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Durch den Spiegel

2014
978-3-8233-7891-4
Gunter Narr Verlag 
Herle-Christin Jessen

Die mise en abyme gilt als eines der wichtigsten und faszinierendsten Phänomene ästhetischer Selbstbezüglichkeit. In einem Kunstwerk findet sich ein zweites, welches das erste - oder signifikante Facetten desselben - widerspiegelt und dadurch über sich selbst hinausweisend das Kunstwerk als solches fokussiert. Die mise en abyme ist nicht lediglich eine strukturelle Doppelung, sondern wirkt als Schnittstelle von Poesie und Poetologie, wie anhand der Reflexionen Gides, der den Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Literatur, Malerei und Heraldik geprägt hat, fundiert erörtert werden kann. Der Einbezug künstlerischer Produktions- und Rezeptionsprozesse gestaltet sich besonders plastisch in abyssalen Theaterstücken. Mithin analysiert die Dissertation innerhalb eines breiten Spektrums moderner Dramen von Jean Genet, Normand Chaurette und Yasmina Reza, auf welche Weise sich die selbstreferentiellen Phänomene radikalisieren und normative Kunsttheoreme in Frage stellen.

Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 45 Herle-Christin Jessen Durch den Spiegel Die mise en abyme in Dramen von Genet, Chaurette und Reza Durch den Spiegel Forum Modernes Theater Schriftenreihe l Band 45 begründet von Günter Ahrends (Bochum) herausgegeben von Christopher Balme (München) Herle-Christin Jessen Durch den Spiegel Die mise en abyme in Dramen von Genet, Chaurette und Reza Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Christina Pasedag, Durch den Spiegel Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT sowie der Gesellschaft für Kanada-Studien. © 2014 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0935-0012 ISBN 978-3-8233-6891-5 Dank Die vorliegende Arbeit wurde im September 2012 an der Neuphilologischen Fakultät der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Ihr Entstehungsprozess wurde auf vielfältige Weise begleitet und bereichert. Seit Studienzeiten vermittelt mir mein Doktorvater Gerhard Poppenberg, dass es in einer literaturwissenschaftlichen Lektüre nicht um Harmonie und Synthese, sondern um aporetische Kopfnüsse geht. Ich habe aus seiner besonderen Art, Texte zu lesen, viel gelernt und bin ihm für seine beständige Unterstützung sehr dankbar. Mein Dank gilt ebenso meiner Zweitgutachterin Kirsten Kramer (Universität Bielefeld) für ihr Engagement und ihre aufmerksamen und hilfreichen Anregungen. Meine Freunde und Kollegen Anne Brüske, Angela Calderón Villarino, Christian Grünnagel, Christina Pasedag, Katharina Schöneborn, Ricarda Stegmann sowie meine Schwester Anne Jessen haben die Entwicklung dieser Arbeit mit Ausdauer, scharfem Blick und wertvollen Randnotizen begleitet. Dafür möchte ich mich herzlich bei ihnen bedanken. Anregende Denkanstöße verdanke ich auch den Doktoranden und Postdoktoranden der Forschungskolloquien von Gerhard Poppenberg und Irene Albers (Freie Universität Berlin). Der Landesgraduiertenförderung danke ich für den Spielraum, den mir ein dreijähriges Promotionsstipendium gewährte, dem Narr-Verlag für die sachkundige und freundliche Betreuung, Christopher Balme von der Ludwig-Maximilians-Universität in München für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe Forum Modernes Theater sowie der VG Wort und der Gesellschaft für Kanada-Studien für die großzügige Unterstützung der Drucklegung. Meiner Familie gebührt für ihren Rückhalt ein besonderer Dank. Eigens erwähnt sei Robert, den die Abgründe der mise en abyme glücklicherweise zu einer unermüdlichen fachlichen Unterstützung herausforderten. V Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. G EORG B ÜCHNER , Lenz Wer auf dem Kopf geht, meine Damen und Herren, - wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich. P AUL C ELAN , Der Meridian Nous ne sommes pas libres. Et le ciel peut encore nous tomber sur la tête. Et le théâtre est fait pour nous apprendre d ’ abord cela. A NTONIN A RTAUD , Le théâtre et son double Inhalt 1. Die mise en abyme - › ein Fenster nach einem ganz anderen Raum ‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2. Theorien, Typologien, Termini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.1 Selbstreferentialität und Metafiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 2.2 Mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2.3 Dramatische mise en abyme, Metatheater und Spiel im Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3. Zurück zum Ursprung. André Gides Tagebucheintrag . . . . . . . . . . 36 3.1 Mehrdeutige Semantik in der Urdefinition der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.2 Spiegel in der Malerei. Van Eyck, Memling, Massys und Velázquez . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3 Spiegel in der Literatur. Shakespeare, Goethe, Poe und Gide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3.4 Spiegel in der Heraldik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 4. Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme. Ein erster Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.1 Problematisierung eines kategorialen mise-en-abyme- Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 4.2 Neuperspektivierung der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 5. Yasmina Rezas Une pièce espagnole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5.1 Am Ende ein Vorspiel. Ebenenkonstruktion und Ausgangspunkte en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 5.2 Poetologisches › Im-Werden-bleiben ‹ durch die Dynamik der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 5.3 Kompositionsprozesse en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.3.1 Schreiben als Komponieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.3.2 Die mise en abyme als Kunst der Fuge . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 5.4 Spielen vs. Spielen. Komponieren und Inszenieren in der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 VII 5.5 Realität und Fiktion(-spotenzierung) im Spiegel der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.6 Die Starre des Rezipienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 6. Normand Chaurettes Provincetown Playhouse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.1 › Verfluchte Unnatürlichkeiten sind da in dem Stück! ‹ Zur Ebenenkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 6.2 Die mise en abyme als › cohérence fautive ‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 6.3 Ästhetische Produktion en abyme. Zwischen Tradition und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 6.4 › Une œ uvre injouable. ‹ Abyssale Konflikte zwischen Text und Inszenierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6.5 Der Tod des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 6.6 Die Selbstgenese des Werkes (im Werk im Werk . . .) . . . . . . . . . . 182 6.7 Der Rezipient als Richter, der Richter als Rezipient . . . . . . . . . . 190 6.7.1 Der Künstler und sein Henker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 6.7.2 › J ’ ai un blanc. ‹ Leerstellen en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 7. Jean Genets Les Nègres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7.1 › Nous ne sortirons jamais de ce bordel. ‹ Gefangen in der Ebenenkonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 7.2 Der Tod des Rezipienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7.3 Gebrochene Inszenierung. Artauds Théâtre de la cruauté als mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 7.4 › Notre massacre sera lyrique. ‹ Identitätssuche im Zerrspiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 7.5 Politisches Theater? Politische mise en abyme? . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Durch den Spiegel und dahinter. Conclusio und Ausblick . . . . . . . . . 238 Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme . . . . . . . . . . . . . . 238 Der Blick in den Abgrund als (Selbst-)Erkenntnis des Rezipienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 VIII 1. Die mise en abyme - › ein Fenster nach einem ganz anderen Raum ‹ 1 L EANDER . Hast du denn keine französische Tragödie gelesen? Laß uns doch um Gottes willen die Einleitungsscene ordentlich machen, sonst geht es ja den Zuschauern wie dem Dichter, daß Beide gar nicht wissen, was aus dem Spaß werden soll. T IECK , Hanswurst als Emigrant, 79. Hanswurst als Emigrant ist ein selbstreferentielles Puppenspiel, das Ludwig Tieck um 1795 verfasste. Hanswurst ist insofern Emigrant, als ihn Johann Christoph Gottsched rund 60 Jahre zuvor gleich zweifach von den deutschen Bühnen verbannt hatte: zunächst in seiner einflussreichen Regelpoetik Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730) und sieben Jahre später mit der Aufführung von Friederike Caroline Neubers Posse Der alte und der neue Geschmack. 2 Er sei allerdings nur vertrieben worden, so vermutet Tiecks renitente Hanswurst-Figur, »weil er [Gottsched] allein meine Rolle spielen wollte.« 3 Diese parodistische Zurückweisung kategorialer Bevormundung und regelpoetischer Vorlagen sowie ihrer Vertreter ist nicht nur Hanswurst als Emigrant, sondern einer Vielzahl selbstreferentieller Texte zu eigen. 4 Sie schaffen sich werkintern den Freiraum, eine neue - dem herrschenden 1 F RISCH , Gesammelte Werke, Bd. II, 399. 2 G OTTSCHED , Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: ders., Ausgewählte Werke, Bd. VI.2, 342 - 349 und 356 - 359 (v. a. § 8, 13, 23 - 25). Gottscheds Verbannung der Hanswurst-Figur ist vor allem seinem Bemühen um ein Theater nach französisch klassizistischem Vorbild geschuldet. 3 T IECK , Hanswurst als Emigrant, in: ders., Ludwig Tiecks nachgelassene Schriften, 125. 4 Bereits selbstreferentielle Frühformen problematisieren regelpoetische Anleitungen, sogar noch vor deren ersten Systematisierungsversuchen durch Aristoteles. In Aristophanes ’ Komödie Die Frösche (405 v. Chr.) wird die gesamte Handlung ironisch in den Abgrund versetzt. In der Unterwelt geraten Euripides und dessen Vorgänger, der Dramatiker Aischylos, in Streit über die Güte ihrer Werke und werfen sich gegenseitig kompositorischen Dilettantismus und eine lange Reihe von › Kunstschnitzern ‹ vor (vgl. A RISTOPHANES , Die Frösche, in: ders., Komödien, v. a. Akt IV). 1 Zeitgeist oftmals gegenläufige 5 - Poetologie zu reflektieren, zu entwickeln und zu modifizieren. Ein wirkungsmächtiges Instrument der selbstreferentiellen Auslotung poetologischer Prämissen ist die mise en abyme, wörtlich die › in-den- Abgrund-Setzung ‹ . Dieser Abgrund, den ein Kunstwerk in sich selbst hinein eröffnet, ist ein für die Kunst(-theorie) aufschlussreicher Raum. In ihm finden sich weitere Kunstwerke, die in ihrem Zusammenspiel eine besondere Art der Selbstinszenierung entfalten. Dabei werden verschiedene Fiktionen zueinander in Beziehung gesetzt: der Grund (einer ersten Fiktionsebene) und die Abgründe (weiterer Fiktionsebenen innerhalb der ersten). Das Kunstwerk spiegelt sich in fiktiven Kunstwerken, die gleichzeitig es selbst und andere sind. Wenn die Schriftsteller-Figur Edouard in André Gides Les Faux-Monnayeurs einen Roman mit dem Titel Les Faux-Monnayeurs schreibt, ist dieser Roman en abyme sowohl ein fiktionsintern entwickelter Spiegel des Gesamtwerkes als auch - zumindest auf Ebene der Fiktion - ein eigenständiger Roman, der sich in wesentlichen Aspekten von Gides Les Faux-Monnayeurs unterscheidet. Das abyssale Kunstwerk gewährt durch seine werkinterne Verdopplung grundlegende Einblicke in sein eigenes poetologisches Getriebe; und gleichzeitig weist es durch seinen fiktionsintern inszenierten (und per definitionem unergründlichen und unendlichen) 6 Abgrund, weit über sich selbst als spezifisches und individuelles Kunstwerk hinaus und visiert das Kunstwerk als solches an. Diese Universalität schlägt sich in der Werk-im- Werk-Struktur abyssaler Texte nieder, die eine Konstellation von Rahmen und Gerahmtem entstehen lassen. »Warum werden Bilder denn gerahmt? «, fragt sich Max Frisch in seinem Tagebuch: Der Rahmen, wenn er da ist, löst sie [die Bilder] aus der Natur; er ist ein Fenster nach einem ganz anderen Raum, ein Fenster nach dem Geist, wo die Blume, die gemalte, nicht mehr eine Blume ist, welche welkt, sondern Deutung aller Blumen. Der Rahmen stellt sie außerhalb der Zeit. [. . .] Was sagt denn ein Rahmen zu uns? Er sagt: Schaue hieher; hier findest du, was anzusehen sich lohnt, was außerhalb der Zufälle und Vergängnisse steht; hier findest du den Sinn, der dauert, nicht die Blumen, die verwelken, sondern das Bild der Blumen, oder wie schon gesagt: das Sinn-Bild. 7 Der Rahmen ist jener Grenzort, an dem die Realität zur Fiktion, die Welt zur Bild-Welt abstrahiert wird. Wie das Gemälde, so wird auch das Kunstwerk en 5 In Hanswurst als Emigrant richtet sich der Spott beispielsweise gegen den damaligen Publikumsmagneten August Wilhelm Iffland: »Wußten Sie denn nicht, daß man sich izt von Niemand als von Iffland will ennuyiren lassen? « (T IECK , Hanswurst als Emigrant, in: ders., Ludwig Tiecks nachgelassene Schriften, 79). 6 Vgl. P FEIFER , Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 4 sowie Le Grand Robert, 19. 7 F RISCH , Gesammelte Werke, Bd. II, 399. 2 abyme, der fiktionsinterne Spiegel, durch einen Rahmen exponiert. Das abyssale Werk rahmt sich selbst, ist gleichzeitig Rahmen und Gerahmtes. 8 Das Werk im Werk ist durch die fiktionsinterne Verdoppelung in besonderem Maße »aus der Natur« herausgelöst und als solches immer ein Zeichen hoher Künstlichkeit. Das Werk konstruiert in seinem abyme einen besonderen Raum, in dem das Interieur - der Zeit entrückt und mit Nachdruck exponiert - eine dauerhafte und akzentuierte Gültigkeit zu besitzen scheint: »Schaue hieher; hier findest du, was anzusehen sich lohnt«. Jean Ricardou, Literat und vor allem Theoretiker des nouveau (nouveau) roman, sieht in der mise en abyme »une volonté extrêmement concertée d ’ attirer l ’ attention vers le centre secret du livre«. 9 Dieses › geheime Zentrum des Buchs ‹ korrespondiert dem heimlichen Zentrum von Literatur und Kunst überhaupt: Die mise en abyme ist, wie diese Arbeit erörtern wird, mehr als eine strukturelle Doppelung; sie wirkt als Schnittstelle von Poesie und Poetologie und ist insofern, mit Frisch gesprochen, »ein Fenster nach einem ganz anderen Raum«, ein »Sinn-Bild« von Literatur und Kunst im Allgemeinen. Bereits André Gide, der innerfiktionale Spiegelungen in einem Tagebucheintrag vom September 1893 erstmals als »en abyme« 10 reflektiert und mit verschiedenen Beispielen aus Malerei, Literatur und Heraldik illustriert, betont die poetologische Relevanz der mise en abyme. Kein anderes Verfahren sei besser dazu geeignet, das Werkganze zu erhellen und gleichzeitig die Gesamtproportionen zu beleuchten, als die mise en abyme: »Rien ne l ’ éclaire [l ’œ uvre] mieux et n ’ établit plus sûrement toutes les proportions de l ’ ensemble.« 11 Im mittlerweile stark ausdifferenzierten Forschungsdiskurs gilt Gides Tagebucheintrag gemeinhin als verworren und zu Definitionszwecken nur bedingt brauchbar. Obgleich sich Gide ausführlich und perspektivenreich mit dem Gegenstand auseinandersetzt und seine Tagebuchnotizen zur mise en abyme trotz ihres Stellenwertes für sein eigenes Schreiben 12 über den langen Zeitraum von fast 60 Jahren bis zu seinem Tod nicht mehr revidiert oder relativiert, werden seine Ausführungen als »conspicuously inconsistent« 13 abgetan. Gides Bemerkungen zur mise en abyme sind, wie als Grundlage dieser Arbeit etabliert wird, aber gerade nicht › inkonsistent ‹ ; vielmehr offenbaren 8 Aus diesem Grund finden sich in Lexikon-Erläuterungen zur mise en abyme auch häufig Querverweise zu Begriffen wie »Rahmenhandlung« oder »framed narrative« (vgl. beispielsweise H ERMAN / J AHN / R YAN , Routledge Encyclopedia of Narrative Theory, 313). 9 A LLEMAND , Les Faux-Monnayeurs, 157. 10 G IDE , Journal, 171. 11 Ebd. 12 Vgl. H YTIER , André Gide, 289 f. sowie O ’ B RIEN , »Gide ’ s Fictional Technique«, 88. 13 C ARRAD , »From Reflexivity to Reading«, 841. 3 sie auf sehr reflektierte Weise, dass eine vermeintliche › Inkonsistenz ‹ essenziell zum Wesen poetischer und speziell abyssaler Texte gehört und schwerlich durch kategoriale Bestimmungen oder ausdifferenzierte Theoreme zu tilgen ist. Im abyme werden Schöpfer, Werk und Rezipient zueinander ins Verhältnis gesetzt. Jede Selbstreflexion des Textes beinhaltet stets eine Reflexion seiner Rezeption. 14 Aus diesem Grund können interpretative Leistungen äußerer Rezipienten niemals unmittelbar erfolgen, sondern sehen sich immer bereits als gespiegelte. 15 So verweist das abyssale Werk darauf, dass jede äußere Rezeptionsleistung aus einer subjektiven Perspektive erfolgt. Dies wird in einem Forschungsdiskurs, der mithilfe universell einsetzbarer Interpretamente eine Generalisierbarkeit selbstreferentieller Phänomene nahelegt, nicht hinreichend berücksichtigt. Daher ist es notwendig, den mise-enabyme-Begriff, wie er sich im Zuge dieser Entwicklung herausgebildet hat, kritisch zu hinterfragen. Der Terminus der mise en abyme, den Claude- Edmonde Magny ausgehend von Gide in die Forschung einführte, findet seit über sechzig Jahren so häufig und facettenreich Verwendung, dass bezüglich seiner aktuellen Bedeutung und Validität ohnehin Skepsis herrscht. Die mise en abyme sei dabei, »endgültig zur Leerformel zu werden«; 16 »bis in die jüngste Vergangenheit [herrsche] Verwirrung über die elementaren Bedingungen dieses Phänomens« - »devenue tarte à la crème d ’ une critique moderne qui l ’ accommode à toutes les sauces«. 17 Dort, wo in einem Kunst- 14 So ist Werner Wolf zu widersprechen, wenn er seine Definition der mise en abyme auf einen reinen Selbstbezug ohne Reflexionspotenzial verengt: »Nicht notwendig ist dabei allerdings, daß diese Homologie [von Elementen einer übergeordneten Ebene auf einem isolierbaren Segment einer untergeordneten Ebene], wie bei Poe, explizit wird, daß also zur Selbstreflexion angeregt wird. Für mises en abyme genügt vielmehr die reine Tatsache eines nichtkognitiven intratextuellen Selbstbezuges« (W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 62; Hervorhebung im Original). Vor allem ist zu problematisieren, auf welcher Basis derartige Urteile gefällt werden: Wer kann kategorisch bestimmen, dass Texte mit mise en abyme zur Selbstreflexion anregen oder nicht? 15 Linda Hutcheon, die 1980 die erste Typologie metafiktionaler Texte erstellt, thematisiert die Schwierigkeit ihres klassifizierenden Unterfangens wie folgt: »If self-conscious narrative by definition includes within itself its own first contextual reading, no single theory will be able to deal with it without considerable distortion« (H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 6). 16 G RUBER , »Literatur und Heraldik«, 220. 17 W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, Anm. 33 sowie G OULET , André Gide, 67. Schon Mieke Bals Kritik fiel 1978, ein Jahr nach Erscheinen der zentralen Studie Dällenbachs, deutlich aus: »Au fur et à mesure de sa vulgarisation elle [la mise en abyme] a perdu son sens précis pour devenir un concept passe-partout de la critique littéraire« (B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 116). Févry bezeichnet das Konzept der mise en abyme als »concept répandu, voire banalisé« (F ÉVRY , La mise en abyme filmique, 9). Dällenbach spricht in einem Lexikonartikel zur mise en abyme zwanzig Jahre nach seiner Studie Le récit spéculaire ebenfalls kritisch von der mangelnden Kontur und der 4 werk wie auch immer geartete Analogie-, Spiegelungsbzw. Verdopplungseffekte zu erkennen sind, ist der gebräuchlichste Beschreibungsterminus jener der mise en abyme. 18 Diese mangelnde Präzision hatte Lucien Dällenbach bereits 1977 zu dem Versuch bewogen, den Begriff verbindlich zu definieren und in eine ausdifferenzierte Typologie zu überführen. 19 Trotz der ungebrochenen Popularität der Metafiktionsforschung und der unbestrittenen Faszinationskraft der mise en abyme ist Dällenbachs nunmehr 35 Jahre altes Le récit spéculaire das bisher einzige Referenzwerk zu diesem selbstreferentiellen Phänomen. Obwohl sich Dällenbach ausführlich um Begriffsklärung bemüht, bleiben die genauen Implikationen der mise en abyme weiterhin umstritten; mehr noch, seit der Publikation von Le récit spéculaire erschwert sich das Verständnis der mise en abyme durch eine Vielzahl modifizierender Stellungnahmen zu Dällenbachs Theorem zunehmend. Angesichts der Entwicklung der mise en abyme von André Gide bis heute wird deutlich, dass sie als literaturtheoretischer Fachterminus nicht nur durch den inflationären Gebrauch der letzten Jahrzehnte unklar wurde, sondern es offensichtlich von Anfang an war. Nicht zuletzt deswegen provozierte sie eine Vielzahl unterschiedlicher Definitionen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig hilfreich, bestehende Theoreme noch stärker auszudifferenzieren oder ein weiteres Schema zu kreieren. Vielmehr sind die Ambivalenzen in Gides Tagebuchpassage, die in Dällenbachs Studie geglättet, dergestalt rezipiert und immer wieder modifiziert werden, mit in den Forschungsdiskurs zu integrieren und gerade in ihrer vermeintlichen › Inkonsistenz ‹ zum Verständnis der mise en abyme zu erörtern. Dabei ruht das Hauptaugenmerk auf den (in Gides Tagebuchpassage eindrücklich inszenierten) Wirkungs- und Funktionsweisen, welche die mise en abyme in selbstreferentiellen Texten bekleidet. Bezüglich möglicher Funktionen für den Gesamttext, so Werner Wolf zu Recht, »versagen Typologisierungen, denn Funktionen, zumal im Raum der Geschichte, bilden ein notorisch offenes Paradigma, das sich einer Systematisierung entzieht.« 20 Es stellt beliebigen Verwendung des Begriffs: »[Le] terme de mise en abyme est volontiers utilisé aujourd ’ hui pour désigner indifféremment toute modalité autoréflexive d ’ un texte ou d ’ une représentation figurée« (D ÄLLENBACH , »Mise en abyme«, 11). Dies wird im anglophonen Forschungsraum ähnlich gesehen: »Despite the notable quantity and quality of the work done on mise en abyme, the device continues to elude precise delimitation« (N ELLES , »Mise en abyme«, 313). 18 Vgl. O WENS , »Photography en abyme«, 76: »The mise en abyme and the internal mirror have become synonymous.« 19 Vgl. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 9. 