, wiewohl allerdings der Titel als Prosopopöie zu verstehen ist, da eine Maske ein dahinter stehendes Gesicht evoziert: Wo eine Maske ist, muss es auch ein verborgenes Gesicht, d. h. einen Menschen, geben. Passend zum Motiv der Maske ist weder auf dem Albumcover noch im Booklet des Albums 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 136 ein Foto des vermeintlichen Ich vor dem Text zu sehen. Was der Titel und die Gestaltung des Covers verraten, ist also, dass sich hier ein Ich nur auf verfremdete/ inszenierte Weise präsentieren möchte. Dem entspricht der erste Vers des Refrains des gleichnamigen Liedes auf dem Album: „Ich setz’ die Maske auf und schock’ die Welt“ (Si 5). Dieser Vers konstituiert ein Ich, das sich aus eigenem Willen verfremdet, um die Welt zu schockieren. Das Ich setzt sich also in verdoppelter Form: Als ein souveränes Ich hinter der Maske und ein gespieltes Ich, das durch die Maske hervortritt. Es spielt aber mit dem Moment, dass sich hinter der Maske ein anderes, richtiges Ich verbergen könnte und das Ich vor der Maske nur als Rolle zu verstehen ist. Auf dem Coverbild des Albums ist eine Totenkopfmaske aus Silber glänzendem Metall abgebildet. Diese umfasst nur den Schädel bis zum oberen Kieferknochen, der Unterkiefer fehlt. Der Totenkopf kann u. a. als Zeichen für den Tod, auch für Gefahr (z. B. als Warnhinweis für giftige Stoffe) gelesen werden. Er weckt zudem Assoziationen zur Wissenschaft, indem er als Symbol für das Interesse am Menschen, an seinem Inneren und seiner Beschaffenheit, verstanden wird. Dass der Kopf auf dem Cover aus einem silbermetallischen Material ist, zeigt seine/ n BesitzerIn als LieberhaberIn von Luxus. Der edle, luxuriöse Eindruck wird dabei durch den unter der Maske angebrachten Schriftzug (der den Titel wiedergibt) in geschnörkelter, ornamentaler, weißer Handschrift sowie auch durch das Beet aus roten Rosen, auf dem der Kopf gebettet liegt, verstärkt. Diese Widersprüchlichkeit des silbernen Totenkopf-Signifikanten wird auch auf die anderen Signifikanten übertragen: Die roten Rosen erinnern zum einen an Luxus, zum anderen stellen sie ein Symbol der Liebe dar. Dies korrespondiert mit dem zum Herz stilisierten I-Punkt des Namenszuges von Sido, mit dem in der Praxis des Liebesbriefschreibens oftmals Zuneigung gegenüber den AdressatInnen ausgedrückt wird. Über die beiden Signifikanten (Herz, Rosen) wird also auf den Liebesdiskurs angespielt, die AdressatInnen (der Zuneigung) scheinen (der Tradition gemäß) Frauen zu sein. Da die Praktik des I-Punkts normalerweise von Kindern oder Jugendlichen eingesetzt wird, hat sie etwas Kitschig-Kindliches, was wiederum die Ernsthaftigkeit des Liebesdiskurses sabotiert. Im Lied Maske zeigt sich das Ich als Frauenheld: „Ich hör’ sie laut schrei’n: Da kommt Sido, oh nein / die Männer geh’n, alle schön’ Frauen bleib’n“ (Si 5). Dass die Männer Angst vor dem Ich zu haben scheinen, erinnert wiederum an die Gefahr ausdrückende Totenkopfsymbolik. Der Namenszug auf dem Cover ist handgeschrieben, was ihm den Charakter einer persönlichen Unterschrift verleiht und zur Authentisierung des Produktes beitragen könnte, wenn nicht durch das Herz auch der ernstzunehmende Charakter dieser Unterschrift torpediert würde. Die Unterschrift führt also bis zu einem gewissen Grad zu einer Ironisierung des Sprechaktes des ganzen Albums. So wird der Liebesdiskurs zudem dadurch gebrochen, dass auf dem seitlichen Spalt der CD (an dem der Deckel befestigt ist) ein Exkurs: Albumspezifische Textsorten 137 Zitat aus dem Lied Maske angebracht ist: „Geld, Sex, Gewalt und Drogen…! “, heißt es auf dem Cover. Mit den Worten „Ich bin geboren für das Leben ganz oben“ (Si 5) geht der Refrain im Lied nach diesem Vers zu Ende. Da diese Äußerung gewissermaßen (in der gleichen Schrift wie auch der Namenszug und der Titel) neben dem Namen steht und einem Zitat des Ich im Text von Maske entnommen ist, stellt sie einen starken Bezug zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text (dem Namen) her. Die vier genannten Begriffe erscheinen dabei als Maximen des Ich, die den durch Rosen und Herz eröffneten romantischen Diskurs brechen, aber den des gefährlichen, nach Luxus strebenden Ich stärken. Das Ich setzt sich als BürgerInnenschreck, indem es auf ethische Werte verzichtet und diesen Geld/ Drogen/ Sex und Gewalt entgegensetzt. Auch die Totenkopfmaske selbst trägt schließlich dazu bei - zum einen mittels der seitlich und auf der Hinterseite angebrachten Schlitze, welche den Totenkopf stilisieren, artifiziell wirken lassen, gleichsam einem morbiden Schmuckstück. Zum anderen scheint der Kopf Dellen aufzuweisen, welche wie Ausbeulungen nach Schussverletzungen wirken. Auf die/ den TrägerIn der Maske ist geschossen worden, sie/ er scheint sich in gefährlichem Milieu aufzuhalten. Der Eindruck des gefährlichen Milieus wird zudem durch das auf der rechten, unteren Seite angebrachte Logo 565 des Labels Aggro Berlin verstärkt, dessen ‚o‘ das Schneideblatt einer Kreissäge darstellt und damit die ‚Aggressivität‘ der durch das Label vertriebenen Produkte zum Ausdruck bringt. Diese wird schließlich auch vermittels des auf der linken Seite postierten VerbraucherInnenhinweises Harte Texte bestätigt. Da das ganze Cover in den Farben weiß, schwarz, rot und silbern gehalten ist, passt der schwarz-weiße VerbraucherInnenhinweis farblich sehr gut ins Bild, was zum Ausdruck bringt, dass der Hinweis auch ein stilisiertes Element der Covergestaltung sein könnte. Der Verweis auf die ‚harten Texte‘ scheint gleichsam eine rhetorische Strategie des Ich vor dem Text zu sein, um diese interessant wirken zu lassen. Insgesamt drücken also diverse Ikone auf dem Cover die Aggressivität dieses Ich vor dem Text aus, wobei eine Vielzahl von Zeichen wiederum zur Ironisierung und Stilisierung dieser Elemente beiträgt. Die Verbindung zwischen Ich vor dem Text und Ich im Text stellt eine durchaus gewollt gebrochene und verfremdete dar, wobei sich das Ich als souveränes Ich setzt, das die Macht über seine Setzung und Repräsentation hat. Wiewohl es eine ähnliche Symbolsprache aufgreift, vermittelt Sidos zweites Album Ich (2006), das insgesamt 22 Titel umfasst, zunächst einen anderen Eindruck. Schon der Titel wählt ein gegensätzliches Register: Während die ‚Maske‘ als Zeichen der Chiffrierung dient, so ähnelt die Wahl des Personalpronomens ‚Ich‘ als Titel der Genrebezeichnung einer Autobiographie: Wie- 565 Am rechten oberen Rand befindet sich in kleiner, weißer Schrift folgender Hinweis: „Aggro Berlin präsentiert“. Hier wird ein in der Filmsprache üblicher Autoritätsdiskurs zitiert. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 138 wohl wir bereits darauf hingewiesen haben, dass das Pronomen ‚ich‘ nach de Man (und Hegel) und Benveniste zugleich das „persönlichste“ 566 sowie aufgrund seines Charakters als shifter auch das allgemeinste aller Personalpronomen ist, so stellt es in Zusammenhang mit einem Namen auf dem Cover eines künstlerischen Werkes einen Sprechakt dar, der Assoziationen zu autobiographischem Sprechen nahe legt. Hier scheint ein Ich über sich zu sprechen: Das Wort ‚Ich‘ ist auch unmittelbar unter dem Namen angebracht, weshalb der Name, wie dies in der Dramen-Tradition üblich ist, auch als Sprecher erscheint (Sido: Ich). Dementsprechend findet sich auf dem Cover ein (stark verfremdetes) Foto, das einen Mann mit Bart und Brille zeigt, der sich als Referent für den Namen präsentiert. Der Mann trägt ein weißes Hemd mit schwarzer Krawatte. Obgleich der Hemdkragen etwas gelockert ist, wird, wie auch in Maske, zusammen mit den Farben des Covers (schwarz, weiß, silbern, golden) ein auf den ersten Blick edler Eindruck erweckt. Dass der Name Sido (im gleichen handgeschriebenen Schriftzug wie auf Maske) ebenso wie das Logo von Aggro Berlin in goldenen Lettern erscheint, verstärkt dies. Wiederum aber soll der edle Eindruck anhand mehrerer Signifikanten gebrochen werden: Hinder dem Mann ist eine Backsteinmauer abgebildet, er befindet sich in einem Hinterhof-ähnlichen Umfeld. Ein derartiges Zeichen städtischer Umgebung wird in der Symbolsprache des HipHops als städtischer Kulturpraxis häufig gebraucht. 567 Die Umgebung präsentiert sich als dunkel und sinister, eine Impression, die dadurch verstärkt wird, dass der Mann einen Holzknüppel in der Hand trägt und das linke Brillenglas einen Sprung aufweist. Die Mimik des Mannes macht dazu einen sorgenvollen, anklagenden, aber keinen aggressiven Eindruck. Obwohl die Augen des Mannes auf dem Foto durch den Verfremdungseffekt nicht zu sehen sind, wird durch die Brille der Eindruck erweckt, er würde direkt der/ m BetrachterIn in die Augen sehen. Dabei scheint der Mann den Knüppel in der rechten Hand sowie die (im Vergleich zum Kopf) überdimensional große, silberne Totenkopfmaske in der linken Hand dem Publikum zeigen und damit sagen zu wollen: Das bin ich, diese beiden Gegenstände repräsentieren mich und mein Leben. Das Leben würde demnach aus Gewalt (in Angriff und/ oder Verteidigung) bestehen, wie auch aus dem Leben des Künstlers Sido, für den die schon aus Maske bekannte Totenkopfmaske Symbol ist. Dass das Künstlerleben einen essentiellen Bestandteil des Ich ausmacht, wird dadurch angezeigt, dass die drei Signifikanten Name (Sido), Titel (Ich) und Maske direkt nebeneinander abgebildet sind und eine Trias bilden. Knüppel und Maske stehen im Vordergrund, die Figur des Mannes dahinter, die als souveränes Ich die Facetten seines Ich zu präsentieren in der Lage ist. 566 De Man, Zeichen und Symbol (Anm. 507), S. 48. 567 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 22ff. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 139 Mit dem Namensschriftzug und der silbernen Maske werden, Traditionen aufgreifend, Referenzen zum Album Maske hergestellt, wiewohl das Ich den Eindruck erweckt, sich offenbaren zu wollen: Da es keinen eigenen Track gibt, der Ich heißt, wird somit das ganze Album zum Repräsentationswerkzeug dieses sich setzenden Ich. Dass dieses zu repräsentierende Leben ein hartes ist, zeigen nicht nur Umgebung und Knüppel, sondern wiederum das VerbraucherInnenhinweisschild: Harte Texte. Wiederum ist dieser Verweis mittels des gewählten Lay-Outs perfekt auf das übrige Cover abgestimmt, weshalb er als Äußerung innerhalb der diegetischen Welt des Bildes betrachtet werden könnte: Es ist also - wie auf Maske - nicht klar, wer das Subjekt dieser Äußerung ist. Ist es das vermeintliche Ich vor dem Text, das auf die harten Texte (in Zusammenhang mit seinem harten Leben) verweist, oder handelt es sich um eine Warnung von außen, ist die Äußerung also Teil eines Metadiskurses und Äußerung eines heterodiegetischen Subjekts? Dieses Warnschild ist, ähnlich dem US-amerikanischen Kontext, zu einem Ikon der HipHop-Szene geworden: Will man ‚echten‘ (harten, aus dem Leben gegriffenen) Rap machen, muss das Schild sozusagen auf dem Cover angebracht sein. Dass bei den Sido-Alben das Schild graphisch in das Restbild einbezogen wird, sodass es Gefahr läuft, seinen autoritativen Status zu verlieren, scheint somit eine Brechung dieses Diskurses und auch des autobiographischen Diskurses an sich zu sein. Das Ich vor dem Text erweist sich auf beiden Alben als bewusster Spieler mit dessen Elementen, weshalb die Verbindung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text als brüchige ausgewiesen wird. Pyranjas Debütalbum Wurzeln und Flügel ist 2003 erschienen und umfasst 20 Tracks. Beim Titel scheint es sich um einen thematischen Titel zu handeln, wobei sich als Themata des zu erwartenden Albums zwei Richtungen eröffnen, da beide Begriffe gewissermaßen ein Gegensatzpaar darstellen. Während Wurzeln eine statische Komponente der Bewegungslosigkeit, des Verharrens an einem Ort beinhalten, weisen Flügel auf Fortbewegung, Ziele, Ferne hin. Der Begriff der ‚Wurzeln‘ kann auf diese Weise als Metapher für die Vergangenheit gesehen werden. Flügel hingegen ermöglichen das Fliegen und stellen somit ein Symbol für Bewegung und damit die Zukunft dar. Naheliegender Schluss ist, dass der Inhalt des Albums als Ausgestaltung dieser zeitlichen Dimensionen gedacht ist und Vergangenheit, Zukunft und somit auch Gegenwart eines Ich auslotet. Wie im gleichnamigen Track (Py 16) auf dem Album deutlich wird, scheint sich dieser Eindruck auch zu bewahrheiten. Während die erste Strophe dieses Raps von „Nährboden, Schutzzone, Ruhepol“ spricht, ist in der zweiten Strophe vom „Spuren hinterlassen“ und dem Suchen „eigene[r] Wege“ die Rede. Der Begriff der Wurzeln ist der Botanik entnommen, normalerweise haben Pflanzen und Bäume Wurzeln, die sie an einer bestimmten Stelle in die Erde schlagen. Auf diese Weise erhält der Begriff der Wurzeln im Lied einerseits einen geographischen Aspekt, d. h. dass die Wurzeln einen Bezug zu einem spezifischen Ort („ich spiel’ im Sand, klet- 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 140 ter’ auf Bäume, lieg’ am Strand und bin nur dankbar, dass mir das alles so viel bedeutet“) herstellen. Andererseits kann er auch im figurativen Sinne verstanden werden, d. h. dass die Wurzeln eine Verbindung zu Menschen, zu einem ‚zu Hause‘ zum Ausdruck bringen („Ich halt’ mich fest, wenn es nicht mehr geht / ihr baut mich auf, damit ich steh’ / hört mir zu […]“). Wer dieses Ich ist, dessen Wurzeln und Flügel es zu besprechen gilt, wird über die direkte Kombination des Titels mit dem Namen auf dem Cover und einem darüber liegenden Foto nahe gelegt: Pyranja erscheint als Ich vor dem Text. Die beiden Begriffe des Titels legen damit eine Verbindung zwischen Ich vor dem Text (Name) und Ich im Text nahe. Das Foto nimmt ca. vier Fünftel des gesamten Platzes auf dem Cover ein, es handelt sich um eine Schwarz-Weiß-Fotographie, deren Grautöne leicht ins Rötliche gehen und damit einen ‚warmen‘ Eindruck vermitteln. Zudem ist das Foto an den Rändern ‚ausgefranst‘, d. h. der ansonsten weiße Hintergrund des restlichen Covers diffundiert vermeintlich ins Foto. Auf dieser weißen Hintergrundfläche befinden sich das Foto, der Titel, der Name sowie in der rechten unteren Ecke das Logo des Labels (Pyranja Records), das aus einer stilisierten Frauenbüste und dem Namen ‚Pyranja‘ besteht, in denselben Farben gehalten wie Name und Titel. Hinter allen diesen Elementen sind in hellem Grau handschriftliche Notizen auf der weißen Fläche zu sehen, Wörter sowie Ausgestrichenes. In der/ m Rezipientin/ en wird der Eindruck erweckt, es handle sich um Notizen dieses Ich vor dem Text bei der Textproduktion. Die Handschrift authentisiert damit die AutorInnenschaft der Texte des Albums, indem der Prozess der Entstehung deutlich gemacht wird. Indem das Foto dergestalt unvollständig vom Hintergrund mit den Notizen abgegrenzt wird, wird das Bild in den kreativen Prozess des Schreibens eingepasst: Das Foto und die damit gesetzte Person und der Text/ die Notizen werden zu einer Einheit, sie gehen ineinander über: Die Schrift beschreibt das Foto, wie das Foto spezifiziert, was die Schrift aussagt. Die Frau auf dem Bild wendet ihren ernsten Blick von einer/ m implizierten Rezipientin/ en ab: Sie sieht (aus eigener Perspektive) nach links oben. Licht spiegelt sich in den Augen und auf den Lippen. Die Pupillen der Augen sind sehr groß, weshalb die Augen etwas kindlich und träumerisch wirken. Haut wie Haare wirken sehr hell, zusammen mit dem weißen Hintergrund wirkt die Frau engelhaft: Auf diese Weise verbindet sich das Foto mit dem Begriff der Flügel. Der nach oben gerichtete Blick scheint in die Ferne zu schweifen, in eine Zukunft, die es noch auszugestalten gilt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass mittels des Titels wie auch der Covergestaltung durchaus eine Verbindung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text impliziert wird. Auf weniger ostentative Weise erfolgt dies auf Pyranjas drittem Album Laut und Leise (2006), das 14 Tracks enthält. Dieser Titel vermittelt wenig denotative Informationen, es wird schließlich kein Referenzobjekt für die beiden Adjektive angegeben. Wer oder was ist laut und leise? Indem zunächst Exkurs: Albumspezifische Textsorten 141 auf ‚Lautstärke‘ hingewiesen wird, entsteht ein Bezug zur Musik, wobei die Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Adjektive zum Ausdruck bringt, dass das Album möglicherweise das gesamte Spektrum an Lautstärken abzudecken gedenkt, was nahe legt, dass damit einhergehend die Vielseitigkeit der/ s Referentin/ ens für die Adjektive ausgedrückt werden soll: Schließlich könnten sich die Adjektive auf das Ich vor dem Text beziehen, auf die/ den vermeintliche/ n KünstlerIn, indem der Titel sozusagen als Sprechakt im Sinne einer Selbstsetzung gelesen werden könnte: „Ich bin laut und leise“: ‚Laut‘- Sein impliziert dabei Temperament, Lebensfreude oder auch Aggressivität‚ ‚Leise‘-Sein hingegen Sanftheit, Trauer, möglicherweise Romantik. In den Liedern scheint sich diese Gesamtheit abzubilden. Dass es sich beim Titel um eine Alliteration handelt, verweist hingegen auf ein sprachspielerisches und somit selbstreflexives Element. Auf diese Weise eröffnet der Titel eine Verbindung zum Ich vor dem Text als KünstlerIn, die/ der sich des Umgangs mit Sprache bewusst ist, sei es nun auf semantischer oder akustischer (lautgestalterischer) Ebene. Die/ Der KünstlerIn scheint ihr/ sein Repertoire innerhalb dieses Gegensatzpaares (laut-leise) ausschöpfen zu wollen. Denn wie die Konnotationen zu den beiden Adjektiven zeigen, können diese auch mit möglichen Inhalten in Verbindung gebracht werden. Welche Richtungen nun inhaltlich genau eingeschlagen werden, bleibt offen, bis tatsächlich gehört wird. Der Titel kann somit als Verweis auf die Vielseitigkeit des Produkts aufgefasst werden. Mittels der Fügung der beiden Worte im Titel durch die Konjunktion ‚und‘ wird allerdings auch eine Tradition aufgegriffen: Die jeweils beiden älteren Alben, welche unter dem Namen Pyranja veröffentlicht wurden, sind nach der gleichen Struktur gebildet: „Wurzeln und Flügel“ (2003) resp. „Frauen und Technik“ (2004): In allen drei Fällen werden sozusagen Gegensatzpaare gebildet, wobei jenes des 2004 erschienenen Albums das kontroversiellste darstellt. Zum Titel wird auf dem Cover eine zusätzliche Information bezüglich des Hörprozesses gegeben: die Gesamtlänge aller enthaltenen Titel im Ausmaß von 47 Minuten und 17 Sekunden. Bei akustischen Informationen ist es im Allgemeinen so, „dass die Rezeption […] annähernd in Echtzeit zu erfolgen hat“ 568 , wie Kittler festhält. Es ist zwar möglich, ähnlich einem Buch mit Kapiteln, die Lieder einzeln und in beliebiger Reihenfolge zu hören, allerdings kann man Lieder nicht wie Buchkapitel „an beliebiger Stelle aufschlagen, unterbrechen, beschleunigen oder verlangsamen […], ohne ihren Charakter und ihre Verständlichkeit zu beeinträchtigen.“ 569 Insbesondere die Textver- 568 Wolf Kittler: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas. In: ders. (Hrsg.): Franz Kafka: Schriftverkehr. Freiburg 1990, S. 75- 163, hier S. 126. 569 Ebenda, S. 126. Natürlich ist es auch bei Buchkapiteln so, dass der Charakter des Inhalts durch den Rezeptionsprozess beeinflusst wird, allerdings ist es in der Tat einfacher, die Schnelligkeit des Rezeptionsprozesses zu steuern. Jedoch ist es bei Plattenspielern (z. B. der Marke Technics), die von professionellen DJ/ anes verwendet werden, so, 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 142 ständlichkeit leidet schwer an einer Verlangsamung oder Beschleunigung der Abspielgeschwindigkeit. Es ist zudem üblich, auf Tonträgern die Laufzeit der Lieder auf die Sekunde genau anzugeben, meist erfolgt dies in der Liste der auf einem Album zu erwartenden Lieder auf der Rückseite des Covers. Als unüblich stellt sich allerdings dar, die Gesamtlänge des Albums bereits auf dem Titelblatt anzugeben. Wozu also dient diese Information? Sie kann einfach als Vorbereitung darauf dienen, wie viel Zeit man als RezipientIn mit dem gekauften Produkt verbringen kann. Mittels der Angabe wird ein zeitlicher Horizont eröffnet, innerhalb dessen sich der zu erwartende Inhalt entfaltet. Indem die Zeitangabe direkt unter dem Titel steht, könnte sie auch ein Hinweis darauf sein, dass es nur gelingt, alle Inhalte und Nuancen dieses ‚Laut und Leise‘ zu erfassen, wenn das Produkt als Ganzes rezipiert wird, die volle Zeitspanne hindurch, ohne zu überspringen. Die Angabe könnte also als Rezeptionsanleitung verstanden werden. Die dominantesten Signifikanten des Covers stellen allerdings das Foto (welches den Hintergrund bildet) und der Namensschriftzug, als dessen Referentin sich die Frau auf dem Bild präsentiert, dar. Das Foto zeigt lediglich den Oberkörper, welcher sich nach vorne beugt: Der Kopf ist also am größten abgebildet. Die Augen blicken die/ den Rezipientin/ en direkt an, der Blick ist herausfordernd, scheint die BetrachterInnen abzuschätzen. Insgesamt ist der Eindruck widersprüchlich, so vermitteln die sehr blauen Augen und gelockten blonden Haare mit der rosafarbenen Kleidung einen eher ‚mädchenhaften‘ Eindruck. Dass es sich bei den getragenen Kleidungsstücken um eine sportliche Jacke mit Kapuze handelt, kombiniert mit einer gelben Baseballkappe, zeigt Bezüge zur HipHop-Kultur, in welcher das Tragen sportlicher Kleidung als Zeichen der Szenezugehörigkeit gilt. 570 Durch die Kombination von Sportlichkeit und Mädchenhaftigkeit wird gezeigt, dass hier möglicherweise ein neuer ‚weiblicher‘ Weg im Rap beschritten werden soll, dass sich beide Komponenten nicht ausschließen, sondern in dieser Künstlerin und ihrem Produkt synthetisiert werden. Dem entspricht auch der herausfordernde Blick in Verbindung mit der etwas bedrohlich wirkenden Körperhaltung: Es wird der Eindruck vermittelt, dass mit dieser Person nicht zu spaßen ist, dass eine Diffamierung dieser ‚weiblichen‘ Zugangsweise zu Rap nicht angebracht ist. Der große, weiße Namensschriftzug unter dem Gesicht, aber über Titel und Zeitangabe, zeigt dabei Erosionsspuren: Es scheint sich um einen Stempel zu handeln, der durch das wiederholte Aufdrücken nicht mehr genug Farbe auf- dass die Abspielgeschwindigkeit von Liedern (innerhalb eines gewissen technischen Rahmens) graduell verlangsamt oder beschleunigt werden kann, was durchaus einen (intendierten) Einfluss auf den Charakter des Liedes hat. 570 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 34ff. Dass die Szene- Zugehörigkeit vermittelt werden soll, wird auch über das Firmenlogo in der rechten oberen Ecke des Covers deutlich: Es findet sich ein Logo von Ecko unlimited, einer in HipHop-Kreisen beliebten Marke für Kleidung sportlichen Designs. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 143 weist. Auf diese Weise wird auch der Name (und darüber hinaus das Ich vor dem Text) ‚Pyranja‘ als erfolgreiche, traditionelle Marke eingeführt. Insgesamt wird kaum ein direkter referentieller Bezug zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text aufgebaut: Zwar soll der Inhalt die Künstlerin Pyranja authentisieren (wie wir das in Bezug auf den Titel gesehen haben), aber eine (im biographischen Sinne verstandene) Authentisierung der Inhalte der Texte in Verbindung mit dem Ich vor dem Text wird vermieden. Das 2003 publizierte Debütalbum von Manges nennt sich Regenzeit in der Wüste und umfasst 27 Titel, wobei sich die Titelliste in dem Spalt seitlich auf der CD befindet, wo der Deckel der Hülle befestigt ist. Was verheißt eine Regenzeit in der Wüste? Klimatisch stellen beide Begriffe ein Paradoxon dar: Regenzeiten gibt es nur in (sub)tropischen Bereichen, während die Wüste ein trockenes Land mit geringen Niederschlagsmengen ist. Die Regenzeit in der Wüste stellt also etwas Sensationelles, Außergewöhnliches dar. Das Wasser des Regens ermöglicht in der Wüste als verdorrtem, unfruchtbarem Land neues Leben. Dass es aber nicht nur einmal Regen gibt, sondern gleich eine Regenzeit herrscht, impliziert längerfristige Veränderungen, es kann nicht von einem Einmal-Effekt gesprochen werden. In Bezug auf das Album ist der Schluss naheliegend, diesen Titel metaphorisch zu sehen: Mit dem Wissen, dass es sich um ein Rap-Album handelt, könnte der Titel dahingehend verstanden werden, dass in einer Zeit ‚dürrer‘ Rap- Produktionen dieses Album eine Regenzeit darstellt, d. h. die Szene neu zu befruchten in der Lage sein wird, überdies auf nachhaltige Weise. Es gibt indes auf dem Cover keinen Hinweis, dass dieses Album überhaupt ein Rap- Album darstellt, es gibt keinerlei szenespezifische Signifikanten. Auch der gleichnamige Track des Albums (Ma 6) geht in eine vollständig andere Richtung: Thema stellt hier Selbstfindung dar. Ein Ich im Text gibt einem apostrophierten Du Tipps, sich selbst anzunehmen, die eigenen Unsicherheiten zu überwinden: Nimm dich selber so an, wie du bist und fang an / Tag für Tag zu leben, Schwester / Du musst einsehen, es kann nur gut gehen / Leb dein Leben so, wie du es für richtig hältst, Bruder / diese Welt wartet nur auf dich […] / Tu niemandem dabei weh, aber steh zu dir / lass nicht zu, dass sie tun, was du nicht willst / und tu, was du willst (Ma 6). Interessant an diesen Versen ist einerseits der ethisch-moralische Charakter des Liedes, wenn das Du aufgefordert wird zu tun, was es will, dabei aber niemandem weh zu tun. Dieser auch als christliche Nächstenliebe zu interpretierende Ansatz korrespondiert mit den Apostrophen des Du im Text: Menschen mit ‚Bruder‘ und ‚Schwester‘ anzusprechen entspricht u. a. einem Usus der christlichen Kirchen. Das Ich im Text übernimmt dabei sogar göttliche Aufgaben: „Egal, wie gemein du zu dir bist, wie oft du dich disst / ich bleib’ hier, bleib’ bei dir, munter’ dich auf / weil ich dich lieb’ und ich geb’ nicht 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 144 auf“. Hier wird Rap-Sprache (‚dissen‘) mit einem christlich-religiösen Sprachgestus verbunden. Das Ich setzt sich als liebende Instanz, die sich um das Du kümmert, für es da ist. Das lokaldeiktische ‚hier‘ eröffnet, da es keinen eindeutigen lokalen Referenten besitzt, die Möglichkeit, dass sich alle HörerInnen angesprochen fühlen. Auch die Wüste kann in diesem Sinne als religiös aufgeladener Signifikant verstanden werden, schließlich erhält die Wüste als Ort der Versuchung, der Einsamkeit, des Ausharrens auf Rettung sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Bedeutung. Der Titel des Liedes wie auch des Albums kann in diesem Zusammenhang dahingehend verstanden werden, dass die Präsenz des liebenden Ich, die dem Du den Anstoß gibt, zu reflektieren und sich dabei selbst zu finden, als ‚Regenzeit‘ in der Wüste, als befruchtender Moment in einer ‚dürren‘ Zeit begriffen werden kann. Der Ort der Wüste wird dergestalt zur Metapher einer inneren Öde, der durch fruchtbare Arbeit an sich selbst begegnet werden kann. Für diese religiös gefärbte Lesart gibt es auf dem Album-Cover neben dem Signifikanten der Wüste keinen anderen Hinweis. Das Cover ist weiß, darauf ist ein rosafarben liniertes Heft abgebildet, dessen Umrisse beinah zur Gänze das ganze Cover ausfüllen. In der Mitte befindet sich der Namensschriftzug des Künstlers. Der Name erscheint als Kalligraphie mit Tusche gemalt, die Schrift erinnert an eine Abwandlung einer gotisch-kursiven Bâtarde-Schrift. Besonders auffällig sind die vielen hauchdünnen Haarstriche, welche als Verlängerung von Strichen der Buchstaben einen dekorativen Zweck erfüllen. Der Schriftzug ist aber von kleinen Tuscheklecksen umgeben. Auf diese Weise wird der Arbeitsprozess an diesem Schriftzug verdeutlicht, es handelt sich um keine ‚ins Reine gebrachte‘ Schrift. Der Schrift haftet ein gewisser Manierismus an, was sie auch schwer zu lesen macht. Dergestalt könnte auch der Namenszug als Metapher für den zu erwartenden Inhalt gelesen werden: Der Inhalt ist elaboriert, was ihn aber schwerer zugänglich macht und einer genauen Rezeption unterwirft. Dem entspricht auch das Notizbuch, das als Zeichen für ‚Arbeit an der Schrift‘ interpretiert werden kann. Der Moment der ‚Schrift‘ scheint also von immanenter Wichtigkeit, was wiederum als Verweis auf die schriftlichen Wurzeln des Christentums/ Judentums/ Islams dienen könnte. Aufgrund seiner ornamentalen Manieriertheit erinnert der Schriftzug auch an die Schriften des Hebräischen (oder auch Arabischen). Obwohl das Cover die RezipientInnen natürlich als Druck erreicht, muss eine derartige Kalligraphie normalerweise von Hand geschrieben werden (und die Kleckse sollen auch in diesem Fall von einer handschriftlichen Produktion zeugen). Der im Vergleich sehr klein gehaltene Titel unterhalb des Namenszuges ist allerdings mit Schreibmaschine geschrieben und von Hand unterstrichen. Hier werden also maschinelles Schreiben und Schreiben mit der Hand kombiniert. Im Gegensatz zum Computer, bei dem der Prozess des Löschens und Überschreibens am Ende nicht mehr sichtbar ist, ist es sowohl in Bezug auf die Schreibmaschine wie auch das Schreiben mit der Hand nicht möglich, diesen Prozess unsichtbar zu machen. Ausstreichungen, Verände- Exkurs: Albumspezifische Textsorten 145 rungen bleiben. Beide technischen Möglichkeiten des Schreibens weisen also auf prozesshaftes Arbeiten hin, was mit den oben ausgeführten Gedanken korrespondiert. Schrift, als Medium gekennzeichnet von der Absenz der/ s Produzentin/ ens, wird zum Paradigma von Zeichenproduktion überhaupt: Die Präsenz eines Ich ist nur über Aneignung von Zeichen herstellbar. Insgesamt kann festgestellt werden, dass der Bezug zwischen dem Ich vor dem Text und dem Ich im Text über den Produktionsprozess der Schrift auf dem Cover zum Ausdruck gebracht wird, während der Titel allein keinen expliziten inhaltlichen Bezug herstellt, d. h. dass zunächst über den Titel das Ich im Text als ‚lyrisches Ich‘ gesetzt wird. Was das Ich vor dem Text betrifft, so bleibt dies aufgrund der Absenz eines Fotos wie auch der geschlechtsspezifischen Uneindeutigkeit des Namens relativ im Dunkeln. Diesbezüglich eindeutiger erfolgt eine Bezugnahme bei der 2004 erschienenen EP paradies/ versuche, welche neun Titel umfasst. Die beiden Begriffe des thematischen Titels greifen dabei die religiösen Assoziationen des ersten Albums wieder auf. Das Paradies als Garten Eden entstammt einem religiösen Kontext, wobei es mittlerweile auch profane Assoziationen zu paradiesischen Orten oder Zuständen wachruft. Der zweite Begriff weist darauf hin, dass durch die Setzung des Schrägstriches zwischen beiden Begriffen im Folgenden (im Laufe des Albums) Annäherungen an das Thema und/ oder an den ‚Ort‘ resp. ‚Zustand‘ ‚Paradies‘ versucht werden sollen. Auf dem Album gibt es schließlich zwei Lieder, welche als Titel die beiden Begriffe des Albumtitels tragen: Paradies (Ma 30) und Versuch (Ma 29). Während in ersterem nun tatsächlich Gott apostrophiert wird und ein Bezug zwischen dem (im religiösen Sinne) historischen Paradies und einem gegenwärtigen Zustand hergestellt wird, referiert das zweite Lied auf die Rap-Karriere eines Ich und dessen Versuche, gute Musik zu schreiben/ zu machen. Es handelt sich also um zwei auf den ersten Blick getrennte Themata. Indem sie durch den Titel zusammengebracht werden, könnte dieser darauf hinweisen, dass es sich bei dem Album um einen musikalischen Versuch handelt, sich dem Paradies anzunähern oder das Paradies herzustellen. Vorstellungen von ‚Paradies‘ und Musik werden gekoppelt. Allerdings steckt im Begriff der ‚Versuche‘ die (beinahe) homonyme Imperativform des Verbs ‚versuchen‘, was auch eine Verbindung zum entsprechenden Nomen der ‚Versuchung‘ herstellt. Auch die Versuchung als Begriff ist an die alttestamentarische Vorstellung des Paradieses in Verbindung mit dem ‚Baum der Erkenntnis‘ gebunden, wobei der Genuss von dessen Früchten zum Rauswurf aus dem Paradies geführt hat. Auf diese Weise könnte auch das Spannungsverhältnis zwischen (wie immer gearteten) ‚Versuchungen‘ und dem ‚Paradies‘ (als Ort/ Zustand der totalen Zufriedenheit) Thema des Inhalts sein. Zum anderen verweist das Paradies auf einen (vorrationalen) Urzustand hin, während Versuche wie auch Versuchungen (vom Baum der Erkenntnis) auf rationale Vorhaben referieren. Auf diese Weise wird im Titel ein Spannungsverhältnis zwischen Ratio und Gefühl/ Natur zum Ausdruck 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 146 gebracht, was darauf hinweisen könnte, dass das Album (mittels der Musik) Versuche darstellt, diesen Gegensatz zu überbrücken, was wiederum auch durch den Schrägstrich signalisiert wird. Was die Covergestaltung betrifft, so ziert ein Foto eines Mannes das Cover, welcher somit als Referent für das Ich vor dem Text, den Namen, gesetzt wird. Sichtbar ist nur der Oberkörper, der Kopf ist nach unten geneigt, wobei aufgrund eines Schattens auf dem Gesicht unklar bleibt, ob die Augen nur nach unten (auf die Füße/ den Boden) gerichtet oder geschlossen sind. Die Arme sind abgewinkelt. Der Mann scheint zu tanzen und sich dabei in einem meditativ-versunkenen Zustand zu befinden. Er trägt ein weißes T-Shirt und als auffälliges Detail eine Kette um den Hals. Diese Haltung sowie auch der in der HipHop-Kultur oft anzutreffende Signifikant der Kette lassen sich als Anspielungen auf die Szene lesen. Zudem wirkt der nach unten gerichtete Blick demütig, schüchtern, was mit dem Titel insofern korrespondiert, als der zweite Begriff ‚Versuche‘ anzeigt, dass sich das Ich vor dem Text über die Unvollkommenheit des eigenen Schaffens im Klaren zu sein scheint, indem es nur eine versuchsweise Annäherung (an das Thema ‚Paradies‘/ an ein gutes Kunstwerk) geben kann. Was die Farbgestaltung des Covers betrifft, so ist der Hintergrund in beige, also in sehr erdigen Farbtönen, gehalten. Die Farbschattierungen wechseln, auch das Foto wurde mit einem Farbfilter belegt (was das weiße T-Shirt beige erscheinen lässt). Dass es ca. drei Zentimeter vom linken Rand einen Absatz, eine Linie von oben bis unten, in der Farbgestaltung gibt, erweckt den Eindruck, hier wäre die Ecke eines Zimmers abgebildet. Die Person davor befände sich also in der Ecke eines ansonsten nicht definierten Raumes. Diese schematische Darstellung einer Ecke lässt Assoziationen zu Rückzug, Isolation zu: Die Person scheint allein zu sein, in diesem geschützten Raum, hier ist Kontemplation möglich, was wiederum mit dem Titel korrespondiert. Die erdigen Farbtöne wecken Natur-Assoziationen zu einem nicht näher definierten südlichen Raum. Zusammen mit dem von Regenzeit in der Wüste bekannten arabesken Namenslogo und dem religiös anmutenden Titel wird unter Umständen der vorderasiatische Raum angesprochen. Seitlich neben dem Cover-Bild befindet sich außerdem ein weißer Streifen mit schwarzen, kreisrunden Löchern, welche wie die Löcher einer Ringbucheinlage wirken. Insgesamt erweckt das Cover damit den Eindruck, als handle es sich um eine Einlage in einem Notizbuch oder Fotoalbum. Dies könnte als Leseanweisung an die RezipientInnen verstanden werden: Eine Einlage in einem Ringbuch kann ich umschlagen, die nächste Seite aufschlagen. Bei einer CD wird das Cover einfach geöffnet und der Blick fällt auf das Medium. Es soll möglicherweise ausgedrückt werden, dass hier im Inneren weitere (nunmehr sprachliche, musikalische) Bilder folgen, zu dieser Person, diesem Titel. Dass es sich im Folgenden um ein Musikalbum und eben kein visuelles Medium handelt, das die RezipientInnen in Händen halten, zeigt einen bewussten Umgang mit der Bilder und Welten schaffenden Funktion der Sprache. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 147 Der Name befindet sich indes zwei Mal auf dem Cover, einmal etwa in der Mitte, auf gleicher Höhe mit dem Titel. Alle Wörter sind in Kleinbuchstaben einer Arial-Schrift gedruckt. Indem der Name links und der Titel rechts davon steht, wird der Name als verantwortlich zeichnender Künstler gesetzt. Das zweite Mal befindet sich der Name in der linken oberen Ecke, in der gleichen ornamentalen Schrift wie auf dem Debütalbum. Auf diese Weise wird ein Bezug zum Debütalbum hergestellt, der Namenszug erscheint als Logo, als ‚Markenzeichen‘. Dass der Namenszug als Logo dient, zeigt auch die Tatsache, dass der Name (welcher das Ich vor dem Text setzt) nochmals extra (in leserlicher Schrift) angeführt wird. Während das Logo auf dem Debütalbum groß in der Mitte steht (es muss schließlich erst eingeführt werden und braucht aus diesem Grunde mehr Aufmerksamkeit seitens der RezipientInnen), genügt es hier, dieses kleingedruckt in der Ecke zu postieren, um eine Referenzbeziehung zu etablieren. Die Wiedererkennbarkeit ist für ein Logo von besonderer Wichtigkeit und ist in diesem Falle durch die auffällige Ornamentalität gegeben. Ein Logo soll Ausdruck einer corporate identity werden. Aus diesem Grund sollen Assoziationen, welche über das Cover (und den Inhalt) des Debütalbums zu diesem Namensschriftzug hergestellt wurden, auch für weitere Produkte übernommen werden. 571 Das Logo kann gewissermaßen als Qualitätsgarant dienen, indem auf ein bereits bekanntes Produkt (das Debütalbum) referiert wird. Dass gerade der Namensschriftzug als Logo ausgewählt wurde, zeigt ein Bewusstsein für die Doppelfunktion der Setzung und Repräsentation seitens des KünstlerInnennamens, wobei durch die Visualität des Logos eine zusätzliche semantische Ebene eingeführt wird. Foucault führt aus: 572 Such a name [der AutorInnenname, Anm. A. B.] permits one to group together a certain number of texts, define them, differentiate them from and contrast them to others. In addition, it establishes a relationship among texts. 573 Im Falle des Logos von Manges erfüllt dieses Logo, das den Namen darstellt, auch diese Funktion. Insgesamt kann gesagt werden, dass zwar ein künstlerischer, aber kein unmittelbar biographischer Bezug zwischen dem Ich vor dem Text und dem Ich im Text etabliert wird. 571 Zum Schriftzug auf dem Cover des Debütalbums Regenzeit in der Wüste vgl. S. 144f. in diesem Band. Dass der Namensschriftzug auf dem Cover von Paradies/ Versuche als Logo verstanden werden soll, wird auch durch den Umstand verdeutlicht, dass es sich bei diesem Schriftzug im Gegensatz zu jenem auf dem Debütalbum um einen eindeutig gedruckten Schriftzug handelt, von welchem die handschriftlich anmutenden Haarstriche und die Tuscheflecken auf dem Cover des Debüts entfernt wurden. 572 Siehe die Langfassung dieses Zitats auf S. 164 in diesem Band. 573 Foucault, Author (Anm. 527), S. 177. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 148 Für alle Titel und Albumcover lässt sich festhalten, dass die Aufmachung der Cover und die Titelgebung der Alben eine große Rolle im Prozess der Ausgestaltung einer Referenzbeziehung zwischen einem Ich im Text und einem Ich vor dem Text spielen können. Die acht hier durchgeführten Analysen belegen in diesem Zusammenhang die Vielfalt an Möglichkeiten, die hierfür zur Verfügung steht. Die Analysen verdeutlichen, auf welch unterschiedliche Weise die gestalterischen Möglichkeiten in Bezug auf die Anordnung und Auswahl von Fotos, Abbildungen, Titeln und Namen tatsächlich zum Einsatz gebracht werden. Die Intros In Bezug auf die Nennung von KünstlerInnennamen im Liedtext stellt das sogenannte Intro eine Besonderheit im Rap dar. Diese Textsorte ist nur in Bezug auf den Tonträger von Wichtigkeit, denn generell sind Intros ohne Album nicht zugänglich, da sie nicht als Single veröffentlicht werden. Sehr viele Rap-Platten werden indes durch ein Intro eingeleitet, dessen Funktion als erster Track es ist, die/ den KünstlerIn zu präsentieren. Dafür steht eine Vielzahl an gestalterischen Möglichkeiten zur Verfügung, von denen eine, besonders häufig zum Einsatz gebrachte, die auf ästhetisch unterschiedliche Weise umgesetzte Nennung der Namen der KünstlerInnen darstellt. Insbesondere auf Debütalben findet diese Diskursstrategie Anwendung, so z. B. auf den Debütalben von Fiva MC (Spiegelschrift 2002) und Pyranja (Wurzeln und Flügel 2003): Just simply bring what you’re lacking / this is Fiva MC and DJ Radrum / just simply bring what you’re lacking / take it to the people / across the nation / me and my man / just simply bring what you’re lacking (alles 2x) / this is the LP, the LP / people arrive / this is for you / now for playing, now for playing, now for playing / just simply bring what you’re lacking / this is Fiva MC and DJ Radrum / just bring what you’re lacking / please prove us / we arrive/ from city to city / me and my man / just bring what you’re lacking (2x) (Fi 3). Pyranja / posing ready for this shit / for your funky ass / (? ) / Schluss mit lustig / (? ) open minded / Pyranja ist die Antwort / kein Scherz, Mann / she knows what she wants / wie kann man bloß so drauf sein / unbelievable / Pyranja ist am Start, meine Herren und die Damen / (? ) / braucht man einmal einen Piranha / the chances of survival is like a goldfish in a lake of piranhas / Pyranja / ist am Drücker / you know my name / Pyranja ist / say my name / first choice, second hand / you know my style / exquisit, exotic, exciting shit / einfach tighter, Level weiter / original rap / Geschichten, die mein Leben schreibt / meine Texte / everything like you / representing my life / representing with my point of view / (? ) always pleasured with a new choice / heavy air play all Exkurs: Albumspezifische Textsorten 149 day / hour after hour / people keep hearing / all day, every day / check it out / jetzt kann’s los gehen / cut the light on / pay attention (Py 1). 574 Künstlerisch wird in diesen beiden Intros auf Klangcollagen gesetzt, bei denen Tonschnipsel ohne musikalische Untermalung zusammengesetzt werden. 575 Damit wird die Strategie verfolgt, das Œuvre der beiden Künstlerinnen vorzustellen und als qualitativ hochwertig einzuführen. Während in Fivas Fall die Begründung für die vermeintliche Hochwertigkeit lautet, das angesprochene Publikum brauche das Dargebotene („Simply bring what you’re lacking“), werden bei Pyranja die skillz (Fertigkeiten) der Künstlerin („Wie kann man bloß so drauf sein / you know my style / exquisit […] / einfach tighter, Level weiter“) gelobt und ihr Stil angesprochen. Im Intro von Fiva wird zudem das Album (die LP) als solches angekündigt, welches als ‚für das Publikum gemacht‘ vorgestellt wird. Dies könnte auch als Bezug auf die Tatsache verstanden werden, dass es sich beim folgenden Werk um das Debüt der KünstlerInnen handelt. Zudem wird über das ‚you‘ ein Publikum angesprochen, das die Kunde von den beiden KünstlerInnen weiter tragen soll: „Please prove us, from city to city“. Ansonsten werden der/ m HörerIn keine Informationen über die Künstlerin (und den DJ) zuteil: Ihre Setzung als KünstlerInnen wird lediglich wiederholt. Dass das Intro in amerikanischem Englisch gehalten ist, stellt einen Bezug zu den USamerikanischen Wurzeln des Raps her. In Pyranjas Intro Anfang (Py 1) findet sich eine Vielzahl an Stimmen, welche Pyranja sozusagen ‚an den Start lassen‘: Im Intro wird Pyranja als Künstlerin dargestellt, die sich gleich einer Leichtathletikerin in der Startposition befindet, um loszulegen. Über die Person der Künstlerin werden der/ m HörerIn abgesehen von den künstlerischen Fähigkeiten wenige Informationen zuteil („She knows what she wants“). Allerdings wird Bezug auf das Authentizitätskonzept der Texte („Texte, die das Leben schreibt“) genommen und der Erfolg des Albums vorweggenommen („Heavy air play all day“). Die Anmerkung „always a pleasure to have a new choice” könnte auch als Hinweis gelten, dass es sich beim folgenden Album um ein Debüt handelt, welches von einer ‚neuen‘ Künstlerin stammt. Die letzten Sätze des Intros verweisen auf das zu Kommende und rufen die HörerInnen über Imperativkonstruktionen auf, weiter zuzuhören. Interessant an diesen Intros ist der Einsatz der (verschiedenen) Stimmen, welcher hier im Abdruck naturgemäß nicht wiedergegeben werden kann. So besteht Fivas Intro aus mehreren lediglich männlichen, dem englischen Sprachraum zuzuordnenden Stimmen, während im Intro bei Pyranja verschiedenste weibliche und männliche Stimmen zu hören sind. Indem auch als 574 Die Intros werden meist an keiner Stelle (weder im Booklet, noch im Internet) transkribiert, weshalb hier aufgrund der oft undeutlichen und sich überlagernden Stimmen nur eine ungefähre Transkription wiedergegeben werden kann. 575 Vgl. Neumann, HipHop-Skits (Anm. 538), S. 131. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 150 männlich zu identifizierende Stimmen, welche aber einen Text in der ersten Person sprechen („Me and my man, just […]“ oder „You know my style“), gewählt werden, wird die Ablösung der Stimme vom Körper deutlich. Es offenbart sich auch der shifter-Charakter des ‚ich‘ als des allgemeinsten und spezifischsten aller Personalpronomen: Neben der Sprache, die allen gleichermaßen zur Verfügung steht, da sie „derart organisiert [ist], dass sie jedem Sprecher erlaubt, sich die ganze Sprache zu eigen zu machen, indem er sich als ich bezeichnet“ 576 , können auch Stimmen über Geschlechter-Grenzen hinweg angeeignet werden. Die Stimme, welche sagt, „me and my man, just simply bring what you’re lacking“ setzt mittels der Prosopopöie nicht das Gesicht eines Mannes als Referenten, sondern referiert auf Fiva, die vorher vorgestellt wurde, unter deren Namen das Stück Musik veröffentlicht wird. In Bezug auf Geschlecht und Stimme im Rap führt Spath aus: Während die männliche Stimme im HipHop in den allermeisten Fällen die diegetische Erzählung präsentiert, wird die weibliche entweder gesampelt oder bestärkt den Mann als Hintergrundsängerin. 577 Die oben angeführten Beispiele zeigen allerdings, dass nicht nur Frauenstimmen von Männern angeeignet werden, sondern dass dies auch umgekehrt möglich ist: Eine Aneignung von gegengeschlechtlichen Stimmen als eigener Stimme kann in beide Richtungen (männlich-weiblich; weiblich-männlich) erfolgen. Rap als künstlerische Praxis macht auf diese Weise deutlich, dass geschlechtliche Zuschreibungen stets auf sozialen, historisch kontingenten Normen beruhen: Denn die Möglichkeit, sich Stimmfragmente auch über Geschlechtergrenzen hinweg anzueignen, zeigt, dass sich die Verbindung zwischen einem vergeschlechtlichten Körper und seiner (Text-)Stimme als notwendig gebrochene darstellt. In verbal sehr verknappter Form präsentiert sich das Intro auf Manges’ Debüt Regenzeit in der Wüste (2003): Es setzt ein mit für Rap ungewöhnlichen Klängen, welche sich als griechische Rembetiko-Musik herausstellen. Der Rembetiko entwickelte sich in den 1920er Jahren, nachdem das türkische Heer unter Atatürk die griechische Bevölkerung aus dem kleinasiatischen Raum in die Flucht gezwungen hatte. Die Bevölkerung flüchtete in andere griechische Städte, wo man sich in den Armenvierteln anzusiedeln begann. Insbesondere in Städten wie Piräus oder Thessaloniki entstand nun in der Folge die Rembetiko-Musik, die die Musik der neu angekommenen Flüchtlinge mit jener der dort Ansässigen verschmolz. Die MusikerInnen wurden Rembeten genannt, nach einem türkischen Wort für Rebell: 578 Dementsprechend wird der Rem- 576 Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 292 (Markierungen dem Original entnommen). 577 Spath, Hip-Hop in Los Angeles (Anm. 234), S. 107; vgl. dazu auch Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 187. 578 Vgl. Christoph Hermann: Rembetiko. Eine Einführung, 2000, Exkurs: Albumspezifische Textsorten 151 betiko auch als griechischer Blues bezeichnet, da die Texte traditionell vom alltäglichen Leben und von Sorgen und Erfahrungen der Menschen handeln. Mit der Auswahl eines Intros aus der Rembetiko-Musik erfolgt eine Eingliederung in diese Musik-Tradition griechischer Herkunft. Zudem scheinen sich Rembetiko und Rap in ihrer Beurteilung als Musik der Marginalisierten sowie hinsichtlich ihrer Thematik zu ähneln. Als verbale Information findet sich im Intro lediglich zu Beginn ein Satz, welcher von einem älter wirkenden Mann gesprochen wird und wie folgt transkribiert werden kann: „γεια σου Mάρκος, μετα μπέμπη σου” (Ma 1; ‚Jasu Markos, meta bembe su‘ / Hallo Markos, mit deinem Baby/ Jungen). Im Intro-Satz wird ‚Markos mit seinem Baby‘ angesprochen; Marko/ Manges wird mittels der Interpellation (durch Grußwort und Namensnennung) als Ich gesetzt und gleichsam durch die Namensgleichheit mit dem berühmten griechischen Rembetiko-Musiker Markos Vamvakaris innerhalb einer spezifischen musikalischen Tradition und Umgebung verortet. Das ‚Baby‘ könnte in diesem Zusammenhang als Metapher für ein Instrument oder auch für das zu folgende Album dienen. Interessant dabei ist die Nennung des bürgerlichen Namens des Rappers, welche eine Diskrepanz zum Namen auf dem Cover hervorruft. Die Parallelsetzung der beiden Namen führt allerdings zu einer Authentisierung beider, da kein Unterschied bezüglich ihrer Referenzfunktion gemacht wird. Eine etwas andere Strategie verfolgt Sido in seinem Debüt Maske (2004): Bei diesem Intro handelt es sich um einen sogenannten Skit. Während es in der US-amerikanischen Rap-Tradition seit frühen Tagen üblich ist, Alben mit derartigen kurzen, leicht parodistischen Sketches 579 einzuleiten, 580 ist es im deutschsprachigen Raum vor allen Dingen der sich erst ab den 2000er Jahren kommerziell durchsetzende Gangsta-Rap, der diese Tradition aufleben lässt. 581 In Sidos Intro wird nun in einer Interviewsituation der Rapper vorgestellt. Der Name findet dabei eher nebenbei Erwähnung, über die als Referent für den Namen gesetzte Person werden allerdings viele Informationen gegeben. Über die Fiktionalität resp. Authentizität dieser Informationen lässt sich naturgemäß nichts sagen, zudem wird die Interviewsituation einer Ironisierung unterzogen, was zum einen durch die Namensgebung des Interviewers (Frank Furz) erreicht wird, zum anderen durch die Tatsache, dass es sich um ein Schulradio handelt, also nur in einer Schule gesendet wird, somit keine Reichweite besitzt. Schließlich werden im Interview Themata wie der Schulspeiseplan und die Krankheit des Direktors abgehandelt. URL: http: / / klaenge.musikglobal.de/ globale_rhythmen/ rembetiko.html (Stand: 31.12. 2011). 579 Vgl. Neumann, HipHop-Skits (Anm. 538), S. 122. 580 Zu näheren Ausführungen zur Geschichte und Entwicklung des Skits vgl. ebenda, S. 121-127. 581 Vgl. ebenda, S. 131. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 152 Im Verlauf des Gesprächs wird zunächst eine Kurzbiographie eines Ich wiedergegeben, das sich als Ich im Text als namensgleich mit dem Ich vor dem Text setzt, sich zudem als Künstler/ Rapper gibt, was der Authentisierung der Informationen dient. Sido als Ich im und vor dem Text wird über diese Informationen in ein künstlerisches Feld eingeordnet: Hallo! Ich bin’s wieder! Frank Furz vom Schulradio Schlaue Welle Des Sindelfinger Gymnasiums am Karl-Marx-Platz! […] Und wir haben ein’ Interviewpartner hier im Studio! Stell dich mal vor, falls die Leute dich nicht kennen! Yeah, gib mir das Mikro! Man nennt mich Sido! Ich bin 1,86 und wieg 72 Kilo! Ich trag’ ’ne Brille und rasier’ mich nicht oft! Ich wohn’ noch in ’nem Loch, doch bald in ’nem Loft, yeah. Wo kommst du her? Ich bin aus Westberlin! Ich musste letztens aus’m Wedding ins MV [Märkische Viertel, Anm. A. B.] zieh’n! Ist das das Ghetto, von dem du immer sprichst? Ja genau! Auch wenn ihr denkt, dass es keins ist! Ich seh’s jeden Tag, ich weiß, was hier abgeht! […] Wie lange rappst du? Ich rapp’, seitdem ich denke […] Wer schreibt deine Texte? Meine Texte schreibt das Leben! Ich brauch’ nicht mehr zu tun als ’n Stift zur Hand zu nehmen. […] Ich hab’ gehört, Aggro Berlin hat dich gesignt? He, ja! Um mich zu kriegen, haben die voll rumgeschleimt! Eine Million Vorschuss! Doch der ist jetzt weg! Deswegen musste schnell mal ein Sido-Album her! Und noch ein Wort an deine Fans zum Schluss! Ihr seid mir alle egal, ich rapp’ nur, weil ich muss! Komm und frag mich! Erzähl den Leuten, wer ich bin! Stell deine Fragen, mach ein Bild von mir und schreib es hin! Komm und frag mich! Erzähl ihnen von mir! Frag mich und schreib mein Leben auf Papier! (2x) Scratch: Du fragst: Wer ist das? […] Die Leute fragen […] (Si 1). Hier werden nicht nur Informationen über körperliche Maße und Wohnort gegeben, es werden auch typische, bereits aus dem amerikanischen Rap bekannte HipHop-Bilder aufgerufen: das Leben im Ghetto; Geschichten, die vom Leben geschrieben werden, ein großer Wunsch nach Reichtum und lu- Exkurs: Albumspezifische Textsorten 153 xuriös(er)em Lebensstil u. a. Als Künstler wird das Ich bereits mittels des Intros in eine Ökonomie des Geldes eingeordnet: Es möchte reich werden und rappt nur des Geldes wegen („Ich rapp’ nur, weil ich muss“). Dabei treten im Text einige Paradoxien auf: Das Ich im Text hat vermeintlich vom Plattenlabel Aggro Berlin bereits eine Million Euro als Vorschuss bekommen und war dabei vom Label heftigst umworben worden. Die Kommunikationssituation dieses Interviews ist allerdings, wie erwähnt, im Studio eines Schulradios angesiedelt, wobei der Moderator ‚Sido‘ zu Anfang auffordert sich vorzustellen, falls man ihn nicht kenne. Auch gibt das Ich an, trotz dieses Vorschusses erst vor kurzem in das ‚Ghetto‘ des Märkischen Viertels in Berlin gezogen zu sein und noch in einem ‚Loch‘ zu wohnen. In der Darstellung ergeben sich also Diskrepanzen bezüglich der Fragen, ob das Ich im Text nun reich oder arm, ob es berühmt oder unbekannt ist. Am Ende des Intros findet sich schließlich die Aufforderung, ‚Sido‘ möge seine Fans grüßen, welcher dieser auch mittels einer ‚Publikumsbeschimpfung‘ nachkommt - ‚Sido‘ scheint also im Gegensatz zum Eindruck, den man am Anfang des Textes gewinnt, doch eine Fangemeinde zu haben, zudem wird über die wiederholten Worte im Scratch - „Du fragst: Wer ist das? Die Leute fragen“ bestätigt, dass es Interesse an der Person ‚Sido‘ gibt. Die vorangehende Schlussstrophe („Komm und frag mich / Erzähl den Leuten, wer ich bin […]“) demonstriert allerdings auch ein Interesse des Ich im Text, sich bekannt zu machen, die Geschichte des ‚eigenen Lebens‘ weiterzuverbreiten. Interessant ist zudem, dass über die Interviewsituation mit Frank Furz hinausgehend, in dem Vers „Auch wenn ihr denkt, dass es keins ist! “ Bezug auf Debatten über den Berliner-Gangsta-Rap und dessen Ghettophantasien genommen wird. In der Apostrophe des ‚ihr‘ wird plötzlich vom Ich nicht mehr nur der Interviewpartner angesprochen, sondern andere HörerInnen und KritikerInnen, welche dem Berliner Stadtteil Märkisches Viertel (MV) die vermeintlichen Ghetto-Eigenschaften absprechen. Das Ich verändert (ohne dies über Betonung oder andere Weisen, wie am Ende des Intros, anzudeuten) die Kommunikationssituation, öffnet die dialogische Gesprächssituation des Radiogesprächs, um sie danach sofort wieder zu schließen. Das Ich bezeugt über Berufung auf die eigene Sinneswahrnehmung („Ich seh’s jeden Tag…“) die Wahrheit seiner gesprochenen Worte über das Ghetto im ‚MV‘. Die Zuverlässigkeit des Ich wird allerdings durch die oben angesprochene Ironisierung der Gesamtsituation in Zweifel gezogen. Die für Raps typische Aneignung ‚fremder‘ Stimmen erfolgt im Falle dieses Intros mittels eines Interviews mit einer fiktiven anderen Person (Frank Furz). Bei genauem Hinhören deutet sich allerdings an, dass dabei eine Stimme in zwei Personen aufgespalten wird. Das Intro spielt mit der Referenz der Stimme(n), indem nicht eindeutig klar ist, ob die beiden Personen von einer oder von zwei Personen gesprochen werden, schließlich sind die Fragen des Interviewers auch leiser zu hören als die Antworten von ‚Sido‘. Deutlich wird allerdings der illusionäre Charakter der eindeutigen Referenz der körperli- 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 154 chen Stimme: Wiewohl die Stimme individuell unterscheidbarer Teil des Körpers zu sein scheint, geht die Stimme mit dem Verlust eines visuellen Eindrucks auch der eindeutigen Referenz verlustig. Die Stimme löst sich von einem bestimmten Körper ab und kann dazu eingesetzt werden, verschiedene Personen zu setzen. Insgesamt wird die Interviewsituation mit den vermeintlichen zwei Stimmen aber etabliert, um ‚Sido‘ vorzustellen, zu präsentieren sowie auch dazu, seine Texte sowohl zu authentisieren als auch zu ironisieren. Intros leiten allerdings nicht nur Debütalben ein, sondern werden in den unterschiedlichsten Formen auch auf späteren Alben eingesetzt: Pyranjas drittes Album Laut und Leise (2006) arbeitet mit ähnlicher Strategie wie das Debüt: So werden (die eigene und fremde) Stimmen gesampelt, den Namen der Künstlerin rufend und sie resp. ihren Status als Rapperin auf naturalisierende Weise (Py 21: „Die macht das einfach aus ’m Bauch heraus“) beschreibend. In performativen, selbstreflexiven Äußerungen geht das Ich auf sein eigenes Handeln ein: Einerseits spricht es davon, sein Album zu machen (indem es darüber rappt), zum anderen erweitert es den Horizont des apostrophierten Du. Zudem gilt es, das Album selbst sowie den Release-Zeitpunkt des Albums als „reif’“ dazustellen, wobei gleichzeitig die/ der HörerIn aufgerufen werden soll, die Präsentation und das darin Ausgesagte mittels seines Sensoriums zu bestätigen („Fühlst du das? “). Indem nicht der Kopf und der Intellekt, sondern eine Gefühlsebene angesprochen wird, werden Künstlerin und Album naturalisiert: Es gilt ihre ‚Echtheit‘ zu „fühlen“. Da am Ende der Ausruf des Namens mit Fragepronomen gekoppelt wird (Wer? Wo? Wann? ), wird ‚Pyranja‘ als Antwort auf alle Fragen präsentiert. Pyranjas Album scheint alles zu sein, was ein Du braucht: Die Zeit ist reif / Ich mach’, ich mach’ mein Album / Mein Album / Die Zeit ist reif / Fühlst du das? / Pyranja! / Wer ist der Boss von uns beiden? / Pyranja! / Wer rappt? / Pyranja! / Die macht das einfach aus’m Bauch raus / Fühlst du das? / Ich erweiter’ deinen Kosmos, wenn ich’s Mikro übernehm’ / Wenn ich’s Mikro übernehm’ / Pyranja - Wer? / Pyranja - Die! / Pyranja - Wer? / Pyranja - Wo? / Pyranja - Wann? / Pyranja / Fühlst du das? (Py 21). Das Intro von Fivas zweitem Album Kopfhörer (2006) wählt hingegen eine andere Strategie. Es stellt ein Zitat aus einem Dialog zwischen einer als männlich und einer als weiblich erkennbaren Stimme aus der Deutsch synchronisierten Version eines Films dar. Im Booklet, in dem das Intro transkribiert ist, wird in diesem Zusammenhang nicht ausgewiesen, um welchen Film es sich handelt: Hip hop? Oooh rap verstehe das ist interessant hab ich da einen gewissen unterton rausgehört? offen gestanden ich hasse rapmusik ich finde sie ist schrecklich sie ist ordinär und brutal Exkurs: Albumspezifische Textsorten 155 und abgesehen davon noch einen tick frauenfeindlich hey es gibt leute die finden rap sogar poetisch (Fi 20). 582 Mit diesem Dialog werden viele Punkte des historischen HipHop-Diskurses, wie er in Kap. 3 dargestellt wurde, aufgerufen: Ähnlich wie in den Debatten darum, ob nun der vermeintlich brutale Gangsta-Rap oder der politisch engagierte Message-Rap den ‚echten‘ Rap repräsentieren würde, wird im Text oben verhandelt, welches Attribut den Rap am besten beschreiben könnte: Die dem Rap zugeschriebene Brutalität und Frauenfeindlichkeit werden seiner vermeintlichen Poetizität gegenübergestellt. Im Dialog findet eine Person Rap schrecklich, während die andere Person eine Verteidigungsposition einnimmt. In der Wahrnehmung von Rap beider Personen stehen eindeutig textuelle Faktoren im Vordergrund, schließlich können die Attribute der Frauenfeindlichkeit, des Ordinär-Seins und der Brutalität hauptsächlich Texten (und weniger der musikalischen Dimension) zugeordnet werden. Im Falle dieses Dialoges zeigt sich des Weiteren, dass das Darstellungsmedium des Textes durchaus Einfluss auf die Rezeption und Interpretation des Textes haben kann: Im Booklet wird (so wie oben zitiert) nicht wiedergegeben, wie viele Personen am Gespräch beteiligt sind; es gibt auch keine Information darüber, welche Person was sagt und welchem Geschlecht die sprechenden Personen angehören. Wird der Text allerdings gehört, zeigt sich, dass es eine ‚weibliche‘ Stimme ist, welche sich gegen Rap ausspricht. Auf diese Weise öffnet das Intro ein Diskussionsfeld um die ‚wahre‘ Natur des HipHops wie auch um die Frage danach, aus welchem Grunde man sich ‚als Frau‘ mit der ordinären Rap-Musik beschäftigen solle. 583 Indem allerdings das Zitat als (Film-)Zitat wiedergegeben wird, 584 wird ein Ich als externer Erzähler 585 gesetzt, der im Zitat definitionsgemäß im Hintergrund steht. Dadurch, dass schon auf dem Covertitel Fiva als Subjekt vor dem Text gesetzt wird, scheint sie dieses Diskussionsfeld zu eröffnen, wiewohl diese Verbindung zunächst vage bleibt. Das Intro geht allerdings nahtlos (d. h. ohne Pause zwischen den Liedern oder als eigener Track ausgewiesen zu sein) in das erste Lied der Platte mit dem namensgleichen Titel Kopfhörer über, in dem nun ein Ich spricht. Der externe Erzähler entwickelt sich dabei zu einer internen Erzählerin: 582 Es handelt sich um ein Zitat aus dem Film Was das Herz begehrt (engl. Something’s gotta give, Sony Pictures, USA 2003). Der Dialog wird von den SynchronsprecherInnen der beiden ProtagonistInnen gesprochen: Diane Keaton in ihrer Rolle als alternder Schriftstellerin spricht mit Jack Nicholson in seiner Rolle als alterndem HipHop- Produzenten. 583 Zum Thema ‚Frauen und HipHop‘ siehe Kap. 3.4, S. 59ff. in diesem Band. 584 Dies wird in der gesprochenen Fassung durch die Wiedergabe der Stimmen klar, während in der geschriebenen Fassung der Text in kursiver Schrift gesetzt ist, was ihn vom folgenden Text abhebt. 585 Zum Begriff des externen Erzählers siehe Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto/ Buffalo/ London 21997, S. 48. 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 156 Ich bin bewegungsloser stummfilm mit musik im kopf und spühr [sic! ] nur wie mein fuss [sic! ] am boden jeden beat mitklopft es gibt mich und die musik und draußen tobt das leben ich lass gedanken tanzen und muss mich nicht bewegen ohne die menschen in clubs ohne den lärm in der stadt hör ich musik mit meinem kopf meinem herz und verstand es ist egal was wer sagt wie denkt und sie glauben ich halt euch fest an meine ohren gepresst und lass die platte laufen […] ich hab musik im kopf und muss nichts weiter sprechen die nadel frisst sich rillenweise satt an der musik und hör nur zu was jemand für mich schrieb hör nur zu was jemand sagt und bin nicht kreativ sage nichts weil es nichts zu sagen gibt ich halt euch fest an meine ohren gepresst um loszulassen […] ich brauch keinen schicksalsschlag nur beat und melodie was meinem leben rythmus [sic! ] gibt für minuten poesie nicht wertvoll bedeutungsschwanger das wort setzt maßstäbe ich find hier mehr wortschatz als es in all den bars gäbe was ich den tag rede füllt fässer ohne boden buchstabier mich durch den alltag bis nach oben sag am telefon bescheid dass ich grad nicht reden kann um dann noch mehr zu sagen wenn ich wieder reden kann […] ich leg platten auf und hör in meinen lebenslauf höre nichts von all dem da draußen ich halt euch fest an meine ohren gepresst und lass die platte laufen (Fi 20). Das Lied besteht aus drei Strophen und weist im eigentlichen Sinne keinen Refrain auf, die drei Strophen haben lediglich den letzten Vers gemeinsam. Es setzt mit einer paradoxen Metapher ein: „Ich bin bewegungsloser stummfilm mit musik im kopf“. Man spricht von Filmen als von ‚bewegten Bildern‘, hier aber wird der Film zunächst mit Bewegungslosigkeit gekoppelt. Über den Zusatz, dass das Ich einen Kopf hat (und im nächsten Vers wird auf den Fuß hingewiesen), werden dem ‚Film‘, dem Ich, menschliche Züge verliehen. Die Textstimme setzt also über die Prosopopöie einen Menschen: Das Ich erhält einen Körper, der bewegungslos ist, während sich im Inneren (im Kopf) die Bewegung abspielt. Dies korrespondiert mit der Angabe, ‚stumm‘ zu sein. Das Ich besteht aus ‚bewegten Bildern‘ im Inneren, spricht aber nach außen nicht. Diese inneren Bilder hängen schließlich mit der Musik zusammen, welche auch im Kopf stattfindet und die Bilder auszulösen scheint. Die Musik, nicht das Ich, ist also sowohl für die Bewegung der Gedanken (mittels der Texte), als auch für die Bewegungen des Körpers, des Fußes, (mittels der Musik) verantwortlich. Der Text spielt mit der Metapher eines ‚bewegenden‘ Kunstwer- Exkurs: Albumspezifische Textsorten 157 kes: Rap bewegt Geist und Körper. Die erste Strophe wechselt allerdings zwischen Bildern der Bewegung und Bildern der Regungslosigkeit (bewegungslos - Stummfilm, tanzende Gedanken - nicht bewegen müssen, festhalten - laufen lassen), wobei sich das Ich als Ruhepol in Opposition zur Außenwelt setzt, die sich bewegt („tobt“) und laut ist („lärm in der stadt“). Die Bewegung des Ich findet (abgesehen vom Fuß) nur innerlich statt. Im jeweils letzten Vers aller drei Strophen wird deutlich, dass hier ein Ich mit Kopfhörern Musik zu hören scheint, indem eine Kommunikationssituation zwischen dem Ich und den Kopfhörern aufgebaut wird, die in der zweiten Person Plural direkt angesprochen werden („Ich halt euch fest“): Wiederum ist das Ich statisch, nur die Musik erzeugt Bewegung, indem die Platte läuft. Auf diese Weise bringt dieser Refrain-Vers in verdichteter Form das zentrale Bild des Liedes auf den Punkt. Die Verbindung des Ich mit der Musik erzeugt dabei einen holistischen Eindruck, umfasst Kopf/ Verstand und Herz, nur das Leben innerhalb dieses Zirkels (Ich/ Musik) ist von Interesse, das Leben draußen (in den Bars, den Straßen) ist von untergeordneter Wichtigkeit. In der zweiten Strophe wird nun das Verhältnis Ich-Musik näher beleuchtet: Über die anaphorische, asyndetische Konstruktion wird das Ich als RezipientIn dargestellt, welche/ r zuhört, was eine andere, unbenannte Person sagt („und hör nur zu was jemand für mich schrieb / hör nur zu was jemand sagt und bin nicht kreativ“). Der Vers „Ich halt euch fest an meine ohren gepresst um loszulassen“ entwirft wiederum über die paradoxe Wortwahl ein Bild zwischen Ruhe (festhalten) und Bewegung (loslassen): Die Konzentration auf die innere Welt ermöglicht das Loslassen von den äußeren Einflüssen. Der Text zu Kopfhörer scheint also eine Leseresp. Höranweisung für das kommende Album zu sein: Die/ Der HörerIn lauscht einer ähnlichen Situation wie jener, in der sie/ er sich gerade befindet. Dabei wird einerseits im Text ein Ich gesetzt, das seine eigene Biographie in der Musik anderer findet („ich leg’ platten auf und hör’ in meinen lebenslauf“), während andererseits in sehr vager Form ein KünstlerInnen-Ich als Gegenüber konstituiert wird, das die Texte/ Lieder zum einen „für mich“ schrieb und zum anderen ein ähnliches Leben wie das Ich des Textes zu führen scheint. Der Text praktiziert also, was in ihm geschildert ist. Er stellt gleichsam jene Situation dar, in welcher sich die/ der ‚tatsächliche‘, implizierte HörerIn (Musik hörend) befindet und diese/ r hört damit einen Mini-Abschnitt ihrer/ seiner Biographie. Es wird also im Text ein personalisierter Bezug zwischen dem Ich der/ s Rezipientin/ ens und der/ s Künstlerin/ s („jemand“) aufgebaut, was als Aufforderung an HörerInnen gelten mag, diese Verbindung auch herzustellen. Wozu aber Musik hören? Das Ich betont, „keinen schicksalsschlag“ zu brauchen, „nur beat und melodie“, „was meinem leben rythmus [sic! ] gibt für minuten poesie“. Der Begriff ‚Schicksalsschlag‘ stellt bereits eine Metapher dar, indem dem Schicksal das Vermögen zugedacht wird, ‚schlagen‘ zu können. Ein Schicksalsschlag stellt ein einschneidendes, einmaliges Erlebnis dar: Auf dieses verzichtet das Ich zugunsten des Beats, der Rhythmus und damit 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 158 Regelmäßigkeit bringt. Das Musikerlebnis ordnet das Leben allerdings nur für Minuten durch die Rhythmisierung des Beats. Die gehörte Musik wird dabei als ‚Poesie‘ bezeichnet, aber ohne „wertvoll bedeutungsschwanger“ zu sein: Auf diese Weise erfährt der Begriff des Schicksalsschlages eine neue Metaphorisierung, indem er sozusagen als Metapher für eine Poesie der großen Worte (die eine große Bewegung verursachen) steht. Das Ich allerdings braucht diese ‚große, wertvolle Poesie‘ nicht. Das Adjektiv ‚wertvoll‘ beinhaltet das Nomen der ‚Wertung‘: Wertungen sind, wie bereits in Kap. 2 festgehalten, 586 bei Poesie sehr wichtig. Nur bedeutungsschwangere Dichtung wurde als ‚gute‘ Dichtung gehandelt, während das Einfachere im historischen Diskurs wenig Wertschätzung erfuhr. Das Ich entscheidet sich aber für eine Dichtung des Alltags, in welcher das Wort dennoch „maßstäbe“ setzt, in der es mehr „wortschatz als in den bars“ gibt: Das Alltägliche ist also nicht das Banale. Am Ende von Strophe 3 gilt es dem Anschein nach eine Wandlung des Ich von der/ vom Rezipientin/ en zur/ m KünstlerIn zu konstatieren: „Was ich rede, füllt fässer ohne boden / ich buchstabier’ mich durch den alltag bis nach oben“. Es entsteht der Eindruck, das Ich spreche nun selbst, wobei dieser aber schließlich am Ende wieder zurückgenommen wird: „Ich leg’ platten auf und hör’ in meinen lebenslauf“. Trotz oder gerade mittels der Ambiguität zwischen Sprechen/ Hören wird die Musik als Medium gezeichnet, das nicht nur zum Zuhören gedacht ist, sondern gleichsam zur Sprache der RezipientInnen selbst wird. Dies verstärkt den oben ausgeführten Eindruck der Selbstreflexivität des Liedes. Insgesamt dient der erste Track des Albums weniger, Fiva als Ich vor dem Text zu setzen, als dazu Rap als musikalische Ausdrucksweise darzustellen sowie auch die RezipientInnen als HörerInnen zu konstituieren, die über die Rezeption ihre Sprache finden. Das ‚ich‘ im Text erscheint als shifter-Pronomen, offen für eine Aneignung seitens der RezipientInnen. Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen dem Intro und dem ersten Lied, die dadurch direkt zu einander in Beziehung gesetzt werden, dass es keine Pause zwischen beiden gibt? Ohne die mit den Kopfhörern gehörte Musik eindeutig als Rap zu kennzeichnen, scheint doch die im Intro eingeführte Rap-Kontroverse zugunsten jener Position entschieden worden zu sein, welche von Rap als Poesie ausgegangen war. Rap gibt KünstlerInnen ebenso wie RezipientInnen ‚Sprache‘, wobei diese Sprache sozusagen Körper und Geist ‚regiert‘. Das Ich schließt sich also der von der männlichen Stimme präsentierten Position an, eignet sich Stimme wie Position an. Obwohl in Kopfhörer geschlechterspezifische Fragen (wie auch Fragen der Brutalität der Texte) nicht mehr direkt erörtert werden, werden sie insofern als obsolet erklärt, als Rap als geschlechterübergreifendes Ausdrucksmedium dargestellt wird, mittels dessen ‚sich‘ alle HörerInnen als Subjekte setzen können. 586 Zu Problemen der Wertung vgl. Kap. 2.2, S. 24ff. und 2.3, S. 29ff. in diesem Band. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 159 Eine ähnliche Strategie - Intro und erstes Lied verbindend - verfolgt mit gänzlich anderem Ausdrucksmodus Sidos Album Ich (2006), wobei schon der Titel des Albums, welcher aus dem shifter-Pronomen ‚ich‘ besteht, suggeriert, dass es auf dem Album ‚Persönliches‘ zu erwarten gilt: Dies geschah auf den Tag genau vor 26 Jahren: [Schreie/ Stöhnen] Nun stellen Sie sich nicht so an, pressen Sie, pressen Sie! [Schreie/ Stöhnen] Ja, schön, schön atmen, ja, schön pressen! [Schreie/ Stöhnen] Ja, sieht doch ganz gut aus, da sieht man ja schon den Kopf, Mensch! Schwester, glotzen Sie doch nich’ so dumm ’rum, Schneiden Sie doch ’mal die Nabelschnur durch, Mensch! Jetzt kriegt er noch ’nen Klaps auf’n Po Ma’ kieken, ob er sprechen kann, der Bengel [Peng] Ah, er hat mich geschlagen! [Rauschen] Kuck mal, er pisst mich an, der Pisser [Höhnisches Lachen] Und heute… (Si 19). Das Intro stellt, wie auch jenes in Maske, einen Skit dar: Der einleitende Satz offeriert eine temporaldeiktische Angabe („auf den Tag genau vor…“), wiewohl es keinen zeitlichen Referenzpunkt für diese Angabe gibt: Wann ist ‚heute‘? Der heterodiegetische Erzähler (mit männlicher, ruhiger, distanzierter Stimme) ordnet sich in kein zeitliches Kontinuum ein, weshalb das mit den folgenden Worten umrissene Geschehen bei jeder Rezeption wieder auf das ‚heute‘ der Rezeption zu rekurrieren scheint und deshalb eine ‚zeitlose‘ Aktualität erhält. Diese Erzählerstimme eröffnet allerdings einen narrativen Rahmen für alles Folgende: Nach dem einleitenden Satz ist zunächst ein Stöhnen/ Schreien zu hören, welches vorderhand insofern ambig bleibt, als nicht genau festzulegen ist, ob es sich um einen Zeugungsakt oder eine Geburt handelt, welche/ r genau vor 26 Jahren stattgefunden haben soll. Mit den folgenden Worten allerdings vereindeutigt sich die Situation: Durch den Akzent und die Wortwahl im Raum Berlin situiert, wird mittels einer einzigen Stimme über Apostrophen („Schwester“, „Pressen Sie“) eine Geburtssituation mit vier Personen, der stöhnenden Mutter, dem Ratschläge gebenden und nicht höflichen Arzt, der Krankenschwester und schließlich dem Baby entworfen; die Stimme setzt dabei den Arzt als Sprecher, der alle anderen apostrophiert. Dadurch, dass eine Geburtssituation geschildert wird, die vom Erzähler eingeleitet wurde, erhält diese Erzählung den Charakter einer Lebensbeschreibung, die bei der Geburt der zu beschreibenden Person beginnt. Interessant an der geschilderten Situation ist die Feststellung des Arztes, durch den Klaps auf den Po des Babys feststellen zu wollen, ob es schon „sprechen“ (nicht ‚schreien‘) könne, es wird also dem Baby bereits artikuliertes Sprechen zugetraut. Durch den Schlag, das Urinieren und das höhnische 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 160 Lachen am Ende des Intros wird dieses Baby als eines à la Oskar Mazerath bei der Geburt des rationalen wie intentionalen Denkens Mächtiges gezeichnet: Es entsteht der Eindruck der Respektlosigkeit oder ‚Bösartigkeit‘ des Babys. Allerdings sind die Handlungen des Babys eine Reaktion auf die Interpellation des Arztes: „Der Bengel! “ Der Arzt spricht vermittels der dritten Person mit dem Baby und situiert es auf diese Weise in einem diskursiven Feld. Mittels der Anrede wird das Baby einerseits als eindeutig männlich gezeichnet, andererseits wird es bereits in einen Kontext des Ungezogen-Seins gesetzt. Butler erklärt diesen Mechanismus der Interpellation wie folgt: Denn der Name erscheint als Anrede, die dem Anderen eine Prägung zuspricht und diese zugleich für ‚passend‘ oder ‚geeignet‘ erklärt. Die Szene der Benennung erscheint so zunächst als eine einseitige Handlung: Einige Personen richten ihr Sprechen an andere und entleihen, verschmelzen und prägen einen Namen, den sie von einer verfügbaren sprachlichen Konvention ableiten […]. 587 Das Baby wird also über die Apostrophe in einen sozialen Kontext gesetzt und es handelt gleich nach dessen Regeln: Es benimmt sich ungezogen. Sofort geht die diskursive Einordnung weiter: „Der Pisser! “ Wessen Geburt geschildert wird, bleibt zunächst unklar. Mit den überleitenden Worten „Und heute…“ bezieht sich der Erzähler wieder auf ein ‚heute‘, das aus der Erzählsituation referentielle Wirkung hat, und überbrückt damit die 26 Jahre dazwischen. Schließlich setzt ohne Pause der zweite Track Goldjunge (Si 20) ein, welcher auf diese Weise direkt mit dem Intro verbunden wird. Goldjunge wird wiederum von einem Intro eingeleitet, in welchem die Stimme des deutschen Moderators Stefan Raab wiederzuerkennen ist, welcher in typischer Fernsehshow-Manier einen Gast begrüßt: Er ist momentan einer der umstrittensten Rapper. Viele hassen ihn, viele mögen ihn. Ja, und er hat am Freitag hier in Köln den Comet als bester Newcomer des Jahres bekommen und ist im Moment sehr, sehr erfolgreich. Meine Damen und Herren, aus Berlin hier ist Sido! ! (Si 20). Mit diesen Worten scheint das Referenzsubjekt für das Baby eindeutig zu sein: Sido als erfolgreicher, preisgekrönter, aber kontroversiell aufgenommener Künstler wird als das zeitlose ‚Jetzt‘ präsentiert, worauf auch das referenzlose „momentan“ der Ansage hinweist. Auch gilt es, sich des Samples als Repräsentationstechnik zu bedienen: Eine Stimme wird herangezogen, um das vermeintliche Ich des Künstlers Sido zu setzen und in einen funktionellen Rahmen einzuordnen. Im Rap Goldjunge übernimmt schließlich das Künstler-Ich des Textes die Aufgabe der Präsentation und erzählt in einem sehr narrativ gehaltenen Text von seinem künstlerischen Werdegang: 587 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 48 (Markierung dem Original entnommen). Exkurs: Albumspezifische Textsorten 161 Refrain: Ha, ich bin jetzt ein Goldjunge! Mit Goldplatten, Gold-Otto, Goldschwanz und Goldzunge! Ich bin so krank, dass du glaubst, du wirst verrückt! Das war längst noch nicht alles, wünsch mir Glück, ich bin zurück! Oh! Ich bin jetzt ein Goldjunge! Mit Goldplatten, Gold-Otto, Goldschwanz und Goldzunge! Ich bin der, der ausspricht, was dich bedrückt Ich bin immer noch derselbe, viel Glück, ich bin zurück! 1. Strophe: Weißt du noch, wie alles anfing Damals, als ich noch auf jede HipHop-Jam gerannt bin […] Ich hab’ die andern rappen seh’n und wusste, was zu tun ist Rappen üben, ich wollt’ der Beste sein Ich hatte Wissen, Flow und Talent, und ich setzt’ es ein […] 2. Strophe: Weißt du noch, dass ich plötzlich ein Star war unnahbar abgehoben wie die NASA […] Doch weißt du noch, ich scheiß’ drauf, was ihr denkt Ich verdiene heute pro Sekunde 4 Cent 3. Strophe: […] Ich hab’ mich stark verändert, aber nein, ich bin nicht lieber Ich weiß, ich war lange weg, doch hier bin wieder, ha! (Si 20). Das Lied besteht aus drei Strophen, die von einem Refrain umrahmt werden, der wiederum aus zwei Quartetten besteht, die jeweils mit der Feststellung eingeleitet werden: „Ich bin jetzt ein Goldjunge! “ Das „jetzt“ verweist ohne direkte Referenz auf die Erzählsituation dieses Ich, setzt damit allerdings einen Unterschied zu einem ‚vorher‘. Es muss also einen Zeitpunkt gegeben haben, an dem das Ich noch kein ‚Goldjunge‘ gewesen war. Die Exklamationen „Ha! “ und „Oh! “ verweisen dabei auf eine Genugtuung seitens des Ich ob dieser Veränderung. Das Ich sieht/ sah sich also mit KritikerInnen konfrontiert. Es präsentiert sich diesen KritikerInnen gegenüber als kommerziell sehr erfolgreich, wobei im Refrain verschiedenste Eigenschaften des Ich mit Gold/ Geld aufgewogen werden: Goldplatten (kommerzieller Erfolg der Platten), Gold-Otto (Preise, Anerkennung von Außen), Goldschwanz (Erfolg bei Frauen), Goldzunge (Talent beim Rappen als Grund für die anderen Erfolge). Die wiederholte Feststellung „Ich bin zurück! “ zeigt sich indessen als performativer Gestus des Ich, der auf die Veröffentlichung des neuen Albums anspielt und diese als eine performative Handlung darstellt, mittels derer das Ich seine Existenz bestätigt (dabei im eigentlichen Sinn frühere derartige Handlungen wiederholt und sich über die Wiederholung erneut setzt). Im Refrain rekurriert das Ich dementsprechend auf frühere Äußerungen und Handlungen seiner selbst, indem es darauf hinweist, ‚jetzt‘ nicht ‚lieber‘ oder angepasster zu sein - im Gegenteil, das Ich referiert in einer Art Drohung 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 162 („Das war längst noch nicht alles! “) auf die Vergangenheit (auf die auch das Intro verweist) und eine zu erwartende, ähnlich gestaltete Zukunft. Es setzt sich damit trotz diverser Veränderungen als über die Zeiten hinweg erkennbares idem 588 („Ich bin immer noch derselbe“). In den Strophen erzählt also das Ich die Geschichte des vermeintlichen ‚Ich vor dem Text‘ von den Anfängen bis in ein Jetzt (irgendwann nach dem Jahr 2005). Dabei wird eine Kommunikationssituation mit einem Du etabliert, das als vermeintliche/ r HörerIn zu sehen ist, welche/ r aber mit der Geschichte des Ich vertraut scheint: „Weißt du noch…“. Allerdings zeigt sich auch eine Spannung in diesem Verhältnis, denn „Ich bin so krank, dass du glaubst, du wirst verrückt! “, wobei gilt: „Ich bin der, der ausspricht, was dich bedrückt“. Das Ich im Text setzt sich einerseits als ‚krank‘, andererseits scheint es dabei die Gefühle/ Gedanken der HörerInnen zu spiegeln. Das Ich vergewissert sich im Text seiner Rolle als Sprachrohr seines Publikums und bestätigt sich auf diese Weise selbst in seiner Tätigkeit und Position, wiewohl es vorgibt, auf die Meinung seines Publikums keinen Wert zu legen („Doch weißt du noch, ich scheiß’ drauf, was ihr denkt“). Das Lied verfolgt also mehrere Strategien: Es wird eine Verbindung zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text hergestellt, indem dem Ich vor dem Text eine Geschichte gegeben und damit auch ein Status in der Gesellschaft verliehen wird. In dieser Geschichte wird das Ich als erfolgreicher Künstler, aber auch als böser Bube der Nation stilisiert, welcher einerseits von dieser dazu gemacht wurde (wie die Szene der Interpellation im Krankenhaus beweist) und andererseits mit seinem Tun auf Bedürfnisse der Bevölkerung eingeht. Mit einem vergleichsweise knappen, aber umso dichteren Intro wird Manges’ Paradies/ Versuche (2004) eingeleitet: Dass du nicht mehr fragst, ob es wahr ist Sondern sicher weißt, dass das echt ist Was wahr ist, was jetzt ist Dafür ich ruf’ ich es dir ins Gedächtnis (2x) (Ma 28). Das Intro setzt zunächst mit einem Konsekutivsatz ein: „Dass du nicht mehr fragst […]“. Es wird also eine Kommunikationssituation zwischen einem Ich und einem Du als HörerIn aufgebaut. Der Satz scheint eine Antwort auf ein vorhergehendes Problem (angezeigt durch das „nicht mehr“) zu sein. Das Du hat dem Anschein nach immer wieder nach der Wahrheit und Echtheit von ‚etwas‘ gefragt, dessen Referent vorerst im Unklaren bleibt. Es geht um die Echtheit dessen, „was wahr ist, was jetzt ist“. Das Ich kann Abhilfe verschaffen, es scheint garantieren zu können, dass das Problem der Ungewissheit ob 588 Zum Konzept des idem vgl. Kap. 7.1, S. 171ff. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 163 der Echtheit und Wahrheit gelöst wird. Am Ende wird das Du ‚wissen‘. Was macht das Ich, um die Ungewissheit aufzulösen? Der letzte Vers gibt Aufschluss: Das Ich ruft dem Du ‚etwas‘ ins Gedächtnis. Das Ich verfügt über diese Wahrheit, wobei das auch auf verborgene Weise für das Du gilt, schließlich ist für das Ich möglich, das „Gedächtnis“ des Du zu aktivieren. Die Wendung des ‚jemanden etwas ins Gedächtnis Rufens‘ ist durchaus in der Alltagssprache gebräuchlich, könnte in diesem Zusammenhang allerdings auch als selbstreflexive Wendung verstanden werden: Das Ich setzt sich als Subjekt (als RapperIn? ), dessen Aufgabe es ist, die Wahrheit zu verkünden, sie auszurufen, und dabei der/ m HörerIn Gewissheit zu geben („Dass du nicht mehr fragst“). Diese Verse rekurrieren möglicherweise auf die Authentizitätsdebatte im Rap. Die Pronomen des ‚es‘ oder ‚das‘ weisen damit auf die folgenden Lieder hin, die das Ich performt. Das Intro stellt somit eine selbstreflexive Aussage und zugleich eine performative Äußerung dar. Das Ich spricht über das Ins-Gedächtnis-Rufen der Wahrheit, während es diese Handlung ausführt. Darauf weist auch die Andeutung hin, dass wahr ist, was jetzt ist. Eine Performance braucht das ‚Jetzt‘, um sich zu manifestieren, aber gleichzeitig auch die Vergangenheit, schließlich ist die Präsenz ja immer nur als Spur der Vergangenheit greifbar: Dass also die Wahrheit bereits im Gedächtnis des Du verborgen liegt, könnte darauf hinweisen, dass das sich im Intro setzende Ich sich als ein dem Du bekanntes Ich darstellt. Das Ich rekurriert auf vorherige Erfahrungen des Du mit dem Ich, sei es über Performances oder das Debütalbum. Allerdings lässt dieser Umstand (des Gedächtnisses) auch eine andere Lesart zu: Bei der in den folgenden Liedern verkündeten ‚Wahrheit‘ könnte es sich um eine allgemeine handeln, die jede/ r in sich trägt, die aber geweckt werden muss. Auf diese Weise ließe sich die Offenheit der Referenzbezüge des „es“ oder „das“ erklären. Schließlich könnte es sich auch um eine subjektive Wahrheit handeln, die im Rap angesprochen wird. Jeder vermag u. U. eine andere Wahrheit in den folgenden Liedern zu finden. Das Konzept der ‚Wahrheit‘ wird dabei allerdings der Metaphysik entrissen, indem es nicht eine Wahrheit gibt, sondern jede/ r ihre/ seine Wahrheit finden kann, welche als Konstrukt im ‚Jetzt‘ echt ist, aber nicht für alle und zu jeder Zeit. Wie die Analysen der acht Intros der ausgewählten Tonträger zeigen, stellt das Intro viele Möglichkeiten zur Verfügung, das Ich im Text als solches zu setzen und zu repräsentieren. Als häufigste künstlerische Formate können in diesem Zusammenhang die Klangcollage und der Skit ausgewiesen werden. In beiden Formaten gilt es vor allen Dingen, den Namen der Ichs im Text, der einen Bezug zum Ich vor dem Text etabliert, in einen größeren (Erzähl-)Zusammenhang einzuordnen. Eigenschaften der Ichs werden vorgestellt; die Ichs werden mittels einer narrativen Rahmung als RapperInnen verortet. Sowohl in der Klangcollage als auch im Skit erfolgt diese Verortung mittels des Spiels mit der Referenzfunktion der Stimme: So werden im Fall der Klangcollage verschiedene Stimmen eingesetzt, um ein bestimmtes Ich 6. Über Brüche und Kontinuitäten I: Das Ich vor dem Text 164 vorzustellen und einzuführen. Das Ich im Text kann sich dabei aber auch andere Stimmen als die eigene aneignen. Im Skit hingegen werden oftmals mittels einer Stimme mehrere Personen gesetzt, die mit dem Ich interagieren. Beide Formate verdeutlichen jedenfalls die Brüchigkeit der Referenzfunktion der Stimme. Die Mechanismen des Intros illustrieren in diesem Zusammenhang, auf welche Weise in sehr verknappter Form mittels der (Text-)Stimme Personen und Gesichter gesetzt werden können, die auf performative Weise über diese Stimme(n) auch repräsentiert werden. Exkursende Die rhetorischen Strukturen der (Selbst-)Nennung wie auch des Hinweisens auf das eigene Schaffen zeigen das Bedürfnis im Rap, den ‚eigenen Namen so erinnerbar wie ein Gesicht zu machen‘. Da nun der Name zwar setzen, aber (abgesehen von möglichen, assoziativ herstellbaren Bedeutungen und von Hinweisen auf die Geschlechterzugehörigkeit) nicht bedeuten kann, so bedarf es - wie wir oben gesehen haben - der Werke, die unter dem Namen veröffentlicht werden, um diese Bedeutungen zu füllen, d. h. um den Namen als funktionellen Rahmen zu etablieren. Dies entspricht jenen Mechanismen, die Foucault in einem frühen Text zum Konzept des Autors ausgearbeitet hat: Obviously, one cannot turn a proper name into a pure and simple reference. It has other than indicative functions: more than an indication, a gesture, a finger pointed at someone, it is the equivalent of a description. When one says ‘Aristotle’, one employs a word that is the equivalent of one or a series of, definite descriptions, such as ‘the author of the Analytics’, the ‘founder of the ontology’, and so forth. One cannot stop there, however, because a proper name does not have just one signification. […]. The proper name and the author’s name are situated between the two poles of description and designation: they must have a certain link with what they name, but one that is neither entirely in the mode of designation nor in that of description; it must be a specific link. […]. Such a name permits one to group together a certain number of texts, define them, differentiate them from and contrast them to others. In addition, it establishes a relationship among the texts. […]. The author’s name serves to characterize a certain mode being of discourse: the fact that the discourse has an author’s name, that one can say ‘this is written by so-and-so’ or ‘so-and-so is its author’, shows that this discourse is not ordinary everyday speech […]. On the contrary, it is a speech that must be received in a certain mode and that, in a given culture, must receive a certain status. 589 Foucault weist in seinen Ausführungen darauf hin, dass AutorIn und ‚wirkliche/ r‘ SchreiberIn keinesfalls gleichzusetzen sind: 590 Der Name der/ s Auto- 589 Foucault, Author (Anm. 527), S. 177f. (Markierung dem Original entnommen). 590 Vgl. ebenda, S. 182. Exkurs: Albumspezifische Textsorten 165 rin/ s hat funktionellen Wert; so dient der Name dazu, die Werke ‚zusammenzuhalten‘. Es ist wiederum Aufgabe der Werke, den Namen in einem kulturellen Rahmen (z. B. innerhalb der Populärkultur des HipHops) zu fixieren. Mit Foucault gilt also festzuhalten, „[t]he author does not precede the works, he is a certain functional principle by which, in our culture, one limits, excludes, and chooses.“ 591 Die Verbindung zwischen KünstlerIn und Werk bleibt dabei stets fragil: Dies gilt insbesondere für Musik, welche ja in manchen Fällen nur gehört wird, ohne in Bezug zu einem bestimmten Album zu stehen. Die Stimme verliert in diesen Rezeptionszusammenhängen ihre/ n Referentin/ en als Ich vor dem Text. So gilt für das Subjekt im Allgemeinen wie auch für PopulärmusikkünstlerInnen, dass die Verbindung des Ich im Text und des Ich vor dem Text über das paradox-dialektische Verhältnis von Setzung und Repräsentation immer wieder aufs Neue bestätigt werden muss. Mit Butler kann festgehalten werden: Die Unmöglichkeit eines vollständigen Wiedererkennens, d. h. die Unmöglichkeit, den Namen, von dem jemandes soziale Identität inauguriert und mobilisiert wird, jemals ganz auszufüllen, impliziert überdies die Instabilität und Unvollständigkeit der Subjektbildung. Das ‚Ich‘ ist dementsprechend ein Zitat der Stelle des ‚Ichs‘ in der Rede, wobei jene Stelle eine gewisse Priorität und Anonymität besitzt hinsichtlich des Lebens, das sie beseelt: Sie ist die geschichtlich revidierbare Möglichkeit eines Namens, die mir vorhergeht und über mich hinausgeht, ohne die ich jedoch nicht sprechen kann. 592 In den vorangegangenen Ausführungen wurde also demonstriert, welche vielfältigen Mechanismen im Rap Anwendung finden, um diese Verbindung immer wieder aufs Neue zu aktualisieren. Es hat sich gezeigt, dass das ‚ich‘ (als shifter-Pronomen) und der Name im Prinzip leere (Erzähl-)Instanzen (Setzungen) darstellen, welche es auf diskursiv-narrative Weise aufzufüllen, d. h. zu repräsentieren, gilt. In den oben angeführten Beispielen in Bezug auf die selbstreflexiven Hinweise hinsichtlich des eigenen Schaffens der Ichs im Text haben wir bereits gesehen, dass sich im Rap die ErzählerInnen-Ichs innerhalb eines kulturellen Systems verorten. Im folgenden Kapitel heißt es näher zu untersuchen, auf welche Weise diese Verortung erfolgen kann resp. auf welche Weise es zu Brüchen hinsichtlich dieser Verortung kommt. Wenngleich in vielen Texten ein direkter Bezug vom Ich im Text zum Ich vor dem Text etabliert wird, so wird dieser Bezug auf verschiedene Weise hergestellt (nicht nur über direkte referentielle Angaben zur künstlerischen Tätigkeit oder über die Nennung des Namens). Es gilt im Folgenden zu untersuchen, welcher Art diese anderen Mechanismen sind. Es wird also im nächsten Kapitel darum gehen, verschiedene Dimensionen des Ich im Text genauer unter die Lupe zu nehmen. 591 Ebenda, S. 186. 592 Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 310. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 7.1 Zu Ricœurs Konzept der Dimensionen des Ich Im letzten Kapitel ging es darum, die (Text-)Stimme im Rap als Prosopopöie auszuweisen, denn eine (Text-)Stimme setzt stets einen Mund voraus. Die Stimme verleiht dem Text also ein Gesicht, stellt dem Text ein Ich voran, das letztlich figurativer Natur ist, da es nur durch einen Akt der Sprache gegeben ist. Die Verbindung zwischen der (Text-)Stimme (resp. dem Ich im Text) und dem Ich vor dem Text stellt sich also als immanent brüchig dar, weshalb es verschiedener sprachlicher, rhetorischer Mechanismen bedarf, um diese Verbindung stets aufs Neue wieder/ herzustellen. Auf zwei dieser Mechanismen wurde im letzten Kapitel bereits eingegangen: So wurde zunächst auf die Funktion des Namens, der auch eine Prosopopöie darstellt, verwiesen. Auch der Name setzt ein Gesicht, eine Person. Raps werden stets unter einem Namen publiziert, der auf diese Weise das Ich vor dem Text figuriert. Wird nun derselbe Name im Text genannt und mit einem Ich im Text verbunden, so wird dergestalt eine Verbindung zwischen (Text-)Stimme und Ich vor dem Text hergestellt. In einem nächsten Schritt galt es in Kap. 6, sich auf selbstreflexive Angaben zu den Tätigkeiten eines Ich im Text als SchreiberIn oder RapperIn zu konzentrieren. Denn mittels selbstreflexiver Angaben kann in Rap-Texten ebenso eine Verbindung zwischen einem Ich im Text (resp. der Stimme) und einem Ich vor dem Text etabliert werden. Im Folgenden gilt es nun weitere Mechanismen einer Analyse zu unterziehen. Dabei soll besonderes Augenmerk auf verschiedene Arten und Weisen gelegt werden, mittels welcher ein Ich in einem Rap-Text verortet werden kann. Dass das Ich in Rap-Texten eine wichtige Funktion einnimmt, zeigt allein die Tatsache, dass kein einziger Text der ca. 160 Lieder auf den acht Tonträgern der für diese Untersuchung ausgewählten vier KünstlerInnen auf ein ‚ich‘/ Ich verzichtet. Die Dimensionen dieses Ich im Text können nun allerdings auf unterschiedliche Weise im Text realisiert werden. So kann das Ich innerhalb räumlicher und zeitlicher Zusammenhänge verortet werden, d. h. es erfährt eine narrative Rahmung. In anderen Texten wiederum stellt sich das Ich in Form einer Momentaufnahme als entblößte Erzähl-Instanz dar, die über die Welt reflektiert. Der französische Philosoph Paul Ricœur hat in seinem Band Das Selbst als ein Anderer (frz. 1990) ein Modell angedacht, mittels dessen diese verschiedenen Dimensionen des Ich begrifflich gefasst werden können. Dieses Modell gilt es im Folgenden kurz vorzustellen, bevor es für eine Analyse der 16 ausgewählten Rap-Texte der vier bereits im letzten Kapitel eingeführten RapperInnen fruchtbar gemacht werden soll. Zunächst gilt es aber näher aus- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 168 zuführen, weshalb die Mechanismen der narrativen Rahmung von so großer Bedeutung für die Analyse eines Ich im Text sind. Der Bedeutung des Erzählens wurde in den letzten Jahren innerhalb vieler wissenschaftlicher Zusammenhänge Aufmerksamkeit gezollt. Denn „[h]aben wir nicht, ohne die Alltagserfahrung zu verlassen, die Tendenz, in dieser oder jener Episodenfolge unseres Lebens ‚(noch) nicht erzählte‘ Geschichten zu erblicken, die erzählenswert sind oder Ansatzpunkte zur Erzählung bieten? “ 593 Mit dieser Frage versucht Ricœur in seiner dreibändigen Untersuchung Zeit und Erzählung (frz. 1983-1985) die Wichtigkeit des Erzählens für den Menschen herauszustellen, indem er der menschlichen Erfahrung im Allgemeinen eine pränarrative Qualität, d. h. „eine Präfiguriertheit, die ein Bedürfnis nach Erzählung nach sich zieht“ 594 , attestiert. Obwohl dieser anthropologischen Setzung keine ungeteilte Zustimmung entgegen gebracht wird, 595 zeigt sich seit den 1980er Jahren in der Forschung auch abseits der Literaturwissenschaften ein verstärktes Interesse an der Erzählung. Denn im Zuge eines so genannten narrative turns wird seither innerhalb von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen Erzählprozessen in einem breiten gesellschaftlichen Rahmen nachgegangen. Erzählen erweist sich in diesem Zusammenhang „als kulturelle Praxis, die sich in Alltagserzählungen, Geschichtsschreibungen und Mythen ebenso geltend macht wie in literarischen Erzählungen, naturwissenschaftlichen Narrationen und audiovisuellen Medien.“ 596 Dementsprechend breit zeigt sich der wissenschaftliche Output zur Funktion der Erzählung und des Erzählens in der Gesellschaft. Während z. B. Hayden White (1986) Erzählprozesse in der Historiographie aufspürt, streichen Benedict Anderson (1991) oder auch Wolfgang Müller- Funk (2002) Zusammenhänge zwischen Erzählung und Nationenbildung hervor. Bettina Dausien (1996) oder auch Eveline Kilian (2004) befassen sich hingegen mit Geschlecht und Narration, zum einen in Bezug auf biographische Erzählungen (Dausien), zum anderen in Bezug auf literarische Konstruktionen des Gender-Bending (Kilian). 593 Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 172), S. 118. 594 Donald Polkinghorne: Narrative Psychologie und Geschichtsbewusstsein. Beziehungen und Perspektiven. In: Jürgen Straub (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt am Main 1998, S. 12-45, hier S. 22; vgl. Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 172), S. 118. 595 So führt selbst Ricœur aus, wie ungehörig wohl der Ausdruck einer ‚noch nicht erzählten‘ Geschichte sei, sei es einer Geschichte doch notwendig inhärent, erzählt zu werden (vgl. ebenda, S. 118). Ricœur fragt a. a. O.: „Ist jedoch der Begriff einer virtuellen Geschichte unannehmbar? “ 596 Nieberle/ Strowick, Narrating Gender (Anm. 162), S. 7. Zur Weiterführung vgl. Vera Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002. 7.1 Zu Ricœurs Konzept der Dimensionen des Ich 169 Wie in den Texten von Kilian oder Dausien oder auch im Zitat von Ricœur oben deutlich wird, erweist sich der Fokus auf das Erzählen insbesondere für jene Forschungsrichtungen als fruchtbar, die dem Zusammenhang von Erzählung und Identitätsstiftung Aufmerksamkeit widmen. 597 Identität lässt sich indes mit Jürgen Straub „als jene Einheit und Nämlichkeit einer Person“ definieren, „welche auf aktive, psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die einzelne Person der Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis zu vergewissern sucht.“ 598 Die/ Der Einzelne erlebt eine Vielzahl von Eindrücken und Erlebnissen und formt diese in Erzählungen um, mit dem Ziel „die verschiedenen beständig wechselnden Elemente und Lebenssplitter miteinander in Einklang zu bringen und zu halten, eine Aufgabe, die nur diskursiv zu bewältigen ist.“ 599 Der Prozess der narrativen Strukturierung, das Emplotment, schreibt dabei den einzelnen Ereignissen Sinn und Bedeutung zu. Es ist Aufgabe des Plots, aus Diskordantem Konkordantes, aus Zufälligkeit Notwendigkeit zu machen. 600 Es ist also klar, dass es sich beim Emplotment um eine retrospektive Operation handelt, deren Ziel nicht die Vergegenwärtigung der Vergangenheit ist, sondern deren Konstitution. Donald Polkinghorne spricht in diesem Zusammenhang von einer ‚narrativen Glättung‘ der Erlebnissplitter: Die narrative Strukturierung hebt diejenigen Geschehnisse, Gedanken und Handlungen hervor, die benötigt werden, um den Weg, auf welchem die erzählte Episode entfaltet wird, nachvollziehen zu können. Sie grenzt sie von der Flut der sonstigen tagtäglichen Verrichtungen ab. Im Leben sind wir in vielerlei Projekte auf einmal verwickelt, von denen nicht alle ineinander greifen und zu bedeutsamen Episoden werden. 601 Ein Gefühl von Identität ergibt sich allerdings nicht aus einer vom gegenwärtigen Standpunkt aus vorgenommenen endgültigen narrativen Strukturierung der Vergangenheit. Die Erzählung wird immer wieder adjustiert, neu erzählt, veränderten Gegebenheiten angepasst. 602 Damit wird nach Polkinghorne deutlich, dass „[d]er Fluss der Zeit die narrativ konstruierte Identität einer 597 Vgl. u. a. Bettina Völter, Bettina Dausien, Helma Lutz und Gabriele Rosenthal (Hrsg.): Biographieforschung im Diskurs. Wiesbaden 2 2009. 598 Jürgen Straub: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. In: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Frankfurt am Main 1998c, S. 73-104, hier S. 75. 599 Eva Kimminich: Macht und Entmachtung der Zeichen. Einführende Betrachtungen über Individuum, Gesellschaft und Kultur. In: dies. (Hrsg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen. Frankfurt am Main/ Wien/ New York et al. 2003a, S. VII-XLII, hier S. XV. 600 Vgl. Andreea Deciu Ritivoi: Identity and Narrative. In: David Herman, Manfred Jahn und Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/ New York 2005, S. 231-235, hier S. 232. 601 Polkinghorne, Narrative Psychologie (Anm. 594), S. 25. 602 Vgl. Deciu Ritivoi, Identity and Narrative (Anm. 600), S. 232. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 170 Person aus[höhlt] und es erforderlich [macht], sie immer wieder zu rekonstruieren.“ 603 In Bezug auf den Aristotelischen Begriff der Mimesis weist dementsprechend auch Ricœur auf den immanent zeitlichen Charakter der Erzählung hin: Mit Recht kann man zumindest folgendes [sic! ] sagen: im Erzählen erhält alles, was zur Sprache kommt, in einzigartiger Weise eine zeitliche Qualität und Struktur. Erzählungen handeln vom Kommen und Gehen, vom Entstehen und Vergehen, von Bleibendem und Wandelbarem. […] Wo erzählt wird, geben die Gesichtspunkte des Werdens, der Dauer und/ oder Vergänglichkeit den Takt an. 604 Ricœur spricht also davon, dass „die Zeit in dem Maße zur menschlichen [wird], wie sie narrativ artikuliert wird; umgekehrt ist die Erzählung in dem Maße bedeutungsvoll, wie sie die Züge der Zeiterfahrung trägt.“ 605 Durch die Erzählung wird eine „‚menschlich[e]‘ Zeit“ 606 konfiguriert. Folgt man nun der Annahme, dass Identität über Erzählungen konstituiert wird, so ist auch sie „in einem konstitutiven Sinne zeitlich“ 607 . Müller-Funk betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Aspekte der Dauerhaftigkeit, Kontinuität und Kohärenz: In der rekonstruktiven Einholung der Zeit und der Stiftung von Dauer vollzieht sich also zugleich die Konstruktion eines Selbst, das sich über einen längeren Zeitraum als mit sich selbst identisch erfährt, als einen Akteur, als einen Handelnden, als ein Subjekt im doppelten Sinn: als ein Wesen, das unerbittlich seiner Selbstkonstruktion unterworfen bleibt und dadurch handlungs- und erzählfähig ist. 608 Im Rahmen der Erzählung positioniert sich das Individuum innerhalb größerer ‚Zeit- und Welträume‘, die weit über die eigene Lebenszeit und den eigenen Lebensraum hinausreichen. Die Identität der/ s Einzelnen stellt also ein 603 Polkinghorne, Narrative Psychologie (Anm. 594), S. 33. Auf diese Weise lassen sich auch Identitätskonstitutionen der KünstlerInnen im Rahmen des HipHops als Re- Narrativisierung des bisherigen Lebens verstehen, was den Übergang von einer vermeintlich ‚pejorativen‘ zu einer ‚positiven‘ Identität (vgl. Menrath, Politik der Repräsentation, Anm. 288, S. 225) erklärbar macht, ohne den Eindruck zu erwecken, das Individuum hätte vor seiner Bekanntmachung mit der Jugendkultur des HipHops keine Identität gehabt, vgl. Kap. 3.5, S. 67 in diesem Band. 604 Jürgen Straub: Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Gründzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt am Main 1998b, S. 81-169, hier S. 118. 605 Ricœur, Zeit und Erzählung (Anm. 172), S. 13. 606 Straub, Geschichten erzählen (Anm. 604), S. 120. 607 Peter Wagner: Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität. In: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg): Identitäten. Frankfurt am Main 1998, S. 44-72, hier S. 69. 608 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 99. 7.1 Zu Ricœurs Konzept der Dimensionen des Ich 171 immanent soziogenes Konstrukt dar, d. h. sie ist „Resultat von sozialen Prozessen“ 609 . Die/ Der Einzelne ist immer an Kollektive und einen kulturellen Rahmen gebunden, 610 sie/ er ist auf bewusste oder unbewusste Weise in (historisch kontingente) Meta-Narrative und Diskurse verstrickt, die die eigene Lebenserzählung nachhaltig beeinflussen. 611 Wenn nun aber die Identität eines Ich über Erzählungen formiert wird, die ständigen Re-Konfigurationen unterworfen sind, so scheint es Gefahr zu laufen, trotz aller Versuche über die Erzählung Kohärenz und Kontinuität zu erzeugen, in (Erzählungs-)Splitter zu zerfallen. Auf der Suche nach einer Instanz des Selbst, die diese Splitter sozusagen ‚zusammenhält‘, entwirft Paul Ricœur in seinem Band Das Selbst als ein Anderer (frz. 1990) ein Modell von Identität, das von zwei Ich-Instanzen ausgeht, welche in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Er differenziert zwischen Identität als Selbstheit (vom lateinischen Wort ipse, vergleichbar mit dem englischen Begriff self) und Identität als Selbigkeit (vom lateinischen Wort idem, vergleichbar mit dem englischen sameness). 612 Diese beiden Instanzen illustrieren also sowohl die immanente Brüchigkeit eines Ich sowie auch dessen Kontinuität. Die Selbigkeit (das idem) des Ich erschöpft sich dabei nach Ricœur zunächst in einer numerischen Dimension, d. h. Identität bedeutet hier Einzigkeit (man spricht von ‚ein- und demselben Ding‘) im Gegensatz zur Vielheit. Aufgrund dieser Einzigkeit kann eine Person (oder auch Sache) über die Zeit hinweg wiedererkannt werden. 613 Das idem umfasst zudem eine qualitative Dimension, welche sich auf die größtmögliche Ähnlichkeit einer Person über die Zeit hinweg bezieht. Da es aber, wie oben angemerkt, gerade die ständig fortschreitende Zeit ist, die Wandel und Veränderung mit sich bringt, ist das Selbst in seiner Ähnlichkeit und Wiedererkennbarkeit stets einer Bedrohung ausgesetzt. 614 Um nun der Bedrohung durch die Zeit entgegenzuwirken, braucht es eine Instanz, welche „Beständigkeit in der Zeit“ 615 garantiert. Ricœur führt in diesem Zusammenhang den Begriff der Ipseität ein, der auf den ersten Blick schwer von dem Begriff des idem zu unterscheiden ist. Denn Ricœur definiert das ipse zunächst über den Charakter der/ s Einzelnen, den er als „die Gesamtheit der dauerhaften Habitualitäten eines Menschen, auf Grund deren man eine Person wiedererkennt“ 616 , fasst. Zum Charakter gehören in diesem Zusammenhang Gewohnheiten, Identifikationen mit anderen, 609 Wagner, Fest-Stellungen (Anm. 607), S. 59. 610 Vgl. Kimminich, Macht und Entmachtung der Zeichen (Anm. 599), S. X. 611 Vgl. ebenda, S. XVI. 612 Vgl. Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 144. 613 Vgl. ebenda, S. 144. 614 Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Der gerissene Faden. Narration - Identität - Ipseität. In: Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick (Hrsg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme. Köln/ Weimar/ Wien 2006, S. 159-176, hier S. 165. 615 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 146. 616 Ebenda, S. 150 (Markierung dem Original entnommen). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 172 mit HeldInnen, Werten, Normen und Idealen. 617 Es ist der Charakter, welcher eine narrative Dimension annimmt, indem er eine Geschichte hat, die sich ändern kann oder im Laufe der Zeit bewährt. 618 Schließlich lässt Ricœur im Charakter sogar die beiden Instanzen des ipse und idem ineinander übergehen, denn er betont: „[D]ieses ipse [des Charakters, Anm. A. B.] kündigt sich als ein idem an.“ 619 Der Charakter garantiert, so Ricœur, gleichzeitig die numerische Identität, die qualitative Identität, die ununterbrochene Kontinuität im Wandel und schließlich die Beständigkeit in der Zeit, welche die Selbigkeit definieren. Ich würde, in leicht paradoxer Sprechweise, sagen, dass die Identität des Charakters eine gewisse Bindung des Was? an das Wer? ausdrückt. In Wahrheit ist der Charakter das ‚Was‘ des ‚Wer‘. 620 Da der Charakter also im eigentlichen Sinne die beiden Instanzen ineinander übergehen lässt, versucht Ricœur über das Konzept des gehaltenen Worts, d. h. über eine ethische Dimension, dem Begriff des ipse eine eigenständige Qualität zu geben, die Beständigkeit in der Zeit garantiert, ohne auf qualitative Merkmale oder auf Konzepte von Identität als Substrat und Substanz rekurrieren zu müssen. Im Worthalten kommt nach Ricœur eine „Selbst- Ständigkeit“ 621 zum Ausdruck, die sich nur mehr mit der Wer bin ich? -Frage verbinden lässt, ohne sich auf die Was bin ich? -Frage (des idem) reduzieren zu lassen. 622 Das ipse stellt in diesem Zusammenhang eine symbolisch leere Instanz dar, die aufgrund ihrer ethischen Dimension auch in Bezug auf die Frage von Bedeutung ist, wer denn nun für eine erzählte Geschichte einsteht. Ricœurs Ansatz lässt sich indes durchaus mit jenem von de Man verbinden, welcher in Kap. 6 ausgeführt wurde: Das mittels eines rhetorischen Sprechaktes gesetzte Ich stellt sich als entblößtes ipse (‚describing nothing‘) dar, wobei diese leere Instanz des Ich mittels des idem seine narrative Einkleidung findet, d. h. es wird durch das idem re/ präsentiert. Die/ Der Einzelne als ErzählerIn verkörpert also „jenes leere, aber unverzichtbare Ipse, das erzählt, um sich symbolisch durch Selbigkeit anzureichern und auf diesem Wege eine höchst fragile Identität zu generieren“ 623 , bestätigt Müller-Funk. Damit ist auch Ricœurs Konzept von idem und ipse dieselbe Paradoxie inhärent, die wir schon bei de Mans Überlegungen zur Sprache im Allgemeinen kennen gelernt haben. Wie bereits angemerkt, schließen sich nach de Man die beiden Funktionen der Sprache - zu setzen und gleichzeitig zu repräsentieren - logisch aus und können dennoch nicht ohne die jeweils andere existieren. Ähnliches gilt nun für die beiden Dimensionen des Ich: „[D]as Subjekt erfindet sich durch 617 Vgl. ebenda, S. 151. 618 Vgl. Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 166. 619 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 151. 620 Ebenda, S. 151f. (Markierungen dem Original entnommen). 621 Ebenda, S. 153. 622 Vgl. ebenda, S. 147. 623 Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 170. 7.1 Zu Ricœurs Konzept der Dimensionen des Ich 173 den narrativen Bezug auf andere und doch wird in diesem Akt des Erzählens die Existenz jenes Subjekts vorausgesetzt, das sich im Akt der [sic! ] Erzählens konstruiert […].“ 624 Interessanterweise sieht Ricœur gerade in der Literatur, also in Texten, jenen Ort, der als besonders geeignet erscheint, das paradoxe Verhältnis der beiden Dimensionen des Ich auszuloten. Denn für Ricœur stellt die Literatur ein „Laboratorium für Gedankenexperimente“ dar, wobei der „Gewinn dieser Gedankenexperimente darin [besteht], dass sie die Differenz zwischen den beiden Bedeutungen von Beständigkeit in der Zeit ersichtlich machen, und zwar dadurch, dass sie deren wechselseitiges Verhältnis variieren.“ 625 So scheinen Genres wie u. a. das Märchen darauf zu fokussieren, die Dimension des idem auszuleuchten, da deren Figuren von Anfang bis Ende als ein- und dieselben wiedererkennbar bleiben. Der Roman des Bewusstseinsstroms hingegen stellt nach Ricœur das Ich als ipse ins Zentrum, da in derartigen Romanen die Figuren aufhören, Charakter zu sein/ haben. So erscheint Robert Musils Ulrich, Der Mann ohne Eigenschaften, dem französischen Philosophen als ein vom idem entblößtes ipse. 626 Auch das Ich in einer Vielzahl an zeitgenössischen Lyrik-Texten könnte auf diese Weise verstanden werden. Im Folgenden sollen nun die hier dargelegten Positionen Ricœurs für die Analyse von Rap-Texten fruchtbar gemacht werden. Dabei gilt es in den folgenden Analysen auszuloten, auf welche Weise die Dimensionen des idem und des ipse und ihre dialektische Verschränkung innerhalb von Rap-Texten verhandelt werden. Da - wie oben ausgeführt - Rap-Texte zum einen zu den wortreichsten innerhalb der Populärmusik gehören und zum anderen immer wieder autobiographisch gelesen/ gehört werden, scheint es nahe zu liegen, dass der (narrativen) Dimension des idem erhöhte Aufmerksamkeit gezollt wird. Die Kategorisierung der Rap-Texte als Lyrik - als ‚Kunst des Moments‘ - deutet wiederum an, dass sich innerhalb der Texte ein entblößtes ipse zeigt, das keiner narrativen Einkleidung bedarf. Auch die in Kap. 3 aufgeworfenen Fragen um die soziale oder ethnische Authentizität von Rap-Texten sowie um etwaige politische Anliegen der Texte legen nahe, dass es in Bezug auf die ipse-Dimension eines Ich von Wichtigkeit sein wird, wer für den erzählten Text einsteht. Es gilt nun in den folgenden Analysen die Variationsvielfalt zwischen diesen Positionen im Rap auszuloten resp. zu demonstrieren. Dabei soll auch in den Blick genommen werden, auf welche Weise über die Verhandlung der verschiedenen Dimensionen des Ich im Text ein Bezug zu einem Ich vor dem Text hergestellt oder suspendiert werden kann. 624 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 76. 625 Beide Zitate: Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 182. 626 Vgl. ebenda, S. 183. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 174 7.2 Textanalysen In den folgenden vier Unterkapiteln werden 16 ausgewählte Rap-Texte auf die Frage hin untersucht, auf welche Weise die unterschiedlichen Dimensionen des Ich innerhalb der Texte verhandelt werden. Für eine eingehende Analyse wurden dafür zunächst vier Themenstränge ausgewählt, die in der von Androutsopoulos und Scholz 2002 veröffentlichten Studie 627 zu fünf europäischen Rap-Szenen als die fünf meistverhandelten Themata im Rap aufscheinen: 1) Selbstdarstellung (hier: „Ich-Erzählungen“), 2) Sozialkritik/ Politik, 4) Szenediskurs (hier: „Rap über Rap“) und 5) Liebe/ Sexualität (hier: „Der Diskurs der Liebe - Geschlechterbeziehungen“). Thema 3 (Nachdenken) bei Androutsopoulos und Scholz wurde vernachlässigt, da es sich m. E. unter 2) subsumieren lässt. Von jeder/ m der vier in Kap. 6 eingeführten KünstlerInnen wurde nun ein Text pro Thema gewählt, d. h. insgesamt werden 16 Texte untersucht. In einem Close Reading, das den Texten größtenteils Vers für Vers folgt, soll im Folgenden unter Berücksichtigung der oben verhandelten Positionen zu den verschiedenen Dimensionen des Ich nach Ricœur analysiert werden, welche Funktion das Ich im Text hat resp. auf welche Weise die Texte in diesem Zusammenhang Sinn konstituieren. Da im Rahmen dieser Untersuchung die zu analysierende Ich-Instanz im Text als grundsätzlich nicht geschlechtlich markiert verstanden wird, werden im Folgenden alle Ichs im Text als ErzählerInnen, als SprecherInnen o. Ä. gefasst. Auf diese Weise soll der Analysefokus u. a. auf jene rhetorischen oder erzählerischen Mittel gerichtet werden, mittels welcher die Ichs im Text geschlechtlich verortet werden. Zur Notation der Texte gilt es folgende Angaben zu machen: Die Schreibweise der Texte wurde den Standardregeln der deutschen Orthographie (Stand 2012) angepasst. Samples werden kursiv wiedergegeben. Umfasst eine Texteinheit mehr als vier Verse, wurde zur LeserInnenorientierung eine Verszählung hinzugefügt. Tritt ein Binnenreim auf, so wurde innerhalb eines Verses ein Zäsurstrich gesetzt. Da in sehr vielen Fällen assonant gereimt wurde, wurde bei der Ausarbeitung des Reimschemas kein Unterschied zwischen reinen und unreinen Reimen resp. Assonanzen gemacht. Waisen werden mit (x) markiert. 7.2.1 Ich-Erzählungen Die ‚Authentizitätsdebatte‘ rund um Rap-Texte wurde im Rahmen dieses Bandes bereits hinlänglich diskutiert. Wie ausgeführt, galt und gilt es immer wieder von Seiten der Medien, der Theorie oder auch innerhalb der Szene, das Verhältnis der in den Texten dargestellten Welt zu jener der KünstlerIn- 627 Vgl. Androutsopoulos/ Scholz, On the recontextualization of hip-hop in European speech communities (Anm. 297), Quelle: Internet. 7.2 Textanalysen 175 nen auszuloten. Auf die Problematik dieser Vorgehensweise wurde ebenso verwiesen, so dass im Rahmen dieser kurzen Einleitung zu den folgenden Textanalysen zum Thema „Ich-Erzählungen“ nur kurz zusammengefasst werden soll, welche klassischen Textsignale eine/ n Rezipientin/ en dazu veranlassen könnten, Rap-Texte als autobiographisch zu lesen oder zu hören. Bereits in Kap. 6 wurde in diesem Zusammenhang auf die Wichtigkeit der Namensnennung verwiesen. Lejeune war davon ausgegangen, dass sich Autobiographien durch eine Übereinstimmung des Namens der ProtagonistInnen des Textes mit dem Namen der KünstlerInnen auf dem Umschlag auszeichnen würden. 628 Wie erwähnt, stellt nun die Nennung jenes Namens im Text, der dem Rap auch (auf dem Cover etc.) ‚vorangestellt wird‘, ebenso eine häufig angewandte Authentisierungs-Strategie in Rap-Texten dar. Es finden sich innerhalb der Texte auf vielfache Weise Bezüge zu KünstlerInnennamen resp. auch bürgerlichen Namen, die eine Identifikation der Ichs vor dem Text mit den Ichs im Text nahe legen. So heißt es im Intro auf dem von Sido veröffentlichten Album Maske X: „Man nennt mich Sido! / Ich bin 1,86 und wieg’ 72 Kilo“ (Si 1). Wie ebenso bereits ausgeführt, spricht Lejeune wiederum in Bezug auf die klassische Autobiographie von einem autobiographischen Pakt zwischen KünstlerIn und Publikum, wenn die/ der AutorIn der/ m LeserIn durch die Wahl eines entsprechenden, auf das Genre verweisenden Titels oder mittels eines einführenden erzählerischen Abschnittes im Text kommuniziert, dass es sich beim vorliegenden Werk um einen autobiographischen Text handelt. 629 Innerhalb von Rap-Texten findet sich naturgemäß weder der (auf dem Titelcover) anzubringende Begriff der ‚Autobiographie‘ noch ein entsprechender einleitender erzählerischer Abschnitt. Dennoch können, wie im Exkurs in Kap. 6 dargestellt, Albumtitel, Songtitel sowie auch Intros autoreferentielle Bezüge herstellen. Auch innerhalb von Rap-Texten finden sich Hinweise darauf, dass vom ‚eigenen Leben‘ erzählt wird. Mittels lokaler wie temporaler Bezüge wird in den Texten oftmals ein Bezug zu einer außertextuellen ‚Realität‘ hergestellt. Die Ichs im Text lokalisieren das Geschehen z. B. im deutschsprachigen Raum, in bestimmten Städten wie auch Stadtvierteln. So heißt es bei Fiva: „Wenn ich an euch denk’, denk’ ich an Sommer auf Wiesen liegen / Bier genießen, reden bis die Worte fließen wie die Isar / in der Stadt, die nie Berlin war, großes Dorf mit Schickeria“ (Fi 33). In manchen Fällen werden auch temporale Referenzen (auf bestimmte Ereignisse der Zeitgeschichte) hergestellt: „Du hast in ’ner Zeit gelebt geprägt von zwei Kriegen“ (Fi 7), heißt es auch bei Fiva. In anderen Fällen wird der ‚autobiographische Gehalt‘ des Textes auch mittels einer Berufung auf die ‚Wahrhaftigkeit‘ des eigenen Spre- 628 Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt (Anm. 496), S. 30ff. 629 Vgl. ebenda, S. 28. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 176 chens unterstrichen. So beteuert das Ich in einem Text von Pyranja: „Ich sag’ nix als die Wahrheit […]“ (Py 14). 630 Allerdings kann die Abhandlung des Themas ‚Ich‘ im Rap im Sinne der ‚klassischen‘ Lyrik auch erfolgen, indem der Ausdruck von Empfindungen und Vorstellungen, die mehr einer Momentaufnahme 631 denn einer chronologisch erzählten Geschichte entsprechen, in den Vordergrund gerückt wird. Während in einigen Texten also die Darstellung eines Handlungsverlaufs innerhalb eines historisch spezifizierten Zeit- und Raumkoordinatensystems im Fokus steht, so werden in anderen Texten eher momentane Befindlichkeiten thematisiert. Das Besondere im Rap ist dabei, dass oftmals Merkmale narrativ gehaltener Texte mit den Komponenten einer lyrischen ‚Momentaufnahme‘ verflochten werden. Dementsprechend steht bei den vier folgenden Texten das Ich auf unterschiedliche Weise im Mittelpunkt. Es gilt zu untersuchen, ob dabei die narrative Komponente der Selbigkeit (des idem) oder jene der auf eine ErzählerInnenposition reduzierten Selbstheit (des ipse) im Vordergrund steht. Fiva MCs Rap Blaue Flecken (Fi 7) präsentiert sich als sehr narrativ gehaltener Text. Das Lied besteht aus drei Strophen (zu je 16 Versen), in welchen jeweils die Geschichte der Großmutter, Mutter und des Ich selbst präsentiert wird. Der Rap setzt zunächst mit dem Refrain ein, welcher acht Verse umfasst: 1) Refrain: Wir sind drei Generationen auf dem selben Planeten a 2) Die im selben Land leben / unter selbem Himmel beten a’/ a 3) Sie haben Leben gegeben / und viel riskiert a’/ b 4) Ich hab’ die Welt betreten / und davon profitiert a/ b 5) Wir sind drei Generationen mit den selben Genen c 6) Die sich mehr als andere freuen und sich zu oft schämen c 7) Sie haben offene Wunden und Narben, die sie verstecken d 8) Ich habe nur offene Fragen und blaue Flecken (Fi 7). d Wie deutlich wird, besteht der Refrain aus zwei Quartetten. Der jeweils erste Vers beginnt mit einem „wir“, setzt also ein kollektives Subjekt, das den nachfolgenden Worten gemäß aus drei Personen von drei verschiedenen Generationen besteht. RezipientInnen werden auf diese Weise vom ‚wir‘ ausgeschlossen. Die Verbundenheit zwischen den drei Personen wird durch die dreimalige Wiederholung des „selben“ in den ersten beiden Versen zum Ausdruck gebracht. Dabei wird eine Bewegung vollzogen vom „Planeten“ zum „Land“ und wiederum zum „Himmel“. Die drei Personen teilen also den Planeten sowie auch das Land, sie sind also gleicher geographischer Herkunft. 630 Zu den problematischen Begriffen der ‚Wahrheit‘ resp. ‚Wahrhaftigkeit‘ in der Autobiographie vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (Anm. 465), S. 41ff. 631 Vgl. Freund, Deutsche Lyrik (Anm. 53), S. 7. 7.2 Textanalysen 177 Der Hinweis auf den ‚Himmel‘ könnte zunächst so zu verstehen sein, dass die drei Personen gleiche Einstellungen, Hoffnungen, Sehnsüchte teilen. Der Himmel könnte allerdings auch als Symbol für gleiche religiöse Einstellungen verstanden werden, schließlich „beten“ (Vers 2) alle drei zum „selbe[n] Himmel“ (Vers 2). Im dritten und vierten Vers des Refrains wird das Gruppen-Ich in zwei Instanzen gespalten: Die dritte Person Plural des „sie“ (der beiden anderen Generationen) wird einem Ich, das fortan in den Strophen als ErzählerIn fungiert, gegenübergestellt. Durch diese Gegenüberstellung wird die Perspektive des Liedes klar als diejenige des Ich ausgewiesen. Der Gemeinsamkeit zwischen den drei Personen, die in den ersten beiden Versen des Refrains hervorgehoben wurde, wird nun etwas Trennendes entgegengesetzt, was über die reimenden Partizipien der Verse 3 und 4 zum Ausdruck gebracht wird: gegeben/ riskiert - betreten/ profitiert. Während die Angehörigen der beiden älteren Generationen gegeben und riskiert haben, hat das Ich (die Welt) betreten und profitiert. Auf diese Weise bildet die Reimstruktur dieser Verse des Refrains das Thema des Liedes ab - die Gegenüberstellung von Trennendem und Verbindendem zwischen den drei Personen. Während die ersten beiden Verse mit Reim (a) und die letzten beiden mit (b) endgereimt sind und Paare bilden, stellen die Wörter vor der Zäsur des zweiten und dritten Verses assonante Reime (a’) zu (a) und in sich reine Reime dar; das Reimwort im vierten Vers stellt wiederum einen reinen Reim zu (a) dar: Die Begriffe „Planeten“ (Vers 1, Ende) / „leben“ (Vers 2, Mitte) / „gegeben“ (Vers 3, Mitte) / „betreten“ (Vers 4, Mitte) werden also in diesen ersten Versen gereimt. Dergestalt entsteht einerseits eine Verbindung zwischen allen vier Versen mit besonderem Zusammenhalt durch den Kreuzreim (a), während Reim (b) die Trennung zwischen ‚sie‘ und ‚ich‘ transportiert. Das zweite Quartett des Refrains stellt in Bezug auf die syntaktische Struktur eine Wiederholung des ersten dar. Die Reimstruktur ist allerdings einfacher, es gibt keine Binnenreime mehr, sondern nur zwei endgereimte Paare. Das grundlegende Thema wurde also bereits im ersten Quartett vorgestellt, während es nun lediglich leicht variiert wird. So wird im fünften Vers deutlich, dass die drei Personen von einer Familie sind (was die „Gene[…]“ anzeigen) und deshalb auch ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen. Dass sich alle drei zu oft „schämen“ (Vers 6), mag als Hinweis auf eine zu konstatierende Unsicherheit aller drei Personen gelten. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass ‚sie‘ ihre Narben und Wunden verstecken: Es gilt also in der Gesellschaft Verletzungen nicht zu zeigen, Schwäche nicht zuzulassen. Die jeweils dritten Verse der Quartette korrespondieren formal wie inhaltlich („Sie haben Leben gegeben und viel riskiert“ / „Sie haben offene Wunden und Narben“), ebenso wie die jeweils vierten Verse („Ich hab’ die Welt betreten und davon profitiert“ / „Ich hab’ nur offene Fragen und blaue Flecken“): Während die beiden anderen Generationen in ihrem Leben offensichtlich Gefahren ins Auge blicken mussten, wird das Ich als jene Person dargestellt, 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 178 welche von diesem Tun profitieren konnte und deshalb im Gegensatz zu den „offenen Wunden und Narben“ (Vers 7) nur die minder schwere Verletzung der „blaue[n] Flecken“ (Vers 8), so auch der Titel des Liedes, davongetragen hat. Dass alle Verletzungen aufweisen, verbindet wiederum. Im letzten Vers des Refrains wird schließlich das für die Wunden gebrauchte Adjektiv „offen“ (in Bezug auf das Ich) wiederholt, allerdings in figurativer Weise in Bezug auf die Fragen des Ich. Interessant ist allerdings, dass der ‚wörtliche‘ Gebrauch in „offene Wunden“ wiederum figurativer Natur ist, da es sich sowohl bei den „offene[n] Wunden“ als auch den „blaue[n] Flecken“ um seelische und keine körperlichen Verletzungen zu handeln scheint. Was noch ‚offen‘ bleibt, ist die Natur dieser Fragen des Ich, auf die es (noch) keine Antwort hat. In den drei Strophen werden nun die Geschichten der drei Personen nach Generationen geordnet in chronologischer Ordnung vorgestellt: So ist die erste Strophe der ältesten Generation, die dritte schließlich dem Ich gewidmet. In Hinblick auf die Temporaldeixis ist festzuhalten, dass die Strophen größtenteils im Präteritum und Perfekt gehalten sind, was vom Standpunkt der Erzählsituation auf eine abgeschlossene Vergangenheit verweist. Lediglich an den Enden der Strophen wird das Präsens verwendet, was einen Bezug zur Erzählsituation des Ich herstellt. Die Hinweise auf eine Zeit, geprägt von „zwei Kriegen“ (Vers 1, Strophe 1), vom „Stern“ (Vers 10, Strophe 2) resp. dem „Mauerfall“ (Vers 5, Strophe 3), verorten das Geschehen zunächst im Deutschen Reich des Nationalsozialismus und im weiteren Verlauf in der Bundesrepublik Deutschland: 1) Du hast in ’ner Zeit gelebt geprägt von zwei Kriegen a 2) Unter großen Verlusten und Scheinsiegen a 3) Lügen zur Besserung der Situation b 4) Durch Schlachten von Menschen mit lauten Kanon’ b 5) Du hast gewusst, was Hunger ist in ’ner Zeit ohne Mann c 6) Ungewiss wie lang / standest du an Schlangen an c/ c 7) Kamst als nächste dran / um mit leeren Händen zu geh’n c/ d 8) Hilfe? Von wem? / Stolz ließ dich nicht fleh’n d/ d 9) Hast gelehrt in einer Zeit, die Wahrheit verbot e 10) Und man sich selbst zum Wohl / seiner Kinder belog e/ e 11) Widerstand? Tod! / Flucht? Zu gefährlich! e/ f 12) Nur wer nichts zu verlieren hat, wehrt sich f 13) Du hast gekämpft und mir gezeigt, was Mut bedeutet g 14) Wut unterdrückt, dass man dein Leben vergeudet g 15) Gezeichnet von Angst / halt’ ich deine Hand h/ h 16) Dass du nicht mehr kannst / hat der Tod längst erkannt. h/ h Wie aus der zeitlichen Verortung der ersten Strophe und insbesondere aus den Verweisen in Vers 5 hervorgeht, wird hier die Großmutter des Ich adres- 7.2 Textanalysen 179 siert, indem sie als ‚Du‘ angesprochen wird. Wie deutlich wird, ist ihre Geschichte insbesondere von den Gräueln des Zweiten Weltkrieges (Verse 1-10) geprägt: Es gibt kein Essen, der Ehemann ist nicht präsent, das Regime belügt die Bevölkerung und schickt sie in den sicheren Tod. Den Höhepunkt der Strophe stellen in diesem Zusammenhang die Verse 11 und 12 dar: „Widerstand? Tod! Flucht? Zu gefährlich! / Nur wer nichts zu verlieren hat, wehrt sich“. Diese beiden Verse verhandeln die Möglichkeiten des Ich, sich als einfache Bürgerin gegen die NS-Herrschaft zur Wehr zu setzen. Dabei bringt Vers 11 durch die Häufung der Nomen die Ausweglosigkeit der Situation der Großmutter zum Ausdruck. Es scheint nicht mehr möglich, in ausformulierten Sätzen zu sprechen. Angesichts der Situation der Kriegswirren und der Verfolgung durch den Staat ist keine geordnete und unter Umständen ethisch vertretbare Handlung mehr durchführbar. Das Abwägen und Verwerfen von Handlungsmöglichkeiten wie Flucht oder Widerstand gegen das Regime werden in den Versen auch lautlich ausgedrückt: In einem Wechsel zwischen hohen und tiefen Vokalen wird das emotionale Auf-und-Ab in den Gedanken des Du deutlich: Widerstand ([i], [ ], [a]), Tod ([o ]), Flucht ([ ]), zu ([u]), gefährlich ([e], [ ], [ı]). Mit einer ethisch zweifelhaften Sentenz gibt das Ich die Begründung für das Verwerfen der Möglichkeiten der Flucht oder des Widerstands seitens des Du an: Es wehrt sich nur, wer nichts zu verlieren hat. Am Ende von Strophe 1 holt das Ich die Gesprächssituation in die Gegenwart. Mit zwei binnen- und endgereimten Versen entsteht ein sehr dichtes, schnelles Gefüge von vier Vershälften, das die Angst des Ich transportiert. Wovor das Ich Angst hat, bringt eine anorganische Paronomasie der Verbformen (kannst/ erkannt) zum Ausdruck: Die Präsensform des einen Verbs (können) und das Partizip des anderen (erkennen) werden parallel gesetzt, um zu zeigen, dass das Du als Großmutter des Ich müde und dem Tod nah ist. In Strophe 2 wiederum wird ein anderes Du adressiert, das sich in den letzten drei Versen als Mutter des Ich herauskristallisiert: 1) Du bist geboren in ’ner Zeit, als alles kaputt war a 2) Mit dem Herz deiner Mutter / das nur Asche und Schutt sah a/ a 3) Dein erster Geburtstag / das Ende des Blutbads a/ a 4) Die Wende, die gut tat / da die Menge genug hat a/ a 5) Hast gelebt zwischen Neubau und zertrümmerten Seelen b 6) Die sich innerlich quälen / weil Erklärungen fehlen b/ b 7) Sprechen? Mit wem? Der Schock lag zu tief c 8) Man verlor einen Krieg / ohne wahres Motiv c/ c 9) Hast gesehen, wie dein Vater starb / seiner Krankheit erlegen d/ e 10) Der Stern verbot Vater Staat / ihn früher zu pflegen d/ e 11) Gabst dir Mühe - weswegen? / Schule für Mädchen zur zehnten e/ e 12) Danach Arbeit an Theken / anstatt tanzen auf Feten e/ e 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 180 13) Hast mir gezeigt / dass man durchhalten kann f/ g 14) In einer Zeit / als dein Mann / nicht mehr arbeiten kann f/ g/ g 15) Drei Kinder im Wagen / die Ansprüche haben h/ h 16) Alles dankbar ertragen / doch Jahre nichts sagen. h/ h An den ersten vier Versen der zweiten Strophe ist von besonderem Interesse, dass sie durch einen Reim verbunden werden, der die beiden letzten betonten Vokale umfasst, wobei es sich um eine Verbindung der hohen Vokale [u], [u ] resp. [ ] mit den tiefen Vokalen [a], [a ] und [ ] handelt. Mittels der Binnenreime wird zudem das Verstempo erhöht, da in kurzer Zeit viele Reimwörter fallen, die den Sprechfluss strukturieren: „kaputt war“ / „Mutter“ / „Schutt sah“ / „Geburtstag“ / „Blutbad“ / „gut tat“ / „genug hat“. Der durch das Tempo und die gewählten Reimvokale entstehende abgehackte Stil bringt die Eindringlichkeit und Verzweiflung dieses Moments des Kriegsendes zum Ausdruck. Geschildert wird daraufhin die Situation nach dem Krieg, die von kaputten Häusern, von einem tief sitzenden Schock geprägt war. Die Auswirkungen des NS-Regimes wirken nach, indem der Vater des apostrophierten Du stirbt, der aufgrund seiner Angehörigkeit zum Judentum nicht zu einem früheren Zeitpunkt ärztlich behandelt werden konnte. Auch hier benutzt das Ich eine anorganische Paronomasie, die mit der lautlichen Ähnlichkeit von „Vater starb“ (Vers 9) und „Vater Staat“ (Vers 10) spielt: Dabei wird die Parallelisierung der zwei Väter durch die Verantwortungslosigkeit und Unmenschlichkeit des ‚Vater Staates‘ ad absurdum geführt. Die Verse 9 bis 12 werden wiederum durch den Reim (e) zu einer Einheit gefasst: In (e) stimmen die letzten beiden Vokale überein, beim betonten Vokal handelt es sich um ein bisweilen gedehntes [e]. Gerade die Häufung dieses Vokals bringt eine gewisse Resignation und Hoffnungslosigkeit zum Ausdruck. Das Leben des Du, mitunter geprägt durch den oben erwähnten Tod des Vaters, bot keine Möglichkeiten für weiterführende Bildung und Vergnügen, sondern nur für Arbeit. Auch dieses Du scheint vom Mann allein gelassen (Vers 14), wobei die letzten beiden binnen- und endgereimten Verse einen Eindruck von Monotonie erzeugen. Die Verdoppelung des Reims („Wagen“ / „haben“ / „ertragen“ / „sagen“) steigert am Ende der Strophe zwar das Tempo des Sprechflusses, drückt aber durch die Häufung des Vokals [a] Lähmung und Resignation im verfliegenden Alltag aus. In den ersten beiden Strophen geht das Ich beinahe vollständig in seiner Funktion als ErzählerIn auf. Etabliert wird - wie dargestellt - eine Kommunikationssituation mit einem Du, das direkt angesprochen wird und sich in der ersten Strophe als Großmutter, in der zweiten Strophe als Mutter des Ich herausstellt. Wie Erika Greber betont, gilt es als Charakteristikum der Du- Erzählung, dass „die angesprochene Person der zentrale Handlungsträger 7.2 Textanalysen 181 [ist], jedoch keine eigene Rede [hat], gewissermaßen sprachlos [ist].“ 632 Während aber in der klassischen Du-Erzählung 633 die Rederesp. Erzählinstanz oftmals im Dunklen bleibt, ist im hier analysierten Rap jene Instanz, welche das Du anspricht, durch den Refrain zu Beginn des Raps eindeutig. Wozu aber findet die Du-Form in diesem Rap Verwendung? Weshalb erzählt das Ich nicht wie im Refrain in der dritten Person über seine Familienmitglieder? Wie gezeigt werden kann, stellt die Verwendung der Du-Form auf mehreren Ebenen einen Gewinn dar. Auf der einen Seite erzeugt sie den Eindruck eines vertraulichen Gesprächs zwischen Ich und Du, welcher natürlich trügt, da das Du selbst nicht spricht. Dennoch erlaubt die Konstellation eine Belebung der Erzählung. Zudem ermöglicht es die Form, „einen fremden Beobachterstandpunkt einzuschleusen und die detaillierte Wiedergabe der ‚Bilder‘ realistisch zu motivieren.“ 634 Obgleich das Ich die eigentliche Erzählinstanz bleibt, zeigt sich im Verlauf der Strophen eine Schwierigkeit, den Focalizor der wiedergegebenen Worte zu identifizieren und die Instanzen des Ich und Du zu trennen. 635 Die Rede des Du wird zwar erst über das Ich zugänglich, das Ich verleiht aber den beiden anderen eine Stimme (im wörtlichen wie metaphorischen Sinn). Dies scheint mit Angaben aus dem Refrain zu korrespondieren, wenn das Ich erläutert, dass „sie“ Narben und Wunden „verstecken“ würden, während das Ich „offene Fragen“ habe: Das Ich scheint es also im Gegensatz zu den beiden anderen gewohnt zu sein zu sprechen. Eine Erzählung in der zweiten Person anstatt der dritten Person möchte schließlich womöglich auch den Eindruck dessen verhindern, was Spivak „bio-piracy“ 636 nennt: Die autoritäre Aneignung und Wiedergabe einer fremden Stimme, über die gesprochen wird, ohne - im Gegensatz zum Du - in eine Kommunikationssituation eingebunden zu sein. 637 Die Verwendung des 632 Erika Greber: Wer erzählt die Du-Erzählung? Latenter Erzähler und implizites gendering (am Beispiel einer Kurzgeschichte von Tschechow). In: Sigrid Nieberle und Elisabeth Strowick (Hrsg.): Narration und Geschlecht. Texte - Medien - Episteme. Köln/ Weimar/ Wien 2006, S. 45-72, hier S. 47. 633 Vgl. ebenda, S. 47 oder S. 59ff. 634 Ebenda, S. 51. 635 Dies zeigt sich insbesondere an jenen beiden oben behandelten Textstellen, in denen Fragen aneinandergereiht werden, die die Verzweiflung der Situation zum Ausdruck bringen: „Widerstand? Tod! Flucht? Zu gefährlich! “ (Vers 8, Strophe 1) oder „Sprechen? Mit wem? “ (Vers 7, Strophe 2). 636 Gayatri C. Spivak: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a History of the Vanishing Present. Cambridge/ London 1999, S. IX. 637 Zum Status der dritten Person Singular im gesprochenen Kontext vgl. Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 296; im Kontext von Erzählungen vgl. Wagner, Erzählstimmen und mediale Stimmen (Anm. 466), S. 143ff. In Bezug auf das Du sollte auch nicht vergessen werden, dass seine Verwendung die RezipientInnen in stärkerem Ausmaß involviert als ein Text in der dritten Person: Gewohnt an den Mechanismus der Apostrophe/ Interpellation fühlt sich die/ der RezipientIn im oben angeführten Rap durch das Du angesprochen, obwohl im Refrain und im Verlaufe des Textes klar wird, 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 182 Du erweckt also den Eindruck, das Ich würde es animieren wollen zu sprechen. Erst in der dritten Strophe kommt das Ich auf die eigene Geschichte zu sprechen. Die Strophe lässt sich in drei Abschnitte teilen. Während der erste (Verse 1-6) das Verhältnis des Ich zur historischen Situation beleuchtet, thematisiert der zweite (Verse 7-11) die Ausbildung des Ich. Der letzte Abschnitt (Verse 11-16) schließlich dient der Reflexion: 1) Ich bin geboren in ’ner Zeit, als die Grenzen definiert war’n a 2) Tendenzen positiv und sie uns wieder akzeptiert haben a 3) Hab’ nichts gesehen von den Kämpfen / für Veränderung b/ c 4) Studentenaufständen / oder Gedenkstunden b/ c 5) Ich hab’ die Sendung verpennt, die den Mauerfall zeigte d 6) Was ich später bereute / als ich sah, wie man sich freute d/ d 7) Hatte Ziele und Träume / vom Tanzen auf Bühnen d/ e 8) Langes Bemüh’n / dann das erste Zieh’n / in den Knien e/ f/ f 9) Ich habe gelernt bis zum Abi / durch Geld von der Mami g/ g 10) Ausbildung in Marketing, danach Soziologie h 11) Die Frage, wie / gab’s nie / bis ich auf eigenen Beinen stand h/ h/ i 12) In dieser Zeit hab’ ich erkannt / wie einfach ich das Leben fand i/ i 13) Ich hab’ gespürt, dass ich durch Kaufen lieben vergaß j 14) Und jeden beliebigen Gast / an seinem Einkommen maß k/ j 15) Dachte ‚Du bist, was du hast‘ / doch ‚Ich hab, was ich bin‘ k/ l 16) Ihr habt gekämpft bis hier hin / und gebt mir einen Sinn l/ l Refrain. Erst in der dritten, reimtechnisch anspruchsvollen Strophe handelt das Ich seine eigene Geschichte aus, situiert sich als aufgewachsen in den 1970er und 1980er Jahren. Dank der stabilisierten politischen und wirtschaftlichen Lage in Westdeutschland war es für das Ich kaum notwendig, sich mit der politischen Situation des Landes auseinander zu setzen (Verse 1-6). Dementsprechend hat das Ich „nichts gesehen“ (Vers 3) von den Studentenunruhen u. Ä., auch den Mauerfall hat es „verpennt“ (Vers 5). In weiterer Folge zeichnet das Ich seinen Ausbildungsweg vom Abitur bis zum Studium nach, erzählt mittels einer Alliteration („Träume“ / „Tanzen“) von geplatzten Träumen einer TänzerInnenkarriere. Wichtig bleibt ihm hervorzuheben, dass es einfach war, diesen Weg mittels der (finanziellen) Unterstützung der Mutter zu gehen. Dass es sich dieser Einfachheit aber nicht bewusst war, erkennt das Ich erst, als es wusste, was es heißt, auf eigenen Beinen zu stehen. dass das Du im Kontext des Liedes eindeutige Referentinnen besitzt; zur „multiple[n] Referentialität“ oder „doppelte[n] Deixis“ der Du-Erzählung vgl. Greber, Wer erzählt die Du-Erzählung? (Anm. 632), S. 47. 7.2 Textanalysen 183 Es stellt zudem fest, sich durch diesen finanziellen Wohlstand verleiten haben zu lassen, den Wert anderer Menschen an finanziellen Faktoren zu messen und zu denken, ‚Kaufen und Haben‘ seien wichtiger als die ‚Liebe‘. Diese Einstellung wird über eine figura etymologica zum Ausdruck gebracht: Dem Verb „lieben“ (Vers 13) wird das Adjektiv „beliebig“ (Vers 14) gegenübergestellt. Indem sich das Ich das Problem bewusst macht, wird allerdings ein Umschwung im Denken eingeleitet, es weiß jetzt, dass das Einzige, was es hat, der Umstand ist, zu sein, wiewohl dieses Sein, wie der Text zeigt, sich nur über narrative Bezüge erschließen lässt. Wodurch also wird der Umschwung in Gang gesetzt? In der dritten Strophe wird mittels der größtenteils in Präteritum und Perfekt gehaltenen Erzählung eine Entwicklung des Ich nachvollzogen, welche einen Zusammenhang zu den Geschichten der älteren Generationen herstellt, der im letzten Vers auf den Punkt gebracht wird: „Ihr habt gekämpft bis hier hin und gebt mir einen Sinn“. Gerade die über das „hier hin“ erzielte Temporaldeixis lenkt die Aufmerksamkeit der HörerInnen/ LeserInnen direkt auf die Perspektive der/ s Sprecherin/ s zur Zeit des Sprechaktes. Der Sinn des eigenen Lebens entschlüsselt sich dem Ich über das, was die anderen vorgelebt haben. Auf diese Weise gehören die Biographien der beiden anderen zur eigenen Biographie. Bei der Großmutter heißt es: „Du hast gekämpft und mir gezeigt, was Mut bedeutet“ (Vers 13, Strophe 1) und bei der Mutter „[Du h]ast mir gezeigt, dass man durchhalten kann“ (Vers 13, Strophe 2). Nur den beiden ist es zu verdanken, dass es das Ich leichter im Leben hatte als seine Mutter und Großmutter. Es hat von ihnen gelernt. Das Ich bleibt allerdings trotz der Entwicklung, die es im Text nachvollzieht, als Erzählinstanz konstant: Es zeigt sich in den ersten beiden Strophen als (mehr oder weniger) entblößtes ipse, bevor es in der dritten Strophe schließlich seine narrative Einkleidung (sein idem) darlegt. Es fügt sich dabei über die Erzählung der Geschichten der beiden älteren Generationen in ein ‚überlebensgroßes‘ oder vielmehr ‚überlebenslanges‘ narratives Gefüge ein. Gerade die historischen Zusammenhänge haben Einfluss auf die Entwicklung des Ich, die Geschichten der beiden älteren Frauen generieren auch das idem des Ich. Die historische Perspektive macht deutlich, dass im Lied „die präsentische Sicht des Subjekts als ausschließlicher Ursprung oder Eigentümer dessen, was gesagt wird, wirkungsvoll dezentriert“ 638 wird. Das Ich bedient sich der historischen Diskurse seiner Vorfahren, auf diese Weise zeigt sich: „[I]dentity is relational, meaning that it is not to be found inside a person, but that it inheres in the relations between a person and others.“ 639 Narrativität bedeutet dabei immer auch Zeitlichkeit. Das Ich verdeutlicht, dass man über den Bezug zu anderen Personen und deren Geschichten lernen kann; eine 638 Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 312. 639 Mark Currie: Postmodern Narrative Theory. Basingstoke 1998, S. 17. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 184 ausschließliche Konzentration auf die Gegenwart (und das, „was du hast“, Vers 15, Strophe 3) ermöglicht diese Reflexionen nicht. Diese relationale Identität wird auch über die Komponente der Geschlechtsidentität hergestellt. Prinzipiell finden sich im Text keinerlei konventionell ‚eindeutige‘ Hinweise darauf, welchem Geschlecht das Ich im Text angehört. Neben der Tatsache, dass das Ich über eine als weiblich erkennbare Stimme verfügt, wird eine Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht über die matrilineare Struktur der Erzählung nahe gelegt. Erzählt wird die Geschichte der Großmutter und Mutter, die Väter sind abwesend. Thema des Liedes stellt also die Wichtigkeit dar, trotz vielgestaltiger Schwierigkeiten als idem über die Zeit hinweg beständig (‚man selbst‘) zu bleiben, was vorwiegend durch konstant bleibende Charaktereigenschaften (wie Stärke, Mut, Ausdauer) erreicht wird, die von einer Generation zur nächsten ‚weitergereicht‘ werden. Schließlich ist das, was du bist, das einzige, was du hast (vgl. Vers 15, Strophe 3). Und die Situation des Präsens kann nur über eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit beeinflusst werden. Es gibt keinen expliziten Hinweis auf eine Verbindung des Ich im Text mit dem Ich vor dem Text. Über zeitgeschichtliche Angaben wird das Ich und seine Familie allerdings lokal wie temporal verortet. Aus diesem Grund wird das ‚ich‘ über weite Strecken des Liedes - wie im Refrain verdeutlicht - nicht als Leerdeixis eingesetzt. Rostock (Py 33) von Pyranja stellt indes auch einen narrativ gehaltenen Text dar. Das Lied besteht aus drei Strophen zu je 16 Versen, die von einem Refrain aus vier Versen unterbrochen werden. Wie der thematische Titel anzeigt, geht es im Lied um die deutsche Stadt Rostock. Die erste, in regelmäßigen Paarreimen gehaltene Strophe lässt sich in drei Abschnitte einteilen. Insbesondere im ersten Teil sind die Reime kaum als solche zu erkennen, es gilt tatsächlich nur eine Quasi-Übereinstimmung der betonten Vokale zu konstatieren, während die Zahl und Qualität der folgenden Konsonanten sehr heterogen ist (Tage-and’res / Warnemünde-Winter). Dem Liedtitel entsprechend beginnt die erste Strophe in den Versen 1 bis 6 mit lokalreferentiellen Angaben: 1) Ich fahr’ viel durch die Gegend, doch ich komm’ immer nach Hause a 2) Ich wohn’ halt öfters ’mal woanders, weil ich Abwechslung brauche a 3) Hin und wieder kehr’ ich um und komm’ zurück für’n paar Tage b 4) Weil mich der Platz der besten Jahre atmen lässt wie nix and’res! b’ 5) Strand und Steilküste, weißer Sand, Hafen mit Schiffen c 6) Warnemünde, blauer Himmel, ich lieb’ das Sommer wie Winter! (Py 33) c’ Ein Ich, das viel unterwegs ist, aber regelmäßig zurückkehrt in die Heimat, beginnt zu sprechen. Die Temporaladverbien zeigen diese Regelmäßigkeit an, wiewohl es im Verlauf der ersten Verse zu einer Abschwächung hinsichtlich 7.2 Textanalysen 185 der Häufigkeit der Besuche kommt: „immer“ / „öfters“ / „hin und wieder“. Die Heimat scheint langweilig geworden zu sein, dennoch handelt es sich um den Platz „der besten Jahre“ (Vers 4). Diese Angabe zeigt, dass das Ich insbesondere Erinnerungen an frühere Erlebnisse mit dem Ort verbindet. Diese Sicht wird in den Versen 5 und 6 zunächst wieder zurückgenommen, wenn in Bezug auf das Heimatgefühl die Natur besonders hervorgehoben wird: Mit einer alliterierenden Angabe („Strand“ / „Steilküste“) beginnt das Ich seine Beschreibung der Gegend. Vers 6 schließlich bestätigt die Zuneigung des Ich zu diesem Ort am Meer. Der erste Abschnitt der ersten Strophe dient einer grundsätzlichen Beschreibung der affektiven Beziehung des Ich zur Stadt und der sie umgebenden Natur. Das in Vers 4 angedeutete Verweben von Ortsreferenzen und narrativer biographischer Rahmung erfährt seinen Höhepunkt mit dem ersten Wort von Vers 7: „hier“. Diese lokaldeiktische Angabe referiert einerseits immer noch auf den Ort (Rostock und Umgebung), andererseits geht das Ich weg von der Natur zu kulturellen Orten (Lokale, Studios, Städte), die in seiner Biographie eine Rolle gespielt haben: 7) Hier hab’ ich angefangen, ihr habt schon damals gefeiert d 8) Im Jaz das erste Mal am Mic, ihr wart dabei, als ich soweit war d 9) Mit Underdog im Studio und ich das erste Mal auf Platte e 10) Fahren auf Jams in andere Orte, die ich vorher nicht kannte e 11) Malen mit G9P und IDS, yo, was geht mit der Vorstadt? f 12) Smoking Tuna, Iguana - ihr wart weit mehr als mein Warm Up! f „Hier hab’ ich angefangen“, postuliert das Ich und verbindet dergestalt den Ort mit dem Beginn seiner Karriere. Auf diese Weise erhält das „[h]ier“ (in Verbindung mit dem „schon damals“ in Vers 7) eine temporaldeiktische Komponente, indem es auf den Anfang eines Geschehens in der Vergangenheit hinweist. In weiterer Folge geht das Ich auf Personen ein, die es während dieser Zeit begleitet haben: Underdog, G9P, IDS, Smoking Tuna, Iguana. Zum Teil werden diese Menschen direkt adressiert: Das Ich wendet sich an ein „ihr“ (Vers 8). Das ‚hier‘ zu Beginn von Vers 7 verbindet also Ort, Zeit und Personen. Denn ein Ort erhält nur eine Bedeutung, wenn er in einen narrativen Bezug eingeflochten werden kann. Die Ausführungen machen dies deutlich. Die letzten vier Verse der ersten Strophe fügen schließlich dieser Schilderung von Erinnerungen einen weiteren Aspekt hinzu: 13) Ich wollt’ mich mit diesem Track bei all den Leuten bedanken g 14) Die immer da waren, wenn es drauf ankam, die einen Weg zu mir fanden g 15) Und auch wenn sich Zeiten ändern, Menschen bleiben die gleichen h 16) Vielleicht kann ich ja auf diesem Weg ein paar von euch erreichen. h 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 186 Diese Zeilen machen den performativen Gestus dieses Liedes deutlich: Das Ich erzählt seine Geschichte, um sich dabei bei seinen WegbegleiterInnen der ersten Stunde zu bedanken, dass sie für es da waren. Dementsprechend werden mittels der Apostrophe am Ende der ersten Strophe diese als Personen angerufen und als Personen gesetzt. Auch die zweite Strophe endet mit derselben rhetorischen Geste. Dieses Moment der Danksagung setzt ein Ich als ipse in seiner Beständigkeit und ethischen Dimension voraus, wobei es im eigentlichen Sinne über die performative Handlung als solches (wiederein)gesetzt und bestätigt wird. Das Ich spricht auch genau diese Beständigkeit (allerdings in Bezug auf die anderen) an, wenn es einerseits davon spricht, dass diese Leute „immer da waren“ (Vers 14) resp. wenn es davon ausgeht, dass „die Zeiten sich ändern“, aber „Menschen die gleichen [bleiben]“ (Vers 15). Was Beständigkeit vermittelt, ist die Dimension des Ich als ipse, die Verlässlichkeit garantiert. Gerade um diese Verlässlichkeit zu demonstrieren, ist Erinnerung wichtig, die als notwendige Voraussetzung für die Beständigkeit gilt, denn „[w]er sein Erinnerungsvermögen, sein Vermögen, seine Lebensgeschichte narrativ an einem roten Faden aufzuhängen, eingebüßt hat, der ist weder imstande ein Versprechen zu halten (weil er es eben vergessen hat), noch kann er sich als einen Charakter bestimmen, der der Dialektik von Wandel und Beständigkeit unterliegt“ 640 , so Müller-Funk. Die erste Strophe (und im weiteren Verlauf auch die zweite) dient also dazu, dieses Ich über die Danksagung als verlässliche, beständige Instanz zu installieren, während die gleichzeitige Darstellung der Geschichte des Ich als idem die Veränderlichkeit, weil Entwicklung, dieses Ich ins Zentrum stellt, wobei das Ich aber grundsätzlich dasselbe, also wiedererkennbar, bleibt. Im Refrain wird schließlich das Thema der auf Verlässlichkeit beruhenden Beziehungen wieder aufgenommen: Refrain: If you want me to stay, dann lass mich geh’n! a Ganz egal, was auch passiert, ich bleib’ bei dir, du wirst schon sehn! a Man kann dich nicht ersetzen, ich kann dich doch nicht vergessen! b Meine alte Adresse / ich trag’ das Gestern im Herzen! (2x). b/ x Hier wird über die Interpellation ein anthropomorphes Du gesetzt, wobei sich das Ich der Topik eines Liebesliedes bedient, was über das englische, von einer männlich konnotierten Stimme gesungene Sample deutlich wird. Das Sample evoziert eine zwischengeschlechtliche Beziehung. Zudem wird im ersten Vers das für den Liebesdiskurs typische Thema der Freiheit innerhalb einer Beziehung aufgegriffen, das sich in der paradoxen Formel des ersten Verses des 640 Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 169. 7.2 Textanalysen 187 Refrains zum Ausdruck bringen lässt: Wenn du möchtest, dass ich bleibe, lass mich gehen! 641 Eine Bindung kann nur von Dauer sein, wenn alle Beteiligten die Freiheit haben, sich zu bewegen. Auch im zweiten Vers wird ein Aspekt des Liebesdiskurses angesprochen, jener der Dauerhaftigkeit einer Beziehung: „[I]ch bleib’ bei dir, du wirst schon seh’n! “ Eine Liebesbeziehung ermöglicht einem Ich eine narrative Einbindung in eine gemeinsame Geschichte, die ein offenes Ende hat, es muss/ soll eine Perspektive für die Zukunft geben: Dem Liebesdiskurs ist, wie in der Analyse zu Für mich allein (Fi 5) später dargelegt wird, eine „Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit“ 642 inhärent: Zeit, die Veränderung bringt, wird innerhalb von Liebesbeziehungen als bedrohlicher Faktor eingestuft. 643 Aus diesem Grund versichert das Ich dem Du, immer bei ihm zu bleiben. Auch das für den Diskurs der Liebe typische Postulat der Einzigartigkeit des anderen findet Eingang in den Refrain (Vers 3). Interessant ist aber nun, dass zwischen dem Ende von Vers 3 und der Mitte von Vers 4 eine Assonanz („vergess’n“ / „Adresse“) aufgebaut wird: Das Ich präzisiert, wer das apostrophierte Du ist: „Meine alte Adresse! Ich trag’ das Gestern im Herzen“ (Vers 4). Allem Anschein nach wird der titelgebende Ort als menschliches Wesen adressiert, wobei das Ich seine immer währende Zuneigung bestätigt. Auf diese Weise wird der Liebesdiskurs gebrochen, die Referenz auf den Ort erzeugt ein befremdendes Moment. Es liegt nahe, hier den Begriff der ‚alten Adresse‘ sowohl in seiner wörtlichen Bedeutung als auch als Metonymie für die dort lebenden Menschen zu lesen. Schließlich gehören beide möglichen ReferentInnen für dieses ‚Du‘ im Refrain zusammen: Die Erinnerung verbindet den Ort (als Naturphänomen und kulturellen Ort) sowie die dort ansässigen Menschen. Auf diese Weise wird im Refrain der Liebesdiskurs auf eine affektive Beziehung zu einem Ort und den dort lebenden, befreundeten Menschen übertragen. In Strophe 2 wird das Verhältnis der Trias Ich-Ort-Menschen weiter ausgeführt. Die Strophe ist in regelmäßigen Paarreimen gehalten, mit Ausnahme der ersten beiden Verse, welche Waisen darstellen, sowie mit Ausnahme einer Verdichtung der Reimstruktur mittels des Einsatzes des Binnenreims (b) und (c) in den Versen 3 und 5: 1) Ich hoffe, ihr versteht x 2) Mir wurde es hier zu eng und ich musste weiter geh’n x 3) Ich musste Moves machen / durchstarten / rulen / und mir ein’ Ruf schaffen! (Aha) b/ b/ b’/ b 641 Vgl. dazu die Analyse zu Für mich allein in diesem Band: Genau dieser Topos stellt Thema des ganzen Liedes dar; siehe Kap. 7.2.4, S. 285ff. 642 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 99. 643 Vgl. Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 146. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 188 4) Nur gut sein reicht nicht, keiner wollte mit mir zu tun haben (Was? ) b 5) Hatte keine Beats / Beef mit ander’n MCs c/ c 6) Die nicht klarkamen, weil sie wussten, ich war besser als sie c 7) Doch gerade das gab mir die Kraft, Mann! Ich lass’ mich nicht klein kriegen d 8) Besinn’ mich auf mich selbst und lasse Skillz über Neid siegen (Ja, Mann) d 9) Und außerdem habe ich’s schon fast vergessen e 10) Hab’ euch vergeben und verziehen, ey Mann, ich lass’ mich nicht stressen! e 11) Ihr konntet damals ja nicht ahnen, dass ich’s ernst mein’ mit Rappen! f 12) Hab’ gelernt mich durchzusetzen, keiner kann meinen Willen brechen (Und? ) f 13) Und heute, wenn ich mal komm’ für’s Wochenende g 14) Beruhigt es mich zu sehen, dass ich Leute seit Jahren kenne g 15) Ich sag’ mal Danke an alle, die von Anfang an dabei war’n! h 16) Ich liebe Berlin, doch Rostock bleibt meine Heimat. h Gleich im ersten Vers wird angezeigt, dass es in der Strophe hauptsächlich um die Auseinandersetzung mit einem „ihr“ geht. Der Vers ist verkürzt, was eine Verlangsamung des Erzähltempos ermöglicht und die Bitte um Verständnis betont. Wiederum lenkt das Ich die Aufmerksamkeit auf den Ort: „[M]ir wurde es hier zu eng und ich musste weiter geh’n“ (Vers 2). Das Ich hat sich also vom Heimatort und von den Leuten (physisch) entfernt, es möchte aber seine bleibende Zuneigung ausdrücken. Der Hauptteil der Strophe dient der Begründung des Weggehens (Vers 3) und der Schilderung der Anfangsschwierigkeiten in der Karriere des Ich (Verse 4-12): Gerade Vers 3 wird aufgrund seiner lautlichen Struktur wie auch Reimstruktur im Strophenfluss hervorgehoben: Drei Binnenreime (b) sind festzustellen, welche Vers 3 mit Vers 4 verbinden. Gereimt wird auf den letzten beiden betonten Vokalen, bei welchen es sich um eine Kombination der hohen Vokale [ ] und [u] mit dem tiefen [a] handelt: Dabei fällt die stärkere Betonung auf [ ]/ [u], was eine besondere Eindringlichkeit des sprechenden Ich zum Ausdruck bringt, die mit dem nachfolgenden [a] etwas abflacht. Dass nach zwei Vokal-Kombinationen („Moves machen“ / „durchstarten“) ein Begriff folgt, der nach dem [u] keinen Vokal mehr enthält („rulen“), erzeugt eine Klimax im Spannungsbogen des Verses, die mit der nachfolgenden Kombination („Ruf schaffen“) wieder abnimmt. In diesem Vers drückt das Ich in verdichteter Weise die Verbissenheit aus, mit der es seine Karriere verfolgen wollte, denn „nur gut sein reicht nicht“ (Vers 4). 7.2 Textanalysen 189 In den darauffolgenden Versen schließlich erzählt das Ich von Stress mit anderen RapperInnen, von Neid innerhalb der HipHop-Szene. Diese Schilderungen stehen in einem gewissen Gegensatz zur ersten Strophe, in der das Ich von einhelliger Unterstützung von Seiten anderer gesprochen hatte. Nun wird deutlich, dass das Ich auch viel Ablehnung erfahren hat: „[K]einer wollte mit mir zu tun haben“ (Vers 4). Dass ein Ich, um seine Identität zu konstituieren, Bestätigung von außen braucht, stellt Thema der zweiten Strophe dar. Es wird thematisiert, dass das Ich, das sich als RapperIn setzt, der Anerkennung bedarf, um als solche/ r Bestätigung zu finden. 644 Ein Ich setzt sich über rhetorische Akte selbst, diese Akte müssen aber von anderen geglaubt werden. Indem das Ich zugibt, die KritikerInnen hätten am Anfang nichts von der Ernsthaftigkeit der Tätigkeit des Ich wissen können (Vers 11), bestätigt es die Wirksamkeit dieses Mechanismus: Ein/ e ‚authentische/ r‘ RapperIn zu sein bedeutet, sich über performative Akte glaubhaft zu setzen. Es geht nicht um eine naturhafte Ausdrucksweise, im Kreislauf der Anerkennung wird der Ernsthaftigkeit der Tätigkeit ein großer Stellenwert beigemessen. Rap erscheint nicht als leichtfertiges Spiel, sondern als etwas, das in die Konstitution des Ich durch multiple narrative Verflechtungen einbezogen wird. Das Ich hat allerdings nicht nur seinen eigenen Status als RapperIn in diese narrative Rahmung als idem inkludiert, sondern auch die Schwierigkeiten, die zur Ausbildung dieses Status geführt haben. Schließlich sind die Angriffe - wie das Ich mittels eines alliterierenden Hendiadyoins zum Ausdruck bringt - „vergeben und verziehen“ (Vers 10) und, die Alliteration im Vorvers einleitend, auch „fast (! ) vergessen“ (Vers 9): Ganz vergessen sind sie nicht, schließlich gehören sie zum Emplotment des Ich als RapperIn. Das Ich verdankt seine heutige Position der eigenen „Kraft“ (Vers 7), sich in einer solchen Situation durchgesetzt zu haben, was das Ich erst „gelernt“ hat (Vers 12). Diese Verwendung des Perfekts im Vers zeigt eine Veränderung, eine Reifung des Ich an. Es hat eine Entwicklung durchgemacht, die es seinen Erfahrungen zu verdanken hat. Den schwierigen Erfahrungen wird also Sinn zugesprochen. Das Ich wechselt in den ersten elf Versen in der Darstellung dieser Geschehnisse rund um die anderen Personen zwischen einer Erzählung in der dritten Person (Verse 5-9) und einer direkten Adressierung dieser Personen (Verse 10-11). Dieser Wechsel bringt Lebendigkeit in die Schilderung, indem die Betroffenen direkt als Subjekte adressiert und mittels einer Prosopopöie gesetzt werden. Sie erscheinen auf diese Weise auch der/ m Rezipientin/ en ‚realer‘, was die Glaubwürdigkeit der Geschichte stützt. Der Charakter des Ich als GeschichtenerzählerIn wird zudem durch ein öfter in Rap-Texten eingesetztes Stilmittel verstärkt: Nach manchen Versen (3, 4, 8, 12) werden mittels Samples Antworten („Aha“, „Was? “, „Ja, Mann“, „Und? “) vermeintlich anderer Personen eingefügt, die eine Reaktion auf die Verse des Ich darstellen. Auf 644 Vgl. Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 173. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 190 diese Weise wird der Eindruck evoziert, das Ich würde tatsächlich umringt von ZuhörerInnen (s)eine Geschichte erzählen. Die letzten vier Verse schließen wiederum den Bogen zum ‚heute‘: Trotz der Querelen zeigt sich das Ich mit jenen Personen versöhnt, dankt nochmals und bestätigt seine fortwährende Zuneigung der Heimat gegenüber: „Ich liebe Berlin, doch Rostock ist meine Heimat“ (Vers 16). Die Vorrangigkeit Rostocks wird auch grammatikalisch betont, indem Berlin den grammatikalischen Status einer Akkusativergänzung innehat, während sowohl Rostock als auch die Heimat über den Subjektstatus im Vers verfügen. Dieser Subjektstatus zeigt wiederum die Doppelnatur des Begriffs ‚Rostock‘ als Ort wie auch Metonymie für die dort lebenden Menschen. In der dritten, in regelmäßigem Paar- und Endreim gehaltenen Strophe schließlich steigert das Ich die Narrativität: Während am Anfang die Stadt Rostock und ihre Umgebung, einzelne Personen und der Beginn der Karriere erwähnt werden, zeigt die zweite Strophe die erste Zeit als RapperIn mit den damit verbundenen Schwierigkeiten. Die dritte Strophe aber handelt davon, ‚wie alles begann‘. Dementsprechend setzt sie mit einem gesampelten „Ich weiß noch genau, wie das alles begann“ (Vers 1) ein: Das Ich im Text eignet sich also das Ich einer männlich konnotierten gesampelten Stimme an und rekurriert auf diese Weise auf andere Rap-Texte, in denen sich ein Ich qua Erzählung setzt, um den Eintritt des Ich in die HipHop-Welt zu narrativisieren. Das Sample macht dabei zweierlei deutlich: Zum einen, dass Erzählungen über ‚Anfänge‘ zum typischen Stoffrepertoire des Raps gehören, und zum anderen, dass in diesen Erzählungen ein Ich als ipse gebraucht wird, als leere Erzählinstanz, von der aus ein Wandel des Ich als idem dargestellt wird. Der Eintritt in die HipHop-Welt kommt einer narrativen Re-Konfigurierung des Ich als idem gleich, weshalb dieser Moment in vielen Erzählungen eine Peripetie darstellt. Das Ich fügt sich in das narrative Muster eines Kollektivs 645 ein, wobei der Moment des Eintritts als Initiation begriffen wird: 646 1) Ich weiß noch genau, wie das alles begann a 2) Mit fast 14 Jahren die ersten Partys in Evershagen a 3) Mit 15 jeden Tag gemalt, gebreakt, mit 16 am Rappen b 4) Entdeck’ Facetten von Talenten, die mein Leben verändern b 5) 13 ganze Jahre auf 6 Quadratmetern c 6) Mein Kinderzimmer, ich war fast nur noch da zum Schlafengehen c 645 Insbesondere Vers 14 am Ende von Strophe 3 („Ständig am Schreiben und Verzweifeln, jeder weiß, was ich meine“) spricht ‚Eingeweihte‘ an, also Personen, die einen ähnlichen Erfahrungshorizont aufweisen. 646 Vgl. dazu George in seiner HipHop-Geschichte: „Meine eigentliche Initiation in den HipHop fand 1978 statt“ (in: George, Drei Jahrzehnte HipHop, Anm. 166, S. 44). 7.2 Textanalysen 191 7) Abends raus und hängen am Block an der Ecke d 8) Mit BMX im Rucksack: Icetee, Tapes und Eddings zum Taggen d 9) Doch eure Bullenwagen fahren alle zu langsam! e 10) Die hatten keinen Plan, ich war am Start, wenn es drauf ankam e 11) ’Ne Zeit lang in Boston, der Trip war irreal wie Neverland f 12) Feier’ T.O.N.Y. und JIGGA mit Dead Presidents! f 13) Will es mir selbst beweisen, will meinen Namen verbreit’n g 14) Ständig am Schreiben und Verzweifeln, jeder weiß, was ich meine! g 15) Denn es wär’ alles nicht, wie es ist, wäre es damals anders gewesen x 16) Jeder Schritt, den ich ging, hat meine Pfade geebnet x Refrain (4x in Variationen). In den Versen 1 bis 12 geht das Ich auf seine Zeit als Jugendliche/ r in der HipHop-Szene ein. Genannt werden verschiedene Tätigkeiten der Jugendkultur HipHop (Graffiti malen, breakdancen, rappen), ein Besuch im Land der Mutterkultur des Raps, in den USA, wie auch verschiedene Namen von wichtigen Figuren in der HipHop-Szene. Die letzten vier Verse aber schlagen wiederum die Brücke zum Jetzt, indem das Ich selbstreferentielle Bezüge zum eigenen Tun herstellt: „Will es mir selbst beweisen, will meinen Namen verbreiten / Ständig am Schreiben und Verzweifeln, jeder weiß, was ich meine“ (Vers 13 und 14). Der Hinweis auf den Namen rekurriert auf das Verfahren, dass ein Ich über die Interpellation des Namens gesetzt wird. Indem das Ich im Text davon spricht, dass sein Name Verbreitung finden solle, möchte es einen Mechanismus in Gang setzen, so dass es von mehr Menschen erkannt wird, die es anrufen und damit (erneut) als KünstlerInnen-Subjekt setzen. Die Anrufung des Namens bestärkt also das Ich in seiner Position. Mit dem Hinweis auf die schreibende Tätigkeit und darauf, dass jede/ r von den damit verbundenen Schwierigkeiten wisse, rekurriert das Ich auf eine Gruppenidentität unter RapperInnen. Hier wird eine Erfahrung ausgesprochen, die ein Solidaritätsgefühl unter anderen wecken soll. Dass sowohl die Tätigkeit einer/ s Rapperin/ s wie auch der Aufbau einer Karriere schwierig sind, fasst das Ich in den letzten beiden Versen zusammen, allerdings mittels eines versöhnlichen Gestus: „Denn es wär’ alles nicht, wie es ist, wäre es damals anders gewesen / Jeder Schritt, den ich ging, hat meine Pfade geebnet“. Hier findet wie schon in Strophe 2 eine narrative Glättung statt: Disparaten Einzelereignissen wird eine Notwendigkeit unterlegt, es findet ein Emplotment der Biographie des Ich statt, schließlich „[stellt] die Sinngebung in den verschiedenen Darstellungsformen des Erzählens immer eine Kontingenzbewältigung, eine Sinnstiftung dar, die es nur vermöge der Erzählkon- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 192 struktion gibt.“ 647 Das Lied stellt somit den Versuch des Ich dar, das eigene Leben in Sinnzusammenhänge zu bringen. Dabei wird mit dem vorletzten Vers ein intertextueller Bezug zum Refrain des Raps Schlüsselkind von Cora E. hergestellt: „Es wäre nicht so, wie es ist, wär es damals nicht gewesen wie es war“ (Co 2) 648 , heißt es dort. Der Vers in Rostock entspricht diesem nicht vollständig, ist aber ähnlich genug, um Assoziationen zu dem berühmten, „schonungslos autobiographische[n] Text“ 649 wachzurufen. Über den anzitierten Vers hinaus, baut Rostock indes einen intertextuellen Bezug zu Schlüsselkind auf, da in beiden Texten ein Ich als idem seine Lebensgeschichte erzählt und den Moment der Hip- Hop-Initiation als Peripetie innerhalb dieser begreift. Die Titel der Lieder zeigen allerdings an, dass in Schlüsselkind mehr das Schicksal des Ich in seinem Familienverbund im Vordergrund steht, während in Rostock der Bezug des Ich zum Ort und den Menschen seiner Heimat thematisiert wird. Indem im Text die Geschichte eines Ich als RapperIn (mit eindeutigen lokalen Referenzen) erzählt wird, entsteht ein klarer Bezug zum Ich vor dem Text. Innerhalb des Liedes wird allerdings die dialektale Beziehung der beiden Dimensionen des Ich verhandelt: Auf der einen Seite bleibt das Ich als ipse beständig. Mittels der Danksagung macht das Ich deutlich, dass es eine Aufrechterhaltung der Beziehungen zu den Menschen und dem Ort über die Zeit hinweg wünscht. Konstanz und Verlässlichkeit wird vermittelt. Andererseits gilt es, was den Charakter und andere Modalitäten des Ich betrifft, sowohl Kontinuitäten (in Bezug auf den Willen und das Talent) als auch große Veränderungen (bezüglich der Herausbildung von Durchsetzungsvermögen) zu konstatieren. Alle diese Erfahrungen fügt das Ich als idem in seine von Peripetien gekennzeichnete Selbsterzählung ein. Es stellt sich dabei heraus, dass alle Ereignisse und Erfahrungen von Wichtigkeit sind, nichts kann/ soll vergessen werden. Das Ich möchte der Angst der anderen, die nicht wie das Ich weggegangen sind, vorbeugen und zeigen, dass es bei aller Veränderung immer noch es selbst ist. Insofern lotet es im Text die Veränderungen seiner idem- Dimension aus und stellt dieser eine konstante ipse-Dimension an die Seite. Manges’ Eigentlich nichts (Ma 5) stellt sowohl formal als auch inhaltlich eine Abweichung von den anderen drei Ich-Erzählungen dieses Kapitels dar. Das Lied umfasst im eigentlichen Sinne nur eine einzige Strophe, es verfügt also über keinen Refrain. In Bezug auf den Reim erweist sich der Rap als anspruchsvoll, es ist festzustellen, dass in vielen Fällen über eine Kombination aus Binnen- und Endreimen die Verse auf unterschiedlichste Weise verfloch- 647 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 82. 648 Cora E. zitiert nach Verlan, Rap-Texte (Anm. 183), S. 104 (Interpunktion dem Original entnommen). 649 Ebenda, S. 103. 7.2 Textanalysen 193 ten werden. Im Folgenden wird eine Verseinteilung aus 32 Versen vorgeschlagen, die aber nicht den Anspruch erhebt, die einzig mögliche zu sein. Schon der Titel Eigentlich nichts wirft das Problemfeld des Liedes auf: ‚Eigentlich‘ als Modalpartikel stellt das darauffolgende ‚nichts‘ in Frage: Es geht also nicht um ‚nichts‘, sondern um ‚eigentlich nichts‘, also schon um ‚etwas‘, was aber als nicht wichtig, nicht der Rede wert erscheint. Dem Titel scheinen demgemäß Zweifel inhärent ob der Relevanz von etwas noch Ungeklärtem. Die ersten Verse des Liedes bestätigen dies: 1) Ich hab’ eigentlich nichts Besonderes zu sagen a 2) Mein Kopf ist leer, voller Löcher, Löcher von diesen Fragen a 3) Zweifel, die mich plagen / die mich umgeben wie Bodyguards a/ b 4) Ich weiß nur eins, ich will in den Himmel und in die Charts (Ma 5). b Der erste Vers greift den Titel auf. Das Ich beginnt mit Understatement, es hat „eigentlich nichts Besonderes zu sagen“. Im Ich scheinen Zweifel vorhanden zu sein ob der Relevanz der eigenen Gedanken und Mitteilungen. Wiewohl sich hier ein Ich innerhalb eines Kunstwerks setzt, hadert es mit einem KünstlerInnenkonzept, dem gemäß ein/ e KünstlerIn ‚etwas zu sagen haben muss‘, was dann im Kunstwerk zum Ausdruck gebracht wird. Das Ich scheint Angst vor der vermeintlichen Banalität seiner Gedanken zu haben, schließlich zeigt es sich so blockiert, dass es gegen eine Leere im Kopf zu kämpfen hat. In einer chiastischen Konstruktion in Vers 2 wird die Leere dem gegenübergestellt, womit der Kopf des Ich „voll[…]“ ist: Die Leere findet in einer Geminatio des Begriffes „Löcher“ inmitten des zweiten Verses ihren Ausdruck, der Kopf ist also ‚voll an Leere‘. Gefüllt wird diese nur durch Fragen und Zweifel, die das Ich „umgeben wie Bodyguards“ (Vers 3). Sie scheinen also hartnäckig zu sein und nicht zu weichen. Reim (a) verbindet jene drei Verse, in denen die Zweifel dargelegt werden. Vers 3 leitet allerdings mit Reim (b) zu einem Wunsch des Ich über. Deutlich wird, dass die oben konstatierten Bedenken tatsächlich um den Status des Ich als KünstlerIn kreisen. Vers 4 bestätigt den Wunsch des Ich, in den „Himmel und in die Charts“ zu kommen. Dies kann einerseits als Auflistung zweier Wünsche verstanden werden, indem die ‚Charts‘ auf eine MusikerInnenkarriere im Bereich der Populärmusik verweisen, während der Himmel auf religiöse Glaubensvorstellungen Bezug nimmt. Der Ausdruck kann allerdings auch als Hendiadyoin verstanden werden: Dementsprechend würden ‚Himmel und Charts‘ als Quasi-Synonyme auf eine MusikerInnenkarriere referieren. Der in der Welt der Populärmusik häufig verwendete Begriff Star 650 stellt einen Bezug zum ‚Himmel‘ her, auch der Begriff des ‚Pophimmels‘ ist gebräuchlich. Wenn ein Star im Pophimmel verweilt, hat sie/ er 650 Zum Begriff ‚Star‘ vgl. die Analyse zu Mein Block in Kap. 7.2.3, S. 271ff. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 194 (kommerziellen) Erfolg. Das ist das Ziel, welches das Ich erreichen möchte und in Bezug auf welches es Zweifel ob seiner Erreichbarkeit hegt. In den folgenden Versen kommt es zu einer Aufspaltung des Ich in verschiedene Instanzen: 5) Wie war dein Name? - Marko is’ am Mic / ist er wirklich so tight? c/ c 6) Ich glaube schon, es ist an der Zeit c 7) Für den Freihändigen / Lebendigen / für den, wenn er d/ d/ x 8) Erst mal richtig loslegt, nicht mehr zu Bändigenden d 9) Am Ende hat er immer die Nase hinten / er sucht sein Glück e/ x 10) Mit verbundenen Augen, kann er’s trotzdem nicht finden e 11) Ey, yo Marko, ey, du musst dich überwinden e 12) Ich such’ mit aller Kraft an allen Ecken und Enden und vorne und hinten. e Im fünften Vers spaltet sich das Ich in zwei DialogpartnerInnen: Die erste Person fragt ein Du nach dem Namen, die zweite stellt das Ich in der dritten Person vor („Marko“) und fragt nach dessen Qualitäten als RapperIn. Hier erfolgt eine Nennung des bürgerlichen Namens des Ich vor dem Text, es wird also ein expliziter Bezug zu diesem aufgebaut. Dass gerade der bürgerliche, nicht aber der KünstlerInnenname genannt wird, mag als Hinweis darauf gelten, dass der Eindruck vermittelt werden soll, dass hier ein Ich als Mensch, nicht nur als KünstlerIn seine Selbstzweifel verhandelt. Im Grunde genommen scheint die Aufspaltung in drei Dialoginstanzen (ich/ du/ er) eine „I-I-communication“ 651 darzustellen, ein Selbstgespräch: Dementsprechend antwortet im sechsten Vers das Ich selbst und beantwortet die Frage, ob „Marko“ wirklich so „tight“ [gut, Anm. A. B.] sei, mit einem „Ich glaube schon“ (Vers 6). Das Ich gestaltet also eine Kommunikationssituation aus, in der es weiterhin seine Bedenken zum Ausdruck bringen kann. Gerade der Hinweis, dass das Ich an die eigenen Fähigkeiten lediglich ‚glaubt‘, transportiert diese Selbstzweifel. Schließlich geht das Ich wieder dazu über, über sich in der dritten Person zu sprechen: Es bezeichnet sich als den „Freihändigen, Lebendigen, den, wenn er erst mal richtig loslegt, nicht mehr zu Bändigenden“ (Vers 7 und 8), stellt sich also als lebhaft dar, als Energiebündel, das von keinen Zwängen gehalten wird. Dies wird sprachlich auf die Art transportiert, dass sowohl zwischen den Versen 6 und 7 als auch zwischen den Versen 7 und 8 Enjambements zu konstatieren sind, mittels derer diese drei Verse auf fließende Weise verbunden werden. Die drei Begriffe des ‚Freihändigen‘, ‚Lebendigen‘ sowie des nicht mehr zu ‚Bändigenden‘, welche hier 651 Yuri M. Lotman: Universe of the Mind: A Semiotic Theory of Culture. London/ New York/ Melbourne 1990, S. 25; vgl. zu diesem Konzept auch Kap. 7.2.4, S. 300ff. und Kap. 8, S. 320f. in diesem Band. 7.2 Textanalysen 195 in der Wiedergabe des Textes als Reim (d) aufscheinen, können zu einem Homoioteleuton, 652 einem Gleichklang der Wortenden, zusammengefasst werden: Auf diese Weise wird mittels des Gleichklangs die Ähnlichkeit der Bedeutung der drei Begriffe verstärkt betont. Dass die ‚Unbändigkeit‘ des Ich erst dann beginnt, „wenn er / Erst mal richtig loslegt“ (Vers 7 und 8), kann allerdings als Einschränkung aufgefasst werden: Hat das Ich schon ‚losgelegt‘? Möglicherweise spricht das Ich hier von einem Wunschszenario, das noch nicht eingetreten ist. Die Sicht des ‚freien‘ Ich wird auch im neunten Vers eingeschränkt. Auf die gehäufte Verwendung des hellen, dynamischen Vokals [e] in den Versen 7 und 8 folgt im neunten Vers der Bruch mit dem tiefen [a]: „Am Ende hat er immer die Nase hinten“. Hier passiert, was im Laufe des Liedes noch öfter geschehen wird: Das Ich spielt mit einer in der Alltagssprache gängigen Phrase. Schließlich hat ‚Marko‘ trotz allen Talents und aller Energie die Nase nicht vorne, sondern hinten. ‚Marko‘ scheint also kein Glück (oder eventuell keinen Erfolg) zu haben, weshalb er sein Glück sucht, allerdings, so wird festgehalten „mit verbundenen Augen“ (Vers 10), so dass er es („trotzdem“, Vers 10) nicht finden kann. Was bedeutet es, sein Glück mit verbundenen Augen zu suchen? Möglicherweise verlässt sich das Ich auf Instinkte. Es möchte nicht zu rational nach seinem Erfolg suchen, schließlich wird der Sinn des Sehens mit einer kognitiven, rationalen Herangehensweise an Probleme (im Sinne einer Erkenntnis) in Verbindung gebracht. Das Ich möchte kein kalkuliertes Produkt des Marktes darstellen. Fällt aber das rationale Sehen (dank der verbundenen Augen) weg, bleiben die als gefühlsorientiert konnotierten Sinne übrig, das Tasten, Hören, Schmecken, Riechen. Aber obwohl das Ich die Ratio auszuschalten scheint, kann es das Glück „trotzdem“ (Vers 10) nicht finden. Vers 11 könnte Aufschluss über die Gründe dieses Versagens geben: „Marko, ey, du musst dich überwinden“. Hier wiederum spaltet sich das Ich in zwei Instanzen, es adressiert sich selbst und scheint sich Mut und Kraft zuzusprechen, weiter zu suchen, einen Weg zum Glück zu finden. Die Tatsache, dass das Ich einen Aufruf an sich selbst startet, sich zu ‚überwinden‘, mag darauf hindeuten, dass es versucht, die Selbstzweifel über Bord zu werfen, sich nicht selbst im Weg zu stehen. Im zwölften Vers sollen diese Versuche in die Tat umgesetzt werden. Schließlich sucht das Ich „mit aller Kraft“ überall, was es mittels der Kombination zweier Redewendungen umschreibt, „an allen Ecken und Enden, vorne 652 Groddeck weist darauf hin, dass Reim und Homoioteleuton historisch grundverschiedene rhetorische Mechanismen darstellen, vgl. Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel/ Frankfurt am Main 1995, S. 155. Für das oben angeführte Beispiel lässt sich allerdings keine eindeutige Entscheidung darüber treffen, ob hier ein Reim oder ein Homoioteleuton vorliegt. Prinzipiell ist der Text gereimt, also könnte es sich bei (d) um einen Reim handeln. Allerdings kann man aufgrund der Position der drei (Reim-)Wörter (in zwei Fällen im Versinneren und nur in einem Fall am Versende) auch von einem Homoioteleuton sprechen. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 196 und hinten“ (Vers 12). Hier wird wieder von der dritten Person in die erste gewechselt, was die Worte eindringlicher erscheinen lässt. Die Verse 9 bis 12, die das Thema der Suche einführen, sind über Reim (e) verbunden. Vers 13 bricht mit diesem Rhythmus. Da der Vers im Vergleich zum vorhergehenden sehr kurz ist und eine Waise darstellt, wird hier das Tempo aus dem Sprechfluss genommen. Von der verzweifelten Suche des zwölften Verses geht es jetzt ruhiger an die Sache: 13) Ich grab’ tief unter dem Asphalt danach x 14) Mit meiner bloßen Hand / am Straßenrand f/ f 15) Häng’ Steckzettel an jede Wand / in jeder Stadt f/ x 16) In diesem Land / leb’ Tag für Tag von dem Mund in die Hand f/ f 17) Nur um mein Glück zu finden / ich will diese depressive Phase g/ x 18) Überwinden / kann sie nicht einfach verschwinden? g/ g 19) Such’ in meinem Inneren nach Wohlbefinden g 20) Versuch’ zu entflieh’n, aber wohin denn? / befinde mich […]. g/ x In den Versen 13 und 14 werden einander zwei Situationen gegenübergestellt: Das Ich, welches sich auf der Suche nach seinem Glück befindet, gräbt „unter dem Asphalt“ sowie auch „am Straßenrand“. Wofür stehen nun diese beiden Metaphern? Asphalt wird durch seine Härte, seine glatte Oberfläche, seine Ordnung bringende Funktion (im Gegensatz zu einer nicht asphaltierten Straße) gekennzeichnet. Er könnte also als Metapher für eine oberflächlich vorhandene, schützende Außenschicht des Ich, die es nach außen zeigt und die es von seiner Angst im Inneren trennt, stehen. Der Eindruck, den das Ich vermittelt, wird durch Härte, Unzugänglichkeit, Unnahbarkeit geprägt. Gefühle, die ‚Unordnung‘ und ‚Unsicherheit‘ vermitteln, werden nicht gezeigt. Aus diesem Grund sucht es unter dieser Schicht nach seinem „Glück“ (Vers 17), und zwar nicht nur darunter, sondern auch an den (Straßen-)Rändern (Vers 14). Dass das Ich mit seiner „bloßen Hand“ (Vers 14) sucht, zeigt an, dass es tatsächlich eindringen möchte in diese an der Oberfläche verhärtete Schicht, es zeigt Engagement, auch wenn es schwierig ist. Die ‚Straße‘ symbolisiert dabei den Weg, den das Ich eingeschlagen hat, dieser ist aber von Frust, Unzufriedenheit und Leere gekennzeichnet. Das Ich möchte aber keinen anderen Weg einschlagen, sondern an dessen ‚Rändern‘ nach neuen Möglichkeiten suchen. Auch die Reim (f) weiterführenden Verse 15 und 16 handeln von dieser Suche. Mittels Steckzetteln setzt das Ich seine Suche „in jeder Stadt / In diesem Land“ fort. Auf welches Land das Ich referiert, wird dabei nicht expliziert. Was aber steht auf diesen Steckzetteln? Einfach ein Suchaufruf an das Glück, das an jedem Ort gesucht wird? Zuvor hatte sich das Ich bereits als RapperIn gesetzt, d. h. diese Steckzettel könnten als Konzertankündigungen verstanden werden. Das Ich reist und betätigt sich künstlerisch, schließlich gibt es an, es lebe „Tag für Tag von dem Mund in die Hand“ (Vers 16). Auch 7.2 Textanalysen 197 hier spielt das Ich mit einer Redewendung. Während ‚von der Hand in den Mund zu leben‘ bedeutet, kaum das Nötigste zum Überleben zur Verfügung zu haben, könnte die umgekehrte Variante, ‚von dem Mund in die Hand zu leben‘, als Hinweis auf die Rap-Karriere des Ich verstanden werden. Rappen bedeutet sprechen, hat also mit dem Mund zu tun. Was der Mund von sich gibt, bringt Erfolg und Geld, welches das Ich schließlich auf die Hand bekommt. Die ursprüngliche Redewendung mit seiner Bedeutung bleibt aber auch in der Neufassung präsent, weshalb der Eindruck entsteht, dass sich der (finanzielle) Erfolg des Ich in Grenzen hält. Dennoch scheint es das Rappen zu sein, in dem das Ich sein Glück findet, wie die Verbindung von den Versen 16 und 17 (mittels eines Finalsatzes) andeutet: „Leb’ Tag für Tag von dem Mund in die Hand / Nur um mein Glück zu finden […]“. Die ‚Straße‘ (Vers 14) stellt also ein Symbol für Rap dar: Das Ich hat diesen Weg eingeschlagen, auch wenn viele Probleme damit verbunden sind. Vers 17 allerdings setzt mit dem Hinweis auf eine depressive Phase des Ich fort: Hier wird die gebrochene ‚Rundheit‘ und Zufriedenheit des Ich mittels eines Enjambements zum Ausdruck gebracht: „Ich will diese depressive Phase / Überwinden, kann sie nicht einfach verschwinden? “ Die Reimwörter (g) befinden sich in einer Art umfassendem Reim am Anfang und Ende des Verses: Das Ich möchte also eine Harmonie wiederherstellen resp. finden. Während es zu Anfang des Liedes aber noch Engagement gezeigt hat, wird es jetzt von der Geduld verlassen, schließlich soll die depressive Phase einfach verschwinden. Das Ich sucht in seinem „Inneren nach Wohlbefinden“ (Vers 19), es will aber Veränderung ohne Arbeit an sich. Schon im nächsten Vers möchte das Ich „entflieh’n“, ohne zu wissen: „[W]ohin denn? “ (Vers 20). Allerdings ist das Ich nicht allein mit seiner Situation, wie die folgenden Verse verdeutlichen: 20) Versuch’ zu entflieh’n, aber wohin denn? / Befinde mich g/ x 21) Unter Gefangenen, alle sitzen hier drin h 22) Machen Karriere, fucken up, suchen den tieferen Sinn h 23) Und obwohl ich es leid bin / bleib’ ich drin und drauf und dran h/ i 24) Und am Ende fang’ ich wieder von vorne an i 25) In diesem Spiel / check den Stil / den ich bring’ j/ j/ k 26) Für meine Jungs, meine Mädchen, die zu tief drin sind k 27) Und obwohl ich es leid bin / bleib’ ich drin und drauf und dran k/ i 28) Und am Ende fang’ ich wieder von vorne an i 29) In diesem Spiel / check den Stil / den ich bring’ j/ j/ k 30) Für meine Jungs, meine Mädchen, die zu tief drin sind k 31) Und obwohl ich es leid bin / bleib’ ich drin und drauf und dran k/ i 32) Und am Ende fang’ ich wieder von vorne an. i 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 198 Das Ich gibt an, sich unter „Gefangenen“ (Vers 21) in einem Spiel zu befinden. Das Spiel wird in Vers 22 beschrieben, es umfasst, Karriere zu machen, zu scheitern und dabei einen Sinn zu suchen. Einerseits ist es das Ich leid, daran teilzunehmen, schließlich wurde bereits darauf verwiesen, dass es sich als schwierig darstellt, Erfolg im Rap-Business zu haben und an den Selbstzweifeln zu arbeiten, die Erfolglosigkeit mit sich bringen. Das Ich bleibt, sich wiederum eine Redewendung in verfremdeter Weise aneignend, dennoch „drin und drauf und dran“ (Vers 23). Die Reihung der drei alliterierenden Begriffe zeigt die umfassende Involviertheit (von allen Seiten) des Ich in das Spiel des Raps/ HipHops. Das Ich macht weiter auch für andere („meine Jungs, meine Mädchen“, Vers 26), bei denen es sich offensichtlich um Rap-Fans handelt. Es geht also dem Ich darum, auch ohne den großen Erfolg nicht aufzugeben, schließlich gibt es Menschen (wenn auch nur eine kleinere Gruppe), denen die eigenen künstlerischen Tätigkeiten wichtig sind. Dieses ‚Spiel des Raps‘ wird dabei als Endlosschleife gezeichnet, was über die Wiederholung einer bestimmten Versgruppe dargestellt wird. Die Verse 24 bis 27 werden wiederholt (mittels der Verse 28 bis 31), schließlich werden am Ende nochmals Vers 24 und 25 gerappt, so dass das Lied mit dem Hinweis endet: „Und am Ende fang’ ich wieder von vorne an“. Bei allen Schwierigkeiten bleibt das Ich im Kreislauf und macht weiter (für sich und seine Fans). Es zeigt sich, dass dieses Lied im Vergleich zu den drei anderen im Rahmen dieses Kapitels behandelten Raps sehr unterschiedlich ausfällt. Hier steht nicht die narrative Dimension des Ich als idem im Vordergrund. Es wird zwar über die Namensnennung und die Darstellung des Ich als RapperIn ein Bezug zum Ich vor dem Text hergestellt. Allerdings wird kein zeitlicher Verlauf dargestellt, innerhalb dessen sich ein Ich entwickelt, wiewohl an einer Stelle von einer „depressiven Phase“ (Vers 17) gesprochen wird. Gerade das Ende des Liedes macht deutlich, dass das Ich im eigentlichen Sinne ein zirkulär verlaufendes Geschehen nachzeichnet. Es hat für sich als idem eine narrative Rahmung gefunden (als RapperIn in der HipHop-Szene), es hadert aber immer wieder mit den Schwierigkeiten dieser Entscheidung. Ein Leben als RapperIn ist nicht einfach, da es sich schwierig gestaltet, Erfolg zu haben. Thema des Liedes stellt zwar die zeitliche Dimension des Ich als idem dar, allerdings nicht in einem linear fortschreitenden Modus, sondern in einer zirkulären Bewegung. Das Ich erlebt sich als in einer Endlosschleife gefangen. Auf diese Weise können Angaben des Ich auch dahingehend verstanden werden, dass die ‚depressive Phase‘ ernster zu nehmen ist, als es zunächst scheint: Möglicherweise zeigt das Ich, das sich als ‚Gefangene/ r‘ bezeichnet, Anzeichen einer Depression. Dem würden auch die Hinweise der ersten Verse, in denen das Ich von der Leere in seinem Kopf gesprochen hat, resp. die wiederholten Verweise auf die verzweifelte Suche nach dem Glück, die Metapher des Asphalts, die zunehmende Ungeduld (bei anhaltender Lähmung der Situation) sowie auch die Aufspaltung des Ich in mehrere Personen entsprechen. 7.2 Textanalysen 199 Das Ich versucht sich von verschiedenen Perspektiven zu sehen, um dem Kreislauf zu entkommen. Am Ende landet es aber wieder beim „[i]ch“ (Vers 12). Im Lied wird also das Zeitempfinden resp. das gestörte Selbstwertgefühl, das auch der Titel und der erste Vers widerspiegeln, einer sich in einer Depression befindlichen Person gezeigt. Das Ich als ipse hadert mit der Sinnhaftigkeit seines Ich als idem. Genau den gegenteiligen Ansatz wie das Ich in Blaue Flecken verfolgt das Ich in Straßenjunge (feat. Alpa Gun; Si 21), das sich nur an der Gegenwart, nicht aber an der Vergangenheit orientieren möchte. Auf dem Album Ich von Sido wurde dieser Rap nach Goldjunge (Si 20) 653 platziert, das einen eher biographischen (und damit narrativen, zeitlichen) Anspruch verfolgt. Während in Goldjunge die Rap-Karriere des Ich nachgezeichnet wird, also das ipse des Ich seine narrative Rahmung erfährt, betont das Ich in Straßenjunge seine Konstanz in Bezug auf Verhaltensweisen und Charaktereinstellungen. Das Lied umfasst drei Strophen zu je 16 Versen, der Refrain dazwischen besteht aus acht Versen. Nur die ersten beiden Strophen werden von einem Ich im Text wiedergegeben, während die dritte Strophe von einem anderen Ich (Alpa Gun) ausgeführt wird. Zunächst beginnt das Lied allerdings mit zwei gesprochenen Versen (ohne Musikbegleitung), in denen sich das Ich am Ende verhaspelt. Schließlich adressiert es den DJ (Tai Jason), die Musik ablaufen zu lassen, und das Ich beginnt von neuem: Wenn Sie es nicht geben: Ich bin kein Gangster, kein Killer und kein Dieb, Ich bin nur ein Junge ph th gh dh ph ah [verhaspelt sich]. Tai Jason! ! [Musikproduzent / DJ, Anm. A. B.; Beat setzt ein] Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb Ich bin nur ein Junge von der Straße (2x) (Si 21). Bereits zu Anfang werden die zentralen Verse des Liedes vorausgeschickt, die dann im weiteren Verlauf vielfach wiederholt werden. Dass sich das Ich ohne Musik verhaspelt, könnte als Rap-reflexives Moment gewertet werden, insofern als der richtige Sprech-flow nur mit rhythmisch-musikalischer Begleitung zustande kommt. Schließlich spricht das Ich nach Einsetzen der Musik klar weiter. Der einleitende Konditionalsatz wird allerdings nicht wiederholt. In diesem wird ein „Sie“ adressiert, das etwas nicht versteht, glaubt oder einsieht. Ein abwehrender Gestus des Ich wird deutlich, der mit den darauffolgenden negierten Aussagen präzisiert wird: „Ich bin kein….“. Eine Begründung für das Abschwächen der Vorwürfe wird gegeben, indem klar gestellt wird, was das Ich ist: „Ich bin nur ein Junge von der Straße“. Das Ich möchte sich als eine nicht-kriminelle Person darstellen und dabei auf seine soziale Herkunft aufmerksam machen. Offensichtlich möchte es Vorurteilen begegnen, denen 653 Vgl. dazu die Analyse von Goldjunge (Si 20) auf S. 160ff. in diesem Band. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 200 gemäß davon ausgegangen wird, dass Menschen niedriger sozialer Herkunft ‚von Natur aus‘ kriminell sind. Dieser Naturhaftigkeit erteilt das Ich eine Absage, indem es die soziale Herkunft für etwaige Taten des Ich verantwortlich macht. Was es genau bedeutet, ein Junge von der Straße zu sein, bleibt indes (noch) unklar. Genügt es, um als ‚Straßenjunge‘ zu gelten, niedriger sozialer Herkunft zu sein oder heißt dies, obdachlos zu sein? Und wem gegenüber muss sich das Ich eigentlich verteidigen? In den darauffolgenden Strophen führt das Ich genauer aus: 1) Ich bin nicht böse, ich tanz’ nur ab und zu aus der Reihe a 2) Doch ich pass’ auf, dass ich verhältnismäßig sauber bleibe a 3) Ich hab’ ’ne weiße Weste, okay, vielleicht hat sie Flecken b 4) Ich bin ein Ghettokind mit Bierfahne und Adiletten b 5) Ich bin ein asozialer Proll und Prolet c 6) Einer, den sie nicht mehr wollen beim Comet c 7) Weil ich zu gerne das ausspreche, was keiner sagt d 8) Weil keiner Eier hat / ich hab’ die alte Leier satt d/ d 9) Manchmal gehen die Pferde mit mir durch bis nach Japan e 10) Dann schrei’ ich rum und hau’ mir auf die Brust wie Tarzan e 11) Dass du mir dann dumm kommst, wär’ nicht ratsam e 12) Es sei denn, du willst ab sofort jeden Tag zum Arzt fahr’n e 13) Ich bin ein Tiller / doch ich lass’ mir nicht alles gefallen f/ g 14) Ich bin kein Killer / doch wenn’s sein muss, dann mach’ ich dich kalt f/ g 15) Ich steig’ ein, Ellenbogen aus dem Fenster h 16) Ich bin ein Straßenjunge, ich bin kein Gangster. h Die Strophe umfasst 16 Verse, die größtenteils paar- und endgereimt sind. Lediglich in drei Fällen treten Binnenreime auf. Die Verse 9 bis 12 werden reimtechnisch zu einer Einheit (e) gefasst. Das Bild, welches das Ich von sich zeichnet, scheint widersprüchlich. Gleich im ersten Vers folgt der ontologische Hinweis „Ich bin nicht böse“ (Vers 1), dennoch hat die „weiße Weste“ (Vers 3) des Ich Flecken. Das Ich gibt aber an, sich zu bemühen, „sauber“ (Vers 2) zu bleiben. Mittels eines alliterierenden Hendiadyoins bezeichnet sich das Ich als „Proll und Prolet“ (Vers 5) oder auch als „Ghettokind“ (Vers 4). Die soziale Herkunft zeigt sich als eindeutig. Dennoch scheint es das Ich zu Erfolg und Ruhm gebracht zu haben, schließlich erwähnt es den deutschen MusikerInnenpreis Comet. 654 654 Der Comet ist ein Preis für MusikerInnen, der vom Musiksender VIVA verliehen wird. 2004 gewann Sido den Preis für den besten Newcomer (national), im Jahr 2007 war Sido Co-Moderator der Verleihung und produzierte durch die öffentliche Konsumation von (vermeintlichem) Marihuana auf dem roten Teppich vor der Verleihung rege Medien-Diskussionen; vgl. dazu den Bericht O. N.: Die Nacht der schönsten Stimmen, 2007, URL: 7.2 Textanalysen 201 Dieser Umstand scheint allerdings keinen Einfluss auf die soziale Situation zu haben resp. gehabt zu haben. Interessanterweise wird dieser ‚Ausflug ins Establishment‘ zudem mit einer sozialkritischen Funktion in Verbindung gebracht: Schließlich wollen „sie“ (Vers 6) das Ich beim Comet nicht mehr, da es ausspricht, was keiner auszusprechen wagt. Das Ich soll also ob seiner Kommentare nicht mehr in der Öffentlichkeit sprechen. Worum es sich bei den Kommentaren handelt, bleibt im Text ausgespart. Es scheint sich jedoch um für bestimmte Menschen (die möglicherweise als RepräsentantInnen des Comet einer höheren gesellschaftlichen Schicht angehören) unbequeme Meldungen zu handeln. Andere Personen denken offenbar das Gleiche wie das Ich, haben aber nicht den Mut, diese Gedanken öffentlich mitzuteilen. Das Ich zeigt sich ob dieser Feigheit genervt, was im Text über die lautliche Gestaltung der Verse 7 und 8 transportiert wird. Der dreiteilige Reim („sagt“ / „hat“ / „satt“) drückt über die mittels des Binnenreims erzeugte schnelle Abfolge wie auch über die lautliche Gestaltung (auf das kurze [a] folgt der Plosiv [t]) Verachtung aus. Soziale Herkunft korreliert auf diese Weise mit Kritikfähigkeit, Mut und Unbequemlichkeit, schließlich wird das ‚ruhige‘ Dasein der höheren Schichten durch die Kommentare des Ich gestört. In der Folge geht das Ich in der zweiten Hälfte der Strophe darauf ein, manchmal die Kontrolle über sich zu verlieren, was bedeutet, dass es für andere ratsam ist, das Ich in diesen Situationen nicht zu provozieren. Es stellt sich als durchaus gewaltbereit (bis hin zum Tötungsakt, siehe Vers 14) dar, aber nur, wenn es „sein muss“ (Vers 14). Wann aber ‚muss es sein‘? Gewalt erscheint als Antwort auf Provokation von außen. Um diese zu vermeiden, spricht das Ich eine direkte (Mord-)Drohung gegenüber dem adressierten Du aus. Im Refrain führt das Ich näher aus: 1) Refrain: Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb a 2) Ich bin nicht grundlos böse, ich bin nur ein Junge von der Straße b 3) Komm mit mir, los, ich zeig’ dir den Kiez a 4) Wenn du dich benimmst, hast du ein paar wundervolle Tage b 5) Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb a 6) Ich bin nicht grundlos böse, ich bin nur ein Junge von der Straße b 7) Doch wenn du Fleisch nur für dich behältst, du Freak a 8) Halt es besser keinem bluthungrigen Hund unter die Nase. b Die acht Verse des kreuzgereimten Refrains bestehen aus zwei Quartetten, wobei die Verse 1/ 2 und die Verse 5/ 6 identisch sind. In den jeweils ersten Versen wiederholt das Ich die Botschaft des Liedbeginns. In den folgenden http: / / www.bild.t-online.de/ BTO/ leute/ 2007/ 05/ 04/ comet-laufsteg/ stimmen.html (Stand: 31.12. 2011). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 202 Versen präzisiert es: „Ich bin nicht grundlos böse, ich bin nur ein Junge von der Straße“. Dass das Ich nicht „grundlos“ böse ist, bestätigt allerdings die Tatsache, dass es ‚böse‘ ist. Ein Junge von der Straße zu sein, bedeutet, einen Grund für ‚böses‘ Verhalten zu haben, welcher in ebendieser Herkunft liegt. In Vers 3 ruft das Ich schließlich ein Du auf, es in seinem Kiez (als dialektaler Hinweis auf Berlin) zu besuchen: „Wenn du dich benimmst, hast du ein paar wundervolle Tage“. Wie in Mein Block wird hier das Stadtviertel als Heterotopos 655 gezeichnet, als ‚anderer Ort‘: Dieser Ort stellt das Außen der ‚normalen‘ Gesellschaft dar, hier gibt es eine eigene Ordnung, an die es sich zu halten gilt. Für die BewohnerInnen wird dieser ‚andere‘ Ort durchaus positiv erlebt. Für Außenstehende gilt es sich allerdings der ‚hiesigen‘ Ordnung anzupassen, wie Foucault in Bezug auf Heterotopien ausführt: Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht. Einen heterotopen Ort betritt man nicht wie eine Mühle. […]. Man darf sie nur mit Erlaubnis betreten […]. Andere Heterotopien wirken dagegen vollkommen offen, sind aber in Wirklichkeit auf seltsame Weise verschlossen. Jeder hat Zutritt zu diesen heterotopen Orten, aber das ist letztlich nur Illusion. 656 Grundsätzlich erscheint also der Kiez als offener Ort, aber betreten kann er nur werden, indem gewisse Regeln Beachtung finden. Welcher Art diese Regeln sind, wird in den letzten beiden Versen des Refrains wie auch in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe deutlich: „Doch wenn du Fleisch nur für dich behältst, du Freak / halt es besser keinem bluthungrigen Hund unter die Nase“ (Vers 8). Das ‚Fleisch‘ scheint eine Metapher für Gegenstände jedweder Art zu sein, die mit Reichtum oder Prestige verbunden und einer Person von niedriger sozialer Herkunft nicht zugänglich sind. Diese Personen gieren nach Meinung des Ich wie ‚bluthungrige Hunde‘ nach derartigen Objekten. Die Geste des ‚Fleisch-nur-für-sich-Behaltens‘ bei gleichzeitigem ‚Unter-die- Nase-Halten‘ scheint dagegen eine bewusste Provokation seitens der/ s sozial höher Gestellten zu sein. Die/ Der Reiche soll also nach Meinung des Ich ihren/ seinen Reichtum nicht zur Schau stellen. Dies könnte ansonsten zu Gewaltakten seitens der/ s Provozierten führen. Was die Stellung des Kiezes als Heterotopos bestätigt, stellen einerseits die Aufforderung des Ich an das Du, sich ‚zu benehmen‘ (vgl. Vers 4), wie auch die Anrede des Du als „Freak“ (Vers 7) dar. Beide Formulierungen gehören in unterschiedlicher Weise dem Gebiet der bürgerlichen Ordnung an. ‚Sich zu benehmen‘ stellt prinzipiell eine Befolgung bürgerlicher Verhaltensnormen dar. Offenbar hat aber auch der Kiez seine Regeln und Normen, die mitunter 655 Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen [1967/ 1984]. In: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 317-329. Zum Begriff des Heterotopos siehe auch Kap. 7.2.3, S. 273 in diesem Band. 656 Foucault, Von anderen Räumen (Anm. 655), S. 325f. 7.2 Textanalysen 203 zwar jenen in der Gesellschaft außerhalb nicht unähnlich sind (z. B. sollen andere Leute nicht bewusst provoziert werden), aber nach anderen Regeln geahndet werden (siehe Morddrohung). In Bezug auf die Adressierung des Du als ‚Freak‘ gilt es, die Definition des Duden für Fremdwörter anzuführen, der gemäß ein ‚Freak‘ als jemand bezeichnet wird, „der sich nicht ins normale bürgerliche Leben einfügt.“ 657 Hier im Kiez ist allerdings das Du als der ‚Normalbürger‘ die/ derjenige, die/ der sich in die andere Ordnung einzufügen hat und innerhalb dieser sozusagen einen Fremdkörper darstellt. Das Ich verlagert die AußenseiterInnen-Position des Ich, die es als sozial schwach Gestellte/ r innehat, ins Du: Es baut zur bürgerlichen Gesellschaft des Du eine Gegenwelt auf, zu der es selbst gehört, in die das Du aber nur dann eintreten kann, wenn es sich an die Regeln des Kiezes hält (d. h. ‚sich benimmt‘). Eine ähnliche Argumentation vertritt das Ich in der zweiten Hälfte der zweiten Strophe, wenn es heißt: 9) Ihr gebt mir keine Chancen, ich muss gucken, wo ich bleibe e 10) Wenn ich keine Schuhe hab’, dann geh’ ich los und hol’ mir deine e 11) Wenn du zu ’nem Penner gehst und sagst, du hast nur große Scheine e 12) Ist doch klar, dass er dann neidisch wird, und kriegst dann große Beine e 13) Die Straßenjungs kämpfen nur ums Überleben f 14) Wir haben’s nicht anders gelernt, einfach nehmen, wenn sie es nicht geben f 15) Ich bin kein Gangster, kein Killer und kein Dieb g 16) Nur ein Junge von der Straße, es wird Zeit, dass du es einsiehst. g Das Etablieren der neuen Welt des Ich wird hier nochmals begründet, insofern das Ich in der bürgerlichen Welt des Du/ Ihr „keine Chance“ (Vers 1) bekommt. Zudem wird den VertreterInnen der bürgerlichen Ordnung wiederum ein gewisses Provokationspotential zugesprochen. Die Welt des Ich wird als Produkt jener Welt des Du dargestellt. Folgerichtig behauptet das Ich von sich, wie am Anfang angedeutet, nicht willkürlich ein/ e Kriminelle/ r zu sein, und gibt an, lediglich in Zwangslagen Bereitschaft zu kriminellen Taten zu zeigen: „Wenn ich keine Schuhe hab’, geh’ ich los und hol’ mir deine“ (Vers 10), „Wir haben’s nicht anders gelernt, einfach nehmen, wenn sie es nicht geben“ (Vers 14). Das kriminelle Verhalten wird auf diese Weise zur Regel, es gibt keine anderen Handlungsmöglichkeiten in der Welt des Kiezes. Hier ist die vermeintliche Ausnahme der bürgerlichen Welt Regel. Das Verhaftet-Sein in der sozialen Unterschicht entnaturalisiert, aber entschuldigt 657 Duden (Anm. 536), S. 342. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 204 damit das kriminelle Verhalten, da es vom Umfeld gefordert wird. Die bürgerliche Welt schließt das Ich aus, weshalb es keine anderen Handlungsmöglichkeiten hat. Das Ich vertritt damit einen immanenten Sozialdeterminismus, was sich in der Häufung jener Vielzahl an Aussagen über Wesenseigenschaften des Ich widerspiegelt: „Ich bin kein […]“ (Vers 15). Es wird deutlich, dass das Ich als idem Thema des Liedes darstellt. Das Ich möchte sich als beständig gegenüber der Zeit präsentieren, in dem, was es ist, und vor allem in dem, was es nicht ist. Die erste Hälfte der zweiten Strophe bringt allerdings zusätzliche Gedanken ein: 1) Die Leute reden viel, sie sagen, sie haben Angst vor mir a 2) Sie sagen, meine Texte würden Hass-Tiraden transportier’n a 3) Sie sagen, dass ich so verdorben bin, ist traurig b 4) Und sobald etwas nicht stimmt, zeigen alle Finger auf mich b 5) Sie halten mich schon für das Böse in Person c 6) Sie sagen, Mama hat ihr’n Sohn nicht gut erzogen c 7) Er nimmt Drogen und hört nicht zu, wenn man was sagt d 8) Sie würden mich am liebsten umsiedeln, in ’nen ander’n Staat. d Am Beginn von Strophe 2 wiederholt das Ich in der indirekten Rede die Diskussionen, die über es geführt werden: Die zweite Hälfte des ersten Verses wie auch die Verse 2 und 3 (und in späterer Folge Vers 6) setzen anaphorisch mit „Sie [die Leute, Anm. A. B.] sagen […]“ ein. Das Ich zitiert einen gesellschaftlichen Diskurs und möchte damit das Vorgehen jener Personen, die über das Ich sprechen, und deren Positionen beschreiben und beurteilen. Es stellt sich dabei allerdings die Frage, was passiert, wenn ein Diskurs in der indirekten Rede repetiert wird, schließlich bietet das Deutsche über den Verbmodus Möglichkeiten für das Ich an, Position zu diesem Diskurs zu beziehen: Dementsprechend verdeutlicht das Ich in seiner Wiedergabe seine Zweifel bezüglich der Gültigkeit des Diskurses der ‚Leute‘. Dabei kommt es auch zu einer Ironisierung dieses Diskurses. Der Zweifel wird zunächst über die Verwendung des Konjunktivs II zum Ausdruck gebracht („Sie sagen, meine Texte würden Hass-Tiraden transportieren“, Vers 2), welcher in der indirekten Rede anzeigt, dass die/ der SprecherIn nicht an die Richtigkeit dessen, was sie/ er wiedergibt, glaubt. Die absurd anmutende Gegenüberstellung von zwei sehr unterschiedlich zu beurteilenden Fehlleistungen des Ich („Er nimmt Drogen und hört nicht zu, wenn man was sagt“, Vers 7) führt indes trotz der Verwendung des Indikativs Präsens zu einer Ironisierung des Diskurses. In den acht Versen zu Beginn der zweiten Strophe macht das Ich deutlich, dass die Leute es dämonisieren, zum ‚Sündenbock der Nation‘ machen („Und sobald etwas nicht stimmt, zeigen alle Finger auf mich“, Vers 4 / „Sie halten mich schon für das Böse in Person“, Vers 5). In Bezug auf die Funktionen des 7.2 Textanalysen 205 Sündenbocks in einer Gesellschaft sei inbesondere auf Girard verwiesen, der Folgendes ausführt: Eine Gemeinschaft, die in Gewalt verstrickt ist oder vom Unheil bedrängt wird, dem sie nicht Herr werden kann, stürzt sich oft blindlings in die Jagd nach dem ‚Sündenbock‘. Instinktiv wird nach einem rasch wirkenden gewalttätigen Mittel gegen die unerträgliche Gewalt gesucht. Die Menschen wollen sich davon überzeugen, dass ihr Unglück von einem einzigen Verantwortlichen kommt, dessen man sich leicht entledigen kann. 658 Auf diese Weise würden die Mitmenschen das Ich auch „am liebsten umsiedeln in ’nen ander’n Staat“ (Vers 8), um es als Sündenbock für alles Böse loszuwerden. Man könnte mit Butler sagen, dass der Sündenbock diskursiv aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird, also als dessen ‚Außen‘ festgesetzt wird: Denn es gibt zwar ein ‚Außen‘ gegenüber dem, was vom Diskurs konstruiert wird, aber es handelt sich dabei nicht um ein absolutes ‚Außen‘, nicht um ein ontologisches Dortsein, welches die Grenzen des Diskurses hinter sich lässt oder ihnen entgegensteht; als ein konstitutives ‚Außen‘ ist es dasjenige, was, wenn überhaupt, nur in Bezug auf diesen Diskurs gedacht werden kann, an dessen dünnsten Rändern und als dessen dünnste Ränder. 659 Der Sündenbock gilt als Verantwortliche/ r für die Krise und zur selben Zeit als Symbol für die Wiedereinkehr der Ordnung, da sie/ er ja alleinig verantwortlich für das Geschehen zeichnet. 660 Girard bestätigt, dass „dieses Opfer die Ordnung […] symbolisiert und [sie] verkörpert.“ 661 Insofern ist der Platz der/ s Außenseiterin/ s an den dünnsten Rändern des hegemonialen Diskurses im eigentlichen Sinne ‚im Herzen‘ des Diskurses selbst. Die/ Der AußenseiterIn, stellt, wie Butler oben formuliert, das konstitutive Außen des Diskurses dar: Da es den Diskurs ohne das Außen nicht geben kann, konstituiert das Außen die Ordnung. In Bezug auf den Rap Straßenjunge bedeutet das, dass das ausgeschlossene Unterschichtsviertel mit seinen BewohnerInnen das eigentliche Zentrum der bürgerlichen Welt darstellt. Denn der Sündenbock übernimmt in der Gesellschaft eine negativ konnotierte Modellfunktion, „es wird nämlich irgendwo in der Gesellschaft ein Gewaltmodell geben, dem nachgelebt oder das verworfen, d. h. zwangsläufig nachgeahmt oder vermehrt werden könnte.“ 662 Durch diese modellhafte Sündenbockfunktion des Ich tritt die ethische Dimension des Ich als ipse in den Vordergrund. Die Menschen machen das Ich als ipse verantwortlich für schlechte Vorgänge in der Gesellschaft. Das Ich bestätigt auch die kriminellen Verhaltensweisen in Bezug auf sich selbst, be- 658 René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Zürich 1987 [1972], S. 121. 659 Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 30. 660 Vgl. René Girard: Der Sündenbock. Zürich 1988 [1982], S. 66. 661 Ebenda, S. 66. 662 Girard, Das Heilige und die Gewalt (Anm. 658), S. 124. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 206 hauptet aber, die bourgeoise Gesellschaft sei für das vermeintlich antisoziale Verhalten des Ich zur Verantwortung zu ziehen („Ihr gebt mir keine Chancen“; Vers 9, Strophe 2). Der Ausschluss aus der Gesellschaft führt zu kriminellem Verhalten, wobei die Gesellschaft diese Kriminellen braucht, um sich selbst davon abgrenzen, d. h. sich selbst aufrecht erhalten zu können. Das Ich als ipse kann sich somit der eigenen Verantwortung vollständig entziehen. Dass diese Sündenbock-Theorie nun in einer Passage, welche größtenteils durch indirekte Rede vermittelt wird, zum Ausdruck gebracht wird, scheint die Funktion zu haben, die Richtigkeit der Ausführungen des Ich zu bestätigen. Dennoch stellt sich allgemein die Frage nach der Zuverlässigkeit des Ich als ErzählerIn: Rekurriert es hier tatsächlich auf einen gesellschaftlichen Diskurs oder stellt die Sündenbock-Funktion des Ich eine Selbst-Inszenierung dar? Diese Frage ist nicht zu beantworten, beides scheint zutreffend. Indem das Ich auf seine „Texte“ (Vers 2) rekurriert, stellt es sich selbst als RapperIn dar, was auch zu einer Verbindung des Ich im Text mit dem Ich vor dem Text führt. Dass RapperInnen als Sündenböcke und ‚Kinder-VerderberInnen‘ in den Medien dargestellt werden, also Teil des öffentlichen Gewalt-Diskurses sind, ist hinlänglich belegt. 663 Dass es sich bei dieser Funktion des Sündenbocks auch um eine selbstauferlegte handelt, wird allerdings durch den Text des Liedes bestätigt. Es wurde darauf verwiesen, dass das Ich im Text sich als idem, als beständig gegenüber der Zeit, ausweist. Es verwahrt sich zwar einer Ontologisierung seiner kriminellen Ader, spricht aber gleichzeitig von einem unumgänglichen Sozialdeterminismus, der somit wiederum ontologischen Charakter erhält. Es bejaht seine Position in der Gesellschaft und schiebt die Verantwortung des Ich als ipse auf die Gesellschaft ab. Damit bekräftigt das Ich aber auch das Bild, das über es seinen Aussagen gemäß im gesellschaftlichen Diskurs kursiert. Die dritte Strophe des Raps von Alpa Gun fügt dem oben Ausgeführten keine wesentlichen neuen Gedanken hinzu. Hier sollen nur die ersten acht Verse wiedergegeben werden, die den Verdacht der Inszenierung eines Sündenbock- und ‚Ghettokindimages‘ verstärken: 1) Alpa Gun: Ich hab’ nicht viel gelernt, kann mich grad mal artikulier’n a 2) Mein Vater hat immer gewollt, dass ich’s mit dem Abi probier’ a 3) Wenn ich keine Grammatik hab’, liegt es an meiner Straßenzunge b 4) Ich leb’ nicht wie ein Bonzenkind, guck, ich bin nur ein Straßenjunge b 5) Um über die Runden zu kommen, tickt man mit ein bisschen Gras c 6) Ich bin kein Verbrecher, nur das Leben ist hier richtig hart c 7) Ich hatte öfter Geld und Sachen, die nicht jeder hatte d 8) Wenn du von der Straße bist, dann kriegst du auch ’ne Lederjacke. d 663 Siehe Kap. 3, S. 55f. in diesem Band. 7.2 Textanalysen 207 Auch dieses Ich stellt seine kriminellen Machenschaften heraus, die es mit seiner Herkunft (Vers 3) begründet. Indes baut es aber auch einige Widersprüche auf: Zum einen behauptet es, sich mangelhaft artikulieren zu können (Vers 1) und keine Grammatik zu ‚haben‘ (Vers 3), was im Widerspruch zum ausgeführten Text steht. Das Ich kann sich sogar in gebundener Sprache artikulieren, es verwendet Haupt- und Nebensatzkonstruktionen. Die Strophe weist keine sprachbezogenen Irregularitäten auf, mit Ausnahme der in der gesprochenen Sprache üblichen Ellipse der Verbendung in der ersten Person Singular (z. B. „Ich hab’“, Vers 1). Seinem sprachlichen Vermögen entsprechend gibt das Ich auch an, sein Vater habe gewollt, dass es das Abitur macht, was das Ich aber ablehnte. Insofern war das Ich nicht von höherer Bildung ausgeschlossen, was im Widerspruch zum Image des ‚Straßenjungen‘ mit seinem harten Leben steht. Zudem gibt das Ich gleichzeitig an, schwer „über die Runden“ (Vers 5) gekommen zu sein, aber auch viele kostspielige Gegenstände (wie z. B. eine „Lederjacke“, Vers 8) besessen zu haben. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, das Ich hätte seine kriminellen Energien genutzt, um sich luxuriöse, keineswegs lebensnotwendige Dinge zu verschaffen. Diese Verse bestätigen also den Eindruck der ersten beiden Strophen, die Ichs bedienten mit dem selbstgewählten Straßenjungen-Image ein gesellschaftliches Klischee, das es erlaubt, soziale Verantwortung abzugeben. Was aber ist die Funktion dieses zweiten Ich im Lied? Im Rap erfolgt kein Hinweis im Sinne einer Interpellation seitens des Ich der beiden ersten Strophen darauf, dass nun eine andere Person spricht, man hört lediglich eine andere Stimme. Das Ich in der dritten Strophe wiederholt einen ähnlichen Diskurs wie jenen der beiden anderen Strophen. Dass hier eine weitere Stimme ein ähnliches Szenario entwirft, scheint also der Funktion zu dienen, eine/ n Zeugin/ en für die Worte des ersten Ich aufzurufen. Mangels einer eindeutigen Referenz des Ich der dritten Strophe auf eine andere Person als das Ich der beiden anderen Strophen changiert die Funktion dieser dritten Strophe allerdings zwischen einer Zeugenschaft einer zweiten Person und einer Aneignung der dargestellten Ausführungen durch das Ich der beiden anderen Strophen: Was in der dritten Strophe ausgesagt wird, passt auch zum Ich der beiden anderen Strophen. Die beiden Ichs als idem verfügen über einen ähnlichen narrativen Hintergrund, sind daher bis zu einem gewissen Grad austauschbar. Das Lied spielt also mit der Funktion des Pronomens ‚ich‘ als Leerdeixis und mit der brüchigen Referenzfunktion der Stimme. Am Ende schließlich wiederholt das Ich der ersten beiden Strophen seine Botschaft mit gewisser Eindringlichkeit: Refrain Ich bin kein Gangster, kein Killer, ich bin kein Dieb Ich bin nur ein Junge von der Straße (2x) Sieh es ein, nein, ich bin kein Gangster Wenn ich ein Gangster wär’, wärt ihr schon alle tot. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 208 Als interessant erweist sich der letzte Vers des Liedes: Hier spricht zwar die Stimme des Ich, allerdings ist sie verfremdet und als Sample eingefügt. Wie in Kap. 6 ausgeführt, verleiht eine Stimme als Prosopopöie zwar ein Gesicht, defiguriert es aber zur selben Zeit. Die Verwendung des Samples zeigt diese Brüchigkeit: Sprache ist nicht, worauf sie referiert, sie kann immer wieder entfremdet und von neuem angeeignet werden. Auf diese Weise wird die Brüchigkeit der narrativen Konstitution des Ich als idem deutlich. Die Stimme, die die gleiche wie vorher ist und nicht ist, zeigt durch ihre Ablösbarkeit, dass eine Re-Narrativisierung des idem jederzeit möglich ist. Jetzt ist das Ich kein Gangster, aber die Möglichkeit, diese Richtung einzuschlagen, besteht jederzeit. Auf diese Weise sabotiert das Ich den vorhin postulierten Sozialdeterminismus und stellt kriminelles Verhalten dennoch als dem eigenen Willen obliegend dar. Die Drohung der gesampelten Stimme bringt dies mittels der Verwendung des Konjunktivs II auf den Punkt, indem sie die Brüchigkeit der Ich-Konstitution offen legt. Auf diese Weise zeigt der allerletzte Vers des Liedes durch seine mediale Verfasstheit, dass die drei Strophen vorher nur eine reversible, narrative Konstruktion des Ich als idem darstellen. Die vier Beispiele illustrieren, dass es innerhalb des Raps unterschiedliche Möglichkeiten gibt, die dialektische Beziehung der Dimensionen des Ich als idem und ipse zu verhandeln. Während in Eigentlich nichts (Ma 5) das zerbrochene Zeitempfinden eines sich in der Krise befindenden Ich als ipse und idem im Vordergrund steht, lotet das Ich in Rostock (Py 12) die Dialektik dieser Beziehung auf positive Weise aus: Das Ich verhandelt einerseits als ipse seine Beständigkeit über die Zeit hinweg, die auch in beständigen Beziehungen zu anderen zum Ausdruck gebracht wird, wie auch seine Veränderlichkeit (als idem), indem es Entwicklungen durchmacht. Das ‚gegenwärtige‘ Ich stellt das (sich wiederum ständig verändernde) Ergebnis beider Dimensionen dar. Das Ich in Straßenjunge (Si 21) hingegen beharrt auf seiner Kontinuität als idem: Durch seine soziale Herkunft lassen sich alle Handlungen, Sprechweisen u. a. erklären. Eine Veränderung des Ich als idem wie auch die Möglichkeit, als ipse Verantwortung zu übernehmen, sind daher nicht im Bereich des Vorstellbaren. Allerdings wird im letzten gesampelten Vers angedeutet, dass sich das Ich der Konstruiertheit dieser sozialdeterministischen Sichtweise durchaus bewusst ist, also auf bewusste Weise sein Ich auf diese Weise (narrativ) konstituiert. In Blaue Flecken (Fi 7) hingegen zieht sich das Ich in den ersten beiden Strophen als ipse auf die Rolle der/ s Erzählerin/ s zurück. Die Darstellung der ‚Geschichten‘ der Großmutter wie Mutter dienen allerdings auch der Schilderung des eigenen Ich als idem. Identität stellt sich als ein relationales Konzept dar, die Herausbildung des eigenen Ich hängt von anderen Personen ab, in diesem Fall von den Eigenschaften und Handlungsweisen der weiblichen 7.2 Textanalysen 209 Vorfahren des Ich. Das Ich bezieht also deren Lebensläufe in die Herausbildung des eigenen Ich als idem ein. Diese vier Ich-Erzählungen zeigen, dass die Funktion des ‚ich‘ als Ich in jedem Lied variiert, unabhängig davon, in welche thematische Rahmung es eingebunden wird. Allen vieren ist dabei gemeinsam, dass die Einbindung des Ich in eine temporale Ordnung (sei sie auch ‚zeitlos‘ oder ‚zirkulär‘) von äußerster Wichtigkeit ist. Das Ich kann sich nur als zeitliches erfahren, egal, ob der narrative Verlauf eines Lebens oder eine Momentaufnahme im Leben dargestellt werden soll. 7.2.2 Rap über Rap Wie in Kap. 3 ausgeführt, können Rap und die Jugendkultur des HipHops auf eine mehr als 30-jährige Geschichte zurückblicken. Dieser Umstand hat im Laufe der Jahre dazu geführt, dass sich unterschiedliche narrative Rahmungen entwickelt haben, innerhalb derer Aussagen im Rap getroffen werden können. Es steht fest, dass dabei der sozialkritische Rap und der sogenannte Gangsta- Rap die beiden prominentesten Strömungen darstellen, wobei den VertreterInnen beider gemein ist, sich als gesellschaftlich widerständisches Medium zu verstehen. 664 Dennoch werden innerhalb der Jugendkultur heftige Debatten darüber geführt, wie ‚richtiger‘ Rap auszusehen hat. 665 Wie in der Populärmusik im Allgemeinen geht es auch im Rap darum, Tonträger zu verkaufen, d. h. ein Publikum anzusprechen und Erfolg zu haben. Allerdings besteht bei zu großem Erfolg die Gefahr, als kommerziell zu gelten, d. h. es entsteht das Image, dass sich ein/ e KünstlerIn an den Massengeschmack eines breiten Publikums ‚verkauft‘ und dabei den eigenen künstlerischen (und ggf. auch politischen) Anspruch verloren hat. Auf diese Weise wird innerhalb des Rap-Diskurses ein Gegensatz zwischen Underground und Kommerz aufgebaut. 666 Sowie Hebdige dies im Zitat unten in Bezug auf Subkulturen im Allgemeinen formuliert, gehen auch innerhalb der Rap-Szene viele davon aus, es habe einen zeitlichen Ablauf in der Entwicklung des Raps gegeben. Rap habe sich von einer ursprünglich lokal eingegrenzten widerständigen Underground-Bewegung hin zu einer zunehmend kommerzialisierten und globalisierten Massenware entwickelt: Wenn eine auffällige Subkultur auftaucht, wird das unausweichlich von einer Hysterie in der Presse begleitet. […]. Nach und nach nimmt die Subkultur eine eigene, aber gut vermarktete Pose ein, und ihr visuelles und verbales Vakabular [sic! ] wird vertrauter. In zunehmendem Maße kann man nun beginnen, die naheliegendsten Bezugsrahmen aufzuspüren und ins Licht der Öf- 664 Vgl. Kap. 3.3.3, S. 58f. in diesem Band. 665 Zur Funktion und Entwicklung des sogenannten Battleings vgl. Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 76ff.; vgl. auch Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 29. 666 Vgl. Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 102ff. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 210 fentlichkeit zu rücken. Und dadurch können sie alle […] vereinnahmt, eingereiht und auf der bevorzugten Landkarte problematischer sozialer Realität lokalisiert werden […]. 