20 W OLF , »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen«, 59. Vgl. diesbezüglich auch Rainer Zaiser: »[La mise en abyme] a souvent pour but de faire 5 sich also die Frage, wie die Charakteristika, Wirkungen und Funktionen der mise en abyme dennoch untersucht werden können, ohne dass letztere weiter zu einem »concept passe-partout« 21 zerfällt. Poetologische Fragestellungen sind dabei von besonderem Interesse. Ihnen gebührt nicht zuletzt deswegen verstärkte Aufmerksamkeit, da sie in der Metafiktionsforschung, anders als beispielsweise wirkungsästhetische Untersuchungen, kaum in den Blick genommen werden. 22 Alternative Analyseperspektiven auf die mise en abyme sind also zunächst durch eine Konfrontation der mise en abyme als terminus technicus der heutigen Forschung (in Kapitel 2) mit der mise en abyme als Gides Gedankenfigur zu Literatur, Malerei und Heraldik (in Kapitel 3) zu gewinnen. Auf dieser Basis ist in Kapitel 4 eine erste und notwendigerweise offene Begriffsbestimmung der mise en abyme zu entwickeln, die in den Kapiteln 5 - 7 anhand der Untersuchung eines heterogenen Textkorpus weiter ausgelotet wird. Im Fokus der Analyse stehen Jean Genets Les Nègres (1958), Normand Chaurettes Provincetown Playhouse, juillet 1919, j ’ avais 19 ans (1981) und Yasmina Rezas Une pièce espagnole (2004). Durch die Untersuchung theatraler Texte wird die ebenfalls im Forschungsdiskurs (nicht aber bei Gide) vorgenommene Reduktion der mise en abyme auf narrative Texte aufgehoben und die mise en abyme ausführlich als Untersuchungsperspektive dramatischer Texte diskutiert. Denn zum einen gehen die in der Dramatik verwendeten Interpretamente - das Metatheater sowie das Spiel im Spiel - mit grundlegend anderen Fragestellungen einher als die semantisch und begriffsgeschichtlich spezifische mise en abyme. Zum zweiten erweist sich die Dynamik der mise en abyme - Spiegelungen poetischer Produktionswie Rezeptionsprozesse sowie des mehrschichtigen Werkes selbst - in einem Theatertext als besonders virulent, da jede seiner drei in der mise en abyme gespiegelten Hauptachsen künstlerischer Werke schon per se vervielfacht ist: Produktionsprozesse betreffen nicht nur den Autor, sondern darüber hinaus Regisseur, Dramaturg und Schauspieler, die Rezeption erfolgt durch Leser réfléchir sur les données poétiques d ’ une œ uvre, mais cette fonction métanarrative s ’ avère différente d ’ une époque à l ’ autre, voire d ’ une œ uvre à l ’ autre« (Z AISER , »La mise en abyme au dix-septième siècle«, 164). Winfried Eckels Kritik der Rilke-Forschung lässt sich verallgemeinern: »In der poetologisch orientierten Forschung ist man, was Rilke betrifft, bereits früh auf die Selbstthematisierung seiner Dichtung aufmerksam geworden. Doch selten oder nie hat man einmal ausdrücklich versucht, sich über die eigenartige Funktion dieser Reflexion für den poetischen Diskurs Klarheit zu verschaffen« (E CKEL , Wendung, 9). 21 B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 116. 22 Vgl. H AUTHAL [u. a.], »Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate«, 10 f. 6 und Zuschauer, das Werk ist ein literarischer Text und zugleich Vorlage einer späteren Inszenierung. In der mise en abyme, die als fiktionsinterne › Bühne ‹ immer poetische und poetologische Implikationen und Erwartungshaltungen inszeniert, treffen sich diese Grundkonstituenten theatraler Kunstwerke wie in einem Brennspiegel und gestalten nicht selten ein konfliktives Verhältnis aus. Dabei können sich selbstreferentielle und selbstironische Wirkungen besonders nachhaltig entfalten, wie Walter Benjamin mit Blick auf dramatische Texte grundsätzlich konstatiert: Die dramatische Form lässt sich im höchsten Maße und am eindrucksvollsten unter allen ironisieren, weil sie das höchste Maß von Illusionskraft enthält und dadurch die Ironie in hohem Grade in sich aufnehmen kann, ohne sich völlig aufzulösen. 23 Die Auswahl der drei Stücke von Genet, Chaurette und Reza erfolgt aufgrund ihrer selbstreferentiellen Reichhaltigkeit sowie ihrer grundlegenden Unterschiede bezüglich Thematik, Motivik und vor allem Wirkungs- und Funktionsweisen abyssaler Strukturen. Dällenbach appliziert sein Theorem zur mise en abyme auf poetologisch ähnliche Texte des nouveau (nouveau) roman, wodurch Belastbarkeit und Funktionsfähigkeit der entworfenen Typologie nur wenig strapaziert werden; dieser Verengung soll durch die Unterschiedlichkeit der gewählten Werke vorgebeugt werden. Genets Les Nègres verarbeitet en abyme insbesondere politische bzw. soziohistorische Konflikte zwischen Schwarzen und Weißen, Chaurettes Provincetown Playhouse eine homosexuelle Dreiecksaffäre als Kriminalhandlung und Rezas Une pièce espagnole die Eskalation eines Familientreffens. Die Unterschiede zwischen den drei Theaterstücken betreffen nicht nur die Werke, sondern auch den Stellenwert der Autoren. Genet gilt längst als Klassiker der französischen Nachkriegsliteratur, während Chaurette in Montréal fast ausschließlich akademischen Kreisen bekannt ist; Reza hingegen ist akademischen Kreisen zwar nicht unbekannt, darin aber größtenteils als Boulevard-Autorin verpönt. Allerdings ist sie - anders als Chaurette, dessen Stücke als Inszenierungen immer wieder zu überraschendem Zuschauerschwund führen 24 - mittlerweile »zur meistgespielten Dramatikerin der Welt aufgestiegen«; 25 ihr letzter Bühnenerfolg, Le Dieu du carnage, wurde mit Hollywood-Besetzung von Roman Polansky verfilmt. In der Analyse der drei Werke tritt eine große Bandbreite abyssaler Verfahren zu Tage, zumal sich die Texte jeweils außerhalb bestehender 23 B ENJAMIN , Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 84. 24 Vgl. R IENDEAU , »Fêtes d ’ automne«, 375. 25 M ÖNNINGER , »Einmal Leben«, n. pag. 7 Strömungen situieren, en abyme die Allgemeingültigkeit ihrer poetologischen Prinzipien durchspielen und in allen Fällen ironisieren. Genets Les Nègres geht der Hochkonjunktur selbstreflexiver Texte in Strukturalismus und Dekonstruktion, nouveau (nouveau) roman und nouveau théâtre zeitlich voraus, Chaurettes Provincetown Playhouse fällt mitten in jene Strömungen hinein, und Rezas Une pièce espagnole folgt ihnen mit dem Abstand zweier Jahrzehnte nach. Bei allen drei Werken bestehen kategoriale Zuordnungsschwierigkeiten, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den jeweiligen Implikationen der mise en abyme stehen: Les Nègres wird sowohl dem Absurden Theater wie auch (zumindest bedingt) engagierter Literatur zugerechnet, diesen Strömungen aber gleichzeitig als andersartig gegenübergestellt; für Provincetown Playhouse verwendet man in der québecer Forschung die Behelfsbezeichnung Nouvelle dramaturgie québécoise, obwohl sich Chaurette selbst dieser Bewegung nicht zugehörig fühlt; 26 und Une pièce espagnole hinterfragt das Etikett › (Edel-)Boulevardtheater ‹ , mit dem Rezas Werke häufig versehen werden. Diese en abyme reflektierten Zuordnungsschwierigkeiten erlauben bzw. erfordern eine offene Perspektive auf die jeweiligen Strömungen sowie ihre Außenseiter und Randpositionen, ohne sich dabei in abgesteckten literaturtheoretischen Debatten - wie zum Beispiel hinsichtlich des nouveau roman oder der Postmoderne - zu verfangen. Gleichzeitig werfen sie die Frage auf, inwiefern in den Strukturen der mise en abyme überzeitliche, allgemeingültige literarische Prämissen verhandelt werden. Nicht nur vom 1986 verstorbenen Genet, sondern auch von den noch wirkenden Autor(inn)en Chaurette und Reza - die beide bereits seit den 1980er Jahren literarisch aktiv sind - liegt ein umfangreiches Gesamtwerk vor, das selbstreferentielle Strukturen als Grundkomponente (Genet und Chaurette) bzw. als wiederkehrendes Motiv (Reza) aufweist. Bei den ausgewählten Stücken handelt es sich aber insofern um besondere Texte der drei Autoren, als es jeweils die einzigen in ihrem Korpus sind, in denen explizit und ausführlich ein Spiel im Spiel inszeniert wird und der Ort des Geschehens sowie poetologischer Reflexionen dezidiert eine Theaterbühne ist. Die ausgewählten Stücke wurden bisher weder analytisch verkettet noch systematisch unter dem Blickwinkel der mise en abyme untersucht. Ohnehin stellen die Stücke von Chaurette und vor allem Reza ein wissenschaftlich kaum untersuchtes Gebiet dar. Die Texte werden nicht in chronologischer, sondern in typologischer Hinsicht untersucht. Gleichwohl spannt sich mit der Auswahl von Genet, Chaurette und Reza ein überschaubarer Rahmen frankophoner Dramatik der 26 Vgl. R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 437 f. 8 letzten 50 Jahre; und in Anbetracht der Tatsache, dass jeweils poetologische Prinzipien en abyme gespiegelt und insofern in der fiktiven Welt diskutiert und beurteilt werden, eröffnet sich ein induktiver Blick auf die Dramenästhetik in Frankreich und Québec der vergangenen Jahrhunderthälfte. Rezas Une pièce espagnole steht am Anfang der Textanalyse, da es das breite Panorama abyssaler Strukturen anschaulich entfaltet: Auf drei deutlich voneinander getrennten Illusionsebenen interagieren Produktions- und Rezeptionsinstanzen künstlerischer Werke auf spannungsgeladene Weise miteinander, wobei eine Reihe poetologischer Prämissen zur Diskussion gestellt wird. Vom Werk Rezas über Chaurettes bis hin zu jenem Genets nimmt die mise en abyme an Komplexität und Facettenreichtum zu. 27 So werden die Erscheinungsformen sowie Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme entfaltet und sukzessive angereichert, was der Dynamik der von Gide gewählten Beispiele zur Illustration der mise en abyme entspricht. Parallel zur Komplexität der mise en abyme intensivieren sich die Angriffe auf die eigene Fiktion sowie die Paradoxien im Gesamtgefüge. Dabei gestaltet sich das Spiel mit dem Rezipienten immer differenzierter und expliziter. Dieser muss in zunehmendem Maße - sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht - auf verbindliche Anhaltspunkte zur Sinnstiftung verzichten; mehr noch, sein Verlangen, sich im Werk zurecht zu finden, wird fiktionalisiert, zusehends parodiert und ad absurdum geführt. Dabei vollziehen sich die Attacken, die sich en abyme gegen den Rezipienten entladen, immer aggressiver: Während die Schauspieler-Figur Mariano in Rezas Une pièce espagnole noch beklagt, dass man sich bezüglich des Publikums in Schweigen hülle, obgleich es › frontal zu attackieren ‹ sei, 28 muss sich der Zuschauer (en abyme) in Chaurettes Provincetown Playhouse bereits als › Schwachkopf ‹ bezeichnen lassen: »Face au public, on dit les choses, comme elles devraient être dites, dans la vie . . . On dit: › Tous autant que vous êtes, vous êtes des crétins. ‹ « 29 In Genets Les Nègres wird der fiktionsinterne Zuschauer, der das reale Theaterpublikum bis zu seiner Physis widerspiegeln soll, schließlich erschossen und in die Hölle verbannt. Dieser warnende Appell an (autoritäre und schwarz-weiß kategorisierende) Rezipienten ist fester Bestandteil der mise en abyme und deshalb in steigender Intensität in die jeweiligen Analysen miteinzubeziehen. 27 Mit der Kapitelanordnung Reza-Chaurette-Genet ergibt sich eine - wenn auch unbeabsichtigte - zeitliche Stringenz in der Abfolge der untersuchten Werke: eine umgedrehte Chronologie, die sich jeweils in Schritten von 23 Jahren vom jüngsten bis zum ältesten erstreckt. 28 R EZA , Une pièce espagnole, 80. 29 C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 36. 9 2. Theorien, Typologien, Termini Jedem Über läßt sich ein weiteres Über hinzufügen, das in jenem ersten nicht aufgeht. H AMACHER , »Der Satz der Gattung«, 1157. 2.1 Selbstreferentialität und Metafiktion Der selbstreferentielle Text strebt nicht vornehmlich danach, durch Handlung, Figur, Sprache, Zeit und Raum Illusion zu erzeugen, sondern tritt mehr oder weniger explizit sich seiner selbst bewusst in Erscheinung: »Verzeihen Sie, wenn ich mich erkühne, ein Paar Worte vorzutragen, die eigentlich nicht zum Stücke gehören.« 30 Selbstreferentielle Kommentare, wie dieser der Hanswurst-Figur in Tiecks Der gestiefelte Kater, können explizit und illusionsstörend, gleichzeitig aber versteckt und insgesamt illusionskompatibel erfolgen. Ihnen allen gemeinsam sind Reflexionen auf ihr Konstruiert-Sein. Durch facettenreiche Anspielungen auf die eigene Kunst und Künstlichkeit sowie auf andere - affirmativ oder kontrastiv herangezogene - Texte bei gleichzeitiger Darbietung einer Handlung zeigt sich das selbstreferentielle Werk experimentell und vielschichtig: Es inszenieren sich Autoren, Regisseure, Schauspieler, Maler, Musiker, allgemein Kunstschaffende in einem fiktiven Universum; sie reflektieren ihr Verhältnis zueinander, zu ihrer Tätigkeit, ihrer Poetologie, zu ihren Werken oder zu jenen ihrer Vorgänger, Zeitgenossen oder Nachahmer, zu ihren Figuren, zum lesenden oder schauenden Rezipienten, zu Wort und Sprache. Damit gehen häufig auf ironische Weise die Darstellung des Lebens als Spiel und das Wissen um die eigene Fiktionalität einher. Die Überführung von Realität in Fiktion sowie das Verhältnis von Fiktion und Realität im Allgemeinen werden hinterfragt. So verschwimmen auch in Hanswurst als Emigrant die Märchen- und die › reale ‹ Welt ineinander, wie sich durch die Anspielung auf das theatrum mundi bereits im Prolog programmatisch ankündigt: »Denn es ist das ganze Leben doch nur Marionettenspiel! Die Hauptpersonen sind die Narren.« 31 Dieser Topos wird auch in selbstreferentiellen Stücken der Moderne immer wieder aufgegriffen und in unterschied- 30 T IECK , Der gestiefelte Kater, in: ders., Schriften, Bd. VI, 539. 31 T IECK , Hanswurst als Emigrant, in: ders., Ludwig Tiecks nachgelassene Schriften, 77. 10 licher Weise durchgespielt: In Luigi Pirandellos Sei personaggi in cerca d ’ autore ist die Welt konzeptuell weniger ein Theaterstück als vielmehr die Suche nach einem solchen, in Jean Genets Le Balcon ist die Welt ein Bordell, in Becketts Stücken wie Waiting for Godot oder Endgame ein auswegloses Niemandsland, in Peter Weiss ’ Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade eine Psychiatrie. Dabei wird moderne Selbstreferentialität häufig durch den Verlust einer transzendentalen Instanz definiert: »We have come to see life not only as a play, but as a play with no framing reality. All the world ’ s a stage for us - but nobody is watching it.« 32 Selbstreferentielle Phänomene sind weder auf eine Epoche noch auf eine Gattung beschränkt. 33 Sie werden zwar in der Moderne programmatisch, festigen und radikalisieren sich im Laufe des 20. Jahrhunderts bis zu ihrer › Hochkonjunktur ‹ in der zweiten Jahrhunderthälfte - verdichtet zur richtungweisenden Formel des nouveau roman: »Le récit n ’ est plus l ’ écriture d ’ une aventure, mais l ’ aventure d ’ une écriture«; 34 Selbstreferentialität ist aber weder exklusiv modern noch postmodern, sondern seit Homers Odyssee (9. Gesang) bis über die italienische Commedia dell ’ arte und das Barocktheater, Cervantes ’ Don Quijote und die deutsche Romantik fester Bestandteil literarischer Produktion. 35 Selbstreferentielle Phänomene sind ebenso Bestandteil anderer Künste. Sie wirken in der Malerei, der Musik oder im Film, mittlerweile auch im Cartoon sowie im Comic, im Internet oder im Computerspiel. Schon 1980 spricht Hutcheon von einem umfassenden kulturellen Phänomen. 36 Heute, im 32 H ORNBY , Drama, Metadrama, and Perception, 47. Vgl. dazu auch R OBERTS , »The Play within the Play and the Closure of Representation«, 40. 33 Hutcheon zufolge sei insbesondere die Narrativik seit ihren Anfängen selbstreflexiv: »Whatever the reason, the novel from its beginnings has always nurtured a self-love, a tendency toward self-obsession. Unlike its oral forbears, it is both the storytelling and the story told« (H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 10). Diese Selbstbezüglichkeit wird in der Postmoderne allerdings als Hauptcharakteristikum literarischer Texte angeführt: »All postmodern fiction foregrounds this dimension of critical self-reflexivity in a highly self-conscious fashion« (W AUGH , Practising Postmodernism, 51). 34 R ICARDOU , Pour une théorie du nouveau roman, 66. 35 Als selbstreferentiell gelten je nach Definition des Begriffes und Spannbreite der Perspektive eine Vielzahl literarischer Werke. Jeder Epoche und jedem Autor liegen jeweils eigene Intentionen in der Gestaltung selbstreferentieller Reflexionen zugrunde. Ein historischer Überblick wurde schon mehrfach unternommen und ist nicht Ziel dieser Arbeit. Vgl. insbesondere: D UHAMEL , Dichter im Spiegel; F RANK , Narrative Gedankenspiele; H INCK , Das Gedicht als Spiegel der Dichter; I MHOF , Contemporary metafiction; K OWZAN , Théâtre miroir; Q UENDLER , From Romantic Irony to Postmodernist Metafiction; S CHEFFEL , Formen selbstreflexiven Erzählens; W INTER , Der Roman im Zeichen seiner selbst. 36 Vgl. H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 17. 11 21. Jahrhundert, »haben [wir] uns daran gewöhnt, hinter die Kulissen zu blicken.« 37 Wegen des weit gespannten Bogens zwischen dem Facettenreichtum selbstreferentieller Phänomene und ihrer Traditionen und Funktionen in unterschiedlichen Epochen und Gattungen 38 zeichnet sich auch die wissenschaftliche Forschung zur Selbstreferentialität, deren Ausmaße zur Ausrufung eines metareferential turn führten, 39 durch eine starke Dynamik aus. Die kontrovers geführten Debatten, die in den 1960er Jahren um Gültigkeit, Anwendbarkeit und Ausdifferenzierung von Meta-Begrifflichkeiten - ausgehend von Lionel Abels einflussreicher Studie Metatheatre (1963) - ein erstes Mal aufflammten, 40 sind trotz einer nunmehr fünfzigjährigen Forschungsgeschichte nicht erloschen. 41 Die Aktualität der Thematik zeigt sich nicht zuletzt in einer Reihe neuphilologischer Dissertationen zu verschiedenen Nationalliteraturen, die allein in den letzten zwei Jahren zur Metafiktion publiziert wurden. 42 Im Zuge der Diskussionen um Selbstreferentialität und Metafiktion ist eine Vielzahl von Ober- und Unterbegrifflichkeiten kreiert, verwendet, verworfen und modifiziert worden. Zumeist richten sie sich an den griechischen Adjektiven auto oder metá aus. 43 Zum einen werden Termini verwendet, die eine wie auch immer geartete Autoreferenz des Textes hervorheben: Selbst- 37 P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion, 7. 38 Der Spielraum von Selbstreferentialität weitet sich insbesondere dann ins Grenzenlose aus, wenn der dekonstruktivistische Blickwinkel auf Literatur miteinbezogen wird, demzufolge Dichtung per se selbstreflexiv sei. Vgl. S CHWALM , Dekonstruktion im Roman sowie S CHEFFEL , Formen selbstreflexiven Erzählens, 11 - 45. 39 Vgl. W OLF , »Is There a Metareferential Turn, and If So, How Can It Be Explained? «. 40 Besonders lebhaft vollzieht sich die Debatte in den 1970er Jahren. Vgl. als Überblick: C ANNING , Lope de Vega ’ s comedias de tema religioso, 87 - 94. 41 Im Anschluss an Abel waren in internationaler Hinsicht insbesondere die folgenden Studien einflussreich: A LTER , Partial Magic; H UTCHEON , Narcissistic narrative; H ORNBY , Drama, Metadrama, and Perception; S CHOLES , Fabulation and Metafiction; W AUGH , Metafiction. 42 Vgl. D URSTEWITZ , O autor do meu livro n-o sou eu; H AUTHAL , Metadrama und Theatralität; Q UESADA G ÓMEZ , La metanovela hispanoamericana; P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion; W IELE , Poetologische Fiktion. 43 Neben den Untersuchungsperspektiven, die sich den Adjektiven auto und metá zuordnen lassen, werden selbstreferentielle Texte auch allgemeiner besprochen, beispielsweise als: › Potenzierung ‹ (vgl. F RICKE , »Potenzierung«; H OLDENER , Jean Paul und die Frühromantik); › poetologische Dichtung ‹ (vgl. zur Rekapitulation und Bewertung der verschiedenen Positionen zuletzt: W IELE , Poetologische Fiktion); oder spezifischer, v. a. mit Blick auf bestimmte Epochen: als › Fiktionsironie ‹ (vgl. H EIMRICH , Fiktion und Fiktionsironie), › Pirandellismus ‹ (vgl. Z AISER , Themen und Techniken, 5; passim) oder › postmoderne Fiktion ‹ (vgl. M C H ALE , Postmodernist Fiction). 12 referenz, Selbstreferentialität, Rekursivität und Rückbezüglichkeit. 44 Neben Selbstrepräsentation und Selbstthematisierung 45 ist ein spezifischer Selbstbezug die Selbstbespiegelung: Eine Reihe von Forschungsansätzen operiert daher mit Begriffen wie Selbstreflexion oder Selbstreflexivität. 46 Darüber hinaus werden selbstreferentielle Texte unter den Untersuchungsperspektiven von Selbstbewusstsein, Selbstbegierde und Narzissmus besprochen. 47 Ein selbstreferentieller Text, so deutet sich bereits in diesem kurzen Blick auf häufig verwendete Beschreibungstermini an, 48 ist von solcher Komplexität, dass ihm anthropomorphe Eigenschaften zugeschrieben werden: Er kann auf sich selbst verweisen, sich selbst präsentieren, thematisieren oder spiegeln, er kann sich seiner selbst bewusst sein und sich sogar selbst begehren. In Begriffen wie Selbstreferentialität oder Selbstreflexivität, denen die Verben referre bzw. reflectare und insofern Tätigkeiten zugrunde liegen, werden primär selbstreferentielle bzw. selbstreflexive Akte oder Tätigkeiten betont, während Termini wie (der im nationalen und internationalen Kontext geläufigste der) Metafiktion 49 durch das räumliche Adjektiv metá weniger den Akt, 44 Vgl. B REUER , »Rückbezüglichkeit in der Literatur«; Groß, Selbstreferentialität; G OHRBANDT , Self-referentiality; S CHEUTZ , Ist das der Titel eines Buches? ; W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«. 45 Vgl. W INTER , Der Roman im Zeichen seiner selbst bzw. H AHN / K APP , Selbstthematisierung und Selbstzeugnis; S CHMELING , »Autothematische Dichtung als Konfrontation«. 46 In Anbetracht der Fülle bestehender Forschungsliteratur sei nur auf einige wichtige Studien der letzten Jahre verwiesen: A NTON , Selbstreflexivität der Kunsttheorie; S CHEFFEL , Formen selbstreflexiven Erzählens, H UBER / M IDDEKE / Z APF , Self-Reflexivity in Literature; S CHAMM , Das Gedicht im Spiegel seiner selbst; Z AISER , Inszenierte Poetik. 47 Einflussreiche Studien zur › Selbstbegierde ‹ sind: H UTCHEON , Narcissistic Narrative und K ELLMAN , The Self-Begetting Novel. Vgl. zuletzt auch: F ELTEN / N ELTING , Metapoetische Funktionen. Den Blick auf › literarisches Selbstbewusstsein ‹ richten: A LTER , Partial Magic; M AYER , Selbstbewußte Illusion; S TONEHILL , The Self-Conscious Novel; vgl. speziell zur › selfconscious narration ‹ und der diesbezüglichen Forschung zuletzt: W IELE , Poetologische Fiktion, 17 - 21. 48 Weitere Termini und diesbezügliche Erläuterungen finden sich beispielsweise in: B OHNET , Der metafiktionale Roman, 117. 49 Der Begriff der Metafiktion wird 1970 von William H. Gass erstmalig verwendet (»Philosophy and the Form of Fiction«). Im selben Jahr publiziert Robert Scholes seinen vielzitierten Artikel »Metafiction«. 1984 erscheint Patricia Waughs Monographie Metafiction mit einer Begriffsbildung und Typologie, die sich erstmalig als übergreifend versteht. Laut Doris Pichlers Einschätzung, die zurzeit die aktuellste ist, hat sich » › Metafiktion ‹ als der häufigst verwendete Begriff unter seinen Mitstreitern abheben können und ist der nach wie vor brauchbarste Begriff, um selbstreflexive Verfahren in der Prosa zu beschreiben« (P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion, 88). Neben dem Terminus der Metafiktion(-alität) wird eine Reihe weiterer Meta-Begrifflichkeiten verwendet: Metatext(-ualität), Metanarration, Metadeskription, Metaliteratur und unter Einbezug aller Medien auch Metaisierung. Die folgenden Studien bieten einen Überblick über die enorme Menge an Publikationen zur Metafiktion sowie ausführliche Begriffsbildun- 13 als vielmehr dessen Konsequenz, den im Selbstbezug entstehenden Reflexionsraum, anvisieren. Denn anders als auto suggeriert metá gerade nicht den bloßen Rückverweis auf sich selbst, sondern eine Bewegung, die über sich selbst hinausgeht. Das Adjektiv metá verweist auf einen Raum, der die Fiktion einer dargebotenen Geschichte übersteigt. Er kann sich, seiner Etymologie zufolge, › inmitten ‹ , › zwischen ‹ , › unter ‹ , › hinter ‹ , oder › nach ‹ 50 der fiktiven Ebene eröffnen. Von dieser Metaebene aus entlarvt, betrachtet oder kommentiert sich das Werk als Kunstwerk. 51 Als spezifische Unter- und seltener auch als Nebenform von Metafiktion und Selbstreferentialität gilt die mise en abyme. 52 2.2 Mise en abyme Die mise en abyme ist spezifischer als andere selbstreferentielle Phänomene: In einem Kunstwerk - auch die mise en abyme ist nicht auf literarische Texte zu beschränken 53 - findet sich ein zweites, welches das erste auf unterschiedliche gen: B UCK , El arte de hacer novelas; F LUDERNIK , »Metanarrative and Metafictional Commentary«; G RUB / B AREIS , Metafiktion; N ÜNNING , Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, »Metanarration als Lakune der Erzähltheorie« und »On Metanarrative«; P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion; S OBEJANO -M ORÁN , Metaficción española en la postmodernidad; S PRENGER , Modernes Erzählen; W IELE , Poetologische Fiktion; W OLF , »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen« und The metareferential turn in contemporary arts and media; Z IMMERMANN , Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart. 50 G EMOLL , 496. 51 Eine der ersten und grundlegenden Definitionen lanciert 1980 Linda Hutcheon: » › Metafiction ‹ , as it has now been named, is fiction about fiction - that is, fiction that includes within itself a commentary on its own narrative and/ or linguistic identity« (H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 1). Die kommentierende Selbstentlarvung als Kunstwerk sowie die Problematisierung von Realität und Fiktion betont auch Patricia Waugh in ihrer ebenfalls viel rezipierten Studie Metafiction (vgl. W AUGH , Metafiction, 2). 52 Fricke versteht die mise en abyme als Nebenform der genannten Termini (F RICKE , »Potenzierung«, 145), häufiger hingegen wird sie als eine ihrer spezifischen Unterformen klassifiziert. Selbstreferenz, so präzisiert Wolf, kann sowohl explizit wie auch, beispielsweise durch die mise en abyme, implizit erfolgen (vgl. W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 54 oder »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen«, 42 f.). Eine vergleichbare Unterscheidung nimmt 1980 schon Hutcheon vor. Sie differenziert bezüglich selbstreferentieller Literatur jeweils zwei Parameter: »diegetic« oder »linguistic« sowie »covert« oder »overt«. Auf Basis der Einteilung Hutcheons wäre die mise en abyme als »diegetic covert« zu verstehen. (H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 7; vgl. kritisch zu dieser Differenzierung: S CHWALM , Dekonstruktion im Roman, 97 f.) 53 Die mise en abyme »fonctionne dans les arts de partout et de toujours«, wie Bal zu Recht betont (B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 116). 14 Weise widerspiegelt. Ein besonders populärer (und gelegentlich zu Werbezwecken instrumentalisierter) Fall von mise en abyme liegt dann vor, wenn sich ein Bild als verkleinerte Reproduktion in einer ins Unendliche weisenden Bewegung selbst enthält. Neben dieser extremen Ausprägung spiegelnder Verdoppelung, die sich in literarischen Texten naturgemäß nicht als photographisches Abbild, sondern in Form textueller Variation ausgestaltet, wird auch eine Vielzahl weniger eindeutiger Spiegelungen als mises en abyme bezeichnet. Aus den zahlreichen Definitionen zur mise en abyme lassen sich die häufig angeführten Merkmale › Spiegelung ‹ , › Analogie ‹ , › Ebenenpluralität ‹ , › Fiktionspotenzierung ‹ und › Einlagerung ‹ abstrahieren. 54 Die mise en abyme impliziert in einer vereinfachten Begriffsbestimmung das Vorhandensein mindestens zweier Ebenen, die sich zueinander im Modus der Spiegelung verhalten; 55 das spiegelnde Element ist im Werkinnern als autonom erkennbar und akzentuiert grundlegende Bestandteile des Gesamtwerkes. Jenseits dieser Minimaldefinition wird eine Reihe unterschiedlicher Aspekte der mise en abyme leidenschaftlich und kontrovers diskutiert: »Mise en abyme is exhilarating to think about, frankly, because it is such a prolific source of problems.« 56 Die theoretische Reflexion beginnt 1893 mit André Gide. Dieser überträgt in seinem Tagebuch die Begrifflichkeit »en abyme« erstmalig aus der Heraldik auf Literatur und darstellende Kunst, um das Phänomen eines Kunstwerkes im Kunstwerk zu reflektieren. Gide umreißt, wenn auch nur andeutungsweise und in wenigen Zeilen, das eigene Verständnis von Konstruktionen en abyme. Er spricht in seinen Ausführungen nicht von mise en abyme, sondern davon, in einem Wappen › ein zweites en abyme zu setzen ‹ : »mettre un second › en abyme ‹ «. 57 Aus dieser Formulierung extrahiert Claude-Edmonde Magny 1953, sechzig Jahre nach Gides ursprünglichem Tagebucheintrag und fünf Jahre nach der Erstpublikation des Journal, den literaturwissenschaftlichen Fachterminus der mise en abyme. 58 Auch wenn gelegentlich Begriffe wie »In- 54 Diese weite Begriffsfassung wird häufig bemängelt. Gruber beispielsweise sieht in der mise en abyme eine Art Sammelbecken, in das »Literaten, Kritiker, Literatur- und Kunstkritiker alles das hineinlegen, was irgendwie mit › Verdoppelung ‹ (réduplication, dédoublement), › Spiegelung ‹ (réflexion) und › Reflexivität ‹ (réflexivité) zusammenhängt« (G RUBER , »Literatur und Heraldik«, 220). 55 Vgl. beispielsweise M C H ALE , »Cognition En Abyme«, 176 f. 56 Ebd. 176. 57 G IDE , Journal, 171. 58 Vgl. M AGNY , Histoire du roman français, Bd. 1, 269 - 278. In der Folge von Claude-Edmonde Magny untersucht Pierre Lafille abyssale Verfahren ausführlich: in Gides L ’ Immoraliste, Les Caves du Vatican und in Les Faux-Monnayeurs sowie in einem Vergleich des letztgenannten Werks mit Aldous Huxleys Point Counter Point (vgl. L AFILLE , André Gide romancier). 15 den-Abgrund-Setzen« 59 , »placement in abyss« 60 , »puesta en abismo«/ »abismar« 61 oder Parallelkonstruktionen wie »composition en abyme« und »structure en abyme« verwendet werden, 62 etabliert sich fortan die französische Bezeichnung mise en abyme als internationaler Fachterminus. 63 In den 1960er Jahren lösen die nouveaux romanciers bzw. nouveaux théoreticiens die mise en abyme aus der Gide eigenen Prägung - wobei sie gleichzeitig seinen Einfluss betonen 64 - und erweitern sie in ihrem Widerstand gegen den traditionellen Roman unermüdlich in Richtung programmatischer Zurschaustellung der écriture. In dieser Entwicklung findet die mise en abyme geradezu › serienmäßig ‹ Verwendung: »Je crois que la plupart des livres du Nouveau Roman contiennent, d ’ une façon ou d ’ une autre, une mise en abyme ou plusieurs, ou même, de continuelles mises en abyme.« 65 Diese › serienmäßige ‹ Verbreitung reflektiert Jean Ricardou, an dessen Beiträgen sich die Programmatik der mise en abyme deutlich nachverfolgen lässt. 66 Seine Ausführungen verstehen sich nicht als sachlicher Wissenschaftsbericht, sondern stellen sich vielmehr als stark subjektiver Leitfaden zum Abfassen einer › echten Erzählung ‹ , eines »véritable récit« dar. 67 Darin, so scheint es, wolle die mise en abyme die Erzählung und mit ihr sich selbst als greifbares literaturästhetisches bzw. theoretisches Konzept annullieren. Ricardou zeichnet ein Bild von Explosion, Fragmentierung, Zerstreuung: A la concentration de la mise en abyme correspond le plus souvent une explosion de la micro-histoire, dont les fragments, dispersés en tous points du récit primaire, accomplissent partout d ’ incessantes inflexions. 68 Die mise en abyme › explodiert ‹ - an anderer Stelle spricht Ricardou dezidiert von einer »mise en abyme explosée« 69 - und mit ihr der gesamte récit. 70 Noch 59 W ENZEL , Einführung in die Erzähltextanalyse, 218. 60 S IMONS , »Mise en abyme and Tradition in Two New England Poems«, 104. 61 F IGUEROA , Ecos, reflejos y rompecabezas, 9. 62 L AFILLE , André Gide romancier, 25 sowie G ENETTE , Figures III, 242. 63 Bisweilen werden abweichende Schreibweisen verwendet, so zum Beispiel mise en abîme oder mise-en-abyme. Vgl. zu Gides Orthographie des Begriffs: Kapitel 4.2. 64 Vgl. R ICARDOU , Le nouveau roman, 60 f. sowie A RLAND / M OUTON , Entretiens sur André Gide, 228 f. Vgl. zum gespaltenen Verhältnis der Nouveaux Romanciers zu André Gide: A LLEMAND , »De Gide à Robbe-Grillet«. 65 A RLAND , Entretiens sur André Gide, 228 f. 66 Vgl. besonders R ICARDOU , Problèmes du nouveau roman, v. a. 171 - 190; Le nouveau roman, v. a. 60 - 85; Claude Simon, 7 - 39 sowie Nouveaux problèmes du roman, 140 - 178. 67 R ICARDOU , Problèmes du nouveau roman, 181. 68 Ebd. 185. 69 Ebd. 188. 70 Vgl. zur mise en abyme im Nouveau Roman neben den bereits genannten Studien von Dällenbach (Le récit spéculaire) und Ricardou (vgl. Anm. 66) auch: D ÄLLENBACH , »Mise en 16 während ihrer programmatischen Inanspruchnahme durch Jean Ricardou und die Bewegung des nouveau roman findet die mise en abyme mit Lucien Dällenbachs Dissertation Le récit spéculaire 1977 endgültig Eingang in die Forschung. Als Triebfeder seines Forschungsprojekts führt er die fälschlich gewonnene Eindeutigkeit an, die in Bezug auf die mise en abyme vorherrsche. 71 Dällenbach ist der Pionier in der wissenschaftlichen Erforschung der mise en abyme. In seiner Monographie widmet er sich der literarischen mise en abyme ausdrücklich und nachhaltig. Dabei gewinnt er ihr erstmalig eine grundlegende Typologie ab, die er anschließend auf narrative Texte des nouveau (nouveau) roman anwendet. Dällenbachs Theorem ist einerseits dicht und instruktiv, andererseits strukturalistisches Zeugnis der 1970er-Jahre, von großer Komplexität und streckenweise, wie Mieke Bal treffend bemerkt, »déconcertant«. 72 Es ist seit seinem Erscheinen vielfach rezipiert und zur Grundlage bzw. zum Wetzstein vieler weiterer Studien und Typologien geworden: Fast allen Studien zur mise en abyme - unabhängig davon, ob sie sich an bestehenden Forschungskontroversen beteiligen oder nicht - ist die Typologie Dällenbachs Ausgangs- und steter Bezugspunkt. Aus diesem Grund sind ihre Grundpfeiler auch in dieser Arbeit zu skizzieren. abyme et redoublement spéculaire chez Claude Simon«; G OEBEL , »Funktionen des › Buches im Buche ‹ «; J EFFERSON , The Nouveau Roman, v. a. 193 - 206; M ACRIS , »Claude Simon«; M ORRISSETTE , Novel and film (Kapitel 10) und »Post-Modern Generative Fiction«; T OLOUDIS , »Metaphor and mise en abyme«. 71 Vgl. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 9: »Malgré l ’ accord tacite qui semble régner à son sujet, il revêt subrepticement des acceptions si diverses qu ’ il est devenu urgent de l ’ arracher à sa pseudo-évidence et de secouer la quiétude avec laquelle on l ’ accepte«. Um dieser › Pseudo-Evidenz ‹ entgegen zu wirken, setzt sich Dällenbach zunächst kritisch mit den Studien von Magny und Lafille (vgl. Anm. 58; D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 32 - 40) auseinander, von denen die mise en abyme mit zu enger Perspektive und terminologischer Fahrlässigkeit in die Forschungsliteratur eingeführt worden sei. Letztere hätten die Diskrepanz zwischen der von Gide geforderten literarischen Nachahmung eines Wappens im Wappen und der komplexen Struktur seiner Werke, die die Schlichtheit eines Werkes im Werk offenkundig sprengten, nicht hinreichend reflektiert (ebd. 38 - 40). 72 B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 122. Charney hält in ihrer Rezension fest, dass sich in Dällenbachs Fall der Untersuchungsgegenstand dem Untersuchenden im Gewirr geschaffener Begrifflichkeiten letztlich entziehe: »Comme il fallait peut-être s ’ y attendre, le jeu miroitant des perspectives textuelles, métatextuelles et intertextuelles fait finalement échapper le phénomène à l ’ emprise du critique. [. . .]. Cet ouvrage si nécessaire et précieux sur un sujet devenu fondamental nous laisse trop sur notre faim« (C HARNEY , » › Le Récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme ‹ by Lucien Dällenbach«, 776). Vgl. für eine ausführliche Besprechung von Dällenbachs verschiedenen Theoremen, auch jenseits von Le récit spéculaire: C ARRAD , »From Reflexivity to Reading«. 17 In einer explizit heuristischen Vor- und Rückwärtsbewegung zwischen dem Tagebucheintrag und der literarischen Praxis André Gides abstrahiert Dällenbach drei Hauptspiegelungsarten (»types«): eine einfache (»réduplication simple«), eine endlose (»réduplication à l ’ infini«) und eine paradoxale (»réduplication aporistique«). 73 Auf Basis dieser Dreiteilung formuliert er seine erste verbindliche Begriffsbestimmung: »mise en abyme [est] tout miroir interne réfléchissant l ’ ensemble du récit par réduplication simple, répétée ou spécieuse«. 74 Eine › einfache Spiegelung ‹ liege nach Dällenbach beispielsweise in der Figur eines Wappens im Wappen vor. Eine › wiederholte/ endlose Spiegelung ‹ vollführten u. a. russische Puppen oder die Schachtel von La vache qui rit. Als bildliches Beispiel einer › aporetischen Spiegelung ‹ lässt sich mit Dällenbach das Möbiusband anführen: [C ’ ]est-à-dire l ’ auto-inclusion qui boucle l ’œ uvre sur soi et, à l ’ instar de ces structures réversibles ou ambidextres que sont l ’ anneau de Möbius ou les n œ uds borroméens, réalise une manière d ’ oscillation entre son dedans et son dehors. 75 Eckart Goebel vollzieht Dällenbachs Dreischritt am Beispiel verschiedener Spiegelbilder nach, wobei er ein eigenes Verständnis der drei abyssalen Erscheinungsformen offenbart: Eine einfache Spiegelung erfolge bei einem Blick in den Spiegel; eine unendliche ergebe sich, wenn man sich beim Blick in den Spiegel einen Handspiegel unter das Kinn halte; eine aporetische Spiegelung liege dann vor, wenn das Spiegelbild plötzlich die Zunge herausstrecke. Wenn sich damit das vermeintlich Untergeordnete als das eigentlich Dominierende herausstelle, zeige sich die » › Abgründigkeit ‹ des Themas« in ihrem vollen Ausmaß. 76 Den gespiegelten Gegenstand, den Dällenbach in seiner ersten Definition noch dehnbar als »l ’ ensemble du récit« bezeichnet hatte, fasst er in einem zweiten Schritt genauer: »[U]ne réflexion est un énoncé qui renvoie à l ’ énoncé, à l ’ énonciation ou au code du récit«. 77 Dieser Differenzierung entspringen drei ineinander verwobene Grundformen der mise en abyme (»mises en abyme élémentaires«). Während die »mise en abyme fictionnelle« die Ebene der erzählten Geschichte (»énoncé«) widerspiegele, reflektiere die »mise en abyme énonciative« deren Produktion und Rezeption (»énoncia- 73 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 51 f. 74 Ebd. 52. Vgl. zur Kurzform seiner Typologie auch: D ÄLLENBACH , »Mise en abyme«, 11 f. 75 D ÄLLENBACH , »La mise en abyme«, 12. Vgl. zu › möbiusartigen ‹ Ausprägungen selbstreferentieller Kunstformen: B OWEN , »Setting the Möbius Strip Straight«; H OFSTADTER , Gödel, Escher, Bach; M ORRIS , »Barth and Lacan«; R ICARDOU , Pour une théorie du nouveau roman, 153 - 155. 76 G OEBEL , »Vorgespielte und wahre Unendlichkeit«, 86 f. 77 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 62. 18 tion«). Der Radius der »mise en abyme (méta)textuelle« 78 beschränke sich nicht auf das »objet fabriqué« bzw. dessen »fabrication«, 79 sondern habe das Kompositionsprinzip einer Erzählung (den »code«) zum Gegenstand. Ausschlaggebend für eine weitere Klassifizierung sei das Maß an Ähnlichkeit zwischen der »mise en abyme de l ’ énoncé« und dem Gegenstand ihrer Spiegelung. Das spiegelnde »énoncé«, das »intraou métadiégétique« verortet sei, könne zwischen den Polen »similitude«, »mimétisme« und »identité« variieren. 80 In Bezug auf André Gides Les Faux-Monnayeurs lässt sich diese Klassifikation wie folgt illustrieren: Eine »réduplication simple« liegt insofern vor, als innerhalb eines Romans ein Roman geschrieben wird (»similitude« zwischen zwei Werken). Der Romanschriftsteller Edouard deutet an, in seinem Roman, der ebenfalls Les Faux-Monnayeurs heißt, seinerseits einen Romanschriftsteller zu erschaffen und evoziert damit eine »réduplication à l ’ infini« (»mimétisme«: das gleiche Werk wird en abyme gesetzt). Als »réduplication aporistique« lässt sich die Tatsache verstehen, dass Edouard - Teil eines Romanuniversums - eine Ästhetik formuliert, die gleichsam die Gesamtkomposition dieses Romanuniversums reflektiert (»identité«: Das Fragment en abyme enthält dasselbe Werk, von dem es selbst enthalten wird, und zwar den Roman, der aus Edouards Romantheorie hervorgeht). Die »réduplication aporistique« lässt einen Typus von mise en abyme entstehen, der scheinbar den höchsten Grad an Komplexität und Paradoxie aufweist. Diese Art der Verschachtelung, ob man sie nun mit Dällenbach »réduplication aporistique« oder mit Fricke »paradoxe Iteration« 81 nennt, geht häufig mit Illusionsgefährdung oder Illusionsbruch einher. 78 Vgl. zu einer weiteren Ausprägung, die Dällenbach kurz als »mise en abyme transcendentale« reflektiert: D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 131 f. 79 Ebd. 100. 80 Vgl. ebd. 142: »[C ’ ]est selon qu ’ elle [la mise en abyme de l ’ énoncé] reflète une même œ uvre (similitude), la même œ uvre (mimétisme) ou l ’œ uvre même (identité) que la réflexion basale engendre respectivement les types I, II ou III [réduplication simple, à l ’ infini, aporétique]«. Diesen Ausführungen gehen folgende Differenzierungen voraus: Die Grundfiguren der mise en abyme zergliedert Dällenbach abermals in Untereinheiten, so genannte »traits nucléaires« oder »traits distinctifs« (ebd. 60). Wichtiger als deren detaillierte Erörterung ist in diesem Kontext der Bogenstrich, mit dem Dällenbach die abyssalen Grundformen und die übergeordneten Spiegelungsarten zusammenzieht: Dreh- und Angelpunkt ist die »mise en abyme de l ’ énoncé«, die nicht nur als Bindeglied zwischen den »mises en abyme élémentaires« und den »types« fungiere, sondern letztere überhaupt erst als solche klassifizierbar mache (ebd. 74 f.). 81 Fricke schlägt als Oberbegriff all dieser Phänomene den Terminus der Potenzierung vor. Darunter versteht er »die gestufte Wiederholung literarischer Zeichen« (F RICKE , »Potenzierung«, 144). Er entwickelt davon ausgehend ein Unterscheidungsmodell, das jenem Dällenbachs stark ähnelt, aber mit einem anderen Begriffsinstrumentarium operiert. Fricke setzt grundsätzlich zwei bzw. vier Formen von »Iteration« an: die 19 Dem Leser wird deutlich vor Augen geführt, dass er das durchkonstruierte Werk eines impliziten Autors rezipiert, womit der Fiktionscharakter nachhaltig gestört werde. 82 Dällenbachs »mise en abyme fictionnelle« wie auch die »mise en abyme énonciative« hingegen sind nicht zwingend illusionsstörend, sondern als »Verständnis- und Konkretisationshilfe für den Leser« geeignet - vorausgesetzt, sie träten nicht zu symmetrisch, nicht zu zahlreich, nicht zu ausgedehnt, nicht zu unbegründet und vor allem nicht ad infinitum in Erscheinung. 83 Eine letzte dreiteilige Differenzierung in Dällenbachs Typologie, die hier Erwähnung finden soll, ist die zeitliche Dimension der mise en abyme. Mit Blick auf das Verhältnis von Erzähltem und Erzählen stelle jede mise en abyme eine Diskordanz dar. Entweder reflektiere sie die zukünftige Geschichte (»mise en abyme prospective«), die bereits vergangene Geschichte (»mise en abyme rétrospective«) oder jenen Dreh- und Angelpunkt, an dem vergangene und zukünftige Ereignisse zusammentreffen (»mise en abyme rétro-prospective«). 84 »gestufte« (darin als Unterformen: die »unendliche« und »rekursive«) sowie die »paradoxe« (ebd.). 82 Vgl. W OLF , Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 299. 83 Ebd. 299 - 302. Neben Verletzungen der Prinzipien der »Interessantheit« bzw. der »Kohärenz« könne die Geschichte, so Wolf, durch verschiedene Erscheinungsformen von »Unwahrscheinlichkeit« entwertet und insofern als implizit metafiktional identifiziert werden; diese Unwahrscheinlichkeiten ergäben sich v. a. durch »Sinn- und Ordnungsüberschüsse« bzw. »Sinn- und Ordnungsdefizite« (ebd. vii). Die mise en abyme stelle ein »Zuviel an Ordnung und Sinn« dar (ebd. 305). Neben »Variation« und »Symmetrie« bezeichnet Wolf sie als das »dritte und vielleicht wichtigste Verfahren zur Herstellung von unwahrscheinlich übersteigerter interner Ordnung auf Geschichtsebene« (ebd. 295). Das Übermaß interner Ordnung entstehe durch die »sichtbare Abhängigkeit der Geschichte oder einiger ihrer Teile von Strukturen des eigenen Textes« (ebd. 292; Hervorhebung im Original). Wolf hält in Anlehnung an Dällenbachs Ergebnisse fest, dass abyssale Erzählstrukturen prinzipiell über das Potenzial verfügten, verschiedene Prinzipien der Illusionsbildung zu untergraben und dass gleichzeitig aber auch illusionskompatible Formen existierten (ebd. 299). Precht zufolge sei Selbstreflexivität »immer nur als Resultat eines Spannungsverhältnisses denkbar [. . .], dem Widerspruch nämlich zwischen einer referentiellen und einer selbstreferentiellen Lesart« (P RECHT , Die gleitende Logik der Seele, 8). Ob selbstreferentielle Schreibweisen grundsätzlich zu Illusionsförderung oder aber Illusionsgefährdung führen, lässt sich also nicht verallgemeinern. Es ist zumindest festzuhalten, dass Selbstreferentialität oder Metafiktion nicht per se Illusionsbruch bedeuten. Vgl. zum (anti-)mimetischen Gehalt selbstreferentieller Literatur, zum (fiktional potenzierten) Verhältnis von Realität und Fiktion, Illusion und Illusionsbruch zuletzt: W IELE , Poetologische Fiktion, 47 - 58 sowie P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion, 23 - 64 und v. a. 83 - 87. Wiele und Pichler rekapitulieren darüber hinaus frühere Positionen. 