667 Eine wichtige Rolle im Prozess der Kommerzialisierung spielen dieser Argumentationsstrategie gemäß der Konsum und die Aneignung von Waren, denn sobald die Zeichen einer Subkultur als Waren allgemein zugänglich werden, verlieren sie nach Hebdige ihre widerständige Bedeutung: Wenn sie einmal von Kleinunternehmern und den massenhaft produzierenden großen Modefirmen aus ihrem privaten Zusammenhang herausgerissen sind, werden sie kodifiziert, verständlich gemacht und gleichzeitig zu öffentlichem Eigentum und profitträchtiger Konsumware gemacht. 668 Menrath hebt in diesem Zusammenhang allerdings hervor, dass die Vorstellung eines so verstandenen zeitlichen Nacheinanders für die Entwicklung von HipHop nicht zutreffend ist, da schon von Beginn seiner Entwicklung an - siehe den Gebrauch von Samples - die Aneignung von Waren, das Verdienen von Geld und der Umgang mit den Massenmedien eine große Rolle innerhalb der Szene gespielt hätten. 669 Viele AnhängerInnen der Rap-Szene des 21. Jahrhunderts verfolgen allerdings den Mythos, dass der Fokus auf finanziellen Gewinn und Medienpräsenz ‚früher‘ nicht im Vordergrund gestanden hätte. So bestätigt Rose: „It is a common misperception among hip hop artists and cultural critics that during the early days, hip hop was motivated by pleasure rather than profit, as if the two were incompatible.” 670 Es gilt also innerhalb der Rap-Kultur eine Nostalgie zu konstatieren, dass ‚früher‘ alles besser war: Vor einer so langlebigen Popkultur wie HipHop hat der Generationenkonflikt nicht haltgemacht. Auch hier klingt der wohlbekannte Satz an: Früher war eben alles anders. Damals so heißt es, hätte es noch ‚richtige‘ Jams gegeben, […]. Man hätte noch nicht alles in HipHop-Läden kaufen können, es wäre um mehr gegangen als heute. Damals war HipHop noch ‚echt‘, das Real-Life. 671 Gerade für den deutschsprachigen Raum ist nun von Wichtigkeit, dass sich die Szene zu Beginn des 21. Jahrhunderts stark verändert. Der Gangsta-Rap insbesondere Berliner Provenienz verzeichnet große kommerzielle Erfolge und erhält viel mediale Aufmerksamkeit; die ganze Szene sieht sich nun aufgrund dieser Veränderungen dazu gezwungen, angesichts dieser Situation Stellung zu beziehen. Die vier gewählten, hier vorgestellten KünstlerInnen publizieren nun erstmals zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Alle vier haben im ungefähr selben Zeitraum (2002-2004) ihr Debütalbum veröffentlicht, sie gehören alle derselben Generation an, was bedeutet, dass sie sich sowohl in 667 Diederichsen/ Hebdige/ Marx, Subkultur (Anm. 120), S. 84f. 668 Ebenda, S. 87. 669 Vgl. Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 106. 670 Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 40. 671 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 51. 7.2 Textanalysen 211 die jahrzehntelange Geschichte des Raps und HipHops einordnen müssen, als für sie auch vonnöten ist, eine Position angesichts der aktuellen Situation der Rap-Szene in Deutschland einzunehmen. Es stellt sich also die Frage, auf welche Weise die Ichs in den Texten sich in die Kultur des HipHops einordnen, welchen Platz im weiten Spektrum zwischen Kommerz und Underground, Politik und Gangsta-Rap sie wählen. Im Folgenden soll also der Frage nachgegangen werden, auf welche Weise die Ichs im Umfeld der Jugendkultur konstituiert werden resp. wie es sich dabei von den anderen TeilnehmerInnen im Feld abzugrenzen gilt. Da - wie in Kap. 3 ausgeführt - HipHop für die Identitätskonstitution der KünstlerInnen eine große Rolle spielt, stellt sich zudem die Frage, welcher Bezug zwischen einem Ich im Text und einem Ich vor dem Text hergestellt wird. Es wird davon auszugehen sein, dass in Texten über Rap diese Referenzbeziehung eines der Hauptthemata in den Texten darstellen wird. Schon der Titel von Zurück (in die Zukunft) (Fi 21) impliziert einen temporalen Aspekt des Raps, der auf Fiva MCs zweitem Album Kopfhörer (2006) publiziert wurde. Zunächst rekurriert der Titel auf den bekannten gleichnamigen US-amerikanischen Film Zurück in die Zukunft 672 aus dem Jahr 1985, in dem ein Junge in die Vergangenheit reist, um die Gegenwart, in der er lebt, zu verändern. Im Titel des Liedes wird der Filmtitel durch die Setzung einer Klammer geringfügig abgeändert, weshalb der Kern des Rap-Titels also zunächst nur „Zurück“ lautet, was als performative, selbstreflexive Ankündigung gelesen werden kann. Denn schließlich handelt es sich bei dem Rap um das zweite Lied des neuen Albums der Ichs vor dem Text, in dem darauf hingewiesen wird, dass man nun mit einem neuen Produkt zurück auf dem Markt sei. Das Zurück-Sein wird dabei durch die Information in der Klammer erweitert: Der Verweis auf die Zukunft könnte in diesem Zusammenhang so verstanden werden, dass man das folgende Werk als zukunftsträchtiges präsentieren möchte. Diese Interpretation stimmt allerdings nur, wenn man über eine kleine grammatikalische Information hinwegsieht: Schließlich nennt sich das Album nicht ‚Zurück in der Zukunft‘, sondern man möchte ‚in die Zukunft‘. Der Akkusativ weist auf eine Bewegung hin, die Zukunft liegt nicht in der Gegenwart, sondern an einem anderen Ort, der offensichtlich noch nicht erreicht ist. Wie kann ich aber zurück in die Zukunft? Möglicherweise rekurriert man damit auf das erste Album, das auf diese Weise auch als ‚Werk der Zukunft‘ (als modernes, richtungsweisendes Werk) gesetzt wird. Die Ichs vor dem Text möchten also zum Anspruch ihres Erstlingswerks zu- 672 Zurück in die Zukunft (engl. Back to the Future). Amblin Entertainment. USA 1985: Im ersten Teil dieser Filmtrilogie reist Protagonist Marty McFly (Michael J. Fox) vom Jahre 1985 ins Jahr 1955 zurück und ändert dort die zukünftige Geschichte seiner Eltern und damit auch die eigene Zukunft. Auf diese Weise reist McFly gleichzeitig in die Vergangenheit wie auch in eine neue Zukunft. Am Ende des Films bricht er von der Vergangenheit wieder auf, zurück in die Zukunft, ins Jahr 1985. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 212 rück. Die Paradoxalität des Titels kann in Bezug auf das Lied erst später in vollem Umfang erklärt werden. Der Rap selbst umfasst drei Strophen mit je 16 Versen. Dazwischen liegt der sich aus vier Versen zusammensetzende Refrain, welcher wiederum aus verschiedenen Samples männlich konnotierter Stimmen aus dem englischsprachigen Raum besteht: 1) Hier sind Radrum und Fiva / weil’s längst an der Zeit war a/ a 2) Von der Küche zum Cypher / übers Studio, bald live ja a/ a 3) Zwei Jahre Album zwei, ein DJ, ein MC b 4) Ich Text, er Cuts und Beats / das Team macht noch Musik b/ b 5) Immer noch Rap / trotz schlechter Prognosen c/ d 6) Für Fans mit Kopftuch und Cap / Heads mit verdammt weiten Hosen c/ d 7) Für jeden, der checkt, Rap ist / mehr als bekannt sein und posen e/ d 8) Gibt’s Texte und Beats / von den zwei Imagelosen e/ d 9) Einfach und doch so verdammt kompliziert f 10) Wenn man aufsteht, nicht weiß, wie man sich finanziert f 11) Heißt es lernen, Arbeit, Rap, Bett / lernen, Arbeit, Mic-Check g/ g 12) Bühne ist wie Urlaub, Motor an und weit weg g 13) Ich weiß, dass ich tight rap’/ doch das heißt noch lange nichts g/ h 14) Weil du seit dem Hype, Rap / auch schon von der Stange kriegst g/ h 15) Doch was soll das Gejammer über die Situation i 16) Wir sind zurück an den Tellern, gib dem Mikrofon Strom (Fi 21). i Der Rap beginnt mit einer Selbstanrufung, d. h. mit der Nennung und Vorstellung der Namen des Ich als RapperIn wie des für die Musik verantwortlich zeichnenden DJs. Die beiden melden sich mit dem zweiten Album ihrer Karriere zurück. Bereits im ersten Vers wird also ein klarer Bezug zum Ich vor dem Text hergestellt. Zudem wird zum Ausdruck gebracht, dass man vor der Veröffentlichung des Albums Zeit mit privaten Dingen („Küche“, Vers 2) verbracht hat, ehe man sich wieder in HipHop-Kreisen („Cypher“, Vers 2: ein Jargon-Wort für Gruppen von HipHop-AnhängerInnen) bewegte. Dem entsprechen die Informationen des Chiasmus in Vers 3: „Zwei Jahre, Album zwei“. Zwei Jahre habe man also für Album zwei gebraucht. Auch die Bewegung in die Zukunft wird vorgezeichnet, vom Studio soll es „bald“ (Vers 2) auf Tour gehen. Die reimtechnisch verbundenen Verse 3 und 4 stellen das Team noch einmal vor. Das „noch“ in Vers 4 greift dabei die zeitliche Dimension des Liedes auf: Ein Bezug zur Vergangenheit wird hergestellt, wobei das ‚noch‘ eine Überraschung zum Ausdruck bringt, welche in Vers 5 präzisiert wird: „Immer noch Rap trotz schlechter Prognosen“. Das Ich im Text geht also auf die untypische Langlebigkeit des Raps ein. Toop weist darauf hin, 7.2 Textanalysen 213 dass bereits 1984 erste Nachrufe auf HipHop verfasst worden seien, 673 auch Klein und Friedrich führen aus: Der jahrzehntelange Hype beschert HipHop die zweifelhafte Auszeichnung, die Popkultur zu sein, die bislang am längsten ihren Hype bewahren konnte. Diese Langlebigkeit steht in einem spannungsreichen Widerspruch zu dem, was gemeinhin unter Pop verstanden wird. Pop ist, qua Ideologie, kurzlebig, aber intensiv, purer Augenblick. 674 Der Vers im Lied geht also darauf ein, dass Rap immer wieder ‚totgesagt‘ wird, also im kommerziellen Sumpf zu versinken droht. Über den Reim (d) werden die Verse 5 bis 8 verbunden, in denen geschildert wird, für wen der Rap des Ich gemacht wird: Für alle, 675 die verstehen, dass Rap mehr ist, als bekannt zu sein und Posen einzunehmen. Das Ich grenzt sich also deutlich von jenen RapperInnen ab, die auf kommerziellen Erfolg aus sind und eine (möglicherweise zu kommerziellen Zwecken inszenierte) Figur darstellen, die ‚sich verkauft‘. Das Ich hingegen proklamiert sich und seinen DJ als die zwei „Imagelosen“ (Vers 8). Auch an späterer Stelle weist das Ich darauf hin, dass Rap „kein Image, sondern Identität“ (Vers 14, Strophe 3) brauche. Das Ich erklärt desweilen auch in Strophe 1, was es bedeutet ‚imagelos‘ zu sein: Nicht zu wissen, wie man sich finanziert (Vers 10), aber qualitativ hochwertig zu rappen (Vers 13). Vers 11 zeigt dabei in einer anaphorischen Struktur, wie das Alltagsleben einer/ s ‚imagelosen‘ Rapperin/ s aussieht: „[L]ernen, Arbeit, Rap, Bett / lernen, Arbeit, Mic-Check“. Die Anapher wie auch die einsilbigen Reimwörter dieses Verses verstärken dabei den Eindruck einer täglichen Routine mit viel und harter Arbeit. Die harte, asyndetische Reihung zeigt ein Arbeitsleben ohne Pause und Erholung. Die harte Arbeit sowie auch die finanziell unsichere Lage beschwören allerdings das traditionelle Image ‚der/ s brotlosen Künstlerin/ s‘, das beinhaltet, viel und gut zu arbeiten, ohne dafür (finanzielle) Anerkennung zu erhalten. Dies stellt gleichzeitig einen Rekurs auf den Ursprungsmythos des Raps im New Yorker Ghetto dar, in dem die einstigen RapperInnen auch von Armut gezeichnet waren. 676 Demgegenüber werden in Zurück (in die Zukunft) jene KünstlerInnen gestellt, welche Massenware produzieren, um das große Geld zu machen (Vers 14). Das Ich referiert schließlich in Vers 14 auf die Entwicklung des deutschen Raps zu Beginn des 21. Jahrhunderts, welcher unerwartet 673 Vgl. Toop, Rap Attack (Anm. 7), S. IX. 674 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 14. 675 Die Spannweite dieses „alle“ wird mit zwei sehr unterschiedlichen Begriffen zum Ausdruck gebracht. Der Rap des Ich ist für jene mit „Kopftuch“ und jene „mit Cap Heads mit verdammt weiten Hosen“ gemacht. Während sich das Kopftuch unter Umständen auf das Kopftuch muslimischer Frauen bezieht, rekurriert der Hinweis auf jene Personen mit Kappen und weiten Hosen möglicherweise auf die ‚coole‘, hippe Welt der Jugendkultur des HipHops. 676 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 57. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 214 großen kommerziellen Erfolg für sich beanspruchen konnte, aber vielfach wegen mangelnder Qualität und insbesondere Individualität kritisiert worden war: 677 Für diesen vermeintlich nur für den Markt produzierten Rap verwendet das Ich eine Metapher aus der Kleidungswelt, in der individuelles Design der ‚Kleidung von der Stange‘ gegenübersteht. Mittels des Rekurses auf den „Rap […] von der Stange“ (Vers 14), den es „seit dem Hype“ (Vers 14), also seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts, gibt, spricht das Ich jene zeitliche Dimension an, die für eine Einordnung in die Diskurse des Raps wichtig ist. Dennoch erzeugt das Ich in der ersten Strophe einen Widerspruch: Es beklagt den ‚neuen‘ Rap, dessen VertreterInnen nur von wiederholten Images leben, und setzt sich selbst einerseits als ‚imagelos‘, andererseits als brotlose/ n KünstlerIn. Es stellt das Image des armen, verkannten Genies dar, als sei es kein Image, sondern als handle es sich hier um eine ‚authentische‘ Wahrheit. Im Refrain schließlich geht das Ich noch einen Schritt weiter: We be / back in your area / to drop the new joints This is hiphop / the DJ / and the MC We be / comin’ thru / in your area Hiphop / for all those / who want the original. Der Refrain besteht aus vier reimlosen Versen, die aus zahlreichen, einzelnen Samples zusammengefügt sind, wobei die oben notierten Schrägstriche Cuts anzeigen, an welchen die Samples aneinander gefügt wurden. Gesampelt wurden lediglich Beispiele aus dem englischen Sprachraum. Die Stimmen sind als männliche wahrzunehmen. Über das Sampeln von englischsprachigem Rap wird eine Verbindung zum historischen Rap des Mutterlandes USA aufgebaut, welchen naturgemäß eine Aura der ‚Authentizität‘ umweht. Die ‚Stimmen‘ des Samples werden dabei in einem ambivalenten Zwischenraum etabliert, zwischen der Zitation der fremden Stimmen als solcher, um Zustimmung und Bestärkung von Seiten mehrerer VertreterInnen des ‚Originals‘ zu suggerieren, und der Aneignung der fremden Stimmen als eigener Stimmen. In Bezug auf eine Aneignung scheint das „we“ (Vers 1 und 3) der Samples auf die Ichs im/ vor dem Text (Fiva, Radrum) zu referieren, sie zu setzen, wiewohl die homodiegetische Stimme ansonsten weiblich konnotiert ist. Thematisch wird im Refrain auf selbstreflexive, performative Weise auf die Wiederkunft mit dem zweiten Album verwiesen, es wird hervorgehoben, dass es sich bei dem zu hörenden Produkt um ein HipHop-Produkt handelt (und dass dafür ein DJ und ein MC vonnöten sind). Zudem wird betont, HipHop für die bringen zu wollen, die das „Original“ (Vers 4) möchten. Die Ichs im Text verorten sich also in einem Rap-Diskurs, der auf die Ursprünge zurückverweist. Man setzt sich als KünstlerInnen, die das Original kennen 677 Zum sogenannten „Mein Block-Phänomen“ vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 24ff. und S. 271f. in diesem Band. 7.2 Textanalysen 215 und in der Lage sind, auch Original-Produkte herzustellen. Man grenzt sich also noch einmal von jenem Rap „von der Stange“ (Vers 14) ab, von welchem in der ersten Strophe die Rede war. Interessanterweise wird im Refrain das neue ‚Original‘ von einer ‚kopierten‘ Stimme gesprochen. Wie wir gesehen haben, ist es nicht die Kopie als solche, welche im Rap als mangelhaft kreativ angesehen wird, sondern es geht um jene ‚repetition with a difference‘, d. h. um die Verbindung von traditionellen Techniken oder auch Musik-Stücken mit neuen individuellen Ideen. In Strophe 2 und 3 schließlich wird das Thema des neuen und alten Raps wieder aufgenommen und weiter ausgeführt: 1) Es wär’ ’ne Lüge, wenn ich sag’/ es hätt’ sich nichts verändert a/ b 2) Ich bin müde von der Frage / warum Rap im Trend starb a/ b 3) Rap lebt auf Jams und in den Top-Ten-Charts b 4) Nur ist er nicht mehr das, wovon ich einmal Fan war b 5) Rap ist jiggy und hip / und in the club x/ c 6) Macht sein Cash und fährt Benz / und is in the club x/ c 7) Sucht sich Hoes nach den Shows / und is in the club x/ c 8) Nur, was ihr da so macht, nehm’ ich euch nicht ab c 9) Doch es geht nicht um abnehmen / es geht nicht um ablehnen d/ d 10) Es geht um Geschmack, und nicht jeder hat den d 11) Und komm mir nicht mit der Sache, wir gehen nicht mit der Zeit e 12) Wir ham die Richtung gefunden, und wollen, dass sie so bleibt e 13) Es ist ja jetzt schon so weit / dass ich über Rap schreib’ e/ e 14) Anstatt einfach nur zu rappen, weil mich rappen befreit e 15) Es dreht sich alles um’s Eine und im ewigen Kreis f 16) Und für den anderen Weg da liefern wir den Beweis. f Durch Endreim b werden die ersten vier Verse der zweiten Strophe verbunden, in welchen die Veränderung des Raps in den letzten Jahren besprochen wird. Den Begriff des Raps anthropomorphisierend, spricht das Ich von Gerüchten um den ‚Tod‘ des Raps (Vers 2), die allerdings insofern bestritten werden, als Rap weiterhin „lebt“ (Vers 3), jedoch in veränderter Form. Denn Rap hat sich indes zu einer ‚hippen‘ Clubmusik entwickelt, Image („jiggy und hip“, Vers 5), Geld („Benz“, Vers 6), Frauen („Hoes“, Vers 7) stehen im Zentrum. Diese Entwicklung wird auch sprachlich mit der englischsprachigen Epipher der Verse 5 bis 7 zum Ausdruck gebracht wird: Die Verwendung des Englischen dient hier weniger einem Bezug zum ‚ursprünglichen‘, USamerikanischen Rap, sondern dem kritischen Bezug zu einem sogenannten ‚Denglisch‘ des deutschsprachigen Raps, der seine Coolness aus der Mischung 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 216 der beiden Sprachen bezieht, was auch über die vielen anderen Anglizismen (jiggy, hip, Cash, Hoes 678 , Shows) dieser drei Verse deutlich wird. In Vers 8 schließlich werden die VertreterInnen jenes ‚neuen‘ Szene- HipHops direkt apostrophiert: „Nur was ihr da so macht, nehm’ ich euch nicht ab“. Das Ich diskreditiert also die VertreterInnen des aktuellen HipHops als nicht glaubhaft, indem es ihnen zum Vorwurf macht, keinen ‚authentischen‘, sondern Rap „von der Stange“ zu machen. Noch wichtiger fällt allerdings das Urteil aus, das durch das adversative „doch“ in Vers 9 eingeleitet und in Vers 10 ausgeführt wird: „Es geht um Geschmack und nicht jeder hat den“. Hier erweist sich das Ich, indem es sich als RichterIn darüber ausgibt, was ‚guten‘ Geschmack ausmacht, als durchaus wertekonservativ, was schließlich im nächsten Vers bestätigt wird: „Und komm mir nicht mit der Sache, wir gehen nicht mit der Zeit“ (Vers 11). In diesem Vers wird wiederum ein/ e VertreterIn des neuen Raps adressiert. Das Ich verteidigt sich gegen den Angriff outdated zu sein, d. h. veralteten Rap zu machen, es bejaht allerdings seinen Stil als den richtigen „Weg“ (Vers 16) und verweigert, sich dem Trend anzupassen. Auch Klein und Friedrich haben darauf hingewiesen, dass innerhalb der Rap- und HipHop-Szene eine gewisse Werte-Treue zu konstatieren ist: HipHop […] zeigt Konstanz, gibt sich traditionsbewusst und wertorientiert. […]. Über mehr als 20 Jahre hinweg haben sich die Prinzipien, Regeln, Organisationsformen und Wertsysteme des HipHop allmählich etabliert und verfestigt, nicht zuletzt gerade deshalb, weil HipHop auf Tradition setzt. 679 Diese Konstanz hat schließlich zum einen zur Ausbildung einer Tradition geführt, zum anderen aber auch zu dem erwähnten Generationenkonflikt. Denn naturgemäß machen neue Generationen Dinge anders, und gerade dem deutschen Gangsta-Rap Berliner Provenienz, wie er um das Jahr 2000 entstanden ist, wurde wiederholt vorgeworfen, die Tradition nicht zu achten resp. eben keinen „Geschmack“ (Vers 10) zu haben: Dieses Phänomen kann man bei vielen Newcomern [in Deutschland, Anm. A. B.] beobachten: Neben Verbalinjurien und hemmungslosem Tabubruch finden sich regelmäßig Diss-Attacken gegen altgediente HipHop-Aktivisten in ihrem Repertoire. […]. Im Vergleich mit den USA werden aber einige Dinge klar: Dort bekunden die Frischlinge regelmäßig ihren Respekt vor den alten Größen […]. Selbst weiße Superstars wie Eminem beugen ihr Haupt demütig vor diesen Protagonisten und reihen sich bewusst in den Stammbaum der Rap-Geschichte ein. 680 678 Der Slang-Begriff ‚hoes‘ bezeichnet Prostituierte. Im Rap-Diskurs findet der Begriff auch für Frauen im Allgemeinen Verwendung. 679 Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 14. 680 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 27. 7.2 Textanalysen 217 Das Ich im Text gehört zwar auch einer ‚neuen‘ Generation an, will sich aber von der anderen ‚neuen‘ Generation durch Wertetreue und Respekt unterscheiden. Es gewisses Rätsel geben in diesem Zusammenhang die Verse 15 und 16 auf: „Es dreht sich alles um’s Eine und im ewigen Kreis / Und für den anderen Weg, da liefern wir den Beweis“. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer mit Vers 15 gemeint ist: Die neue Rap-Garde, welche immer wieder dieselben Themata aufgreift und bei der sich alles nur „um’s Eine“ (um Geld? um Sex? ) dreht? Oder die neue ‚alte‘ Garde, bei der sich alles um die alten Werte dreht, und die deshalb die Vergangenheit auch in der Zukunft (in einem ewigen Kreislauf) präsent hält? Hier werden zwei zyklische Ordnungen gegeneinander ausgespielt: Zum einen jener (negativ bewertete) Kreislauf, welcher darin besteht, sich und seine Vorbilder als Massenware immer wieder zu kopieren, und jener (positiv eingeschätzte) Zyklus, welcher sich an den Werten und den Vorgaben der Vergangenheit orientiert. Möglicherweise sind beide Rap-Arten gemeint: Kommerzialisierung und künstlerische Weiterentwicklung eines Genres stellen nicht unbedingt zwei einander ausschließende, sich verdrängende Bewegungen dar. Beides bedingt einander in einem gleichzeitig stattfindenden Prozess. Das eigene Schaffen wird vorangetrieben, indem man sich von der jeweils anderen Gruppe abgrenzt. Das Ich verspricht allerdings einen individuellen Weg in diesem Kreislauf, welcher schließlich in Strophe 3 genauer nachgezeichnet wird: 1) Oh Mann, was war nicht alles los / was habt ihr alle verpasst a/ b 2) Über 75 Shows / das ganze Land auf und ab a/ b 3) Wir haben soviel gemacht / und ehrlich nicht nur Musik b/ c 4) Man nimmt die Sache viel zu wichtig / wenn man nichts anderes sieht c/ c 5) Man wird langweilig, schlecht gelaunt und aggressiv c’ 6) Deutscher Rap macht verbittert, verbissen und unproduktiv c’ 7) Wir sind zurück in die Zukunft auf der Suche nach Leben d 8) Auf dem ‚bling bling biatch‘ und ‚Was geht’n‘-Planeten d 9) Wir müssen die, die denken wie wir, schnell finden / um e/ f 681 10) Ihnen die Ohren zu verbinden / denn das stärkt Erinnerung e/ f 11) Wir haben keine Ahnung, was da seit ein paar Jahren passiert g 12) Es wirkt verzweifelt, verloren und ziemlich verwirrt g 13) Ich send’ ein SOS an alle, bald ist es zu spät h 14) Rap braucht hier kein Image, sondern Identität h 681 Das Interessante an der Reimstruktur dieses Verses ist, dass durch das Enjambement mit ‚um‘ der Vers sowohl mit dem Reimwort vor der Zäsur einen Reim bildet (finden - verbinden) als auch mit dem Ende des Verses (finden um - Erinnerung) eine Assonanz. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 218 15) Also kommt mit ins Raumschiff / mit Highspeed und Blaulicht i/ i 16) Versetzen wir euch wieder zurück, denn Rap braucht dich. i In Strophe 3 geht das Ich wiederum auf das eigene künstlerische Leben ein, das auch aus Aktivitäten abseits des Raps besteht, denn „[d]eutscher Rap macht verbittert, verbissen und unproduktiv“ (Vers 6). Die Alliteration [f] zusammen mit dem hohen, kurzen Vokal [ı] sowie das Aufeinandertreffen der Plosive [t] und der Frikative [s] machen die Abscheu des Ich auch lautlich deutlich. Wenn das Ich angibt, wieder zurück auf dem „,bling, bling biatch‘ 682 und ‚Was geht’n? ‘-Planeten“ (Vers 8) zu sein, rekurriert es nochmals auf das Bedürfnis nach Coolness, das in den neuen Rap-Kreisen von Wichtigkeit zu sein scheint. Diese Art von Rap-Szene wird als eigener Planet, als eigener Kosmos gehandelt, der dem Ich fremd ist, in dem es sich nicht zu Hause fühlt (Rap ist nicht mehr das, „wovon ich einmal Fan war“, sagt das Ich in Strophe 2). In den Versen 11 und 12 hingegen wird der neue deutsche Rap anders geschildert: „Wir haben keine Ahnung, was da seit ein paar Jahren passiert / Es wirkt verzweifelt, verloren und ziemlich verwirrt“. Was vorhin in Vers 6 ‚verbissen‘ und ‚verbittert‘ gemacht hat, wirkt nun verzweifelt, verloren und verwirrt. Wiederum wird dieselbe Alliteration aufgenommen, der Laut [f] wird nun allerdings mit den langen Vokalen [ai], und [o ] und einem reduzierten [ır] gekoppelt, was den Klang sanfter macht und damit auch die Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Wie passen diese beiden Beschreibungen zusammen? Das Ich wandelt seine Aggressionen in Mitleid um: Der ‚neue‘ Rap mit seinem Dasein, das nur aus ‚Image‘ besteht, verliert Substanz und Richtung (bewegt sich deshalb im Kreis) und wirkt aus diesem Grund verloren. Über das entgegengebrachte Mitleid diskreditiert das Ich diesen neuen Rap. Die Metapher des „Planeten“ (Vers 8) für die Rap-Szene erhält in Strophe 3 eine zentrale Rolle: Planeten werden mit ‚Lebensraum‘ in Verbindung gebracht, wobei der neue Rap seinen eigenen Planeten kaputt gemacht hat. Generell stellen Biologismen bei der Beschreibung von Rap keine Seltenheit dar: 683 Dem Bild entsprechend ist das Ich auf dem Planeten auf der „Suche nach Leben“ (Vers 7). Zu diesem Ziel muss es „zurück in die Zukunft“ (Vers 7), die Metaphernwelt des Planeten wird also um jene Science-Fiction- Anspielungen erweitert, die bereits im Liedtitel (in Bezug auf den Filmtitel) von Bedeutung waren. Während in Strophe 2 die vermeintlichen VertreterInnen des neuen Raps adressiert wurden, werden nun (abwechselnd als ‚du‘ oder ‚ihr‘) Gleichgesinnte, „die denken, wie wir“ (Vers 9), angesprochen: „Ich send’ ein SOS an alle, bald ist es zu spät / Rap braucht kein Image, sondern Identität / Also kommt mit ins Raumschiff mit Highspeed und Blaulicht / Versetzen wir euch wieder zurück, denn Rap braucht dich“ (Verse 13-16). Mit 682 Zur Bedeutung des Begriffes Bitch im Rap siehe Kap. 3.4, S. 63 (Fußnote 269). 683 Vgl. u. a. Kap. 3.3.2, S. 56f. 7.2 Textanalysen 219 dem Raumschiff wird also die Reise in die Vergangenheit angetreten, um die Zukunft zu retten. Das Ich unternimmt die gleiche Bewegung wie der Protagonist des Films, um sich zur/ m Heldin/ en resp. RetterIn des ‚originalen‘ Raps zu machen. Diese Reise ist - wie im Film - eine Reise in die Vergangenheit, aber gleichsam auch eine in die Zukunft, denn nach Aussagen des Ich hat Rap nur Zukunft, wenn er oder vielmehr seine VertreterInnen sich seiner Vergangenheit (dem ‚Original‘) nähert/ n. Reise ich in die Vergangenheit, reise ich gleichzeitig zurück in die Zukunft, oder wie das Ich meint: „Es dreht sich alles um’s Eine und im ewigen Kreis“ (Vers 15, Strophe 2). Interessanterweise sollen auf diesem Weg den MitstreiterInnen die Ohren verbunden werden, „denn das stärkt Erinnerung“ (Vers 10): Dieses Bild des Ohren-Verbindens erinnert an Odysseus’ Episode bei den Sirenen. Auch hier galt es, der Besatzung von Odysseus’ Schiff die Ohren (mit Wachs) zu verschließen, um dem Einfluss von Seiten der Gesänge der Sirenen zu entgehen. Dem Gesang der Sirenen haftet die unmittelbare Gefahr des Selbstverlustes, des Sich-Verlierens (in der Vergangenheit) an. Bei Zurück (in die Zukunft) soll aber gerade die Erinnerung, die einen unmittelbaren Teil des Selbst darstellt, nicht verloren gehen: 684 Ohne Erinnerung gibt es weder ein Ich als ipse noch ein Ich als idem. Wenn nun die Rezeption des ‚neuen‘ Raps die Erinnerung verdrängt, so geht sie auch mit einem Selbstverlust einher, schließlich steht das Vergangene für Originalität, für Werte und Qualität. Wenn all das vergessen wird, verlieren das Ich und der Rap an „Identität“ (Vers 14). Das Ich hingegen kann wie Odysseus den Gesängen ausgesetzt sein, denn wie er hat es, sich bewusst von den neuen Bewegungen (dem verführerischen Gesang) absetzend, seine Position rationalisiert, wie es in Strophe 2 (Verse 13- 14) verlautbart: „Es ist ja jetzt schon so weit, dass ich über Rap schreib’ / Anstatt einfach zu rappen, weil mich rappen befreit“. Das Ich fühlt sich aber in diese Position gedrängt, da sie in Widerspruch zu seiner Vorstellung von ‚authentischem‘ Rap steht, welcher nicht über Rationalisierungen zustande kommt, sondern vielmehr als innere Befreiung gilt, was mit einer Auffassung von Rap als einer naturalisierten Kunstform zusammenhängt. Auf diese Weise wird das Odysseus-Sirenen-Bild nochmals gedreht: Das, wovor es die Oh- 684 Dass dieses Sich-Verlieren ein Verlieren in der Vergangenheit bedeutet, steht im Gegensatz zu dem im Lied verwendeten Bild, vgl. Adorno und Horkheimer: „Indem sie jüngst Vergangenes beschwören, bedrohen sie mit dem unwiderstehlichen Versprechen von Lust, als welches ihr Gesang vernommen wird, die patriarchale Ordnung, die das Leben eines jeden nur gegen sein volles Maß an Zeit zurückgibt. Wer ihrem Gaukelspiel folgt, verdirbt, wo einzig immerwährende Geistesgegenwart der Natur die Existenz abtrotzt. Wenn die Sirenen von allem wissen, was geschah, so fordern sie die Zukunft als Preis dafür, und die Verheißung der frohen Rückkehr ist der Trug, mit dem das Vergangene den Sehnsüchtigen einfängt“ (in: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 12 2000 [1969], S. 39). Im Lied hier allerdings ist es die Vergangenheit, die gerettet werden soll, denn einzig das Wissen um die Vergangenheit des Raps bedeutet nach Logik des Ich im Text auch Zukunft. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 220 ren zu schützen gilt, ist nicht die Verführung als Naturgewalt, sondern das bereits kalkulierte Marktprodukt (ohne Identität). Dem möchte das Ich Rap als Naturform und ‚Original‘ entgegensetzen, was allerdings durch die vorangegangene Rationalisierung der eigenen Position von vorneherein nicht möglich sein dürfte und dem Lied einen tragischen Aspekt verleiht. Durch die Position des ‚Zurück in die Vergangenheit als Zukunft‘ zeigt sich dieses Ich im Text als konservativ. Die Dimension des Ich als idem steht somit thematisch im Vordergrund des Textes. Der Charakter des Ich soll als wiedererkennbar, als unveränderlich präsentiert werden in seinen Qualitäten. Das Ich hat sich seit dem ersten Album nicht verändert, es zeigt sich als nicht korrumpierbar durch Macht und Geld, sondern will sich treu bleiben, wiewohl es dabei dem Widerspruch erliegt, das auf diese Weise ausgestaltete Image als kein Image darzustellen. RapperIn zu sein, um der Kunst willen, wird als der natürliche Vor-Zustand gezeichnet, der im Rap vorherrschte, bevor Marktinteressen den Rap dominierten. In seiner Rolle als RetterIn ist aber auch die Dimension des Ich als ipse von Wichtigkeit. Das Ich stellt sich als immanent verlässlich dar: Seine Position der Wertetreue hat den Charakter eines Versprechens gegenüber den als gleichgesinnt dargestellten Fans, das es über die Zeit hinweg zu halten gilt, gleich, wie viele Veränderungen die Zeit bringt. Eine ähnliche Position mit gänzlich verschiedener Rhetorik wird in Nur so (Py 24) von Pyranja (feat. Olli Banjo) eingenommen. Der Rap entstammt dem 2006 veröffentlichten Album Laut & Leise, stellt also gewissermaßen eine Reaktion auf den kommerziellen Erfolg des ‚neuen‘ Raps dar. Das Lied enthält zwei Strophen zu je 16 Versen, welche von einem vier Verse umfassenden Refrain getrennt werden. Das Tempo der begleitenden Musik ist relativ langsam, weshalb die Verse sehr dicht sind, also viel Text beinhalten. Binnenreime hingegen gibt es kaum: 1) Pyranja: Ich kann versteh’n, wenn ihr neidisch seid, ich wär’ es doch auch a 2) Ich mein’, ich schaff’ an einem Tag, wofür ihr Jahre lang braucht a 3) Und langsam hass’ ich Rap, weil ihr nur Images klaut b 4) Mann, ich kenn’ keinen, der euch Spasten diesen Ghetto-Shit glaubt b 5) Und noch ’was: Kleine, dicke, dumme Mädchen fang’ an zu flippen c 6) Und schicken peinliche Kumpels vor, um Pyranja zu dissen c 7) Ihr Bitches seid es nicht mal wert, euch hier beim Namen zu nenn’n d 8) Denn euch Schlampen wird in ein, zwei Jahr’n kein Schwanz mehr erkenn’n d 7.2 Textanalysen 221 9) Ihr Fotzen denkt, mit einem Album ist man ganz dick im Game e 10) Ey, ich mach’ hunderttausend Tracks und geb’ ’nen Fick auf den Fame e 11) Nein, meine Haut und meine Haare passen nicht ins Klischee f 12) Und Assis werden zu Rassisten, wenn sie Pics von mir seh’n f 13) So ist es, Banjo macht euch Nutt’n platt / ich hab’ euern Bullshit satt g/ g 14) Einmal hinterm Rücken reden reicht und ihr habt voll verkackt g 15) Bitte kommt nie wieder an, ihr hässlichen Kinder h 16) Denn Olli Banjo und Pyranja machen weiter wie immer (Py 24). h Im ersten Vers setzt sich ein Ich in Opposition zu einem „ihr“, zu einer Gruppe von Personen, die als neidisch auf das Ich beschrieben werden. Mit dem zweiten Vers „Ich schaff’ an einem Tag […]“ legt es dabei nahe, dass es sich um das Arbeitsfeld aller Beteiligten handelt, das einen Konflikt auslöst. Schließlich spricht das Ich in Vers 3 von seinen sich verändernden Gefühlen Rap gegenüber, „weil ihr nur Images klaut“. Auf diese Weise setzt das Ich sowohl sich selbst als auch sein Gegenüber als RapperInnen, wobei den Apostrophierten unterstellt wird, im Gegensatz zum Ich nicht ‚authentisch‘ zu sein, d. h. nur vorgefertigte Bilder zu übernehmen. Um welche es sich dabei handelt, legt das Ich schließlich in Vers 4 dar, in dem außerdem deutlich gemacht wird, dass das Ich mit seiner Meinung nicht allein dasteht: „[I]ch kenn’ keinen, der euch Spasten diesen Ghetto-Shit glaubt“. Demnach kritisiert das Ich, dass die VertreterInnen der angesprochenen Rap-Szene innerhalb ihrer Texte Bilder eines (Großstadt-)Ghettos evozieren, die nicht der Realität entsprechen. Das Ich spricht ihnen die Glaubwürdigkeit ab. Diskreditiert werden die RepräsentantInnen dieses Raps also wegen mangelnder Authentizität sowie auch Kreativität. Demgegenüber möchte sich das Ich als individuell wie auch kreativ zeigen, schließlich „schafft es an einem Tag, wofür“ die anderen Jahre lang brauchen (Vers 2). Auch dieses Ich scheint wie das Ich in Zurück (in die Zukunft) auf den Gangsta-Rap Berliner (u. Ä.) Provenienz zu reagieren, um den u. a. in den Medien Authentizitätsdebatten geführt worden waren. 685 Im Text finden sich keine lokaldeiktischen Angaben, die Aufschluss darüber gäben, ob sich das Ich tatsächlich auf die Berliner (oder Frankfurter) Szene bezieht. Zum einen weist der Begriff des Ghettos auf ein Großstadt-Umfeld hin, 686 zum anderen 685 Vgl. dazu u. a. das Ich in Sidos Intro zum Album Maske: „Ist das das Ghetto, von dem du immer sprichst? / Ja, auch wenn ihr denkt, dass es keins ist“ (Si 1), siehe im Exkurs zu Kap. 6 in diesem Band, S. 152ff. 686 Vgl. dazu Loh: „‚Mein Block‘ war der Startschuss für einen Kampf um das authentische Getto [sic! ]. Aus der Flut der Plagiate ragt die Version des Frankfurter Rappers Azad 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 222 apostrophiert das Ich die VertreterInnen dieses Raps auf diffamierende Weise als „Spasten“, ein Ausdruck, der in der Gangsta-Rap-Szene u. a. Berliner Provenienz häufig Verwendung findet. 687 Der Begriff des ‚Spasten‘ dient in diesem Zusammenhang der Diffamierung der/ s Angesprochenen, indem eine vermeintliche Minderwertigkeit über Assoziationen zu kranken Menschen (SpastikerInnen) erzeugt wird. Das Ich eignet sich also einen erniedrigenden Begriff an, um ihn (in seiner Bedeutung) gegen diejenigen zu richten, die ihn ‚normalerweise‘ gebrauchen. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, erweist sich generell die beleidigende, verletzende Anrede als der zentrale Sprachgestus des Liedes. Wie bereits ausgeführt, stellt die Anerkennung von Seiten anderer einen zentralen Aspekt im RapperInnen-Dasein dar. 688 Dass das Ich in Nur so mit Anerkennungsproblemen zu kämpfen hat, zeigen schließlich Vers 5 und 6: Das Ich erzählt von „kleine[n], dicke[n], dumme[n] Mädchen“, welche Freunde vorschicken, um Pyranja zu „dissen“, d. h. schlecht zu machen. Indem von diesen Personen als ‚Mädchen‘ gesprochen wird, untergräbt das Ich ihren Status als ernst zu nehmende Subjekte. Denn Mädchen sind jung, möglicherweise unwissend. Die gewählten attributiven Adjektive bestätigen dieses Bild der Mädchen. Während in diesen Versen von den Mädchen noch in der dritten Person gesprochen wird, geht das Ich von nun an in die direkte Apostrophierung über: „Ihr Bitches, seid es nicht mal wert, euch hier beim Namen zu nennen“ (Vers 7). Was macht das Ich in diesem Vers? Es adressiert die Mädchen, allerdings mittels einer diskreditierenden Anrede und verweigert, sie bei ihrem Namen zu nennen. Die Anrede über den individualisierenden Eigennamen, der Einzigartigkeit in Raum und Zeit garantieren soll, wird verweigert, während abwertende Ausdrücke verwendet werden, die die Gruppe des ‚ihr‘ zu einer homogenen, abzuwertenden Gruppe machen, deren Einzelmitgliedern nicht der Respekt gezollt wird, sie als einzelne Subjekte anzusprechen und damit zu konstituieren. Im Gegensatz dazu nennt das Ich den ‚eigenen‘ Namen: Pyranja. Es spricht zu diesem Zwecke der Namensnennung sogar von sich in der dritten Person. Dass die Anerkennung eines Ich als Subjekt von der Apostrophe des Ich durch andere abhängt, ist immanentes Thema des Liedes. Wie weiter oben angemerkt, erklärt Butler zu den Mechanismen der Benennung: „Durch die Benennung wird man sozusagen an einen sozialen Ort und in eine soziale Zeit versetzt. Um einen Namen zu erhalten, die Bezeichnung, die angeblich Ein- heraus, der seine Nordweststadt in einem düsteren Video zum gefährlichen Endzeitort stilisiert“ (in: Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Anm. 20, S. 25). 687 Als Beispiele für das Auftreten des Begriffes ‚Spast‘ im deutschsprachigen Rap vgl. u. a. den Arschficksong: „Das ist der Track für euch Spasten“ (Si 8); K.I.Z.: Hahnenkampf. Royal Bunker 2007 (hier gibt es einen Track mit dem Titel Spast); Jack Orsen: Direkt aus dem Knast (du Spast). Royal Bunker 2004, u. v. a. 688 Vgl. Kap. 3.5, S. 65ff. in diesem Band. 7.2 Textanalysen 223 zigartigkeit verleiht, sind wir von einander abhängig.“ 689 In diesem Zusammenhang bleibt das Subjekt abseits der primären Benennung durch den Eigennamen stets „der Möglichkeit unterworfen, erneut benannt zu werden. […]. Man kann sich vorstellen, jemand müsste alle Namen zusammentragen, mit denen er jemals benannt wurde. Käme da nicht seine Identität in Verlegenheit? Würden nicht manche Namen den Effekt anderer auslöschen? “ 690 Die Verbindung zwischen einem Namen und der durch ihn gesetzten Figur bleibt also stets brüchig und muss auf wiederholte Weise re-konstituiert werden. Wie die Ausführungen von Butler zeigen, ist der Eigenname nur eine von vielen Möglichkeiten, ein Subjekt zu apostrophieren und damit zu konstituieren. Dass hierbei verletzende Anreden denselben rhetorischen Effekt (wie Eigennamen, die im eigentlichen Sinne nichts beschreiben, d. h. keine Bedeutung haben) erzielen, ist inhärenter Bestandteil des Systems. Denn wie Butler bestätigt, stellt „[i]n diesem Sinne […] die mögliche Verletzung durch Benennung eine fortwährende Bedingung des sprechenden Subjekts dar“ 691 : Die [verletzende, Anm. A. B.] Äußerung verweist das Subjekt […] auf eine untergeordnete gesellschaftliche Position. In dieser Perspektive ruft ein solches Sprechen ein strukturelles Herrschaftsverhältnis wieder auf bzw. schreibt es wieder ein und bietet damit die sprachliche Möglichkeit, diese strukturelle Herrschaft zu rekonstruieren. […]. Nach diesem illokutionären Modell konstituiert hate speech ihren Adressaten im Augenblick der Äußerung. Sie beschreibt keine Verletzung und ruft auch keine Verletzung als Folge hervor; vielmehr ist hate speech in der Äußerung selbst die Ausführung der Verletzung, wobei ‚Verletzung‘ als gesellschaftliche Unterordnung verstanden wird. 692 Mit der verletzenden Anrede der Mädchen als Gruppe von „Bitches“ (Vers 7) und in weiterer Folge von „Fotzen“ (Vers 9), „Schlampen“ (Vers 10) und „Nutten“ (Vers 13) konstituiert das Ich also diese Mädchen in einer untergeordneten Position. Die Begriffe werden nicht vom Ich angeeignet, um sie ihrer verletzenden Implikationen zu entheben, sondern um ihrerseits zu verletzen. Das Ich setzt sich damit selbst zum (fiktiven) Ursprung und zur/ m SchöpferIn dieses Diskurses. 693 Indem es ausgerechnet diese Ausdrücke aufgreift, bekräftigt das Ich allerdings auch einen frauenfeindlichen Diskurs. Insbesondere Vers 8 macht dies deutlich: „Denn euch Schlampen wird in ein, zwei Jahren kein Schwanz mehr erkennen“. Dies bezieht sich zunächst auf die Verweigerung der Namensnennung. Das Ich geht davon aus, die Adressierten stünden nur jetzt (im Sog der neuen Rap-Bewegung) im Licht der Öffentlichkeit resp. sei dieser ‚Erfolg‘ 689 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 47. 690 Ebenda, S. 49. 691 Ebenda, S. 49. 692 Ebenda, S. 33 (Markierungen dem Original entnommen). 693 Zur Funktionsweise von zitierten verletzenden Äußerungen vgl. ebenda, S. 75ff. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 224 nur von kurzer Dauer, wobei nicht gesagt wird, ob es sich bei den Angesprochenen um Fans/ Groupies oder selbst um RapperInnen handelt. Die Verweigerung des Namens bedeutet auch, dass das Ich davon ausgeht, diese Namen hätten keine AutorInnen-Funktion im Foucaultschen Sinne inne, d. h. sie würden nicht in Zusammenhang mit einem Werk als solche konstituiert werden. Auch der sexualisierte Kontext der Apostrophen aus dem Synonym-Feld des Begriffs der Prostituierten sowie auch der Begriff „Schwanz“ (Vers 8) evozieren in diesem Vers ein frauenfeindliches Szenario: Wiewohl „kein Schwanz“ sich nicht per se als Synekdoche auf männliche Wesen beziehen muss, da der Ausdruck umgangssprachlich für ‚niemand‘ verwendet wird, so legt dies die Kombination mit den Apostrophen nahe: Dass diese Frauen (als ‚Prostituierte‘, die von Berufs wegen darauf angewiesen sind) schließlich von keinem Mann mehr (in einem biblischen Sinne) ‚erkannt‘ würden, könnte nun dahingehend verstanden werden, dass in ein oder zwei Jahren kein Mann mehr Interesse an ihnen haben würde, sie daher wertlos seien. Auf diese Weise greift das Ich einen Diskurs auf, in dem der Subjektstatus einer Frau von Männern und deren (sexuellem) Interesse abhängt. Mit seinen verletzenden Anreden scheint das Ich allerdings auf eine seinerseits verletzende Anrufung zu reagieren, denn „[d]ie Möglichkeit andere zu benennen, erfordert, dass man selbst bereits benannt worden ist. Das bereits benannte Subjekt des Sprechens verwandelt sich potentiell in jemanden, der mit der Zeit einen anderen benennen könnte.“ 694 In diesem Sinne betont das Ich: „Nein, meine Haut und meine Haare passen nicht ins Klischee / und Assis werden zu Rassisten, wenn sie Pics von mir seh n“ (Vers 12). Vermittels der Darstellung des Ich, RapperIn zu sein und der Nennung des Eigennamens im Text, welcher mit jenem auf dem Albumcover korrespondiert, versucht das Ich gezielt eine Verbindung zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text zu erzielen, was auch mit einer Verbindung des Ich und des Namens mit dem Cover-Foto einhergeht, welches eine blonde und blasshäutige Frau ziert. Dass diese Frau nicht ins HipHop-Klischee passt, ruft den in Kap. 3 ausgeführten Ursprungsmythos 695 innerhalb der Rap-Kultur ins Gedächtnis, dementsprechend vor allen Dingen schwarze oder in weiterer Folge ethnisch markierte männliche Wesen die Hauptrepräsentanten des ‚authentischen‘ Raps darstellen. Dem Ich als blonder, hellhäutiger Frau wird dagegen Anerkennung verweigert. Das Ich spricht hier den essentialistischen Diskurs im HipHop an, dementsprechend einem umgekehrten Rassismus gemäß weiße Menschen (und insbesondere Frauen) keinen HipHop machen dürfen/ können. Dieser Diskurs innerhalb der Rap-Szene geht allerdings von ethnisch und/ oder sozial Marginalisierten aus, die das Ich dementsprechend im zwölften Vers als „Assis“ (als Asoziale) bezeichnet: Das Ich wiederholt also in sei- 694 Ebenda, S. 48f. 695 Vgl. Kap. 3.2, S. 49f. 7.2 Textanalysen 225 ner Kritik den ausschließenden Diskurs der Gesellschaft und bekräftigt die untergeordnete Position jener, die den Status des Ich angreifen wollen. Es wird also ein Kreislauf an verletzenden Anrufungen etabliert, der immer neue Anrufungen nach sich zieht. Insbesondere die der Äußerung des Ich in Vers 11 vorgestellte Negation „Nein, meine […]“ weist darauf hin, dass es sich bei den Versen des Ich um eine Antwort resp. um eine Verteidigungsrede handelt, die auf andere Äußerungen Bezug nimmt, die vermeintlich das Aussehen des Ich oder den Status des Ich als RapperIn diskreditiert haben. Das Ich hingegen behauptet sich als RapperIn, es gibt in einer hyperbolischen Aussage an, nicht nur ein Album, sondern einhunderttausend Tracks zu machen und dabei nicht auf Ruhm zu achten. Hier wird also ähnlich wie bei Zurück (in die Zukunft) eine Vorstellung von Rap und HipHop aufgerufen, in der es um künstlerisches Schaffen und Originalität geht, nicht aber um Verkaufszahlen und ein passendes Image. In Vers 13 schließlich führt das Ich Olli Banjo ein, welcher in der zweiten Strophe die Rolle der/ s Sprecherin/ s übernimmt. Bei diesem zweiten Ich scheint es sich um eine/ n Verbündete/ n zu handeln, schließlich ist es die Aufgabe dieses Ich, die Mädchen „platt“ zu machen. Bei Vers 13 handelt es sich um den einzigen Vers in der ersten Strophe, welcher einen Binnenreim aufweist, er enthält zusätzlich sehr viele Silben, was ihn im Fluss der Strophe besonders markiert: Die Reimwörter „platt“, „satt“ (Vers 13) und „verkackt“ (Vers 14) drücken durch die Verwendung der Plosive [t] und [k] sowie auch des kurzen [a] Verachtung und Aggression aus. Für diese Frauen gibt es keine Chance mehr, wie das Ich mittels einer Alliteration in Vers 14 zu verstehen gibt: „Einmal hinterm Rücken reden reicht“. Diese Verdreifachung des Vibranten [r], der hier im Anlaut nicht verschluckt werden kann, bringt wiederum die Aggression des Ich zum Ausdruck, schließlich kann die Wiederholung des gerollten [r] als [rrrr] mit Hundeknurren, d. h. mit Aggression, assoziiert werden. Am Ende von Strophe 1 schließlich werden die Mädchen als „hässliche[…] Kinder“ (Vers 15) adressiert, was ihren Status als erwachsene, ernst zu nehmende Frauen in zweifacher Weise unterminiert: Zum einen sind sie nicht schön, wie es sich für Frauen nach der Logik des hegemonialen gesellschaftlichen Geschlechterdiskurses gehört, zum anderen stellen sie Kinder dar, sind also nicht erwachsen und ernst zu nehmen. Im letzten Vers schließlich spricht das Ich davon - wie Olli Banjo - trotz verletzender Anrufungen weiterzumachen: Es nennt dabei zum zweiten Mal (Vers 6/ Vers 16) in dieser Strophe den Namen des Ich vor dem Text: Pyranja. Indem das Ich (Pyranja) über sich in der dritten Person spricht, spaltet es sich in zwei Instanzen, in eine Subjekt- und eine Objekt-Position. Auf diesem Weg kann es erreichen, den Namen in einem respektvollen Umfeld zu (re-)etablieren. Indem beide RapperInnen „weiter [machen] wie immer“ (Vers 16), zeigt das Ich, dass diese 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 226 es als nicht notwendig erachten, Änderungen an ihrem künstlerischen Schaffen vorzunehmen, die Qualität spricht sozusagen für sich. Mit dem letzten Vers setzt das Ich der ersten Strophe das Ich der zweiten (Olli Banjo) als Rapper. Durch die Kollaboration der beiden RapperInnen entsteht der Eindruck der Solidarität, man ist mit der eigenen Meinung nicht alleine. Der Angriff der GegnerInnen bekommt durch die Bestätigung anhand eines zweiten Ich mehr Gewicht. Vor der zweiten Strophe wird allerdings der Refrain eingefügt, den sich die beiden Ichs teilen: Refrain: Olli: Homeboy, du sagst meinen Namen nicht einfach nur so a Homeboy, das ist kein Kindergarten, das ist nicht nur so a Pyranja: Homegirl, lass deine Scheiße einfach auf dem Schulklo a Homegirl, du sagst meinen Namen nicht einfach nur so (2x). a In strikter Geschlechtertrennung werden nun vom Ich im Text mit männlich konnotierter Stimme (Olli) Homeboys angesprochen, vom Ich im Text mit weiblich konnotierter Stimme (Pyranja) Homegirls. Beide Begriffe entstammen der HipHop-Szenesprache und bedeuteten ursprünglich ‚Freund/ in‘, werden aber auch - wie im Fall dieses Refrains - ironisiert: Schließlich werden die adressierten Personen nicht als Freundinnen/ e angesprochen, sondern als GegnerInnen, KritikerInnen, denen verboten wird, die Namen der Ichs vor dem Text („nur so“) auszusprechen. Eingedenk der Möglichkeit der Rekontexualisierung eines Begriffes wollen die Ichs im Text nicht, dass ihr Name in Zusammenhang mit diffamierenden Äußerungen genannt wird, und sie sprechen ein Verbot dahingehend aus. Wenn der Name genannt wird, soll dies mit Respekt geschehen. Dies erinnert an das zweite Gebot der christlichen Kirchen: Du sollst den Namen Gottes nicht achtlos aussprechen! In ähnlicher Weise sollen andere Personen die Namen der RapperInnen als Ichs im Text nicht ‚nur so‘ sagen, dies kommt (ohne Respekt) einer Beleidigung gleich. Zudem werden die Adressierten wiederum in einem kindlichen oder jungendlichen Umfeld verortet (Schulklo/ Kindergarten). Sie werden auf diese Weise diffamiert, indem sie als ‚Kinder‘ nicht ernst genommen werden müssen. Der Refrain stellt also einen Bezug zum Titel des Liedes her. Das ‚Nur so‘ des Titels weckt zunächst Assoziationen zu Gleichgültigkeit, Unbestimmtheit: Wenn ich etwas ohne bestimmten Grund mache, erledige ich es ‚nur so‘. Genau diese Gleichgültigkeit gilt es allerdings im Lied anzuprangern. Die Namen der Ichs im Text sollen nicht ‚nur so‘, sondern ‚nur so‘, d. h. nur auf eine bestimmte Weise, ausgesprochen werden - mit Respekt und Ernsthaftigkeit. In der zweiten Strophe schließlich werden die Themata der ersten Strophe in ähnlicher Weise erneut aufgegriffen. Auch strukturell ähneln sich die beiden Strophen. Strophe 2 umfasst 16 Verse, ist paar- und endgereimt. Auch hier enthalten die einzelnen Verse sehr viele Silben: 7.2 Textanalysen 227 1) Olli Banjo: Ich stopf’ euch Rappern die Schnauze, Bitch, lass meinen Namen weg a 2) Ich hab’ für dich Klopapier, weil du bist nur ein Arsch im Rap a 3) Ich komm’ wie drei Pornostars auf einmal, denn deine Crew ist nass b 4) Ihr wollt mitlaufen, obwohl ihr nicht in diese Schuhe passt b 5) Ihr Punker sitzt bei mir im Kino, leider ist Popcorn aus c 6) Ihr seid im falschen Film, ihr seht King Kong und die blonde Frau c 7) Schickt eure Helikopter, dies ist für mich Playmobil d 8) Kleine Nutten woll’n es wissen, wichsen, reden viel d 9) Haha, ihr Neider, keine Angst, weil ich hab’ Kinder gern e 10) Wirf deinen Punchlines noch ein trock’nes Brötchen hinterher e 11) Ich beiß’ euch wie ’n Piranha, so wie ein großer, weißer f 12) Ich wart’ auf euch im kalten Wasser, ihr kleinen Hosenscheißer f 13) Ich fick’ Deutschlands Neidkultur in den Hintern, ihr seid zu künstlich g 14) Ihr seid austauschbar, ohne Haltung, shady und eifersüchtig g 15) Deine attitude funktioniert leider nur gut auf Drogen h 16) Jetzt steckt ihr in der Scheiße, wie der Finger beim Urologen h Refrain (2x). Auch das Ich der zweiten Strophe verfolgt die Diffamierung der RapperInnen sowie deren Fans mittels der zwei gleichen semantischen Felder, die zum einen dem Umfeld weiblicher Prostitution, zum anderen dem Schul- oder Kindergartenbereich entnommen sind: Bitch, Nutten / Kinder, kleine Hosenscheißer. Zudem werden noch andere verletzende Begriffe aufgegriffen: Neider, Arsch, Punker. Die wichtigsten Aussagepunkte ähneln jenen der ersten Strophe: Das Ich stellt sich als herausragende/ r RapperIn dar, indem es verschiedene Metaphernketten in Zusammenhang mit Bildern der Stärke, der Kraft aufgreift: Ich bin „wie drei Pornostars auf einmal“ (Vers 3), „King Kong“ (Vers 6) oder „ein Piranha“ (Vers 11). Die adressierten RapperInnen hingegen sind „nur ein Arsch im Rap“ (Vers 2), sie passen nicht „in diese Schuhe“ (Vers 4), ihr Rappen ist für das Ich wie „Playmobil“ (Vers 7), sie sind „zu künstlich“ (Vers 13), „austauschbar, ohne Haltung, shady und eifersüchtig“ (Vers 14). Über diese Worte setzt sich das Ich als Gegenstück zu diesen RapperInnen. Es ist authentisch, individuell, mit Haltung und autonom, während die anderen nur imitieren, über kein Talent und keine Haltung verfügen und zudem eifersüchtig sind. Besonders interessant ist dabei der Vergleich mit dem Piranha in den Versen 10 bis 12: „Wirf deinen Punchlines noch ein trock’nes Brötchen hinterher / Ich beiß’ euch wie ein Piranha, so wie ein großer, weißer / Ich wart’ auf euch im kalten Wasser, ihr kleinen Hosenscheißer“. Das apostrophierte Du soll seinen Versen Brötchen als Fischfutter hinterherwerfen, die Verse brauchen 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 228 also zusätzliche Anreize um als Punchlines 696 überhaupt durchschlagend zu sein. Das Ich stellt sich im Gegensatz zu den harmlosen Fischchen als gefährlicher Fisch dar, der im Wasser sitzt und auf die GegnerInnen wartet: Das Beißen der Fische wird hier zur Metapher für das Rappen. Dadurch, dass der Fischname und der Name des Ich im Text der ersten Strophe (und des Ich vor dem Text) quasi Homonyme darstellen, gehen die Attribute des Fisches auch auf dieses Ich über. Ziel des Raps Nur so scheint zu sein, sich als Ich in starker Opposition zu einer Gruppe (eines ihr/ du) zu setzen, deren Mitglieder als schlechte KünstlerInnen und/ oder Groupies adressiert werden. Während die Ichs für sich Originalität und Kreativität verbuchen, werden die Angesprochenen als untalentierte Imitationen ohne Haltung, aber mit Interesse an Geld dargestellt. Für die Adressierten wird eine Vielzahl verletzender Ausdrücke verwendet, die ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Ichs und ihnen etablieren soll. Prinzipiell wird im Lied allerdings dargestellt, dass Nur so lediglich eine Antwort auf Angriffe von Seiten der jetzt Angesprochenen darstellt. Es geht den Ichs darum, ihren Namen mit Respekt verbunden zu wissen, d. h. Thema des Liedes stellt die Aporie zwischen Setzung und Repräsentation eines Subjekts in der Sprache dar. Auf diese Weise werden wiederholt die Namen der Ichs im Text als Verbindung zum Ich vor dem Text genannt. Während die Ichs daran arbeiten, dass diese Namen über das Werk mit positiven Attributen (als Repräsentationen des leeren Namens) verbunden werden, bleibt der Name als Begriff wie jeder andere offen für (verletzende) Rekontextualisierungen von Seiten anderer. Dergestalt greifen beide Ichs verletzende Begriffe auf und wenden diese zurück an die apostrophierten Personen. Der verletzende Kontext bleibt bewusst aufrecht, es geht nicht darum, die verletzende Wirkung durch eine Rekontextualisierung auszusetzen. Es stellt sich allerdings als problematisch dar, dass sich die Ichs im Text mittels dieser rhetorischen Gesten in einen ebenso frauenfeindlichen wie aggressiv-gewalttätigen Diskurs einschreiben, der auf diese Weise bekräftigt wird. Mit Ausnahme der Verweise auf die Ghetto-Thematik der anderen RapperInnen, welche als Referenz auf die Berliner (oder auch Frankfurter o. Ä.) Rap-Szene gelesen werden könnten, gibt es keine lokalspezifischen Angaben. Das Lied ist im Präsens gehalten, lediglich in Vers 3 der ersten Strophe („Langsam hass’ ich Rap…“) wird eine Zeitdimension eröffnet, die eine Veränderung innerhalb der Rap-Szene andeutet. Diese Zeitdimension wird aber nicht wie in Zurück (in die Zukunft) zum zentralen Thema, die Probleme des ‚Dissens‘ wie auch der Echtheit resp. Authentizität der RapperInnen erscheinen vielmehr als ‚zeitlose‘ Fragestellungen im Rap-Diskurs. Durch die Thematisierung der Aporie zwischen Repräsentation und Setzung eines Ich wird deutlich, dass im Lied beide Dimensionen des Ich von 696 Unter einer Punchline versteht man jene Verse, die ‚schlagen‘, also die GegnerInnen verbal treffen sollen. 7.2 Textanalysen 229 Wichtigkeit sind. Die Ichs wissen, dass sie nur von einer leeren ipse-Position aus sprechen können, weshalb sie diese Position mit Attributen ausfüllen möchten. Das Lied dient also der Darstellung eines Ich als idem, das Charakter, Werte, Talent besitzt und über die Zeit hinweg wiedererkennbar, beständig und zuverlässig bleibt. Es gilt also, sich als idem in das Narrativ des Raps als künstlerisch-politischen und vor allem individuellen Ausdrucksmittels einzuschreiben. Der Name in seiner AutorInnenfunktion soll in Bezug auf das Werk dabei diese Einzigartigkeit garantieren. Die namenlosen KonkurrentInnen hingegen kopieren vermeintlich ihre Ichs als idem von anderen resp. möchten lediglich ein bereits existierendes Bild wieder aufgreifen. Ebenso wie in Nur so und Zurück (in die Zukunft) gilt es in King (Ma 31) von Manges Rap-Diskurse zu hinterfragen und zu kritisieren. Das Lied besteht aus zwei Strophen, die wie in den zwei vorangehenden Beispielen 16 Verse umfassen. Zu Beginn und zwischen den Strophen liegt der Refrain, welcher aus sechs, in regelmäßigen Paarreimen gehaltenen Versen besteht. Die Verse des ganzen Liedes sind allerdings sehr unregelmäßig strukturiert. Das Lied weckt auf diese Weise poetisch-lyrische Assoziationen, da die Rhythmen (obwohl natürlich dem Taktschema der Musik im 4/ 4- Takt angepasst) sehr frei gestaltet scheinen: 1) Refrain: Immer wenn es da ist a 2) Das Gefühl, dass es unwahr ist a 3) Was du sagst, was du sprichst b 4) Denn der King, der du meinst, du bist b 5) Hat sich selbst auserkor’n c 6) Und damit seine Macht verloren (2x) (Ma 31). c Der Refrain setzt mit einem temporalen Nebensatz ein: „Immer wenn es da ist,…“. Dies zeigt an, dass das Ich von einer regelmäßig stattfindenden Situation berichtet, in der es das Gefühl hat, dass ein adressiertes Du nicht die Wahrheit sagt. Was im Refrain ausgespart bleibt, ist die Fortführung dieses Hauptsatzes: Was passiert, wenn das Gefühl da ist? Eine Antwort darauf findet sich erst in der ersten Strophe. Das Ich gibt im Refrain lediglich Informationen über die Natur dieser unwahren Angaben des Du. Das Du setzt sich selbst als „King“ (Vers 4), als König an die Spitze eines noch unbekannten Reiches. Allerdings ist, wie Butler ausführt, „[d]ie Übernahme von Macht […] keine geradlinige Aufgabe, etwa so, dass Macht von der einen Stelle übernommen, intakt übertragen und dann zur eigenen gemacht wird.“ 697 Macht braucht Anerkennung durch andere; erfährt ein Subjekt als ‚King‘ diese Anerkennung nicht, verliert es die Machtposition. Tragischerweise scheint das Du nicht zu wissen, dass es der Aner- 697 Butler, Psyche der Macht (Anm. 274), S. 17. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 230 kennung der anderen als Gegenüber verlustig gegangen ist. Es meint immer noch, der ‚King‘ zu sein. In Strophe 1 wird nun genauer erläutert, um welche Situation es sich handelt: 1) Ich kann es nicht mehr hör’n a 2) Jeder ist der Beste / und lästert / er wird alle ander’n burn’ b/ b/ a 3) Jeder weiß / es und sagt es laut c/ d 4) Wie heiß / er ist, dass er ein’ Scheiß / gibt und jede Braut c/ c/ d 5) Auf ihn steht / wenn er auf der Straße geht e/ e 6) Rennen sie hinterher / und es werden immer mehr f/ f 7) Schön, wenn es so wär’ f 8) Doch ich hab’ keine Lust / wenn ich diesen Tagträumen zuhören muss g/ g 9) Ich krieg’ die Krise / wenn ich diese h/ h 10) Hip / -Videos seh’, hop / in die Top / Ten auf’m Egotrip i/ j/ j/ i 11) Und es ist nicht legitim / was du mir erzählst k/ l 12) Über deine Sexualität / ist mir zu intim l/ k 13) Aber nicht alles ist schlecht / und wenn du gut verkaufst m/ x 14) Bin ich ruhig, der Erfolg gibt dir Recht m 15) Doch bis dahin bleib echt m 16) Und erzähl mir, wer du bist und nicht, wer du gerne sein möchtest. x Wie sich zeigt, ist das Reimschema des Textes außerordentlich komplex. Im Allgemeinen finden sich endgereimte Paare, allerdings gibt es auch Binnenreime (an in manchen Fällen nicht exponierter, d. h. nicht syntaktisch betonter) Stelle. Im Lied bespricht ein Ich seine Enttäuschung von der HipHop-Szene: „Ich kann es nicht mehr hör’n“ (Vers 1), „Ich habe keine Lust“ (Vers 8), „Ich krieg’ die Krise“ (Vers 9). Es beschwert sich über Rap-KollegInnen, welche ständig angeben. Es wird deutlich, welche Attribute innerhalb der angesprochenen Rap-Szene zu den gewünschten gehören: die/ der beste RapperIn zu sein (und alle anderen zu besiegen), sich nicht darum zu kümmern, was das Publikum denkt, bei Frauen Erfolg zu haben. Allen ist gemeinsam, dass sie innerhalb der Szene Macht und Unabhängigkeit verkörpern wollen. Das Paradoxe daran ist, dass „jeder“ (Verse 2 und 3) dieselben Attribute der Superlative für sich verbucht. Für das Ich stellen diese Aussagen „Tagträume[…]“ (Vers 8) dar. Es kritisiert zudem mittels eines Wortspiels (Vers 10) mit den Bestandteilen des Wortes ‚HipHop‘ HipHop-Videos, welche sich als „hip“ (d. h. modern, ‚in‘) präsentieren und es deshalb mit einem Sprung („hop“) in die Top-Ten-Charts schaffen. Dieser Sprung bringt kommerziellen (d. h. auch finanziellen) Erfolg, was wiederum zu einem „Egotrip“ (Vers 10) seitens der/ s Rapperin/ s führt. In den Videos wird vermeintlich ein Image produziert, das die RapperInnen als 7.2 Textanalysen 231 EinzelkämpferInnen darstellt. Für das Ich geht es aber im Rap nicht darum, ‚sich selbst‘ (resp. ein Bild von sich) zu vermarkten, Rap stellt für das Ich eine soziale Gemeinschaft dar. Während das Ich bis Vers 10 über die Rap-Szene im Allgemeinen spricht, wird in Vers 11 ein Du direkt angesprochen. Dieses Du erscheint als typische/ r RepräsentantIn der vorhin erwähnten Gruppe („jeder“, Verse 2 und 3). Das Ich hält es für nicht „legitim“ (Vers 11), was das Du über seine Sexualität erzählt. Dieser diskret formulierte Ausdruck kann als Hinweis auf die bisweilen extrem sexualisierte Sprache des Raps verstanden werden. Unter Umständen kritisiert das Ich die plakativ obszöne Sprache des Raps. Der Verweis auf die zu große ‚Intimität‘ könnte jedoch auch als Widerspruch zu den oben erläuterten Ausführungen gelesen werden: In Vers 8 hatte das Ich den anderen VertreterInnen des Raps sein Vertrauen in Bezug auf ihre Glaubwürdigkeit („Tagträume[…]“) entzogen, während es jetzt den (hyperbolischen) Erzählungen über Sexualität Glauben zu schenken scheint, indem es sie nicht als Phantasien einstuft. Ein weiterer Widerspruch ergibt sich aus den Angaben des Ich in den Versen 13 und 14: „Aber nicht alles ist schlecht und wenn du gut verkaufst / Bin ich ruhig, der Erfolg gibt dir Recht“. Während an obiger Stelle der Erfolg in den Charts (als „Egotrip“, Vers 10) kritisiert wurde, gibt das Ich nun an, der Erfolg bei den RezipientInnen würde dem Tun des Du Recht geben, d. h. finanzieller und kommerzieller Erfolg würde das Produkt rechtfertigen. Insofern zeichnet das Ich nun ein Bild von Rap, dessen Existenz allein von der Bestätigung durch ein großes Publikum gerechtfertigt wird. Mit dem darauffolgenden, mit „doch“ (Vers 15) eingeleiteten Adversativsatz nimmt das Ich dieses Bild allerdings wieder teilweise zurück: „Doch bis dahin bleib echt / Und erzähl mir, wer du bist und nicht, wer du gerne sein möchtest“ (Verse 15-16). RapperInnen sollen also aufrichtig bleiben und keine Wunschträume (bezüglich ihres Talents, ihres Erfolgs bei Frauen o. Ä.) erzählen, zumindest bis zum kommerziellen Erfolg. Diese Äußerung kann in zweifacher Hinsicht verstanden werden: Das Ich vertritt möglicherweise die Meinung, dass kommerzieller Erfolg alle Formen des Raps rechtfertigt, solange ihn das Publikum hören möchte. Dies bringt auch eine gewisse resignative Machtlosigkeit des Ich zum Ausdruck. Wenn das Publikum diese Art von Produkt hören möchte, so kann man nichts dagegen machen. Andererseits könnte das Ich dahingehend ausgelegt werden, dass davon auszugehen ist, dass ein/ e RapperIn, die/ der bis zum Erfolg beim Publikum ‚authentischen‘ Rap gemacht hat, dies auch nach dem kommerziellen Durchbruch weiterführt. Im Zentrum der Argumentation der ersten Strophe steht der ‚authentische‘ Rap, dessen Texte aufrichtig sind. Das Ich vertritt die Meinung, dass die ‚Wirklichkeit‘ der RapperInnen in den Texten abzubilden sei und dass diese auch tatsächlich abbildbar ist: „[B]leib echt / und erzähl mir, wer du bist […]“. In der zweiten Strophe wird das gleiche Thema wieder aufgenommen, 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 232 stärker als in Strophe 1 wird allerdings der Aspekt der Gruppenidentität innerhalb der Rap-Szene betont: 1) Das geht an alle meine Jungs, was geht mit euch ab? a 2) Ich hab’ die Freude verloren an HipHop a 3) Jeder will der Beste sein / ich bin groß und mach’ dich klein b/ b 4) Ghettophantasien in jedem zweiten Reim b 5) Dann sag mir eins, was denkst du dir? c 6) Meinst du, wenn du’s mir nur oft genug erzählt hast, glaub’ ich dir? c 7) Ich glaube nicht x 8) Ich bin selbst egozentrisch genug, damit ich mich belüg’ / und betrüg’ d/ d 9) Um am Ende als Gewinner dazusteh’n e 10) Ich möchte mich selbst über allen anderen sehen e 11) Und so ist es mir passiert / ich bin hier f/ f 12) Aber weiß nicht, wofür / der verlorene Sohn klopft an der Tür f’/ f’ 13) Seid ihr da, kann ich rein? g 14) Ich will abhängen mit meinen Freunden und glücklich sein g 15) Denn, wenn du fragst, was es heißt, wirklich King zu sein? g 16) Du und ich gemeinsam zu schein’n g Refrain Ja, es ist mad beschissen, wir dissen uns gegenseitig Ja, es ist mad beschissen, wir dissen uns gegenseitig Refrain (2x). Der erste Vers von der zweiten Strophe macht deutlich, dass sich das Ich jenen RapperInnen, die in der ersten Strophe apostrophiert wurden, freundschaftlich verbunden fühlt („meine Jungs“). Das Ich kann allerdings den gegenwärtigen Trend in der Rap-Szene nicht verstehen. Ähnlich den Ichs in Zurück (in die Zukunft) und in Nur so fühlt das Ich eine Veränderung in Bezug auf seine Gefühle Rap gegenüber, welche in Vers 2 mittels einer Perfektform zum Ausdruck gebracht wird: „Ich hab’ die Freude verlor’n an HipHop“. In den Versen 3 bis 6 werden schließlich Motive aus der ersten Strophe wiederholt, die die Gründe für diese verlorene Freude angeben. Einen Einschnitt stellt gewissermaßen Vers 7 dar. Lapidar stellt das Ich fest: „Ich glaube nicht“. Dies bezieht sich auf die Ghettophantasien und andere Erzählungen der anderen RapperInnen, der Vers stellt eine Waise dar und transportiert über diese Sonderstellung im Fluss der Strophe wie über seine Kürze Vehemenz und Ablehnung. Im folgenden Vers wird schließlich deutlich, warum diese Gefühle so stark sind. Das Ich gibt zu, auch denselben Neigungen der anderen bezüglich Selbstdarstellung nachzugeben: „Ich bin selbst egozentrisch genug, damit ich mich belüg’ und betrüg’ / Um am Ende als Gewinner dazusteh’n“ (Verse 8 und 9). Das Hendiadyoin am Ende des achten 7.2 Textanalysen 233 Verses bestehend aus den zwei Reimwörtern belügen/ betrügen legt besondere Betonung auf diese Selbstanklage. Auch das Ich möchte sich „selbst über allen anderen sehen“ (Vers 10). In Vers 11 hingegen wird die Verzweiflung ob dieser Situation zum Ausdruck gebracht: „Und so ist es mir passiert, ich bin hier“. Die mehrfache Wiederholung der hohen, schrill wirkenden Vokale [i], [ı] resp. [i ] transportiert dies auch auf lautlicher Ebene. Es stellt sich nur die Frage, worauf sich das kataphorische „hier“ bezieht. Die Frage wird schließlich im darauffolgenden Vers beantwortet, in dem das Ich einen intertextuellen Bezug zum biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lukas 15,11-32) herstellt. Das Ich steht ähnlich dem verlorenen Sohn vor der Tür und bittet, eingelassen zu werden. Im Unterschied zur biblischen Figur fragt sich das Ich aber, wozu es da steht. Es liegt nahe, die Familie des biblischen Sohnes als Allegorie für die Rap-Gemeinschaft zu sehen. Das Ich, das wie der Sohn im Gleichnis auszog, um das eigene Ego zu stärken (Vers 8- 10), kehrt reumütig zurück. Es möchte wieder Teil der Rap-Gemeinschaft sein. Im Gegensatz zum Vater resp. zur Familiensituation im Gleichnis hat sich aber auch die Rap-Szene verändert. Das Ich ist nicht die einzige Person, die die Selbstverwirklichung als ‚Ego-Trip‘ über die Gemeinschaft gestellt hat, weshalb sich das Ich nun fragt, weshalb es zurückgekehrt ist. Das Ich fragt dementsprechend vorsichtig: „Seid ihr da, kann ich rein? “ (Vers 13). Die letzten Verse stellen nochmals den Wunsch des Ich bezüglich dessen dar, was hinter der Tür warten soll: die Gemeinschaft aus gleichgesinnten RapperInnen. Rap bedeutet für das Ich „abhängen mit meinen Freunden und glücklich sein“ (Vers 14). Denn, so erklärt das Ich, „King“ (Vers 15) zu sein, bedeutet nicht, sich als ‚Star‘ in der Rap-Szene zu verwirklichen, sondern „gemeinsam zu schein’n“ (Vers 16). Teamwork, Freundschaft und Gemeinschaft sind wichtiger, als sich selbst als die/ den Beste/ n darzustellen. Der religiöse Bezug zum Gleichnis erinnert auch an den Titel des Albums: Paradies/ Versuche. Dergestalt stellt das Lied einen Versuch dar, sich dem Paradies einer ursprünglich solidarischen, freundschaftlichen Rap-Szene wieder anzunähern. Auf diese Weise wird klar, dass auch dieses Lied von dem eingangs erwähnten rückwärtsgewandten Mythos lebt, dass ‚früher‘ alles besser war. Am Ende des Liedes wird schließlich noch ein Cut (ein gescrachtes Sample der Stimme des Ich) eingefügt, in dem sich das Ich darüber beklagt, dass es „mad beschissen“ ist, sich „gegenseitig zu dissen“. Die Häufung des stimmlosen [s] bringt dabei die Abscheu des Ich zum Ausdruck. Rap bedeutet also nicht Konkurrenz und eine gegenseitige Diffamierung, um selbst besser dazustehen, sondern Freundschaft. Um diese Gedanken auszudrücken, bedient sich das Ich einer im Vergleich zu A.i.d.S. 2007 oder Nur so sehr zurückhaltend ruhigen Sprache, die sich durch einen ruhigen Fluss und weniger durch plakativ provokante Wortwahl auszeichnet. Dieser Gesamtaussage gemäß bleibt das Ich im Lied im Vergleich zu den anderen Raps über Rap relativ im Hintergrund. Insbesondere in der ersten Strophe gilt es nur, die gegenwärtige Situation von einer entblößten Erzähler- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 234 Innenposition aus zu kritisieren. Das Ich als idem bleibt dabei völlig im Hintergrund. Erst in der zweiten Strophe gibt das Ich Informationen über sich preis und ordnet sich damit selbst in das Narrativ des Raps ein. Da sich das Ich als RapperIn präsentiert, gibt es naturgemäß eine starke Verbindung zum Ich vor dem Text, jedoch wird der Name nicht genannt. Das Ich als ipse unterminiert auch die eigene erzählerische Zuverlässigkeit, indem es zugibt, sich auch ‚präsentieren‘ zu wollen. Es möchte aber eine Kehrtwendung vollziehen und sich nicht (über Selbstlob) von der Konkurrenz absetzen, sondern den gemeinschaftlichen Aspekt des Raps in den Vordergrund stellen. Insofern spielt das Ich als idem eine zentrale Rolle, da für das Ich nicht nur die narrative Rahmung im Rap wichtig ist, sondern die Art und Weise dieser Rahmung. Es gilt nicht, Rap als Mittel zum Zweck zu benutzen, um das eigene Ego darzustellen, sondern Rap dient dazu, sich mit einer Gruppe zu identifizieren. Dabei bleibt das Ich im Text bei einem sehr traditionellen Bild von Identität, da es von ‚Echtheit‘ in Zusammenhang mit der narrativen Einordnung spricht. Das Ich geht von einem ‚echten Kern‘ der Person aus, den es im Rap zu bewahren gilt. Im Lied A.i.d.S. 2007 (Si 40) von Sido (feat. B-Tight) ist der Konnex zum Thema Rap über Rap im Titel nur für InsiderInnen gegeben. „A.i.d.S.“ steht als vielfach auf den Tonträgern von Mitgliedern verwendetes Akronym für „Alles ist die Sekte“, wobei unter der ‚Sekte‘ eine Gruppe von RapperInnen zu verstehen ist. Dass dieses Akronym eine Verbindung zu dem gleichlautenden Akronym der Virus-Erkrankung AIDS etabliert, scheint gewollter Effekt, da das Akronym der Rap-Gruppe in manchen Fällen als ein Wortganzes (wie im Falle der Krankheit) ausgesprochen wird. Die dem Titel angefügte Jahreszahl verweist auf die Zukunft der Rap-Gruppe, schließlich wurde Sidos Album Ich, dem der Rap entnommen ist, 2006 veröffentlicht. Das Lied besteht aus vier Strophen und ist streng symmetrisch gebaut: Die ersten beiden Strophen (B-Tight) umfassen je 16 bzw. acht Verse, die beiden letzten Strophen (Sido) je acht bzw. 16 Verse. Dazwischen liegen anstatt eines Refrains sogenannte Bridges, d. h. gesprochene Kommentare, die sich nach jeder Strophe ändern. 