84 Das Oratorium Dr. Fausti Weheklag in Thomas Manns Doktor Faustus sei Dällenbach zufolge beispielsweise eine »mise en abyme rétrospective«, das Lied Zehn kleine Negerlein 20 Dällenbach benennt in seiner Studie also wichtige Parameter der mise en abyme. Sie lassen sich wie folgt abstrahieren und einander zuordnen: Medium der Spiegelung (un miroir interne) Verortung der Spiegelung im Werkganzen (intraou métadiégétique) Reichweite der Spiegelung (l ’ ensemble du récit) Gegenstandsbereich der Spiegelung (énoncé, énonciation, code du récit) Intensität der Spiegelung (similitude, mimétisme, identité) Form der Spiegelung (simple, répété/ à l ’ infini, paradoxale) Zeitlichkeit der Spiegelung (prospective, rétrospective, rétro-prospective) Auf der Basis dieser Differenzierungen vollziehen sich seit der Publikation von Dällenbachs Studie die Diskussionen darüber, wie die mise en abyme als literaturwissenschaftlicher Fachterminus zu verstehen sei. Hervorzuheben sind vor allem die Beiträge von Mieke Bal, »Mise en abyme et iconicité« (1978), und Moshe Ron, »The Restricted Abyss. Nine Problems in the Theory of Mise en abyme« (1987). Bal würdigt die klassifikatorischen Leistungen ihres Wegbereiters zwar, kündigt aber - eingedenk der Tatsache, dass Dällenbachs Theorieteil rund 150 von insgesamt 250 Seiten umfasst - recht überraschend an, die mise en abyme nun › zum ersten Mal zum Gegenstand einer systematischen, kohärenten und originellen Studie ‹ zu machen. 85 Dazu bettet sie Dällenbachs theoretische Vorarbeit in den »cadre plus large« der Semiotik ein und weist der mise en abyme aufgrund ihrer relativen Unabhängigkeit sowie ihrer starken Bedeutungskraft den Status eines Zeichens zu. 86 Alle in obiger in Agatha Christies gleichnamigem Krimi eine »mise en abyme prospective« und das Buch, das Heinrich in Novalis ’ Heinrich von Ofterdingen in einer Grotte findet und das sein bisheriges Leben rekapituliert sowie sein künftiges prophezeit, eine »mise en abyme rétro-prospective« (Dällenbach, Le récit spéculaire, 82). Vgl. bezüglich einer ausführlichen Reflexion dieser zeitlichen Dimension von mise en abyme am Beispiel von Lautréamonts Chants de Maldoror: L AWLOR , »Lautréamont, Modernism, and the Function of mise en abyme«. 85 Vgl. B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 116: »En effet, si nombreuses que soient les réflexions qui lui ont été consacrées, elle [la mise en abyme] n ’ a pas vraiment été intégrée dans la théorie littéraire. Aussi peut-on se réjouir qu ’ elle soit aujourd ’ hui l ’ objet, pour la première fois, d ’ une étude systématique, cohérente et originale.« Grundsätzlich wirft Bal Dällenbach ein Auseinanderklaffen von induktivem Vorgehen und theoretischem Anspruch vor, das dazu führe, die mise en abyme nicht wie angekündigt aus ihrem theoretischen »isolement« befreien zu können (ebd. 122). 86 Diese Parallelführung zwischen mise en abyme und Zeichen begründet Bal damit, dass sowohl das Zeichen als auch die mise en abyme eine »relative indépendance« sowie eine »forte valeur signifiante« aufwiesen, die imstande sei, die Bedeutung einer Erzählung vollkommen zu verändern (B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 122). Ihr Fazit lautet, dass jede mise en abyme ein spezielles Ikon, aber nicht jedes Ikon eine mise en abyme sei, und letztere damit eine »sous-classe de signes iconiques« darstelle (ebd. 128). Anders: W OLF , 21 Gegenüberstellung angeführten Aspekte werden im Anschluss an Dällenbach kontrovers besprochen, was bereits aus Mieke Bals unmittelbarer Reaktion auf dessen Grunddefinition der mise en abyme deutlich wird: Bal zufolge sei »[mise] en abyme tout signe ayant pour référent un aspect pertinent et continu du texte, du récit ou de l ’ histoire qu ’ il signifie, au moyen d ’ une ressemblance, une fois ou plusieurs fois.« 87 Das Medium der Spiegelung spezifiziert sie im Zuge ihrer semiotischen Herangehensweise als »tout signe«. Dieses Zeichen sei, anders als Dällenbach postuliert, mit Blick auf die Erzählinstanz unbedingt mit einem Bruch verbunden, 88 die Reichweite der Spiegelung sei nicht »l ’ ensemble du récit«, 89 sondern »un aspect pertinent et continu du texte«. 90 Als potenziell gespiegelte Gegenstände begreift Bal nicht »l ’ énoncé«, »l ’ énonciation« oder »le code du récit«, sondern »texte«, »récit« oder »histoire«, die Intensität der Spiegelung fasst sie, allgemeiner als Dällenbach, als »ressemblance«, die »une fois ou plusieurs fois« erfolgen könne. Knapp zehn Jahre später lanciert Mosche Ron in der Auseinandersetzung mit Dällenbach und Bal eine Definition, die er so weit vereinfacht, dass die mise en abyme kaum noch als selbstreferentielles Werk im Werk zu erkennen ist: 91 Sie sei »any diegetic segment which resembles the work where it »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, Anm. 33. Vgl. zur mise en abyme im Kontext der Semiotik auch den Beitrag Whites, der die diesbezüglichen Debatten versammelt und kommentiert: W HITE , »The Semiotics of the Mise-en-abyme«. 87 B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 123; Hervorhebungen im Original. 88 Bal zufolge sei die mise en abyme »toujours une interruption, de la narration relayée au personnage, souvent aussi, mais pas nécessairement, relais de la focalisation et/ ou interruption de la diégèse« (ebd. 119). An anderer Stelle desselben Textes heißt es, die mise en abyme müsse ein »tout isolable« darstellen, das in jedem Falle eine »interruption« oder zumindest ein »changement temporaire dans le récit« bewirke (ebd. 124). Andererseits postuliert Bal, dass die Darstellung der Kleinstadt Rouen in Flauberts Madame Bovary insofern als mise en abyme gelten könne, als sie Emmas Lebensweg reflektiere (vgl. ebd. 127). In diesem Beispiel liegt entgegen Bals Auffassung allerdings kein Bruch in der Erzählung vor. 89 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 52. An anderer Stelle spricht Dällenbach auch von »la totalité du récit« (ebd. 63 sowie »Mise en abyme«, 11). Vgl. zu kritischen Einwänden gegen eine gespiegelte Ganzheit: D E N OOY , »The Double Scission«, n. pag. 90 Ähnlich definiert auch Pamela Genova die mise en abyme: Sie wiederhole die »central themes, figures and signs« eines Werks (G ENOVA , »A Crossroads of Modernity«, 11). Achim Küpper benennt als Charakteristikum der mise en abyme ebenfalls die Kondensierung »wesentliche[r] Züge des Handlungsplans der Gesamterzählung« (K ÜPPER , Poesie, die sich selbst spiegelt, 215). 91 Vgl. R ON , »The Restricted Abyss«. Seine Untersuchungsfelder der mise en abyme umreißt Ron als: totality, reflection, explicitness, isolatibility, orientation, quantity, distribution, general function, motivation (ebd. 422 - 435). Ron versucht, ein präziseres Konzept der mise en abyme für narrative Texte zu entwickeln, wobei sich seine Ausführungen auf theo- 22 occurs«. 92 Gleichzeitig aber versieht Ron seine Definition mit einer Art Glossar, das die vermeintliche Schlichtheit seiner Definition wieder auffächert. 93 Dällenbachs »miroir interne« bzw. Bals »tout signe« als Medium der Spiegelung begreift Ron als »any diegetic segment«, einen Bruch in der Diegese - und damit eine diegetische Mehrschichtigkeit - hält er in Opposition zu Bal für unnötig, 94 Reichweite und Gegenstand der Spiegelung ließen sich, anders als von Dällenbach und Bal postuliert, im theoretischen Vorfeld nicht determinieren. 95 Intensität und Form der Spiegelung hält er offen (»where it occurs«, »which resembles«). Werner Wolf, der der mise en abyme insofern Beachtung schenkt, als er sie für ein implizit metafiktionales, potenziell illusionsstörendes Erzählverfahren hält, setzt sich insbesondere dadurch von Ron ab, dass er die Ebenenpluralität zwingend als Definitionskriterium der mise en abyme voraussetzt. 96 Als Medium der Spiegelung spricht Wolf zwar ähnlich wie Bal von einem »isolierbaren Segment«, fährt aber darüber hinausgehend fort, dass sich dieses »auf einer ontologisch oder textlogisch untergeordneten Ebene eines Textes oder Kunstwerks« befinden könne, womit, gegen Bal, auch Spiegelungen ohne diegetischen Bruch als mises en abyme zu begreifen sind. 97 Die retische Studien seiner Vorgänger und weniger auf literarische Texte beziehen: »[I] shall not offer very extensive illustration by concrete examples of the principles under discussion« (ebd. 417). 92 Ebd. 436. Sehr ähnlich definiert auch Nelles: »Mise en abyme has become the accepted shorthand for referring to any part of a work that resembles the larger work in which it occurs« (N ELLES , »Mise en abyme«, 312). 93 Vgl. R ON , »The Restricted Abyss«, 436 f. 94 Ron, der Bals Ansatz zu Recht als »uncharacteristically ambiguous on this issue« empfindet, verzichtet darauf, die mise en abyme zwingend auf einen Bruch und Ebenenpluralität festzulegen (R ON , »The Restricted Abyss«, 420 bzw. 428 f.). Selbst etwas »ambiguous on this issue« wirkt zunächst aber auch Rons Ansatz: Einerseits könne mise en abyme bruchlos und insofern auf demselben diegetischen Niveau stattfinden, andererseits sei ihre Orientierung › zentrifugal ‹ . Doch eben diese potenzielle Uneindeutigkeit - zwischen eindeutigen Ausprägungen wie einem Roman im Roman oder einem Theaterstück im Theaterstück und weniger leicht abgrenzbaren Formen wie der intensiven Beschreibung einer Szenerie oder dem Gespräch zweier Personen über ein Kunstwerk, ein Musikstück o. ä. - ist der mise en abyme per se zu eigen. Vgl. v. a. Kapitel 3.1. sowie 4. 95 R ON , »The Restricted Abyss«, 426. Bezüglich Dällenbachs Forderung nach gespiegelter Totalität fragt er: »Yet what could this › whole ‹ be and what must it be to be reflected by something not only considerably smaller that itself but also a part of itself? « Und antwortet im Sinne dekonstruktivistischer Ansätze, dass »no text ever satisfies the ideal requirements of totalization rigorously and exhaustively« (ebd. 422). 96 Vgl. W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 62. 97 W OLF , »Mise en abyme«, 461. Vgl. dazu ausführlicher: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 296 f. sowie »Formen literarischer Selbstreferenz in der 23 Reichweite der Spiegelung müsse, anders als von Dällenbach und anderen gefordert, 98 nicht das Gesamtwerk umfassen, sondern erfolge potenziell »partiell oder total«, 99 der gespiegelte Gegenstand sei »ein in der Regel signifikantes Element (inhaltlicher oder formaler Natur)«. 100 Die Form der Spiegelung variiere, in Abwandlung der Trias von Dällenbach, als »einmalige vs. häufige bzw. endlose«, und ihre Intensität erstrecke sich zwischen Wortwörtlichkeit und Transposition. 101 Wolf verortet die mise en abyme wie Dällenbach potenziell sowohl auf der Ebene des Diskurses als auch auf jener der Geschichte. 102 Hier wiederum widerspricht Michael Scheffel, der sich der mise en abyme als strukturelles Verfahren der literarischen Selbstbespiegelung zuwendet; 103 Scheffel zufolge finde sich die mise en abyme - wieder restriktiver gefasst - nur auf der Ebene des Erzählten, nicht aber auf jener des Erzählens. 104 Um den Begriff der mise en abyme nicht überzustrapazieren, solle man ihn nur dann verwenden, wenn eine »wörtliche, d. h. unmittelbare und unendliche Erzählkunst«, 62. Mit »ontologisch« fasst Wolf textinterne Wirklichkeitsebenen vergleichsweise weit, womit er beispielsweise auch ein »ekphrastisch beschriebenes Gemälde« als mise en abyme begreifen kann (»Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 61); dies hatte auch schon Ron beschrieben, weswegen die beiden Stellungnahmen von Wolf und Ron zur Ebenenpluralität gar nicht so sehr divergieren, wie es zunächst scheint. Den Zusatz »textlogisch« bezieht Wolf »auf die discours- Hierarchie von Paratext, extradiegetischer, intradiegetischer und hypodiegetischer Ebene« (ebd.). 98 Vgl. M C H ALE , »Cognition En Abyme«, 176 oder W OLF , Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 296. 99 Die Unterscheidung in eine totale und eine partielle mise en abyme findet sich bereits bei Díaz Arenas. Auch er versteht das Prinzip der gespiegelten Totalität nicht als conditio sine qua non, sondern als eine mögliche Erscheinungsform von mise en abyme (D ÍAZ A RENAS , Der Abbau der Fabel, 294). 100 Bemerkenswert ist Wolfs Zusatz »in der Regel«: Spiegelungen weniger signifikanter Elemente können unter Umständen also auch als mises en abyme begriffen werden. 101 W OLF , »Mise en abyme«, 461. 102 Vgl. W OLF , Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 296 f. Die intradiegetische mise en abyme sei allerdings bedeutsamer. 103 In Bezug auf Selbstreflexion nimmt Scheffel zunächst eine grundlegende Begriffsdifferenzierung vor, die auch für die Untersuchung der mise en abyme interessant ist. Er erinnert daran, dass sich das lateinische Verb reflectere im Deutschen sowohl mit › (wider) spiegeln ‹ als auch mit › nachdenken ‹ übersetzen lässt (S CHEFFEL , Formen selbstreflexiven Erzählens, 47). Diese doppelte Bedeutung finde ihren Niederschlag im Begriff der »Selbstreflexion«. Denn anders als »Selbstreflexivität« bezeichne »Selbstreflexion« keine Eigenschaft im Sinne von »Selbstbezüglich(keit)«, sondern eine Tätigkeit: »Sich-selbst- Spiegeln« oder »Sich-selbst-Betrachten« (ebd.). Die mise en abyme diskutiert Scheffel im Kontext der »Selbstreflexion im Sinne von › Sich-Selbst-Spiegeln ‹ « (ebd. 71 - 85). Die Spiegelung, die die mise en abyme in einem Text vollführt, impliziert allerdings die Betrachtung desselben. 104 Vgl. ebd. 54 f. 24 Wiederholung der Rahmenin der Binnenerzählung« vorliege, 105 was Wolf wiederum als »den seltenen Fall einer [. . .] Kombination von mise en abyme und › narrativer Metalepse ‹ « bezeichnet. 106 Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass Scheffels Vorstellung einer wortwörtlichen Wiederholung als Voraussetzung für mise en abyme 107 innerhalb der Diskussionen einen Extrempol bildet, der vor den häufig gegenläufigen Definitionstendenzen scharf hervorsticht. Das andere Extrem in diesem Forschungsfeld bilden Positionen wie jene von Heinz Thoma oder Jean Ricardou: Thoma spricht schon dann von mise en abyme, wenn »die Infragestellung der Gültigkeit von Mimesis« praktiziert wird, wie beispielsweise in Genets Haute Surveillance, u. a. dadurch, dass der »schwarzhäutige Mitregent im Gefängnis [. . .] Schneeball« heißt, oder wenn »die Tätowierungen von Lefranc, der von Maurice als durch und durch falsch bezeichnet wird, [. . .] nur mit Tinte aufgemalt« sind. 108 Ricardou, um exemplarisch eine zweite Position anzuführen, liest nicht nur die Orakelsprüche im Ödipus-Mythos, sondern Ödipus selbst als mise en abyme: »F œ tus, il est emboîté dans le ventre maternel; enfant, il est une ressemblante réduction de son père. Le meurtre de Laïos est, à sa manière, apologue de la contestation du récit majeur par la mise en abyme.« 109 Lucien Dällenbach hatte der »pseudo-évidence« 110 im Verständnis der mise en abyme durch die damals erste Monographie zu diesem Thema Abhilfe leisten 105 Ebd. 75 f. 106 W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, Anm. 33. Der von Gérard Genette geprägte Begriff »métalepse« bezeichnet Transgressionen zwischen der Welt des Erzählens und jener des Erzählten, beispielsweise dadurch, dass der extradiegetische Erzähler in den diegetischen Bereich, der diegetische in den metadiegetischen, usf. vordringt oder, umgekehrt, die Figuren in seinen Bereich eintreten (G ENETTE , Figures III, 243 f.). 2004 publiziert Genette eine eigens der Metalepse gewidmete Monographie: Métalepse. Vgl. auch C OHN , »Métalepse et mise en abyme«; K LIMEK / K UKKONEN , Metalepsis in Popular Culture; P IER / S CHAEFFER , Métalepses; W OLF , Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst, 356 - 372. 107 Eine solche exakte Verdoppelung durch einen textuellen Gleichlaut würde die mise en abyme auf eine nicht sonderlich reizvolle, sondern monotone und flache Spiegelfigur reduzieren. Ob sich diese Verengung des abyme-Terminus ’ , mit Scheffel gesprochen, tatsächlich »seiner ursprünglichen Bedeutung gemäß und in Analogie zu dem von Gide gebrauchten Bild« vollzöge (vgl. S CHEFFEL , Formen selbstreflexiven Erzählens, 75), ist fraglich; insbesondere weil Gide in seiner Grunddefinition der mise en abyme nicht von materieller Spiegelung, sondern von › Transposition ‹ spricht. Vgl. Kapitel 3.1. 108 T HOMA , »Die große Verstörung«, 394. 109 R ICARDOU , Problèmes du nouveau roman, 179. Vgl. zum potenziell revoltierenden Charakter der mise en abyme: Kapitel 3.2. und 4.2. 110 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 9. 25 wollen. Doch die heute übertriebene Ausdifferenzierung, die mit Dällenbachs Studie ihren Anfang nahm, trägt ihrerseits Züge einer › Pseudo-Evidenz ‹ : Die Grundfrage, was überhaupt als mise en abyme zu gelten hat, zergliedert sich in eine Reihe kontrovers diskutierter Einzelaspekte, die, jeder für sich genommen, evident wirken mögen, in der Gesamtschau aber ihrerseits ein › pseudoevidentes ‹ Bild der mise en abyme ergeben. Dällenbach sieht seine Ausgangsthese, derzufolge die mise en abyme trotz ihrer Vielfalt und der scheinbaren Willkür ihrer Erscheinungsformen eine »réalité structurée« sei, 111 letztendlich bestätigt. Diese vermeintliche Strukturierbarkeit erweist sich im theoretischen Vorfeld aber als komplexer, wenn nicht gar als unmöglich. Es stellen sich zahlreiche Fragen, auf die sich verbindliche und überzeugende Antworten offensichtlich nicht finden lassen. Wie kann im theoretischen Vorfeld festgelegt werden, was je nach Text als signifikante Spiegelung gelten kann? 112 Muss das Werk in seiner Gesamtheit widergespiegelt werden, damit terminologisch eine mise en abyme vorliegt, oder können sich en abyme auch Teilfacetten des Gesamtwerkes spiegeln? Wie ist Dällenbachs Postulat einer gespiegelten Totalität überhaupt verbindlich zu bestimmen? Wie lassen sich zwischen den gespiegelten Gegenständen - mit Dällenbach: »énoncé«, »énonciation« und »code« - vertretbar Grenzen ziehen? 113 Wie ist »le code« eines Textes, weitestgehend verstanden als dessen Poetologie, beispielsweise vom Erzählten bzw. vom Erzählen trennbar? Ab wann liegen Ebenenwechsel, Mehrschichtigkeit, Brüche vor? In der Zusammenführung der bisher skizzierten Ansätze ist die mise en abyme im weitesten Sinne eine (wie auch immer) isolierbare Spiegelfigur, welche die Gesamtheit des Werkes widerspiegelt oder aber nur grundlegende Teile seines Inhalts, seiner Form oder seiner Poetologie, und zwar auf Ebene der Extra- oder der Intradiegese bzw. auf Ebene des Erzählens oder der Erzählung, wortwörtlich oder übertragen, mit Ebenenpluralität/ -wechsel 111 Ebd. 210. 112 Erinnert sei an Rons gewichtigen Einwand gegen jedwede Versuche, die Signifikanz der gespiegelten Aspekte auf Ebene der Theorie verbindlich fassen zu wollen: »If you already know what is major and what is minor, what is pertinent and what is not, you will also know what diegetic material can count as mise en abyme. But how to determine pertinence is something that a theory of mise en abyme cannot and should not claim to teach you« (R ON , »The Restricted Abyss«, 425). 113 Die Schwierigkeit, zwischen den gespiegelten Textebenen Grenzen zu ziehen, räumt Dällenbach allerdings auch selbst ein (vgl. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 139). Kritisch zur uneinheitlichen Terminologie Dällenbachs sowie zur Nicht-Trennbarkeit der einzelnen Formen von mise en abyme äußern sich auch Bal (»Mise en abyme et iconicité«, 121 f.) und Winter (Der Roman im Zeichen seiner selbst, 26 - 28). In anderen Beiträgen wird versucht, literarische Texte der einen oder anderen Kategorie Dällenbachs zuzuordnen; vgl. beispielsweise C OLVIN , »Cannibalistic Perspectives«. 26 oder ohne, ebeneninhärent bzw. ebenentransgressiv, rahmend oder gerahmt, einfach, wiederholt oder endlos, paradox oder nicht paradox, einen Bruch in der Zeitlichkeit, des Handlungsstrangs oder der Erzählhaltung verursachend oder nicht, illusionsverstärkend oder illusionsgefährdend. Angesichts dieser verschiedenen, häufig widersprüchlichen Stellungnahmen wird deutlich, dass definitorische Bemühungen angesichts selbstreferentieller Vielschichtigkeit an ihre Grenzen stoßen. Die Definition der mise en abyme ist so sehr mit Eventualitäten angefüllt, dass kaum noch von einer Definition gesprochen werden kann. 114 Als gemeinsamer Nenner lässt sich höchstens eine signifikante Spiegelung zwischen zwei nicht näher bestimmbaren Ebenen festlegen, womit man wieder bei der eingangs dargelegten und stark vereinfachten Grunddefinition angelangt wäre. Bevor der Versuch unternommen wird, eine alternative Begriffsbestimmung der mise en abyme zu entwickeln, 115 erfolgt ein Blick auf ihre Schwesterformen im Bereich der Metadramatik. 2.3 Dramatische mise en abyme, Metatheater und Spiel im Spiel Dramatische mise en abyme Als literaturwissenschaftlicher terminus technicus wird die mise en abyme heute zumeist anhand narrativer Texte definiert und mit einem Roman(-fragment) im Roman illustriert. Als ihre Schwesterform im Bereich der (Meta-)Dramatik gilt das Spiel im Spiel. Die diesbezüglichen Forschungszweige entwickeln sich weitestgehend unabhängig voneinander: mise en abyme für Narrativik, Spiel im Spiel für die Dramatik. Dass das Spiel im Spiel als dramatisches und nicht als narratives Phänomen verstanden wird, ist nachvollziehbar. Aber warum scheint die mise en abyme bis heute auf narrative Texte festgelegt zu 114 In einer Vielzahl von Beiträgen zur mise en abyme steht nicht die Profilierung eines allgemeingültigen mise-en-abyme-Begriffs im Vordergrund, sondern die Interpretation abyssaler Texte. Der Sammelband von Fernand Hallyn versteht sich beispielsweise dezidiert als »foyer de dispersion« oder »série de travaux de laboratoire« und erhebt nicht den Anspruch, theoretische Implikationen oder universale Konstanten der mise en abyme textübergreifend zu besprechen (H ALLYN , Onze études sur la mise en abyme, 5 f.). Aufgrund der Fülle internationaler Publikationen und ihrer methodischen sowie thematischen Distanz zur vorliegenden Studie ist es wenig sinnvoll, das Themen- und Perspektivenspektrum hier überblicksartig darzustellen. Jene Studien, deren Ausführungen im Kontext dieser Arbeit relevant sind, finden an der jeweiligen Stelle Erwähnung. 115 Vgl. Kapitel 4. 27 sein? 116 Bereits 1977 schreibt Manfred Schmeling, dass trotz ähnlicher Strukturelemente »das epische Phänomen der › mise-en-abyme ‹ nicht direkt auf das Drama übertragbar« sei. 117 Doch warum ließe sich die mise en abyme nicht auf das Drama übertragen oder in Bezug zu metatheatralen Begrifflichkeiten wie Metatheater und Spiel im Spiel setzen? Schmeling führt als Argument gegen die Übertragbarkeit der mise en abyme auf das Drama eine unterschiedliche »Eigengesetzlichkeit« an. 118 Doch worin besteht diese Eigengesetzlichkeit? Und inwiefern ist sie ein Hinderungsgrund für die Interpretation von abyssalen Strukturen in dramatischen Texten? In ihrem Ursprungskontext wird die von Gide beschriebene Spiegelfigur nicht nur als Phänomen der Malerei, Literatur und Heraldik begriffen, sondern auch innerhalb der Literatur unterschiedlichen Gattungen zugeschrieben; dies lässt bereits Gides Reihung literarischen Beispiele erkennen: 119 Shakespeares Hamlet ist ein Theaterstück, Goethes Wilhelm Meister ein Bildungsroman und Poes The Fall of the House of Usher eine Erzählung. Nicht nur am Beispiel Hamlet sowie an »bien d ’ autres pièces« werde deutlich, 120 dass die mise en abyme ihre Wirkung in der Narrativik wie in der Dramatik entfalten kann, sondern auch daran, dass es in Goethes Roman insbesondere die theatralen Szenen sind, die Gide als Spiegelphänomene expliziert. Gewiss vollzieht sich die mise en abyme mit Erzählerfiguren potenziell anders. Diese narrativen Instanzen sind aber keine conditio sine qua non in der Definition von mise en abyme. Eine Beschränkung auf die Narrativik, wie sie insbesondere seit Dällenbachs Etablierung narrativer Beschreibungstermini (beispielsweise durch récit, énoncé oder énonciation) 121 vorgenommen wird, ist folglich vielmehr eine Forschungskonvention als eine der mise en abyme innewohnende Notwendigkeit. Dass die vorliegende Arbeit den Fokus auf dramatische Ausprägungen der mise en abyme legt, ist also zum einen der bislang vorherrschenden Forschungsreduktion auf die Narrativik geschuldet. Einen zweiten und stärkeren Grund liefert die mise en abyme selbst, indem sie ihre Wirkungs- und Funktionsweisen in dramatischen Texten besonders anschaulich und vielschichtig entfaltet. Ihre drei Grundkonstituenten - gespiegelte Schöpfungs- und Rezeptionsprozesse sowie die poetische Schöpfung selbst - 116 So konstatiert beispielsweise Remigius Bunia, dass die mise en abyme die »Spiegelung der erzählten Welt in der erzählten Welt« bezeichne (B UNIA , Faltungen, 193). 117 S CHMELING , Das Spiel im Spiel, 7. 118 Ebd. 119 G IDE , Journal, 171. 120 Ebd. 121 Vgl. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 52 und 62. 28 fächern sich in Dramentexten mehrfach auf: Die Produktionsinstanz bekleidet nicht nur der Schriftsteller, sondern fiktionsintern treten Regisseur, Dramaturg und Schauspieler an seine Seite, was in jedem der untersuchten Texte mithilfe der mise en abyme problematisiert wird. Der Autor scheint in Dramentexten durch die fehlende Erzählerfigur gemeinhin absenter als in der Narrativik; doch durch die mise en abyme finden fiktive Autorfiguren den Weg in den Text, beispielsweise um sich dort mit anderen Schöpferfiguren, wie dem Regisseur oder den Schauspielern, auseinander zu setzen. Auch die poetische Schöpfung selbst gestaltet sich in dramatischen mises en abyme komplexer: Anders als in der Narrativik manifestiert sich das abyssale Binnenspiel eines Dramas sowohl als Text wie auch als Inszenierung. Stellt sich für narrative Texte die Frage, ob das abyssal erzählte Fragment eine ähnliche oder sogar dieselbe Erzählhaltung aufweist wie sein Haupttext, so lassen sich für die Dramatik, neben der literarischen Ästhetik (des Autors), inszenatorische, dramaturgische und schauspielerische Implikationen der en abyme inszenierten Theaterdarbietung untersuchen, woraus sich Erkenntnisse für die Verfasstheit des Gesamttextes sowie dessen Verhältnis zu seiner realen Inszenierung gewinnen lassen. Dabei entwickelt sich ein en abyme ausgestelltes Konfliktverhältnis zwischen Dramentext und Inszenierung, das mit einer grundsätzlichen Hinterfragung der Wirkungs- und Funktionsweisen künstlerischen Darbietungen einhergeht. Auch die dritte Achse, die Rezeptionsinstanz, zeigt sich in einer dramatischen mise en abyme per se vervielfacht: Der Dramentext wird gelesen, inszenatorisch, dramaturgisch sowie schauspieltechnisch interpretiert, aufgeführt und schließlich als Aufführung wahrgenommen. Durch die mise en abyme können verschiedene Rezeptionshaltungen eines sowohl lesenden als auch betrachtenden Publikums nicht nur antizipiert, sondern in ihren Rückwirkungen auf die Werkgenese inszeniert werden; dieser Effekt potenziert sich durch die Aussicht einer kollektiv anwesenden Zuschauerinstanz während der realen Inszenierung des abyssalen Stückes. So erweitert sich in Dramentexten die durch die mise en abyme entstehende Spiegelkonstellation literarischer Texte (Autor - Text Autor-Text-Rezipient - Rezipient) auf allen drei Hauptachsen. Diese Erweiterung wird in abyssalen Räumen bereits textintern vorweggenommen und problematisiert, womit sich nicht nur das jeweilige Stück erhellt, sondern gleichsam implizite wie explizite Aussagen über Kunst im Allgemeinen getroffen werden. Es soll nicht darum gehen, die mise en abyme in einem Parforceritt gegen bestehende Forschungskonventionen als zwingend theatrales Phänomen zu etablieren. Abyssale Strukturen sind in allen Gattungen wirksam. In Theaterstücken sind ihre Wirkungs- und Funktionsweisen durch die Potenzierung der Produk- 29 tions- und Rezeptionsinstanzen sowie durch die Werkstruktur eines Lesewie Aufführungstextes allerdings sehr vielschichtig. Diese Vielschichtigkeit, die mit einer Reihe von Spiegelungen auf das Werk, seine Genese sowie seine Ästhetik einhergeht, kann mit den Interpretamenten, die bislang zur Analyse selbstreferentieller Theatertexte zur Verfügung stehen - insbesondere Metatheater und Spiel im Spiel - , nicht hinreichend erfasst werden. Um diese Diskrepanz genauer erläutern zu können, sind die drei Begriffe zunächst in einen grundsätzlichen Reflexionskontext zu stellen. 122 Metatheater Die Grundkonstituenten von Metatheater oder Metadrama sind metá › zwischen ‹ , › unter ‹ , › hinter ‹ , oder › nach ‹ und théatron › Spielstätte ‹ bzw. dráma › Handlung ‹ . 123 Es eröffnet sich folglich die Perspektive auf einen Raum jenseits der Spielstätte oder jenseits der Handlung. Dieser Raum bietet jenen Instanzen, die sich normalerweise nicht auf der Bühne präsentieren, reichlich Handlungsspielraum: Autoren, Regisseure und Schauspieler reflektieren - zumeist konfliktiv - ihr Verhältnis zueinander, Maskenbildner und Techniker zeigen durch ihre Arbeit die Künstlichkeit des Dargebotenen, Schriftsteller und Dramaturgen präsentieren sich in actu und spielen ihre Texte bzw. ihre Inszenierungen gegeneinander aus, Schauspieler fallen aus ihren Rollen und Bühnen(-requisiten) erzeugen nicht die Illusion einer Parallelwelt, sondern wollen ihrerseits als Artefakte bewundert werden. Der Zuschauerraum wird angestrahlt und offenbart das betrachtende Publikum. Begrifflich geht das › Metatheater ‹ - das einzige Konzept, das mittlerweile als »gründlich erforscht« gilt 124 - auf Lionel Abels Studie Metatheatre: A New View of Dramatic Form aus dem Jahr 1963 zurück. Abels Grunddefinition von Metatheater, die er vornehmlich mit Blick auf Shakespeares Werke entwirft, bezieht sich auf: »theatre pieces about life seen as already theatricalized.« 125 In seiner ursprünglichen Begriffsbildung entspringt das Metatheater also dem Topos der Welt als Theaterbühne. Es folgt eine Reihe von Studien, die sich mit Abels Terminologisierung auseinandersetzen, sie ausdifferenzieren und über 122 Ein Vergleich der Begrifflichkeiten ist bisher kaum unternommen werden (vgl. W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 53). In der Abgrenzung der Begriffe mise en abyme, Metatheater und Spiel im Spiel wird vornehmlich auf grundlegende Begriffsbildungen und nur dann auf terminologische Ausdifferenzierungen rekurriert, wenn dies zum Verständnis der mise en abyme in dramatischen Texten sinnvoll scheint. 123 G EMOLL , 227, 369, 496. 124 F RICKE , »Potenzierung«, 146. 125 A BEL , Metatheatre, 60. 30 sie hinausgehen, 126 ein richtungsweisender Beitrag erscheint aber erst 20 Jahre nach Abels Metatheatre: Richard Hornby entwickelt in seiner Monographie Drama, Metadrama, and Perception (1986) erstmalig eine Typologie des Metadramas. Hornby zufolge ist ein Metadrama als »drama about drama« zu verstehen: »[It] occurs whenever the subject of a play turns out to be, in some sense, drama itself«. 127 Diese Definition klingt wie die dramenspezifische Version von Linda Hutcheons im selben Jahr publizierter Grunddefinition von Metafiktion: »fiction about fiction«. 128 Ein Drama kann sich durch zahlreiche Strategien in ein Metadrama verwandeln. Hornby hält sogar jedes Drama auch für ein Metadrama - nur in jeweils unterschiedlicher Intensität. 129 Je metadramatischer das Stück, desto gefährdeter die Illusion, desto weniger ein Drama im gewöhnlichen Sinne. 130 Hornbys erste Typologie gilt noch immer als grundlegend. Er unterscheidet fünf metadramatische Grundgestalten, die ihm zufolge selten in Reinform, sondern zumeist in Überschneidungen und dabei in unterschiedlicher Intensität in Erscheinung treten. Es handelt sich um »the play within the play«, »the ceremony within the play«, »role playing within the role«, »literary and real-life reference« sowie »self reference«. 131 In den Spuren Hornbys und seiner Vorgänger entwickelt Karin Vieweg-Marks in ihrer Studie Metadrama und englisches Gegenwartsdrama 1989 ein klassifizierendes Konzept, das zumindest in der deutschen Forschungslandschaft zu dramatischen Meta-Phänomenen seither als grundlegend gilt. 132 126 Diese Entwicklung ist mehrfach sehr ausführlich und kontrastiv nachgezeichnet worden; vgl. V IEWEG -M ARKS , Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, 8 - 13; B RÜSTER , Das Finale der Agonie, 17 - 28; H AUTHAL , Metadrama und Theatralität, 36 - 54. 127 H ORNBY , Drama, Metadrama, and Perception, 31. 128 H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 1. 129 Vgl. H ORNBY , Drama, Metadrama, and Perception, 31 f. 130 Vgl. ebd. 32. 131 Vgl. ebd. 132 Vgl. K RIEGER , »Metadrama/ Metatheater«, 446. Vieweg-Marks ’ Kategorien lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Thematisches Metadrama: Theater als Schauplatz von Theater; 2. Fiktionales Metadrama: Potenzierung der Fiktion; 3. Episierendes Metadrama: Kommentierung der Fiktion; 4. Diskursives Metadrama: Sprachliche Formen der dramatischen Selbstbewusstheit; 5. Figurales Metadrama: Reflexion der dramatischen Rolle 6. Adaptives Metadrama: Die zitierte Fiktion (vgl. V IEWEG -M ARKS , Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, 18 - 42). Es finden sich einige kritische Stimmen bezüglich der bei Vieweg-Marks nicht vorgenommenen Differenzierung zwischen Metadramatik und Metatheatralität. Vgl. in jüngster Zeit - und ältere kritische Stellungnahmen resümierend - besonders: H AUTHAL , »Medienspezifische und kommunikationstheoretische Modifikationen der Theorie des Metadramas«, v. a. 92 - 110, sowie Metadrama und Theatralität, 39 - 50. Vgl. zur Weiterentwicklung der Studie von Vieweg-Marks: J ENSEN , Formen des episierenden Metadramas. 31 Spiel im Spiel Das Spiel im Spiel - fremdsprachlich vornehmlich als play within the play, théâtre dans le théâtre oder teatro dentro del teatro bezeichnet - ist neben dem Aus-der-Rolle-Fallen das wohl bekannteste theatrale Meta-Phänomen. Es gilt, wie bereits in Hornbys Studie angelegt, mittlerweile als metatheatrale Unterform. 133 In den Definitionen eines Spiels im Spiel wird häufig das Bild eines in seinen unterschiedlichen Facetten mehr oder minder vollständigen Theaterstückes im Theaterstück gezeichnet, und zwar, was seine inneren wie äußeren Aspekte betrifft: So finden sich fiktionsinterne Spiegelungen von Personen, Handlung, Zeit, Raum und Sprache bzw. von Autor, Stück, Schauspieler und Publikum. Das Theaterstück vollführt eine Wiederholungsfigur, einen Sog, der alle theaterrelevanten Konstituenten erfassen kann. 134 Als eine der grundlegenden Definitionen gilt jene Forestiers, demzufolge dann von einem Spiel im Spiel zu sprechen sei, wenn eine Figur der Rahmenhandlung zum Zuschauer einer Binneninszenierung werde. 135 Pfister zufolge sind die Kriterien einer zweiten Aufführungssituation sowie eines stückinternen Publikums ebenfalls ausschlaggebend: »Ein Teil des Personals der übergeordneten Sequenzen führt vor einem anderen Teil ein Theaterstück (die untergeordneten Sequenzen) auf.« 136 Ähnlich akzentuiert Hornby: Von einem »play within a play« sei dann zu sprechen, wenn »two sharply distinguishable layers of performance« vorlägen und damit den Effekt eines »see double« auslösten. 137 Dazu müssten die Figuren der ersten Spielebene ein Mindestmaß an Charakterzeichnung und Handlung aufweisen und das 133 Seit der Publikation von Abels Studie Metatheatre gehen die Forschungszweige zu Metatheater und Spiel im Spiel zunehmend ineinander auf, wie sich beispielsweise aus dem Titel einer der jüngsten Publikationen von Relevanz, dem Sammelband von Fischer/ Greiner ablesen lässt: The Play within the Play. Performance of Meta-Theatre and Self-Reflection. Die terminologischen und typologischen Unwegsamkeiten, die schon für Selbstreferentialität, Metatheater und mise en abyme konstatiert wurden, belasten auch die Forschung zum Spiel im Spiel. So bezeichnet der 1954 von Joachim Voigt in seiner Monographie Das Spiel im Spiel geschaffene Begriff je nach Ansatz zumeist etwas anderes und steht seinerseits in Konkurrenz zu einer Reihe verwandter Begrifflichkeiten: › Theater im Theater ‹ bzw. › Theater über Theater ‹ oder › Theater auf dem Theater ‹ und darüber hinaus › Spielen im Spiel ‹ . Auch diese Begriffe koexistieren, überschneiden sich oder kollidieren. 134 Eine überblickende Darstellung bisheriger Spiel-im-Spiel-Forschung findet sich bei: Z AISER , Inszenierte Poetik, 39 - 51. 135 F ORESTIER , Le théâtre dans le théâtre, 11 f. 136 P FISTER , Das Drama, 299. So grenzt Pfister das Spiel im Spiel insofern von einer »Traumeinlage« ab, als »die primäre Fiktionalität durch eine sekundäre potenziert wird« (ebd.). 137 H ORNBY , Drama, Metadrama, and Perception, 32 und 35. 32 Binnenstück darüber hinaus als Aufführung wahrnehmen. 138 Die Intensität der Verknüpfung zwischen Rahmen- und Binnenspiel kann sich sehr unterschiedlich ausgestalten, sie schwankt Forestier zufolge zwischen einem »degré maximum«, wenn das Binnenspiel und die Rahmenhandlung handlungsrelevant miteinander verbunden sind, und einem »degré zéro«, wenn das Spiel im Spiel ohne erkennbare Funktion für den dramatischen Verlauf bleibt. 139 Eben dieser Aspekt - die Wechselwirkung der Fiktionsebenen - ist zur Unterscheidung der untersuchten selbstreferentiellen Phänomene von entscheidender Bedeutung, wie im Folgenden ausgeführt wird. Dramatische mise en abyme, Metatheater und Spiel im Spiel In der Gegenüberstellung von mise en abyme, Metatheater und Spiel im Spiel zeigt sich eine nicht unerhebliche Schnittmenge. Die drei selbstreferentiellen Spielformen scheinen dem Rezipienten begreifbar machen zu wollen, dass er es mit keiner beliebigen Fiktion zu tun habe, die sich in Widerspiegelung interpretierter Lebenswelt auf Identifizierungs-, Erziehungs- oder Unterhaltungszwecke reduzieren ließe. Vielmehr bringt das Kunstwerk (bisweilen auf illusionsstörende Weise) zum Ausdruck, dass es das Konstrukt eines Autors ist, ein Kunstwerk, dem jeweils eine bestimmte Ästhetik zugrunde liegt. Besonders zwischen dem Spiel im Spiel und der mise en abyme zeigen sich Ähnlichkeiten: Das Spiel im Spiel und die mise en abyme gliedern das Gesamtstück von innen mindestens in zwei, häufig (und besonders in den letzten Jahrzehnten) sogar in zahlreiche Ebenen auf. Es handelt sich um Phänomene der Fiktionspotenzierung, der Mehrschichtigkeit, der Einlagerung, Aufsprengung sowie einer mehr oder minder stark vollführten Illusions(zer)störung, die ganz unterschiedliche, einander auch widersprechende Funktionen für den Gesamttext bekleiden können - ihn potenziell bestätigend sowie in kontrastive Sinnstränge zergliedernd. Was mise en abyme und Spiel im Spiel jedoch grundlegend voneinander unterscheidet, ist der Grad, die Intensität und der Facettenreichtum möglicher Spiegelungen. Jedes Spiel im Spiel erzeugt zwar immer eine formale mise en abyme, eine Wiederholung der Form in der Form, 140 nicht aber ist jede mise en abyme auf ein Werk im Werk und noch weniger auf ein Spiel im Spiel reduzierbar. Das Spiel im Spiel entspricht in seiner Grunddefinition jener einfachen mise en abyme, die sich im Bild des Wappens im Wappen mani- 138 Ebd. 32 - 35. 139 F ORESTIER , Le théâtre dans le théâtre, 128, 134, 139. 140 Laut Leon Livingstone sei das Spiel im Spiel »not the sole but only the most literal interpretation of interior duplication« (L IVINGSTONE , »Interior Duplication«, 396). 33 festiert. Komplexere Formen der mise en abyme, wie Spiegelungen ohne deutlich erkennbaren Ebenenwechsel oder durch die Integration per se nicht-verbaler Künste in ein Theaterstück, beispielsweise im Spielen eines Musikstückes oder im Betrachten und Kommentieren von Gemälden, infinite Regresskonstruktionen oder Paradoxien in Form eines Möbiusbandes, sprengen den Begriff des Spiels im Spiel; oder sie dehnen ihn auf das Konzept des Metatheaters aus. Dieses allerdings untersucht selbstreferentielle Texte mit einer Reihe von Fragestellungen, denen zur Untersuchung der mise en abyme nur begrenzte Gültigkeit innewohnt. So entfalten sich Facetten des Metatheaters wie intertextuelle Bezüge, 141 Episierungen, Aus-der-Rolle-fallen, Improvisation, Theatersetting oder direktes Ansprechen des Zuschauers zwar häufig im Verbund mit Ausprägungen von mise en abyme. Doch diese metatheatralen Techniken gehen per se weit über das Zentrum der mise en abyme hinaus. 142 Die Fragestellungen, die der Blickwinkel des Metatheaters mit sich führt, sind also nicht nur viel heterogener, sondern auch expliziter und nicht implizit-strukturell wie die mise en abyme. Im Überblick erscheint die mise en abyme spezieller als das Metatheater und zugleich universeller als das Spiel im Spiel. 143 In der Gegenüberstellung von Metatheater, Spiel im Spiel und mise en abyme ist letztere bisher eher ex negativo definiert worden. Was die drei Konzepte aber in ihrem Wesenskern voneinander unterscheidet, ist die begriffsgeschichtliche, semantische sowie poetologische Vielschichtigkeit der mise en abyme. Als vermeintliche »fausse métaphore« 144 hebt sie, anders als Metatheater und Spiel im Spiel, dezidiert das »sujet même de cette œ uvre« 145 und insofern das Zusammenspiel von Poetologie und Poesie, 141 Das Verhältnis von Metafiktion bzw. mise en abyme und Intertextualität ist nicht Thema dieser Arbeit; es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich um ein fruchtbares Forschungsfeld handelt. Schon in einer der Grunddefinitionen Dällenbachs ist die Verbindung angelegt: »L ’ énoncé dont il s ’ agit n ’ étant provisoirement envisagé que sous son aspect référentiel d ’ histoire racontée (ou fiction), il apparaît possible de définir sa mise en abyme comme une citation de contenu ou un résumé intertextuels« (D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 76; Hervorhebung im Original). Vgl. zu Meta- und Intertext(-ualität) auch: D ÄLLENBACH , »Intertexte et autotexte«; N ÜBEL , Robert Musil, 46 - 52; W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«. 142 Anders argumentiert Cottegnies. Ihr zufolge sind die Hauptcharakteristika der mise en abyme mit jenen des Metatheaters nahezu identisch: intertextuelle, autobiographische bzw. werkeigene Anspielungen, Spiel im Spiel und Sichtbarmachen des theatralen Umfelds (vgl. C OTTEGNIES , »Miroir du théâtre«, 275). 143 Wolf zufolge ist das Spiel im Spiel eine »dramatisch[e] Sonderform der mise en abyme« (W OLF , »Spiel im Spiel und Politik«, 165 f.). 144 Vgl. Anm. 288. 145 G IDE , Journal, 171. 34 von Autor, Werk und Rezipient hervor. Metatheater und Spiel im Spiel scheinen sich im vergleichenden Überblick eher auf das Theater als solches, auf Theatralität und Theaterspiel zu beziehen, wohingegen die mise en abyme - nomen est omen - vielmehr die abgründige, unter der Oberfläche liegende Wesensart literarischer Texte sowie den dort verhandelten Prozess ihrer Genese sowie ihrer Interpretation reflektiert. Vor diesem Hintergrund gibt die mise en abyme vielfältige, zur Interpretation dramatischer Texte notwendige Perspektiven vor, die an jenen von Metatheater und Spiel im Spiel vorbei- und mit Blick auf poetologische Fragestellungen auch über sie hinausgehen. Damit richtet sich der Fokus auf jenen begriffsbildenden Tagebucheintrag, der die bis hierher skizzierten Theorien zur mise en abyme initiierte. Ausgangspunkt und aktueller Standort - Gides Erstdefinition der mise en abyme und deren jetzige Auslegung im Forschungsdiskurs - werden in einen Reflexionskontext gestellt: Was implizierte die mise en abyme in ihrer Urdefinition? Und welche jener Implikationen, die in ihrer bisherigen Entwicklung als literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit verloren gingen, sind wieder in den Diskurs zu integrieren, um ein besseres Verständnis ihrer Funktionen und Wirkungen zu gewinnen? Mit diesen Leitfragen wird der Tagebucheintrag zunächst in Gänze untersucht, um anschließend Gides Anspielungen auf die Wirkungs- und Funktionsweisen literarischer und insbesondere gemalter und heraldischer Beispiele abyssaler Strukturen nachzuvollziehen. Denn offenbar ist die mise en abyme »easier to illustrate than to define«. 146 146 N ELLES , »Mise en abyme«, 312. 35 3. Zurück zum Ursprung. André Gides Tagebucheintrag Die literaturtheoretische Diskussion zur mise en abyme hat bis in die Gegenwart mit dem von Gide produzierten Knäuel zu kämpfen. G OEBEL , »Vorgespielte und wahre Unendlichkeit«, 93. 3.1 Mehrdeutige Semantik in der Urdefinition der mise en abyme Seit sich die mise en abyme ab den 1950er Jahren zu einem beliebten und vieldiskutierten terminus technicus der Literaturwissenschaft entwickelt hat, wird zwar immer wieder darauf verwiesen, dass sie begrifflich auf André Gide zurückgeht. Es scheint aber, als führe der Weg zu einem Verständnis des Begriffs der mise en abyme seit einigen Jahrzehnten nicht mehr direkt über Gide, sondern über Dällenbach. Gides Tagebuch-Eintrag gilt gemeinhin als ambivalent und definitorisch nur beschränkt von Nutzen. Konstatiert wird Gides »Zerrissenheit« 147 hinsichtlich der Definition und Bewertung der mise en abyme. Dällenbach hingegen überführt die mise en abyme (und im Zuge dessen auch Gides Tagebucheintrag) in eine Reihe vergleichsweise eindeutiger Definitionen. Diese Typologien bieten zwar einen möglichen Zugang zu abyssalen Texten, doch gleichzeitig werden die von Gide genannten Aspekte und Funktionen der mise en abyme sowie insbesondere die ihr inhärenten Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten nicht hinreichend zur Kenntnis genommen. Dällenbach kann die mise en abyme nur insofern als »réalité structurée« 148 ausbauen, als er Gides vermeintliche › Zerrissenheit ‹ durch definitorische Sicherheiten überbrückt. Folgenreich ist dies mit Blick auf Gides Grunddefinition der mise en abyme als Wiederholung des sujet même, mit welcher der betreffende Tagebuchabschnitt eingeleitet wird. Die grundsätzliche Offenheit des Incipits - ausgehend von den noch genauer zu untersuchenden Formulierungen »j ’ aime assez«, »en une œ uvre d ’ art«, »ainsi transposé« sowie »à l ’ échelle des personnages« - potenziert sich erheblich in 147 G OEBEL , »Vorgespielte und wahre Unendlichkeit«, 92. 