1) B-Tight: Es wird wieder dreckig, A.i.d.S. hört nie auf a 2) Deutscher Rap ist wie ’ne Frau / ich ficke die Sau a/ a 3) Wir seh’n fies aus / sind überwiegend mies drauf a/ a 4) Leute sagen Peace out / ich sag’: Halt die Fresse a/ x 5) Bräute vergöttern mich / weil mein Ding so lecker ist b/ b 6) Weil hier der beste Rapper ist / du willst haten? Besser nicht! b/ b 7) Ich dring’ tief / in deinen Dickdarm, ich bin King c’/ c 8) Ich bin das Fick-Ding / mit dem Killerinstinkt c/ c 9) Wirf ein’ Blick her / Bobby Dick, der d/ d 10) Coolste Ficker / das bin ich, yeah d/ d 7.2 Textanalysen 235 11) Bräute kommen zu mir, wollen meine Hand haben e 12) Ich mach’ eine Ansage / dann wollen sie anblasen e/ e 13) Keiner, der nicht andockt / alle gehen Bankrott f/ f 14) Im Business siehst du mehr Nutten als in Bangkok f 15) Mein Freund, jetzt wird aufgeräumt g 16) Alles ist die Sekte, für dich hat sich’s ausgeträumt (Si 40). g Es zeigt sich, dass das Reimschema komplex ist, es werden in den meisten Fällen mehrere Verse mittels eines Reims verbunden, wobei auch viele Binnenreime vorzufinden sind, was die Zäsur in der Mitte des Verses hervorhebt. Die Wahl der Reimwörter wie auch die Satzstrukturen erweisen sich allerdings als relativ einfach. Es gibt hauptsächlich Hauptsatzstrukturen wie auch Aufzählungen, die verwendete Sprache ist dabei sehr hart, d. h. es wird ein umgangssprachlicher Jargon verwendet, der von Gewaltmetaphern oder Sexualmetaphern durchzogen ist. Gleich der erste Vers des Ich ist als performativer Akt zu sehen. Es wird angekündigt, was das Ich macht. Mit dem Ausruf: „Es wird wieder dreckig! “ wird auf die kommende Sprache verwiesen, wie auf die Sprechhandlungen, die folgen. Dies korrespondiert mit der zweiten Hälfte des ersten Verses sowie auch mit dem zweiten Vers: „A.i.d.S. hört nie auf / Deutscher Rap ist wie ’ne Frau / ich ficke die Sau“. Durch die Doppelkonnotation des Wortes „A.i.d.S.“ wird ein zweifacher Aussagewert erzielt: Zum einen erfolgt eine Referenz auf die Gruppe, als Loyalitätsbekundung wird dieser ewiger Bestand vorausgesagt, was durch die Tätigkeiten der Mitglieder erreicht wird. Der Ausspruch ‚Alles ist die Sekte‘ weist auf eine vermeintliche Omnipräsenz der Gruppenmitglieder hin, sowie auch auf ihr vermeintlich gemeinsames Programm, das von allen getragen wird. Zum anderen rufen die Nennung der Immunschwächekrankheit, die als sexuell übertragbare Krankheit ein negatives ‚Image‘ besitzt, und die Ankündigung am Beginn des Verses das Bild von ungeschütztem, d. h. ‚schmutzigem‘, Sexualkontakt auf. Diese Assoziation wird auch im folgenden Vers aufgegriffen, in dem Rap als ‚Frau‘ vom Ich ‚gefickt‘ wird. Der Vergleich von Rap mit einer ‚Frau, die gefickt wird‘ und die zudem mit einem Schimpfwort benannt wird, ruft stereotype Bilder von Weiblichkeit und dem Umgang mit Frauen wach: Schwäche, Passivität, Missbrauch, Erniedrigung, Respektlosigkeit, das Ausnützen der Frau. Deutscher Rap wird also als schwach dargestellt, als anthropomorphes Wesen, über das man die Macht haben kann, es zu gebrauchen und zu behandeln, wie man möchte. Es gibt keine Regeln und Werte, an die es sich zu halten gälte. Zusammen mit den Assoziationen zur Krankheit entsteht durch das Bild des Geschlechtsverkehrs der Eindruck, das Ich wolle die Krankheit (als Metapher für ‚Schmutz‘) verbreiten: Der deutsche Rap wird infiziert mit der Gewaltsprache der Sekte, mittels dieser Verbreitung lebt auch die Sekte immer weiter. Die Tätigkeiten der Sekte werden also mit jenen der HI-Viren gleichgesetzt: Es gilt sich auszubreiten, d. h. das eigene Territorium zu vergrößern. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 236 Die Verse 3 und 4 schließlich, welche reimtechnisch mit den ersten beiden verbunden sind, beschreiben die Mitglieder der Sekte als von ‚bösem‘ Aussehen wie auch schlechter Laune gekennzeichnet. Während andere nett („Peace out“, Vers 4) 698 grüßen, erwidert das Ich nur „Halt die Fresse! “ (Vers 4) Da dieser Ausspruch das bisher gültige Reimschema (a) bricht, wie auch eine Waise darstellt, wird erhöhte Aufmerksamkeit auf ihn (und die von ihm ausgedrückte Unfreundlichkeit) gelenkt. Die folgenden Verse gelten der Selbst-Darstellung des Ich im Text. Der Erfolg bei den Frauen (Vers 5 und 11) findet ebenso Erwähnung wie der Neid der Männer (Vers 6) auf das Talent des Ich. Das Ich bestätigt zudem wiederholt seine Männlichkeit. Die Bewunderung der Frauen konzentriert sich hauptsächlich auf den Penis resp. den Sexualakt, die Frauen vergöttern das Ich wegen seines Penises. Wird das Ich von einer/ m GegnerIn angegriffen, wird diese/ r penetriert. Das Ich beschreibt sich als „Bobby Dick“ 699 (Vers 9), als das „Fick-Ding“ (Vers 8), als der „coolste Ficker“ (Vers 10). Über diese vielfachen Wiederholungen wird deutlich, wie wichtig die Iteration in der Selbstzuschreibung zu sein scheint. Das Ich kann lediglich von einer entblößten ipse-Position aus sprechen, mit der Setzung versucht es sich zu repräsentieren und setzt sich dabei in eine Machtposition („Ich bin King“, Vers 7, „der beste Rapper“, Vers 6). Macht wird dabei mittels einer sexualisierten Sprache zum Ausdruck gebracht. Die Penetration erscheint als Metapher für Macht im Allgemeinen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht gerade das Insistieren auf dieser (sexuellen) Vormachtstellung die Machtlosigkeit des Ich in anderen (politischen, sozioökonomischen wie u. U. auch kulturellen) Bereichen entlarvt. 700 Allerdings setzt sich das Ich als lediglich passiv gewalttätig, schließlich sind es die anderen Leute, die den Kontakt mit ihm suchen: „Du willst haten? Besser nicht! “ (Vers 6), „Bräute kommen zu mir“ (Vers 11), „Keiner, der nicht andockt“ (Vers 13). Das Ich scheint also nur auf die anderen zu reagieren, es weist damit die Verantwortung für seine Taten von sich. Am Ende von Strophe 1 geht das Ich nochmals auf das Rap-Business ein, dessen andere TeilnehmerInnen als „Nutten“ (Vers 14) bezeichnet werden. Wiederum wird eine sexualisierte, Frauen diskriminierende Metapher für Rap verwendet. Die anderen verkaufen sich, biedern sich an, wollen an Erfolg und Geld teilhaben. Das Ich weist dies allerdings als Traum der anderen aus, der nun zu Ende ist. Die Macht liegt bei der Sekte, dazu kann aber nicht jede/ r 698 Eine in szenespezifischen Kreisen typische Grußformel, Anm. A. B. 699 Die Bezeichnung „Bobby Dick“ erinnert an den berühmtesten Wal der Literaturgeschichte, Moby Dick, welcher m. E. durchaus als Phallussymbol gelten kann. Mit dem Begriff dick wird zudem ein engl. Slang-Begriff für Penis verwendet. 700 Vgl. Rose, Black Noise (Anm. 186), S. 171. Vgl. in Bezug auf deutschen Rap das Interview mit dem ehemaligen Rapper und nun Buchherausgeber Murat Güngör in Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 80f. 7.2 Textanalysen 237 gehören. Das Ich bekräftigt also in der Wiederholung die Machtposition der Sekte. Die Überleitung zur zweiten Strophe umfasst Wiederholungen der Namen des Ich, die bereits genannt wurden. Das Ich legt dabei auch „der Neger“ als einen seiner Namen fest und vollführt damit einen im Rap typischen performativen Akt, wie Butler im Zitat unten näher ausführt. Eine Person eignet sich einen diskriminierenden Ausdruck an, wobei dieser neu kontextualisiert wird: Die aggressive Wiederaneignung verletzenden Sprechens in der Rap-Musik […] wird zum Ort einer traumatischen Neuinszenierung der Verletzung, aber einer, in der die sprachlichen Ausdrücke nicht nur in konventioneller Weise bedeuten oder mitteilen, sondern selbst gerade in ihrer sprachlichen Konventionalität als Beispiele von Diskursivität vorgebracht werden und damit auch als wirkungskräftig und arbiträr, widerständig und offen für weitere Verwendungen. 701 Es ist deutlich, dass sich das Ich den negativ konnotierten Begriff ‚Neger‘ aneignet, um ihn positiv zu werten, was die Arbitrarität der Zeichenbedeutung offen legt. Dennoch macht es den Eindruck (in Verbindung mit den anderen Namen), dass es gerade die traditionell klischeehaften Konnotationen des ‚schwarzen‘ Körpers sind, die das Ich für sich verbuchen möchte: Stärke, Gewalt und Sexualität. Durch diese „Selbstrassifizierung“ 702 eignet sich das Ich zwar auf selbstbewusste Weise einen verletzenden Begriff an, bleibt aber der Logik des verletzenden Diskurses verhaftet, indem es dieselben verletzenden Zuschreibungen wieder aufgreift und als gültig erklärt. Im ersten Vers der Überleitung wird zum ersten Mal der ‚richtige‘ Name des Ich genannt, B-Tight: Bridge (B-Tight): Jo jo jo, es ist B-Tight A.k.a. [also known as, Anm. A. B.] Bobby Dick A.k.a. der Neger A.k.a. der coolste Ficker Alles ist die Sekte. Diese Überleitung dient gewissermaßen als Unterschrift unter die erste Strophe. Das Ich nennt seine(n) Namen und übernimmt damit die Verantwortung für den Text. Dies ist auch als Lese/ Höranweisung zu verstehen. Die im Text ausgeführten Zuschreibungen sollen dem ‚leeren‘ Namen beigegeben werden, d. h. als dessen Repräsentationen verstanden werden. Durch die Multiplizierung der Namensgebung, wie durch die ‚sprechenden‘ zusätzlichen 701 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 143f. 702 Günther Jacob: Differenz und Diskurs. Zum Umgang mit importiertem HipHop. (Ein Interview mit Günther Jacob). In: Wolfgang Karrer und Ingrid Kerkhoff (Hrsg.): Rap. Hamburg/ Berlin 1995, S. 169-179, hier S. 171. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 238 Namen, findet dieser Prozess Verstärkung. Auf den Überleitungsteil folgt schließlich die zweite Strophe: 1) B-Tight: Yeah, mit jedem Track / mach’ ich die Beute dicker a/ b 2) Deine Gang chillt mit Nagellack / und Lockenwickler a/ b 3) Ich bin ein Fotzenficker / (Sido: Ich bin der Arschfickmann) b/ c 4) Du bist ein Kopfgefickter / (Sido und B-Tight: Ich fick’ ihn, so hart ich kann) b/ c 5) Ich bin ein Ghettojunge / rede mit ’ner Ghettozunge d/ d 6) Scheiß auf euch, für mich seid ihr alle wie die letzten Hunde d 7) Jetzt schlägt die letzte Stunde / die Welt geht unter d/ e 8) A.i.d.S., meine Seele ist gebunkert. e Sprachlich gestaltet sich die zweite Strophe, welche nur halb so lang ist wie die erste, ähnlich wie diese. Auch hier lässt sich ein komplexes Reimschema herausarbeiten, Binnenwie Endreime werden über mehrere Verse hinweg fortgeführt. Die Verse werden damit zwar kunstvoll verbunden, die Reimwörter selbst weisen aber wiederum wenig Komplexität auf. Die sprachlichen Formulierungen zeigen sich z. T. als phrasenhaft (insbesondere in Vers 7). In der zweiten Strophe werden prinzipiell ähnliche Informationen gegeben wie in der ersten. Das Ich beginnt mit einem Hinweis auf den kommerziellen Erfolg seiner Musik. Dass für den finanziellen Gewinn die Wendung der „Beute“ (Vers 1) benutzt wird, weckt in Bezug auf die Tätigkeiten des Ich kriminelle Assoziationen. Im zweiten Vers wird dieses Feld weitergeführt, das Ich apostrophiert seine GegnerInnen als „[d]eine Gang“. Auch eine ‚Gang‘ bewegt sich oftmals in einem kriminellen Umfeld. Während das Ich selbst - wie es sich für einen Gangster gehört - mit Geld hantiert, operiert die adressierte Gang jedoch mit „Nagellack und Lockenwickler[n]“ (Vers 2). Diese beiden Gegenstände werden normalerweise von Frauen für ihre ‚Schönheit‘ benutzt, das Ich möchte demnach die GegnerInnen als ‚Möchte-Gerne‘, als ‚feminin‘, diskreditieren. Es selbst hingegen repräsentiert sich als „Fotzenficker“ (Vers 3), was damit nicht auf Frauen gemünzt ist, sondern auf die adressierten männlichen oder weiblichen KonkurrentInnen: Sie werden penetriert, d. h. das Ich behält die (sexuelle) Vormacht. Nun schaltet sich in einer Art Dialoggespräch das zweite Ich des Textes ein und präsentiert sich als „Arschfickmann“ (Vers 3). Da das Ich vor dem Text mit dem Lied Arschficksong (Si 8) bekannt wurde, wird eine Referenz zum Ich vor dem Text (dem Namen auf dem Cover) hergestellt. Auch dieses Ich erweist sich als Penetrierender, also als mächtig: Gerade die anale Penetration, die in den meisten Fällen von hinten erfolgt, eröffnet dem aktiven Part eine Machtposition über die/ den PartnerIn, die/ der das Ich nicht sehen kann. Im vierten Vers schließlich wird wiederum ein/ e KonkurrentIn als „Kopfgefickter“ (Vers 4) angesprochen, wobei schließlich beide Ichs im Text konstatieren: „Ich fick’ ihn, so hart ich kann“ (Vers 4). Das Bild des penetrierten Kopfes dient erneut 7.2 Textanalysen 239 der Machtdarstellung der beiden Ichs, der malträtierte Kopf als Sitz des (rationalen) Denkens, der Erinnerung und Identität wird hier zum Symbol der Demütigung und potentiellen Auslöschung der/ s anderen. Der nächste Vers entschuldigt einerseits die Sprache, andererseits das Verhalten des Ich: Als „Ghettojunge“ (Vers 5) bleibt dem Ich nur die sozial determinierte Sprache („Ghettozunge“, Vers 5), die auch die Welt des Ich bestimmt. Die lapidare Identifizierung („Ich bin…“) mit der vermeintlichen Herkunft des Ich in Vers 5 naturalisiert auf diese Weise Sprache und Verhalten des Ich, es gibt kein Entkommen aus dem ‚Ghetto‘. Das Festhalten am Konzept des sozialen Determinismus entschuldigt das Ich, was wiederum die Verantwortlichkeit für sein Tun einschränkt. Die letzten Verse der Strophe wiederholen die Beschimpfung der Konkurrenz resp. bestärken die Loyalität gegenüber der Sekte. Mit der Feststellung, dass die „Seele […] gebunkert“ (Vers 8) sei, weist das Ich auf die Anfänge der Sekte beim Independent-Plattenlabel Royal Bunker hin: Von den Anfängen bis zur letzten Stunde bleibt das Ich mit der Gruppe verbunden. Mit der Darstellung eines Weltuntergangsszenarios wie der Nennung des Begriffes der „Seele“ (Vers 8) wird die religiöse Konnotation des Namens der Sekte aufgegriffen: Die Rap-Gruppe erweist sich tatsächlich als ‚Religionsgemeinschaft‘, als eine Gruppe von auserwählten Besonderen, die sich von den anderen abgrenzt. Die Inhalte der Gruppe weisen dabei durchaus Ähnlichkeiten zu Glaubenssätzen anderer Religionsgemeinschaften auf, indem auf die Unsterblichkeit der Seele hingewiesen wird. Schließlich bleibt auch bei der Sekte die Seele im Falle eines Unterganges „gebunkert“ (Vers 8), also eingelagert, sie wird nicht zerstört. Auf diese Weise erklärt sich auch die Bedeutung des Akronyms: ‚Alles ist die Sekte‘ (Vers 8) heißt, dass die Gruppe den Mitgliedern als Ganzes (mit Leib und Seele) Halt gibt und ihre Lebensform darstellt. Im Unterschied zu anderen Religionsgemeinschaften, welche von der (Unsterblichkeit der) Seele des Menschen sprechen, scheinen allerdings Verantwortungslosigkeit, Machtstreben und Individualismus zum Credo der Religion der Sekte zu gehören. Solidarität kennt man nur unter Gruppenmitgliedern. Aber selbst der Glaube daran wird in der nächsten Überleitung in Mitleidenschaft gezogen: Bridge (B-Tight): Yeah, kommt alle her, Alter Wir nehmen jeden Rapper, jedes Label, Alter Sido, zeig ihnen, wie’s geht Yeah. Das Ich fordert „alle“ auf zu kommen, denn die Sekte nehme alle RapperInnen, jedes Label in seine Gemeinschaft auf. Damit werden zum einen die Selektivität und Exklusivität, die der Sekte als einer Art Religionsgemeinschaft insbesondere in der ersten Strophe anhaftet, und zum anderen auch die Glaubwürdigkeit und Macht des Ich als Erzählerin/ s ad absurdum geführt, da 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 240 sich die von ihm gegebenen Informationen widersprechen. Die Sphäre des ‚Besonderen‘, die dem Religiösen anhaftet, wird profan gemacht, indem sie allgemein zugänglich wird. 703 Damit ist die Macht des Ich gebrochen, die auf seiner Exklusivität beruht, sie erscheint als leere Inszenierung. Am Ende leitet das Ich schließlich zum anderen Ich im Text über, Sido wird adressiert zu übernehmen. Die Reimstruktur der folgenden Strophen erweist sich als weniger komplex als die der vorangegangenen. Die Verse sind paargereimt, es gibt keine Binnenreime und Variationen. Aufgrund der fehlenden Binnenreime wird die Zäsur in der Mitte der Verse nicht betont, was komplexere Satzstrukturen ermöglicht. Dergestalt vermitteln diese beiden Strophen einen narrativeren Eindruck als die ersten beiden: 1) Sido: Ah, ich geb’ keine Ruhe, mich hält nichts auf a 2) Ich fick’ alles auf meinem Weg und dich auch a 3) Aggro Berlin hat den Trend gesetzt b 4) Wer so ein Leben noch nicht kannte, der kennt es jetzt b 5) Ich bin der Typ, über den du sie alle reden hörst c 6) Der Typ, der euer spießiges, friedliches Leben stört c 7) Der Typ für’s ganz Grobe, der Typ, der Aufwind bringt d 8) Der Typ, der alles richtig macht, einfach aus Instinkt. d Die dritte Strophe des neuen Ich im Text umfasst wiederum acht Verse. Sie dient hauptsächlich der Selbstdarstellung des Ich, das sich als QuerulantIn („ich geb’ keine Ruhe“) darstellt und seinen Weg geht, ohne sich von etwas aufhalten zu lassen. Wie in den vorangegangenen Strophen wird in Vers 3 sexuelle Penetration als Machtinstrument dargestellt. Der sexuelle Verkehr gilt als Metapher für Erniedrigung, Aneignung eines schwachen Gegenübers. Wer/ Was sich dem Ich in den Weg stellt, wird ‚gefickt‘, also durch Erniedrigung aus dem Weg geräumt. Während in der ersten Vershälfte dabei ganz unspezifisch von „alle[m]“ (was Dinge wie auch Personen beinhaltet) gesprochen wird, wird in der zweiten Hälfte ein Beispiel herausgegriffen. Ein Du wird adressiert, ihm wird gedroht. Diese Äußerung schließt also ganz unspezifisch alle RezipientInnen direkt ein, unabhängig davon, ob es sich nun um eine/ n Konkurrentin/ en oder einen Fan handelt. Dieses Du, das über die Apostrophe gesetzt wird, erfährt sich also im Moment seiner Setzung bereits als ein schuldbeladenes, da es dem Ich im Weg zu sein scheint. Der Subjektstatus des Du als HörerIn kann somit nur mit einer Übernahme dieser Schuld erreicht werden, „als Unterwerfung unter die Notwendigkeit, angesichts einer Beschuldigung seine Unschuld zu beweisen, als Unterwerfung unter die Forderung nach einem Beweis […].“ 704 Im eigentlichen Sinne stellt sich aber das Ich als diejenige Instanz dar, die das ‚normale Gesetz‘ umgeht, schließlich 703 Vgl. Agamben, Profanierungen (Anm. 29), S. 70ff. 704 Butler, Psyche der Macht (Anm. 274), S. 111. 7.2 Textanalysen 241 besteht es darauf, keine „Ruhe“ (Vers 1) geben zu wollen. Es fügt sich also nicht in eine bestehende Ordnung ein und etabliert eine ‚Gegenordnung‘, in der es über die Macht verfügt, den VertreterInnen der ‚alten‘ Ordnung Schuld zu übertragen, sollten diese das Ich an seinem Tun hindern. In Vers 3 wird schließlich auf das Label Aggro Berlin eingegangen, das für die Publikation des Gangsta-Raps Berliner Provenienz berühmt wurde. Aggro Berlin setzte also „den Trend“ dieser Art von Rap und machte damit bisher unbeachtete Lebensentwürfe einer großen ZuhörerInnenschaft bekannt. ProtagonistIn ist das Ich als Ghettokind, das sich dem harten Leben im sozialen Abseits stellt und seinen Weg zum Erfolg sucht. Dabei werden in Vers 4 mittels der Wiederholung des Verbs ‚kennen‘ in verschiedenen Zeitstufen (Präteritum-Präsens) mittels einer Art Polyptoton Vergangenheit und Gegenwart einander antithetisch gegenübergestellt. Vor der Tätigkeit von Aggro Berlin waren diese Ichs stumm, seither wurde ihnen die Möglichkeit gegeben zu sprechen, sich Gehör zu verschaffen. Das Ich bekräftigt außerdem das Schaffen von Aggro Berlin als ‚Trend‘. Der kommerziell erfolgreiche Berliner Rap wird also in seiner Funktion als Vorreiter der deutschen HipHop-Szene bestätigt. Welchen Ichs nun die Möglichkeit zu sprechen eingeräumt wird, zeigen die letzten vier Verse, welche als Selbstrepräsentation angelegt sind: Vers 5 beginnt mit „Ich bin […]“, was den Reigen der Selbstzuschreibungen einläutet, welche mittels der Anapher „der Typ“ eingeleitet werden. Die Attribute des Ich erweisen sich dabei als durchaus widersprüchlich: Das Ich erscheint als der Typ „für’s ganz Grobe“ (also als gewalttätig, Vers 7), der das ruhige Leben „stört“ (Vers 6), sowie als der Typ, der „alles richtig macht, einfach aus Instinkt“ (Vers 8). Bestätigt wird also die Rolle der/ s Querulantin/ en, wobei diese mittels des Verweises auf den Instinkt naturalisiert wird. In Bezug auf welches Ordnungssystem das Ich ‚alles richtig macht‘, bleibt unklar: Handelt das Ich ‚richtig‘ innerhalb der Logik der eigenen Ordnung oder der ‚alten‘ gesamtgesellschaftlichen Ordnung? Das Ich wechselt zudem innerhalb der Verse die Anrede. Während in Vers 5 ein/ e vermeintliche/ r SympathisantIn angesprochen wird (die/ der die anderen reden hört, aber selbst nicht beteiligt scheint), werden in Vers 6 VertreterInnen der ‚anderen‘, spießigen Ordnung adressiert, die durch das Ich gestört werden. Schließlich setzt sich das Ich als erfolgreich, da es „Aufwind“ (Vers 7) bringt (wofür und für wen bleibt dabei unklar), daneben sprechen „sie“ (vermeintliche VertreterInnen der anderen ‚spießigen‘ Ordnung, Vers 5) über das Ich: Es stellt sich als Gegenstand des öffentlichen Diskurses dar. Die Überleitung zur insgesamt vierten Strophe dient der Betonung der Tatsache, dass sich das Ich in diesem Text selbst darstellt: Bridge (Sido): Wer bin ich? - Sido Weg mit der Maske Das hier bin ich 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 242 Mein letztes Album war so kacke, aber trotzdem konnte keiner ’was Besseres machen Ich musst’ mal wieder alles alleine machen. Beginnend mit der Frage: „Wer bin ich? “ antwortet das Ich mit der Nennung des Eigennamens. Der Name „Sido“ ist in seiner AutorInnen-Funktion in der Rap-Welt etabliert durch das erste Album Maske. Auf diesem Album wurde bereits ein Bezug zwischen einem Ich im Text und einem Ich vor dem Text hergestellt. Dank der „Maske“ (sei es als Titel, sei es als tatsächlich getragene Maske auf dem Cover oder auf Konzerten) als Signifikant des Verschleierns, Versteckens scheinen allerdings Zweifel ob der Gültigkeit dieser Referenzbeziehung aufgekommen zu sein. Das Ich scheint sich des Faktes bewusst, dass auch der Name als KünstlerInnenname wie der Eigenname im Allgemeinen als „[n]ahezu bedeutungslos […] alle Prädikate zu[lässt] und […] so nach einer nachträglichen Bestimmung [ruft].“ 705 Das Ich möchte Zweifel über die ‚Authentizität‘ seines künstlerischen Schaffens aus dem Weg räumen. Aus diesem Grund fügt es hinzu: „Weg mit der Maske / Das hier bin ich“. Das Ich suggeriert also, ‚sich‘ in den Texten auf dem Album Ich oder im Lied A.i.d.S. 2007 ohne Maske darzustellen, also eine direkte referentielle Beziehung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text (als dem Namen auf dem Cover) aufzubauen. Schließlich stärkt das Ich in den letzten beiden Zeilen der Überleitung die Verbindung zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text, indem es noch einmal auf sein letztes Album eingeht, das - obwohl seiner Meinung nach schlecht - das beste seiner Art war. Das Ich betont also seine Stellung als herausragende/ r KünstlerIn, die/ der in ihrer/ seiner Genialität auf sich alleine gestellt ist. Die zweite, 16 Verse umfassende Strophe dient abermals hauptsächlich der ‚Selbstdarstellung‘ des Ich: 1) Sido: Ihr hattet eure Chance, ich war 2 Jahre weg a 2) Doch es wird mal wieder Zeit, dass ihr mein’ Arsch leckt a 3) Ich will, dass ihr euch wieder das Maul zerreißt b 4) Darüber, ob er nun Siegmund oder Paul heißt b 5) Ich weiß nicht, ich hab’ das alles nicht zum Spaß gemacht c 6) Ich hab’ die Seele aus mir rausgeschrieben, Tag und Nacht c 7) Ich bin erwachsen, dass heißt, jetzt wird nachgedacht c 8) Aber nein, ihr habt mich nicht brav gemacht c 9) Ich bleib’ in meiner Rolle, ich rasier’ den Markt d 10) Die meisten bleiben auf der Strecke, doch das Spiel ist hart d 11) Kein Rückzug, kein Aufgeben, keine Gnade e 12) Ich ziel’ auf seine Nase, Upper Cut und eine Grade e 13) Nein, ich bereue nichts, heute ist mein Tag f 705 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 42. 7.2 Textanalysen 243 14) Fick 50 Cent, ich fühl’ mich wie zwei Mark f 15) Ich bin steinhart, wie’n Rocker g 16) Tut mir Leid, Sammy, doch die Krone ist tokat. g Diese Strophe stellt einen performativen Akt des Sich-zurück-Meldens dar. Das Ich reflektiert über die eigene Situation als KünstlerIn, die/ der zwei Jahre weg war und nun mit neuem Album ‚wieder da‘ ist. Interessant an der Strophe sind die wechselnden Anreden: Das Ich adressiert als ‚ihr‘ wechselnd Fans, KonkurrentInnen wie auch vermeintliche KritikerInnen/ VertreterInnen der ‚spießigen‘ Ordnung: Vers 1: KonkurrentInnen Vers 2: KonkurrentInnen Vers 3: Fans, KritikerInnen Vers 8: KritikerInnen Das Ich sieht sich also in ständiger Opposition einer breiten Front an KritikerInnen und GegnerInnen gegenüber, die das Ich „brav“ (Vers 8) machen resp. übertreffen wollen. Besondere Betonung erfährt dabei die Ernsthaftigkeit des Ich in Bezug auf seine Tätigkeit, es hat nichts „zum Spaß gemacht“ (Vers 5), sondern die „Seele“ aus sich „rausgeschrieben“ (Vers 6). Das Ich authentisiert also den eigenen Rap, indem die ‚Seele‘ des Ich in den Texten steckt. Das Ich zeigt sich dabei als reflektiert, es ist „erwachsen“ und denkt nach (Vers 7). Allerdings ist ein Widerspruch in den Angaben des Ich zu konstatieren: Die Aktivitäten des Sich-die-Seele-aus-dem-Leib-Schreibens wie des „aus Instinkt“ (Vers 8, Strophe 3) Alles-richtig-Machens zeigen sich als ursprünglich, naturhaft, kraftvoll. Demgegenüber stellt das Nachdenken einen Prozess dar, der von Verzögerungen, einem Verwerfen und Abwägen geprägt ist. Noch verschärft wird die paradoxe Situation mit Vers 9: „Ich bleib’ in meiner Rolle, ich rasier’ den Markt“. Der Hinweis darauf, eine Rolle einzunehmen, steht im Widerspruch zur oben dargelegten Naturhaftigkeit der Tätigkeiten des Ich. Steht also in Bezug auf das Verhalten des Ich Instinkt oder Kalkül im Vordergrund? Der Widerspruch wäre dahingehend auflösbar, als die Rollen des Ich als ihm von außen zugeschriebene verstanden werden könnten: Die Rolle des bösen Mädchens/ Jungen wie auch der/ s erfolgreichen Rapperin/ s hängen von der Wahrnehmung und der Reaktion anderer Leute ab und könnten damit durchaus mit der ‚Natur‘ und dem ‚natürlichen‘ Talent des Ich korrespondieren. Darüber, inwiefern diese Naturhaftigkeit, auf welche auch das Ich in Strophe 2 in Bezug auf das Ghettoleben eingegangen ist, eine Rolle darstellt, wird nicht reflektiert. Das Ende der Strophe gilt hauptsächlich der Emphase des Erfolges des Ich als Rapper/ in wie auch ihrer/ seiner Standfestigkeit. Das Rap-Business wird als 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 244 ‚hart‘ vorgestellt, die meisten KonkurrentInnen schaffen es nicht, Fuß zu fassen. Das Ich hingegen präsentiert sich als jemand, der nicht aufgibt, wobei diese Hartnäckigkeit als RapperIn mittels einer Gewaltmetapher dargestellt wird: „Kein Rückzug, kein Aufgeben, keine Gnade / Ich ziel’ auf seine Nase, Upper Cut und eine Grade“ (Verse 11-12). GegnerInnen werden also über ‚Schläge‘ ausgeschaltet. TheoretikerInnen oder JournalistInnen, welche über Rap und HipHop schreiben, betonen immer wieder die sublimierende Wirkung des Raps. Es wird mit Worten gekämpft, nicht mit den Fäusten, der battle zwischen RapperInnen stellt sich als „friedliche[r] Wettstreit[…]“ 706 dar. Indem aber nun für das Rappen Gewaltmetaphern Verwendung finden, die den KonkurrentInnen einen verletzlichen Körper zuschreiben, wird Erfolg als Ergebnis körperlicher Überlegenheit präsentiert. Überleben im Rap wird zu einem implizit ‚männlichen‘ Modell. Schließlich ‚disst‘ das Ich in Vers 14 den US-amerikanischen Rapper 50 Cent, indem es betont, sich wie „zwei Mark“ zu fühlen. Der Vergleich mit Geld verortet Rap damit auch innerhalb der kapitalistischen Ordnung. Alles lässt sich auf einen Geldwert reduzieren, so auch das Ich als RapperIn. Es hat den größten Tauschwert, ist ergo am erfolgreichsten. Damit wird in A.i.d.S. 2007 auch der US-amerikanische Tellerwäschermythos wiederbelebt. Aus der gesellschaftlichen Unterschicht stammend ist es im Rap möglich, erfolgreich und reich zu werden, wobei Härte 707 und Rücksichtslosigkeit vonnöten sind, um GegnerInnen auf dem Weg auszuschalten. Rap wird zu einem neoliberalen, sozialdarwinistischen Modell. Damit korrespondiert auch die Angabe des Ich, „nichts zu bereuen“ (Vers 13): Es scheint also durchaus Handlungen gegeben zu haben, die u. U. ethisch verwerflich, aber dennoch ‚notwendig‘ für den Erfolg waren. „Heute ist mein Tag“ (Vers 13) hingegen bezieht sich - da es keinen referentiellen Bezugspunkt für das ‚heute‘ im Text gibt - auf eine zeitlose Gegenwart des Erfolgs. Das Ich präsentiert sich als Gewinner, schließlich adressiert es im letzten Vers von Strophe 4 Rapper-Kollegen Sammy DeLuxe: „Die Krone ist tokat“, wobei es sich bei ‚tokat‘ nach Aussagen Sidos in einem Interview um einen Berliner Ausdruck für ‚weggenommen‘, ‚abgezogen‘ handelt. 708 Indem die ‚Krone‘ also beim Ich ist, stellt es sich als ‚King‘, als beste/ n RapperIn, dar, wobei als Qualitätskriterium der zu messende finanzielle Erfolg gilt. Auch in diesem Text stellt sich bei beiden Ichs im Text die Dimension des Ich als idem als wichtig heraus: Es geht darum, beständig und wiedererkennbar zu sein. Die leere Position des Ich als ipse soll ausgefüllt werden mit In- 706 Menrath, Represent What (Anm. 8), S. 76. 707 Vgl. Vers 15: „Ich bin steinhart wie ’n Rocker“: Hier wird die Härte direkt angesprochen. Bei diesem Vers handelt es sich zusätzlich um einen intertextuellen Verweis auf das Lied Beinhart der deutschen Rock-Gruppe Torfrock, in welchem es folgenden Vers gibt: „Beinhart wie ’n Rocker“ (vgl. Torfrock: Beinhart. Karussell/ Universial 1992). 708 Simon C. Chanias: Sido im Interview - „Ich”, 2006, URL: http: / / www.mzee.com/ forum/ showthread.php? t=100038533 (Stand: 31.12. 2011). 7.2 Textanalysen 245 formationen zum Ich, wobei diese Eigenschaften als (zweite) Natur des Ich erscheinen und sich aus diesem Grund auch nicht ändern: Ich bin wie ich bin und das ist gut so. Die ethische Dimension des Ich als ipse bleibt hingegen vollständig ausgeklammert, Rücksicht und Solidarität kennt man nur in Bezug auf die eigene Gruppe Gleichgesinnter. Auch was die Zuverlässigkeit der Ichs als ErzählerInnen betrifft, so wird diese dahingehend zurückgenommen, als beide Ichs paradoxe Angaben machen. Sie stellen sich in ihrem sozialen wie erzählerischen Verhalten als unzuverlässig dar. Die beiden präsentieren sich als VertreterInnen der ‚neuen‘ Generation Rap, bei der Erfolg, Geld und Macht von Wichtigkeit sind, wobei die Rap-Szene zu einer Leistungsgesellschaft mutiert, in der mit provokant brutaler, vor allen Dingen mit frauenfeindlich diffamierender Sprache gegen die KonkurrentInnen vorgegangen wird. Aus diesen vier Analysen zum Thema Rap über Rap wird deutlich, dass es innerhalb des Raps immer wieder zu Aushandlungen darüber kommt, was Rap ist resp. wer Rap auf welche Art und Weise repräsentieren sollte. Dabei gilt es eine dichotome Situation zu konstatieren. Da die Ichs bei Fiva, Pyranja und Manges keine VertreterInnen des kommerziell erfolgreichen Raps darstellen, wird in allen drei Liedern der Status Quo beklagt. Rap hat sich verändert, man wolle zurück. Auf diese Weise ist das Ich in Zurück (in die Zukunft) (Fi 21) geprägt von der Nostalgie einer ‚besseren Vergangenheit‘, während das Ich in Nur so (Py 24) den verletzenden Jargon der GegnerInnen aufnimmt, um ihn gegen diese zu wenden. In beiden Fällen geht es um die Etablierung einer starken Opposition. In King (Ma 31) hingegen zeigt sich ein reflektiertes Ich, das die eigene Mitschuld an der Veränderung des Raps in die Reflexionen miteinbezieht und auf diese Weise eine Veränderung bewirken möchte: Hier steht Solidarität vor Trennung in verschiedene Lager. Das Ich in A.i.d.S. 2007 (Si 40) hingegen sieht sich als RepräsentantIn des neuen ‚Trends‘, weshalb es hier nicht um Veränderung, sondern um eine Aufrechterhaltung und Bekräftigung des neuen Status Quo geht. In allen vier Fällen zeigt sich also in Bezug auf die hier dargebrachten VertreterInnen des Raps die immanente Wichtigkeit einer Einordnung in die Rap-Narrative. Aus diesem Grund spielt auch die Zeitdimension (und damit einhergehend die Verhandlungen der Beziehungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart) in den Liedern eine große Rolle. Das Ich als idem steht im Vordergrund, wobei es gilt, die Setzung eines leeren Namens zu ergänzen: Informationen werden gegeben, die Auskunft darüber geben, wofür dieser Name in seiner KünstlerInnenfunktion stehen soll. 7.2.3 Soziales/ Nachdenken Im Rahmen dieses Bandes wurde bereits hinlänglich darauf hingewiesen, dass Rap immer wieder als sozialkritische Kunstform gehandelt wird. Wie inner- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 246 halb der wissenschaftlichen Literatur mehrfach ausgeführt, scheint Kritik an sozialen Umständen ein ‚erkennbares‘ referentielles Verhältnis zwischen Texten und einer außersprachlichen Wirklichkeit vorauszusetzen. Lamping spricht von politischer, sozialkritischer Lyrik als einer referentiellen Lyrik, die durch einen Realitätsbezug gekennzeichnet ist. Vor allem referentielle politische Lyrik bezieht sich immer auf das, was gerade politisch ‚der Fall‘ ist. Es ist ein wesentliches Merkmal dieser Lyrik, dass sie Aussagen macht, die ‚in einem außersprachlichen, politischen, überprüfbaren Wirklichkeitszusammenhang stehen müssen‘. 709 Zudem besteht nach Lamping für politische Lyrik eine „Wahrheitspflicht“ 710 . Sollte ein/ e AutorIn in einem politischen Text einem Irrtum erlegen sein, habe sie/ er die geäußerten Behauptungen zurückzunehmen oder zu berichtigen (Lamping führt indes nicht aus, in welcher Form dies zu geschehen hätte). Auch Hinderer gibt an, dass innerhalb der politischen Literatur „der Autor (Texthersteller) […] überwiegend seine persönliche politische Zustimmung oder Kritik (Negation) gegenüber dem jeweiligen herrschenden System oder der herrschenden Ideologie [artikuliert].“ 711 Wie Lamping und Hinderer verdeutlichen, scheint es im Falle politischer Themenstellungen in der Lyrik wichtig zu sein, persönliche Meinungen oder ‚Wahrheiten‘ kundzutun, wobei die/ der AutorIn als unmittelbare/ r ReferentIn für das Ich im Text erscheint. Die/ Der AutorIn hat auf diese Weise, wie oben erwähnt, auch für einen aufrichtigen Umgang mit der ‚Realität‘ im jeweiligen Text einzustehen. Dieses Konzept läuft allerdings Gefahr, die Welt und vor allen Dingen das sie beschreibende Subjekt als vorab gesetzte Entitäten zu fassen, insofern vermeintlich „jede Re-Präsentation einen Gegenstand und dessen mögliche Gegenwart voraussetzt.“ 712 Nach Butler gilt es allerdings zu bedenken, dass die Wirklichkeit nur diskursiv zugänglich ist; in weiterer Folge zeigt sich zudem, dass „[d]ie Bereiche der politischen und sprachlichen ‚Repräsentation‘ […] vorab die Kriterien fest[legen], nach denen die Subjekte selbst gebildet werden, so dass nur das repräsentiert werden kann, was als Subjekt gelten kann.“ 713 Mit Butlers Worten wird also deutlich, dass die Subjekte eines politischen Diskurses dessen Strukturen unterworfen sind, d. h. sie werden auch 709 Lamping, Das lyrische Gedicht (Anm. 62), S. 127; Lamping zitiert Walter Hinderer: Probleme politischer Lyrik heute. In: Wolfgang Kuttenkeuler (Hrsg.): Poesie und Politik. Zur Situation der Literatur in Deutschland. Bonn/ Stuttgart 1973, S. 91-136, hier S. 129. 710 Lamping, Das lyrische Gedicht (Anm. 62), S. 128 (Markierung dem Original entnommen). 711 Hinderer, Theorie politischer Lyrik (Anm. 91), S. 37. 712 Bettine Menke: Verstellt - der Ort der ‚Frau‘. Ein Nachwort. In: Barabara Vinken (Hrsg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt am Main 1992, S. 436-476, hier S. 436. 713 Butler, Unbehagen der Geschlechter (Anm. 272), S. 16. 7.2 Textanalysen 247 „in Übereinkunft mit den Anforderungen dieser Strukturen gebildet, definiert und reproduziert.“ 714 Das Subjekt wird also über den Diskurs konstituiert, gleichzeitig wirkt das Subjekt wieder auf den Diskurs zurück. Damit wird auch deutlich, dass man innerhalb eines politischen Diskurses nicht ‚für‘ oder ‚über‘ jemanden sprechen kann, ohne die ReferentInnen des ‚für‘ oder ‚über‘, also die Objekte (die Marginalisierten, die ‚Schwarzen‘, die Frauen u. a.), für die gekämpft wird, im Diskurs erst zu konstituieren. Wenn nun aber in politischen, sozialkritischen oder feministischen Texten dennoch die ‚Welt‘ und deren ‚Realität‘ verhandelt werden resp. ein Ich für eine Meinung einsteht oder an ein Du/ ihr appelliert, so stellen sich folgende Fragen, die es in den unten stehenden vier Textanalysen zu beachten gilt: Welche Probleme werden angesprochen resp. auf welche Weise involviert sich das Ich in die problematische Situation? Wie wird in den Texten über die zu verhandelnden Objekte gesprochen? Wird die diskursive Macht, über die das sprechende Ich verfügt, mitreflektiert? Auf welches Ich kann überhaupt zurückgegriffen werden, wenn es um das Vertreten ethischer Werte geht und das Ich erst im Diskurs konstituiert wird? Scheint es in diesem Zusammenhang nahe zu liegen, dass in sozialkritischen Texten die ethische Dimension des Ich als ipse von dominanter Rolle sein wird? Das Lied Klarsicht (Fi 23) von Fiva, veröffentlicht auf dem zweiten Album Zurück (in die Zukunft), besteht aus drei Strophen zu je 16 Versen, die von einem Refrain unterbrochen werden, der acht Verse umfasst. Wie der thematische Titel bereits verrät, scheint das Lied Möglichkeiten des ‚Sehens‘ zu verhandeln. Der Begriff ‚Klarsicht‘ deutet dabei an, dass etwas klar, ohne Schwierigkeiten, ohne Filter, gesehen wird: 1) Ich sitz’ am Fensterplatz in erster Reihe rotes Haus im vierten Stock a 2) Mit Frühstück Müsli, schwarzem Tee und meinem Block a 3) Im Nachbarhaus das Loungebüro der Werbeagentur b 4) Voll kreativer Milchkaffees mit Keks als Garnitur b 5) Gelfrisur hält Haltung bei der Hektik, hier am Puls der Zeit c 6) Praktikanten produzieren unbezahlt die Wirklichkeit c 7) Riecht Erfolg! / Image macht aus Scheiße Gold d/ d 8) Was Kunde will, das wird gewollt / was man schreibt, erzieht das Volk d/ d 9) Das zwei Etagen tiefer / diskutiert im kleinen Pub e/ f 10) Der außer Bier und Schnaps noch liefert / was man halt zu Haus nicht hat e/ f 11) Hier findet der Austausch statt / zur nationalen Lage f/ g 12) Hier bildet sich Meinung auf Bierdeckeln und starker Fahne g 714 Ebenda, S. 16. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 248 13) Während nebenan zwei Fenster auf zwei Zimmer Einblick geben h 14) In denen Eltern und vier Kinder schon seit Jahren leben h 15) Neben Kochtöpfen und Hausaufgaben macht Fernsehen das Programm i 16) Und programmiert die Wünsche, die man sich nie leisten kann (Fi 23). i Die erste Strophe ist größtenteils paar- und endgereimt. Sie lässt sich in vier Abschnitte (Verse 1-2, Verse 3-8, Verse 9-12, Verse 13-16) einteilen. Die ersten beiden Verse legen das Setting des Liedes fest: Ein Ich sitzt am Fenster, es ist Morgen und das Ich blickt hinaus. Da sich das Ich im vierten Stock befindet, nimmt es eine erhöhte, privilegierte Position ein, von der es das Geschehen überblicken kann. Der Eindruck des Privilegs wird zusätzlich durch den Hinweis auf den „Fensterplatz in erster Reihe“ (Vers 1) verstärkt. Dem Anschein nach setzt sich das Ich bewusst ans Fenster, um zu beobachten, schließlich hält es auch einen Block in der Hand. Das Ich verfügt also über eine Machtposition, zudem hat das Szenario des Beobachtens einen sozialvoyeuristischen Charakter, der umso pikanter wird, als das Ich dezidiert auf sein Frühstück hinweist: Das Ich befindet sich zu Hause, in bequemer, gemütlicher Position und ist der Focalizor der dargestellten Situation, wobei Bal bemerkt, that „focalization is, in my view, the most important, most penetrating, and most subtle means of manipulation.” 715 Da allerdings die ersten beiden Verse das Framing der folgenden Ausführungen unterstreichen, versucht das Ich nicht zu manipulieren, d. h. etwas als ‚ungeschminkte‘ Realität darzustellen: Es verdeutlicht mittels der einleitenden Verse im Gegenteil, dass Beobachtung einen immanent subjektiven Vorgang darstellt. In den folgenden drei Abschnitten der ersten Strophe behandelt das Ich drei Themenblöcke, geordnet nach den drei ‚Wohnungen‘, auf die das Ich blickt: Zunächst gilt es eine Werbeagentur im Nachbarhaus zu beobachten, danach das Pub zwei Etagen unter der Agentur, daneben wiederum befindet sich die Wohnung einer Familie. Das Ich kritisiert an der Agentur die Coolness („Gelfrisur“, „Puls der Zeit“, Vers 5), welche dort ausgestrahlt wird. Geld-Verdienen scheint im Mittelpunkt zu stehen, wobei das Geschehen von Schnelligkeit und Hektik geprägt scheint - ein Eindruck, der mittels einer Alliteration in Vers 5 auch lautlich verdeutlicht wird: Die dreifache Verwendung des [h] im Anlaut („Haltung“ / „Hektik“ / „hier“) demonstriert Atemlosigkeit, d. h. Tempo. Zudem diktieren die Wünsche der Kunden, was gemacht wird, egal ob das kreierte Image der ‚Wirklichkeit‘ entspricht oder nicht („Image macht aus Scheiße Gold“, Vers 7): Nach Ansicht des Ich produziert Werbung Wirklichkeit. Eine Paronomasie (will/ gewollt) in Vers 8 verdeutlicht in diesem Zusammenhang, dass hierbei die Kundenwünsche dominieren: Aus dem ‚aktiven‘ Wunsch der Kunden wird ein ‚passiver‘ in Bezug auf 715 Bal, Narratology (Anm. 585), S. 171. 7.2 Textanalysen 249 die ArbeiterInnen im Büro. Sie scheinen nicht als Subjekte auf, da sie über keinen eigenen Willen verfügen (dürfen). „Haltung“ (Vers 5) gibt dabei nur die Gelfrisur, ansonsten sind ethische Werte Mangelware, was sich auch in der Ausbeutung der PraktikantInnen zeigt (die „unbezahlt“ arbeiten, Vers 6). Das Ich kritisiert zudem die Macht der Werbe-Sprache, die das „Volk [erzieht]“ (Vers 8): Es ist praktisch unmöglich, sich der ständigen Beschallung von Werbungen zu entziehen. Lautlich wird in den Versen 7 und 8 durch den Binnenreim (d) („Erfolg“ / „Gold“ / „gewollt“ / „Volk“) Spannung erzeugt, da durch die Verdoppelung der Reimstruktur (auf Binnen- und Endreim) scheinbar das Tempo erhöht wird. Dass die in der Werbeagentur Arbeitenden über eine soziale Machtposition verfügen, wird über die Tatsache vermittelt, dass sich das Büro im dritten Stock, also in erhöhter Position, befindet. Der zweite Themenkreis widmet sich den Vorgängen ‚unten‘ (zwei Etagen tiefer) im Pub, in dem das ‚Volk‘ bei starkem Alkoholgenuss das politische Geschehen diskutiert. Das Pub wird als Gegensatz zum Heim der Menschen dargestellt: Hier finden sie ein Ventil, eine Möglichkeit, Dinge auszuleben, die sie dem Alltag zu Hause entgegenzusetzen in der Lage sind. Alkohol ermöglicht Enthemmung auf verschiedenen Ebenen, die im Text allerdings nicht näher ausgeleuchtet wird. Die anaphorischen Verse 11 und 12 („hier“) fokussieren mittels der lokaldeiktischen Angabe den Ort des Geschehens, an dem über Politik diskutiert wird. Dass dieses ‚hier‘, dieser geschützte Raum, von Alkoholkonsum geprägt ist, stellt allerdings Kritikpunkt des Ich dar: Einerseits ermöglicht das alkoholisierte Debattieren keine rationale Auseinandersetzung mit Problemen, andererseits scheint es sich beim abgeschotteten Ort des Pubs (fernab des ‚realen‘ Lebens zu Hause) um eine Insel zu handeln, die mit dem Leben draußen nichts zu tun hat: Was drinnen diskutiert wird, kommt nicht nach draußen, erfährt keine Umsetzung. Auch lautlich wird das niedrige Niveau dieser Biertisch-Diskussionen realisiert: Zunächst kündigt der Binnenreim, welcher die Verse 9 und 10 („tiefer“ - „liefert“) verbindet, ein Abrutschen des Niveaus, eine Abwärtsbewegung, an. In beiden Begriffen stimmen die letzten beiden betonten Vokale überein, wobei vom hohen Vokal [i ] auf ein reduziertes [ ], also auf einen tiefen Vokal, übergegangen wird. Am Versende wird in allen vier Versen des Abschnittes auf den tiefen Vokal [a] (Vers 9 und 10) resp. [a ] (Vers 11 und 12) gereimt. Die Situation bleibt also ‚unten‘: Dies ist einerseits lokal zu verstehen, schließlich befindet sich das Pub zwei Stockwerke unter der Werbeagentur, zum anderen aber auch metaphorisch im Sinne eines Niveauverlustes des Diskussionsverhaltens. Dies wird umso deutlicher, als im letzten Abschnitt des Liedes das Geschehen im Pub mit dem Geschehen in einem ‚realen‘ Haushalt konterkariert wird. Dort geben „zwei Fenster auf zwei Zimmer Einblick“ (Vers 13), wobei insgesamt sechs Personen (zwei Elternteile und vier Kinder) in der dahinter liegenden Wohnung, die aufgrund der niedrigen Fensteranzahl nicht allzu 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 250 groß wirkt, zu wohnen scheinen. Die Wohnung befindet sich neben dem Pub, also auch ‚unten‘, was die soziale Wertigkeit betrifft. Das Leben ist vom Alltag bestimmt („Kochtöpfe[...]“, Vers 15, „Hausaufgaben“, Vers 15), als zusätzlichen Programmpunkt gibt es nur das Fernsehen: Die figura etymologica („Programm“, Vers 15, „programmieren“, Vers 16) betont dabei den fremdbestimmenden Aspekt des Fernsehens. Durch das Fernsehen wird auf die ‚Realität‘ der RezipientInnen Einfluss genommen und sei es nur dadurch, dass mittels der im Fernsehen gezeigten Sendungen über die ‚Reichen und Schönen‘ Wünsche erzeugt werden, die nicht erfüllbar sind und daher Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben produzieren. Wiederum übt sich das Ich in Medienkritik resp. in Kritik daran, wie Medien mit der ‚Wirklichkeit‘ umgehen. Die Medien werden als Illusionsfabrik dargestellt. Insgesamt baut also das Ich in der ersten Strophe eine dichotome Situation auf: Es setzt sich in der Situation der/ s Beobachterin/ s, während in den drei beobachteten Situationen jeweils ‚Realität‘ auf ungenügende Weise verhandelt wird. In der ersten und dritten Situation steht der ‚Wirklichkeit‘ die Manipulation der Medien gegenüber. In der zweiten Situation wird die ‚Wirklichkeit‘ nur unter Alkoholeinfluss fernab des ‚normalen‘ Lebens verhandelt. Die dargestellten Menschen haben also einen direkten Zugang zur Realität verloren. Das Ich setzt dem die eigene Position der/ s Beobachterin/ s entgegen: 1) Refrain: Selbst wenn ich nicht mehr seh’ als ihr a 2) Erzählen euch die Fenster von dem, was passiert a 3) Erzählen euch die Fenster von dem, was mal wird a 4) Und es ist wichtig, einen Blick zu werfen / seinen Blick zu schärfen b/ b 5) Selbst wenn ich nicht mehr seh’ als ihr 6) Erzählen euch die Fenster von dem, was passiert 7) Und es liegt an uns, was später draus wird 8) Und es lohnt sich einen Blick zu werfen, seinen Blick zu schärfen. Der Refrain besteht aus zwei Quartetten, die abgesehen von kleinen Abänderungen des Textes im dritten und vierten Vers des zweiten Quartetts identisch sind. Das Ich gibt dabei an, nicht mehr zu sehen als die apostrophierten RezipientInnen: Es verfügt also über keine besondere Begabung. Worum es geht, ist schlichte Aufmerksamkeit. Diese gilt es zu schärfen. Nach Angaben des Ich sind es die „Fenster“, welche erzählen, was passiert ist und was kommen wird. Die Fenster stellen einen metonymischen Ausdruck dafür dar, was sich hinter den Fenstern verbirgt. Schließlich erzählen nicht die Fenster, sondern die dahinter Verborgenen. Allerdings sprechen auch diese nicht, sie handeln nur ihrem alltäglichen Leben gemäß (zu Hause, im Pub, in der Arbeit). Die Fenster sind aus Glas, was einerseits Sicht ermöglicht, andererseits auch eine Trennscheibe einfügt: Die Wahrnehmung der/ s Beobachterin/ s ist also immer gefiltert, man kann die Realität nicht als solche erkennen, sie ist Produkt der 7.2 Textanalysen 251 Konstruktion des Ich. Dennoch suspendiert dies nicht die ethische Verantwortung des Ich. Mit dem Blick kann das Ich Zusammenhänge erfassen, erkennen und seine Eindrücke vielleicht in Aktionen überführen, die eine Änderung der Situationen herbeiführen (denn es „liegt an uns, was später draus wird“, und ob es sich „lohnt“, einen Blick zu werfen). Das Ich solidarisiert sich also mit den von ihm im Refrain adressierten Personen. Der Meinung des Ich nach stellt die Beobachtung den ersten Schritt zur Veränderung von Situationen dar. Blicke stellen, wie auch in Bezug auf Was hat er? (Si 13) 716 festgestellt, ein machtvolles Instrument dar: Über den Blick wird die/ der andere als Subjekt angesprochen, eingesetzt. Es stellt sich allerdings die Frage, welche Position die/ der andere nach der Adressierung innehat: Spivak spricht in Bezug auf sozialkritisches Sprechen von einer distanzierten Position heraus als „ventriloquism“ 717 und „bio-piracy“ 718 : Das Sprechen über diese Personen (die Subalternen, die nicht für sich selbst sprechen können) entspricht ihrer Meinung nach ausnahmslos einer „Geste der Anmaßung“ 719 . Nach Wagner allerdings scheint ein derartiges Sprechen möglich, wenn die Erzählstimmen „im Text auch so situiert werden, dass ihr Dispositiv für die Leser [und HörerInnen, Anm. A. B.] erkennbar bleibt, dass sie als mediales Phänomen wahrgenommen werden können und somit das Phänomen der Repräsentation-als- Vertretung im Modus des Erzählens thematisiert wird.“ 720 Im Liedtext geschieht diese Thematisierung, indem die Fenster als Framing immer wieder thematisiert werden: Das Ich verweist also wiederholt darauf, dass es wahrnimmt/ sieht und keine intersubjektive Realität beschreibt. Dies geschieht auch in Strophe 2: „Ich seh’ sie durch die Scheiben glänzen“ (Vers 7), „Hinter’m Glas sieht man Patienten“ (Vers 15): 1) In meiner Straße hat jetzt bald der sechste Handyshop offen a 2) Hat dann zwei Wochen auf und danach wieder geschlossen a 3) Das Schaufenster mit Packpapier verdeckt den Blick auf Existenzen b 4) Die nicht von Preisen profitieren, sondern von Menschen b 5) Die sind beschäftigt mit dem Fressen, kämpfen mit den Konsequenzen b 6) Suchen sich im Kaffeesatz und Capoeira-Tänzen b 7) Ich seh’ sie durch die Scheiben glänzen / Schweißperlen im Fitnessraum b/ c 8) Das Land braucht starke Männer und die Männer fitte Frau’n c 9) Schaufenster ein Albtraum / für’s Figurproblem c/ d 716 Für weitere Ausführungen zum Blick siehe Kap. 7.2.4, S. 310f. 717 Spivak, Critique of Postcolonial Reason (Anm. 636), S. 255. 718 Ebenda, S. IX. 719 Wagner, Erzählstimmen und mediale Stimmen (Anm. 466), S. 147. 720 Ebenda, S. 148. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 252 10) Supermärkte, Rechenzentren, um Kalorien zu zähl’n d 11) Jede Auslage wird Einlage direkt ins Fettdepot e 12) Und wenn ich öfter ‚nein‘ sage, wächst dann mein Fett nicht so? e 13) Den ganzen Dreck ins Klo / und dann ins Wartezimmer e/ f 14) Zum Arzt, bevor die Zeichen sich verschlimmern f 15) Hinter’m Glas sieht man Patienten wimmern ohne Grund und Disziplin g 16) Schmerzen fügen sie sich zu, den Rest macht dann die Medizin. g In der zweiten Strophe ‚sieht‘ das Ich in vier verschiedene Räumlichkeiten: Zum einen in Handyshops (Verse 1-4), die geöffnet und bald wieder geschlossen werden, zum anderen in ein Fitnesscenter (Verse 5-8), in ein/ en Supermarkt/ Lebensmittelgeschäft (Verse 9-12) resp. in ein ärztliches Wartezimmer (Verse 13-16). Kritisiert wird im ersten Abschnitt, dass Menschen von anderen (ökonomisch) ausgebeutet werden (z. B. von Seiten der Handybetreiberfirmen). Dies geschieht aber meist nicht offen, sondern verdeckt, weshalb in Vers 3 der zweiten Strophe auch das einzige Mal im Lied zugeklebte Fenster angesprochen werden. Es gibt also auch Geschehnisse, die bewusst verborgen werden, dazu gehört offensichtlich die Ausbeutung der Menschen. Die Menschen ihrerseits werden auch als Teil einer Überflussgesellschaft gezeichnet, in der zu viel gegessen wird und viel Energie für das Verlieren der überflüssigen Pfunde resp. für das Zählen der Kalorien aufgebracht werden muss. Im Allgemeinen scheinen die Menschen auf Sinnsuche zu sein, da sie sich selbst in „Kaffeesätzen“ (Vers 6) wie in „Capoeira-Tänzen“ (Vers 6) suchen wollen. Die traditionelle Frage nach der Zukunft (im Kaffeesatz) verbindet sich mit einem Exotismus, einer Flucht in das Ferne und Andere, in dem man neue Seiten seiner selbst zu finden trachtet. Die Menschen suchen den Sinn des Lebens und eignen sich dazu orientalische Methoden sowie auch einzelne (und damit möglicherweise sinnentfremdete) Elemente ferner Kulturen an, die der eigenen Kultur einverleibt werden: Dies erweist sich als fragwürdig in seiner Wirksamkeit, einen Platz in einer Gesellschaft zu finden, die sich an oberflächlichen Werten wie dem Aussehen orientiert. In Bezug auf das Essen wird eine Paradoxie in westlichen Gesellschaften angesprochen: Zum einen essen die Menschen zu viel und werden zu dick. Dass in Vers 13 hingegen Essen in die Toilette gespült wird, könnte als Hinweis auf die zunehmenden Fälle von Magersucht und Bulimie verstanden werden, die in westlichen Gesellschaften durch die Modellfunktion überschlanker Vorbilder aus den Medien auftreten. Die Ärzteschaft, über welche in den letzten beiden Versen gesprochen wird, hat schließlich Probleme mit beiden Extremen. 7.2 Textanalysen 253 Die dritte Strophe schließt den Erzählbogen der beiden anderen: Während das Ich zu Beginn des Liedes gefrühstückt hat, ist es nun Abend. Die anderen Menschen bewegen sich von der Arbeit nach Hause, müde und hungrig. Der „Hunger“ im zweiten Vers stellt also eine Metonymie für die hungrigen Menschen dar. Die Geschäfte sind abends bereits geschlossen, sie sind es, die normalerweise „Sicht verwehr[en]“ (Vers 3): Auslagen verfügen über hohes Ablenkungspotential, die Menschen beschauen Produkte, der Wunsch nach Konsum wird geweckt. Die Menschen verlieren dadurch allerdings das Potential wirklich zu ‚sehen‘, d. h. andere beobachten zu können und einen Einblick in deren Situation zu bekommen. Da sich diese Personen aber nun müde und hungrig im Auto befinden, ändern auch die geschlossenen Läden nichts an der Tatsache, dass sie nicht sehen. Das Ich hingegen scheint sich den ganzen Tag nicht von seinem Fensterplatz und seiner BeobachterInnenrolle wegbewegt zu haben: 1) Es dämmert und die Sonne sinkt über dem Lichtermeer a 2) Und hinter Windschutzscheiben quält sich müde Hunger durch den Schichtverkehr a 3) Die Läden zu, mit denen man die Sicht verwehrt a 4) Ich hab’ genug geseh’n für heut’, jetzt wird es Zeit für Schriftverkehr a 5) Genug für tausend Bücher Stoff vom Fensterbrett b 6) An einem Tag, der so normal ist wie Schnee im März und Gangsta-Rap b 7) Wir fragen nach dem Wetter und ‚Was geht ’n im Container ab? ‘ c 8) Ja, mach doch mal die Augen auf, ich leb’ in ’ner Containerstadt c 9) Nenn mich naiv, wenn ich noch glaub’, was Kinder glauben d 10) Um das Leben zu verstehen, brauch’ ich ein Fenster und zwei Augen d 11) Man sitzt am Schreibtisch voll Papier ohne den Blick nach außen d 12) Und lässt die Politik von der Statistik taufen d 13) Während man das Schicksal vieler Menschen nur in Zahlen misst e 14) Erzählen Fenster dir vom Leben, wie es wirklich ist e 15) Wer wissen will, warum und wie, schaut zu und fragt nicht e’ 16) Man muss doch kein Prophet sein für das bisschen Klarsicht. e’ Nach den einleitenden Versen zu den anderen Menschen im Abendverkehr (Verse 1-3) ist die dritte Strophe selbstreflexiven Angaben gewidmet: Das Ich räsoniert über seine Tätigkeit, geht (mittels einer Paronomasie) von der Beobachtung des „Schichtverkehr[s]“ (Vers 2) zum „Schriftverkehr“ (Vers 4) über: Durch die Beobachtung findet das Ich „für tausend Bücher Stoff“ (Vers 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 254 5) „[a]n einem Tag, der so normal ist wie Schnee im März und Gangsta-Rap“ (Vers 6). Jeder normale Tag bietet also genügend Dramen, Geschichten, erzählbare Ereignisse, um damit Bücher zu füllen. Interessant dabei sind die beiden Vergleichsobjekte für einen ‚normalen‘ Tag. Schnee im März wird mit Gangsta-Rap gleichgesetzt: Durch den Vergleich mit einem Naturphänomen (das im deutschsprachigen Raum klimabedingt tatsächlich als ‚normal‘ eingestuft werden kann) wird auch der Gangsta-Rap als Kulturprodukt naturalisiert. Das Ich beklagt sich über die Themen von Alltagsgesprächen wie das Wetter oder Vorgänge im Fernsehen: Mit der Frage „Was geht’n im Container ab? “ (Vers 7) zielt das Ich wohl auf die international verbreitete Fernsehshow Big Brother ab, die in Deutschland seit dem Jahr 2000 in mehreren Staffeln ausgestrahlt wurde und in der Menschen in von Fernsehstudios gebauten Containern wochenlang leben und von Fernsehkameras dabei gefilmt werden. Der ‚Reiz‘ des als Realityshow bekannten Formats liegt darin, Menschen im (vermeintlich) täglichen Leben beobachten zu können. Das Ich weist allerdings darauf hin, selbst in einer „Containerstadt“ (Vers 8) zu leben, was einerseits auf die Tätigkeit des Beobachtens des Ich verweist (durch die Fenster hindurch), sowie auch darauf, dass es die im Fernsehen zu beobachtenden ‚Dramen/ Geschichten‘ auch im ‚wirklichen‘ Leben gibt, man hier aber seine Aufmerksamkeit gezielter einsetzen muss, um diese auch wahrzunehmen. Das Ich möchte m. E. die Leute damit nicht gemäß dem Fernsehformat zu einem undifferenzierten, sensationsheischenden Voyeurismus aufrufen, sondern zur gezielten Beobachtung, die einer Aufmerksamkeit im Sinne einer Solidarität zwischen den Menschen dienen soll. Nur wenn ich auf Probleme aufmerksam werde, kann ich etwas dagegen tun. Deshalb möchte sich das Ich auch von den PolitikerInnen-Reden (Verse 12 und 13) entfernen, die seiner Meinung nach Menschen nur mehr als Zahlen in Statistiken erfassen, aber mit den Menschen in ihrem ‚richtigen‘ Leben nichts mehr zu tun haben. Die persönliche Wahrnehmung als Zeugenschaft wird der Politik entgegengestellt. Der vorletzte Vers des Liedes zeigt allerdings die problematische Seite des Vorhabens des Ich: „Wer wissen will, warum und wie, schaut zu und fragt nicht“ (Vers 15). Obwohl durch die ostentativen Hinweise auf die Sinneswahrnehmung des Sehens Nähe zu den Menschen suggeriert wird, wird eine Subjekt-Objekt-Beziehung aufgebaut, die vom Ich nicht reflektiert wird. Dezidiert wendet sich das Ich vom Fragen ab. Obwohl das Ich sich der eigenen Wahrnehmungsdisposition (durch das ‚Fenster‘) bewusst ist, nimmt es keinen Kontakt zu diesen Menschen auf. Es betrachtet die Menschen als ‚Stoff‘, der in Büchern/ Geschichten Verarbeitung findet. Auch in diesem Verfahren bleiben die Menschen ähnlich dem Vorgehen der PolitikerInnen Objekte, über deren Geschichten verfügt wird. Nach der zweiten Strophe wird dem Refrain das Sample einer männlichen Stimme hinzugefügt, das die Problematik verdeutlicht: 7.2 Textanalysen 255 Ich kenn’ meine Umgebung und seh’ sie jeden Tag Seh’ die Leute, die Menschen, ihre Gesichter (2x). Gerade dieser aus seinem Kontext gerissene Satz, der vom Tonfall an eine PolitikerInnenstimme erinnert, macht deutlich, was das Ich im Text vorführt: Es eignet sich im Sample die Aussage eines Ich über seine subjektive Sinneswahrnehmung an, wobei die Aussage keine lokal- oder temporaldeiktischen Angaben enthält. Dementsprechend wird die Aussage zwar wiederholbar und in vielen Situationen anwendbar, was aber dazu führt, dass das ‚Betroffenheitskapital‘ der Zeugenschaft verloren geht, weil über die Beliebigkeit der Bezug zu den Menschen verloren geht, die ein ‚Thema‘ werden. Weder sind ihre Stimmen zu hören, noch werden sie direkt als Subjekte apostrophiert. Das Anliegen des Ich, die anderen zu beobachten und wahrzunehmen, scheint durchaus beachtenswert, es stellt sich nur die Gefahr, wiederum den Bezug zu den Objekten zu verlieren und das ‚Sprechen-über‘ oder ‚Sprechenfür‘ tatsächlich zur bio-piracy werden zu lassen. Das Lied diagnostiziert zwar gesellschaftliche Probleme (wie jene der Unaufmerksamkeit und der Meinungsmanipulation durch die Medien), kommt aber nicht darüber hinaus. Es verleiht seinen Objekten keine eigene Stimme und hält es auch nicht für notwendig, dies zu tun, indem es sich weigert, Fragen zu stellen. Da sich im gesamten Lied keine temporalen wie lokalen Angaben in Bezug auf eine außersprachliche ‚Realität‘ finden, bleibt das Ich als idem im Dunkeln. Es gilt lediglich zu erfahren, dass es eine schreibende Tätigkeit ausführt, was zu einer Verbindung zum Ich vor dem Text führt. Zudem werden über die geübten Kritiken auch Einstellungen, Haltungen und Werte des Ich deutlich. Die Verbindung ergibt sich aber weniger aufgrund narrativer Einrahmungen, da die Situation des Am-Fenster-Sitzens ohne Individualisierung auskommt. Es steht die Position des Ich als ipse, als ErzählerIn, im Vordergrund. Das Ich gibt über die größten Teile des Liedes hinweg ein Wahrnehmungsdispositiv vor, das sich RezipientInnen aneignen können. In der Forderung nach Aufmerksamkeit und Beobachtung legt das Ich allerdings Wert auf die ethischen Implikationen dieser Position: Zu sehen bedeutet Verantwortung des Ich (als ipse) - auch wenn diese nicht in vollem Maße übernommen wird, wie oben deutlich geworden ist. Genau dieser Aspekt des Fragens wird im Rap Frag nicht (Py 14) von Pyranja aufgegriffen, wiewohl der Titel zunächst Gegenteiliges suggeriert. Die negierte Imperativform bringt zum einen ein Verbot zum Ausdruck, hinter dem ein Tabu stecken könnte, an das nicht gerührt werden darf. Informationen sollen zurückgehalten werden. Zum anderen wird dieser Satz umgangssprachlich des Öfteren eingesetzt, um unangenehmen oder komplizierten Antworten auszuweichen. Er verweist dergestalt auf eine Bequemlichkeit der am Gespräch Beteiligten hin, ein ‚Problem‘ nicht näher erörtern zu wollen. Auf diese 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 256 Weise verweist der Titel auf zwei thematische Aspekte des Liedes: den des Unausgesprochenen wie auch jenen der Bequemlichkeit. Das Lied setzt zunächst mit dem acht Verse umfassenden Refrain ein, es folgen drei Strophen, wobei die ersten beiden 16 Verse beinhalten, während die dritte als verkürzte Strophe nur mehr zehn Verse enthält: 1) Refrain: Frag nicht mich / ich frag’ dich / warum bin ich für dich wichtig? a/ a/ b 2) Du siehst mein Gesicht / im Blitzlicht / und alles, was ich sag’, ist richtig? a/ a/ b 3) Frag nicht mich / ich frag’ dich / woher nimmst du deine Meinung? a/ a/ c 4) Glaubst du alles, was du liest? / Glaubst du alles aus der Zeitung? a’/ c 5) Es gibt so viele die / genau das Gleiche spür’n! a’/ d 6) Doch keiner sieht sie / keiner hört sie / keiner ahnt, was sie so fühl’n! a’/ a’/ d 7) Frag nicht mich / frag dich selbst, wer im Spiegel vor dir steht a/ e 8) Denn ich weiß, Augen reichen oft nicht aus, um wirklich was zu seh’n! (Py 14). e Der Refrain ist paar- und endgereimt, wobei die ersten sieben Verse durch die Reime resp. Assonanzen (a) und (a’) im Versinneren miteinander verbunden sind. Die multiple Verwendung der Vokale [i], [ı] resp. [i ] in den Versen des Refrains formt diesen Liedabschnitt zu einer Einheit: In den 95 Wörtern des Refrains finden sich diese Laute 41 Mal. Die hellen, hohen Vokale vermitteln einen schrillen Eindruck, Aufmerksamkeit soll geweckt werden. Der Refrain bringt dergestalt eine gewisse Eindringlichkeit der Anliegen des sprechenden Ich zum Ausdruck. Der erste Vers des Refrains präzisiert dabei den Titel, indem er dem generellen Frageverbot ein Akkusativobjekt hinzufügt: „Frag nicht mich“. Es geht also nicht darum, generelles Fragen zu verbieten. Anliegen des Ich stellt vielmehr eine Diskussion darüber dar, wer gefragt werden soll. Das Ich adressiert dabei ein Du, das offensichtlich im Begriff war, dem Ich Fragen zu stellen. Grund dafür scheint die Tatsache zu sein, dass das Ich eine in der Öffentlichkeit präsente Person darstellt: „Du siehst mein Gesicht im Blitzlicht und alles, was ich sag’, ist richtig? “ (Vers 2). Das Ich kritisiert also jene Menschen, die unreflektiert Meinungen von populären Personen (oder Medien) übernehmen, ohne selbst nachdenken zu wollen. Zudem wird seitens des Ich Kritik am ‚Wahrheitsgehalt‘ der in den Medien publizierten Inhalte geübt. Das Ich weist das Du darauf hin, sich in der Meinungsbildung nicht an sogenannten Spin-Doktoren (MeinungsbildnerInnen) zu orientieren, da es viele Menschen gibt, die eine Meinung zu unterschiedlichen Gegenständen haben, jedoch nicht gesehen, nicht gehört werden (Vers 6). Da das Ich diese dritten Personen außerhalb der ‚unmittelbaren‘ Kommunikationssitua- 7.2 Textanalysen 257 tion mit dem Du nur über die Personalpronomen der dritten Person Plural („sie“, Vers 6) anspricht, lässt es bewusst konkrete referentielle Bezüge offen. Schließlich handelt es sich bei diesen Personen um Unbekannte. Ohne es direkt auszusprechen, nimmt das Ich in den Versen 5 und 6 des Refrains das Thema der drei Strophen voraus: Es geht darum, den von der öffentlichen Wahrnehmung Ausgeschlossenen Gehör zu schenken, d. h. es genügt nicht zu sehen (zu beobachten), sondern es soll tatsächlicher Kontakt zu diesen Personen hergestellt werden: „Denn ich weiß, Augen reichen oft nicht aus, um wirklich was zu seh’n“ (Vers 8). Während das Ich in Klarsicht also davon ausgeht, dass Beobachtung und die weiterführende literarische Verarbeitung als Engagement ausreichen, so weist das Ich in Frag nicht dezidiert darauf hin, dass das Gespräch von größter Wichtigkeit ist. Es ist Anliegen des Ich, das Du zu animieren, nicht nur zu beobachten und Dritt- Meinungen einzuholen, sondern selbst Fragen zu stellen. Schließlich fragt das Ich: „Woher nimmst du deine Meinung? “ (Vers 3). Es soll also nicht nur passiv den Medien oder Stars geglaubt werden, sondern selbst Kontakt aufgenommen werden zu anderen Menschen, die eine Geschichte zu erzählen haben. Jede Person ist selbst dafür verantwortlich, eine eigene Meinung auszubilden: „Frag nicht mich! Frag dich selbst, wer im Spiegel vor dir steht! “ (Vers 7). Also nicht andere Personen (oder Medien) können die eigenen Meinungen, Einstellungen vorgeben, es gilt, sich selbst mit sich und anderen auseinander zu setzen. Das ganze Lied stellt nunmehr eine Auflistung jener Personen dar, die es nach ihrer Geschichte zu fragen gilt. Dazu beginnen insbesondere in Strophe 1 und 3 die meisten Verse anaphorisch mit dem Imperativ „Frag […]“! In manchen Fällen findet innerhalb der Verse eine Verdopplung dieser Struktur statt, indem nach der Zäsur wiederum ein Satz mit „Frag! “ begonnen wird. Lediglich in wenigen Versen wird das Schema aufgebrochen, indem syntaktisch der vorangehende Vers weitergeführt wird, z. B. in den Versen 7 und 10 der ersten Strophe. Der letzte Vers der ersten Strophe stellt einen Aussagesatz dar (auf den später noch näher einzugehen ist): 1) Frag nicht mich, frag all die ander’n / die aus eigenen Kräften handeln a/ a 2) Frag Verlass’ne und Verdammte und wie sie ihren Hafen fand’n b 3) Frag die Glücklichen und Kranken / frag verrückte Tanten b/ b 4) Frag mal Schwangere und Hebammen, frag die Mütter ohne Väter c 5) Frag nach Theorie und Praxis, und was jeder dann erlebt hat! c 6) Frag nicht mich, frag meine Mum, warum sie weniger verdient d 7) Als der Typ von gegenüber, der das Gleiche macht wie sie d 8) Frag Karrierefrauen und Mauerblümchen / Opfer zwischen Lines und Tüten e/ e 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 258 9) Frag Verliebte, Ungeübte / Profis, Pussis, Abgebrühte e/ e 10) Dicke, Dünne, Junge, Alte, Schöne / Witwen, Barbies, Tippsen f 11) Frag nach Witzen / und Werten / Kompromissen / und deren Scherben f/ g/ f/ g 12) Frag die dünnen, grauen Haare / frag die Falten, frag die Adern h/ h 13) Frag die Barfrau, ob sie’s mag / wenn jeder Typ ihren Arsch anstarrt i/ i 14) Und frag nach bei Allah, wie er auf’s Schleiertragen kam j 15) Frag nicht mich, Mann / ich verzichte da auf Hochglanzblattberichte j/ k 16) Jede Frau, die du triffst, kann Bücher füllen mit ihren Geschichten / - frag sie! k Die erste wie auch die zweite Strophe wiederholen zu Beginn das Frageverbot an das Ich: „Frag nicht mich! “ Anstelle des Ich wird nun eine Vielzahl anderer Personen aufgelistet, in Gruppen eingeteilt nach verschiedensten Kriterien: Nach Alter, Aussehen, persönlicher Befindlichkeit, Lebenssituation, Berufssparte. In den meisten Fällen werden keine einzelnen Personen direkt genannt, wobei es zwei Ausnahmen gibt. Die eine stellt die Mutter des Ich (Vers 6), die andere Allah (Vers 14) dar. In zwei Versen (5 und 11) gilt es auch (unbestimmte Personen) nach abstrakten Begriffen zu fragen, die in Gesellschaften einer Klärung und Aushandlung bedürfen: Theorie, Praxis, Werte, Witze, Kompromisse und deren „Scherben“ (als metaphorischer Begriff für negative Konsequenzen von ‚schlechten‘ Kompromissen, Vers 11). In Vers 12 soll das Du Körperteile (dünne, graue Haare, Falten, Adern) befragen: Hier wird ein metonymischer Konnex zwischen Körperteilen und den damit in Zusammenhang stehenden Subjekten aufgebaut. Indem Körperteile apostrophiert werden, werden über die Apostrophe die dahinterstehenden Subjekte als Menschen mit einer Geschichte gesetzt: Falten, graue Haare und hervortretende Adern stellen körperliche Verschleißerscheinungen dar und weisen damit auf ältere Menschen hin, die bereits ‚etwas erlebt haben‘. Die zu erzählenden Geschichten legen damit einerseits ihren immanent zeitlichen wie auch ihren körperlichen Aspekt offen, die Historie manifestiert sich in den sich stets verändernden Körpern - auch der menschliche Körper ist Träger einer Geschichte. Der Mensch wird also in diesem Rap als homo narrans gezeichnet, indem er die Erzählung braucht, um sich selbst (auch in der Differenz zu anderen) zu setzen. Müller-Funk führt in diesem Zusammenhang aus: Die Erzählung berichtet vom Verhältnis des einzelnen und kollektiven Subjekts zu sich selbst und zu anderen, bringt den Gegensatz von Identität und Differenz, von Innen und Außen, von Eigenem und Fremdem zum Austrag […]. Erzählen ist seiner Genese nach in einen kommunikativen Rahmen eingespannt, der nicht-monologisch ist […]. Jeder hat etwas zu erzählen und er- 7.2 Textanalysen 259 hebt - entgegen elitärer Diskursmonopole - Anspruch darauf, dies zu tun. So führt die Kulturtechnik des Erzählens zu einer Vereinheitlichung der Kompetenz und der Regulierung des Sozialen. 721 Wie das Lied Frag nicht zeigt, haben zwar alle etwas zu erzählen, aber nicht jede/ r wird aufgerufen zu erzählen. Das Lied scheint also auf Spivaks berühmte Frage ‚Can the subaltern speak? ‘ 722 dahingehend eine Antwort zu finden, als ein Du aufgerufen wird, diese Personen, denen es bis dato nicht möglich war, zu sprechen und auch gehört zu werden, anzusprechen, ihnen damit Subjektstatus zu verleihen und sie ihrerseits zum Sprechen zu animieren. Eine Frage zu stellen bedeutet schließlich aktives Engagement von Seiten der/ s Fragenden. In der ersten Strophe ist innerhalb der Menge an aufgelisteten Personengruppen ein Fokus auf Frauen (und ihre untergeordnete Position in der Gesellschaft) zu bemerken: Vers 3: Frag mal Schwangere und Hebammen, frag die Mütter ohne Väter Vers 6: Frag meine Mum, warum sie weniger verdient […] Vers 8: Frag Karrierefrauen, Mauerblümchen […] Vers 13: Frag die Barfrau, ob […] Vers 14: Frag nach bei Allah, wie er auf’s Schleiertragen kam Vers 16: Jede Frau, die du triffst, kann Bücher füllen mit ihren Geschichten In diesen Versen werden gezielt Probleme und Angelegenheiten von Frauen in der Gesellschaft angesprochen (allein erziehende Mütter, geringerer Verdienst bei gleicher Arbeit, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Kopftuch bei muslimischen Frauen). Schließlich stellen Frauen eine der Gruppen in der Gesellschaft dar, die traditionell nicht aufgefordert werden zu sprechen, um ihre Anliegen einer Öffentlichkeit präsentieren zu können. Insbesondere im letzten Vers wird also in Form eines Abschlussstatements darauf verwiesen, dass alle Frauen, denen nun die Möglichkeit geboten wird zu sprechen, viel zu erzählen haben. Auch in der zweiten, syntaktisch ähnlich gebauten Strophe 723 wird dieser Fokus wieder aufgegriffen, wiewohl es wiederum nicht nur Frauen sind, die aufgelistet werden. In der Liste der zu adressierenden Personen findet sich in Strophe 2 eine Besonderheit, in der das ansonsten ‚leere‘ Du spezifiziert wird: Im Gegensatz zur sonst üblichen Imperativstruktur, die von einem Nebensatz 721 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 66f. 722 Gayatri C. Spivak: Can the Subaltern Speak? In: Bill Ashcroft, Gareth Griffiths und Helen Tiffin (Hrsg.): The Post-Colonial Studies Reader. London/ New York 1997 [1995], S. 24-28. 723 Da sich die Strophen in Aufbau und Ablauf tatsächlich sehr ähneln, wird die zweite Strophe hier nicht in voller Länge wiedergegeben. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 260 begleitet wird, gibt es in Vers 7 der zweiten Strophe einen konstativen Satz, auf den in Vers 8 ein imperativischer Satz folgt: „In manchen Ländern schneiden Messer kleinen Girls den Kitzler ab / Priestermann der Tradition, erklär mir das mit deinem Verstand“. Hier wird der Priester direkt adressiert, den Umstand der Genitalverstümmelung zu erklären. Das Ich greift die innerhalb der christlichen Religion oft diskutierte Theodizee-Frage auf, nach der Gott sich für die Existenz des Üblen in der Welt, die in Widerspruch zu seiner Allmacht zu stehen scheint, zu rechtfertigen hat. In den beiden Versen wird nun der Priester als Stellvertreter Gottes auf Erden angesprochen, diese Aporie im Erscheinungsbild Gottes (zwischen Allmacht und dem Bösen auf Erden) zu erklären. Es bleibt unverständlich, dass solche Dinge überhaupt im Bereich des Möglichen liegen (sollte es einen Gott geben). Das Ich greift damit erstmals einen christlich-religiösen Kontext auf, der in der dritten Strophe nochmals Verstärkung findet. In den letzten beiden Versen der zweiten Strophe zeigt sich das Ich als ipse in seiner Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Mitmenschen: „Ich renne nicht davon, ich weiß, dass sich die Erde weiterdreht / Doch geb’ mein Herz an alle, die mit mehr als ihren Augen seh’n“. Wie das Ich in den vorangegangenen Versen ein Du aufforderte, sich die Geschichten der ‚subalternen‘ anderen anzuhören, so gibt es für sich selbst mittels einer verblassten Metapher an, nicht „wegzurennen“, d. h. sich nicht der Verantwortung zu entziehen, da sich „die Erde weiterdreht“ und Probleme sich nicht auflösen, wenn sie nicht besprochen werden. Das Ich solidarisiert sich im letzten Vers mit jenen, die, ähnlich wie es selbst, anderen zuhören und Aufmerksamkeit schenken: Dafür stellt es einen intertextuellen Bezug zum bekannten Ausspruch aus Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry her, wo es heißt: „[M]an sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ 724 Dieser intertextuelle Bezug verdeutlich die ethischen Implikationen des Handelns des Ich: Es geht nicht nur darum, andere Menschen zum Sprechen zu bringen, ihnen zuzuhören, sondern auch um Empathie: Es gilt, sich mittels der Aussprache der Probleme bewusst zu werden und möglichst auch handelnd weiter zu wirken. Die dritte und letzte Strophe schließlich lässt sich in zwei Teile gliedern: Die ersten sechs der zehn Verse greifen das Schema der beiden anderen Strophen auf, indem in ihnen ein Du adressiert wird. Die letzten vier Verse allerdings stellen einen selbstreflexiven Abschnitt dar, in dem das Ich über seine eigene Tätigkeit reflektiert. Die zehn Verse sind paargereimt, allerdings erhöht die Positionierung von Binnenreimen in fünf von zehn Versen zusätzlich das Erzähltempo: 724 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. Zürich 1991, S. 72. 7.2 Textanalysen 261 1) Frag Verurteilte und Täter / frag das Parlament, die Wähler a/ a 2) Frag auf Gipfeln und in Tälern / frag die Zuhörer und Redner! a/ a 3) Frag den Papst, United Nations, frag die Kirche mit ihren Räten b 4) Und geh beichten, anstatt scheinheilig sonntags um zehn zu beten! b 5) Frag in Führungsetagen / wie sie Ausgaben sparen (und) c/ c 6) Frag in Medienlandschaften / nach der Quotenvergabe c/ c 7) Ich will nicht Totes begraben / ich will Lebendige wecken (und) c/ d 8) Ich könnt’ wetten / dass sich manche freuen und andere erschrecken d/ d 9) Doch mir egal, wenn alle meinen, ich wär’ für Rap zu realistisch, (Mann) e 10) Ich sag’ nix als die Wahrheit, und dieser Track hier ist mir wichtig! e Refrain. Die ersten sechs Verse (mit Ausnahme des vierten Verses) beginnen wiederum anaphorisch mit der Imperativform „Frag […]! “ Nun wird ein immanent politischer Kontext eröffnet, indem in der Öffentlichkeit (politisch) aktive Personen und Institutionen genannt werden: Kriminelle, das Parlament, die WählerInnen, RednerInnen, der Papst, die Vereinten Nationen, die Kirche und ihre Funktionäre, die ManagerInnen wie auch MedienvertreterInnen. Einzige Ausnahme stellt die erste Hälfte des zweiten Verses dar: „Frag auf Gipfeln und in Tälern! “ Die Verwendung des Wortes „Gipfel[…]“ (Vers 2) stellt hier eine Form der Metalepsis dar, denn das Wort wird sowohl in seiner metaphorischen Bedeutung (in Bezug auf den ersten Vers und die zweite Hälfte des zweiten Verses) als politischer Gipfel eingesetzt wie auch in seiner wörtlichen Bedeutung als Berggipfel: Mit der Doppelcodierung erreicht das Ich einerseits einen komischen Effekt durch die unerwartete Anspielung auf die Natur, andererseits können zwei Sinnelemente kombiniert werden, die Politik sowie die geographische Dimension. Es können überall Fragen (oben auf den Gipfeln, unten in den Tälern sowie auch dazwischen) gestellt werden, dies betrifft die Elite (den Gipfel), wie auch die ‚einfachen‘ Leute (auf der hierarchischen Leiter ganz unten), die vom ‚Elfenbeinturm‘ abgeschottet ihr Dasein fristen. Die Besonderheit des ersten Blocks der dritten Strophe stellt allerdings der vierte Vers dar: „Und geh beichten, anstatt scheinheilig sonntags um zehn zu beten! “ Mit diesem Vers (und dem vorherigen) nimmt das Ich den christlichreligiösen Kontext wieder auf, auf den es schon in der zweiten Strophe rekurriert war. Welche Auswirkungen hat diese Aufforderung auf die Position des Ich im Text? Zunächst scheint das Ich, das das Du zur Kommunikation mit anderen aufruft, Autorität abzugeben: „Frag nicht mich, frag die Frau […]“. Allerdings impliziert dieser mit einer Verweigerung verbundene Aufruf, dass das Du im 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 262 Begriffe war, diesen Fehler zu begehen, das Ich zu fragen und nicht die anderen Personen. Das Du im Lied wird (mit der einen oben erwähnten Ausnahme) 725 nicht näher spezifiziert, nicht mittels narrativer Einrahmungen als idem gekennzeichnet, abgesehen von der Tatsache, dass es das Ich als öffentliche Person zu kennen scheint. Das Du tritt also als implizierte/ r HörerIn auf, wobei das Personalpronomen ‚du‘ als Leerdeixis eingesetzt wird. Dem Aufruf, den anderen Menschen (wie Verlassenen, Verdammten, Opfern, Verliebten, Omas, Verurteilten, Tätern, dem Papst, den Vereinten Nationen, Barfrauen usw.) Aufmerksamkeit zu zollen, ist ein Vorwurf inhärent, dies bis jetzt nicht getan zu haben. Das Du wird in der Anrede als schuldhafte Person angesprochen. Indem das Du auf den Anruf des Ich reagiert, übernimmt es diese Schuld. Der Preis der Subjektbildung des Du mittels der Apostrophe durch das Ich ist die Übernahme von Schuld. Warum aber sollte ein Du auf das Ich hören? Warum sollte es sich dem Ich zuwenden, das es als schuldhaftes anspricht? Butler konstatiert in Zusammenhang mit der Subjektbildung: Das Subjekt ist genötigt, nach Anerkennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu trachten, die es nicht selbst hervorgebracht hat, und damit sucht es das Zeichen seiner eigenen Existenz außerhalb seiner selbst - in einem Diskurs, der zugleich dominant und indifferent ist. Soziale Kategorien bezeichnen zugleich Unterordnung und Existenz. Anders gesagt: im Rahmen der Subjektivation ist Unterordnung der Preis der Existenz. 726 Diese Diskurse, innerhalb derer sich das Ich und das Du positionieren müssen, um überhaupt zu einem Ich werden zu können, werden schließlich als Normen in Form des ‚Gewissens‘ übernommen: Das Gewissen lässt sich nicht als Selbstbeschränkung begreifen, wenn diese Beziehung als vorgegebene Reflexivität ausgelegt wird, als Rückwendung gegen sich selbst, ausgeführt von einem Subjekt, das schon fix und fertig da ist. Es bezeichnet vielmehr eine Art der Rückwendung - eine Reflexivität -, die erst die Möglichkeitsbedingung der Subjektbildung ausmacht. Die Reflexivität wird konstituiert durch diesen Moment des Gewissens, durch diese Rückwendung gegen sich selbst, die sich zugleich mit einer Hinwendung zum Gesetz vollzieht. Diese Selbstbeschränkung verinnerlicht kein äußeres Gesetz […]. Vielmehr geht diese Selbstbeschränkung dem Subjekt vorher. […]. Das Gewissen ist grundlegend für Hervorbringung und Reglementierung des Bürgersubjektes, denn das Gewissen wendet das Individuum um und macht es der subjektivierenden Maßregelung zugänglich. 727 725 Es gibt im Text nur eine Ausnahme für dieses Postulat des Du als Leerdeixis: „In manchen Ländern schneiden Messer kleinen Girls den Kitzler ab / Priestermann der Tradition, erklär mir das mit deinem Verstand“. In diesem Vers wird ein Priester direkt apostrophiert. 726 Butler, Psyche der Macht (Anm. 274), S. 25. 727 Ebenda, S. 108f. 7.2 Textanalysen 263 Das Subjekt wird also in einem gleichzeitigen Prozess mit seinem Gewissen konstituiert. Im Text von Frag nicht kopiert das Ich diesen Konstitutionsmechanismus des Subjekts als Anrufungsprozess innerhalb eines Normengefüges: Obwohl christlich-kirchliche Normen nur einen (mehr oder minder großen) Anteil unter diesen ausmachen, so rekurriert das Ich eindeutig auf solche, insbesondere indem es das Du aufruft, beichten zu gehen: „[G]eh beichten anstatt scheinheilig sonntags um zehn zu beten! “ (Vers 4). Die Kombination und Häufung der Laute [∫t], [z], [s] und [ts] bringen dabei die Verachtung des Ich gegenüber der ‚Scheinheiligkeit‘ vieler, die zwar in der Kirche beten, aber ihr alltägliches Handeln deshalb nicht ändern, zum Ausdruck. Dieser Aufruf unterscheidet sich als einziger von den unzähligen anderen, welche zum Fragen motivieren sollen. Hier wird das Du als per se schuldhaftes angesprochen, indem das Ich das Du auffordert, seine Schuld in der Beichte - einer zutiefst katholischen Praxis - zuzugeben. Damit wird auch dem Fragen der anderen Personen durch das Du ein moralischer Impetus unterlegt: Es gilt Fragen zu stellen, um Missstände und Ungerechtigkeiten aufzudecken (und in weiterer Folge vielleicht Handlungen zu setzen). Das Ich inthronisiert sich dabei als göttliches Ich, das weiß und die Macht hat, den anderen anzurufen und ihn auch wissend zu machen. Die Ähnlichkeit zu einer göttlichen Instanz zeigt das Ich auch in der Vergabe von Zuneigung an Personen, die dem Aufruf des Ich gehorchen: Ich „geb’ mein Herz an alle, die mit mehr als ihren Augen seh’n! “ (Vers 16, Strophe 2). Das Ich tritt also in erster Linie als ipse auf, als sich seiner ethischen Verantwortung bewusste Instanz, die spricht und über Macht und Wissen verfügt. Die letzten vier Verse der dritten Strophe schließlich umfassen einen selbstreflexiven Abschnitt: „Ich will nicht Totes begraben, ich will Lebendige wecken“ (Vers 7). Mit dieser Gegenüberstellung gegensätzlicher Begriffe (tot / lebendig; begraben / wecken) legt das Ich sein Programm dar: Es will sich nicht mit einer abgeschlossenen und nunmehr verdinglichten Vergangenheit („Totes“) beschäftigen, sondern an ‚Menschen‘ („Lebendige“) und deren Gewissen appellieren aufzuwachen, d. h. ihre ethische Verantwortung wahrzunehmen. Allerdings setzt sich das Ich mit diesem Programm in eine quasi religiöse RetterInnen-Position. Das Ich geht dabei davon aus, dass nicht alle Adressierten gerne auf seine Anrede antworten, d. h. die ihnen zugeschriebene Verantwortung auch übernehmen wollen: „Ich könnt’ wetten, dass sich manche freuen und andere erschrecken“ (Vers 8). Gerade mit dem Appell der vorangegangenen Verse eröffnet das Ich aber die Möglichkeit eines Dialogs mit allen Adressierten, durch den das Ich in seiner Position bestärkt wird. 728 728 Vgl. Dieter Mersch: Präsenz und Ethizität der Stimme. In: Doris Kolesch und Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt am Main 2006, S. 211-236, hier S. 234. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 264 In den letzten beiden Versen ordnet sich das Ich schließlich, sich als RapperIn setzend, als idem in narrative Bezüge ein: „Doch mir egal, wenn alle meinen, ich wär’ für Rap zu realistisch, denn / Ich sag’ nix als die Wahrheit und dieser Track hier ist mir wichtig“. Hier kommt es einerseits zu einer Verbindung des Ich im Text und des Ich vor dem Text, was auf diese Weise die Autorität des Ich als ipse im Text stärkt. Andererseits wird durch die Wahrheitsbeteuerung, welche beinahe dem Wortlaut einer Gerichtssituation entspricht (‚Ich sage nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe‘), Gott als Zeuge angerufen, was wiederum die göttliche Aura des Ich unterstreicht. Interessant bleibt allerdings die Verteidigung des Ich gegenüber dem Vorwurf von „alle[n]“, „für Rap zu realistisch“ (Vers 9) zu sein. Normalerweise gilt Rap ja als ‚authentische Kunst‘ und daher per definitionem als ‚realistisch‘. Das Ich stellt sich als Gegenüber einer Menschenmenge dar, die kein Interesse an Rap hat, welcher von der (offensichtlich unangenehmen) ‚Realität‘ handelt. Dergestalt setzt sich das Ich als RapperIn mit politischem Hintergrund, als ipse mit politischer Verantwortung („Ich renne nicht davon“, Vers 15, Strophe 2), in Abgrenzung von VertreterInnen des Party-Raps. Das Ich positioniert sich also innerhalb der verschiedenen Szenen des Raps; Rap als per se politisches Instrument wird auf diese Weise denaturalisiert. Im Lied gilt es allerdings einen Widerspruch in der Position des Ich festzustellen: Während es im Refrain seit Beginn des Raps die eigene Glaubwürdigkeit in Zweifel zieht („Du siehst mein Gesicht im Blitzlicht und alles, was ich sag’ ist richtig? “, Vers 2, Refrain), so hebt es im weiteren Verlauf des Liedes immer mehr seine ‚göttlichen‘ Eigenschaften hervor: das Wissen um Schuld und Wahrheit („Ich sag’ nix als die Wahrheit“, Vers 10, Strophe 3), die Übernahme absoluter Verantwortung („Ich renne nicht davon“, Vers 15, Strophe 2), die Macht, Lebendige zu wecken (Vers 7, Strophe 3). Dergestalt wird die Glaubwürdigkeit des Ich als ErzählerIn in Zweifel gezogen. Dabei unterstützt allerdings genau dieser Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Ich dessen Programm: Es gilt ja schließlich, mit anderen zu sprechen, deren Geschichten zu hören, ohne einer einzigen (wenn auch mitunter göttlichen) Instanz zu vertrauen. Das Ich nimmt auf diese Weise im eigentlichen Sinne eine anti-religiöse Haltung ein: Während in christlichen Religionen die Wahrheit immer im Wort (der Bibel und damit im Wort Gottes) liegt, entzieht sich das Ich mit diesem offenen Widerspruch zwischen Anfang und Ende des Liedes einem absoluten göttlichen Wahrheitsanspruch: Es geht zwar im Lied darum, die Position des Ich als ipse in seiner ethischen Verantwortlichkeit zu stärken, dabei soll aber diese nicht verabsolutiert werden. Verantwortung kann nicht an Stars oder göttliche Instanzen abgegeben werden. Viele subjektive, persönliche Wahrheiten liegen vielmehr in den Erzählungen der einzelnen - also „[F]rag sie! “ (Refrain). Im Lied wird zudem auf genaue zeitliche wie lokale Angaben in Bezug auf eine außersprachliche Realität verzichtet, was die Forderungen des Ich zeitlos macht: Geschichten und (ungehörte, ungesehene) Menschen wird es immer geben. 7.2 Textanalysen 265 Im Gegensatz zum vermeintlichen Sozialrealismus vom noch später zu behandelnden Mein Block (Si 4) spricht der Titel des Liedes von Manges (feat. Miss Lebrina) von einer Traumwelt (Ma 3). Der Titel verrät zunächst nur, dass es entweder um Träume, Phantasien oder um eine Krise der Realitätsempfindung in Bezug auf die ‚richtige‘ Welt geht. Der Rap besteht aus zwei unterschiedlich langen Strophen: Die erste umfasst 22 Verse, die zweite 17 Verse. Dazwischen liegt der (von Miss Lebrina gesungene) vier Verse beinhaltende Refrain: 1) Ich fahr’ im Bus nach der Arbeit heim a 2) Ich bin ausgelaugt und erschöpft und ja, ich fühl’ mich allein a 3) Es geht mir nicht unbedingt schlecht, aber mein Herz x 4) Fühlt sich bedrängt / und mein Geist ist eingeschränkt b/ b 5) Von den Mauern, die mich umgeben c 6) Ich seh’ in den Gesichtern der Menschen, dass sie es leid sind zu leben c 7) Und so was darf es nicht geben / so was sollte für jeden c/ c 8) Eine Aufforderung sein sich zu erheben c 9) Ich muss mir das wieder und wieder sagen x 10) Weil man sich im täglichen Leben so leicht verfängt d 11) Ich bin abgelenkt d 12) Von den Dingen, die mich umgeben e 13) Ich hab’ meinen Job und ich will auch noch was erleben e 14) Also treff’ ich meine Jungs irgendwo in der Stadt f 15) Es gibt nicht viel zu holen, aber ich bin gut platt f 16) Und das ist gut so, ich will dieser ganzen Szene entflieh’n g 17) Ich seh’ / mich an und weiß, dass nicht ich das bin h/ g 18) Dem ich gegenüber steh’ / während ich mich immer wieder h/ x 19) Um mich selber dreh’ / mich aber dabei nicht seh’ h/ h 20) Mich nicht erkennen kann i 21) Irgendwann geh’ ich dann / doch schlafen i/ x 22) Und morgen fängt das ganze Spiel wieder von vorne an (Ma 3). i In Bezug auf die Reimstruktur weist der Text einige Unregelmäßigkeiten auf: So gibt es zwischen den endgereimten Paaren immer wieder Waisen, die den Erzählfluss unterbrechen, (Verse 3, 9, 18 und 21). Während die Verse 3 und 18 dabei durch ein Enjambement mit den folgenden Versen verbunden werden, vermitteln die Verse 9 und 21 den Eindruck einer strategischen Pause, eines Innehaltens, was über die Verwendung der langen tiefen Vokale [a ] in „sagen“ / „schlafen“ zum Ausdruck gebracht wird. In einigen Fällen gilt es auch Reimketten resp. Binnenreime zu konstatieren. Auf diese wird in den weiteren Ausführungen zu den gegebenen Stellen näher eingegangen. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 266 Das Lied setzt also mit der Beschreibung einer ‚realistischen‘ Situation ein: Ein Ich sitzt müde und ausgelaugt von der Arbeit im Bus nach Hause. Das Ich fühlt sich von einer Enge („von den Mauern, die mich umgeben“, Vers 5) emotional „bedrängt“ so wie gedanklich „eingeschränkt“ (Vers 4): Dieses Gefühl wird vor allem durch den Binnenreim zum Ausdruck gebracht, da die beiden Zustände über den Binnenreim eng verknüpft werden, was eine ‚Drängung‘ des Wortmaterials zur Folge hat. Worin besteht aber diese Enge? Das Ich geht auf das tägliche Leben ein (Verse 10-13), in dem man sich durch Arbeit, Freizeitaktivitäten und viele andere Dinge leicht „verfängt“ (Vers 10), man ist „abgelenkt“ (Vers 11). Diese Ablenkung wird schließlich auch freiwillig gesucht, so z. B. trifft sich das Ich mit Freundinnen/ en, um tanzen zu gehen und zu trinken. „Es gibt nicht viel zu holen“ bei solchen Aktivitäten, aber das Ich ist „gut platt“ (Vers 15), also u. U. betrunken - ein Umstand, der hilft, um „dieser ganzen Szene zu entflieh’n“ (Vers 16). Aber gerade diese Situation ermöglicht es dem Ich, einen Schritt zurückzutreten und sich zu beobachten. Die folgende Passage im Text (Verse 17-20) macht durch die Kombination von Binnen- und Endreimen einen sehr fließenden Eindruck, als würde das Ich tanzen und sich beim Tanzen drehend von außen beobachten: „Ich seh’ mich an und weiß, dass nicht ich das bin / Dem ich gegenüber steh’, während ich mich immer wieder / Um mich selber dreh’, mich dabei aber nicht seh’“. Die Reimwörter „seh’“ / „gegenüber steh’“ / „dreh’“ / „seh’“ bilden einen Kreis, entsprechen also der Struktur der Empfindung des Ich. In den Versen thematisiert das Ich seine Empfindungen als Selbstentfremdung. Es spaltet sich in ein Subjekt und ein Objekt auf, sucht nach Übereinstimmung und findet diese nicht. Grund dafür mag der tägliche Rhythmus aus Arbeit/ Freizeit sein, der keine Zeit für Reflexionen lässt, sondern das Ich wie in der Tanzbewegung in einem ewigen Kreislauf fortreißt. Diese Kreisbewegung hebt das Ich am Ende der ersten Strophe (Verse 20-22) auch deutlich hervor: „Mich nicht erkennen kann / Irgendwann geh’ ich dann doch schlafen / Und morgen fängt das ganze Spiel wieder von vorne an“. Hier wird der Reim (i) am Ende von Vers 21 und in der Mitte von Vers 22 positioniert, was eine Bewegung zum Ausdruck bringt, wobei das ‚irgendwann‘ eine zeitbezogene Beliebigkeit an den Tag legt. Dass „morgen […] das Spiel wieder von vorne“ (Vers 22) anfängt, macht einen zyklisch empfundenen Zeitrhythmus deutlich. Zwischen die Beschreibungen des Alltagstrotts (Verse 1-5 und Verse 10- 22) ist jedoch die zentrale Passage der ersten Strophe (Verse 6-9) eingeflochten, die als Anlass für das Ich gelten kann zu sprechen: „Ich seh’ in den Gesichtern der Menschen, dass sie es leid sind zu leben / Und so was darf es nicht geben / so was sollte für jeden / Eine Aufforderung sein, sich zu erheben / ich muss mir das immer wieder und wieder sagen“. Auch hier wird durch die (Binnen-)Reimstruktur eine Dringlichkeit im Ausdruck erzeugt, die erst mit Vers 9 (und der Waise) gebrochen wird: Das Ich erkennt in den Gesichtern der anderen Menschen, dass sie es leid sind zu leben. Worin genau der 7.2 Textanalysen 267 auslösende Grund dafür besteht, bleibt unausgesprochen. Nahe liegt, dass das Ich den Gesichtern der anderen ähnliche Erfahrungen, wie es sie selbst hat, abliest. Ähnlich dem Ich in Klarsicht ist auch das Ich in Traumwelt ein beobachtendes, es sieht. Wie aber die Rückkehr zur eigenen Welt in den Versen 10 bis 22 zeigt, sieht das Ich in den Gesichtern der anderen vor allem sich selbst (und zugleich nicht sich selbst): Es erkennt einen Ausdruck von Entfremdung. Während das Ich in Klarsicht stets distanzierte/ r BeobachterIn bleibt, fühlt sich das Ich in Traumwelt in die Situation involviert. Diesem Gefühl des kollektiven, bedrängenden Eingeschlossenseins in den eigenen Kreislauf des täglichen Lebens gilt es entgegenzutreten, es gilt sich „zu erheben“ (Vers 8). Das Ich muss sich „wieder und wieder sagen“ (Vers 9), aussteigen zu wollen, aufgrund der Repetitivität des Lebens wird dieses Wissen und das Gefühl des Unwohlseins immer wieder verdrängt (denn man ist „abgelenkt“, Vers 11). Was aber stellt das Ich nun als Lösungsvorschlag in den Raum? Der Refrain nimmt gewissermaßen die Antwort vorweg, die in der zweiten Strophe explizit ausgeführt wird. Er umfasst vier Verse, die paar- und endgereimt sind. Während die ersten beiden Worte von der Stimme des Ich gesprochen werden, wird ab dem Relativsatz gewechselt und Miss Lebrina übernimmt: Refrain: Diese Traumwelt, in der ich mich seh’ a Und der Asphalt, auf dem ich geh’ a Für die Liebe, die mir meine Leute geben b Ich weiß jetzt, ich will leben. b In den ersten beiden Versen stellt das Ich zwei Orte einander gegenüber. Zum einen ist da die „Traumwelt“, als Inbegriff der Auflösung alles Festen, als Welt, in der ein Zugang zur ‚Realität‘ nicht möglich ist. Zum anderen nennt das Ich den „Asphalt“, auf dem es geht: Asphalt als Straßenmaterial weckt Assoziationen zu Kälte, Härte und Artifizialität. Auf diese Weise bilden die beiden Begriffe der ‚Traumwelt‘ und des ‚Asphalts‘ ein Gegensatzpaar, das keines ist: Schließlich hat das Ich den Zugang zur ‚Realität’ durch ein Übermaß an ‚Realität‘ (durch Arbeit, Routine, Freizeitaktivitäten, die ein Vergessen ermöglichen) verloren, weshalb der ‚Asphalt‘ sozusagen als Symbol der Entfremdung zum Symbol der Traumwelt wird. Angesichts dieser Entfremdung stellt sich das Ich die Frage eines ‚Wozu leben? ‘, die in den letzten beiden Versen beantwortet wird: „Für die Liebe, die mir meine Leute geben / Ich weiß jetzt, ich will leben“. Die Liebe der eine Person umgebenden Leute kann also dem Leben Sinn verleihen, das ansonsten nur aus Routinehandlungen besteht, welche die Zeit weitertreiben, ohne das Gefühl eines ewigen Kreislaufs stoppen zu können. Bei der Analyse des Refrains wurde bis jetzt nicht dem Umstand Rechnung getragen, dass inmitten des ersten Satzes ein Wechsel der Stimme erfolgt. Das Thema der Liebe scheint ein naheliegender Anlass zu sein, den 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 268 Refrain von einer weiblich konnotierten Stimme tragen zu lassen: Frauen werden jahrhundertealten Traditionen gemäß als das ‚sanfte‘, emotionale Geschlecht betrachtet. Dergestalt scheint eine weibliche Stimme prädestiniert dazu, eine Botschaft der ‚Liebe‘ zu überbringen: Dieser Einsatz der ‚weiblichen‘ Stimme ruft zwar Geschlechterstereotypen auf, geht aber über ein essentialistisches Konzept von Geschlechtsidentität hinaus, indem sich das Ich die Stimme als eigene aneignet, sich diese (auf fließende, bruchlose Weise mitten im Satz) zu eigen macht: Schließlich gilt es im Refrain nicht, ein zweites Ich zu etablieren, das dem Ich der Strophen antwortet. Auch die Worte des Refrains dienen dazu, das Ich als TrägerIn der Gesamterzählung, als Subjekt, zu setzen. Das Sample der weiblichen Stimme zeigt dabei die Brüchigkeit und Konstruiertheit dieser Verbindung zwischen Stimme und Ich. Das im Refrain angesprochene Konzept der Liebe wird schließlich vom Ich in der zweiten Strophe näher ausgeführt: 1) Ich steh’ immer noch neben mir am nächsten Morgen a 2) Anstatt mich meines Lebens zu freuen, mach’ ich mir Sorgen a 3) Und ich fühl’ mich geborgen / in meinem Bett a/ x 4) Deswegen bleib’ ich erst mal liegen b 5) Der Trick dabei ist, sich selber zu besiegen b 6) Während ich da lieg’ am Überlegen / denk’ ich an meine Leute c/ x 7) Die wahrscheinlich dasselbe durchleben c 8) Es ist gut zu wissen, dass man nicht allein ist d 9) Und es ist gut, weil ich jetzt weiß, dass mir diese Trauer wichtig ist d 10) Ich fang’ an mit mir zu reden, wie mit jemand, dem ich Mut machen will e 11) Und genau das ist, was ich will e 12) Ich merk’, in meinem Herzen ist es etwas kühl f 13) Und irgendwo in mir ist diese Liebe, die ich fühl’ f 14) Deswegen werd’ ich suchen, bis ich sie gefunden hab’ g 15) Und ich werd’ so lange warten, bis sie ihren Schmerz überwunden hat g 16) Dann werd’ ich sie fragen, ob sie mir helfen kann h 17) Ob sie mich führt und mir zeigt, wie man leben kann h Refrain. Die zweite Strophe zeigt sich reimtechnisch gesehen regelmäßiger als die erste. Dies könnte als Signal dahingehend verstanden werden, dass Ruhe einkehrt. Die sich im Kreis bewegende Rastlosigkeit kann gestoppt werden. Ganz zu Beginn der Strophe sieht die Situation noch anders aus: Zwischen den ersten drei Versen wird über den Reim (a) eine Verbindung hergestellt, wobei die ersten beiden durch einen Endreim („Morgen“ / „Sorgen“) verbunden werden, der wiederum im dritten Vers („geborgen“) mit einem Binnen- 7.2 Textanalysen 269 reim korrespondiert. Der dritte Vers stellt dann aber eine Waise dar, bricht also den Rhythmus der vorangegangenen Verse. Diese Situation spiegelt den Inhalt der Verse wider: Um diesen zum Ausdruck zu bringen und einen Bezug zur ersten Strophe herzustellen bedient sich das Ich einer alltagssprachlichen Wendung: „Ich steh’ immer noch neben mir am nächsten Morgen“ (Vers 1). Dieser Vers ist aufgrund mehrerer Merkmale auffällig. Zum einen weist er eine markierte Wortstellung auf. Die Temporalangabe ‚am nächsten Morgen‘ ist im Gegensatz zur standardsprachlichen Syntax nachgestellt, was einen Bruch der Ruhe und Ordnung deutlich werden lässt. Zudem spielt das Ich in Form einer Art Metalepsis mit der Bedeutung der alltagssprachlichen Wendung des ‚Neben-sich-Stehens‘: ‚Neben sich zu stehen‘ meint im eigentlichen Sinne als verblasste Metapher den Überblick, die Kontrolle über sich, seine Handlungen und Sprache verloren zu haben. Das Ich im Text holt die Metapher in Verbindung zur ersten Strophe wieder auf ihre eigentliche Bedeutung zurück: Jemand steht tatsächlich neben sich, tritt aus sich heraus und beobachtet sich. Das Ich spielt also auf das Bild der ersten Strophe der Subjekt/ Objekt-Spaltung des Ich an. Diese Spaltung und mit ihr das Gefühl der Entfremdung ist - wie im letzten Vers der ersten Strophe angedeutet - am nächsten Morgen nicht aufgehoben. Es gibt immer noch Grund zur Sorge. Geborgenheit bietet nur das heimische Bett, in dem nun nachgedacht werden kann. Das Ziel dieser Gedanken wird ebenfalls über die Reimstruktur markiert: Dergestalt wird zwischen den Versen 6 und 7 ein Reim gesetzt („Überlegen“ / „durchleben“), allerdings mit einem Wort innerhalb des Verses 6 und dem letzten Wort des siebten Verses. Vers 6 hingegen stellt eine Waise dar, bricht also wiederum den Fluss der Strophe: Betont werden dadurch die „Leute“, an die das Ich denkt. Diese durchleben nach Meinung des Ich dieselben Situationen und Gefühle. Es gilt also, sich dessen eingedenk zu sein, nicht allein (mit seinen Gedanken und Problemen) zu sein (Vers 8). Diese Erkenntnis bringt das Ich über die anaphorische Konstruktion der Verse 8 und 9 zum Ausdruck: „Es ist gut […]“. Vers 9 („Und es ist gut, dass mir diese Trauer wichtig ist“) wirft allerdings die Fragen auf, worauf das Demonstrativpronomen „diese“ zu beziehen ist resp. welche Trauer hier überhaupt gemeint ist. Meines Erachtens nach liegt diese Trauer in der Erfahrung des Ich, trotz der gemeinsamen Erfahrungen (von sich selbst) und den anderen getrennt zu sein. Oben wurde darauf hingewiesen, dass das Ich in den anderen sich (in seiner Entfremdung) erkennt: Es sieht also in die Gesichter der anderen wie in einen Spiegel und es erkennt, um es mit Agamben auszudrücken - sein species-Sein: Das Bild ist ein Sein, das seinem Wesen nach Aussehen, Sichtbarkeit oder Schein ist. ‚Speziell‘ wird hier ein Sein genannt, dessen Wesen mit seinem Sich-sehen-Lassen, mit seiner species, seinem äußeren Schein, zusammenfällt. […]. Der Spiegel ist der Ort, an dem uns klar wird, dass wir ein Bild haben, und zugleich, dass dieses von uns getrennt werden kann, dass unsere ‚species‘ 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 270 oder imago uns nicht gehört. Zwischen dem Wahrnehmen des Bildes und der Tatsache, dass man sich darin erkennt, liegt eine Pause, welche die mittelalterlichen Dichter Liebe nannten. Der Spiegel des Narziss ist in diesem Sinn die grausame Erfahrung, dass das Bild unser Bild ist und nicht ist. 729 Über das species-Sein, die reine Mitteilbarkeit des Scheins, wird das Individuum nicht speziell im Sinne von besonders, sondern es wird allen ähnlich: Genau diese Ähnlichkeit erkennt das Ich im Lied. Sie ist es, die schließlich auch die Liebe ermöglicht, da man sich selbst - in der Pause zwischen Sehen und Erkennen - und damit auch alle anderen als (mögliches) Objekt der Liebe erkennt. Dementsprechend führt die Erfahrung der Insubstantialität des eigenen Seins, der Trennung von sich selbst wie auch von den anderen einerseits zu Trauer (wie in Strophe 1), andererseits zeitigt diese Erkenntnis die Möglichkeit der Liebe (als den einzigen Weg aus dieser Einsamkeit). Während das Ich in Strophe 1 nur betrauert, dass es von sich selbst entfremdet ist (es fühlt sich allein, es ‚steht neben sich‘), erkennt es in der zweiten Strophe die Unhintergehbarkeit dieses insubstantiellen Daseins an und akzeptiert, dass alle diese Erfahrung teilen (müssen). Es gilt mit dieser Erfahrung zu leben und nicht, sie über tägliche Routine und Ablenkung zu verdrängen. Auf diese Weise liegt das Ich im Bett und redet sich Mut zu (Vers 11), die Kühle (d. h. Einsamkeit) des eigenen Herzens aufzugeben und nach der Liebe zu suchen, d. h. sich im anderen zu suchen (in dessen Bild). Das Ich muss dabei den Schmerz (darüber, dass dieses Bild nicht besessen werden kann, weil es keine Substanz hat) überwinden. In den letzten Versen des Liedes tritt schließlich die Liebe als Allegorie auf, die das Ich führt und ihm zeigt, wie man leben kann: Nur die Empathie anderen gegenüber lässt die eigene Einsamkeit überwinden. ‚Liebe‘ bedeutet, dieses species-Sein der/ s anderen anzunehmen, zu bestätigen, ohne die/ den anderen in Besitz nehmen zu wollen oder zu können. Über den Text wird keine (explizite) Verbindung zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text hergestellt. Das Ich tritt als ipse, in einer (von jedem idem) entblößten ErzählerInnenhaltung auf: Es gibt keine lokalen wie temporalen Angaben mit Referenzen auf eine außertextuelle Realität, die das Ich in einem idem, einem narrativen Bezug, verankern. Lediglich was die Geschlechtsidentität betrifft, verweist die Stimme sowie die Angabe „meine Jungs“ (Vers 14, Strophe 1) auf ein männliches Ich hin. Gerade die Aneignung des ‚weiblichen‘ Samples im Refrain zeigt dabei aber den Konstruktcharakter von Geschlechtsidentität, schließlich stellt auch der Konstruktcharakter von Identität insgesamt Thema des Liedes dar. Auf diese Weise wird deutlich, warum das Pronomen ‚ich‘ im Lied den Charakter einer Leerdeixis übernimmt: Es geht dem Ich um allgemeine Erfahrungen, die alle teilen, auf diese Weise kann sich jede/ r an die Stelle des Ich setzen. 729 Agamben, Profanierungen (Anm. 29), S. 53 (Markierungen dem Original entnommen). 7.2 Textanalysen 271 Sidos Rap Mein Block (Si 4) gilt als Gründungstext für eine Welle von Texten im deutschen Rap, die in den verbalen „Kampf um das authentische Getto [sic! ]“ 730 eingetreten sind. Verlan und Loh führen dazu aus: Sido greift mit ‚Mein Block‘ ein uraltes HipHop-Topic auf, um das es schon im legendären Film Wild Style ging: Man schert sich nicht um die etablierte Szenerie auf dem Ku’damm, sondern feiert seine eigene Party dort, wo sonst keiner hinwill. Das Märkische Viertel wird durch Sidos Inszenierung plötzlich zum ‚Place to be‘, zum angesagten Geheimtipp, wo es so richtig abgeht. […]. In Deutschland […] ist das Sprechen über Gettos im eigenen Land seit ‚Mein Block‘ keine Lachnummer mehr: Man kann das als progressiv interpretieren und behaupten: Diese Bilder haben die Existenz sozialer Brennpunkte in den medialen Diskurs gespeist. Oder: Die Bourgeoisie hat ein Problem, wenn ihr Nachwuchs zum Feiern ins Märkische Viertel will. Andererseits reproduziert Sido in seiner Darstellung alle Klischees: Sein Gettobild forciert die voyeuristische Vorstellung entfesselter Triebhaftigkeit - eine Schlüssellochperspektive, die sich vor allem Jugendliche aus gutbürgerlichen Verhältnissen leisten. […]. Sein Viertel bleibt das exotische Stammesgebiet der Boyz ’n the Hood, die ihr Revier auf der Suche nach Drogen, Sex und Gewalt mit Pitbulls durchstreifen, so, wie man sich das am Stammtisch immer schon vorgestellt hat. 731 Verlan und Loh schreiben im Zitat dem Rap Mein Block einerseits Bedeutung zu, da es ein sozial problematisches Stadtviertel (das Märkische Viertel, das ‚MV‘, in Berlin) in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückt (und dabei aufwertet), andererseits kritisieren sie, dass zu diesem Zwecke klischeehafte Bilder aufgegriffen werden, die den Status dieses im öffentlichen Bewusstsein ohnehin als Problemviertel bekannten Stadtteils als ‚Biotop‘ verwerflicher Gestalten reifizieren. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf den Rap zeigen, auf welche Weise das ‚Ghetto‘ im Rap entworfen wird resp. welche Rolle dem Ich in dieser Welt zukommt. Das Lied Mein Block besteht aus drei Strophen, wobei die erste eine verkürzte Variante mit zwölf Versen darstellt, während die beiden folgenden 16 Verse umfassen. Der Refrain besteht aus zwei asyndetisch gereihten Isokola, wobei der Rap mit dem ersten Isokolon des Refrains einsetzt: Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause mein Block (mein Block, Block) (Si 4). Diese Reihung lokaler Bezeichnungen, die sich das Ich durch die Beifügung des Possessivartikels ‚aneignet‘, gleicht der Kamerabewegung zu Beginn eines Films, wenn sich von der Totalen (der Stadt) mittels einer Zoom-Bewegung die Perspektive des Blicks zunehmend verengt, bis sie schließlich beim Block 730 Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 25. 731 Ebenda, S. 24f. (Markierungen dem Original entnommen). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 272 als kleinster Einheit landet. Dass hier (vorerst) gehalten und verweilt wird, zeigt die dreimalige (wenn auch leiser werdende) Wiederholung des Begriffes am Ende an. Die Bewegung des Blicks von der größeren zur kleineren Einheit 732 wird allerdings durch ein Glied der Kette gebrochen: Als vorletzten Begriff nennt das Ich „mein Zuhause“. Diese Bezeichnung stellt wie das Pronomen ‚ich‘ im eigentlichen Sinne einen Begriff ohne eindeutige Referenz, eine Leerdeixis, dar: Jede/ r verwendet ihn und referiert damit auf einen anderen Ort. Das ‚Zuhause‘ stellt definitionsgemäß einen ‚persönlichen‘, affektiv besetzten Ort dar, der in der narrativen Dimension eines Ich einen besonderen Platz einnimmt. Indem nun dieser Begriff vor den „Block“ gereiht wird, liegt nahe, dass das ‚Zuhause‘ auf den Block Bezug nimmt, als gäbe es zwischen beiden einen Doppelpunkt zu lesen/ hören (Mein Zuhause: Mein Block). Auf diese Weise wird der ‚Block‘ emotionalisiert, er erhält einen noch größeren Wert für das Ich, als durch die Beifügung des Possessivartikels „mein“ erreicht worden wäre. Dennoch geht das Ich in der ersten Strophe nicht nur auf den Block (als kleinste Einheit) ein, sondern auch auf den vorher genannten Begriff des Viertels, genauer auf das „MV“ (das Märkische Viertel in Berlin): 1) Du in deinem Einfamilienhaus / lachst mich aus a/ a 2) Weil du denkst, du hast alles, was du brauchst a 3) Doch im MV / scheint mir die Sonne aus’m Arsch a’/ b 4) In meinem Block weiß es jeder, wir sind Stars! b 5) Hier bekomm’ ich alles / ich muss hier nicht mal weg b/ c 6) Hier hab’ ich Drogen, Freunde und Sex c 7) Die Bullen können kommen, doch jeder weiß Bescheid x 8) Aber keiner hat was geseh’n / also könn’ sie wieder gehen d/ d 9) OK, ich muss gesteh’n / hier ist es dreckig wie ’ne Nutte d/ e 10) Doch ich glaub’, das wird schon wieder mit ’n bisschen Spucke e 11) Mein schöner, weißer Plattenbau / wird langsam grau f/ f 12) Drauf geschissen! Ich werd’ auch alt und grau / im MV. f/ f Diese erste verkürzte Strophe, deren Reimschema sich nicht in paargereimten Endreimen erschöpft, sondern durch den Einsatz von Binnenreimen (Verse 1, 8, 11), Reimketten (Verse 1-4) oder Reimen zwischen dem letzten Wort eines Verses und dem Zäsurwort des nächsten Verses (Verse 2/ 3, Verse 8/ 9) versucht, mehrere Verse miteinander zu verschränken, dient dem Ich hauptsächlich dazu, eine Opposition zu setzen: „Du in deinem Einfamilienhaus, lachst mich aus / Weil du denkst, du hast alles, was du brauchst“ (Verse 1-2). 732 Unklar bleibt bei dieser Feststellung, ob diese Reihung nach Größenverhältnissen auch für die Begriffe Bezirk/ Viertel/ Gegend zutreffend ist: In Bezug auf Viertel/ Gegend bleibt die Definition darüber, welchen Raum diese Begriffe umfassen, vage. 7.2 Textanalysen 273 In erster Linie wird hier eine lokale Opposition eröffnet: Während sich das Ich im „MV“ (Vers 3) befindet, ist das Du BewohnerIn eines Einfamilienhauses. Das Du erscheint auf diese Weise bürgerlich, gut situiert, schließlich kann es sich ein Einfamilienhaus leisten. Das „Einfamilienhaus“ (Vers 1) wird also mit materiellem Wohlstand, aber auch mit bürgerlicher Spießigkeit verbunden. Das Ich positioniert sich in einer Abwehrhaltung gegenüber dem Du und dessen antizipierter Geringschätzung („Du […] lachst mich aus“, Vers 1) und antwortet seinerseits mit Geringschätzung, dem Du die Fähigkeit absprechend, seine eigene Situation richtig einschätzen zu können („[D]u denkst…“, Vers 2). Den Ausführungen des Ich zufolge lebt das Du zudem nur scheinbar in einer ‚kompletten‘ Welt. Denn dieser wird das „MV“ entgegengesetzt: und hier „scheint mir die Sonne aus’m Arsch“ (Vers 3). Das Ich bewertet seine Welt positiv, wie die ‚Sonne‘ andeutet. Dass diese allerdings aus dem negativ konnotierten „Arsch“ scheint, zeigt, dass in der ‚anderen‘ Welt eine Wertumkehrung erfolgt ist. Das Ich zeichnet das ‚MV‘ als Heterotopos, als „völlig anderen Ort[...]“ 733 , der vom Raum der übrigen Gesellschaft abgeschieden ist. Foucault unterscheidet in seinem Aufsatz Von anderen Räumen zwischen Krisenheterotopien und Abweichungsheterotopien: Als Krisenheterotopien sind jene Orte zu bezeichnen, „die solchen Menschen vorbehalten sind, welche sich im Verhältnis zu der Gesellschaft oder dem Milieu, in denen sie leben, in einem Krisenzustand befinden.“ 734 Abweichungsheterotopien hingegen stellen Orte dar, „an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht.“ 735 Jener Ort des ‚MV‘ scheint zunächst dem zweiten Typus zu entsprechen. Wodurch aber weichen das ‚MV‘ und seine BewohnerInnen von der übrigen Bevölkerung ab? Zwischen den BewohnerInnen des ‚MV‘ und jenen der ‚Einfamilienhäuser‘ gilt es ein soziales Gefälle zu konstatieren, denn wie in Vers 11 deutlich wird, handelt es sich bei dem ‚Block‘ um einen „Plattenbau“. Dieser Umstand führt zu einem weiteren Gegensatz: Während in Einfamilienhäusern gewöhnlich nur eine Familie lebt, so wohnt in einem Plattenbau/ Block eine Vielzahl von Menschen auf engem Raum. Das Ich führt aus, dass sich zwischen diesen Menschen eine Solidargemeinschaft herausgebildet hat, wobei die BewohnerInnen dieser sozialen Unterschicht als latent kriminell gezeichnet werden: „Hier bekomm’ ich alles, ich muss hier nicht mal weg / Hier hab’ ich Drogen, Freunde und Sex / Die Bullen können kommen, doch jeder weiß Bescheid / Aber keiner hat was geseh’n, also könn’ sie wieder geh’n“ (Verse 5-8). Die Menschen nehmen also Drogen, haben Probleme mit dem Gesetz, doch dank der Solidarität unter ihnen kommt es zu keinen polizeilichen Konsequenzen. Die dreifache Wiederholung der lokaldeiktischen Angabe ‚hier‘ (auch als 733 Foucault, Von anderen Räumen (Anm. 655), S. 321. 734 Ebenda, S. 322. 735 Ebenda, S. 322. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 274 Anapher in den Versen 5 und 6 eingesetzt) weist darauf hin, dass sich das Ich an diesem Ort befindet, von hier aus wird gesprochen und fokussiert. Dieser Ort, an dem man alles bekommt, wird - entgegen den gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Plattenbauten - als positiv dargestellt, wiewohl er „dreckig wie ’ne Nutte“ (Vers 9) 736 ist. Das Ich weiß, dass Schmutz in der Welt außerhalb des ‚MV‘ negativ konnotiert ist: „OK, ich muss gesteh’n […]“ (Vers 9). Es räumt also einen Negativpunkt ein, wiewohl es im weiteren Verlauf das ‚spießbürgerliche‘ Beharren auf Sauberkeit persifliert, denn „das wird schon wieder mit ’n bisschen Spucke“ (Vers 10). Im Alltag wird der Versuch, etwas mit Spucke reinigen zu wollen, meist von einer angeekelten Grimasse der beobachtenden Mitmenschen quittiert. ‚Spucke‘ haftet das Image einer unreinen (mit Bakterien und Essensresten verschmutzten) Substanz an. Die affirmative Haltung der Spucke und dem Schmutz gegenüber weist den Plattenbau wiederum als Abweichungsheterotopos aus. In Vers 11 entsteht zum Bild des Schmutzes der vorangegangenen Verse 9 und 10 allerdings ein Widerspruch, wenn das Ich von seinem „schöne[n], weiße[n] Plattenbau“ spricht, der erst „langsam grau“ wird. Im eigentlichen Sinne scheint der Plattenbau also neu (und sauber) zu sein, d. h. die Verse 9 und 10 erscheinen als Hyperbel seitens des Ich. Der Widerspruch zeitigt somit einen Riss in der Glaubwürdigkeit des Ich bezüglich seiner ErzählerInnenfunktion. Wie immer nun die genaue Situation aussieht, letztlich gibt das Ich an, es sei „[d]rauf geschissen! “ (Vers 12; auf den Schmutz und den Widerspruch), und es setzt seine eigene Geschichte mit der des Plattenbaus parallel: Beide werden, wie das Hendiadyoin im letzten Vers angibt, zur selben Zeit „alt und grau“ (Vers 12). Dies bestätigt die bejahende Einstellung des Ich gegenüber dem Leben im ‚MV‘, es möchte ‚hier‘ bleiben. Ein Vers der ersten Strophe bleibt zunächst isoliert im Gesamtgefüge: „In meinem Block weiß es jeder, wir sind Stars! “ (Vers 4). Zum einen ist unklar, von welchem ‚wir‘ das Ich spricht, zum anderen, worauf der Umstand, ein Star zu sein, zu beziehen ist. Mit dem Begriff des Stars wird das Umfeld der (Populär- und Hoch-)Kultur des 20./ 21. Jahrhunderts angesprochen. Dementsprechend definiert der Duden einen Star als einen in den Bereichen des Films, der Musik oder des Theaters „gefeierte[n], berühmte[n] Künstler“ 737 . Die Online-Enzyklopädie Wikipedia erläutert ausführlicher: Ein Star […] ist eine prominente Persönlichkeit. Der Begriff bezieht sich vor allem auf Schauspieler oder Musiker […]. Allerdings reicht Prominenz allein nicht aus, um ein Star zu sein, der betreffenden Person muss auch ein gewisses Maß an Beliebtheit, Bewunderung oder Verehrung zuteil werden […]. Es gibt daher eine gewisse Nähe zum Phänomen des ‚Helden‘. […]. Die Rituale der Verehrung und Bewunderung werden auch als Kult im säkularen Sinn be- 736 Zu den frauenfeindlichen Ausdrücken im Text siehe die näheren Ausführungen weiter unten. 737 Duden (Anm. 536), S. 987. 7.2 Textanalysen 275 zeichnet, der um die Stars betrieben wird. Ähnlich wie beim religiösen Kult nährt sich dieser Kult häufig aus einer Vielzahl von Mythen, die sich um den Star ranken. Diese Mythen und Legenden entstehen aus einer Vermischung von medien-vermittelten Bildern, eigenen oft verklärten Erinnerungen, projizierten Sehnsüchten, Erzählungen anderer usw., deren Wahrheitsgehalt schwer zu überprüfen ist. 738 Das Ich im Text greift also, sich selbst als Star bezeichnend, auf solche Assoziationen zurück. Dieser Umstand verwundert angesichts der Umgebung des Ich in der sozialen Unterschicht. Diese Angabe führt also zu einer weiteren Ungeklärtheit in der Erzählung des Ich: Wird diese Gruppe von Menschen nur im ‚MV‘ als Stars gehandelt, dann ist dieser Umstand von keiner Relevanz für das Du, das nicht in dieser ‚Welt‘ lebt. Das Ich möchte also die Wichtigkeit seines Ruhms außerhalb des ‚MV‘ betonen, was verschiedene Intentionen des Ich implizieren könnte. Der Hinweis könnte als Versuch gewertet werden, das ‚bourgeoise‘ Du zu ärgern, indem auch Personen der sozialen Unterschicht Ziel von Verehrung (seitens der Bevölkerung außerhalb, wie das Zitat von Verlan und Loh 739 nahe legt) werden können. Zum anderen greift diese Angabe das HipHop-typische Motiv auf, es (vermeintlich mittels des Raps) ‚geschafft‘ zu haben, also über genügend Geld zu verfügen, um dem Leben der Unterschicht entfliehen zu können. Weshalb dann aber die ungebrochene Bejahung dieses Lebens im Plattenbau? Weshalb nicht weggehen? Es drängt sich der Verdacht einer Instrumentalisierung auf: Das Ich goutiert das Leben in der Unterschicht, um für das Du ein bleibendes Ärgernis darzustellen, indem angenommen wird, das Du rümpfe über ein dergestalt dargestelltes Leben (bestehend aus „Drogen, Freunde[n] und Sex“, Vers 6) die Nase. Der Heterotopos wird nicht dargestellt, um auf soziale Missstände und Diskriminierung aufmerksam zu machen, sondern um sich als vermeintliche/ r ProvokateurIn, die/ der genau dieses Leben als lustvoll beschreibt, zu setzen. Dieses Bild bestätigt sich in den beiden folgenden Strophen. Zunächst aber wird im Refrain die affektive Beziehung des Ich zum Leben im Block affirmiert: Refrain: Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block Meine Gedanken, mein Herz, mein Leben, meine Welt reicht vom ersten bis zum 16. Stock (2x). Im Refrain werden zunächst die lokalen Angaben des Beginns wiederholt, wobei in einem zweiten asyndetisch gereihten Isokolon eine zusätzliche emotionale Ebene beigefügt wird: Die Referenz auf die „Gedanken“ (die rationale 738 Eintrag ‚Star‘ in der Online-Enzyklopädie Wikipedia, URL: http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Star_%28Person%29 (Stand: 31.12. 2011). 739 Vgl. Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 24f. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 276 Ebene) sowie auf das „Herz“ (die emotionale Ebene) zeigen, wie vollständig das Ich vom Leben im Block beherrscht wird. Die beiden letzten Glieder bringen dies schließlich auf den Punkt: „Mein Leben, meine Welt reicht vom ersten bis zum 16. Stock“. Hier werden zum ersten Mal die sechzehn Stockwerke genannt, die den Block ausmachen. Der Begriff der „Welt“ wird dabei sowohl in seiner wörtlichen wie auch metaphorischen Bedeutung gebraucht: Einerseits bezeichnet er das lokale Umfeld des Ich (das tatsächliche Haus), zum anderen den gedanklichen Horizont des Ich: Weiter als bis zu den Grenzen des sich im Block abspielenden Lebens kann das Ich nicht denken. Dass es sich hierbei um eine Hyperbel handelt, liegt nahe. Aus diesem Grund kann dem Text auch ein gewisser humoristischer Zug nicht abgesprochen werden. 740 In den beiden folgenden Strophen des Liedes werden schließlich die sechzehn Stockwerke mit ihren BewohnerInnen näher vorgestellt: 1) Der Kerl aus’m 1. war früher mal Rausschmeißer a 2) Seitdem er aus’m Knast ist, ist er unser Hausmeister a 3) Er ist oft bei der Nutte aus’m 2. b 4) Jetzt verkauft sie Fotos von ihm beim Arsch-Ausweiten b 5) Der Fetischist aus’m 5. kauft sie gerne c 6) Er sagt, Rosetten sehen aus wie kleine Sterne c 7) Obwohl die von dem Schwulen aus’m 11. immer aussieht d 8) Als wenn man den Schwanz gerade frisch rauszieht d 9) Und davon sing’ ich dir ein Lied, du kannst es kaufen e 10) Wie die Sekte-Fans 741 aus dem 9., die immer drauf sind e 11) Genauso wie der Junkie aus’m 4. f 12) Der zum Frühstück erst mal zehn Bier trinkt f 13) Dann geht er hoch in den 7. zum Ticker g 14) Er bezahlt für zehn Teile, doch statt Gras kriegt er ’n Ficker g 15) Damals war der Drogenstock noch der 10. h 16) Der aus’m 7. ist der, der überlebte h Refrain 1) Hier kriegst du alles, im 12. bei Manne x 2) Kriegst du Falschgeld / und ’n Bootleg von Eisfeld a/ a 3) Ein’ Stock höher hat so ’n Kerl sein Studio b 4) Er rappt und macht Tracks auf die Beats von Coolio b 5) Ganz zur Freude der Hausfrau darüber c 6) Die sagt: „Männer ficken auch nicht mehr wie früher“ c 7) Deshalb trifft man sie oft im 15. Stock d 740 Vgl. das Interview mit Murat Güngör in: Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 69-83 (in Zusammenhang mit Humor siehe insbesondere S. 83). 741 Die Sekte ist eine Gruppe von RapperInnen, zu der Sido gehört. 7.2 Textanalysen 277 8) Bei der Hardcore-Lesbe mit dem Kopf unter ihrem Rock d 9) Wenn ich ficken will, fahr’ ich runter in den 3. e 10) Aber die Braut fick’ ich nur zwischen die Titten e 11) Denn der Pornostock befindet sich im 8. f 12) Hier könnt’ ich jeden Tag woanders übernacht’n f 13) Im 16. Stock riecht der Flur voll streng g 14) Aus der Wohnung, wo so ’n Kerl schon seit drei Wochen hängt g 15) Ich häng’ im 6. rum, in meinem Stock h 16) Mit meinen übergeilen Nachbarn in meinem Block h Refrain Deine Villa, dein Boot, deine Frau, deine Karriere, dein Geld, dein Leben, kein Bock, kein Bock! Formal zeigen sich die beiden Strophen regelmäßig und schlicht: Erzählt wird in Paarreimen, mit Ausnahme des ersten Verses der zweiten Strophe, welcher eine Waise darstellt, worauf im zweiten Vers ein Binnenreim folgt. Dies steht im Gegensatz zur Darstellung der BewohnerInnen und Stockwerke des Blocks. Die sechzehn Stockwerke werden nämlich nicht linear (von unten nach oben resp. umgekehrt) vorgestellt: Noch linear beginnend mit dem ersten (Verse 1 und 2) und zweiten Stock (Verse 3 und 4) fährt das Ich nichtlinear fort, es ‚springt‘ zwischen den Stockwerken (in der Reihenfolge 5, 11, 9, 4, 7, 10, 12, 13, 14, 15, 3, 8, 16, 6). Die Erzählweise wirkt sehr chaotisch, erst bei genauerem Hinsehen (resp. -hören) bemerkt die/ der RezipientIn, dass wirklich alle Stockwerke genannt werden. Der Block wird in der Erzählung als Mikrokosmos entworfen, der für konservative Kreise ein ‚Pandämonium‘ an EinwohnerInnen aufzuweisen scheint: In der mäandrierenden Erzählbewegung wird von allen sechzehn Stockwerken zumindest ein/ e BewohnerIn vorgestellt oder ein anderes Attribut von diesem Stock genannt. In einer Auflistung der EinwohnerInnen lassen sich folgende Personen (in der Diktion des Textes) wiedergeben: 1. Stock) der Hausmeister (ehemals Rausschmeißer und Gefängnisinsasse), 2) eine Nutte, 3) eine Frau zum ‚Ficken‘ für das Ich, 4) ein Junkie, 5) ein Fetischist, 6) das Ich, 7) ein Ticker (Drogendealer, ein Überlebender unter ehemals mehreren im Haus ansässigen Drogenabhängigen), 8) der Pornostock, 9) Sekte-Fans, 10) ehemaliger Drogenstock, 11) ein Schwuler, 12) Manne, ein Falschgeldlieferant, 13) ein Mann mit einem Musik-Studio, der rappt, 14) eine Hausfrau mit Beziehung zu 15) einer Hardcore-Lesbe, 16) ein toter Selbstmörder. Dadurch dass nicht einfach linear, sondern in einer Zick-Zack-Bewegung aufgezählt wird, wer wo vom ersten bis zum 16. Stock wohnt, werden vielfache Verbindungen und Verflechtungen zwischen den Personen aufgebaut. Mittels der Verwendung von einzelnen Präteritumsformen (Vers 1, Vers 15 der zweiten Strophe) wird angezeigt, dass diese Personen und damit die Gemeinschaft im Block eine ‚Geschichte‘ innerhalb eines längeren Zeitraums 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 278 haben, während das Ich generell im Präsens spricht, also die beschriebene Situation in der Gegenwart der Sprechsituation verortet. Der genaue Ort innerhalb des Blocks, an dem sich das Ich befindet, wird erst am Ende der letzten Strophe verdeutlicht: Das Ich wohnt im sechsten Stock, einem Stock, der also relativ in der Mitte des Gebäudes liegt. Dergestalt situiert sich das Ich als Zentrum dieses Pandämoniums, ohne, wie z. B. das Ich in Klarsicht, eine Perspektive von oben oder von außen (durch das Fenster hindurch) einzunehmen. Thematisch ähneln sich beide Lieder: In beiden wird der komplexe Makrokosmos der Welt in den Mikrokosmos eines Hauses gezwängt. Während aber das Ich in Klarsicht die distanzierte, intellektuelle Außen-Position einnimmt und dezidiert beobachtet und kritisiert, möchte sich das Ich in Mein Block von Beginn an als ins Geschehen involviert zeigen, es interagiert mit den Personen im Haus („Wenn ich ficken will, fahr’ ich […]“, Vers 9 in der dritten Strophe) und affirmiert die Welt, in der es sich befindet. Allerdings werden wie in Klarsicht die MitbewohnerInnen vom Ich nicht apostrophiert, also nicht mittels einer Interpellation als Subjekte an- und ins Leben gerufen, sie werden nur in der dritten Person beschrieben, was sie zu Figuren des Ich werden lässt, die dessen Projektionen unterworfen sind. 742 Dem entspricht auch die Tatsache, dass keine Namen genannt werden (mit Ausnahme des typisierten Namens „Manne“ in Vers 1, Strophe 3). Die dargestellten Persönlichkeiten scheinen lediglich Typen zu umfassen. Das Ich im Text nimmt während eines Großteils des Liedes eine distanzierte Erzähler- Innenhaltung ein (es interagiert zwar mit den Personen, über die es spricht; dies geschieht aber nur in der Erzählung des Ich), es bleibt also als ipse im Hintergrund, indes es gerade durch diese Haltung zur/ m InszenatorIn dieser Welt avanciert. Allen im Text eingeführten Personen scheint gemein zu sein, dass sie im gesellschaftlich-sozialen Gefüge Randpositionen einnehmen: Sei es durch ihre sexuelle Orientierung (Schwulen, Lesben), ihre sexuellen Tätigkeiten (als Prostituierte, FetischistInnen), ihre Geschlechtszugehörigkeit (als Frauen im Allgemeinen), ihre Tätigkeiten als MusikerInnen oder ihre kriminellen Aktivitäten in Vergangenheit und Gegenwart (DealerInnen, FalschgeldlieferantInnen, DrogenkonsumentInnen, ehemalige Gefängnisinsassen). Die BewohnerInnen werden als dem Wohnort entsprechend dargestellt, der Block als natürliche ‚Ordnung des Chaos‘. Allerdings macht insbesondere das Sprechen des Ich im Text in Bezug auf Frauen und Homosexuelle deutlich, dass es einen ausschließenden Diskurs aufgreift und damit den Ausschluss dieser Personen aus der Gesellschaft wiederholt und bekräftigt. Obwohl das Ich sein Leben im ‚MV‘ affirmiert, übernimmt es doch einen abwertenden Diskurs über Frauen (Das ‚MV‘ ist „dreckig wie ’ne Nutte“ / „Die Braut fick’ ich nur 742 Vgl. Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 296. 7.2 Textanalysen 279 zwischen die Titten“) 743 und Homosexuelle. Über die Bezeichnungspraxis und Umgangsweise bezüglich der anderen BewohnerInnen im Haus setzt sich das Ich als (männliches) Subjekt. Interessanterweise scheinen also die Diskurse, die das Ich aufgreift, jenen der (vom Ich antizipierten) BewohnerInnen der Einfamilienhäuser zu ähneln. Beiden ist ein abwertender Gestus gegenüber dem Leben und den BewohnerInnen im ‚MV‘ inhärent, wobei das Ich aus der Abwertung positives Identifikationspotential zieht, um sich vom ‚bürgerlichen‘ Du abzugrenzen. Mit der Ankündigung, dass es sich beim Block um „mein Herz, mein Leben, meine Welt“ handelt, wird deutlich, dass die Menschen, über die das Ich erzählt, ebenso das Ich definieren. Sie bieten für das Ich und die Welt des Ich (gerade über ihre Abwertung) Identifikationspotential. Ihre Darstellung führt zu einer Darstellung des Ich als idem: Das Ich zeigt sich inmitten (vermeintlicher) gesellschaftlicher AußenseiterInnen, die die narrative Dimension des Ich über ihre Geschichten mitprägen. Die nicht-lineare Erzählweise des Ich repräsentiert dabei eine Umkehrung der ‚normalen‘ gesellschaftlichen Ordnung im Block, die für ihn als Heterotopos typisch ist: Schließlich wohnt im ersten Stock, also ganz ‚unten‘, der Hausmeister als die einzige Person, die einer ‚ordentlichen‘ Arbeit nachgeht, während im 16. Stock, also ganz ‚oben‘, eine Leiche hängt, um die sich seit Wochen niemand kümmert. Dieser Umstand zeigt an, dass die Regeln des sozialen Aufstiegs der Welt außerhalb innerhalb der Welt des Blocks keine Gültigkeit haben: Der Hausmeister bleibt trotz seines Jobs unten, während der Selbstmörder auch oben seinem Leben keinen Sinn zuschreiben konnte. Durch die mäandrierende Bewegung bei der Vorstellung der einzelnen Wohnparteien wird eine lineare Ordnung, was die gesellschaftliche Position der Personen betrifft, suspendiert. Inhalt und Form der Erzählung korrespondieren also. Durch die Hinweise auf das Star-Sein des Ich und seinen Status als SängerIn wird ein starker Bezug zum Ich vor dem Text hergestellt. In der zweiten Strophe gibt sich das Ich explizit als KünstlerIn: „Obwohl die [Rosette, Anm. A. B.] von dem Schwulen aus’m 11. immer aussieht, als wenn man den Schwanz gerade frisch rauszieht / Und davon sing’ ich dir ein Lied, du kannst es kaufen“ (Verse 7-9). Mit diesen Worten wird auf den Arschficksong angespielt, der sich als Remix auch auf dem Album Maske X befindet, allerdings schon zuvor als Single veröffentlicht wurde und aufgrund seiner Darstellun- 743 Interessanterweise wohnen die eindeutig als Frauen dargestellten Bewohnerinnen im Block im zweiten (Nutte) und dritten (die ‚Braut zum Ficken‘) sowie im 14. (Hausfrau) und 15. Stock (Hardcore-Lesbe) des Gebäudes, also jeweils einen Stock von den beiden Polen entfernt. Dies macht die Kreis-Bewegung des Liedes deutlich; im Kosmos des Blocks kann zwischen oben und unten nicht wirklich unterschieden werden. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 280 gen von Analsex zwischen (vermeintlich) Minderjährigen ein großes Medienecho ausgelöst hat. 744 Es wurde im Rahmen dieses Bandes bereits auf Foucault hingewiesen, welcher meinte, „[t]he author does not precede the works, he is a certain functional principle by which, in our culture, one limits, excludes, and chooses.” 745 Das Ich im Text setzt sich an dieser Stelle als UrheberIn dieses Bürgerschreck- Diskurses, wobei durch das Lied mittels des Ich im Text das Ich vor dem Text als ‚Bürgerschreck‘ gesetzt wird. In diesem Hinweis auf den Arschficksong wird das Du direkt vom Ich angesprochen und das Ich erklärt ihm, dieses Lied tatsächlich für es zu singen: Das Du als RezipientIn wird also durch das Lied angerufen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich bei diesem Du um ein anderes als das ‚bourgeoise‘ Du der ersten Strophe handelt. Auf diese Weise kann die Anmerkung, das Du könne das Lied kaufen (Vers 9), ironisch verstanden werden. Allerdings scheint es auch möglich, dass das Ich eine strukturelle Änderung bezüglich des Du vorgenommen hat und nun tatsächlich potentielle Fans angesprochen werden. Dass es solche gibt, macht das Ich im zehnten Vers deutlich, indem es von den „Sekte-Fans aus dem 9.“ spricht, „die immer drauf sind“ (wobei dieses ‚drauf sein‘ auf ambivalente Weise auf die Musik des Ich sowie auf Drogen Bezug zu nehmen scheint). Die Tatsache, dass es tatsächlich Fans gibt, bestärkt die Aussage des Ich in der ersten Strophe, ein Star zu sein. Der bereits im ersten Vers der ersten Strophe aufgenommene negierende Gestus gegenüber der Welt des Du wird schließlich am Ende des Raps wiederaufgenommen: „Deine Villa, dein Boot, deine Frau, […] kein Bock, kein Bock! “ Wiederum mittels eines asyndetisch gereihten Isokolons lehnt das Ich die Werte einer Gesellschaft, in der Prestige, Reichtum, Eigentum, Karriere u. Ä. von Wichtigkeit sind, ab, indem es das Leben in einem armen, schmutzigen Viertel vorzieht. Dementsprechend stellt es Thema des Liedes dar, die Konstanz und Unveränderbarkeit dieses Ich als idem zu betonen: „Ich werd’ alt und grau im MV“. Das Ich möchte in seiner Bürgerschreck-Funktion, die es sich selbst zuschreibt, so bleiben wie es ist, ohne Veränderungen an sich oder seinem Umfeld durchführen zu müssen. Dergestalt zeigt sich das Ich als konservative Persönlichkeit. 744 Dementsprechend heißt es im bereits zitierten Stern: „Für den Frankfurter Oberstaatsanwalt Peter Köhler gehen die Textpassagen des Rappers ‚weit über die Jugendgefährdung hinaus‘. Er sieht einen Prüffall für die Justiz, denn ihm scheint eine ‚Verherrlichung von sexueller Gewalt gegenüber Kindern‘ vorzuliegen“ (in: Knobbe/ Fromm, Die verlorene Unschuld, Anm. 1, S. 146). 745 Foucault, Author (Anm. 527), S. 186. Zu Foucault in Bezug auf die AutorInnenfunktion, siehe Kap. 6.2.3, S. 164 in diesem Band. 7.2 Textanalysen 281 Der als Heterotopos 746 gezeichnete Ort des Blocks wird dabei bejaht, aufgewertet, allerdings keiner sozialen Kritik unterworfen. Lediglich Hinweise auf Widersprüche im Lied resp. ironische Bemerkungen zeigen an, dass das Ich die Inszenierung dieser Welt möglicherweise nicht ernst nimmt: „Denn sobald man als Künstler mit Ironie, mit einem Augenzwinkern arbeitet, ergibt sich die Möglichkeit, Klischees infrage zu stellen und mit Rollenzuschreibungen zu spielen“ 747 , betont Murat Güngör. Auf diese Weise könnten Angaben wie „Meine Welt reicht vom ersten bis zum 16. Stock“ oder „Hier habe ich alles, ich muss hier nicht mal weg / Hier hab’ ich Freunde, Drogen und Sex“ auch als ironische Infragestellung von Vorstellungen eines Sozialdeterminismus verstanden werden, indem gängige Vorurteile von außen (‚Menschen der sozialen Unterschicht sind kriminell, drogenabhängig oder ungebildet‘) bezüglich der sozialen Herkunft angeeignet und in der Erzählung übertreibend wiedergegeben werden. Das Ich wehrt sich also gegen das Verdikt von außen, das ‚MV‘ nicht nur als Abweichungsheterotopos, sondern auch als Krisenheterotopos zu sehen, indem es die Abweichung affirmiert, jedoch von keiner Krise der BewohnerInnen sprechen will. Insgesamt gestaltet es sich also als schwierig, in Bezug auf Mein Block eine einzige Lesart auszumachen. Ein Blick auf die vier hier dargestellten Lieder zeigt die Unterschiedlichkeit der Funktionen, die das ‚ich‘/ Ich in den Texten zum Thema Soziales/ Nachdenken erfüllen soll. Wiewohl in allen vieren die ipse-Dimension von größerer Wichtigkeit erscheint als die idem-Dimension, da zumindest in drei von vier Beispielen die Einordnung des Selbst in narrative Bezüge nicht im Vordergrund steht, so stellt sich die Art und Weise der ipse-Funktion in den vier Liedern dennoch unterschiedlich dar. Die größte Ähnlichkeit weisen dabei die Ichs in Klarsicht (Fi 23) und Frag nicht (Py 14) auf. Beide berufen sich auf ihre ethische Dimension als ipse: Sie wollen Missstände aufzeigen, um ggf. dazu beitragen zu können, dass sich in der kritisierten Gesellschaft etwas ändert. Die idem-Bezüge beider Ichs (als SchriftstellerIn resp. RapperIn) bleiben dabei im Hintergrund, wiewohl sie den Rahmen bilden, innerhalb dessen das jeweilige Ich spricht/ schreibt. Diese beiden Ichs können insofern als klassisch sozialkritische gesehen werden, als sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind und über Aufmerksamkeitslenkung Veränderungen herbeiführen wollen. In Traumwelt (Ma 3) hingegen geht (beinahe) jeglicher idem-Bezug verloren: Hier spricht nur mehr ein Ich als ipse, als ErzählerIn. Auch die ethische 746 Obwohl der Begriff im Lied nicht explizit genannt wird, hat Mein Block, wie Verlan und Loh feststellen, den Kampf um das „authentische Getto [sic! ]“ (in: Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland, Anm. 20, S. 25) ausgelöst. In anderen Liedern der Alben Maske X und Ich wird auch explizit vom ‚MV‘ als Ghetto gesprochen: Ein Ghetto (insbesondere in seinen Bezügen zum jüdischen Ghetto) stellt schließlich ein Paradigma des Heterotopos dar. 747 Güngör in: Verlan/ Loh, 25 Jahre HipHop in Deutschland (Anm. 20), S. 83. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 282 Dimension der Verlässlichkeit des Ich als ipse über die Zeit hinweg steht dabei nicht im Vordergrund, hier scheint es mehr darum zu gehen, eine mögliche Fokalisierungsperspektive für RezipientInnen-Ichs vorzugeben, um Reflexionen nachzuvollziehen, die allgemein-menschliche Probleme erfassen. 748 Sozialkritik im engeren Sinn wird in Traumwelt, wie der Titel schon sagt, nicht geübt. Wie der Text jedoch zeigt, kann eine Veränderung in der Einstellung zu sich selbst durch Selbstreflexion auch das Verhältnis zu anderen positiv beeinflussen. Einen besonderen Status nimmt das Ich in Mein Block (Si 4) ein: In diesem Beispiel spielen narrative Bezüge tatsächlich eine große Rolle. Die BewohnerInnen im Block sowie die Umgebung des ‚MV‘, des Märkischen Viertels, bilden diese narrativen Bezüge des Ich aus. Obwohl sich das Ich im größten Teil des Raps auf eine ErzählerInnen-Funktion als entblößtes ipse zurückzieht, so wird über die Darstellung der anderen das idem des Ich erzählerisch gestaltet. Da diese in einer Welt voll Kriminalität, Drogenkonsum und Sex leben, scheint auch das Leben des Ich aus diesen Komponenten zu bestehen. Die ethische Verantwortung der/ s Einzelnen steht dabei im Hintergrund, wichtig bleibt die Konstanz des Ich über die Zeit hinweg, die über die Affirmation des eigenen Lebens garantiert wird. Es scheint jedoch möglich, dass das Ich über diese übertrieben wirkende Affirmation Kritik an sozialdeterministischen Vorstellungen eines Lebens in der Unterschicht übt. Deutlich wird allerdings an allen vier Texten, dass das Ich als TrägerIn des sozialkritischen Diskurses selbst zur Verhandlung steht. Insbesondere in Klarsicht, Frag nicht sowie Traumwelt wird über das eigene Wahrnehmungsdispositiv reflektiert. Das Ich in Mein Block macht dies auf etwas verstecktere Weise: Es problematisiert die eigene Wahrnehmung nicht, zeigt allerdings durch seine ironischen Einwürfe, dass Wahrnehmung per se ein subjektives Phänomen ist. Was die ‚Objekte‘ des Diskurses betrifft, so gehen die Ichs in den Liedern unterschiedlich vor: Obwohl sich das Ich in Klarsicht der Subjektivität der eigenen Wahrnehmung bewusst ist, lehnt es ab, anderen Stimmen Raum zu geben. Es verfügt über die Darstellungsautorität. In Frag nicht hingegen wird das Du dezidiert aufgerufen, den anderen Menschen Fragen zu stellen und ihnen die Möglichkeit des Sprechens zu geben. Das Ich gibt damit Autorität ab, es hinterfragt seinen eigenen Status als SprecherIn. Das Ich in Mein Block hingegen gefällt sich in der Rolle der/ s Inszenatorin/ s seiner Welt. Die Darstellung der anderen dient dabei hauptsächlich der Darstellung des eigenen Selbst. In Traumwelt steht überhaupt das Ich selbst (allerdings in Bezug auf Erfahrungen allgemeiner Natur) im Vordergrund. Interessant ist, dass keines der Lieder (wie auch keines der anderen der 160 Lieder aus den acht zu behandelnden Rap-Alben) agitatorisch politischen Inhalt enthält. Die politischen/ sozialkritischen Bezüge werden sehr leise for- 748 Vgl. Schiedermair, Lyrisches Ich (Anm. 364), S. 129. 7.2 Textanalysen 283 muliert. Es finden sich kaum eindeutige lokale wie temporale Bezüge zu einer außersprachlichen Realität. Auf diese Weise bleiben die Lieder allgemein (d. h. bis zu einem gewissen Grad zeitlos), da in ihnen keine spezifischen historischen Situationen kritisiert und verhandelt werden. 7.2.4 Texte über die ‚Liebe‘ Die ‚Liebe‘ als Gegenstand der Rede begleitet die Menschheit, solange schriftliche Aufzeichnungen zurückreichen, 749 stellt Birgit Wagner fest. Dass die Liebe zudem einen zentralen Gegenstand der Kunst darstellt, 750 verschafft dieser einen Zugang zum praktischen Leben, da Liebende auf narrative Strategien (der Kunst) zurückgreifen, um ihrer Liebe Ausdruck verleihen zu können. 751 Von Seiten der Liebenden werden schließlich „selektiv und fragmentarisch, vereinfachend oder entstellend […], subjektiv interpretierend und je nach persönlichen Interessen und Kompetenzen“ 752 Teile des Kunstdiskurses über die Liebe aufgegriffen und im täglichen Leben eingesetzt. In diesem Zusammenhang kommt gerade den in weiten Kreisen zirkulierenden Produkten der Populärkultur eine wichtige Funktion als ‚Lieferant‘ für Geschichten und Diskursfragmente zu. In Bezug auf die westliche populäre Musik betont Frith, dass es sich bei „ein[em] Großteil der Popsongs [um] Liebeslieder“ 753 handelt. Der Hinweis auf die Liebe als Gegenstand der Rede und Kunst verdeutlicht, dass über die Liebe nicht im Rückgriff auf ein naturhaftes Gefühl gesprochen werden kann, da die Liebe als kulturelle Praxis zu verstehen ist, „die sich im komplexen Zusammenspiel von individuellem Erleben, physiologischen Faktoren und gesellschaftlichen Implikationen bewegt.“ 754 Die Liebe stellt somit ein historisch kontingentes, gesellschaftlich vermitteltes Konzept dar; über die Jahrtausende haben sich verschiedene narrative Rahmungen entwickelt, innerhalb derer über die Liebe gesprochen werden kann. 755 In der Populärmusik und in der Populärkultur des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen taucht in diesem Zusammenhang wiederholt das unscharf defi- 749 Vgl. Birgit Wagner: Liebe allein oder zu zweit? Fragmente einer europäischen Diskursgeschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3/ 2007, S. 13- 25, hier S. 13. 750 Vgl. Birgitt Röttger-Rössler und Eva-Maria Engelen: Einleitung. In: dies. (Hrsg.): „Tell me about love“. Kultur und Natur der Liebe, Paderborn 2006, S. 9-18, hier S. 18. 751 Vgl. Reinhard Sieder: Editorial. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3/ 2007, S. 5-12, hier S. 8. 752 Ebenda, S. 8f. 753 Frith, Zur Ästhetik der populären Musik (Anm. 429), Quelle: Internet. 754 Doris Guth und Heide Hammer: Love me or leave me - Eine Einleitung. In: dies. (Hrsg.): Love me or leave me. Liebeskonstrukte in der Populärkultur. Frankfurt am Main/ New York 2009, S. 7-14, hier S. 7. 755 Zum Überblick über die historische Entwicklung dieser diskursiven Rahmungen (oder Codes, wie es bei Luhmann heißt) vgl. Luhmann (1992). Zur Entwicklung des Konzeptes der romantischen Liebe vgl. die verschiedenen Beiträge in Guth/ Hammer (2009). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 284 nierte Konzept der so genannten ‚romantischen Liebe‘ auf. 756 Nach Langer ist das Konzept der ‚romantischen Liebe‘ eines der vorherrschenden Liebeskonzepte in unserer Gesellschaft, es handelt sich um die Idee, dass es die/ den eine/ n, wahre/ n PartnerIn gibt, die/ der eine „zentrale Sehnsucht“ des Menschen erfüllt, nämlich die Sehnsucht, [a]uf allen Dimensionen der Person verstanden zu werden, in seiner Einzigartigkeit und Eigenart voll und ganz begriffen zu werden. Dieses Verstehen geschieht dabei größtenteils intuitiv: Die/ Der Liebende ‚erspürt‘ gleichsam die Schwingungen der/ s Geliebten und ist offen für die Sprache der Augen und des Körpers. 757 Dem Konzept gemäß besitzt die geliebte Person höchste Relevanz im Leben der anderen, sie geht der/ m Liebenden „über alles“ 758 . Erwidert die eine bestimmte, geliebte Person die Liebe nicht, so stellt sich dies als „Inbegriff von Unglück selbst“ 759 dar. Äußerst wichtig ist in diesem Zusammenhang das Phänomen der Zeit: Eine Liebesbeziehung hat, sei sie nun von gegenseitiger Zuneigung oder von Einseitigkeit geprägt, einen Beginn, eventuell ein Ende. Dazwischen liegen Peripetien, emotionale Höhewie auch Tiefpunkte. Liebesbeziehungen bringen Veränderungen, was mitunter eine Intensivierung der Zeitwahrnehmung seitens der Betroffenen zur Folge hat. Die Zeit scheint unendlich langsam zu vergehen, sich zu beschleunigen u. Ä. Dem ‚romantischen‘ Liebeserlebnis wird also innerhalb einer zeitlichen (und damit auch narrativen) Ordnung sein Platz zugewiesen. Im Folgenden stellt sich die Frage, auf welche Weise der Diskurs der (romantischen) Liebe in den unten stehenden, vier gewählten Rap-Texten verhandelt wird. Da sich in einem Lied (sofern es sich nicht um ein Duett handelt) zunächst über die Stimme ein Ich setzt, welches sich schließlich an ein Du wendet, stellt sich die Frage, welches (Liebes-)Verhältnis zwischen den involvierten Personen aufgebaut wird. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang aufgrund des immanent zeitlichen Charakters des Liebesdiskurses die unterschiedlichen Dimensionen des Ich (als ipse und idem) resp. welcher Bezug wird zu einem Ich vor dem Text hergestellt? Schließlich wird es von Interesse sein, auf welche Weise gerade aufgrund der Tatsache, dass Rap immer wieder als männlich dominierte Kulturpraxis gehandelt wird, in den Texten die Geschlechtsidentität von Ich und Du konstituiert und markiert wird. 756 Vgl. Sieder, Editorial (Anm. 751), S. 5. 757 Beide Zitate: Barbara Langer: Weg und Irrweg einer Liebe. Die „romantische Liebe“. Diplomarbeit: Wien 1994, S. 23. 758 Ebenda, S. 25. 759 Ebenda, S. 43. 7.2 Textanalysen 285 Das Lied Für mich allein (Fi 5) 760 von Fiva MC besteht aus zwei Strophen zu je 21 resp. 24 Versen, unterbrochen vom Refrain, welcher acht Verse umfasst. Innerhalb der Verse gibt es (in den meisten Fällen nach der Hälfte des Taktes) eine Zäsur, die oftmals mit syntaktischen Grenzen zusammenfällt und durch einen Binnenreim gekennzeichnet sein kann. Auf diese Weise wird deutlich, dass das Reimschema sehr komplex, da sehr unregelmäßig, ist: 1) Wenn ich nicht bei dir bin / weiß ich nicht, wie’s weiter geht x/ a 2) Frag’ im Sekundentakt, wie spät / doch Zeit steht still a/ b 3) Ich atme laut / damit mein Kopf mir glaubt c/ c 4) Dass ich leben will / dass ich wirklich leben will (Fi 5). b/ b Dass das erste Reimpaar (a) zwischen der zweiten Hälfte von Vers 1 und einem Wort inmitten von Vers 2 („geht“ / „spät“) gebildet wird, verbindet die beiden Verse miteinander. Auch Vers 2 und 4 werden durch den Reim verbunden, wobei die zweite Hälfte des vierten Verses aus einer beinahe identen Wiederholung seines ersten Teils besteht, angereichert um das Wort „wirklich“: Die Wiederholung erhält dabei (zusammen mit dem in Vers 3 Ausgesagten) den Charakter einer Selbstüberzeugung. Ein Ich versucht, sich seines Lebenswillens zu vergewissern, wobei in der Wiederholung das ‚wirklich‘ eine insistierende Wirkung hinzufügt, die das Ich als verzweifelt darstellt. Inhaltlich besonders interessant präsentiert sich Vers 2, welcher aus drei (verkürzten) Sätzen besteht: (Ich) frag(e) im Sekundentakt (Hauptsatz), wie spät (es ist) (Nebensatz), doch (die) Zeit steht still (Hauptsatz). Zwischen allen drei Satzfragmenten wird die Satzmelodie oben gehalten, sie geht nicht nach unten, was eine längere Pause zum nächsten Fragment erfordern würde. Dennoch wird die Pause dadurch erzwungen, dass der dritte Satz mit einem „doch“ eingeleitet wird: Das Aufeinandertreffen des [x]-Lautes, der sehr weit hinten am Gaumen artikuliert wird, mit der Affrikate [ts] von „Zeit“ (Vers 2) erfordert eine Pause in der Artikulation. Allerdings besteht der letzte Satz lediglich aus einsilbigen Wörtern mit der Affrikate [ts] resp. dem Frikativ [∫] im Anlaut sowie zweifach dem Plosiv [t] im Auslaut, die alle eine sehr genaue Artikulation erfordern. 761 Diese Lautgestaltung lässt den Rhythmus des Verses sehr ‚zerhackt‘ erscheinen. All dies führt dazu, dass dieser Vers mit dem fließenden Rhythmus der anderen Verse, in welchen immer nur ein Hauptsatz 760 Im Booklet sind zwei verschiedene Titel für das Lied angegeben: In der Liste auf der Hinterseite des Covers wird Für mich allein angegeben, während über dem geschriebenen Text im Booklet Alleine gehen steht. Dem korrespondieren auch zwei Textfassungen: Während im Text der letzte Vers des Refrains lautet: „Hab’ ich den Willen verloren, alleine zu gehen“, wurde der Text in der gesprochenen Fassung dahingehend geändert: „Hab’ ich den Willen verloren, für mich selber zu geh’n“. 761 Vgl. Angelika Linke, Markus Nussbaumer und Paul R. Portmann: Studienbuch Linguistik. Ergänzt um ein Kapitel ‚Phonetik‘ und ‚Phonologie‘ von Urs Willi. Tübingen 3 1996, S. 420. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 286 mit einem Nebensatz verbunden wird, bricht. Dies korrespondiert mit dem Inhalt des Verses: Während das Ich „im Sekundentakt“ (Vers 2) nach der Zeit fragt, steht diese still, d. h. sie löst sich auf. Durch das ständige Fragen zerbricht der Rhythmus, die Ordnung der Zeit, die vom Du abzuhängen scheint, löst sich auf, denn schließlich ist das Du nicht da. Dieser Auflösung versucht nun das Ich im dritten Vers entgegenzusteuern: Der dritte Vers ist kurz, was eine Dehnung der Silben, ein langsameres Sprechen ermöglicht. Hier wird durch die Dehnung der Silben mittels der verwendeten Langvokale die Pause des Atmens zum Ausdruck gebracht: Das Ich lehnt sich sozusagen zurück und versucht, durch das Atmen den zerbrochenen Rhythmus wiederherzustellen resp. seinem Kopf klarzumachen, dass die Auflösung nicht gewollt ist. Leben ist schließlich nur innerhalb einer zeitlichen Ordnung möglich. Die durch den Reim verbundenen Verse 1 und 2 (erste Hälfte) drücken Bewegung aus, die in Vers 3 und 4 zurückgenommen wird. Auf diese Weise wird bereits mittels der ersten Verse eine chiastische Situation (weitergehen / still stehen) eröffnet, die in den folgenden Versen weitergeführt wird. So nehmen auch Vers 2 (zweite Hälfte) und Vers 4, durch den Reim verbunden, dieses Thema wieder auf: still stehen (als Zeichen der Stagnation) - leben wollen (Bewegung, Veränderung). Die grundlegenden Themata des Liedes scheinen also die Zeit, das Verhältnis zwischen Ich und Du (das bereits im ersten Vers angesprochen wird) und als Verbindungsglied das Spannungsverhältnis zwischen Veränderung und Stagnation zu sein. Die Zeit und damit verbunden die narrative Organisation des Ich hängen dabei dem Anschein nach vom Du ab: Ist das Du fort, bleibt die Zeit stehen, das Ich verliert seinen Rhythmus, obwohl es das nicht will. Allerdings fährt das Ich im Text fort: 5) Ich bin so müde vom Denken, doch mach’ nichts Andre’s d 6) Nur jemand, der loslässt, geht, und kann das - was? d 7) Naja, vergessen, was kommt / vergessen, was war Anapher e’/ e’, f 8) Seine Zeit nicht bemessen / sich befreien vom Jahr e’/ f 9) Tag und der Sekundenbegrenzung / ich geh’ zu konsequent um g/ g 10) mit den Stunden […]. In diesen nächsten Versen der ersten Strophe wird die Situation der ersten vier Verse präzisiert: Das Loslassen (von einer vermeintlichen anderen Person) ermöglicht es, sich von der Zeit zu „befreien“ oder besser gesagt, sich einer zu rigiden Zeiteinteilung (in Jahre, Tage, Sekunden) zu entledigen. Dies könnte als Hinweis darauf verstanden werden, dass in Beziehungen zwischen Personen die Zeit als strukturierender Faktor der ‚Geschichte‘ von Ich und Du eine wichtige Rolle einnimmt. Wie oben dargelegt, hat eine Geschichte einen Anfang, sie nimmt eine Entwicklung. Gerade innerhalb des Liebesdiskurses 7.2 Textanalysen 287 wird die strukturierende Kraft der Zeit in ein Vorher/ Nachher u. Ä. immer wieder thematisiert. Dem Diskurs der Liebe ist eine „Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit“ 762 inhärent. Das Loslassen schließlich würde ermöglichen, sich von einer solchen narrativen Strukturierung, welche das Ich vollständig zu determinieren scheint, befreien zu können. Ausgedrückt wird dies durch die zwei anaphorischen Hälften des siebten Verses: „vergessen, was kommt, vergessen, was war“ (Vers 7). Die Zukunft, die nur auf ein Du gerichtet ist, und die Vergangenheit, die nur in Hinsicht auf die Geschichte mit dem Du Sinn erhält, sollen ausgeblendet werden. Die bisherige Zeiteinteilung (das „[B]emessen“) gilt es aufzugeben, was in den Versen 8 und 9 durch das Enjambement zum Ausdruck gebracht wird: Die Aufzählung von „Jahr / Tag und der Sekundenbegrenzung“ wird über das Versende hinausgeführt, was sozusagen das Aufbrechen, die Befreiung von der bisherigen Struktur deutlich macht. Das Ich will nicht mehr so „konsequent“ mit der Zeit umgehen. Im Lied wird also ein Spannungsfeld zwischen der Beziehung zu einem Du und deren narrativer Einbettung in ein Alltagsleben und der Selbstverwirklichung eines Ich aufgebaut: 12) Es schmerzt mich zu sehen, wie viel Frust mich umgibt i 13) Für mich ist Lust mein Antrieb / der mir Grund und Land gibt i/ i 14) Ich muss tun, was ich lieb’ / weil mir soviel dran liegt i/ i 15) Doch bin krank, denn ich schrieb / bis zum inneren Krieg i/ i 16) Ließ mich geh’n, bis ich trieb / und vermiss’ jetzt das Ufer i/ j 17) Bin Treibholz und find’ nichts / was irgendwie gut war i/ j 18) Ich erdrück’ meine Schreibschrift / mit zitterndem Bleistift k/ k 19) Zerknitter’ Papier, bis mich bitter der Neid trifft k 20) Bist du da, weiß ich / was kommen wird, weist sich k’/ k’ 21) Doch alleine am Schreibtisch / fehlt mir die Weitsicht. k’/ k’ In diesen Versen wird erstmals das Thema der ‚Arbeit‘ eingeführt: Der erste Vers präsentiert sich als konstative Aussage zur allgemeinen Situation im Umfeld (das von Frust geprägt ist), bevor das Ich auf die eigene Situation eingeht. Das Ich betont die prinzipielle Lust an seiner Tätigkeit, es setzt sich als SchreiberIn, ohne genauer auf den Kontext dieser Tätigkeit einzugehen. Die ersten drei Verse dieses Abschnittes sind im Präsens gehalten, was ihre Allgemeingültigkeit in Bezug auf die Situation des Ich hervorhebt. In Vers 13 wird die für diesen Strophenabschnitt bestimmende Metaphernwelt des ‚Grund- und Landgebens‘ eingeführt. Die Lust an der Tätigkeit gibt „Grund und Land“, d. h. Festigkeit und Halt. Mit dem adversativen „doch“ in Vers 15 hingegen wird ein zur allgemeinen Situation (des lustvollen Arbeitens) konträres Szenario entworfen: Das Ich ist krank, und in den folgenden Versen wird darauf eingegangen, was dazu geführt hat. Das Präsens in der ersten 762 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 99. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 288 Vershälfte setzt das Ich in einem Jetzt. Mittels der darauffolgenden Präteritumsformen wird die Vergangenheit ermittelt: Das Ich hat zwar gearbeitet („bis zum inneren Krieg“, Vers 15), aber es hat den Halt, den Grund unter den Füßen, verloren. Es ist ‚ins Wasser gefallen‘, vermisst somit das „Ufer“ (Vers 16, d. h. den festen Boden) und stellt sich als „Treibholz“ (Vers 17) schwimmend in diesem Wasser dar, in dem es herumtreibt, ohne Halt finden zu können. Schuld an diesem Zustand ist aber das Ich selbst: „Ließ mich gehen, bis ich trieb“ (Vers 16). Diese ‚treibende‘ Situation des Ich wird auch durch die lautliche Gestaltung insbesondere der Verse 16 und 17 zum Ausdruck gebracht. In den Versen „und vermiss’ jetzt das Ufer“ resp. „was irgendwie gut war“ erzeugt die Auf- und Abbewegung in der Höhe der verwendeten Vokale eine Wellenbewegung, hervorgerufen durch das Aufeinandertreffen des hohen Vokals [u] mit dem tiefen Vokal [a] resp. dessen reduzierter Variante [ ] in ‚Ufer‘. In diesem Jetzt der gegenwärtigen Situation ist die Produktivität des Ich ins Stocken geraten. Es zerknittert Papier, es zittert selbst, es wird bitter von Neid getroffen: Die Verse 18 und 19 sind geprägt von Konsonantenhäufungen wie auch Plosiven und Affrikaten ([ts], [k], [t], [p]). Die an sich beruhigende Wirkung der Wellenbewegung der vorangehenden Verse wird um ein Moment der Reibung ergänzt, es läuft nicht rund: Die Situation ist nicht zufriedenstellend für das Ich. Ruhe kehrt in den letzten beiden Versen ein, wenn das Ich wieder das Du adressiert: „Bist du da, weiß ich, was kommen wird, weist sich“ (Vers 20). In diesem Vers erzeugen die tiefen Vokale [a]/ [aı] in Kombination mit dem [s] und den [v]-Alliterationen einen weichen Klang. Ist das Du da, ist die Zukunft zwar auch ungewiss, aber es gibt Halt durch das Du. Im Gegensatz dazu fehlt „alleine am Schreibtisch“ (Vers 21) die Weitsicht, die Perspektive für die Zukunft. Hier wird in den beiden letzten Versen kontrapunktisch das Thema des Liedes zusammengefasst: Die Beziehung zum Du gibt Sicherheit in der narrativen Einbindung der gemeinsamen Geschichte. Paradoxerweise verliert das Ich gerade durch den Halt vom Du die Sicherheit als Einzelperson. Alleine verliert das Ich an Handlungsfähigkeit. Es kann auf diese Weise nicht mehr arbeiten, nicht mehr kreativ tätig sein, da die Zukunft nur vom Du okkupiert scheint. Der Refrain nach der ersten Strophe fasst diese Situation in deutliche Worte: 1) Refrain: Ich brauch’ dich so sehr, du musst mich beschützen a 2) Doch ich darf nicht immer bei dir sein b 3) Sonst würdest nur du meinen Lebensweg stützen a 4) Und ich könnt’ nicht gehen, für mich allein b 5) Ich brauch’ dich so sehr, hörst du, was ich sage? c 6) Ich hab’ schon vergess’n, wie es ist zu steh’n d 7) Da ich bei dir nichts zu beweisen habe c 8) Hab’ ich den Willen verlor’n, für mich selber zu geh’n. d 7.2 Textanalysen 289 Der Refrain besteht aus zwei parallel gebauten Quartetten, welche einen Kreuzreim aufweisen. Wie deutlich wird, ist die Struktur der Strophen aufgebrochen, da es keine durch Binnenreime erzeugten Zäsuren gibt und diese Verse eine geringere Anzahl von Silben aufweisen. Im Refrain wird also das Sprechtempo des übrigen Liedes zurückgenommen. Er besteht vorwiegend aus Apostrophen an das Du. Beide Quartette beginnen mit demselben Satz: „Ich brauch’ dich so sehr“: Die Beziehung zum Du wird also einerseits bestätigt, während das Ich auch bekräftigt, dass diese Stütze den eigenen Weg behindert. Über die Verwendung von Perfektformen (vergessen haben, verloren haben) wird verdeutlicht, wie es zur problematischen Situation im Jetzt der Sprechsituation gekommen ist. Im Text wird neben Passagen, in denen das Ich über die eigene Situation reflektiert, auf durchgängige Weise ein Du apostrophiert. Da während des Liedes nur das Ich spricht, bleibt das Du Figuration des Ich. Dennoch erhält es über die Prosopopöie der Apostrophe ein Gesicht resp. einen Subjektstatus zugesprochen, schließlich impliziert ein/ e SprecherIn in der ersten Person eine/ n EmpfängerIn oder Adressatin/ en. 763 Das Subjekt Ich wird dabei in der Anrede des Du bestätigt und umgekehrt, die „Anrede selbst konstituiert das Subjekt innerhalb des möglichen Kreislaufs der Anerkennung […]“ 764 : „[H]örst du, was ich sage? “ (Vers 5). Es zeigt sich, dass mit „jedem Zuwachs der Selbstheit des Sprechers […] ein vergleichbarer Zuwachs der Andersheit des Partners gegenübersteht.“ 765 Insbesondere im Liebesdiskurs, welcher in Für mich allein aufgegriffen wird, stehen sich zwei Personen als ipse gegenüber, das Ich setzt sich im performativen Sprechakt als Ich und erkennt das Du als zweite Instanz an. Diese Anerkennung kann allerdings nur geschehen, indem von der Frage des Wer? , also des ipse, auf das Was? , die Frage des idem, übergegangen wird. Das Du muss in seiner Einzigartigkeit und Einzigkeit als dieselbe Person in der Zeit wiedererkannt werden. Schließlich geht es bei der Konstitution von Identität wie auch in einer Liebesbeziehung darum, Bestätigung zu finden, „der Einzelne muss […] in dem, was er selbst ist, […] Resonanz finden können.“ 766 ‚Ich bin‘, weil du mich akzeptierst. Oder wie Luhmann dies ausdrückt: „Was man in der Liebe sucht, wird somit in erster Linie dies sein: Validierung der Selbstdarstellung.“ 767 Das Problem des Ich scheint allerdings nicht eine zu konstatierende mangelnde Bestätigung oder Anerkennung zu sein („Da ich bei dir nichts zu beweisen habe“, Vers 7, Refrain), sondern das, was sich als ‚nächster Schritt‘ erweist: Die Aufgabe des eigenen Subjektstatus zugunsten eines gemeinsamen Beziehungs-Ich, das Verschmelzen der zwei ipse zu zwei Hälften eines Gan- 763 Vgl. Benveniste, Sprachwissenschaft (Anm. 389), S. 289; diese/ r AdressatIn kann natürlich auch das Ich selbst sein. 764 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 14. 765 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 59. 766 Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt am Main 6 1992, S. 18. 767 Ebenda, S. 208 (Markierung dem Original entnommen). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 290 zen: „Doch ich darf nicht immer bei dir sein / Sonst würdest nur du meinen Lebensweg stützen / Und ich könnt’ nicht gehen / für mich allein / […] / Ich hab’ schon vergess’n / wie es ist zu steh’n / Da ich bei dir nichts zu beweisen habe / Hab’ ich den Willen verlor’n / für mich selber zu geh’n“ (Verse 2-4, 6- 8, Refrain). In der zweiten Strophe wird nun das Thema der ersten dahingehend variiert, als dieser ‚Zustand‘ des Ich verändert werden soll: „Doch ich will wieder lernen alleine zu kämpfen“ (Vers 11). Die Situation, in der sich das Ich befindet, scheint also jener Moment des Umschlags, der Peripetie, im Leben des Ich zu sein, in dem für die Zukunft ein anderer Weg eingeschlagen werden soll. Allerdings gelangt das Ich gleich zu Anfang der Strophe zu einer neuen Erkenntnis: 1) Ich spür’ mich nicht, nur beklemmenden Druck a 2) Wann du gehst, wann du kommst, ich verschwend’ schon genug a 3) Zeit an Gedanken diesen Kreislauf zu ändern b 4) Nur der Geist ist zu schwach, dass er erkenn’n kann b 5) Ich muss mich nicht entscheiden / zwischen dir und meinen Zielen c/ d 6) Muss mich nicht entscheiden / zwischen dir und meinen Zeilen c/ d 7) Ich muss nur unterscheiden / zwischen einsam und allein c/ e 8) Denn selbst, wenn du nicht da bist, wirst du immer bei mir sein e 9) Mein Körper bricht ein von den dauernden Krämpfen f 10) Für dich bin ich schön auch mit Fieber und Schweiß g 11) Doch ich will wieder lernen alleine zu kämpfen f 12) Denn ich weiß, was ein Kampf für den Sieger heißt g 13) Ich vermiss’ das Gefühl von Stolz auf eigene Leistung h 14) Lob für eigene Arbeit, Stress und dann Erleichterung h 15) Ich muss für mich stehen / um mich anzulehnen i/ i 16) Doch das anzugehen / heißt, ich kann dich nicht sehen i/ i 17) Ich hab’ mich gewöhnt an unser tägliches Leben j 18) Und vergessen, dass ich ein eigenes besitz’ k 19) Doch anstatt es zu nehmen / stand ich daneben j/ j 20) Du hast mich gesehen / und dann nahmst du mich mit j/ k 21) Seitdem ist jeder Schritt / beschützt und bewacht k/ l 22) Doch zum Stehen ohne dich / fehlte lange die Kraft k/ l 23) Ich hab’ den Anfang gemacht / geh, auch wenn’s hart ist l/ m 24) Da mein Glaube stark ist / dass du am Ende wartest m/ m Refrain. Die zweite Strophe, die reimtechnisch sehr komplex ist, beginnt mit einem Vers, welcher vor der Zäsur aus nur vier einsilbigen Wörtern besteht: „Ich spür’ mich nicht / nur beklemmenden Druck“. Das Ich beklagt also einen 7.2 Textanalysen 291 Zustand des Selbstverlustes, welcher in den Versen 3 und 4 präzisiert wird: Mit einem Enjambement werden diese beiden Verse miteinander verbunden, welche damit auch den zur Sprache kommenden „Kreislauf“ (Vers 3) zum Ausdruck bringen. Das Dasein des Ich dreht sich um das Kommen und Gehen des Du. Um diesen Kreislauf zu ändern, benötigt das Ich eine Erkenntnis, die in den Versen 5 bis 7 erläutert wird, wobei Vers 6 und 7 beinahe identische Wiederholungen von Vers 5 darstellen. So handelt es sich bei Vers 6 um eine Wiederholung von Vers 5, wobei der zweite Versanfang kein ‚ich‘ aufweist. Zudem wurden in Form einer Paronomasie am Ende des Verses die „Ziele[…]“ durch „Zeilen“ vertauscht: Die Ziele des Ich werden also als ‚Zeilen‘ präzisiert, wobei die ‚Zeilen‘ als Metonymie für das künstlerische Schaffen des Ich stehen könnten. Die Verse 5 und 6 sind Negationen, sie weisen (mit einem Auftakt im ersten Vers) regelmäßige Trochäen auf, die durch die fallende Betonung einen eher düsteren Charakter haben, durch die Wiederholung wirken sie wie ein einlullendes Mantra, das sich das Ich vorsagt, um sich den vorher angesprochenen Kreislauf bewusst zu machen. Alle drei Verse sind durch eine Anapher („zwischen“) zu Beginn der zweiten Vershälfte verbunden. In Vers 7 wird allerdings der regelmäßig alternierende Rhythmus der beiden anderen aufgebrochen, die Betonung wird wieder der Alltagssprache angeglichen, was diesem und dem folgenden Vers den Charakter einer rationalen Erkenntnis verpasst: Trotz der anaphorischen Struktur zu Beginn (in Bezug auf Vers 5 und 6) weist dieser Vers keine Negation auf, in der ersten Vershälfte wird mittels eines Homoioteleutons „entscheiden“ durch „unterscheiden“ ersetzt. Ein Homoioteleuton legt eine ähnliche Wortbedeutung zwischen zwei gleich endenden Worten nahe: Sich zu entscheiden bedeuten für das Ich also, ‚unterscheiden‘ zu lernen: Das Ich muss unterscheiden lernen zwischen „einsam“ (Vers 7) und „allein“ (Vers 7). Der Weg ohne das Du wird also kein einsamer, das Ich muss nur allein sein, um sich auf sich selbst konzentrieren zu können. Das Ich erkennt, es muss sich nicht zwischen Du und beruflicher Tätigkeit entscheiden, das Du wird als Unterstützung da sein, ohne das Leben mit ihm zu teilen. Auf diese Weise wird das Ich nicht einsam sein. Während das Ich in den Versen 9 bis 22 noch einmal begründet, warum es seinen Weg alleine gehen muss, zeigt es in den letzten beiden Versen der zweiten Strophe schließlich mittels einer Imperativkonstruktion Initiative und schickt das Du fort: „Ich hab’ den Anfang gemacht / geh, auch wenn’s hart ist“ (Vers 23). Dieser lokalen Trennung wird wiederum jene ‚geistige‘ Verbundenheit gegenübergestellt, der entsprechend der letzte Vers lautet: „Da mein Glaube stark ist / dass du am Ende wartest“ (Vers 24). Das angesprochene Ende greift die vorhin suspendierte zeitliche Dimension des Ich wieder auf, und es stellt sich naturgemäß die Frage, von welchem Ende die Rede ist. Dies könnte einerseits dahingehend bewertet werden, dass das Ich für sich nur ein kurzes Zeitfenster der ‚Selbstverwirklichung‘ öffnen möchte, um dann wieder in den gesicherten Hafen der Beziehung zurückzu- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 292 kehren, ohne sich von dieser Perspektive und ihren narrativen Implikationen je gelöst zu haben, was die Eigenständigkeit des Ich als ipse betrifft. Die Trennung wäre sozusagen nur physischer Natur. Andererseits könnte in diesem Satz auch ein Moment der Hoffnung impliziert sein, dass eine ‚Beziehung‘ zu einem anderen Menschen nicht unbedingt ein Aufgeben des eigenen Subjektstatus notwendig macht, das Ich allerdings zunächst lernen möchte, „für mich [zu] stehen / um mich anzulehnen“ (Vers 15), d. h. es steigt aus der narrativen Einkleidung der Beziehung zunächst aus, eröffnet sich ein neues idem, um am Ende (nach Abschluss der Entwicklung) mit der anderen Person als zwei getrennte ipse wieder eine neue ‚Geschichte‘ zu beginnen, innerhalb der diese Eigenständigkeit nicht verloren geht. Dabei bleibt wohl die Frage offen, inwieweit so eine Entwicklung je ein Ende hat resp. ob eine zweite Person das Warten bis dahin auf sich nimmt. Was die Geschlechtsidentität des Ich betrifft, so wird diese zunächst nur mittels der Zuordenbarkeit der gesprochenen Stimme zum weiblichen Geschlecht bestimmt. Es werden keine für den Liebesdiskurs typischen Bezeichnungen in Bezug auf Geschlechtsidentität aufgegriffen. Einzig jene Textstelle in Strophe 2, in welcher das Ich behauptet, für das Du „schön auch mit Fieber und Schweiß“ (Vers 10) zu sein, vermag auf ein weibliches Ich hinzuweisen, da es sich bei ‚Schönheit‘, wie Frevert konstatiert, um ein traditionell weibliches Konzept handelt. 768 Dementsprechend könnte mittels der „heterosexual default structure“, der gemäß in westlichen Gesellschaften die Annahme gilt, „dass bei Liebespaaren von dem Geschlecht des einen Partners auf das (gegengleiche) des anderen Partners geschlossen werden kann“ 769 , das Du als männlich angenommen werden. Zudem stellen die Aufgaben des Beschützens ‚der Frau‘ und des Sorgens für diese, die alleine nicht ‚überleben‘ kann, traditionellerweise Aufgaben des Mannes dar. Prinzipiell bleibt es aber offen, welchem Geschlecht das Du angehört. Dass das Ich als weibliches zu lesen ist, könnte sich allerdings aus der Tatsache erschließen lassen, dass das Thema der ‚Selbstfindung‘, des Erarbeitens einer selbstständigen ipse-Position (in Bezug auf berufliche Tätigkeiten), ein klassisch feministisches Thema darstellt: Der Titel des Liedes Für mich allein stellt in diesem Zusammenhang einen intertextuellen Bezug zu einem der Gründungstexte des Feminismus her, welcher in der deutschen Übersetzung 768 Vgl. Ute Frevert: Geschlechter-Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts. In: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Frankfurt am Main 1998, S. 181-216, hier S. 183. 769 Beide Zitate: Gaby Allrath und Carola Surkamp: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Vera Nünning und Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. Stuttgart/ Weimar 2004, S. 143-179, hier S. 151. Der Begriff der ‚heterosexual default structure‘ geht auf Fludernik (1999) zurück. 7.2 Textanalysen 293 den Titel Ein Zimmer für sich allein 770 trägt und in dem Virginia Woolf über die problematischen Bedingungen der schreibenden Frauen reflektiert und zu dem „prosaischen Schluss“ kommt, „dass es notwendig ist, fünfhundert [Pfund, Anm. A. B.] im Jahr zu haben und ein Zimmer mit einem Schloss in der Tür, wenn man Fiction oder Gedichte schreiben will.“ 771 Auch hier geht es u. a. um die Möglichkeit des ‚Allein-Seins‘ im kreativen Prozess. Auf diese Weise wird der Liebesdiskurs in Für mich allein mit einem feministischen Diskurs versetzt, was eine Abkehr vom traditionellen ‚romantischen‘ Liebesdiskurs bedeutet, in dem immer wieder eine Verschmelzung der beiden Personen zu einer Einheit propagiert wird, wiewohl das Ende des Liedes, wie oben ausgeführt, eine diesbezügliche Ambiguität stehen lässt. Mittels der Hinweise auf die schreibende Tätigkeit des Ich wird ein Bezug zum Ich vor dem Text (als Namen auf dem Cover) aufgebaut, der allerdings vage bleibt, insofern keine Referenzen auf musikalische Tätigkeiten erfolgen. Zudem gibt es keine lokal- oder temporaldeiktischen Angaben, welche das Geschehen des Textes in eine/ n außertextuelle/ n Referenzzeit und -raum einfügen. Insgesamt geht es dem Ich im Text darum, seine Position als eigenständiges ipse zu behaupten, indem es sich als idem in einem neuen narrativen Rahmen (außerhalb der Beziehung zum Du) positionieren möchte, wobei das verabschiedete narrative Framing nicht zur Gänze aufgehoben wird. Gerade die zeitliche Dimension des Liebesdiskurses ist es, welche auch im Zentrum der Aufmerksamkeit des nächsten Raps steht: Pyranjas Wenn du wüsstest (Py 26) besteht aus zwei Strophen zu zwölf Versen und einer verkürzten dritten Strophe zu acht Versen. Dazwischen liegt der Refrain, welcher vier Verse umfasst. Zu Beginn des Liedes werden die ersten beiden Verse des Refrains zitiert, wobei sich zeigt, dass das Lied bereits mit dem temporalen Adverb „immer“ einsetzt: „Immer wenn ich dich sehe, will ich mich neben dich legen. Du bist so… Denn du und dein Lächeln sind meine einzige Schwäche. Du bist so…“ (Py 26). In diesen beiden Eingangsversen werden bereits zentrale Themata des ganzen Liedes angesprochen: Zunächst wird das kommunikative Setting festgesetzt. Ein Ich adressierst ein Du. Die beiden haben regelmäßigen Kontakt („Immer wenn…“), obgleich nicht klar wird, in welcher Beziehung die beiden genau zueinander stehen. Dass sich das Ich neben das Du legen will, zeigt aber bereits an, dass es (aus welchen Gründen auch immer) nicht dazu in der Lage ist, dies in die Realität umzusetzen. Das Ich scheint aber an einer sexuellen Beziehung interessiert zu sein. Der zweite Vers offenbart zudem 770 Virginia Woolf: Ein Zimmer für sich allein [engl. A Room of One’s Own]. Frankfurt am Main 19 2000 [1929]. Zur Bedeutung von Virginia Woolfs Text vgl. Lindhoff, Feministische Literaturwissenschaft (Anm. 407), S. 30ff. 771 Woolf, Ein Zimmer für sich allein (Anm. 770), S. 120. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 294 eine tiefergehende Verbindung zwischen Ich und Du: Indem das Du und sein Lächeln „die einzigen Schwächen“ des Ich darstellen, wird das Du zu einem Teil des Ich. Die beiden Entitäten verschmelzen zu einer. Oben wurde erwähnt, dass innerhalb des Liebesdiskurses die Anerkennung des eigenen Ich durch eine/ n PartnerIn von zentraler Wichtigkeit ist. Paradoxerweise kann diese Anerkennung so weit führen, dass die eine Person beginnt, die andere zu vervollständigen, es kommt zu einer „Einheit der Zweiheit“ 772 . In diesem Vers geht nun der Eigenleib eine Verbindung mit dem Körper der/ s anderen ein. Es wird also bereits klar, dass das Ich bereit ist, seinen unabhängigen ipse- Status in Hinsicht auf das Du einzuschränken oder gar aufzugeben. Die Epipher am Ende der beiden Verse („Du bist so…“) macht wiederum deutlich, dass dem Ich die Worte fehlen, um die Einzigartigkeit des Du auszudrücken. Auch hier wird ein klassisches Element des Liebesdiskurses aufgenommen, der Unsagbarkeitstopos. Das Ich bringt die eigene Ohnmacht und Sprachlosigkeit gegenüber den eigenen Gefühlen und der eigenen Wahrnehmung des Du zum Ausdruck. In der ersten Strophe wird das Verhältnis zwischen Ich und Du näher ausgeführt: 1) Wir kennen uns ’ne Weile, ich hab’ dich öfters gesehen a 2) Und immer, wenn wir uns treffen, hab’n wir uns viel zu erzähl’n a 3) Du rennst mir immer wieder über meinen Weg durch diese Stadt b 4) Manchmal hängen wir rum / und manchmal rufst du mich an b 5) Manchmal quatschen wir für Stunden und vergessen die Zeit c 6) Manchmal heiterst du mich auf, auch wenn ich innerlich wein’ d (c’) 7) Manchmal könnt’ ich mir vorstell’n für immer bei dir zu sein d (c’) 8) Doch das würd’ ich dir nie beichten, damit alles so bleibt c 9) Ich mein’, du und ich sind einfach nur so coole Kumpel e 10) Doch ich bin mir sicher, wir versteh’n uns gut im Dunkeln e 11) Und ich kann es dir nicht sagen, denn wir zwei kenn’n uns ewig f 12) Und was ich mir mit dir vorstell’, geht eh nicht (Py 26). f Die Reimstruktur der ersten Strophe weist größtenteils Paar- und Endreime auf. Die Verse 5 bis 8 hingegen sind durch einen umfassenden Reim strukturiert, wobei dank des Gleichklangs aller vier betonten Vokale (der Verse 5-8) auch von vier assonanten Reimen gesprochen werden kann. Das Personalpronomen „wir“ stellt das erste Wort des ersten Verses dar und zeigt auf diese Weise das Thema des Liedes an. Es geht um ein ‚wir‘, wobei der zweite Teil des ersten Verses präzisiert, dass das Lied die Perspektive 772 Luhmann, Liebe als Passion (Anm. 766), S. 172. 7.2 Textanalysen 295 eines Ich auf die Beziehung des ‚wir‘ präsentiert. Dabei sieht das Ich (im Nominativ), das Du (im Akkusativ) wird gesehen. Wie aus den ersten drei Versen hervorgeht, haben das Ich und das Du aber bereits eine gemeinsame Geschichte (sie treffen sich in der Stadt, erzählen sich viel), eine narrative Rahmung ihrer Beziehung, die eine zeitliche Ausdehnung besitzt. Um dieser zeitlichen Dimension Nachdruck zu verleihen, wirft das Ich in der ersten Strophe in gehäuftem Ausmaß temporale Angaben ein: ’ne Weile, öfters, immer, immer wieder, manchmal (5x), für Stunden, für immer, nie, ewig. Eine Gruppe von Angaben betrifft dabei die Regelmäßigkeit der Treffen in Gegenwart und Vergangenheit (öfters, immer, manchmal, eine Weile, für Stunden), die andere die Ausdehnung in die Zukunft (ewig, für immer), welche die „Sehnsucht nach Dauerhaftigkeit“ 773 zum Ausdruck bringt, die dem ‚romantischen‘ Liebesdiskurs inhärent ist. Dies bestätigt auch Vers 5, in dem erzählt wird, das Ich und das Du würden die Zeit vergessen: Obwohl die zeitliche Dimension so wichtig ist, was die Strukturierung der Vergangenheit betrifft (als Emplotment der Liebesgeschichte), so wird sie hinsichtlich der Zukunft als Bedrohung erfahren, da sie eine Veränderung der gegenwärtigen Situation bringen könnte. 774 Auf diese Weise bedeutet ein ‚Vergessen der Zeit‘ eine Ausblendung dieser Gefahr aus dem gedanklichen Horizont, wobei die Zeit dennoch im Fokus der Aufmerksamkeit bleibt. Eine Temporalangabe in der ersten Strophe steht jedoch in Opposition zu den anderen: „nie“ (Vers 8). Generell lebt die erste Strophe vom Aufbau von Antagonismen. Die Verse 4 bis 7 sind mittels der Anapher ‚manchmal‘ verbunden, wobei Vers 4 die anaphorische Struktur auch nach der Zäsur führt. Diese vier Verse bilden aus diesem Grund eine Einheit, welche aber im letzten Vers aufgebrochen wird: Während die ersten drei Verse im Präsens Indikativ erzählen, wie das Verhältnis zwischen Du und Ich ist, wechselt das Ich im siebten Vers in den Konjunktiv: „Manchmal könnt’ ich mir vorstellen, für immer bei dir zu sein“. Es wird deutlich, dass das Ich und Du nur gute Freunde sind, während das Ich wünscht, diese Beziehung in einen Liebeskontext zu überführen. Interessanterweise wird dieser Umstand über den Wunsch ausgedrückt, „für immer“ (Vers 7) beim Du zu sein. Das ‚ewige Zusammensein‘ stellt also eine Metapher für eine Liebesbeziehung dar (obwohl prinzipiell auch Freundinnen/ e ‚ewig‘ zusammen sein könnten). Dass dem so ist, bestätigt das Ich mit dem nächsten Vers, welcher mit einem adversativen „doch“ (Vers 8) eingeleitet wird und durch den umfassenden Reim (resp. die assonanten Reime) stark mit den vorhergehenden Versen verbunden ist: Das Ich würde diesen Wunsch „nie“ (! ) beichten. Es scheint sich also um eine die bisherige freundschaftliche Beziehung radikal verändernde Information zu handeln. Das Ich präzisiert auch in den folgenden Versen, dass beide Personen nur „coole Kumpel“ (Vers 9) sind, wobei sich das Ich auch eine sexuelle 773 Müller-Funk, Kultur und ihre Narrative (Anm. 6), S. 99. 774 Vgl. Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 146. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 296 Beziehung vorstellen könnte, was wiederum mittels des adversativen „doch“ (Vers 10) eingeleitet wird. Sexualität und ‚für immer beisammen zu sein‘ scheinen also das zu sein, was aus der Freundschaft eine Liebesbeziehung macht. Dieser Gegensatz zwischen Freundschaft und Sexualität wird insbesondere in den Versen 9 und 10 ausgedrückt. Obwohl das [u: ] prinzipiell einen hellen Vokal darstellt, ist es üblich, es im Wort ‚cool‘ [ku l] sehr tief zu intonieren. Die anderen [u ]resp. [ ]-Laute („Kumpel“/ „gut“/ „Dunkeln“) werden angepasst und erinnern an eine männliche Stimme, was die Kumpel- Beziehung (als ‚Männerfreundschaft‘ ohne sexuelle Dimension) zwischen Ich und Du nun auch lautlich zum Ausdruck bringt. Die Begriffe mit den [u ]/ [ ]-Lauten stehen zudem jeweils am Versende und werden gedehnt gesprochen, was eine alltagssprachliche Lässigkeit evoziert, die die anzügliche Botschaft des zehnten Verses konterkariert. Eine Lösung für das Ich scheint nicht in Sicht, schließlich fürchtet es mit einem Liebesgeständnis auch die Freundschaft zu verlieren: Der resignative Schlusssatz von Strophe 1 wird übrigens ohne musikalische Begleitung gesprochen, was ermöglicht, das Tempo zu verlangsamen und erhöhte Aufmerksamkeit auf ihn zu legen: „Und was ich mir mit dir vorstell’, geht eh nicht“ (Vers 12). Der Refrain schließlich umfasst vier Verse, die keine Endreime, sondern nur Binnenreime aufweisen. Der Binnenreim erzeugt eine (nicht immer syntaktisch betonte) Zäsur. Die ersten beiden Verse weisen in Bezug auf den Reim lautliche Ähnlichkeiten auf: [e]/ [e ]. Ebenso trifft dies auf die beiden letzten zu: [y: ]/ [ ]. Insofern besteht der Refrain aus zwei Verspaaren, welche syntaktisch auf die gleiche Weise mit einem „immer, wenn“ eingeleitet werden. Dies bringt die Regelmäßigkeit des Kontaktes zwischen Ich und Du zum Ausdruck und legt somit wiederum den Fokus auf die zeitliche Dimension ihrer Bekanntschaft: 1) Immer, wenn ich dich seh’ / will ich mich neben dich leg’n. Du bist so... (oh) a/ a 2) Denn du und dein Lächeln / sind meine einzige Schwäche. Du bist so... (oh) a’/ a’ 3) Immer, wenn du mich berührst / krieg’ ich dieses Gefühl. Du bist so... (oh) b/ b 4) Und wenn du gehst, komm zurück / du mich machen verrückt. Du bist so... (oh). b’/ b’ Der Refrain fasst also die Gefühle des Ich zusammen, wiederholt vierfach als Ephipher den Unsagbarkeitstopos, welcher im letzten Vers in anderer Form wieder aufgenommen wird: „Du mich machen verrückt“ als nicht standardsprachlicher Satz bringt die Verwirrung des Ich zum Ausdruck. Es kann angesichts seiner verwirrenden Gefühle gegenüber dem Du nicht mehr den Regeln konform sprechen. 7.2 Textanalysen 297 In der paargereimten Strophe 2 schließlich werden die Themata der ersten Strophe wiederaufgenommen. Es findet sich erneut eine große Fülle an temporalen Angaben (jedes Mal, manchmal (2x), ständig, mal, noch nie, grade, schon lange). Auch werden wiederum antagonistische Situationen aufgebaut, die die ersten zehn Verse der zweiten Strophe verdeutlichen: 1) Mein Tag ist jedes Mal gerettet, wenn ich weiß, dass ich dich seh’ a 2) Manchmal fehlst du mir, was ich selber nicht versteh’ a 3) Ey, wenn du wüsstest, was ich manchmal schon glaube b 4) Wir sind gemacht füreinander, weil du mich ständig verzauberst b 5) Wie kann man smart sein, und so blendend aussehen? c 6) Ein echter Gentleman, wenn wir abends mal ausgeh’n c 7) Und trotzdem hab’ ich keine Chance bei dir d 8) Auch wenn da zwischen uns was ist, so ist noch nie was passiert d 9) Ich weiß nicht, ob du’s fühlst? Das mit uns ist schon deep e 10) Vielleicht magst du mich ja auch oder dir geht’s ums Prinzip. e In der zweiten Strophe wird insbesondere in den Versen 4 bis 8 angedeutet, dass die Freundschaft zwischen Ich und Du nicht nur kumpelhafter Natur ist. Die Tatsache, dass die beiden füreinander gemacht sind, greift eindeutig jenen Liebesdiskurs auf, in welchem davon ausgegangen wird, dass sich zwei Liebende zu einer Einheit ergänzen. Der aktive Part wird dabei dem Du zugeschrieben: Es „verzauber[t]“ (Vers 4). Diese Tätigkeit des ‚Verzauberns‘ evoziert auch das Bild des ‚Märchenprinzen‘, welcher das Ich als (wartende? ) Prinzessin erlöst. Es wird auch zum ersten und einzigen Mal während des Raps eine eindeutige geschlechterspezifische Bezeichnung für das Du gewählt: Als „blendend“ (Vers 5) aussehender „Gentleman“ (Vers 6) erweist sich das Du als männlich, was angesichts der ‚heterosexual default structure‘ sowie auch der weiblich konnotierten Stimme des Ich bedeutet, dass das Ich als weiblich anzusehen ist, was eine Verbindung zum Ich vor dem Text herstellt. Abgesehen vom Aussehen und den Gentleman-Attributen, welche in diesen Versen Erwähnung finden, werden dem Du im Laufe des Liedes allerdings keine stereotyp männlichen Eigenschaften mehr zugesprochen. Es wird generell als ‚Freund‘ beschrieben (welcher anruft, zuhört, tröstet). Obwohl das Du das Ich auch durchaus als ‚Frau‘ wahrzunehmen scheint, bleibt unklar, warum das Ich „trotzdem“ (Vers 7) keine Chance hat. Das Ich reflektiert über mögliche Gefühle des Du, ist sich aber nicht sicher. Gerade die konditionale Fügung im Titel des Liedes Wenn du wüsstest vermittelt diese Unsicherheit: Was würde passieren, wenn…? In Bezug auf die eigenen Empfindungen geht das Ich darauf ein, dass sich diese erst kürzlich verändert haben, wie das Ich in den letzten beiden Versen der zweiten Strophe kundgibt: 11) Ich kann dir nicht erklären, was da grade geschieht f 12) Du bist schon lange mein Homie, aber ich hab’ mich verliebt. f 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 298 In diesem endgereimten Verspaar werden zwei Antagonismen aufgebaut: Das „grade“ im ersten steht im Gegensatz zum „schon lange“ im zweiten Vers, der Begriff „Homie“ (als szenespezifischer Begriff für ‚Freund‘) im Gegensatz zum ‚Sich-verliebt-Haben‘. Wiederum wird die ‚Liebe‘ von einer Aura des Unerklärlichen umgeben. Die letzte Vershälfte wird (ähnlich wie bei Strophe 1) ohne Musik und verlangsamt gesprochen, was ihr umso mehr einen resignativen Charakter verleiht. Eine lange Freundschaft steht der rezenten Entwicklung gegenüber. In einem referenzlosen ‚Jetzt‘ ist aber die Peripetie erfolgt, die eine neue Zeitrechnung einläutet. Der Refrain nach der zweiten Strophe birgt eine Veränderung in sich. So ist nach jedem Vers des Ich ein Sample einer männlich konnotierten, gesungenen Stimme (Stimme: Kimoe) eingefügt: Immer, wenn ich dich seh’, will ich mich neben dich leg’n. Du bist so... Bitte, leg dich zu mir, Girl Denn du und dein Lächeln sind meine einzige Schwäche. Du bist so... Oh, komm und lächle für mich, Girl Immer, wenn du mich berührst, krieg’ ich dieses Gefühl. Du bist so... Baby, du machst mich so verrückt Und wenn du gehst, komm zurück, du mich machen verrückt. Du bist so... Oh, wie gern ich dir das sagen würd’. Diese Verse wirken wie ein Dialog; so werden in den neu eingefügten Versen 1 und 2 Verben aus den vorangehenden wiederholt („leg’n“ / „lächeln“), während im dritten Vers das ‚Verrückt-Machen‘ vorweggenommen wird. Der vierte Vers wirkt wie eine Zusammenfassung, sowohl in Bezug auf den Refrain, als auch auf die beiden vorangegangenen Strophen. Da die Aneignung einer fremden Stimme (eines Samples) als eigener Stimme im Rap durchaus häufig ist, stellt sich die Frage, ob hier ein Monolog des Ich oder ein Dialog dargestellt werden soll. Dank der Adressierungen als „girl“ in den ersten beiden hinzugefügten Versen scheint es sich um eine Antwort resp. einen Kommentar des Du zu handeln, ohne dass das Ich in der Lage wäre, diese zu hören - schließlich spult es sein bekanntes ‚Programm‘ ab, ohne unmittelbar zu reagieren. Wenn das Du aber um die Gefühle des Ich Bescheid weiß, stellt sich Frage, weshalb es nichts sagt. Es besteht auch die Möglichkeit, dass das Du und Ich einander nicht hören, so dass die Wiederholungen nicht geplanter Natur sind, und man davon ausgehen könnte, dass sich die beiden in der gleichen Situation befinden und ‚zufällig‘ zu denselben Worten greifen. Bei einem derartigen Sachverhalt würde das Lied eine tragische Note erhalten: Das Du erwidert also die Gefühle des Ich, beide wissen aber nichts von den Empfindungen des jeweils anderen. Da es aber keine referentiellen Hinweise gibt, dieses Ich der gesampelten Verse als Du der Strophen einzuordnen, wäre es auch möglich, die Verse lediglich als Illusion des Ich einzustufen. Die zweite Stimme würde demnach 7.2 Textanalysen 299 nur im Kopf des Ich existieren und dessen geheimsten Wunsch erfüllen - dass das Du die Gefühle erwidert und in einem ähnlichen Chaos steckt wie es selbst. Die Struktur der dritten Strophe weist auch auf eine solche Interpretation hin: 1) Bitte schau mich nicht so an / bitte sei nicht so nett a 2) Bitte bleib heut hier bei mir / du bist einfach perfekt a 3) Bitte sag mir, was du willst / oder bitte geh weg a 4) Bitte wach endlich auf / mit mir zusammen im Bett a 5) Bitte schrei mich doch an / wenn ich es anders nicht check’ a 6) Bitte flüster [sic! ] in mein Ohr / wenn du das Gegenteil denkst a 7) Bitte, bitte lüg mich an / wenn ich die Wahrheit nicht ertrage b 8) Das hier ist dein Song / ich kann es dir nicht anders sagen. b Bis auf den letzten Vers sind alle Verse durch die Anapher „bitte“ verbunden, zudem sind sie endgereimt. In allen Fällen wird über syntaktische Strukturen eine Zäsur gesetzt, wobei zwei Verse auch nach der Zäsur mit einem „bitte“ (Vers 1 und 3)beginnen. Die vielen Bitten im Imperativ unterstreichen den verzweifelten Gestus des Liedes, welcher aber auch aggressive Züge trägt, was durch die lautliche Gestaltung der Strophe mitgetragen wird: Die Reimwörter der ersten sechs Verse sind (mit einer Ausnahme) einsilbig, wobei sie ein kurzes, hohes [ ] aufweisen und am Ende von den Plosiven [t] und [k] gekennzeichnet sind. Dergestalt können die Wörter sehr schnell und hart gesprochen werden, was ihnen eine (verzweifelte) Aggressivität verleiht. Die Bitten an das Du sind durchaus widersprüchlich, es soll weggehen oder hier bleiben, die Wahrheit sagen oder lügen, flüstern oder schreien. Wie die Zählung der Silben ergibt, sind die ersten sechs Verse (beinahe exakt) gleich lang, was mittels der dadurch hergestellten Monotonie einen Predigtcharakter herstellt, der wiederum die Verzweiflung als Aufbegehren zum Ausdruck bringt. Die Regelmäßigkeit, der Predigtcharakter sowie auch die verzweifelte Aggressivität weisen die Verse als inneren Monolog aus, als Mittel die eigenen Gefühle in einer Endlosschleife zu wiederholen, um mit ihnen fertig zu werden. Dergestalt zeigt das Lied Züge einer „I-I- Communication“ 775 (Autocommunication), eines Selbstgesprächs, das den eigenen Reflexionsprozess mittels eines anderen als des alltagssprachlichen Codes, und zwar in diesem Falle mittels des Rap-Codes (als gereimten Sprechgesangs), zum Ausdruck bringt. Lotman versteht unter „I-Icommunication“, dass eine Message bekannten semantischen Inhalts seitens eines Ich mittels eines neuen Codes reformuliert wird. 776 Gerade die rhythmische Strukturierung des Textes spielt dabei eine große Rolle, da mittels ihrer dem Text per se keine neuen Inhalte hinzugefügt werden, die bekannten In- 775 Lotman, Universe of the Mind (Anm. 651), S. 25. 776 Vgl. ebenda, S. 25. 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 300 halte werden aber für das Ich neu dargelegt - was sie aber auch verändert. Die Interpretation des Liedes als Autokommunikation würde nun die These stützen, dass die Stimme des männlichen Du im Refrain lediglich als Illusion des Ich zu sehen ist. Im siebten Vers der dritten Strophe schließlich wird das „bitte“ zu Beginn verdoppelt, weshalb aus Analogiegründen zu den anderen Versen die Betonung nun auf das zweite „bitte“ fällt anstatt auf den Imperativ. Diese Vershälfte stellt sozusagen die Klimax an Verzweiflung dar. In der zweiten Vershälfte wird das Reimschema verändert, anstelle des kurzen [ ] tritt ein langes [a ] als betonter Vokal. Auf diese Weise wird das Tempo gegen Ende verlangsamt, auch wenn die beiden letzten Verse sehr lang sind. Der siebte Vers nimmt also gewissermaßen eine Zwischenstellung in der Strophe ein, da er durch die Anapher noch mit der übrigen Strophe verbunden ist und diese sozusagen auf den Höhepunkt treibt. Andererseits ist er durch den Reim (b) mit dem achten Vers verbunden und bricht dadurch das Schema der anderen auf. Im letzten Vers schließlich ist die rhythmische Einteilung eine andere: Betont wird nicht das zweite Wort, sondern erst das vierte: „Das hier ist dein Song“. Der letzte Vers bringt einen Abschluss, der auch durch die ruhigen tiefen [a ]-Laute transportiert wird; er scheint aber auch zu einer Veränderung der Liedaussage zu führen. Der Autokommunikation der vorhergehenden Verse wird plötzlich eine Widmung hinzugefügt. Das Lied stellt nicht mehr nur Code dar, sondern auch Message: Das Ich widmet das Lied dem Du mit dem selbstreflexiven Hinweis, ihm die Wahrheit auf keinem anderen Weg mitteilen zu können. Dergestalt erhält das Lied einen performativen Gestus, es stellt eine Offenbarung der eigenen Gefühle an das Du dar. Obwohl im ganzen Lied davon gesprochen wird, diese Gefühle ‚nie‘ publik machen zu wollen, scheint genau diese Haltung am Ende subvertiert zu werden. Soll also der letzte Vers die Bedeutung des ganzen Liedes verändern? Prinzipiell erzählt das Ich bereits über das ganze Lied hinweg seine Gefühle für das Du. Tatsächlich aber werden über das Ich und das Du außerhalb des Freundschafts- und Liebesdiskurses keine Informationen gegeben. Es wird zwar vielfach betont, es gebe eine gemeinsame Geschichte, außer ein paar relativ allgemeinen Situationen gibt es aber keine näheren Informationen. Es finden sich keine lokalen oder temporalen Deiktika, die das Geschehen in einer Zeit und einem Ort außerhalb des Textgeschehens situieren. Ferner wird praktisch kein fassbarer Zusammenhang zwischen dem Ich im Text und dem Ich vor dem Text hergestellt, mit Ausnahme der relativ weit verbreiteten, szenespezifischen Bezeichnung Homie. Die idem-Dimensionen des Ich und des Du (als ihre Wiedererkennbarkeit in der Zeit, als das Was? des Wer? ) spielen nur als Thema in den Ausführungen des Ich eine Rolle, nicht aber in der Erzählstruktur des Textes. Hier zieht sich das Ich auf eine entblößte ipse-ErzählerInnenposition zurück, von welcher aus es spricht. Denn obwohl das Ich immer wieder auf die gemeinsame Geschichte mit dem Du hinweist, bleibt 7.2 Textanalysen 301 die Natur des gemeinsam Erlebten sehr allgemein. Das Pronomen ‚ich‘ erscheint als Leerdeixis, das von vielen Ichs mit unterschiedlichen idems ausgefüllt werden kann, weshalb das Lied trotz der Widmung am Ende seinen Charakter als Autokommunikation behält. Interessanterweise zieht sich also das Ich genau auf jene Position zurück, welche es innerhalb des Liebesdiskurses durch eine ‚Einheit der Zweiheit‘ aufzugeben bereit ist. Insofern gibt es eine Diskrepanz zwischen der Aneignung des romantischen Liebesdiskurses und der aktiven ErzählerInnenposition des Ich. Die Interpretation des Liedes als Autokommunikation könnte diese Diskrepanz dahingehend auflösen, als dem Ich dieser Umstand der Auflösung bewusst ist und es nur in Gedanken mit der Möglichkeit spielt, diese Eigenständigkeit aufzugeben - im Gegenteil: Über die Wiederholung der Geschichten mit dem Du aus der selbst-ständigen ipse-Position wird diese immer wieder aktualisiert und bestätigt. Im Gegensatz zur geheimen Liebe bei Pyranja evoziert der thematische Titel von Manges’ Gemeinsam, dass es hier um erfüllte, weil ‚gemeinsame‘ Liebe geht. Das Lied besteht aus zwei Strophen zu je acht Versen, wobei die Strophen von einem ebenfalls acht Verse umfassenden Refrain unterbrochen werden. Das Lied erweist sich als kein typisches Rap-Beispiel, so sind die Verse nicht so regelmäßig aufgebaut wie in den drei anderen hier vorgestellten Liebes-Texten: Was Reimschemata und Zäsur betrifft, hält sich der Text an kein (mehr oder weniger) stringentes Schema, es gibt keinen regelmäßigen Paarreim, auch keine durchgängigen am Taktschema orientierten, mittels syntaktischer Einschnitte unterstützten Zäsuren: 1) Ich weiß, die Liebe sollte eigentlich frei sein a 2) Doch ich bin einsam, und wünsche mir Gemeinsamkeit a’ 3) Mädchen, ich suche nach dir, deine Berührung b 4) Es ist eine Erlösung / wenn ich deine Nähe spür’ b’/ x 5) Deine Wärme, deine weiche Haut, deine Weiblichkeit a’ 6) Du siehst, wie ich dich anblicke voller Zärtlichkeit a’ 7) Wir, du und ich, findest du zu mir? c 8) Ich möchte mich wiederfinden in dir (Ma 33). c In der ersten Strophe finden sich kaum Reime im eigentlichen Sinne: Es gibt nur lautliche Ähnlichkeiten, mit denen gespielt wird, wie z. B. im Falle der Begriffe „Gemeinsamkeit“ / „Weiblichkeit“ / „Zärtlichkeit“ (a’). Dasselbe gilt für das Paar „Berührung“ / „Erlösung“ (b’). Der erste Vers setzt mit einer Feststellung des Ich ein, dass die Liebe „frei“ sein sollte. Der Begriff der Liebe scheint hier als Metonymie für die Liebenden zu stehen, schließlich weist das Ich im zweiten Vers auf seine Einsamkeit als Person hin, die es gegen Gemeinsamkeit tauschen möchte. Mit dem Hinweis 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 302 auf die Freiheit im Gegensatz zur Einsamkeit bezieht sich das Ich auf die Tatsache, dass Liebe nicht an einen Ort gebunden ist, d. h. dass zwei sich liebende Menschen nicht am selben Ort verweilen müssen, um sich der Liebe der/ s anderen gewiss zu sein. Allein sein bedeutet also für eine/ n Liebende/ n grundsätzlich nicht einsam zu sein, dennoch fühlt sich das Ich so und sucht aus diesem Grunde nach dem Du. Das Du wird in Vers 3 als „Mädchen“ apostrophiert, was zusammen mit der männlich konnotierten Stimme (analog der ‚heterosexual default structure‘) das Ich als männlich ausweist. Die Nähe des Du stellt für das Ich eine „Erlösung“ (Vers 4) dar. Der Begriff der ‚Erlösung‘ verweist auf einen religiösen Hintergrund, wobei im christlichen Glauben Christus den Erlöser von Sünden und Tod darstellt. Hier erscheint das Du als ErlöserIn von der Einsamkeit. Diese Erlösung hat allerdings einen immanent sexuellen Charakter (Nähe, Berührung): Sie kann dergestalt auch als Erlösung von (sexueller) Anspannung verstanden werden. Dem Du wird also ErlöserInnenfunktion in zweifacher Hinsicht zugeschrieben: einerseits Erlösung von der Anspannung der Einsamkeit, andererseits Erlösung von sexueller Einsamkeit. Ähnlich wie bei einer religiösen Sinnsuche sucht auch das Ich nach dieser Erlösung. Im Gegensatz aber zur Christusfigur, die handelnd die Erlösung herbeiführt, bleibt das Du passiv. Es stellt einen aufnehmenden Körper dar. Schließlich sind es die Wärme, die weiche Haut, die Weiblichkeit des Ich, welche diese Nähe ausmachen. Vers 5 stellt also eine Aufzählung dreier Attribute des Du dar, die durch die dreifache Wiederholung des Possessivartikels ‚deine‘ mit dem [d] zu Beginn sowie durch die Alliteration des [v] von „Wärme“ / „weiche“ / „Weiblichkeit“ das Du in seiner Weichheit und Sanftheit auch lautlich realisieren. Das Ich greift damit traditionelle Attribute des ‚weiblichen‘ (Un-)Körpers auf, Weiblichkeit erscheint als natürliche Körperlichkeit ohne feste Konturen, der Körper zeigt sich als zerfließende Oberflächenmaterie, auf die von Seiten des Mannes Einschreibungen erfolgen. Insbesondere die Erwähnung des ‚oberflächlichsten‘ aller menschlichen Organe, der Haut, korrespondiert mit dieser Sichtweise des Ich. Das Weibliche erscheint als das Aufnehmende, in das der Mann (das Ich) eindringt. 777 Der Körper, der dem Du über die Adressierung gegeben wird, wird also wieder defiguriert, „statt eine menschliche Gestalt zu verleihen“, setzt der Vers „einen Prozess der Zerstückelung in Gang“ 778 . Diesem Bild einer weiblichen Passivität entspricht auch Vers 6, in dem das Du sieht, wie das Ich es anblickt. Während das Verb des ‚Anblickens‘ einen aktiven Aspekt enthält, scheint das ‚Sehen‘ nur einen Akt der Wahrnehmung zu umfassen, indem dieser Blick geduldet wird, während das Du selbst passiv 777 Vgl. Butler, Körper von Gewicht (Anm. 546), S. 85f. 778 Barbara Johnson: Lyrische Anrede, Belebung, Abtreibung. In: Barabara Vinken (Hrsg.): Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika. Frankfurt am Main 1992, S. 147-182, hier S. 149. 7.2 Textanalysen 303 bleibt. Im Unterschied zum Ich in Was hat er? (Si 13) schildert sich dieses Ich als ‚zärtlich‘ (Vers 6). Es scheint an einer einfühlsamen sexuellen Beziehung interessiert, wiewohl das Ich im Blick das Du als Frau erst konstituiert. Wie auf ähnliche Weise im Zusammenhang mit Was hat er? ausgeführt wird, existiert „‚[d]ie Frau‘ […] nur innerhalb und für diese Opposition Männlich/ Weiblich als deren (rhetorische) Figur und eben diese Opposition ist als Opposition asymmetrisch, nämlich im Blick des Mannes konstituiert.“ 779 Dementsprechend möchte sich das Ich im letzten Vers im Du wiederfinden, d. h. das Ich möchte sich selbst im Du sehen. Das Du erscheint als Projektionsfläche (Signifikant) für das Ich (als Signifikat). Im vorletzten Vers allerdings weist das Ich auf die Gespaltenheit der Einheit hin: „Wir, du und ich“ (Vers 7). Das Ich ist sich also dessen bewusst, dass die Einheit des ‚Wir‘ aus zwei getrennten Subjekten besteht. Indem im vorletzten Vers eine Frage an das Du gestellt wird, ob es denn zum Ich finden wird, resp. im letzten Vers das Modalverb ‚möchten‘ den Wunsch nach einer Einheit ausdrückt, zeigen sich Momente des Zweifels: Die Verschmelzungsphantasie der vorangehenden Verse wird wieder zurückgenommen, das Ich erkennt, dass es das Du nur in seiner Projektion wahrnehmen kann und es keine ‚wahre’ Gemeinsamkeit ohne dieses Wissen gibt. Mit der Frage: „[F]indest du zu mir? “ (Vers 7) bringt das Ich die Unsicherheit darüber zum Ausdruck, ob das Du sich dieser Mechanismen bewusst ist. Der Refrain schließlich variiert das Thema in ähnlicher Weise: 1) Refrain: Mädchen, ich liebe deine Art, deine Natürlichkeit x 2) Ich möchte bei dir sein / denn ich flüchte aus dieser Welt a/ x 3) In deine Arme hinein, ich sehne mich nach dir a/ x 4) Nach unserer Heimat zu zweit b 5) Mädchen, ich liebe deine Art, deine Weiblichkeit b 6) Ich möchte bei dir sein, denn ich flüchte aus dieser Welt a/ x 7) In deine Arme hinein, ich sehne mich nach dir a/ x 8) Nach unserer Heimat zu zweit. x Der Refrain besteht aus zwei Quartetten. Der Unterschied zwischen den beiden Quartetten besteht in einem einzigen Wort: Das Ich betont, die „Art“ des Du zu lieben, wie auch zum einen seine „Natürlichkeit“ (Vers 1), zum anderen seine „Weiblichkeit“ (Vers 5). Die Referenz auf die ‚Art‘ des Du zeigt zwar an, dass das Ich das Du als Subjekt wahrnimmt. Die Hinweise auf ‚Natürlichkeit‘ sowie auf ‚Weiblichkeit‘, zusammen mit dem wiederholten Anruf des Du als „Mädchen“ (Vers 1 und 5), betonen den naturhaften Charakter einer von gesellschaftlichen Bildern noch unverfälschten Frau, den das Du verkörpert. Zudem möchte das Ich in die Arme des Du fliehen, was - wie auch in Strophe 1 - Weiblichkeit als das aufnehmende Prinzip festigt. 779 Menke, Verstellt (Anm. 712), S. 441 (Markierung dem Original entnommen). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 304 Gemäß dem romantischen Liebesdiskurs phantasiert das Ich von einer privaten Welt als Heimat, die von der Welt ‚draußen‘, der Welt der Tätigen, abgeschottet ist. Dieses Bild evoziert auch sexualisierte Mutter-Kind- Vorstellungen: Die Frau als Mutter (Natur) umfasst das Kind und gibt ihm Heimat. Das Sehnen des Ich nach dieser Heimat bringt jedoch zum Ausdruck, dass es sich bei dieser Vorstellung nur um ein Wunschbild des Ich handelt. In Strophe 2 werden diese Unsicherheiten und Träume präzisiert. Auch Strophe 2 weist kein regelmäßiges Reimschema auf. In einigen Fällen wird zwischen einem Wort am Ende und einem Wort inmitten des nächsten Verses gereimt. Auf diese Weise werden die Verse eng miteinander verbunden, was den fließenden Charakter des Raps unterstreicht: 1) Da muss noch etwas anderes sein x 2) Komm ich zeige dir, was hinter dem Schein verborgen liegt a 3) Und wenn der Schmerz überwiegt / halt dich an mir fest a/ b 4) Und lass nicht los, bis er sich legt / und dann b/ c 5) Liegen wir beisamm’n / gemeinsam c/ d 6) Du in meinen und ich in deinen Armen d 7) Sag mir / wie finde ich zu dir e/ e 8) Ich möchte, dass du dich wiederfindest in mir. e Das Ich weist zunächst in einer konstativen Aussage darauf hin, dass „[d]a noch etwas anderes sein [muss]“ (Vers 1). Worum es sich dabei handelt, wird nicht ausgesprochen. Auch der Referenzort für das „da“ wird nicht spezifiziert. Der lokale Aspekt wird im zweiten Vers wieder aufgenommen, indem das Ich dem Du zeigen möchte, was „hinter dem Schein“ liegt. Vers 3 schließlich bringt zum Ausdruck, dass die neue Einsicht „Schmerz“ zutage fördern wird. Was hinter dem Schein liegt, ist also Schmerz: Im Gegensatz zum Du weiß das Ich Bescheid, es übernimmt die FührerInnenrolle und weiht das Du gewissermaßen in das schmerzhafte Geheimnis ein. Was gibt es also zu entdecken? Möglicherweise könnte es sich bei der Einsicht darum handeln, dass es sich bei jedweder Form der Erkenntnis der/ s anderen um eine Illusion handelt, weshalb auch eine unbedingte Gemeinsamkeit nicht möglich ist, da die ‚Einheit der Zweiheit‘ nicht herstellbar ist, ohne die/ den anderen ganz erkannt zu haben. Die absolute Heimat, von der das Ich im Refrain spricht, als dyadische Existenzform, existiert nur im Schein, als Projektion, hinter der nur der Schmerz über das Bewusstsein dieser Scheinhaftigkeit liegt. Der Zweifel am Ende von Strophe 1 an der Möglichkeit des Zueinanderfindens wird also wiederaufgenommen und als begründet bestätigt. Neben der Heimat existiert auch Entfremdung, neben der Verbindung auch die Trennung. Das Ich als der rationale Teil möchte dem Du als dem emotionalen Teil mittels seiner körperlichen Präsenz (festhalten, nicht mehr loslassen in Vers 3 und 4) über den Schmerz hinweghelfen. Hier werden wiederum stereotype Geschlechter- 7.2 Textanalysen 305 rollen aufgenommen: Das Ich als der männliche Beschützer ist der Fels in der Brandung des sich in stürmischer Unruhe befindenden Du. Dieses Naturbild des Sturms wird auch durch das Verb ‚sich legen‘ (Vers 4) evoziert, das das Ich in Bezug auf den Schmerz aufgreift, das aber oftmals in Zusammenhang mit ‚sich legenden Stürmen‘ benutzt wird. Nur im Zusammensein kann der Schmerz über die Unmöglichkeit der Verschmelzung überwunden werden: „[U]nd dann / Liegen wir beisammen / gemeinsam / Du in meinen Armen und ich in deinen Armen“ (Verse 4-6). Die Trennung der Körper bleibt aufrecht, kann aber in der Erkenntnis ihrer Existenz emotional überwunden werden. Am Ende werden die beiden letzten Verse von Strophe 1 in umgekehrter Weise wiederaufgenommen: Aus „Wie findest du zu mir? “ wird „Wie finde ich zu dir? “, und „Ich möchte mich wiederfinden in dir“ wird umformuliert zu „Ich möchte, dass du dich wiederfindest in mir“. Hier wird also wiederum die Sehnsucht und Unmöglichkeit der Verschmelzung zum Ausdruck gebracht. Allerdings wird auch die diskursive Tätigkeit des Du angesprochen. Auch das Ich ist nur ein diskursives Produkt des Du, es gibt keine Substanz, zu der es zu finden gälte. Auch das Du kann nur sich selbst im Ich wiederfinden. Das Ich bejaht diesen Vorgang („Ich möchte […]“, Vers 8), da es keine andere Möglichkeit von Gemeinsamkeit gibt, weil Gemeinsamkeit nur über die Anerkennung der Trennung möglich und eine ‚Erlösung‘ nur temporärer Natur ist. Das Lied scheint also auf den ersten Blick zwei zu einander in Widerspruch stehende Positionen nebeneinander zu stellen: Einerseits wird das Du als weibliches Wesen in seiner immanenten Naturhaftigkeit gezeichnet. Das Ich arbeitet in diesem Zusammenhang mit durchaus stereotypen Bildern von Weiblichkeit. Andererseits erkennt das Ich, dass dieses Du als Frau nur Produkt (Signifikant) seines Selbst (als Signifikat) ist, was den Begriff der ‚Natur‘ wiederum dekonstruiert. Das naturhafte Bild des Du ist diskursives Produkt des Ich; dessen ist sich das Ich bewusst. Die Frage: ‚Wie finde ich zu dir? ‘ wird schließlich dahingehend beantwortet, dass es sich selbst im anderen zu finden gilt. ‚Liebe‘ scheint im Lied nur möglich als ein Wiederfinden des Selbst im anderen: Die/ Der andere wird also eingegliedert in die narrative Dimension des eigenen Selbst. Da aber kein Selbst einen substanziellen Kern hat, ist eine volle Erkenntnis der/ s anderen wie auch des eigenen Selbst nicht möglich. Auch das eigene Selbst wird erst über die Konfrontation mit einem Du konstituiert. In Bezug auf die Dimensionen des Ich spielt vor allen Dingen das Ich als ipse eine entscheidende Rolle. Die RezipientInnen erfahren keine Informationen über das Ich und Du (über Charakter, Ort, Zeit): Auch eine Verbindung zum Ich vor dem Text wird nicht gesucht. Das Ich spricht von einer leeren ErzählerInnenposition aus, die von verschiedenen Ichs als idem ausgefüllt werden kann. Das Du wird dem Ich als zweites ipse gegenübergestellt. Wichtig erscheint, dass das idem dabei diskursiven Charakters ist. Man kann die 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 306 Natur, die Essenz nicht erkennen, weil es außerhalb der verschiedenen diskursiven, narrativen Rahmungen keinen Zugang zu ihnen gibt. Sowohl das idem des Ich wie auch des Du können nur über die Einbindung in die eigenen narrativen Dimensionen zugänglich werden, auf diese Weise kann man sich selbst finden im Du. In Was hat er? (Si 13) von Sido wird der Liebesdiskurs in gänzlich verschiedener Weise aufgegriffen. Der Rap besteht aus drei Strophen zu je zwölf Versen, unterbrochen vom Refrain, welcher vier Verse beinhaltet und von Olli Banjo gesungen wird. Am Anfang wird der Rap von einer gesprochenen Einleitung eröffnet, am Ende klingt das Lied mit einer alltagssprachlichen Nachricht auf einem Anrufbeantworter aus. Zunächst setzt also eine männliche Stimme mit nur sehr leiser musikalischer Begleitung ein und stellt das Thema des folgenden Liedes dar: „Warum kann ich nicht ’ne Frau ficken und danach wieder vergessen? Die müssen mich stressen… tss, verdammt“ (Si 13). Das Ich im Text beschwert sich mittels einer rhetorischen Frage über das Verhalten der Frauen, sich nicht für einmaligen sexuellen Kontakt instrumentalisieren zu lassen. Die rhetorische Frage gleicht einer Aussage, 780 dementsprechend wartet das Ich auf keine Antwort, es gibt sie gleich selbst. Worin allerdings der ‚Stress‘, welcher von Seiten der Frauen ausgelöst wird, besteht, bleibt zunächst unklar. Es wird aber angedeutet, dass die Frauen längeren Kontakt mit dem Ich möchten, schließlich wird durch das ‚Vergessen‘ eine Zeitdimension angesprochen. Das Ich möchte vergessen, verweigert also dezidiert eine zeitliche (narrative) Dimension in der Beziehung zu den Frauen, die für eine Liebesbeziehung charakteristisch ist. Deutlich wird durch die Verwendung eines Demonstrativpronomens („Die müssen...“) zudem, dass das Ich in dieser Einleitung von ‚den‘ Frauen im Allgemeinen spricht, hier also eine Pauschalisierung vornimmt. Mit der Verweigerung der Erinnerung möchte sich das Ich seiner Verantwortung entledigen: Das Ich legt nur Wert auf seine idem-Dimension, d. h. es möchte Kontinuität nur über seine Wiedererkennbarkeit als dasselbe in der Zeit erreichen, während die ethische Dimension (des gegebenen Versprechens), also die ipse-Dimension des Ich, außer Acht bleibt. Die Einleitung enthält zwar einen Reim („vergessen“ / „stressen“), wirkt aber durch das Fehlen von Musik und die gesprochene, nicht rhythmisierte Vortragsweise wie eine nicht gebundene alltagssprachliche Äußerung. Hier etabliert sich ein Ich als ErzählerIn, das durch das Stellen einer (wenn auch rhetorischen) Frage an die implizierten RezipientInnen am Beginn sowie durch das Offenlassen der Stressfaktoren Spannung erzeugt. Die Frage bezieht die RezipientInnen in die Erörterung des Problemfeldes mit ein. Die/ Der ReferentIn für dieses ErzählerInnen-Ich wird zunächst nicht näher erläutert, was sich in den ersten Versen der ersten Strophe ändert: 780 Vgl. Groddeck, Reden über Rhetorik (Anm. 652), S. 187. 7.2 Textanalysen 307 1) Ihr Name war Susanne, sie war der geborene a 2) Groupie, sie stand beim Konzert ganz vorne a 3) So typisch ungezogen / angezogen (b)/ b 4) Als ich nach den Bitches fragte, war ihre Hand mit oben b 5) Sie hat mich angestarrt die ganze Zeit c 6) Und wenn ich geguckt hab’, hat sie die Nippel gezeigt c 7) Nach der Show holte ich Drinks, sie wollte Sprite c 8) Sie war bereit / und ich nicht abgeneigt c/ c 9) Ich wusste, wo sie herkam, ich kannte ihren Namen d 10) Und ’n bisschen später auch die Farbe von ihr’n Schamhaar’n d 11) Das war genug, mehr wollte ich nicht wissen e 12) Doch die Lawine war grade erst losgeriss’n (Si 13). e Die ersten Verse legen die Erzählstruktur der folgenden Strophe fest: Die Verwendung des Präteritums zum einen, sowie die Einführung einer bestimmten Frau namens Susanne zum anderen weisen die Strophe als Anekdote aus. Während also in der Einleitung noch von den Frauen allgemein gesprochen wurde, wird hier ein Beispielfall erörtert. Die ersten drei Verse dienen zunächst dazu, die Hauptfigur resp. den Handlungsort und die Handlungszeit („beim Konzert“ im lokalen wie temporalen Sinn) einzuführen. Das Ich erweist sich (ab Vers 4) als autodiegetische/ r ErzählerIn, d. h. es schildert eigene Erlebnisse als MusikerIn auf der Bühne, wobei es mit Frauen im Publikum Kontakt aufnimmt. Auf diese Weise kommt es naturgemäß zu einer starken Verbindung zwischen dem Ich vor dem Text und dem Ich im Text: Das Ich erscheint als ‚Sido‘ die eigenen Erlebnisse zu schildern. Zudem wird in späteren Textstellen in Strophe 2 und in der Anrufbeantworternachricht am Ende des Liedes das Ich auch tatsächlich als ‚Sido‘ apostrophiert. Es zeichnet sich also schon in Strophe 1 ab, dass das Verhalten von Susanne das Ich genau zu dem veranlasst, was es nicht möchte, zum Erzählen. Obwohl das Ich ‚vergessen‘ möchte, gibt es eine Geschichte und Erinnerungen. Die Anekdotenhaftigkeit wird auch in der Form der Strophe transportiert, so ist diese trotz der Verwendung des Reims und der Vorgaben des 4/ 4- Taktes der Prosa insofern angenähert, als in den meisten Fällen keine Zäsuren durch Binnenreime gesetzt werden, mit Ausnahme von Vers 3 (bei dem die letzten beiden Worte als Homoioteleuton gleich ausklingen) und Vers 8. Auch die Verteilung der Silbenanzahl ist sehr unterschiedlich, was Verzögerungen, Beschleunigungen im Erzähltempo sowie dadurch hervorgerufene Betonungen ermöglicht. Zwischen dem ersten und zweiten Vers der ersten Strophe befindet sich ein Enjambement: Die Fügung der „geborene / Groupie“ wird somit auseinandergerissen, wodurch auf beide Worte erhöhtes Augenmerk gelegt wird: Schließlich steht der Begriff ‚Groupie‘ in Vers 2 auch alleine, da danach ein neuer Satz beginnt. Zunächst handelt es sich beim Ausdruck ‚zu etwas geboren sein‘ um eine alltagssprachliche Fügung, welche einer Person ein (ver- 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 308 meintlich) angeborenes Talent bescheinigt. Das Talent wird auf diese Weise naturalisiert, d. h. dass die Person diese Fähigkeit nicht sozial erworben hat. Der Duden definiert schließlich ‚Groupie‘ als „meist weiblichen[n] Fan, der möglichst engen Kontakt zu seinem Idol sucht.“ 781 Ein Groupie zu sein, stellt nun allerdings kein (angeborenes) Talent dar, was die Fügung paradox macht. Die Tätigkeiten von Susanne stellen ein immanent soziales Verhalten dar, das aber vom Ich sozusagen (für alle Groupies) naturalisiert wird: Sie ist „so typisch ungezogen angezogen“ (Vers 3), sie hebt ihre Hand auf Rufe des Ich, sie starrt das Ich an und zeigt auf Blicke des Ich ihre Brust. In Hinblick auf die spätere sexuelle Begegnung zwischen Ich und Susanne versucht also das Ich den aktiven Part von Susanne in der Kontaktherstellung hervorzustreichen. Das Ich weist darauf hin, im Publikum nach den „Bitches“ (Vers 4) gefragt zu haben, 782 worauf nach Aussagen des Ich eine größere Anzahl an Frauen mit dem Heben der Hand reagiert hat. Die Interpellation mit dem im eigentlichen Sinne diskriminierenden Ausdruck funktioniert, die Personen im Publikum - wie auch Susanne - sehen sich als Subjekte angesprochen und reagieren. Durch die Apostrophierung mit der Bezeichnung ‚Bitch‘ werden die Frauen im Publikum in einem sexuellen Rahmen verortet, welcher Frauen allerdings einen verdinglichten Status zuweist. Butler führt in Bezug auf die verletzende Anrede aus: Die Äußerung verweist das Subjekt […] auf eine untergeordnete gesellschaftliche Position. In dieser Perspektive ruft solches Sprechen ein strukturelles Herrschaftsverhältnis wieder auf bzw. schreibt es wieder ein und bietet damit die sprachliche Möglichkeit, diese strukturelle Herrschaft zu rekonstituieren. 783 Indem das Ich diesen Mechanismus bei einem Konzert in Gang bringt, drückt es aus, dass sich Frauen freiwillig (durch die Reaktion) diesem Herrschaftsverhältnis anpassen. Sie erkennen ihren untergeordneten Subjektstatus an. Die Verse 5 bis 8 sind reimtechnisch (c) verbunden und vertiefen das Geschehen bei dem Konzert. Durch das umgangssprachliche Nachstellen der Zeitangabe in Vers 5 („die ganze Zeit“) wird hervorgehoben, dass sich der Kontakt zwischen Ich und Susanne über einen längeren Zeitraum intensiviert hat. Insbesondere Vers 8 stellt nochmals das Verhalten von Ich und Susanne kontrapunktisch gegenüber: Sie ist definitiv „bereit“, während das Ich nur „nicht abgeneigt“ ist. Dieses Bereitsein wird über den Binnenreim verstärkt zum Ausdruck gebracht, da sich dadurch das Tempo erhöht. Die Passivität des Ich scheint aber nicht überzeugend, schließlich deutet der Vers „Und wenn ich geguckt hab‘“ (Vers 6) zum einen an, dass auch Blicke vom Ich ausgehen, während andererseits die Verwendung der Subjunktion „wenn“ eine 781 Duden (Anm. 536), S. 381. 782 Zur Verwendung des Begriffes ‚Bitch‘ im HipHop-Kontext vgl. Kap. 3.4, S. 63f. in diesem Band. 783 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 33. 