148 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 210. 36 der Reflexion des gespiegelten Gegenstandes, in Gides Formulierung: »le sujet même de cette œ uvre«: J ’ aime assez qu ’ en une œ uvre d ’ art, on retrouve ainsi transposé, à l ’ échelle des personnages, le sujet même de cette œ uvre. Rien ne l ’ éclaire mieux et n ’ établit plus sûrement toutes les proportions de l ’ ensemble. Ainsi, dans tels tableaux de Memling ou de Quentin Metsys, un petit miroir convexe et sombre reflète, à son tour, l ’ intérieur de la pièce où se joue la scène peinte. Ainsi, dans le tableau des Méñines [sic] de Vélasquez (mais un peu différemment). Enfin, en littérature, dans Hamlet, la scène de la comédie; et ailleurs dans bien d ’ autres pièces. Dans Wilhelm Meister, les scènes de marionnettes ou de fête au château. Dans La Chute de la Maison Usher, la lecture que l ’ on fait a Roderick, etc. Aucun de ces exemples n ’ est absolument juste. Ce qui le serait beaucoup plus, ce qui dirait bien mieux ce que j ’ ai voulu dans mes Cahiers, dans mon Narcisse et dans La Tentative, c ’ est la comparaison avec ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second › en abyme ‹ . 149 In einem Kunstwerk gespiegelt, › transponiert ‹ »à l ’ échelle des personnages«, finde sich also kein beliebiges Motiv, sondern das sujet même desselben Werkes. Der Begriff sujet ist per se zweideutig - sujet als denkendes Subjekt oder erdachtes Thema. Vor diesem Hintergrund bezieht sich die werkinterne Spiegelung im Sinne Gides zugleich auf den Schreiber und sein Geschriebenes. Im gespiegelten sujet même sind beide Instanzen unauflösbar ineinander verwoben. 150 Durch die das sujet même spiegelnde mise en abyme wird das schreibende Subjekt zum Sujet des eigenen Textes und kann sich zugleich als Schöpfer, Thema und Rezipient der eigenen Fiktion inszenieren. Die Frage nach dem gespiegelten sujet même ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis der mise en abyme. Dies zeigt sich an den lebhaften Forschungsdiskussionen über die Natur und den Umfang des gespiegelten Gegenstandes. Dabei stehen aber weniger Gides Ambivalenzen eines sujet même als vielmehr Dällenbachs Typologisierungen im Fokus - im Kontext des gespiegelten Gegenstandes sind dies › das Erzählte, das Erzählen oder der Kode ‹ sowie die › Totalität ‹ einer Erzählung. 151 Problematisch an diesen Dis- 149 G IDE , Journal, 171. Alle weiteren in diesem Kapitel angeführten Zitate beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, auf diese Quelle. Die betreffende Tagebuchpassage findet sich in Gides Journal zum 9. September 1893 unter der Überschrift »La Roque«, einer der Landsitze der Familie Gide-Rondeaux. Der Eintrag gehört folglich Gides Frühwerk an. Bis dato hat der knapp vierundzwanzigjährige Autor Les Cahiers sowie Les Poésies d ’ André Walter, zwei traités - Le traité de Narcisse und La tentative amoureuse - , die Reiseerzählung Le Voyage d ’ Urien sowie einige Gedichte und kleinere Texte in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht (vgl. M ASSON , »Chronologie«, LIf. sowie S HERI- DAN , André Gide, 54 - 92). 150 Vgl. zur rétroaction: Kapitel 3.3. 151 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 63. Vgl. Kapitel 2.2. 37 kussionen ist allerdings, dass Dällenbach die Vieldeutigkeit, mit der Gide das sujet même behaftet, auf die eigene Interpretation verengt, um darauf aufbauend seine Typologisierung fortsetzen zu können: Question propre à lancer l ’ analyse: celle de l ’ objet de la réflexion. Gide, on s ’ en souvient, le concevait comme le »sujet même de l ’œ uvre«. Mais cette expression, chez lui, n ’ est pas dépourvue d ’ ambiguïté. Car que recouvre-t-elle en fait? Non point seulement le thème ou l ’ intrigue du roman, mais, nous l ’ avons vu, l ’ histoire racontée et l ’ agent de la narration - auxquels s ’ ajoutent, quand il s ’ agit des Faux- Monnayeurs, l ’ histoire, l ’ esthétique et la critique de l ’œ uvre. N ’ est-ce pas trop pour un terme que l ’ on prend d ’ ordinaire dans une acception plus restreinte? Quoi qu ’ il en soit, tel a été le mobile qui nous a conduit à substituer »récit« à »sujet« dans la définition proposée plus haut. 152 Der letzte Satz gibt Auskunft darüber, wie Dällenbach stellenweise mit Gides Überlegungen verfährt. Die Vielfalt und die Unbestimmtheiten, die Gides Formulierung eines sujet même mittransportiert, werden zwar auch von Dällenbach erkannt, aber gleichermaßen verworfen, indem das ambivalente sujet durch das literaturwissenschaftlich reglementiertere récit ersetzt wird. Mit einem »Quoi qu ’ il en soit« tut Dällenbach Gides »ambiguïté« ab. Für die Implikationen der mise en abyme in ihrer Urbedeutung sind aber gerade diese Ambiguitäten (nicht nur mit Blick auf das sujet) von Relevanz. Das »sujet même de cette œ uvre« ist mit Gide (und gegen Dällenbach) reichhaltiger und vielfältiger konnotiert als es die Bezeichnung récit erkennen ließe. Gides Formulierung scheint die sich entziehende Dynamik abyssaler Strukturen schon per se, auf engstem Raum in sich selbst, abzubilden. Denn einerseits wird mit » œ uvre« die Vorstellung von Werk, Ganzheit, Gesetzt- und Fertig- Sein, Wertung, usf. impliziert, wie beispielsweise in der Definition zu » œ uvre littéraire« hervorgeht: »L ’œ uvre d ’ un écrivain, d ’ un artiste, l ’ ensemble de ses différentes œ uvres, considéré dans sa suite, son unité et son influence«. 153 Andererseits sieht sich die Idee einer »unité« oder eines »ensemble« durch die davor gestellte Frage nach dem sujet même immer wieder herausgefordert und in Einzelteile zerlegt: Produktion (»écrivain«, »artiste«), Werk(e) (»l ’ ensemble de ses différentes œ uvres«) und Rezeption (»considéré dans sa suite, son unité et son influence«, m. H.). Wen oder was also spiegelt »le sujet même de cette œ uvre«: den Produzenten, das Werk selbst, den Rezipienten oder alle drei zugleich? Diese Verwobenheit von Schöpfung, Rezeption und Geschaffenem ist nicht nur für Gides Schreiben, sondern generell für abyssale Texte von zentraler Bedeutung und wird im récit-Begriff unterschlagen. In der Theoriebildung gilt seit Dällenbach weitestgehend der Konsens, die mise en abyme 152 Ebd. 61; Hervorhebung im Original. 153 Le Grand Robert, 2108. 38 sei ein narratives Phänomen und der Gegenstand der Spiegelung mit »énoncé«, »énonciation« oder »code« zu benennen. 154 Dies entspricht aber - in einer Beschränkung auf die Narrativik sowie in einer Ausdifferenzierung des récit-Begriffs - nicht mehr dem sujet même als gespiegeltem Gegenstand und insofern auch nicht der Grundbedeutung von mise en abyme. Obgleich abyssale Strukturen sein Gesamtwerk durchziehen, hat Gide seinen einzigen theoretischen Abschnitt zur mise en abyme weder modifiziert noch weiter kommentiert, und das, obwohl er die Publikation seines Journal lange, sorgfältig und engagiert vorbereitete. 155 Nicht nur deswegen kommt der kurzen Passage besondere Bedeutung zu. Sie ist, anders als ihr Kontext, vergleichsweise allgemeingültig gehalten: 156 Spezifische Aspekte der Texte Gides - wie Überlegungen zu einzelnen seiner Figuren - finden, anders als vor und nach seinen Überlegungen zur mise en abyme, keine Erwähnung. Zudem beginnt die Passage mit einer äußerst weit gefassten und subjektiv eingefärbten Formel: »J ’ aime assez qu ’ en une œ uvre d ’ art [. . .]«. Erläutert wird ein literarisches Verfahren, das am Ende mit einer auffälligen Begrifflichkeit, nämlich »mettre [quelque chose] en abyme« besetzt wird. Zunächst skizziert Gide das, › was ihm in einem Kunstwerk gut gefällt ‹ , auf einleitende und allgemeine Weise. Anschließend erläutert er die zunächst abstrakt anmutenden Einleitungszeilen mit Beispielen aus der Malerei (von Memling, Massys und Velázquez) anhand gemalter Spiegel - er veranschaulicht sein literarisches Verfahren also im wahrsten Sinne des Wortes. In der auf die Gemälde folgenden Passage macht er deutlich, dass das ihn interessierende Verfahren nicht medial gebunden sei, da das Gemalte offensichtlich auch als Geschriebenes Wirkung zeigt: Gide nennt einige literarische Variationen des gemalten Spiegels (in Werken von Shakespeare, Goethe und Poe). Darauf nun folgt ein Bruch: Keines der genannten Beispiele sei › vollkommen treffend ‹ . Die Schlusspassage konfrontiert die bislang genannten (inadäquaten) Ausprägungen des von ihm beschriebenen Verfahrens nun mit (adäquateren) Gegenbeispielen. Diese Konfrontation vollzieht Gide in zweifacher Hinsicht: Zunächst führt er drei seiner eigenen Texte an (Cahiers d ’ André Walter, Traité de 154 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 63. 155 Vgl. W HITE , »The Semiotics of the Mise-en-abyme«, 35. 156 Der vermeintliche Absatz ist im Grunde genommen gar keiner: In Gides Tagebuch ist die zitierte Passage zur en-abyme-Setzung kein autarker oder auch nur eingerückter Paragraph, sondern gehört unmittelbar und bruchlos zu Reflexionen über Luc und Rachel - den Protagonisten von Gides La Tentative amoureuse (vgl. Kapitel 3.3.). Trotz ihrer Eingebundenheit in einen spezifischen Kontext stechen Gides Äußerungen aber als eigentümlich geschlossen und allgemeingültig hervor, wie im Folgenden näher zu erörtern ist. 39 Narcisse, La Tentative amoureuse) und schließlich, als ihr visuelles Äquivalent, ein Verfahren aus der Heraldik: das Wappen im Wappen. So sticht zum einen die Symmetrie der Beispielanordnung ins Auge: Bild (Gemälde), Wort (fremde Literatur), Wort (eigene Literatur), Bild (Heraldik). Zum anderen durchläuft der Tagebucheintrag eine deutliche Steigerung auf einen Höhepunkt hin oder, um im Bild zu bleiben, in einen Abgrund hinein: Einleitung, (inadäquate) Beispiele aus der Malerei, (inadäquate) Beispiele aus der Literatur, (adäquatere) Beispiele aus der eigenen Literatur, Heraldik und darin schließlich der als am adäquatesten empfundene abyme. Diese inhaltliche Klimax vom Allgemeinen zum Besonderen sowie vom Inadäquaten zum Adäquateren wird sowohl grammatikalisch als auch strukturell gestützt. Die Schlusspassage besteht, anders als bei der Nennung der inadäquaten Beispiele, aus einem einzigen Satz, in dem der abyme durch die mise en relief mit »ce qui [. . .] c ’ est« besonders betont und inszeniert wird. Strukturell zeigt sich eine weitere Symmetrie - drei Beispiele aus der Malerei, drei aus nicht-eigener und drei aus eigener Literatur - die sich schließlich auf das eine Beispiel aus der Heraldik, den abyme, verengt. 157 Im Überblick wird deutlich, dass die Passage von »J ’ aime assez« bis hin zu »en abyme« auf den ersten Blick assoziativ und willkürlich wirkt - warum gerade diese Beispiele aus Literatur und Malerei? - und es vielleicht auch ist; andererseits aber wird sich herausstellen, dass die angeführten Beispiele abyssale Spiegelungen nicht nur anschaulich illustrieren und sie in immer komplexerer Form darbieten, sondern sich darüber hinaus ineinander spiegeln. Mit Blick auf die argumentatorische Klimax, die mehrfache Dreischrittigkeit sowie die Auswahl der Beispiele erscheint ihre Zusammenstellung nicht vollkommen willkürlich. Die Einleitungspassage enthält bereits wichtige Grundkonstituenten der mise en abyme. Ort der Spiegelung sei »en une œ uvre d ’ art«. Der Radius der mise en abyme geht also noch über die von Gide genannten Beispielgattungen - Gemälde, Theaterstück, Roman oder Erzählung - hinaus und lässt sich potenziell in jedem Kunstwerk finden. Bezüglich der Spiegelungsart sind die Spezifizierungen »retrouve«, »transposé« und »à l ’ échelle des personnages« von Bedeutung. Das Verb retrouver meint › wieder-finden ‹ oder, im Gesamtkontext plausibler: › noch einmal finden ‹ . Etwas wird irgendwo 157 Darüber hinaus wird die Klimax strukturell in einem minimalen, aber sehr regelmäßigen Anstieg der Wortquantität mitvollzogen. Die Einleitung umfasst 40 Wörter, der Abschnitt zur Malerei 43, der zur Literatur 45 und der zu eigenen Werken und Heraldik 47. Letzter wird durch den kurzen Bruch unmittelbar davor - keines der bisherigen Beispiele sei wirklich treffend - noch einmal besonders in Szene gesetzt. 40 noch einmal gefunden bzw. etwas befindet sich irgendwo noch einmal. Es hat allerdings den Ort gewechselt, es ist »transposé«. Wie diese › Transposition ‹ stattfindet, expliziert Gide in der unmittelbar folgenden attributiven Ergänzung: »à l ’ échelle des personnages«. Der andere Raum wird also, um Gide beim Wort zu nehmen, mit einer › Leiter ‹ erreicht. Demzufolge befindet er sich nicht auf derselben Ebene, sondern - die Richtung bleibt offen - höher oder tiefer als der Ursprungsort, da die »échelle« keine horizontale, sondern eine vertikale Transposition nahelegt. Daraus ließe sich ableiten, dass die Spiegelung auf einem anderen diegetischen Niveau zu finden wäre. 158 Diese Lesart ist aber gleichzeitig zu problematisieren, da Gides Formulierung doppeldeutig ist. Wörtlich bedeutet »l ’ échelle des personnages« › Leiter der Figuren ‹ und evoziert insofern eine Auf- oder eine Abwärtsbewegung. Als adverbiale Bestimmung ist »à l ’ échelle de« allerdings gleichbedeutend mit »selon un ordre de grandeur«, beispielsweise in Wendungen wie »Ce problème se pose à l ’ échelle nationale«, 159 auf Deutsch also › auf nationaler Ebene ‹ oder einfach › landesweit ‹ . Analog dazu hieße Gides »à l ’ échelle des personnages« auf › Ebene der Figuren ‹ , womit die Leiter (und mit ihr die diegetische Vertikalbewegung) verschwände. In dieser Lesart würde »à l ’ échelle des personnages« als Ort der mise en abyme einfach › auf Figurenebene ‹ - in Genettes Termini also im Bereich der Intradiegese 160 - bedeuten, wohl in Opposition zur extradiegetischen Ebene des Erzählers. So bleibt offen, ob ein Werk im Werk, also eine metabzw. hypodiegetische Ebene, laut Gide zwingende Voraussetzung einer mise en abyme ist, denn › auf Ebene der Figuren ‹ vollziehen sich nahezu alle der kontrovers diskutierten Fälle potenzieller mise en abyme: ein erzählter Witz ebenso wie ein Gespräch über ein Musikstück oder ein Gemälde oder ein Stück im Stück. Es ist daher umso wichtiger, sich die Offenheit in Gides Formulierung bewusst zu halten, evoziert sie doch sowohl › auf der Ebene von ‹ als auch › Leiter ‹ oder › Stufe ‹ ; bezüglich von Ebenenpluralität und Einlagerung können also per definitionem 158 Vgl. B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 119. 159 Le Grand Robert, 1802. 160 Die Voraussetzung dafür, einzelne Erzählebenen voneinander unterscheiden und auch terminologisch als solche fassen zu können, schafft Gérard Genette. Als (intra-)diegetische Ebene begreift er das Erzählte, als extradiegetische das Erzählen. Findet sich im intradiegetischen Universum eine weitere Geschichte, wird folglich im Erzählten erzählt, eröffnet sich ein drittes Erzählniveau: das der Metaerzählung bzw. seiner Metadiegese. Geht aus diesem dritten Niveau wiederum eine Erzählung hervor, spricht Genette von einer Metametaerzählung bzw. einer Metametadiegese, usf. (vgl. G ENETTE , Nouveau discours du récit, 55 - 64). Der Begriff der Metadiegese wurde gelegentlich als missverständlich zurückgewiesen. Mieke Bal ersetzt das Präfix metá aus diesem Grund durch hypo (vgl. B AL , Narratologie, 35 sowie »Notes on Narrative Embedding«, v. a. 48 - 50). 41 keine vermeintlichen Voraussetzungen geltend gemacht werden. Denn offensichtlich lässt sich die in Kapitel 2.2. nachgezeichnete Theoriedebatte, wie sich welche Textebenen zueinander verhalten müssen, um von mise en abyme sprechen zu können, gar nicht a priori beantworten. Dazu kann neben Gides Tagebuchformulierung ein Beispiel aus seiner literarischen Produktion angeführt werden. Es verdeutlicht, dass sich der Autor beim Konstruieren seiner Texte (en abyme) bezüglich der Ebenenpluralität nicht auf das eine oder das andere in der Theorie diskutierte Kriterium festlegen lässt: weder auf einen Bruch in der Diegese oder der Zeitstruktur noch auf eine Spiegelung auf derselben Ebene. In Les Faux-Monnayeurs ist es neben Edouards Romanfragmenten, die nach gängigen Kriterien unzweifelhaft eine mise en abyme darstellen, beispielsweise Vincents Bericht über die ihr eigenes Licht produzierenden Tiefseefische, der in diesen Zusammenhang von Interesse ist. Nach gängigen Kriterien liegt keine mise en abyme vor: Vincent erzählt zwar, aber er beschreibt lediglich, ohne eine zweite Geschichte mit eigener Zeitlichkeit, eigenen Personen, eigener Handlung, etc. entstehen zu lassen. Er erläutert kurz ein meeresbiologisches Phänomen, ohne dabei einen diegetischen Bruch zu vollführen. Und dennoch führt die erzählte Passage dem Rezipienten anschaulich vor, dass sie sich en abyme befindet - und zwar nicht nur, weil sich die Identitätssuche von Bernard, Olivier und den anderen Pensionären in den von Vincent beschriebenen Tiefseefischen widerspiegelt, die sich ihren Weg selbst ausleuchten, sondern schon deshalb, weil sich sein Bericht buchstäblich en abyme abspielt. Denn der von Vincent zwar beschriebene, aber nicht als solcher explizierte Meeresbereich nennt sich bezeichnenderweise › Abyssal ‹ (frz. l ’ abysse), › abyssische Region ‹ oder › Abyssopelagial ‹ . 161 Inhalt (Leuchtfische im Abyssal bzw. die Pensionäre) und Form (der Bericht en abyme) werden auf markante Weise ineinander überführt und beleuchten sich gegenseitig. Das Abyssal steht für jenen Bereich der Tiefsee, der, je nach Definition, üblicherweise ab unter 1000 Metern unter dem Meeresspiegel angesiedelt wird. 162 Hier herrschen in Form von vollkommener Lichtlosigkeit, hohem Wasserdruck und niedrigen Temperaturen Lebensbedingungen vor, die das Zusammenleben einer spezifischen Population auf eine eigenständige, besondere Weise determinieren. 163 Diese Merkmale - Spezifität, Tiefe, Autonomie und gleichzeitig fließende Grenzen - lassen sich mit jenen der mise en abyme korrelieren. So werden Passagen als abyssal erfassbar, die sich wie das Abyssal zum übrigen Meer verhalten: Nicht durch einen Bruch, eine erkennbare Linie von ihm getrennt, aber dennoch autonom 161 S CHAEFER , Wörterbuch der Ökologie, 3. 162 Vgl. ebd. 163 Vgl. B EGON / H ARPER / T OWNSEND , Ökologie, 178. 42 und spezifisch; gemeint sind solche Textstellen, die, anders als im fiktionsinternen Schreiben eines Romans, im Erzählen einer Geschichte oder Aufführen eines Theaterstückes, nicht zwingend eine Potenzierung der Erzählbzw. Spielinstanz implizieren, aber sehr wohl über eine eigene Realität verfügen, beispielsweise ein Gemälde, ein Musikstück, eine intensive Beschreibung. In Gides Les Faux-Monnayeurs sei in diesem Zusammenhang an den Diskurs des alten La Pérouse über moderne Musik oder an Vincents Bericht über die sich fernab des Stammes besonders gut entwickelnden Knospen erinnert. 164 Diese abyssalen Segmente, die auch den potenziell trans- und intermedialen Charakter der mise en abyme andeuten, 165 folgen, obgleich sie das Gesamtwerk widerspiegeln, offensichtlich eigenen Gesetzen. In einem ersten Überblick wird deutlich, dass Gide die mise en abyme von Anfang an weit auffächert. Alle Konstituenten des ersten Satzes - »J ’ aime assez«, »en une œ uvre d ’ art«, »retrouve«/ »transposé«, »à l ’ échelle des personnages«, »le sujet même de cette œ uvre« - sind prinzipiell offen gehalten und evozieren mehrere und einander widersprechende Lesarten. Im folgenden zweiten Satz wendet sich Gide den Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme zu. Die › Proportionen des Ganzen ‹ würden durch die werkinterne Spiegelung › am besten beleuchtet ‹ . 166 Die Tatsache, dass sich das Ganze am ehesten durch seinen spiegelnden Teil - also letzten Endes (analog zum selbst produzierten Licht im Meeresabyssal) durch sich selbst - erklären lasse, führt den Kontrast zwischen dem Anspruch des selbstreferentiellen und sich selbst erklärenden Textes sowie von außen angelegten und hochgerüsteten Typologien der Theoriebildung anschaulich vor Augen. Die mise en abyme scheint das Verständnis auf den ersten Blick zu verdunkeln, beleuchtet es aber letztendlich; mit ausdifferenzierten Typologien verhält es sich häufig anders herum. In diesem Kontext ist die Opposition interessant, die sich in Gides Passage zwischen diesem und dem folgenden Satz ausbildet: Die Tatsache, dass sich das Werk durch die Spiegelung selbst › erhelle ‹ (»éclaire«), kontrastiert mit dem Instrument, das diese erhellende Spiegelung erst erzeugt, nämlich mit dem Spiegel - einem »petit miroir convexe et sombre« (m. H.). Durch seine(n) › dunklen ‹ Spiegel › erhellt ‹ sich das Werk 164 Vgl. G IDE , Les Faux-Monnayeurs, in: ders., Romans et récits, Kapitel XVII sowie XVIII des ersten Teils. 165 Eine detailreiche Studie zu Selbstreferentialität und Intermedialität liefert Ulrike Söllner-Fürst am Beispiel von Alejo Carpentiers »Medien-Roman« Los pasos perdidos (S ÖLLNER -F ÜRST , Das Schreiben des Abenteuers, 10). 166 Dällenbach spricht in diesem Zusammenhang zu Recht von einem »appareil d ’ autointerprétation« (D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 76). 43 selbst. Diese oxymorotische Spannung zwischen der selbst produzierten Erleuchtung und der Dunkelheit des erhellenden Instruments ist den Dynamiken der mise en abyme häufig zu eigen. Die mise en abyme, die als abîme oder Abyssal schon per se mit › Dunkelheit ‹ konnotiert ist, kann ebenso zur Verdunkelung wie zur Erhellung eines Textes beitragen. Da der literarische Spiegel nicht nach Maßgabe eines Gebrauchsspiegels konstruiert ist, sondern sich das Spiegelbild vielmehr selbst zu gestalten scheint, inszeniert er häufig ein Wechselspiel von Erleuchtung und Verdunklung. Im Zuge dessen fordert er dem Rezipienten ab, dieses Wechselspiel gerade nicht auflösen zu wollen, sondern es mitzuspielen, zumal es auf die poetische Schöpfung verweist: Die mise en abyme problematisiert feste Grenzziehungen und schafft, so scheint es, absolute Dunkelheit. Doch gerade dadurch eröffnet sich dem Text die Möglichkeit, (wie der Tiefseefisch) sein eigenes Licht bzw. seine eigene Deutung zu produzieren. Eben diese autonome Kraft abyssaler Texte deutet Gide als zweite Grundfunktion werkinterner Spiegelungen an: Sie erhelle die › Gesamtproportionen des Ganzen ‹ nicht nur, sondern › etabliere ‹ sie bezeichnenderweise › am sichersten ‹ . Als Synonyme für »établir« gelten die Verben »fonder«, »instaurer«, »instituer«, »organiser« und »constituer«. 167 Gide legt also nahe, dass das transponierte sujet même die Gesamtkonstruktion (»toutes les proportions de l ’ ensemble«) nicht nur erhelle, sondern gleichsam › begründe ‹ , › organisiere ‹ oder › konstituiere ‹ . 168 Werke mit mise en abyme setzen die Hauptkonstituenten eines literarischen Werkes - Autor, Text und Rezipient - zueinander ins Verhältnis und loten insofern › die Gesamtproportionen des Ganzen ‹ aus: Ein Kunstwerk wird nicht einfach als fertiges Produkt, sondern als in steter Prozesshaftigkeit befindlich dargeboten, es wird geschaffen, als Geschaffenes reflektiert und rezipiert. Darüber hinaus evoziert Gides Formulierung - das Werk richte durch die Transposition des sujet même die eigenen Gesamtproportionen ein - eine selbstgenerative Dynamik. Die abyssale Spiegelung ist in dieser Lesart der Motor des Gesamtwerkes und der abyme jener Ort, von dem aus sich das Werk selbst generiert. Eben dieses Phänomen ist vielen selbstreferentiellen Texten zu eigen, scheinen sie sich doch häufig im Sichtbarmachen und Potenzieren ihrer Fiktion - autopoietischen Systemen gleich - eigenmächtig zu erzeugen und fortzuentwickeln. Dabei sind Fragen wie › Wer/ Was erschafft wen/ was? ‹ und, damit einhergehend, › Welcher Teil ist realer 167 Le Grand Robert, 239 f. 168 Vor diesem Hintergrund ist es nicht ganz zutreffend, wenn Goebel postuliert, dass die Verdoppelung Gide zufolge »im Werk selbst dessen Sinn erhellt und seine Struktur deutlich macht« (G OEBEL , »Funktionen des › Buches im Buche ‹ im › Nouveau Roman ‹ «, 34; m. H.). 44 und welcher fiktiver? ‹ häufig nicht mehr zu beantworten. In seiner autopoietischen Kraft scheint sich das Werk der autoritativen Instanz entledigt zu haben und folglich unentwegt und selbstreflexiv um die eigene Schöpfung zu kreisen. 169 Zum Sinnbild dieses Prozesses sind Eschers Zeichnende Hände geworden. Abb. 1: M AURITS C ORNELIUS E SCHER , Zeichnende Hände (1948). © 2014 The M.C. Escher Company-The Netherlands. All rights reserved. In Hinblick auf Gides eigene Korrelation von Malerei und Dichtung zur Erläuterung der mise en abyme sowie wichtiger Parallelen zwischen bisherigen Beobachtungen und der Dynamik in Eschers Bild lässt sich an dieser › Skizze ‹ 169 Selbstgenerative Strukturen werfen grundsätzlich die Frage auf, ob ein Werk überhaupt noch einen Autor - einen Vater oder Erzeuger - braucht, der es formt und gestaltet, oder ob es sich selbst organisieren kann. Gides Les Faux-Monnayeurs gestaltet beispielsweise ein sehr elaboriertes Motivgeflecht, in dem die Idee eines autoritären Vaters auf verschiedene Arten dekonstruiert wird. Väter repräsentieren staatliche oder kirchliche Autoritäten (Profitendieu und Molinier bzw. Védel), stehen aber zugleich in einem Konfliktverhältnis zu Staat und Kirche (Verschleierung des jugendlichen Falschgeldbetriebes, Leitmotiv des vertuschten Ehebruchs, usf.). Des Weiteren erweist sich der Vater bei näherem Hinsehen selbst als › Falschgeld ‹ : Adoptivvater (Profitendieu), › Jammergestalt ‹ (Védel, la Perouse, Aza ї s) sterbend (der alte Passavant) oder schlichtweg inexistent (im Fall von Boris). Die nach griechischem Ephebentum gezeichnete geistige Vaterschaft, die durch Passavant negativ konnotiert ist, erfährt durch Edouard zwar eine Aufwertung, bleibt aber angesichts seiner Verantwortungslosigkeit problematisch (besonders durch den Mord bzw. Selbstmord des verlassenen Boris). Die Voraussetzung für Bernards Entfaltung ist nun gerade das fast feierliche Bekenntnis zu seiner Elternlosigkeit. Dieses Bekenntnis geht mit einem kritischen Hinterfragen staatlicher und kirchlicher Autoritäten einher und wirft die dringende Frage nach Orientierungsmustern und Eigenverantwortung auf. Vgl. zu Gides Konzeption des › Bastards ‹ : F AGLEY , »Gide ’ s Bastards and Nomadic Masculinity«. 45 ein Zwischenfazit ziehen. Das Bild im Bild - das Blatt Papier ist vollständig mitgezeichnet - scheint sich selbst zu malen, genauso wie ein Text mit mise en abyme sich selbst zu schreiben scheint. Gide spricht als Grundlage der mise en abyme von einem in ein Kunstwerk transponierten sujet même desselben Werkes, wodurch dieses Werk nicht nur erhellt, sondern die Gesamtproportionen des Ganzen erst eingerichtet würden. Die Ambivalenz des sujet même tritt auch in Eschers Bild deutlich zu Tage: Das ins Werk transponierte sujet manifestiert sich zum einen als Spiegel des malenden Subjekts und zum anderen als gemaltes Thema künstlerischer Schöpfungsprozesse. Gerade da das Werk vorgibt, sich fernab autoritativer Determinanten selbst zu produzieren, verweist es auf seinen Schöpfer. Dessen reale Tat - mit seiner Hand eine Hand zu zeichnen - wird zum sujet même des Werkes. Subjekt und sujet deuten in einer paradoxen Spannung stets auf sich selbst und auf einander. Dabei wird ein anderer der bereits angesprochenen Aspekte sichtbar - das Verschwimmen der Illusionsebenen, die sich einer verbindlichen Differenzierung von außen entziehen. Eine Hand zeichnet eine Hand zeichnet eine Hand zeichnet eine Hand . . . Allerdings ist dies nicht ganz richtig: Die Hände sind bereits gezeichnet bzw. sie haben sich bereits gezeichnet und setzen nunmehr, so scheint es zumindest, letzte Striche am Hemdsärmel. Das Werk ist also fertig und gleichzeitig niemals fertig bzw. es inszeniert sich als fortwährend fast fertig. Das Ineinander-Übergehen der Illusionsebenen zeigt sich besonders daran, dass die zeichnenden Hände bereits drei-, die Hemdsärmel aber noch zweidimensional sind. Zeichnendes und Gezeichnetes gehen unmittelbar ineinander über. Im Zuge dessen verkehrt sich aber auch die Perspektive: Sind die Hände nun fast fertig oder fangen sie gerade erst zu zeichnen an? In der selbstreferentiellen Sichtbarmachung der eigenen Kreation arrangiert das Kunstwerk die Proportionen des Ganzen. Während sich die Wechselwirkungen zwischen Produzent und Werk deutlich zeigen, ist die Perspektive auf den Rezipienten weniger offensichtlich, aber dennoch vorhanden. Diesbezüglich ist die Gesamtkonstruktion des Bildes von Relevanz: Das Bild im Bild ist auffällig verortet: Obgleich es sich noch im Prozess der eigenen Schöpfung befindet, liegt das Papier weder auf einem Tisch noch steht es in einer Staffelei, sondern hängt, wie die vier Reißzwecke dokumentieren, konzeptionell bereits an einer Wand. Dies unterstreicht einerseits die offensive Loslösung von einem außerbildlichen Schöpfer und andererseits den Einbezug des Betrachters. Ein Bild, das an einer Wand hängt, so die Konvention, will betrachtet werden. Nun kommt hinzu, dass sich das Bild im Bild nicht parallel, sondern schief zum Gesamtbild verhält: Es ist etwas gegen den Urzeigersinn gedreht. Dieser Wider-Sinn zwischen Bild im Bild bzw. Teil en abyme und Gesamtbild ist abyssalen Werken 46 grundsätzlich zu eigen und wird noch ausführlich zu betrachten sein. Denn er ist insbesondere für den Rezeptionsprozess von Relevanz, wirkt die Drehung des Bildes en abyme doch auch direkt auf den Rezipienten. Es scheint, als würde sich das Bild im Schwung der selbstgenerativen Bewegung seiner zeichnenden Hände mitdrehen, um sich selbst herum und damit, im übertragenen Sinne, aus der Hand des Rezipienten bzw. aus seiner gewöhnlichen Perspektive heraus. Um das Bild im Bild gerade zu sehen, muss der Betrachter den Kopf nach links neigen. Dadurch aber verändert sich sein Blick auf das Gesamtbild. 3.2 Spiegel in der Malerei. Van Eyck, Memling, Massys und Velázquez Die Kraft konvexer Spiegel Inwiefern › erhellen ‹ die von Gide assoziierten gemalten Spiegel also das Kunstwerk und richten die › Gesamtproportionen des Ganzen ‹ ein? 170 Zur Verdeutlichung seiner ersten Thesen zieht Gide zunächst drei Beispiele aus der Malerei heran, die er durch das zweifach gesetzte Adverb ainsi direkt mit dem zuvor besprochenen sujet même korreliert: Rien ne l ’ éclaire mieux et n ’ établit plus sûrement toutes les proportions de l ’ ensemble. Ainsi, dans tels tableaux de Memling ou de Quentin Metsys, un petit miroir convexe et sombre reflète, à son tour, l ’ intérieur de la pièce où se joue la scène peinte. Ainsi, dans le tableau des Méñines [sic] de Vélasquez (mais un peu différemment). Gide spricht von keinem gewöhnlichen, sondern dezidiert von einem »miroir convexe«. Insbesondere in der Malerei der frühen Renaissance finden sich neben den von Gide erwähnten eine Reihe weiterer Gemälde, die den konvexen Spiegel darstellen. 171 Die Geschichte dieses Kunstgriffes beginnt 170 Bisher sind die von Gide genannten Bilder im Kontext der mise en abyme nur sporadisch oder gar nicht besprochen worden. Die folgende Untersuchung vollzieht sich vergleichsweise ausführlich, da sich in der Auseinandersetzung mit den Bildern wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme gewinnen lassen. 171 Zu nennen wären beispielsweise: Robert Campins Heinrich von Werl und Johannes der Täufer (1438), Petrus Christus ’ St. Eligius (1449), Jacopo Tintorettos Vulkan überrascht Venus und Mars (um 1555) oder Parmigianinos Selbstbildnis im Konvexspiegel (um 1524). Vgl. zu einer ausführlichen Darstellung und Besprechung von Gemälden mit Spiegeln: A SEMISSEN / S CHWEIKHART , Malerei als Thema der Malerei; H ART N IBBRIG , Spiegelschrift; S TOICHI ŢĂ , Das selbstbewusste Bild. 47 mit dem flämischen Maler Jan van Eyck. 172 Sein Arnolfini-Doppelbildnis (1434) exponiert an zentraler Stelle einen nach außen gewölbten Spiegel. Auch Hans Memlings Gemälde Maria mit dem Kind (um 1485) und Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove (1487) sowie Quentin Massys ’ Der Geldwechsler und seine Frau (1514) inszenieren einen konvexen Spiegel. Plane Glasspiegel waren aufgrund ihrer höchst aufwendigen und zumeist misslingenden Herstellung zu jener Zeit höchstens in Fürstenhäusern vorzufinden. 173 Diego Velázquez ’ Las Meninas (1656) ist das einzige der von Gide erwähnten Gemälde, dessen gemalter Spiegel nicht mehr konvex ist. Die Herstellung planer Spiegel war mittlerweile weniger aufwendig. 174 Der gemalte Spiegel sieht üblicherweise nach innen, in das Bild hinein, und wiederholt dessen Wirklichkeit, allerdings partiell, fokussiert, verdichtet, verkleinert, und spiegelverkehrt. Dabei bewirkt die Konvexität zudem eine Erweiterung der Perspektive, weshalb die gewölbten Spiegel auch den Beinamen › Hexe ‹ erhielten. 175 Sie erzeugen den Eindruck »of tremendous depth in space«. 176 Neben der Perspektiverweiterung und der potenzierten › Werktiefe ‹ ist - zum Vergleich gemalter Spiegel und literarischer mise en abyme - die Ähnlichkeit eines konvexen Spiegels mit einem Auge bedeutsam. Beide sind rund, nach außen gewölbt und spiegeln das Gegenüber wider. Wenn also ein Bild einen konvexen Spiegel inszeniert, lässt sich ein ganz besonderer Effekt erzielen: › Ich betrachte das Bild, und das Bild betrachtet mich. ‹ In diesem Blickkontakt wird der Betrachter selbst zum Betrachteten und insofern zum Bild. 177 Die Provokation des Rezipienten, die selbstreflexive 172 Vgl. Z UCKER , »Reflections on Reflections«, 241. Dieter Beaujean stellt in seiner Studie Bilder in Bildern den selbstreferentiellen bzw. intermedialen Gehalt der niederländischen Malerei nach van Eyck im 16. und besonders im 17. Jahrhundert heraus. 173 Vgl. H AGEN / H AGEN , Meisterwerke im Detail, Bd. I, 74. 174 Vgl. zur Geschichte der Spiegelproduktion insbesondere: K ALAS , »The Technology of Reflection«. 175 Vgl. H AGEN / H AGEN , Meisterwerke europäischer Kunst als Dokumente ihrer Zeit erklärt, 41. 176 C ARLETON , »On the Mathematics«, 688. 177 Das Hineingezogen-Werden in ein Bild bespricht Jacques Lacan anhand der Anamorphose in Hans Holbeins Die Gesandten (1533): »C ’ est, en somme, une façon manifeste, sans doute exceptionnelle et due à je ne sais quel moment de réflexion du peintre, de nous montrer que, en tant que sujet, nous sommes dans le tableau littéralement appelés, et ici représentés comme pris« (L ACAN , »La ligne et la lumière«, in: ders., Le Séminaire, 86). Anders als Holbeins (als Anamorphose) gestalteter Totenkopf zieht ein gemalter Spiegel den Rezipienten allerdings auf subtilere Weise in das Bild hinein, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Die Anamorphose bricht, anders als der Spiegel, offensichtlich aus dem Gesamtgemälde heraus und lädt den Rezipienten vergleichsweise offensiv, fast wie ein Rätsel, zu ihrer Entschlüsselung ein. Doch wie stehen, bildinhärent gedacht, die Gesandten zum schräg aufgerichteten Gebilde zu ihren Füßen? Es wirkt, anders als ein Spiegel, im Bildgefüge wie ein Fremdkörper. 48 Abb. 2: J AN VAN E YCK , Das Arnolfini-Doppelbildnis (1434). 49 Abb. 3: J AN VAN E YCK , Das Arnolfini-Doppelbildnis, Detail. 50 Werke ohnehin auf intensive Weise betreiben, wird durch › den Blick ‹ des gemalten Spiegels besonders akzentuiert. So lässt sich der konvexe Spiegel als zweifach perspektiverweiternd verstehen: zum einen nach innen, indem er Elemente zeigt, die ohne die Konvexität des Spiegels nicht sichtbar wären; und zum anderen nach außen, indem er sowohl den bildexternen Rezipienten als auch den Maler direkt › anblickt ‹ und in das Bild hineinzieht. Diese doppelte Perspektiverweiterung zeigt sich erstmalig in van Eycks Arnolfini-Doppelbildnis. 178 Arnolfini-Doppelbildnis In van Eycks Arnolfini-Doppelbildnis (Abb. 2), einem »Markstein in der Entwicklung der Eyckischen Porträtkunst«, 179 verschränken sich die beiden skizzierten Blickrichtungen des › Spiegelauges ‹ - nach außen zum Rezipienten und nach innen in das Gemälde - auf tiefgründige Weise ineinander (Abb. 3). Das Gemälde zeigt, so vermuten seit einem einschlägigen Beitrag Erwin Panofskys viele Betrachter, 180 die private und nicht kirchliche Hochzeit von Giovanni Arnolfini, Mitglied einer reichen Kaufmann- und Bankiersfamilie aus Lucca, und Giovanna Cenami. 181 Panofskys These wurde aus verschiedenen Perspektiven problematisiert, wobei der Spiegel, der zentral an der hinteren Wand des Schlafzimmers hängt, eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Die Frau legt ihre rechte Hand (entgegen des Rituals und anders als in anderen Darstellungen) in die linke des Mannes. Aus diesem Grund wurde vielfach angenommen, dass es sich um eine nicht standesgemäße, eine so genannte morganatische Eheschließung › zur linken Hand ‹ handelt. 182 Der 178 Das Arnolfini-Doppelbildnis wird zwar nicht explizit von Gide genannt, soll aber dennoch in die Überlegungen miteinbezogen werden, da van Eyck alle drei der von Gide angeführten Maler beeinflusste (vgl. G RAHAM , Inventing van Eyck, 31). Das Arnolfini- Doppelbildnis hing im spanischen Hof und konnte dort, außerhalb der flämischen Kreise, auch auf Velázquez, den Kurator der königlichen Kunstsammlung, wirken (vgl. S TOICHI ŢĂ , »Imago Regis«, 173f.). 179 P ÄCHT / S CHMIDT -D ENGLER , Van Eyck, 105. 180 Vgl. P ANOFSKY , »Jan Van Eycks Arnolfini Portrait«. 181 Vgl. zu den Familien und ihren Tätigkeiten: C ARROLL , »In the Name of God and Profit« sowie Y IU , Jan van Eyck, v. a. 79 - 92. 182 In einer solchen morganatischen Hochzeit blieb einer Frau, anders als bei einer › ordnungsgemäßen ‹ Heirat, der Aufstieg in die Familie ihres Mannes verwehrt, gemeinsame Kinder waren weder erbnoch nachfolgeberechtigt. Würde der ranghöhere Partner seinem standesgemäß unterlegenden Anzutrauenden in einer dextrarum iunctio die rechte Hand reichen, würde er auf dessen niederen Stand hinabsinken. Zeugen der Trauung waren nicht von Nöten (vgl. Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3., 675 f.). Peter Schabacker vertrat die These einer morganatischen 51 Spiegel, der hinten an der Schlafzimmerwand hängt, wiederholt die Geste des Brautpaares. Doch durch die Spiegelverkehrung reicht Giovanni seiner Frau nicht die linke, sondern doch die rechte und damit auch die rechtmäßige Hand. 183 Die Fülle an (in der Forschung diskutierten) Erklärungen, warum der Bräutigam seiner Braut die linke Hand reichen könnte, wird bildintern konterkariert: Im › heiligen ‹ Spiegel - umrahmt von Stationen der Passion Christi - verliert die Trauung ihren vermeintlich illegitimen Charakter. 184 Diese › verkehrende ‹ Eigenschaft des gemalten Spiegels ist auch der literarischen mise en abyme zu eigen. Sie bildet ein Spannungsverhältnis zum Haupttext aus, das sie bis zur »révolte« 185 gegen ihn treiben kann: Jede mise en abyme, so Ricardou, »contredit le fonctionnement global du texte qui le contient.« 186 Sie erweitert, wie sich noch deutlicher zeigen wird, die Perspektive auf das Gesamtwerk, akzentuiert es auf besondere Weise oder sprengt voreingenommene Perspektiven gänzlich auf, wie der gemalte Hochzeit erstmalig (vgl. S CHABACKER , »De Matrimonio ad Morganaticam Contracto«). Jansen zufolge sei die »symbolische Aussagekraft der Linkshändigkeit [. . .] so groß, daß ohne weiteres jede andere Möglichkeit als der morganatische Status der Ehe ausgeschlossen werden« könne (J ANSEN , Similitudo, 151). Da Giovanna Cenami ihrem Mann standesgemäß aber nicht unterlegen war, ist die These einer morganatischen Hochzeit zweifelhaft. Andererseits findet sich aber keine konsensfähige Erklärung dafür, warum Giovanni seiner Frau die linke und nicht die rechte Hand reicht. Vgl. kritisch zur These einer morganatischen Hochzeit: C ARRIER , »Naturalism and Allegory in Flemish Painting«, 238. 183 Dabei ist auch zu bedenken, wie zentral die spiegelnde › Hexe ‹ positioniert, wie auffällig und reich sie verziert und umrahmt ist. So wirkt es, als würde der Blick des Betrachters durch das Brautpaar hindurch zum Spiegel gelenkt, der die mögliche Nicht-Rechtmäßigkeit der dargestellten Hochzeit dann umgehend konterkariert; und dies umso nachhaltiger, als der auffällige Rahmen nicht allein aus Zierrat besteht, sondern die Passion Christi darstellt (vgl. B EDAUX , »The Reality of Symbols«, 15). So verleiht der Spiegel der Zeremonie, die nicht von einem Priester durchgeführt wird, durch die vollständige Umrahmung des Brautpaares durch Jesus Christus doch eine religiöse Rechtfertigung. Vgl. zur religiösen Motivik des Spiegels: M ILLNER , Spiegelwelten, v. a. 24 - 27. 184 Jansen zufolge, der von einer Zwangshochzeit aufgrund einer Schwangerschaft der Braut ausgeht, sei das Bild eine Anspielung darauf, »wie sich der Maler die Zukunft der soeben geschlossenen Ehe« vorstelle, nämlich durchaus positiv (J ANSEN , Similitudo, 155 f.). 185 Laut Ricardou ist die mise en abyme ein »facteur de contestation« bzw. »la révolte structurelle d ’ un fragment du récit contre l ’ ensemble«. Der »totalitarisme narratif« werde durch die mise en abyme subvertiert (R ICARDOU , Problèmes du nouveau roman, 181). Vgl. zur attackierenden Kraft der mise en abyme auch: B AL , »Mise en abyme et iconicité«, 122; D ÍAZ A RENAS , Der Abbau der Fabel, v. a. 286 f.; H UTCHEON , Narcissistic Narrative, 55. Kapitel 4 dieser Arbeit wird die Thematik einer mise en abyme als Revolte gesondert in den Blick nehmen. 186 R ICARDOU , Le nouveau roman, 73. 52 Spiegel veranschaulicht: In der offenen Zimmertür, dem Brautpaar gegenüber, stehen zwei männliche Gestalten unbekannter Identität. Ohne den Spiegel würden sie unsichtbar bleiben. Der eine Mann könnte der anonyme Notar sein, der andere ein beliebiger Zeuge. Oberhalb des Spiegels heißt es in spätmittelalterlicher Urkunden-Kalligraphie: »Johannes de eyck fuit hic 1434«. Da diese Lokalisierung des Malers in Zeit und Raum kaum auf der Schlafzimmerwand der Verlobten geschrieben stand, eröffnet sie als Paratext neben den Ebenen der Hauptszenerie sowie des Spiegelbildes eine dritte: die des Gesamtgemäldes. Der innerbildliche Schriftzug markiert das Gemalte als materielles Bild und verleiht ihm damit einen stark selbstreferentiellen Zug. 187 Im Kontext abyssaler Spiegelungen ist es besonders interessant, dass sich die Signierung, wie bereits der Spiegel, nicht an einem beliebigen Ort, beispielsweise am Bildrand, sondern zentral positioniert auf der vertikalen Mittelachse des Bildes direkt oberhalb des Spiegels befindet. Auch bezüglich ihrer Breite scheint die Bildinschrift auf jene des Spiegels abgestimmt zu sein. Dabei ist auffällig, dass sich der Eigenname »eyck« direkt über den beiden nur im Spiegel sichtbaren Figuren befindet, sie also mit der Signatur des Malers korreliert. So ist eine mögliche Lesart des Zusammenspiels von Spiegel und Schrift, dass sich der Maler als Miniaturfigur zum gemalten Bestandteil seines Bildes macht. Er schreibt bzw. malt sich dem Bild nicht nur buchstäblich, sondern auch figurativ ein, jedoch nicht direkt in die Hauptszenerie, sondern lediglich als Bestandteil ihres Spiegelbildes. Ohne den Spiegel - dies gilt in vielen Fällen auch für Texte mit mise en abyme - bliebe der Künstler unsichtbar. Analog dazu, dass sich im Hauptgemälde der Spiegel zwischen Braut und Bräutigam schiebt, stehen im Spiegel nun die beiden rätselhaften Männer zwischen den Eheleuten. Der Hauptgegenstand des Bildes, das sujet même, wird also jeweils durch etwas Fremdes gestört: interessanterweise ebenfalls durch das sujet même, nun aber im Sinne von Subjekt des Schöpfers. So überdeutlich sich der Maler als »Johannes van eyck« über den Spiegel schreibt, so schemenhaft gestaltet er die mit dieser expliziten Überschrift korrelierten Figuren im Spiegel. Der Spiegel offenbart also kein Miniatur- Autoporträt des Malers, 188 sondern im Gegenteil, zwei vage Erscheinungen 187 Gleichzeitig wird der Schriftzug als damals üblicherweise noch nicht praktizierte Signierung des Bildes durch seinen Maler lesbar, wodurch sich das Gesamtgemälde als eine Art dokumentarisches Zeugnis der Eheschließung verstehen ließe. So wurde das Arnolfini-Doppelbildnis seit Panofskys Beitrag häufig als »pictoral wedding certificate« gedeutet (P ANOFSKY , »Jan Van Eycks Arnolfini Portrait«, 114). Van Eyck erkläre die Zeremonie mittels seiner Kunst für juristisch bindend (vgl. J ANSEN , Similitudo, 145). 188 Anders sieht dies: S CHWARZ , »The Mirror in Art«, 98. Auch Zucker vertritt die These eines Auto-Portraits, ohne sie näher zu erläutern: »One of these figures in a light blue garment is the painter himself« (Z UCKER , »Reflections on Reflections«, 240). 