7.2 Textanalysen 309 Regelmäßigkeit der Blicke zum Ausdruck bringt. Es scheint sich also durchaus eine Kommunikation zwischen Ich und Susanne entwickelt zu haben, die nicht nur von Susanne ausgeht. Der sexuelle Kontakt schließlich wird über die metonymische Konstruktion der Bekanntschaft mit Susannes Schamhaaren zum Ausdruck gebracht. Zwei Informationen, die das Ich über Susanne verlauten lässt, unterminieren dabei deren Status als weiblichen, sexuellen Vamp: Mit der Feststellung in der Paronomasie (resp. dem Homoioteleuton), dass Susanne „ungezogen angezogen“ (Vers 3) ist, greift das Ich ein kindliches Umfeld auf, das wiederum durch die Tatsache, dass Susanne Sprite, ein alkoholfreies Zitronenlimonadengetränk, zu sich nimmt, bekräftigt wird. Das Bild, das von Susanne gezeichnet wird, wird auf diese Weise widersprüchlich, was das Ich insgesamt als unzuverlässige/ n ErzählerIn ausweist. Der Hinweis darauf, dass das Ich weiß, wer Susanne ist, dass es also bereits Informationen über sie hat, steht zudem im Widerspruch zur Forderung am Anfang des Liedes, Frauen nur zum einmaligen sexuellen Kontakt ‚gebrauchen‘ und sie daraufhin zu vergessen zu wollen: Wenn das Ich den Namen von Susanne kennt, gibt es bereits eine ‚Geschichte‘ ihrer Bekanntschaft, eine narrative Rahmung außerhalb des ersten sexuellen Kontaktes. Dennoch bekräftigt es am Ende von Strophe 1, dass der sexuelle Kontakt die Bekanntschaft beenden sollte, was offenbar nicht im Interesse der Frau liegt. An dieser Stelle verwendet das Ich eine Naturmetapher: „[D]ie Lawine war grade erst losgeriss’n“ (Vers 12). Indem Susanne als eine (wenn losgerissen, dann nicht mehr zu stoppende) Lawine dargestellt wird, bekommt ihr Verhalten etwas Naturgewalthaftes. Es wird wiederum naturalisiert, als normal für einen ‚Groupie‘ dargestellt. Zudem zeigt es sich zerstörerisch und unaufhaltsam. Der Refrain besteht aus vier gesungenen Versen (Stimme: Olli Banjo), die nun in der dritten Person über das Ich der Strophen sprechen und über die Verwendung des Personalpronomens „er“ dessen Geschlechtsidentität bekräftigen: Was hat er, das die Frauen so verwirrt x Dass sie sofort horny werden von seinen Blicken a Sie hätten gerne ihren Mann in ihm gefunden x Doch er will nichts anderes als mit ihnen ficken. a Durch die Verwendung der dritten Person sowie auch durch die Tatsache, dass die Stimme nicht der/ m vorhergehenden homodiegetischen ErzählerIn zuzuordnen ist, kann der Refrain als Kommentar zur Erzählung und zum Ich angesehen werden. Auch im Refrain fragt sich ein Ich, was das Ich des Textes so umwerfend für Frauen macht. Er dient also der Stützung der Informationen des Ich im Text und zeigt das Ich noch einmal von einer Außenperspektive, die die Angaben des Ich im Text untermauert. Allerdings werden dabei erneut Widersprüche aufgeworfen: Einerseits wird wiederum die Sexualität 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 310 der Frauen in den Vordergrund gerückt, indem sie von den Blicken des Ich sofort (! ) sexuell erregt werden, zum anderen scheint der sexuelle Kontakt bei den Frauen sogleich dazu führen, das Ich heiraten zu wollen, d. h. „ihren Mann in ihm zu finden“. Der Refrain zeichnet also ein Weiblichkeitsbild, das beinhaltet, dass Sexualität und Beziehung unbedingt zusammen gehören resp. dass es keinen Unterschied zwischen sexuellem Kontakt und einer längerfristigen emotionalen Beziehung für Frauen gibt, während das Ich (und unter Umständen Männer im Allgemeinen) nur Interesse an kurzfristigem, sexuellem Kontakt hat. Indem innerhalb des Refrains die Reimwörter als Kreuzreim in Vers 2 und 4 platziert sind (während die Verse 1 und 3 Waisen darstellen), werden die vier Verse als Einheit zusammengehalten. Zudem richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Reimwörter „Blicken“ / „ficken“. Dass es sich gerade um diese zwei Wörter handelt, auf welchen der Fokus liegt, unterminiert das passive Bild des Ich im Text von sich selbst: Im Refrain wird zwar von einer (offenbar naturhaften) Unwiderstehlichkeit des Ich gesprochen, diese kommt aber in seinen Blicken zum Ausdruck. Während in der ersten Strophe die Blicke mehrheitlich von Susanne auszugehen scheinen („Sie hat mich angestarrt die ganze Zeit“), so werden im Refrain nur die Blicke des Ich thematisiert. Auch indem vom Willen des Ich gesprochen wird, zeigt sich dessen aktive Seite. Die Frauen werden von seinen Blicken sexuell erregt, während in Strophe 1 Susanne mit ihrer Kleidung und ihren Gesten als der aufreizende Part dargestellt wird. Wenn die Anrede, wie Butler konzediert, ein Subjekt konstituiert, 784 so ist auch der Blick in der Lage, die/ den Adressatin/ en ‚anzusprechen‘: Im Angeblickt-Werden findet ein Kommunikationsprozess statt, der die betroffenen Personen als Subjekte instituiert. Die Blickkontakte zwischen Ich und Susanne während des Konzerts bestätigen dies auch. Indes scheint es aber einen strukturellen Unterschied zwischen diesen Blicken zu geben. Während das (bewundernde) Starren Susannes das Ich in seiner übergeordneten Position bestätigt, sieht der Blick des Ich nur die nackte Brust von Susanne. Ihr Subjektstatus beschränkt sich auf ihr Dasein als mögliche Sexualpartnerin. Im Refrain wird nun die Frage gestellt, ob es genau dieser Blick ist, der ein Missverstehen auslöst: Der männliche Blick scheint zu suggerieren, dass die Frauen von den blickenden Männern als gleichwertige, partnerschaftliche Subjekte anerkannt würden, was zu einer Beziehung führen könnte. Das Ich des Refrains stellt sich dabei als Verbündete/ r des Ich im Text dar, indem es sich mit ihm wundert (was die Eingangsfrage des Refrains zum Ausdruck bringt), ob der Blick des Ich für diese ‚Verwirrung‘ verantwortlich zeichnet. Das Ich des Refrains scheint also vollen Einblick in die Situation/ Gedankenwelt des Ich im Text zu haben, wobei in keiner Weise klar gestellt wird, in welchem Verhältnis die beiden Ichs stehen. 784 Vgl. Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 14. 7.2 Textanalysen 311 Im Refrain (Vers 4) wird also deutlich hervorgehoben, dass ein Missverständnis vorliegt, sollten die Frauen glauben, das Ich wolle mehr als „ficken“. Durch den Blick wird offensichtlich, dass die Frau in ihrer Körperlichkeit nur die Männlichkeit des Ich bestätigt, wie Menke bestätigt: Im Blick des Mannes ist die Frau (nichts anderes als) Metapher für die Männlichkeit des Mannes; das heißt, die Lektüre des Mannes ‚erklärt‘ das Weibliche zum Signifikanten, der sich nicht selbst bedeuten kann, dessen Signifikat und damit dessen ‚eigentliche‘ Bedeutung der Mann ist. 785 In Strophe 2 schließlich wird die Geschichte zwischen Ich und Susanne wieder aufgenommen: 1) Zurück zu Hause, Susanne war vergess‘n a 2) Doch wer ein Groupie sein will, muss natürlich stressen a 3) 3 SMS in knapp 2 Sekunden b 4) Und das jede Minute alle 24 Stunden b 5) ‚Sido, ich kann nicht leben ohne dich c 6) Und dein Arschfick war so extrem zärtlich c 7) Ich will dich wiederseh‘n am besten sofort‘ d 8) Und falls ich nich’ zurückschreibe, droht sie mir mit Selbstmord d 9) Na los! Spring vom Dach, mach dem ein Ende! e 10) Lauf nich’ durch die Stadt und schreib mein’ Namen an die Wände e 11) Lunger’ nich’ vor meiner Tür die ganze Nacht im Regen f 12) Vergiss mich, lösch meine Nummer, leb dein Leben! f Die zweite Strophe ist sehr regelmäßig in Paar- und Endreimen aufgebaut, es gibt keine Binnenreime. Die außergewöhnlichsten Verse stellen dabei die Verse 3 und 4 dar: Auf die erste kurze Vershälfte (10 Silben) in Vers 3, in welcher die Betonung auf der Masse der Nachrichten liegt, folgt ein Vers mit hoher Silbenanzahl (15 Silben), in dem die Beschleunigung des Sprechtempos wiederum einen Fokus auf die mit den Nachrichten vergehende Zeit richtet. Diese Nachrichten verhindern das Vergessen, das das Ich in Vers 1 ankündigt. Susanne ruft sich ins Gedächtnis - ihre Nachricht wird quasi in der Rede des Ich als direkte Rede wiedergegeben. Susanne erscheint dabei tatsächlich als die Inkarnation eines Groupies, denn sie meint nicht ohne Sido, der direkt adressiert wird, leben zu können. Als Referenzereignis für dieses Wissen wird allerdings ein zärtlicher „Arschfick“ Sidos (Vers 4) angegeben: Sexualität, Liebe und Beziehung werden also vermengt, dieses Mal von Susanne selbst in ihrer Nachricht. Da die Zuverlässigkeit des ErzählerInnen-Ich allerdings schon an früherer Stelle zur Debatte stand, stellt sich natürlich die Frage, ob die Ausführungen des Ich zur Nachricht von Susanne der Wahrheit entspre- 785 Menke, Verstellt (Anm. 712), S. 441 (Markierung dem Original entnommen). 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 312 chen. Auch bei der Angabe der Masse an gesendeten Nachrichten liegt der Verdacht nahe, dass es sich hierbei um eine Hyperbel handelt. Von der ‚direkten Rede‘ geht das Ich wieder in die Erzählung über, mit dem Hinweis, dass Susanne mit Selbstmord drohe. Daraufhin folgt eine direkte Adressierung von Susanne im Rest der Strophe: Susanne wird erstmals als Du direkt apostrophiert, wobei das Ich in Imperativen spricht. Das Ich fordert dabei Susanne auf, keinen Kontakt mehr zu ihm zu suchen. Die Aufforderungen sind dabei durchaus widersprüchlich: „Spring vom Dach! “ (Vers 9), „[L]eb dein Leben“ (Vers 12). Durch die Gleichgültigkeit gegenüber einem Selbstmord von Susanne weist das Ich alle Verantwortung für ihr Schicksal von sich. Susanne wird als unterwürfig dargestellt (sie lungert die ganze regnerische Nacht vor der Tür des Ich), sie schreibt den Namen des Ich an die Wände der Stadt. Susanne scheint also vorzuhaben, das Ich von verschiedenen Plätzen der Stadt zu apostrophieren. Als Prosopopöien verweisen diese Anrufungen auf das dahinterstehende Subjekt ‚Susanne‘. Dies bleibt aber völlig versteckt, es hat keinen eigenen Namen. Dieses Ich repräsentiert sich sozusagen nur über das Du (das Ich im Text), das es anruft. Dies stellt ihr einziges idem dar, während es keine stabile ipse-Dimension dieses Ich zu geben scheint, da mit jeder Setzung aufgrund des eigenen körper- und namenlosen Zustands diese Setzung dekonstruiert wird. Susanne wird sozusagen als Ich dargestellt, das seine ipse-Dimension aufgibt, um mit dem Sido-Ich zu verschmelzen. Das Ich im Text hingegen erkennt Susanne als (wenn auch untergeordnetes) Subjekt („[L]eb dein Leben! “, Vers 12) an, wenngleich es keine Verantwortung für ihr Schicksal übernehmen will. Dabei rät das Ich Susanne zu vergessen, die gemeinsame Geschichte auszulöschen. Symbolisiert wird diese Geschichte in der Telefonnummer, die sie löschen soll. Das Löschen einer Telefonnummer stellt eine moderne Variante der Existenzauslöschung dar: Name und Nummer (wiederum als Prosopopöien) verschwinden, der narrative Rahmen um diese beiden Informationen ebenfalls. Interessant bleibt allenfalls, woher Susanne die Nummer hat: War das Ich doch einmal an einem längeren Kontakt interessiert? In Strophe 3 wird von der Geschichte mit Susanne auf die allgemeine Fragestellung des Refrains übergegangen. Der Aufbau von Strophe 3 ähnelt dem von der zweiten Strophe. Auch hier gibt es lediglich Paarreime: 1) Ich fick’ sie und werd’ sie nich’ mehr los, wie kommt das? a 2) Ich bring’ sie nich’ mal nach Hause wie ’n Kompass a 3) War ich zu nett zu ihnen, als ich sie aufriss? b 4) Oder liegt das daran, dass ich weiß, wo der G-Punkt ist? b 5) Gibt’s in eurer Gegend etwa keine Kerle? c 6) Geht zum Bachelor, der holt euch die Sterne! c 7) Ihr braucht ’n Typ, der euch auf eure Plätze weist d 8) Nich’ so einen wie mich, der nur euer Loch zu schätzen weiß d 9) Ich muss es einseh’n, ich bin unwiderstehlich e 7.2 Textanalysen 313 10) Klarmachen, durchficken, ‚Wiedersehen‘, geht nich’! e 11) Ich brauch’ keine Braut, ich weiß, wo ich mir Respekt hol’ f 12) Wenn du den schönsten Mann willst, geh zu Eko (Eko Eko Eko). f Das Ich reflektiert über seine allgemeine (unwiderstehliche) Wirkung auf Frauen, die es sich selbst nicht erklären kann. Es stellt Fragen, die sein wenig nettes und bisweilen brutales Verhalten, aber auch seine sexuellen Fähigkeiten gegenüber den Frauen zum Ausdruck bringen. Zunächst adressiert das Ich dabei eine implizierte HörerInnenschaft, ab Vers 5 hingegen werden die Frauen, die zu ihm Kontakt suchen, als Gruppe direkt angesprochen. Das Ich versucht diesen Frauen andere Männer nahezubringen: Es folgt ein Hinweis auf die von den Fernsehsendern RTL und ORF im Jahre 2003/ 2004 (und in einer zweiten Staffel im Jahr 2012) nach US-amerikanischem Vorbild ausgestrahlte Fernsehshow Der Bachelor, in der ein reicher Junggeselle aus 25 interessierten, heiratswilligen Frauen die ‚Richtige‘ auswählen sollte. Die medialen Diskussionen um das Format verliefen durchaus kontroversiell, von feministischer Seite wurde vor allem kritisiert, dass ein Mann die Macht der Wahl hat, während sich die Frauen um ihn und sein Geld reißen müssen. Insofern kann der Tipp des Ich im Text, sich an den Bachelor zu wenden, als ironisch aufgefasst werden, als das romantische Flair der Sendung nur PR- Produkt darstellt. Möglich scheint aber auch, dass das Ich den Bachelor einfach für einen Repräsentanten des männlichen Geschlechts hält, schließlich fährt es fort: „Ihr braucht ’n Typ, der euch auf eure Plätze weist“ (Vers 7). Das Ich geht also davon aus, dass es normal ist, dass Frauen innerhalb einer Beziehung lediglich einen subordinierten Status innehaben. Interessanterweise setzt es sich zu diesen Männern in Gegensatz, als es den Frauen nicht einmal diesen subordinierten Subjektstatus zusprechen will, sondern Frauen nur als ‚Gegenstand‘ gelten lassen will, welche für sexuelle Begegnungen nun einmal vonnöten sind. Dementsprechend lässt das Ich verlauten, keine Frauen zur Selbstbestätigung zu benötigen, auf diese Weise bedarf es auch keiner/ s liebenden Partnerin/ s, um diese Anerkennung und den Respekt zu erhalten. Dass dieses Bild, demgemäß Frauen nur ‚Dinge‘ darstellen in Bezug auf das Ich nicht zutrifft (wie das Wissen um Susannes Namen und Herkunft gezeigt hat), hat das Ich bereits in den ersten beiden Strophen dargelegt. Es erweist sich also wieder einmal als unzuverlässige/ r ErzählerIn. Die abwertende Haltung Frauen gegenüber wird aber in den Versen 7 und 8 auf lautlicher Ebene realisiert: Zu Beginn des Liedes lässt das Ich ein „Tss“ verlauten, das - wie in der Alltagssprache üblich - eine abwertende Einstellung zum Ausdruck bringt. Mittels der beiden Begriffe „Plätze“ und „schätzen“ wird die Affrikate [ts] wieder aufgegriffen. Im letzten Vers der Strophe wechselt das Ich von der pluralen Form der Anrede zum einfachen „du“ (Vers 12): Wiederum wird aber die Zuhörerin als Frau angesprochen, die sich an Rapper-Kollegen Eko halten soll, wolle sie den 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 314 schönsten Mann. Dies könnte als Hinweis darauf verstanden werden, das Ich wolle die ‚lästigen‘ Frauen an den (lästigen? ) Kollegen abtreten. Auf die dritte Strophe folgt noch einmal der Refrain, welcher eine Novität aufweist: Nach den normalen Versen folgt derselbe Text gesprochen/ gesungen vom Ich im Text. Die Personalpronomen werden entsprechend geändert. Dergestalt zeigt sich, dass das Ich des Refrain-Textes tatsächlich Einblick in die Situation des Ich hat, da dieses nun wortlautgetreu dieselbe Frage stellt: „Was hab’ ich, das die Frauen so verwirrt, dass sie sofort horny werden von meinen Blicken? “ Sozusagen um den Wahrheitsgehalt der Geschichte mit Susanne zu bestätigen, findet sich am Ende des Raps eine Anrufbeantworternachricht, gesprochen von Susanne. Also erhält im Lied auch Susanne den Raum/ die Zeit, ihre Stimme zu erheben. Sie tritt auf diese Weise aus der Projektion des Ich (in der dritten Person) und setzt sich mittels der Stimme als Subjekt: Hallo Sido, hier ist Susanne. Ich erreich’ dich nicht. Wo bist du denn verdammt. Mann, wir wollten doch noch mal telefonieren. Ich weiß ganz genau, dass du da bist. Dann geh doch mal ans Telefon. Ich würd’ so gern mit dir sprechen, weil das letzte Mal mit uns beiden, das war so toll. Und ich weiß, wir gehören einfach zusammen. Und ich bin so verzweifelt, weil ich will dich und du bist mein Mann. Und ich weiß es ganz genau. Also bitte, bitte ruf mich an! Bitte, bitte! Ich weiß nicht, was ich machen soll, ich bin total verzweifelt. Also, Sido, ruf bitte meine Nummer an. Du weißt, ich bin die geile Dunkelhaarige mit den unglaublichen Augen. Bitte ruf mich an, bitte! Bis dann! Einige Informationen dieser Nachricht korrespondieren mit dem Bild von Susanne aus der Geschichte des Ich: Sie will ihn erreichen, sie möchte mit ihm zusammen bleiben und eine längerfristige Bindung eingehen. Der sexuelle Kontakt zwischen beiden scheint erfreulich gewesen zu sein. Zudem gibt Susanne an, verzweifelt zu sein. Allerdings scheint sie nicht so verzweifelt zu sein, wie das Ich angegeben hat: Sie spricht nicht von Suizid. Auch scheint das Ich zu Susanne von längerfristigem Kontakt gesprochen zu haben („Wir wollten doch noch mal telefonieren“). Das Ich stellt sich also als ihr gegenüber nicht ehrlich dar. Allerdings ist auch die Ernsthaftigkeit der Nachricht von Susanne in Zweifel zu ziehen: Zu Beginn gibt Susanne ihren Namen als Absenderin an, was den Eindruck erweckt, sie würde davon ausgehen, Sido als Adressant wüsste, wer damit gemeint ist. Wenn sich Susanne aber am Ende noch einmal durch ihre körperlichen Attribute ins Gedächtnis ruft („Du weißt, ich bin die geile Dunkelhaarige mit den unglaublichen Augen“), scheint sie Zweifel darüber zu hegen. Es scheint aber paradox, dass sich eine Person sicher ist, mit einem Menschen ihr Leben verbringen zu wollen, von dem sie nicht sicher weiß, ob sich der andere (abseits ihres Körpers) überhaupt an sie erinnern kann. Allerdings zeigt sich Susanne durch seine Aussagen (wie z. B. „Ich weiß genau, dass du da bist“) sowie durch die Masse an SMS-Nachrichten, von denen das Ich gesprochen hat, als ‚Stalkerin‘. Das Lied 7.2 Textanalysen 315 könnte also durchaus auch als Kritik am Phänomen des Groupies gesehen werden, welcher seinem Objekt der Begierde auflauert und intensiven Kontakt wünscht, ohne sie/ ihn zu kennen. Insgesamt ergibt das Lied ein wenig homogenes Bild: Weder wird wirklich klar, von wem im Verhältnis Ich-Susanne die Initiative ausgeht, d. h. wer der aktive Part ist, noch ob das Ich, wenn von Frauen die Rede ist, von allen Frauen oder nur vom Phänomen ‚Groupie‘ spricht. Der Begriff des Groupies wird nur gelegentlich verwendet, die meiste Zeit hindurch erweckt das Lied den Eindruck, von Frauen im Allgemeinen zu sprechen. Zusätzlich wird das Verhalten dieser Frauen naturalisiert, d. h. als normal und typisch dargestellt. Das Ich erzeugt über die Namensnennung (und die Verweise auf die Konzertatmosphäre) einen bewussten Konnex zum Ich vor dem Text, das über den Text als verantwortungsloser Rüpel dargestellt wird. Da aber wiederholt Widersprüche ein einheitliches Bild brechen, erscheint das Lied als Selbststilisierung, die bewusst mit ihrer brüchigen Inszeniertheit spielt. Das Ich spielt also als unzuverlässige/ r ErzählerIn mit seiner ipse-Dimension. In einem Arbeitsumfeld möchte das Ich als Subjekt (ipse) anerkannt werden, innerhalb einer Beziehung (zu Frauen) ist es aufgrund der ungleichen, hierarchischen Beziehung zwischen Ich und den Frauen nicht vonnöten, dies gesondert zum Ausdruck zu bringen, weshalb das Ich seine Verantwortung zurückweisen kann. Der idem-Dimension des Ich wird hingegen große Wichtigkeit zugesprochen: In seiner Unwiderstehlichkeit, aber auch Brutalität und Unzuverlässigkeit betont das Ich, sich über die Zeit hinweg nicht verändert zu haben resp. sich nicht verändern zu wollen. Es bleibt wiedererkennbar. Deutlich wird aber, dass im Rap dem romantischen Liebesdiskurs von männlicher Seite der Marsch geblasen wird. Indem das Ich vergessen will, rekurriert es zwar auf das Diskurselement der Zeitdimension, suspendiert allerdings dessen Gültigkeit. Gefühle scheint es in der Welt des Ich nicht zu geben. Auch Anerkennung durch eine Partnerin braucht es nicht. Für ‚die Frauen‘ im Rap hingegen scheint die zeitliche Dimension wichtig zu sein: Sie wollen längerfristige Bindungen, offensichtlich auch, wenn sie die PartnerInnen nicht wirklich kennen. Frauen, welche auch nur an einer kurzfristigen, sexuellen Beziehung interessiert sind, kennt das Ich nicht. Das Lied operiert also mit gängigen Geschlechterklischees innerhalb und außerhalb des romantischen Liebesdiskurses, wiewohl es sich durch die widersprüchlichen, übertreibenden Angaben nicht ganz ernst zu nehmen scheint. Wie die vier Beispiele zeigen, wird der Liebesdiskurs im Rap in sehr unterschiedlicher Weise aufgegriffen. Kein Beispiel folgt einem stereotypen ‚romantischen‘ Liebesdiskurs, in dem von der glücklichen, erfüllten Liebe zweier Personen, die sich als zwei verlorene Hälften wieder gefunden haben, gesprochen wird, wie Friths Zitat von Ira Gershwin im Zusammenhang mit Populärmusik kritisiert: 7. Über Brüche und Kontinuitäten II: Das Ich im Text 316 ,Every night I dream a little dream, / And of course Prince Charming is the theme…’ One is warned that this sort of romantic whimwham builds up ‘an enormous amount of unrealistic idealisation […]’. 786 Auch im Rap wird mit stereotypen Bildern von Weiblichkeit und Männlichkeit gearbeitet, der Diskurs der ‚romantischen‘ Liebe bleibt auch als Schablone vorhanden. So werden gängige Motive aufgegriffen, wie die Dimension der Zeit oder die Tatsache, dass stets ein Verhältnis zwischen zwei (gegengeschlechtlichen) Personen verhandelt wird. Allerdings wird das Konzept auch vielfach gebrochen und erweitert. Dergestalt finden sich bei Für mich allein (Fi 5) feministische Elemente, welche die eigenständige weibliche Position betonen und einer Verschmelzung von Ich und Du abschwören. In Was hat er? (Si 13) wird wiederum von männlicher Seite der Vorstellung einer erfüllten, gegenseitigen Liebe eine Absage erteilt, indem der einmalige sexuelle Kontakt über jede Form von Verantwortung für ein Du gestellt wird. In Wenn du wüsstest (Py 26) gilt es, eine freundschaftliche Beziehung über die Liebe zu stellen, während in Gemeinsam (Ma 33) der illusionäre Charakter einer totalen ‚Einheit der Zweiheit‘ und der vollständigen Erkenntnis der/ s anderen vor Augen geführt wird. Auch die Positionen des Ich sind sehr unterschiedlich: Während in Was hat er? ein klarer Bezug zum Ich vor dem Text hergestellt wird, wird dies bei Manges und Pyranja vermieden. Hier spricht ein entblößtes ipse. Für mich allein nimmt dabei eine Mittelposition ein, da sich das Ich zwar als SchreiberIn darstellt, die Referenzen zu einem Ich vor dem Text sind aber sehr zurückhaltend und stellen nicht das Thema des Liedes dar, schließlich soll für eine eigenständige ipse-Position gekämpft werden. Im Gegensatz dazu problematisiert das Ich in Was hat er? klar die Leiden eines Stars mit der irrationalen Liebe der Frauen, was die idem-Dimension des Ich in den Vordergrund stellt: Das Lied präsentiert sich als ‚Selbstdarstellung‘ eines Ich, das sich aber über das Lied setzt und sich als wiedererkennbares re/ präsentiert. Die vier Beispiele zeigen also sowohl die Vielfalt des im Rap verhandelten Liebes-Diskurses wie auch die Unterschiedlichkeit der dabei sprechenden Ich- Instanzen. 786 Ira Gershwin zitiert nach Frith, Essays (Anm. 66), S. 118. 8. Das Ich (‚ich‘) im Text und die/ der RezipientIn Im letzten Kapitel wurden die verschiedenen Dimensionen des Ich im Text in Bezug zu einem Ich vor dem Text analysiert. Wie bereits im Rahmen dieses Bandes erwähnt, spielt innerhalb der Cultural Studies insbesondere die Frage eine Rolle, auf welche Weise sich RezipientInnen Texte der Populärkultur aneignen. 787 Es würde den Umfang und thematischen Rahmen dieses Bandes sprengen, diese Beziehung einer eingehenden Analyse zu unterziehen, es sollen im Folgenden lediglich ein paar Gedanken zur Frage dargelegt werden, wie die Beziehung zwischen RezipientIn und Ich im Text im Rahmen des bisher Behandelten angedacht werden könnte. Auf die Tatsache, dass die Art und Weise, wie sich RezipientInnen Lieder der Populärmusik aneignen, sehr unterschiedlich sein kann, wurde bereits verwiesen. Während manche nur auf die Musik fokussieren, 788 stehen für andere sehr wohl die Texte im Zentrum des Interesses, 789 wobei jeder Text auf verschiedene Weise gelesen werden kann. 790 Wenn nun RezipientInnen ihren Fokus tatsächlich auf den Text richten, stellt sich die Frage, auf welche Weise mit dem Text umgegangen wird. So besteht die Möglichkeit, sich durch Interpellation seitens des Ich im Text als ‚du‘, d. h. als Subjekt, angesprochen zu fühlen. Der möglicherweise häufiger auftretende und im Zusammenhang dieser Untersuchung interessantere Fall mag aber dann auftreten, wenn RezipientInnen das Ich/ ‚ich‘ des Textes für das eigene Selbst übernehmen. Es ist also von Interesse, wie die Funktion des Pronomens ‚ich‘ als Leerdeixis und dessen Bezug zu den RezipientInnen gefasst werden könnte. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst aus den Ausführungen der vorangegangenen Kapitel zusammenzufassen, welche Rolle das Verhältnis von Ich im Text und Ich vor dem Text (als Name auf dem Cover) spielt. Es wurde in den bisherigen Kapiteln festgestellt, dass über Namensnennung, über narrativ strukturierte Aussagen des Ich als idem wie auch über Bezüge zu einer ethischenVerantwortlichkeit des Ich als ipse auf verschiedene Weise ein Bezug des Ich im Text zum Ich vor dem Text hergestellt wird. Es wird also mittels dieser rhetorischen Mechanismen über die Figur der Prosopopöie ein/ e ReferentIn für das Ich im Text gesetzt. Dennoch bleibt diese Verbindung zwischen ReferentIn und Ich im Text brüchig, da sie figurativer Natur ist. Auf diese Weise lässt das Ich im Text als Leerdeixis ‚ich‘ auch ‚Platz‘ für andere ReferentInnen. 787 Vgl. Kap. 2.3, S. 31ff. in diesem Band. 788 Vgl. Fiske, Politik (Anm. 104), S. 247. 789 Vgl. Hügel, Zugangsweisen zur Populären Kultur (Anm. 155), S. 60. 790 Vgl. Barthes, S/ Z (Anm. 156), S. 9ff. 8. Das Ich (‚ich‘) im Text und die/ der RezipientIn 318 Die Stärke der Verbindung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text fällt unterschiedlich aus: Steht das Ich als idem im Vordergrund, gibt es eine Vielzahl an lokalen, temporalen Bezügen, eine Darstellung des Ich als RapperIn, die Nennung eines Namens o. Ä., so bleibt wenig Platz für RezipientInnen, sich das ‚ich‘ anzueignen, wiewohl es meist selbst in den narrativsten Liedern Passagen gibt, in denen die Referenzbeziehung des ‚ich‘ offen bleibt, wie z. B. im folgenden Vers in Cora E.s biographisch orientiertem Text Schlüsselkind: Ich wäre heut’ nicht wie ich bin, wär’ es nicht gewesen, wie es war (Co 2). Je mehr nun ein entblößtes ErzählerInnen-Ich als ipse TrägerIn der Erzählung ist, desto offener wird der Text für RezipientInnen, sich dieses ‚ich‘ anzueignen. Wozu und auf welche Weise aber sollte sich ein RezipientInnen-Ich das ‚ich‘/ Ich im Text aneignen? Frith konstatiert an mehreren Stellen, dass es die Funktion von Songtexten ist, „[to] give people the […] terms in which to articulate and so experience their emotions.“ 791 So meint er in Bezug auf Liebestexte: Warum sind Liebeslieder so wichtig? Weil die Menschen sie brauchen, um ihren Gefühlen, die sie anders nicht ohne Peinlichkeit […] ausdrücken können, Form und Stimme zu geben. […]. Es ist eine Besonderheit der Alltagssprache, dass wir für unsere wichtigsten und privatesten Gefühlserklärungen Wendungen […] benutzen müssen, die langweilig und banal sind; und deshalb muss uns unsere Kultur mit einer Million Popsongs versehen, die diese Dinge für uns auf interessante und engagierte Weise sagen. 792 RezipientInnen eignen sich Songtexte an, um sich auszudrücken, d. h. sich als Subjekte zu setzen: Die Stimme (als Prosopopöie) verleiht ihnen ein Gesicht. Die Lieder geben dabei sprachliche Formulierungen für Alltagssituationen vor, sie stellen sozusagen ein Kohärenzangebot an die RezipientInnen in Bezug auf ihre Ich-Konstitution dar. Liedertexte bilden also nicht vorgegebene Wirklichkeiten ab, sie ermöglichen es, über neue Ausdrucksformen, die ‚Wirklichkeit‘ auf unterschiedliche Weise zu konstituieren. Gerade die Rhythmisierung der alltagssprachlichen Aussagen innerhalb der Songtexte dürfte bei der Aneignung von Wichtigkeit sein, Lotman spricht von der bereits mehrfach erwähnten „I-I-communication“, der entsprechend die Rhythmisierung der Mitteilung dem Zwecke eines Code-Wechsels dient: Rhythm is not a structural level in natural languages. […]. Rhythmicalmetrical systems take their origin not in the ‘I-s/ he’ system but in that of the ‘I-I’ system. The widely used principle of repetition on the phonological and other levels of natural language is an invasion by autocommunication into a language sphere that is alien to it. 791 Frith, Essays (Anm. 66), S. 123. 792 Frith, Zur Ästhetik der populären Musik (Anm. 429), Quelle: Internet. 8. Das Ich (‚ich‘) im Text und die/ der RezipientIn 319 Functionally speaking, a text is used as code and not message when it does not add to the information we already have, but when it transforms the selfunderstanding of the person who has engendered the text and when it transfers already existing messages into a new system of meanings. 793 Populäre Liedtexte helfen also Sachverhalte auf neue Art auszudrücken, wobei die Mitteilung, die nun selbst zum Code wird, über die Rhythmisierung Veränderungen durchmacht. Über den Code-Wechsel verändert sich auch die Botschaft. Dergestalt wird klar, dass Songtexte „about language“ 794 sind, auch wenn oder gerade weil sie Alltagssprache aufnehmen und neu (auf rhythmisierte und gegebenenfalls gereimte Weise) codieren. Seien es banale Dinge (oder nicht), die zum Ausdruck gebracht werden, Populärmusiktexte machen auf deren sprachliche Verfasstheit aufmerksam und defamiliarisieren das Gewohnte. 795 Die Sprache im Allgemeinen stellt somit die Bedingungen zur Verfügung, sich das ‚ich‘ eines Liedtextes dank seiner Eigenschaft als Leerdeixis als Ich anzueignen: Wer Ich sagt, kann dieses Wort nicht nur immer auch als Fiktion und innerhalb fiktionaler Kontexte verwenden, sondern er muss es unter allen Umständen immer auch als Fiktion verwenden können, wenn Sprache nicht unmittelbar Wahrheit sein und also überhaupt als Sprache in Betracht kommen soll. Nun hat diese notwendige Möglichkeit der Fiktionalität des Ich nicht nur für den, der es hört oder liest, sondern für jeden, der Ich sagt oder schreibt, die für seine Identität bedrohliche Konsequenz, dass er niemals als Ich und also niemals in der Form des Vorstellens Gewissheit darüber haben kann, ob ihm ein Substrat jenseits der Sprache korrespondiert. 796 Gerade die Tatsache, dass sprachliche Äußerungen immer von ihren Kontexten ablösbar sind, ermöglicht es, sie sich anzueignen und sich damit als sprechendes Subjekt zu setzen, wobei allerdings, wie das Zitat deutlich macht, eine substantielle Bindung zwischen Äußerung und äußerndem Ich gekappt wird. Das Ich bedarf einer ständigen diskursiven Neukonzeption, um sich seiner selbst und seiner Beständigkeit als ipse und idem zu vergewissern. Diese ‚bedrohliche Konsequenz‘ der sprachlichen, rhetorischen Verfasstheit des Ich korrespondiert mit einem gebrochenen, widersprüchlichen Verhältnis zur Zeit, wie es sich in den Ausführungen von Frith in Bezug auf das Verhältnis von Zeit und Populärmusik widerspiegelt. Frith geht zunächst davon aus, dass „es ein Effekt aller Musik ist, nicht nur des Pop, unsere Erfahrung der Gegenwart zu intensivieren. Ein Maßstab für gute Musik ist, anders gesagt, ihre ‚Präsenz‘, ihr Vermögen, die Zeit ‚anzuhalten‘, uns das Gefühl zu geben, wir 793 Lotman, Universe of the Mind (Anm. 651), S. 30. 794 Frith, Essays (Anm. 66), S. 121. 795 Ebenda, S. 121. 796 Werner Hamacher: Unlesbarkeit. In: De Man, Paul: Allegorien des Lesens. Frankfurt am Main 1988 [1979], S. 7-27, hier S. 13 (Markierungen dem Original entnommen). 8. Das Ich (‚ich‘) im Text und die/ der RezipientIn 320 lebten den Augenblick, ohne Erinnerung oder Furcht vor dem, was zuvor gewesen ist oder was danach passieren mag.“ 797 Nur wenige Zeilen später innerhalb desselben Textes behauptet Frith allerdings Folgendes: Eine der wichtigsten Folgen der Organisation unseres Zeitsinns durch die Musik liegt darin, dass Songs und Melodien oftmals der Schlüssel für unsere Erinnerung an vergangene Dinge sind. Hier meine ich nicht einfach, dass Sounds - wie Anblicke und Gerüche - damit verbundene Erinnerungen auslösen, sondern vielmehr dass die Musik selbst unsere lebhafteste Erfahrung der ablaufenden Zeit darstellt. Von der Musik wird unsere Aufmerksamkeit auf das Zeitgefühl gelenkt; Songs werden um Antizipation und Echo herum organisiert, um Momente, auf die wir uns freuen, Refrains, die Bedauern in ihr Abklingen eingebaut haben. 798 Lässt Musik das Vergangene vergessen, oder holt sie es hervor? Kann sie zur selben Zeit die Zeit anhalten, als auch ihr Ablaufen vor Augen führen? Es liegt nahe, diese Frage mit einem Ja zu beantworten: Je nachdem, welche Dimension des Ich innerhalb eines Textes angesprochen wird, liegt der Fokus auf der Veränderlichkeit des Ich (als idem) oder der Beständigkeit des Ich (als ipse). Es können narrative Zusammenhänge angesprochen werden, die sich über einen längeren Zeitraum entwickelt haben, sowie auch Momente, Haltungen, die in einer ‚zeitlosen‘ Gegenwart zum Ausdruck gebracht werden. Auf diese Weise wird deutlich, dass es RezipientInnen als ‚ich‘/ Ich (aber auch als adressiertem Du) möglich ist, mittels der Aneignung von Populärmusiktexten sich und ihr Sein in der Zeit auf immer neue Art auszuloten. 797 Frith, Zur Ästhetik der populären Musik (Anm. 429), Quelle: Internet. 798 Ebenda. 9. Zusammenfassende Bemerkungen Es war Ziel dieser Untersuchung, erstmals im deutschsprachigen Raum Rap- Texte des 21. Jahrhunderts einer systematischen literaturwissenschaftlichen Analyse zu unterziehen. Ausgangspunkt des Forschungsprojektes stellte die Beobachtung dar, dass innerhalb der populären Musikkultur des HipHops und auch innerhalb wissenschaftlicher Analysen von Rap und HipHop immer wieder Debatten um die vermeintliche ‚Authentizität‘ der KünstlerInnen- Performances und der Rap-Texte geführt werden. Ein Grund dafür liegt m. E. in der weit verbreiteten Vorstellung, Rap sei Sprachrohr (ethnisch und/ oder sozial) marginalisierter Jugendlicher, welche mittels Rap ihre Wirklichkeit darstellen. 799 Als ‚authentisch‘ werden in diesem Zusammenhang in Aussagen von RezipientInnen sowie auch in Untersuchungen meist sozial- und medienwissenschaftlicher Provenienz jene Texte angesehen, welche dieses Abbildungsverhältnis glaubwürdig transportieren. Ein auf diese Weise verstandenes Authentizitätskonzept resultierte nun in vergangenen Einschätzungen von Rap-Texten notwendig darin, dass von Seiten der RezipientInnen, aber auch innerhalb wissenschaftlicher Untersuchungen zu Rap und HipHop, für eine Beurteilung der Texte das Privatleben der KünstlerInnen als Vergleichswert für die in den Texten dargestellte Welt herangezogen wurde. Dies führte nun einerseits zu Problemen der Überprüfbarkeit der ‚Authentizität‘ eines Textes; andererseits bedeutete diese Vorgehensweise eine gewisse Anmaßung von Seiten der RezipientInnen, der Rap-KollegInnen und WissenschafterInnen, die als RichterInnen über ‚Dichtung und Wahrheit‘ auftraten. Deutlich wird allerdings an dieser Vorgehensweise, dass seit Beginn der Entwicklung und Ausdifferenzierung von Rap den Texten eine große Bedeutung beigemessen wird. Die Textlastigkeit im Rap wird zudem durch das formale Merkmal gestützt, dass die Musik in Raps hauptsächlich in perkussiver Funktion eingesetzt wird. 800 Trotz dieser Textlastigkeit stellte Rap bis zum Zeitpunkt dieser Untersuchung eine von den Literaturwissenschaften vernachlässigte Textsorte dar, was darin begründet sein könnte, dass RapperInnen als TextproduzentInnen nicht demselben kulturellen Feld angehören wie AutorInnen, die genuin für den Literaturmarkt produzieren. Den Texten von RapperInnen wurde in diesem Zusammenhang entweder die entsprechende literarische Qualität abgesprochen, um für die Literaturwissenschaften von Interesse zu sein, oder die Texte erschienen im Gegensatz dazu aufgrund ihrer medialen, sozialen und/ oder jugendkulturellen Aspekte als zu komplex, um mit literaturwissenschaftlichen Methoden ansprechende Analyse-Ergebnisse erzielen zu können. Diese Vorsicht führte dazu, dass Rap-Texte - mit Aus- 799 Vgl. Klein/ Friedrich, Kultur des HipHop (Anm. 5), S. 21. 800 Vgl. Wicke, Rap (Anm. 178), Sp. 70. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 322 nahme der Analysen von einzelnen Liedern im nicht deutschsprachigen Kontext 801 - bis dato noch in keinen Kontakt mit literaturwissenschaftlichen Text- Theorien gekommen sind, mittels derer die Referenzbeziehung zwischen Text-Ich und der/ m KünstlerIn als Ich vor dem Text abseits biographistischer Lesarten gefasst werden könnte. Dabei wurden gerade innerhalb der Literaturwissenschaften schon vor längerer Zeit Theorien entwickelt, die eine direkte Referenzbeziehung zwischen AutorIn und Ich im Text aufkündigen: Wie in Kap. 5 ausgeführt, wurde in Bezug auf die Lyrik schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff des ‚lyrischen‘ oder ‚artikulierten Ichs‘ eingeführt, der es ermöglichen sollte, das Ich im Text von der/ vom AutorIn abzulösen, wie Burdorf bestätigt: 802 Die Personenstruktur von Gedichten ist also noch nicht genau genug beschrieben, wenn man das artikulierte Ich schlicht dem realen oder empirischen Autor gegenüberstellt. Dieser taucht im Gedicht nämlich gar nicht auf; das Gedicht hat sich als literarischer Text von ihm abgelöst. 803 Neben der Lyrik-Theorie war es vor allen Dingen die Autobiographie- Theorie, die sich mit der Referenzbeziehung zwischen KünstlerIn und Ich im Text eingehend beschäftigte; schließlich wird in einer Autobiographie aufgrund der Namensgleichheit von ProtagonistIn, ErzählerIn und AutorIn sowie mittels lokalwie temporaldeiktischer Angaben bewusst eine Verbindung zwischen Text-Ich und ProduzentIn etabliert. 804 Innerhalb der Autobiograpie- Theorie führte allerdings der in den letzten Jahrzehnten prägende Einfluss poststrukturalistischer Theoriebildung dazu, dass auch autobiographische Texte nicht mehr als direkter Ausdruck der Wirklichkeit einer/ s Dichterin/ s sondern als Akt der Setzung eines DichterInnen-Ichs verstanden werden; es gilt also, dass nicht mehr die Person den Text, sondern gewissermaßen der Text die Person schafft. 805 Rap-Texte weisen nun Charakteristika beider literarischer Gattungen auf, sowohl der Lyrik als auch der Autobiographie: Wie in Kap. 2 gezeigt, können Populärmusiktexte im Allgemeinen der Lyrik zugerechnet werden, da sie eine gebundene Versrede darstellen. 806 Ihre Syntax weicht also von jener der Prosa ab. Wie in Kap. 4 dargelegt, reihen sich Rap-Texte insgesamt aber nicht in die zeitgenössische Lyrik-Produktion ein, sie haben eine eigene Tradition begründet: So wird in der zeitgenössischen Lyrik größtenteils auf den Reim verzichtet, 807 die Texte sind kurz und prägnant, 808 während Rap-Texte stets 801 Vgl. Shusterman (1994) oder Asquith (2005). 802 Vgl. Kap. 5.1, S. 83. 803 Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 195. 804 Vgl. Kap. 6.2, S. 111ff. 805 Vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (Anm. 465), S. 11. 806 Vgl. Kap. 2.1, S. 23f. 807 Vgl. Burdorf, Gedichtanalyse (Anm. 25), S. 21. 808 Vgl. ebenda, S. 21 oder vgl. Freund, Deutsche Lyrik (Anm. 53), S. 10. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 323 gereimt sind und im Durchschnitt drei Strophen zu je 16 Versen umfassen, ihre „Worteflut“ 809 stellt sie in die Nähe von Prosatexten. Im Analyseteil 810 des vorliegenden Bandes konnten diese Charakteristika auch in 16 ausgewählten deutschsprachigen Rap-Texten aus dem 21. Jahrhundert herausgearbeitet werden. Als Textpool dienten dabei acht Rapalben von vier KünstlerInnen (Fiva MC, Pyranja, Manges, Sido), welche in den Jahren 2002 bis 2006 veröffentlicht wurden. Alle 16 ausgewählten Texte sind gereimt, wobei zum größten Teil assonant gereimt wurde, was die Variationsmöglichkeiten hinsichtlich des Reims stark erweitert. Zum Teil galt es sehr komplexe Reimschemata zu konstatieren, wenn Binnen- und Endreime kombiniert wurden. In zehn von 16 Texten wiesen die Strophen (in manchen Raps nur zum Teil) je 16 Verse auf, die Refrains acht Verse. In den Analysen konnte zudem gezeigt werden, dass eine traditionelle lyriktheoretische Herangehensweise an Rap-Texte durchaus fruchtbare Ergebnisse zeitigt, was die Verwendung von Stil- und Klangfiguren im Rap betrifft. Dass in den analysierten Raps vorwiegend die Verwendung von Klangfiguren (wie Alliterationen, Paronomasien u. a.) herausgearbeitet werden konnte, verwundert naturgemäß nicht, da Rap-Texte trotz eines starken Bezugs zur Schrift, was ihre Produktion und Transkriptionsweise betrifft, gewöhnlich performt, d. h. sprechgesungen, werden, während die Schrift das bevorzugte Medium der zeitgenössischen Lyrikproduktion darstellt. 811 Das im Rahmen dieses Bandes interessanteste Unterscheidungsmerkmal von Rap hinsichtlich der traditionellen Lyrikproduktion stellt allerdings die ‚Revitalisierung der AutorInnenfunktion‘ 812 dar: Aufgrund seiner Ursprünge in afrikanischen, oralen Traditionen tritt in vielen Rap-Texten ein/ e ErzählerIn auf, die/ der Geschichten erzählt, Namen nennt und lokale sowie temporale Bezüge zu einer außertextuellen Realität herstellt. Diese Ähnlichkeit zu rhetorischen Textstrategien der Autobiographie führte allerdings wie oben erwähnt dazu, dass Rap-Texte bis dato vor allen Dingen für Vergleiche mit dem tatsächlichen Leben der KünstlerInnen herangezogen wurden. Ziel der hier vorliegenden Analysen sollte es nun sein, am Beispiel der oben erwähnten Kunstprodukte der vier gewählten KünstlerInnen aus dem deutschsprachigen Raum die referentielle Beziehung zwischen der in den Rap-Texten dargestellten Welt und den KünstlerInnen als Ich vor dem Text in Anlehnung an die rezente Autobiographiediskussion abseits eines direkten Abbildungsverhältnisses neu zu konzipieren. Auf diese Weise galt es, die performative Dimension der Texte ins Zentrum des Forschungsinteresses zu 809 Jacob, Agit-Pop (Anm. 180), S. 183. 810 Vgl. Kap. 7.2, S. 174-317. 811 Zu Medienfragen in Bezug auf die Lyrik siehe Kap. 2.1, S. 20ff.; in Bezug auf Rap siehe Kap. 4.2, S. 74ff. sowie Kap. 4.3, S. 77ff. Hier wird u. a. ausgeführt, dass auch das Medium der gesprochenen Sprache in der zeitgenössischen Lyrikproduktion eine Renaissance erlebt. 812 Vgl. Asquith, Poetry as Social Practice (Anm. 19), S. 145. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 324 stellen, schließlich scheint der starke Bezug zwischen Text und KünstlerIn, welchen es in der Rezeption von Rap zu konstatieren gilt, von einer Reihe von spezifischen Sprechakten abzuhängen. Wie in Kap. 6 ausgeführt, gilt zunächst für Popmusik im Allgemeinen, dass es auf Live-Performances oder auf Tonträgern eine Stimme zu hören gibt, die als eines der individuellsten körperlichen Attribute gilt: „[W]e assign them bodies“ 813 ; der Stimme wird also „ein eigener, unverwechselbarer Körper verliehen, der mit dem Körper des Sprechenden assoziiert werden kann. Volumen, Dynamik, Rhythmus und Klangfarbe zeichnen die individualisierte Stimme aus […].“ 814 Mittels der Lieder auf den Platten soll die Stimme der/ s sich mittels ihrer setzenden Künstlerin/ s wiedererkennbar werden. Allerdings kann kein Sprechakt unter Anwesenheit der/ s Sprechenden und insbesondere kein mittels technischer Geräte ‚aufgezeichneter‘ Sprechakt eine „absolute oder unmittelbare Anwesenheit des Körpers herbeiführ[en].“ 815 Stimme ist Attribut des Körpers wie des Geistes, kann aber beides nur auf performative Weise konstituieren, nicht repräsentieren. De Man versteht demnach Stimme als Prosopopöie: Eine Stimme setzt einen Mund voraus, ein Auge und letztlich ein Gesicht, eine Kette, die sich in der Etymologie des Namens der Trope manifestiert: prosopon poien, eine Maske oder ein Gesicht (prosopon) geben. 816 De Mans Lesart zufolge stellt die Figur der Prosopopöie die Antwort auf die Frage ‚Wer spricht? ‘ dar, indem mittels ihrer einem Text ein sprechendes Gesicht gegeben wird, 817 dieses „ist in einer Weise der Rede gegeben, gegeben durch einen Akt der Sprache. Was durch diesen Akt gegeben ist, ist die Figur. Die Figur ist nichts weniger als das Gesicht selbst.“ 818 Wiewohl de Man im obigen Zitat von einer (Text-)Stimme im metaphorischen Sinn spricht, können diese Ausführungen auch für ‚reale‘ Stimmen Gültigkeit beanspruchen. Wagner betont, dass die vom Körper losgelöste Textstimme „keineswegs natürlich, sondern ein Text-Effekt ist und der technisch gespeicherten Stimme der akustischen Medien verwandt ist.“ 819 Die akustische Stimme erscheint also zunächst näher am Körper als die Text-Stimme, dennoch ist sie ebenso von diesem losgelöst. Gerade Rap macht sich diesen Umstand bei der Verwendung von Samples zunutze: Obwohl es in einem Rap-Text eine ErzählerInnenstimme gibt, die den Haupttext trägt, gilt es auch, sich von ihrer Quelle getrennte, entfremdete 813 Frith, Performing Rites (Anm. 68), S. 196. 814 Macho, Stimmen ohne Körper (Anm. 468), S. 132. 815 Butler, Hass spricht (Anm. 239), S. 215. 816 De Man, Maskenspiel (Anm. 28), S. 140 (Markierungen dem Original entnommen). 817 Vgl. Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 8. 818 Chase, Einem Namen ein Gesicht geben (Anm. 479), S. 416 (Markierungen dem Original entnommen). 819 Wagner, Erzählstimmen und mediale Stimmen (Anm. 466), S. 147f. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 325 Stimmfragmente anzueignen. Über die individuellen Eigenschaften dieser angeeigneten Stimmen wie auch über Geschlechtergrenzen hinaus wird mittels dieser Stimmen dasselbe Subjekt gesetzt wie durch die Hauptstimme. Damit wird deutlich, dass im Rap im Ausdrucksakt eine einfache Präsenz der ‚Stimme‘ und des Subjekts nicht gegeben ist - wie es durch das traditionelle Konzept der Authentizität suggeriert wird. Es handelt sich beim Akt des Rappens immer um einen Prozess der Wiederholung und des Aufschubs von Präsenz. Sowohl was die körperliche Stimme als auch die Text-Stimme betrifft, betont nun Menke, dass „[u]nter der Metapher der Stimme […] ein ‚Ich‘ im Text als dessen Figur der Bedeutung gelesen und die Instanz des Autors (die dieses verantwortet) dem Text vorausgesetzt, ‚vor‘ den Text gesetzt [wird].“ 820 Über die (Text-)Stimme als Prosopopöie wird also eine (figurative) Verbindung zwischen dem Ich im Text und der/ m AutorIn als vermeintlicher/ m Referentin/ en gesetzt. Die/ Der mittels der (Text-)Stimme gesetzte Referent/ in rückt allerdings in die Nähe einer Fiktion: „Der Referent wird als Name gesetzt und das referentielle Ich des Textes gibt sich als Ich im Text Stimme oder Gesicht und entzieht diese/ s wieder im selben Augenblick“ 821 , schließlich gilt, „[w]as verliehen wird, kann nicht eigentlich sein.“ 822 Als Figur bedarf die Prosopopöie eines willkürlichen Aktes der Setzung, somit bedeutet Figuration zur selben Zeit auch immer De-Figuration. Eine sprachliche Figur kann schließlich nicht die Sache selbst sein, sondern lediglich eine Re-Präsentation. 823 Wird ein Kunstprodukt, welches unter einem Namen publiziert wurde, gelesen/ gehört, so geht die/ der RezipientIn allerdings davon aus, dass es sich bei dem Namen, unter dem es veröffentlicht wurde, um ein intelligibles Subjekt handelt: 824 Auch der Name auf dem Titelblatt/ dem Albumcover stellt somit eine Prosopopöie dar, schließlich wird über den Namen das ‚Gesicht‘ des dahinter stehenden Subjekts konstituiert. Es handelt sich beim Namen um eine leere Instanz, „Namen sind als Punktuierungen, describing nothing, Artikulationen der ‚Frage nach dem Referenten‘.“ 825 Um bedeuten zu können, braucht der Name als Ich vor dem Text das Ich im Text (die Figur) als seine Stimme: Auf diese Weise wird gerade im Namen jene Aporie deutlich, welche der Sprache im Gesamten inhärent ist, nämlich jene Aporie zwischen der Setzung und der Repräsentation - der inhaltlichen Bestimmung - eines Ich, schließlich kann eine sprachliche Äußerung im eigentlichen Sinne eine Entität nicht gleichzeitig produzieren, d. h. einsetzen, sowie auch auf sie als der Setzung vorausliegende referieren, d. h. diese reprä- 820 Menke, Prosopopoiia (Anm. 477), S. 158. 821 Babka, Unterbrochen (Anm. 502), S. 37 (Markierungen dem Original entnommen). 822 Ebenda, S. 29 (Markierungen dem Original entnommen). 823 Vgl. Menke, Rhetorik und Referentialität (Anm. 504), S. 57. 824 Vgl. Menke, De Mans ‚Prosopopöie‘ der Lektüre (Anm. 485), S. 60. 825 Ebenda, S. 56 (Markierung dem Original entnommen). 9. Zusammenfassende Bemerkungen 326 sentieren. 826 Es ist nicht möglich, sich für eine der beiden Funktionen der Sprache als vorrangig zu entscheiden. Obwohl sie sich gegenseitig ausschließen, müssen sie gleichzeitig ‚existieren‘, d. h. operieren. Gerade in der Autobiographie wird allerdings eine besondere Beziehung zwischen dem Ich im Text und dem Namen auf dem Cover etabliert: Schließlich handelt es sich bei einem Text nach Lejeune nur dann um eine Autobiographie, wenn beide Instanzen, das Ich im Text und das Ich vor dem Text denselben Namen tragen, 827 wobei die Ausführungen des Ich im Text sozusagen der Repräsentation des Ich vor dem Text (als Namen, als leerer Instanz) dienen. Wiewohl de Mans und Menkes Ausführungen sich genuin auf die Autobiographie beziehen, können sie auch für Rap-Texte Gültigkeit beanspruchen. Die Ähnlichkeit zwischen Rap und Autobiographie zeigt sich dabei zunächst in der rhetorischen Strategie der wiederholten Namensnennung: Wie ebenso in Kap. 6 gezeigt, wird innerhalb der Texte aller acht Alben über multiple Namensnennungen im Text eine Beziehung zwischen Ich im Text und dem Namen (auf dem Cover; unter dem publiziert wird) aufgebaut. Im Gegensatz zur traditionellen Autobiographie geben die RapperInnen allerdings meist KünstlerInnennamen an. Diese haben in vielen Fällen als Begriffe eine Bedeutung (vgl. Pyranja, Manges) resp. sie verweisen auf klangähnliche Wörter (Fiva) oder stellen ein (vermeinliches) Akronym (Sido) dar. 828 Die Namen verfügen also im Unterschied zu ‚normalen‘ Eigennamen über eine Bedeutung, welche einen Bezug zum Charakter der Person, die sie setzen, herstellen soll. Einerseits dienen KünstlerInnennamen im Rap damit (paradoxerweise) zur selben Zeit der Setzung und Repräsentation eines Ich vor dem Text, zum anderen wird über die figurative Beziehung zwischen dem KünstlerInnennamen und der vermeintlichen Person dahinter, auch eine Beziehung zum bürgerlichen Namen etabliert. Wie die Beziehung zwischen dem KünstlerInnennamen und dem bürgerlichen Namen ausgestaltet wird, ist allerdings verschieden. So kommt es im Falle von Fiva, Pyranja und Manges zu keiner Aufspaltung in ein souveränes Ich (als bürgerliche Person) und in eine Rolle als KünstlerIn: Beide Namen setzen die gleiche Person. Im Falle von Sido allerdings wird um das Verhältnis der beiden Namen ein Spiel entfacht, das nahe legt, dass Sido möglicherweise als Rollen-Ich eines bürgerlichen Ich zu verstehen ist. Neben der Namensnennung findet sich in den Texten - ähnlich wie in der Autobiographie - eine Vielzahl an selbstreferentiellen Hinweisen auf das Tun des Ich als RapperIn oder SchreiberIn. Beide Aktivitäten werden als immanent körperliche dargestellt, was einen Bezug zum Ich vor dem Text als Person herstellt. Es konnte gezeigt werden, dass bei allen vier gewählten Künstle- 826 Vgl. Menke, Dekonstruktion (Anm. 517), S. 132. 827 Vgl. Lejeune, Der autobiographische Pakt (Anm. 496), S. 28. 828 Vgl. dazu die Analysen der KünstlerInnennamen in Kap. 6.2.1, S. 117ff. sowie Kap. 6.2.2, S. 124ff. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 327 rInnen die Häufigkeit dieser Referenzen in den weiterfolgenden Veröffentlichungen abnimmt. In den Debütalben kommt also ein besonderes Bedürfnis zum Ausdruck, mittels des Ich im Text einen Bezug zum Ich vor dem Text zu etablieren. Während in der Autobiographie auf dem Titelblatt oder in einem Einleitungsabsatz meist explizit gemacht wird, dass es sich beim vorliegenden Text um eine Autobiographie handelt, fehlen genrebedingt derartig eindeutige Angaben auf Rap-Alben. Auf diese Weise wird in manchen Fällen (wie z. B. im Falle von Spiegelschrift, Ich, Wurzeln und Flügel) über den Titel ein Bezug zwischen dem Inhalt und dem Ich vor dem Text angedeutet. 829 In anderen Beispielen wird diese Verbindung nicht gesucht (vgl. die Albumtitel Laut und Leise, Regenzeit in der Wüste, Paradies/ Versuche) oder sogar bewusst vermieden (vgl. Maske X). Es zeigt sich also, dass eine ‚autobiophonographische‘ Lesart von Raps nicht immer erwünscht ist. Dies korrespondiert auch mit der Covergestaltung: Die Positionierung von Fotos dient ebenso der Setzung eines Ich vor dem Text; in manchen Fällen soll aber über das Lay-Out eine Verbindung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text gebrochen werden (vgl. Maske X, Ich), indem diese als Inszenierung visualisiert wird. Prinzipiell ist zu sagen, dass im Rap der Name als KünstlerInnenname einen funktionellen Wert hat und dazu dient, die Werke, die unter diesem publiziert werden, ‚zusammenzuhalten‘, wie umgekehrt die Werke dazu dienen, den Namen in einem kulturellen Rahmen (z. B. innerhalb der Populärkultur des HipHops) zu verorten. Dabei steht nach Foucault fest, „[t]he author does not precede the works, he is a certain functional principle.“ 830 Die Verbindung zwischen KünstlerIn und Werk bleibt stets also fragil, weshalb es der Repräsentationsmechanismen innerhalb der Werke bedarf, um die Verbindung immer wieder zu aktualisieren. Interessanterweise ist in diesem Zusammenhang auf Rap-Alben eine eigene ‚Textsorte‘ entstanden, deren Zweck es darstellt, Setzung und Repräsentation eines Ich zu verbinden: Alle acht gewählten Alben beginnen dementsprechend mit einem so genannten Intro. Die Form des Intros kann stark variieren, denn während einige Intros aus Collagen von Samples bestehen (vgl. die Intros auf Spiegelschrift [Fiva], Wurzeln und Flügel [Pyranja], Laut und Leise [Pyranja], Regenzeit in der Wüste [Manges]), wird andernorts als Intro ein Skit verwendet, d. h. eine kurze schauspielähnliche Szene (vgl. die Intros auf Kopfhörer [Fiva], Maske X [Sido] oder Ich [Sido]). 831 Innerhalb der Intros werden Namensnennung und Repräsentation verbunden, indem über das Ich im Text Informationen kundgetan werden. Wie nun Kap. 7 näher beleuchtet, zeigt ein genauerer Blick in die Texte, dass die Verbindung zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text nicht so eindeutig zu interpretieren ist, wie dies der oben formulierte Bezug zur Auto- 829 Vgl. dazu die Titelanalysen im Exkurs in Kap. 6, S. 129ff. 830 Foucault, Author (Anm. 527), S. 186. 831 Vgl. dazu die Analysen der Intros im Exkurs in Kap. 6, S. 148ff. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 328 biographie suggeriert: Dazu trägt zum einen der Umstand bei, dass es sich beim Pronomen ‚ich‘ um ein shifter-Pronomen handelt, das „jeweils bei jeder neuen Verwendung eine andere Person bezeichnet.“ 832 Indem das Pronomen ‚ich‘ wie der Name im eigentlichen Sinne eine entblößte, leere Instanz setzt, braucht es vielgestaltige Mechanismen der Repräsentation, um diese zu füllen. Ricœur unterscheidet in diesem Zusammenhang zwei Dimensionen des Selbst, welche in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehen: Er differenziert zwischen der Selbstheit (vom lateinischen Wort ipse, vergleichbar mit dem englischen Begriff self) und Selbigkeit (vom lateinischen Wort idem, vergleichbar mit dem englischen sameness). 833 Die Selbigkeit erschöpft sich einerseits in einer numerischen Dimension (man spricht von ‚ein und demselben Ding‘) wie auch in einer qualitativen Dimension (d. h. man spricht von einer größtmöglichen Ähnlichkeit einer Person über die Zeit hinweg). 834 Um der Bedrohung der Zeit zu entgehen, die für ein Ich als idem Veränderungen bringt, braucht es eine Ich-Instanz, welche „Beständigkeit in der Zeit“ 835 garantiert. Das ipse stellt demnach eine symbolisch leere Instanz dar, dessen Hauptcharakteristikum dabei das gehaltene Wort darstellt, da im Worthalten jene „Selbst-Ständigkeit“ 836 zum Ausdruck kommt, die sich nur mit einer Wer? -Frage verbinden lässt. 837 Der Dimension des ipse ist also ein ethisches Moment inhärent, indem sich ein Ich über die Zeit hinweg als verlässliche Instanz setzt. Den Sinn von literarischen Texten (und in diesem Sinne auch von Rap- Texten) sieht Ricœur nun darin, ein „Laboratorium für Gedankenexperimente“ darzustellen, wobei der „Gewinn dieser Gedankenexperimente darin [besteht], dass sie die Differenz zwischen den beiden Bedeutungen von Beständigkeit in der Zeit ersichtlich machen, und zwar dadurch, dass sie deren wechselseitiges Verhältnis variieren.“ 838 Texte zeigen sich in diesem Lichte als der Ort, ein „entblößtes Ipse aufs immer Neue mit verschiedenen Identitäten“ 839 einzukleiden. Auch Ricœurs Konzept von idem und ipse ist damit dieselbe Paradoxie inhärent, die oben in Bezug auf die Sprache im Allgemeinen ausgeführt wurde, schließlich gilt auch für ErzählerInnen, dass diese dem Akt des Erzählens eigentlich vorausgesetzt werden (müssen), obwohl sie eigentlich erst mittels des Aktes des Erzählens gesetzt werden. In den 16 Textanalysen im 7. Kapitel dieses Bandes konnte schließlich demonstriert werden, dass das dialektische Verhältnis von ipse und idem in Rap-Texten auf unterschiedlichste Weise zur Verhandlung steht. In diesem 832 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 65. 833 Vgl. ebenda, S. 144. 834 Vgl. Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 164f. 835 Ricœur, Selbst als ein Anderer (Anm. 508), S. 146. 836 Ebenda, S. 153 (Markierung dem Original entnommen). 837 Vgl. ebenda, S. 147. 838 Beide Zitate: ebenda, S. 182. 839 Müller-Funk, Der gerissene Faden (Anm. 614), S. 175. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 329 Zusammenhang zeigt sich wiederum die Nähe des Raps sowohl zur Autobiographie als auch zur Lyrik: Während manche Rap-Texte (wie Autobiographien) sehr narrativ gehalten sind, also die Dimension des idem (und ihre Veränderungen) in den Vordergrund stellen, können andere Texte (wie in der Lyrik eher üblich) als Momentaufnahmen einer Situation charakterisiert werden, in der ein Ich als von narrativen Rahmungen entblößtes ipse auftritt. Als Untersuchungsrahmen für die Textanalysen wurden vier (im Rap häufig aufgegriffene) Themata gewählt, denen von jedem der vier KünstlerInnen ein Text zugeordnet wurde. Wie die Analysen zeigen, lag je nach Thema der Fokus der Texte tendenziell auf der einen oder anderen Dimension des Ich, wiewohl innerhalb einer Gruppe keine absolute Vereinheitlichung möglich ist. Am kohärentesten zeigen sich in diesem Zusammenhang die Texte zum Thema Rap über Rap. 840 Denn in allen vieren kommt es zu einer narrativen Verortung des Ich im Text (als idem) in der nun mehr als 30-jährigen Geschichte der Jugendkultur HipHop: Während sich die Ichs in Zurück (in die Zukunft) (Fiva, Fi 21), Nur so (Pyranja, Py 24) und King (Manges, Ma 31) als der Subkultur angehörig darstellen und sich von neueren, kommerziell erfolgreichen Strömungen im Rap abgrenzen, erklärt sich das Ich in A.i.d.S. 2007 (Sido, Si 40) zur/ m Repräsentantin/ en des neuen Raps, das den jetzigen Status Quo aufrecht erhalten möchte. In allen vier Beispielen wird ein expliziter Bezug zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text etabliert. Diese eindeutige Verortung verwundert nicht, da - wie erwähnt - die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts große Veränderungen für die deutschsprachige Rap-Szene gebracht hatten. Der große kommerzielle Erfolg des Gangsta-Raps nach der Jahrtausendwende hatte es für alle Szene-Angehörigen notwendig gemacht, sich im Feld zu verorten und Stellung zu beziehen zur Frage, wer denn nun die/ der ‚richtige‘ RepräsentantIn von Rap sei. In Bezug auf die Ich-Erzählungen 841 liegt nahe, dass ebenso die Dimension des Ich als idem im Vordergrund steht. Dies trifft auch auf das Ich bei Fiva und Sido zu. Während allerdings das Ich in Straßenjunge (Sido, Si 21) Veränderungen (und auch Verantwortung für das eigene Tun als ipse) ablehnt, zeigt das Ich in Blaue Flecken (Fiva, Fi 7), dass sich ein Ich erst in der Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen Vergangenheit als auch mit der Vergangenheit anderer Personen herausbilden kann, die auf diese Weise auch re/ konstituiert wird. In den Texten von Manges und Pyranja wird das dialektische Verhältnis von ipse und idem fokussiert: Während sich das Ich in Eigentlich nichts (Manges, Ma 5) in einer Krise befindet, da es sich in einer Endlosschleife gefangen fühlt und mit seiner Entwicklung als idem hadert, erzählt das Ich in Rostock (Pyranja, Py 12) auf affirmative Weise von seinen Veränderungen (als idem) wie auch von seiner Beständigkeit als verlässliches ipse. In den Texten von Manges, Sido und Pyranja wird in Bezug auf die Ich- 840 Vgl. dazu die Analysen zu Rap über Rap in Kap. 7.2.2, S. 209ff. 841 Vgl. dazu die Analysen zu den Ich-Erzählungen in Kap. 7.2.1, S. 174ff. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 330 Erzählungen eine Referenzbeziehung zwischen Ich im Text (als RapperIn) und Ich vor dem Text (als Namen auf dem Cover) hergestellt. Bei Fiva hingegen entsteht diese Verbindung durch temporalwie lokaldeiktische Angaben in Bezug auf deutsche Zeitgeschichte. Die sozialkritischen Texte 842 lassen vermuten, dass in diesen ein Subjekt als ipse auftritt, das sich in Bezug auf ethische Verantwortlichkeit als TrägerIn eines politischen Diskurses präsentiert. Dies trifft auch auf die beiden Ichs in Klarsicht (Fiva, Fi 23) und Frag nicht (Pyranja, Py 14) zu. Diese beiden wollen Missstände aufzeigen und über die Aufmerksamkeitslenkung eines apostrophierten Du Veränderungen herbeiführen. Gegenteiliges möchte das Ich in Mein Block (Sido, Si 4): Es bejaht seine von ‚Kriminalität, Drogen und Sex‘ geprägte Umgebung in der sozialen Unterschicht und grenzt sich von anderen Lebensentwürfen ab. Das Ich präsentiert sich als ErzählerInnen-ipse, lehnt dabei Veränderungen sowie ethische Verantwortlichkeiten ab. Wiewohl sich das Ich in Traumwelt (Manges, Ma 3) ebenso auf eine entblößte ErzählerInnenposition zurückzieht, steht für es Selbstreflexion und Weiterentwicklung im Mittelpunkt. Sowohl bei Fiva, Pyranja als auch Sido wird ein Bezug zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text aufgebaut. Lediglich bei Manges bleibt die/ der ReferentIn für das Ich offen. Was die Liebestexte 843 betrifft, so zeigt sich, dass der traditionelle ‚romantische‘ Liebesdiskurs in den vier Beispielen auf sehr unterschiedliche Weise aufgegriffen wird. Kein Text folgt dem Bild einer stereotypen Liebesgeschichte, die von zwei PartnerInnen erzählt, die sich fürs Leben gefunden haben. Während Für mich allein (Fiva, Fi 5) einen feministischen Diskurs aufgreift, indem sich ein weibliches ipse in seiner Eigenständigkeit behaupten will, gilt es in Wenn du wüsstest (Pyranja, Py 26) eine freundschaftliche Beziehung über die Liebe zu stellen. In beiden Raps wird betont, wie wichtig eine gemeinsame Geschichte (als narrative Basis) für eine Beziehung ist. In Gemeinsam (Manges, Ma 33) hingegen wird der illusionäre Charakter der totalen Erkenntnis einer/ s anderen diskutiert. Die/ Der andere stellt stets Projektion der eigenen Wahrnehmung dar. Während in diesen drei Beispielen kein (oder kaum ein) expliziter Bezug zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text hergestellt wird, erfolgt dieser auf explizite Weise in Was hat er? (Sido, Si 13). Hier schwört das Ich einer Liebesbeziehung ab, die von Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit geprägt ist. Dem Ich geht es nur um Sex, was heißt, dass es zwischen den PartnerInnen keine gemeinsame Geschichte geben darf. Die eindeutige Nennung des Namens Sido im Text trägt dazu bei, das Lied als Inszenierung des Ich vor dem Text zu lesen. Insgesamt kann gesagt werden, dass in sehr vielen der untersuchten Texte auf die eine oder andere Weise ein Bezug zwischen Ich im Text und Ich vor dem Text gesucht wird. Insbesondere die Texte der Alben von Sido weisen 842 Vgl. dazu die Analysen zu Soziales/ Nachdenken in Kap. 7.2.3, S. 245ff. 843 Vgl. dazu die Analysen zu Texten über die ‚Liebe‘ in Kap. 7.2.4, S. 283ff. 9. Zusammenfassende Bemerkungen 331 eine starke Verbindung auf, wobei gesagt werden muss, dass die Texte nicht frei von Ironisierungen sind. Charakteristisch für diese ist allerdings auch die affirmative Haltung des Ich im Text gegenüber der eigenen Situation. Veränderungen (des Ich als idem) wie Verantwortung (des Ich als ipse) werden kategorisch abgelehnt. In den Texten der anderen KünstlerInnen hingegen wird die Beziehung zwischen ipse und idem auf vielfältigste Weise ausgelotet und problematisiert. Wie schließlich in Kap. 8 dargelegt wird, bieten Rap-Texte auch Bezugspunkte für RezipientInnen, wenn das ‚ich‘ im Text als shifter-Pronomen aufgefasst wird. Denn Rap-Texte eröffnen vielgestaltige Möglichkeiten für RezipientInnen, sich mittels der im Rap gebotenen (Alltags-)Sprache selbst als Subjekt zu setzen. Die Sprache des Raps wird so im Rezeptionsakt zur Sprache eines hörenden/ lesenden Selbst. Dergestalt stellt das Ich in einem Gedicht [sic! ] von Fiva fest: „Ich buchstabiere dir mein Leben, damit wir eine Sprache finden.“ 844 Es konnte in diesem Band also dargestellt werden, dass mittels einer theoretischen Neukonzipierung sowohl die verschiedenen Dimensionen des Ich im Rap-Text als auch das Verhältnis des Ich im Text und des Ich vor dem Text differenzierter gefasst werden können, als das bisher geschehen ist. Es wurden jene Sprechakte festgemacht, die eine ‚Konstruktion von Authentizität‘ im Rap ermöglichen. Auf diese Weise war es möglich, unreflektiert biographistischen Les/ Hörarten von Rap-Texten entgegenzutreten, indem der figurative, rhetorische Status des Ich im Text und des Ich vor dem Text in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gerückt wurde. Gleichzeitig konnte mittels der vorliegenden Untersuchung erstmals in der deutschsprachigen Forschung ein Einblick in das Schaffen der deutschsprachigen Rap-Szene in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts gewährleistet werden. 845 844 Nina Sonnenberg (Fiva): Einteiler. In: dies.: Klub Karamell. Dresden/ Leipzig 2007, S. 33. 845 Ich danke Dr. Matthias Egger und Dr. Jörg Weilhartner für das mühevolle Lesen der Korrekturfahnen. Bibliographie A. Sekundärliteratur Adorno, Theodor W. (unter Mitarbeit von George Simpson): On Popular Music [1941]. In: Simon Frith und Andrew Goodwin (Hrsg.): On Record. Rock, Pop and the Written Word. New York 1990, S. 301-314. Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. Frankfurt am Main 1962. Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 12 2000 [1969]. Agamben, Giorgio: Profanierungen. Frankfurt am Main 2005. Allrath, Gaby/ Surkamp, Carola: Erzählerische Vermittlung, unzuverlässiges Erzählen, Multiperspektivität und Bewusstseinsdarstellung. In: Vera Nünning und Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltextanalyse und Gender Studies. 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Was du nicht siehst feat. Chosen Few (Fi 12). Stau (Fi 13). Kopf hoch feat. Pyranja (Fi 14). Distanz feat. Esther (Fi 15). Schlagzeilen (Fi 16). Jetzt mal ehrlich (Fi 17). Sunwatch (Outro) (Fi 18). Fiva MC & DJ Radrum: Kopfhörer. Kopfhörer Recordings 2006. Kopfhörer (Fi 20; Text: Booklet). Zurück (in die Zukunft) (Fi 21; Text: Booklet). Schalldicht (Fi 22). Klarsicht (Fi 23; Text: Booklet). Hallo! ? ! (Fi 24). Rauschgift (Fi 25). Unüberhörbar (Fi 26). Verlorene Zeit (Fi 27). Vier Wände (Fi 28). Geisterfahrer (Fi 29). Ich glaub’ an dich (Fi 30). Papa & Mama (Fi 31). Zeit, die mir bleibt (Fi 32). Frühling (Fi 33). Tief unten (Fi 34). 846 Es werden nur für jene Rap-Texte Quellen angegeben, die im Band zitiert werden. Bibliographie 346 Für einen Moment (Fi 35). Manges: Regenzeit in der Wüste. Kehlkopf Aufnahmen 2003. Intro (Ma 1; Text: eigene Transkription). Während (Ma 2). Traumwelt feat. Miss Lebrina (Ma 3; Text: Booklet). Ein Biss (Ma 4). Eigentlich nichts (Ma 5; Text: Booklet). Regenzeit in der Wüste (Ma 6). Wie mir geschieht (live) (Ma 7). Vielleicht bin ich lieber still (Ma 8). Tägliche Routine feat. Siro und Thomas Hammann (Ma 9). Interlude 1 (Ma 10). Klatsch in die Hände (Ma 11). Alles was ich seh (Ma 12). Interlude 2 (Ma 13). Tiefergelegt (Ma 14). Wut in mir (Ma 15). Fehler feat. Baggefudda (Ma 16). S.I.E.H. (Ma 17). Schräg (Ma 18). Interlude 3 (Ma 19). Wo ich war (Ma 20). Der Anruf feat. Kinderzimmer-Productions (Ma 21). Lass dich gehen (Ma 22). Ich steh am Morgen auf (Ma 23). Interlude 4 (Ma 24). Bist du für Rap bereit? (Ma 25). Mein Mädchen (Ma 26). Wahr (Ma 27). Manges: Paradies/ Versuche. Kehlkopf Aufnahmen 2004. Intro (Ma 28; Text: eigene Transkription). Versuch (Ma 29). Paradies (Ma 30). King (Ma 31; Text: Booklet). Interlude (Ma 32). Gemeinsam (Ma 33; Text: Booklet). Kein Zweck (Ma 34). Heimat (Ma 35). Gute Nacht-Lied (Ma 36). Mieze Medusa & Tenderboy: Antarktis. Backlab 2006. Wege zu gehen (Mie 1; Text: eigene Transkription). Nina MC: Nikita. Motor/ Universal 2001 (Texte: Booklet). Boom Clack (Ni 1). Doppel X Chromosom (Ni 2). Pyranja: Wurzeln und Flügel. Pyranja Records 2003. Anfang (Py 1; Text: eigene Transkription). Egal was ihr sagt (Py 2). Wer wir sind feat. Curse & ItaloReno (Py 3). Bibliographie 347 Reine Nervensache (Py 4). 4 Elemente (Py 5). Erweiterte Suche (Py 6). Heute (Py 7). Verteidigung & Angriff (piranhas) (Py 8). Happy Hour (Py 9). Labelparty feat. SeraFinale (Py 10). Warm up (Py 11). Rostock (Py 12; Text: Booklet) Gegensätze feat. Fiva MC (Py 13). Frag nicht (Py 14). Willenlos feat. Olli Banjo (Py 15). Wurzeln und Flügel (Py 16; Text: Booklet). E.T.M.L. (Py 17). Gastspiel (Py 18). Anfang vom Ende (Py 19; Text: eigene Transkription). Lange Nacht feat. Olli Banjo, Schivv und Tatwaffe (Py 20). Pyranja: Laut und leise. Pyranja Records 2006. Laut und leise Intro (Py 21; Text: eigene Transkription). Fieser Panzer (Py 22). Männer & Jungs (Py 23). Nur so feat. Olli Banjo (Py 24; Text: Booklet) Auf & Ab (Py 25). Wenn du wüsstest (Py 26; Text: Booklet). Ich wollte (Py 27). Nie wieder (Albumversion) (Py 28). True Romance feat. Schivv (Py 29). Brennpunkt feat. Draq % Falgas a.k.a. Hamityvill (Py 30). 1929 (Py 31). Vom Ossi zum Star (Py 32). MV (Py 33). Nie wieder feat. Greg Danielz RMX feat. Kimoe (Py 34). Sido: Maske X. Aggro Berlin 2004 (2006). Interview (Si 1; Text: eigene Transkription). Aus’m Weg (Si 2). Steig ein! (Si 3). Mein Block (Si 4; Text: eigene Transkription). Maske (Si 5). Mama ist stolz (Si 6). Sido und die Drogen (Si 7). Arschf*cksong (Si 8). 3 Leben (Si 9). Knast feat. Mok (Si 10). Taxi feat. Olli Banjo (Si 11). Fuffies im Club (Si 12). Was hat er? (Si 13; Text: eigene Transkription). Glas hoch! Feat. Harris (Si 14). Die Sekte (Si 15). Bibliographie 348 Ghettoloch (Si 16). Sido aus’m Block (Si 17). Geh mein’ Weg (Si 18; Text: eigene Transkription). Sido: Ich. Aggro Berlin. 2006. Intro (Si 19; Text: eigene Transkription). Goldjunge (Si 20; Text: eigene Transkription). Straßenjunge feat. Alpa Gun (Si 21; Text: eigene Transkription). Peilerman & Flow Teil 1 (Si 22). Schlechtes Vorbild (Si 23). Ihr habt uns so gemacht feat. Massiv (Si 24). Mach keine Faxen feat. Kitty Kat (Si 25). Bergab (Si 26). Ein Teil von mir (Si 27). Nie wieder feat. G-Hot (Si 28). Peilerman & Flow Teil 2 (Si 29). Ich kiff nicht mehr (Si 30). 1000 Fragen (Si 31). Ich hasse dich (Si 32). Peilerman & Flow Teil 3 (Si 33). GZSZ feat. Fler (Si 34). Mein Testament (Si 35). Ficken feat. Tom D & Kitty Kat (Si 36). Rodeo feat. Peter Fox (SEEED) (Si 37). Sarah (Si 38). Peilerman & Flow Teil 4 (Si 39). A.i.d.S. 2007 feat. B-Tight (Si 40; Text: eigene Transkription). Im vorliegenden Band werden erstmals deutschsprachige Rap-Texte aus dem 21. Jahrhundert einer eingehenden literaturwissenschaftlichen Analyse unterzogen. Geklärt werden soll u. a., welchem Text-Genre sie angehören und welche unterschiedlichen medialen Dimensionen Einfluss auf die Bedeutungsproduktion der Texte haben. Im Besonderen aber wird der Lektürefokus in den Textanalysen auf die performativen Dimensionen der Raps gelegt. Während Rap-Texte bisher meist als ‚autobiographisch‘, als authentischer Ausdruck eines dem Text vorgängigen, sprechenden Selbst verstanden wurden, gilt es in dieser Untersuchung herauszuarbeiten, auf welche Weise dieses Selbst mittels rhetorischer (Text-)Strategien zuallererst generiert wird. ISBN 978-3-7720-8467-6