53 mit undeterminierten Physiognomien. Die Figuren lassen sich, nachdem man ihnen (über den Umweg der Bildinschrift) bis ins tiefste Innere des Gesamtgemäldes gefolgt ist, also nicht identifizieren. Vielmehr regen sie eine mehrfache Sinnstiftung an, in der die drei Hauptachsen - Bild, Maler und Betrachter bzw. Kunstwerk, Produktion und Rezeption - miteinander verbunden werden. Anders als etwa in Velázquez ’ Meninas wird die Figur aber nicht als Malender mit dem Pinsel in der Hand, sondern als bloßer Betrachter dargestellt. Die beiden schemenhaften Betrachter sehen eben das, was auch der äußere Rezipient sieht, und zwar genau aus dessen Perspektive: Wir (die außersowie die innerbildlichen Rezipienten) sehen eine Hochzeitszeremonie, in der Mitte einen Spiegel und darin verkleinerte Betrachter und damit uns selbst? Der Betrachter, so scheint es das Arnolfini-Doppelbildnis nahe zu legen, wird durch das Spiegel-Auge in das Spiegelbild hineingezogen und dort in Gestalt der Spiegelfiguren, die aufgrund ihrer Nicht-Individualisierung als Träger oder Rahmen immer wechselnder Identitäten fungieren können, mit einer geliehenen Körperlichkeit versehen. Der Maler und der implizite Betrachter, der Produzent und der Rezipient sind als fiktionalisierte Gestalten in die Dynamik des Gemäldes eingebunden. Dass die Szenerie, die der Rezipient erblickt und zu interpretieren versucht, sich ihm unentwegt entzieht - in einer ähnlichen Dynamik wie die (nicht) morganatische Hochzeit oder der (nicht) anwesende gemalte Maler - führt das Bild abermals in actu vor: Der außerbildliche Betrachter sieht das Brautpaar in ihrem privaten Schlafzimmer und zwischen ihnen, zu ihren Füßen einen Hund, Symbol der Treue und Ergebenheit. 189 Im Spiegelbild, das den Blick des Rezipienten auf das Brautpaar im Bild wiederholt, ist dieser Hund eigentümlicherweise nicht mehr zu erkennen. Der Platz auf dem Fußboden zwischen den Eheleuten bleibt leer. Der Hund wird denen, die das Bild zu verstehen glauben, untreu. 190 Motor dieser offenen Verweisstrukturen ist der Spiegel, der ein Eigenleben zu führen scheint: Ebenso wie er imstande ist, Unbekanntes hervorzuholen und ambivalent in Szene zu setzen, kann er im selben Atemzug Bekanntes verschwinden lassen. Diese Eigendynamik des Spiegels weist, wenngleich auf andere Weise, auch Memlings Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove auf. 189 Vgl. D EBIDOUR , Le bestiaire sculpté du Moyen Age en France, 97. 190 In diesem Kontext ist interessant, dass der Hund das einzige Wesen im Gemälde ist, das direkt aus dem Bild heraussieht. Der Blick des kleinen Terriers wirkt nicht nur aufmerksam, sondern seltsam menschlich. Es scheint, als würde er den Betrachter schelmisch, beinahe ironisch, anschauen. In der Forschung zu van Eycks Gemälde wird der Hund vornehmlich im Kontext ehelicher (Un-)Treue verhandelt. 54 Abb. 4: H ANS M EMLING , Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove (1487). Abb. 5: H ANS M EMLING , Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove, Detail. 55 Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove Im Fall des von Gide genannten Hans Memling wurde bisher (ausgehend von Dällenbach) angenommen, Gide rekurriere auf das Diptychon Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove. Dies ist durchaus möglich, es ist aber in die Überlegungen miteinzubeziehen, dass prinzipiell auch andere Gemälde in Frage kommen, 191 da Gide nur den Namen des Malers, aber nicht jenen des Gemäldes nennt. Memlings vergleichsweise unbekanntes Gemälde Maria mit dem Kind 192 inszeniert eine Spiegelung, die mit jener in Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove in mehrfacher Hinsicht kontrastiert. Beide Spiegel sind für das Verständnis der mise en abyme von Bedeutung. Das Diptychon Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove (1487) zeigt in seinem linken Flügel die Madonna mit dem Jesuskind sowie in seinem rechten den sie anbetenden Donator Maarten van Nieuwenhove im Profil (Abb. 4). 193 Der konvexe und an der Rückwand hängende Spiegel (Abb. 5) ist im Gesamtgemälde weit weniger deutlich zu erkennen als der Spiegel im Arnolfini-Doppelbildnis. Er reflektiert die Figuren wiederum von hinten. Dadurch werden die zentralen Elemente des Hauptbildes verdoppelt; gleichzeitig - ebenfalls wie in van Eycks Gemälde - erweitert die Konvexität die ursprüngliche Perspektive, wodurch sich der eigentliche Bildraum im Spiegel vergrößert darstellt. Memlings Spiegel scheint ebenfalls ein Eigenleben zu führen und dabei von besonderer Künstlichkeit zu sein. Zunächst ist auffällig, dass das Spiegelbild - anders als im Arnolfini-Doppelbildnis oder später im Geldwechsler - die typische Krümmung konvexer Spiegel vermissen lässt. Es scheint vielmehr eine (für die mittelalterliche Malerei nicht untypische) fiktive Krümmung zu beschreiben, welche die Jungfrau Maria auf besondere Weise in Szene setzt und dabei weniger den Proportionsgesetzen des Gesamtgemäldes verpflichtet ist. Diese Autonomie des Spiegels zeigt sich auch mit Blick auf die zweiflügelige Gesamtkonstruktion. Der Spiegel zieht die zwei Flügel des Diptychons über die Grenzen ihrer jeweiligen Rahmen in einem (Spiegel-)Bild zusammen und vollführt dadurch wiederum eine › Revolte ‹ gegen das Gesamtwerk. So ist es dem Donator zumindest im 191 So beispielsweise das Triptychon der Irdischen Eitelkeit und der Himmlischen Erlösung, das um 1485 entstand. Das mittlere Gemälde zeigt eine junge, nackte Frau, die ihre Nacktheit ungeniert in einem Handspiegel betrachtet. 192 Dieses Gemälde hing zunächst in Spanien, war aber auch in Paris, bis es 1913 nach Chicago verkauft wurde (vgl. C ORTI / F AGGIN , Das Gesamtwerk von Memling, 98). 193 Maarten van Nieuwenhove ist, als das Porträt entsteht, 23 Jahre alt und künftiger Bürgermeister von Brügge (vgl. G ELFAND , »Devotion, Imitation, and Social Aspirations«, 14). 56 Spiegelbild gestattet, der Madonna physisch nahe zu treten. 194 Die ergebene Distanz, die der Anbetende durch die Form des Diptychons zur Madonna wahrt, wird bildintern durch den unauffälligen, da dunklen Konvexspiegel konterkariert. Der Spiegel ermöglicht darüber hinaus einen erweiterten (und durch die Dunkelheit des Spiegels wie heimlich spähenden) Blick auf die Madonna: Als Porträtierte im Diptychon ist nur ihr Oberkörper zu sehen, durch den Spiegel wird sie, wenn auch von hinten und verdunkelt, in Gänze sichtbar. Das Spannungsverhältnis zwischen dem gemalten Spiegel und der Gesamtkonstruktion des Diptychons verstärkt sich insofern, als die Madonna und der Donator im Spiegelbild gewissermaßen in einem Bild festgehalten werden, wohingegen Grundkonstituente eines Diptychons gerade die Mobilität der Einzelteile ist. Dies hat zur Folge, dass das Spiegelbild bei einer veränderten Stellung der Flügel zwangsläufig als fehlerhaft zu entlarven ist; oder anders herum: Die Grundspannung zwischen der Starrheit des bildinternen Spiegelbildes und der Verstellbarkeit der bildexternen Flügel kann auch so verstanden werden, dass nicht das Spiegelbild, sondern die Stellung der Flügel als fehlerhaft zu gelten hat, sobald sie nicht nach Maßgabe des Spiegels zueinander angeordnet werden. 195 Spiegel und Gesamtwerk produzieren in ihrer Interaktion, und dies gilt auch häufig für Texte mit mise en abyme, potenziell Fehler, die eine mehrfache Sinnstiftung anregen. Wenn nun in die Reflexionen miteinbezogen wird, dass sich das Spiegelbild in Memlings Gemälde nicht aufgrund einer › realen ‹ und insofern berechenbaren, sondern einer fiktiven Krümmung ohnehin als irreführend erweist, tritt die Wirkungsmacht und Eigendynamik des Spiegels besonders zu Tage. Das Verhältnis von Gesamtgemälde und Spiegelbild erweist sich bei einem genaueren Blick in den Spiegel als noch ambivalenter. Die einzigen beiden hell gestalteten Punkte befinden sich hinter der Madonna und dem Donator. Es wirkt, als befänden sie sich, wie nur der Spiegel offenbaren kann, jeweils vor einem Fenster. Was dieser Lesart aber wiederum entgegensteht, ist die Tatsache, dass die wie Fenster wirkenden Rechtecke keineswegs der Form 194 Verschiedene Motive, beispielsweise der rote Schal der Madonna oder insgesamt das Interieur, erstrecken sich auch ohne den Spiegel über die Grenzen des Diptychons hinweg von einem Flügelbild in das andere; auch dadurch wird die Annäherung des Donators an die Madonna motivlich verstärkt. 195 So weist Filedt Kok beispielsweise darauf hin, dass die Flügel in einer Ausstellung in Brügge flach an der Wand hingen, obwohl der Spiegel eine 90-Grad-Stellung zueinander vorgibt (vgl. F ILEDT K OK , »Memling ’ s Portraits«, 573). 57 der anderen, im Hauptgemälde gestalteten Fenster - große Rechtecke mit Sprossen in Form eines Kreuzes - entsprechen. Vielmehr sind die vermeintlichen Fenster im Spiegel sprossenlos und eher quadratisch. Damit stimmen sie zwar nicht mit der Form der gemalten Fenster überein, wohl aber mit jener eines aufgeklappten Diptychons. Dies ist nun, in Anlehnung an den Beinamen konvexer Spiegel, endgültig › Hexenwerk ‹ : Zunächst setzt der Spiegel die materiellen Grenzmarkierungen des Diptychons außer Kraft, indem er die Porträtierten als in einem gemeinsamen Raum befindlich darstellt. Gleichzeitig aber wird das Diptychon formal in das Spiegelbild zurückgeholt und dabei wie ein Rahmen hinter die Porträtierten gesetzt: Das Gesamtwerk wird durch den Spiegel also aufgebrochen und gleichsam bestätigt. Dabei bewirkt der Spiegel, wie häufig auch in abyssalen Werken zu beobachten, dass die beiden Hauptillusionsebenen (des Gesamtgemäldes sowie des Spiegelbildes) ineinander verschwimmen. Darüber hinaus scheint er den Blick des Betrachters nicht einfach nur wie im Gemälde van Eycks aus einem Fenster ins Freie zu lenken, sondern eigenartigerweise lässt er den Betrachter glauben, er würde - den gemalten Figuren gleich - aus dem Diptychon selbst hinaus- und gleichzeitig wieder auf die Gesamtkonstruktion schauen. Indem das Spiegelbild weit mehr als bloße Reproduktion von bereits Gesehenem bedeutet, rekurriert das Gesamtwerk, welches das Spiegelbild wirksam in Szene setzt, Abb. 6: H ANS M EMLING , Maria mit dem Kind und Bildnis eines Mannes mit dem Vornamen Anton(ius) (1485). 58 auf das Verhältnis von Urbild und Abbild und insofern auf jenes von Realität und Fiktion. 196 Es wird der Eindruck erweckt, als wollten die Gemälde (vergleichbar mit abyssalen Texten) das Bewusstsein des Rezipienten dafür schärfen, dass Kunst im Miniaturbild des gemalten Spiegels oder des Werkes en abyme mitnichten Abbildung von Realität, sondern schöpferische Kreation nach eigenen Gesetzen bedeutet. Dieser Effekt vollzieht sich in Memlings Abb. 7: H ANS M EMLING , Maria mit dem Kind. 196 Vgl. zu dieser elementaren Funktion der mise en abyme auch: J EFFERSON , The Nouveau Roman, 197: »As a representation of representation it [the mise en abyme] inevitably raises questions concerning representation«. 59 zweitem, ungefähr zeitgleich entstandenen, Gemälde Maria mit dem Kind auf wieder andere Weise. Maria mit dem Kind Wieder reicht eine in rot und blau gekleidete Madonna dem nackten Jesuskind auf ihrem Schoß einen Apfel (Abb. 7), und wieder hängt hinter ihr, hier nicht an der Hintersondern an der linken Seitenwand, ein konvexer Spiegel (Abb. 8). 197 In diesem Spiegel wird, anders als in den beiden zuvor besprochenen Gemälden van Eycks und Memlings, nicht die Hauptszenerie, sondern ein eigener Gehalt präsentiert: zwei Kinder. Dadurch führt der Spiegel, wie bei van Eyck, zwei allein aus der Bildlogik heraus nicht verstehbare Fremde in die dargestellte Szenerie ein. Doch anders als im Arnolfini-Doppelbildnis oder in der Madonna mit dem Donator bleiben Hauptbild und Spiegelbild thematisch unverbunden nebeneinander (bzw. ineinander) stehen, da kein Bildelement die Präsenz der Kinder erklärt. Wo stehen die Kinder im (durch den Spiegel erweiterten) Bildraum? Wer sind sie? Warum werden sie nur im Spiegel sichtbar? Julius Held betrachtete das Madonnen-Gemälde erstmalig als linken Flügel eines Diptychons, als dessen rechte Hälfte er das nahezu unbekannte Gemälde eines gleichsam unbekannten Donators identifizierte (Abb. 6). 198 Aufgrund dieser Vermutung konnten die beiden Hälften des Diptychons schließlich wieder zusammengesetzt werden. 199 Erstaunlich ist allerdings, dass auch das Donator-Gemälde die Präsenz der beiden Jungen nicht erklärt: Es zeigt nur den die Madonna anbetenden Donator, aber keine Kinder. Laut des Spiegels müssten die Kinder vor dem Fenster stehen, tun dies aber nicht. Dafür hat auch Held keine Erklärung. Er kann seine These zweier als Abb. 8: H ANS M EMLING , Maria mit dem Kind, Detail. 197 Betrachtet man die beiden Madonnen-Bilder nebeneinander, scheint es fast, als würden sie sich - in der Haltung der Hände und des Jesus-Kindes - sogar ineinander spiegeln. 198 Vgl. H ELD , »A Diptych by Memling«, 176 und 179. Held führte als Anhaltspunkte für die Zusammengehörigkeit der beiden Flügel besonders das Interieur sowie die Landschaft an. 199 Vgl. C ORTI / F AGGIN , Das Gesamtwerk von Memling, 98. 60 Diptychon konzipierter Gemälde nur aufrecht erhalten, indem er davon abrät, das Spiegelbild »too literary« zu interpretieren. 200 Dieser › eher metaphorische ‹ und insofern › übertragene ‹ Gehalt des Spiegelbilds ist auch ein grundlegender Zug der mise en abyme. Das Spiegelbild ist als Konstrukt nicht lediglich auf den Gebrauchsgegenstand › Spiegel ‹ und insofern auf ein Moment der reinen Wiederholung zu reduzieren; es ist vielmehr selbst ein Abb. 9: Q UENTIN M ASSYS , Der Geldwechsler und seine Frau (1514). 200 H ELD , »A Diptych by Memling«, 179. Held nimmt an, bei den Jungen handle es sich um die Kinder des Donators, die zwar an der Szenerie teilhaben sollen, aber gewissermaßen ins Spiegelbild verbannt würden, um die feierliche Geste ihres Vaters nicht zu stören. 61 Bild bzw. ein Werk. Als scheinbar selbständiger Teil im Ganzen gibt es nicht nur eine (potenziell das Grundverständnis ändernde) Perspektive auf das Gesamtgemälde vor, sondern tritt häufig in ein Konkurrenzverhältnis zu seiner gemalten Umgebung, indem es einen eigenen Bildinhalt zur Schau trägt, der jenen des Hauptgemäldes als unzureichend und beschränkt erscheinen lässt. Durch den Blick in den dezidiert fiktiv konstruierten Spiegel verändert sich das Verständnis des Gesamtgemäldes bzw. der Zugang zu ihm also auf nachhaltige Weise. Der Spiegel hält dazu an, das Kunstwerk durch verschiedene Interpretationen zu bereichern. In diesem Kontext ist eine weitere Parallele mit den bereits besprochenen Bildern von Bedeutung: Der Spiegel inszeniert in auffälliger Weise ein Fenster. Dieses Fenster, das in der Hauptszenerie nur partiell gezeigt wird, erscheint im Spiegel in toto. So sieht der Betrachter abermals zunächst auf das Bild und, durch den Spiegel geleitet, wieder aus dem Bild heraus. Dieses Wechselspiel zwischen Hineinziehen und Herausleiten ist im Gemälde Der Geldwechsler und seine Frau noch auffälliger konstruiert. Abb. 10: Q UENTIN M ASSYS , Der Geldwechsler und seine Frau, Detail. Der Geldwechsler und seine Frau Anders als bei van Eyck, Memling und Velázquez hängt der Spiegel in Massys Der Geldwechsler und seine Frau (1514) nicht mittig an einer Zimmerwand, er steht aber nicht minder zentriert am unteren Bildrand (Abb. 9 und 10). Er ist 62 nicht nur konvex, sondern darüber hinaus schief gestellt und so ausgerichtet, dass er kein einziges Element des Hauptbildes als Spiegelbild wiederholt. In Memlings Maria mit dem Kind zeigt sich zumindest das Fenster noch in partieller Wiederholung, doch in Massys ’ Gemälde wird die Hauptperspektive auf den Geldwechsler und seine Frau und damit Gides Definition eines reflektierten sujet même nun gänzlich gesprengt. Der Spiegel inszeniert einen Mann mit roter Kopfbedeckung, der in einem Buch liest, sowie ein auffallend großes Fenster, das ohne den Spiegel nur durch einen Lichtstrahl sowie den Reflex in einer Phiole erahnt werden könnte. Wer ist der Mann? Ein wartender Kunde? Diese Erklärungsvariante ist in der Logik der Geldwechselszenerie die wahrscheinlichste, mutet aber aufgrund der mangelnden Interaktion der Figuren und ihrer jeweiligen (nicht aufeinander bezogenen, müßig und gedankenverloren wirkenden) Tätigkeiten seltsam an. 201 Der Spiegel verbindet also zwei auf den ersten Blick vollkommen unverbundene Wirklichkeitsbereiche miteinander und hält den Rezipienten noch stärker als in den vorigen Bildern dazu an, sie spekulativ zueinander in Verbindung zu setzen und dieser Verbindung Sinn zu verleihen. Jenseits ihrer oberflächlichen Unverbundenheit werden die Figuren, wie auch in Texten mit mehreren Illusionsebenen üblich, jedoch eng miteinander verzahnt: Die Frau des Geldwechslers und der Mann im Spiegel widmen sich einem Buch, 202 beide sind rot gekleidet, beide tragen eine Kopfbedeckung in ähnlicher Form und halten das Gesicht in etwa gleicher Stellung. Das aufgeschlagene Gebetsbuch der Frau legt wiederum ein Bild offen, das in spiegelnde Wechselwirkung zu Haupt- und Spiegelbild tritt, wodurch sich der abyssale Charakter des Bildes um eine weitere Ebene auffächert: Hauptbild, Spiegelbild, gedrucktes Bild. Die abgebildete Madonna ist ihrerseits rot 201 So wirkt der rot gekleidete Mann im Spiegel insofern gedankenverloren, als befände er sich nicht in einer öffentlichen Wechselstube, sondern allein an einem abgeschiedenen Ort. Hinzu kommt, dass er den Blick nicht auf das geldwechselnde Ehepaar, sondern auf das Buch richtet, was den Eindruck ihrer gegenseitigen Unverbundenheit verstärkt. Würde ein Kunde, gerade wenn es um einen Geldwechsel geht, nicht Aufmerksamkeit signalisieren? Böte ihm ein Geldwechsel außerdem so viel Zeit, sich abseits in einem Buch zu verlieren? Darüber hinaus scheinen auch der Geldwechsler und seine Frau den Mann in ihrer Stube nicht zu beachten, sie erwecken weder den Anschein, in Gesellschaft eines Kunden noch seinetwegen in tätiger Eile zu sein. 202 Dieses Motiv, ein Buch, das nur im Spiegel zu erkennen ist, aber deutlich mit einem Buch des Gesamtgemäldes in Beziehung steht, inszeniert auch Memlings Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove. Dort befindet es sich zur Linken der Madonna auf einem Schemel. Es handelt sich vermutlich um die Bibel, was einen weiteren Spiegeleffekt mit der Bibel des Donators erzeugen würde. 63 gekleidet, trägt eine Kopfbedeckung und reflektiert in Gänze die Körper- und Kopfhaltung der Frau des Geldwechslers. Das Spiegelbild korrespondiert also einer bereits innerbildlich bestehenden Motivspiegelung. Wenn man Gides Postulat eines gespiegelten sujet même ernst nimmt, verändert der Spiegel die Perspektive auf das Gesamtgemälde: Der Schwerpunkt verlagert sich vom geldwechselnden Mann - über den rotgekleideten Lesenden im Abb. 11: D IEGO V ELÁZQUEZ , Las Meninas (1656). 64 Spiegel und zurück - auf die lesende Frau des Geldwechslers und damit von sündhafter Versuchung (des Geldes) auf die Madonna als den Inbegriff der Reinheit. 203 Abb. 12: D IEGO V ELÁZQUEZ , Las Meninas, Detail. Neben der motivlichen Spiegelung zwischen den verschiedenen Ebenen, die sowohl dem gemalten Spiegel als auch der literarischen mise en abyme zu eigen sind, deutet das Innen gleichzeitig auf das Außen, denn abermals zeigt sich im Spiegel ein Fenster. Dieses Fenster bzw. der Blick aus demselben dominiert, wie bereits in Memlings Maria mit dem Kind, das Spiegelbild und reduziert den Anteil des lesenden Mannes am Gesamtspiegelbild auf eine kleine Ecke. Der Mann sitzt am unteren rechten Rand des Fensters und legt seinen rechten Arm auf das Fenstersims, eine Geste, die den Blick auf das Außen und insofern das auf Aus-dem-Bild-hinaus stärker als in allen anderen Bildern akzentuiert: Durch seine besondere Verortung - ausschließlich im Spiegel und sehr nah am Fenster - scheint der rotbetuchte Mann direkt auf der Schwelle zwischen Bild-Innen und Bild-Außen, zwischen Hauptszenerie und externem Betrachter zu stehen. In dieser Deutung wird die Tätigkeit des gespiegelten Mannes, die in seiner bildinternen Funktion als potenzieller 203 Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass die Frau des Geldwechslers gerade nicht auf die Madonna in ihrem Gebetsbuch, sondern - von der Madonna abgelenkt - auf das Geld ihres Mannes blickt und insofern möglicherweise als Verführte erscheint. So wie sie stellvertretend für den potenziellen Kunden auf den Geldwechsel blickt, blickt der potenzielle Kunde stellvertretend für sie in das Buch. Diese offensichtlichen Parallelitäten und Bezüge verstärken die Spiegelbeziehung zwischen der Frau der Hauptszenerie und dem Mann im Spiegel. 65 Kunde Rätsel aufgibt, verstehbarer: Sie spiegelt nicht nur jene der lesenden Frau, sondern gleichzeitig jene des bildexternen Betrachters und insofern Rezeption. Indem der Rezipient versucht, die Lesetätigkeit des Mannes zu verstehen, wird er indirekt auf seine eigene Rezeptionstätigkeit aufmerksam gemacht. Wie in den anderen Bildern sind auch in Massys ’ Der Geldwechsler Rezeptions- und Produktionsprozesse durch den Spiegel eng miteinander verknüpft: Dort, wo der lesende und insofern rezipierende Mann seinem Spiegelbild zufolge steht - am Fenster und dem Ehepaar gegenüber - könnte auch ihr Maler Massys gestanden haben. Der Spiegel, der für das am Tisch sitzende Ehepaar keine unmittelbar erkennbare Bedeutung bekleidet, hätte dem Maler erlaubt, sich selbst zu sehen und, wenn auch nicht »too literary«, 204 in das Gemälde zu integrieren. Die sich bisher nur andeutende Präsenz des Malers in seinem eigenen Bild erreicht in Velázquez ’ Las Meninas (1656) ein Höchstmaß an Komplexität und Facettenreichtum. Las Meninas Seit seiner Entstehung bewegt Las Meninas eine Vielzahl von Betrachtern zu immer neuen Deutungen, nicht zuletzt deswegen, weil es sich auch mithilfe modernster perspektivischer Berechnungen nicht entschlüsseln lassen will. 205 So gilt es zu Recht als ein »ein wahrhaft unergründliches, ja abgründiges Bild«. 206 In dieser besonderen Abgründigkeit treten die Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme eindrucksvoll zu Tage. Die Spiegelung ist deshalb, mit Gide gesprochen, »un peu différemment« als die bisher betrachteten, weil sie keinen realen, sondern bereits einen irrealen Referenten hat: Der Spiegel (Abb. 12) zeigt nicht das bildintern möglicherweise eintretende oder anwesende Königspaar, sondern ihr gemaltes Abbild auf der rückseitig zum Betrachter gestellten Leinwand (Abb. 11). Las Meninas ist, indem sich Velázquez als Maler in actu und Porträtist des Königspaares inszeniert, in viel stärkerem Maß selbstreferentiell als die flämischen Gemälde. In dieser hochkomplexen Selbst-referentialität sind die künstlerischen Produktionsprozesse wiederum aufs engste mit der Rezeption korreliert: 204 Vgl. Anm. 200. 205 Es wird häufig geltend gemacht, dass zwar Einzelaspekte verstanden würden, der Gehalt des Gesamtgemäldes sich aber einer verbindlichen Interpretation entziehe: »It is ironic«, schreibt Snyder, »that with few exceptions, the now vast body of critical literature about Diego Velázquez ’ s Las Meninas fails to link knowledge to understanding - fails to relate the encyclopedic knowledge we have acquired of its numerous details to a convincing understanding of the painting as a whole« (S NYDER , »Las Meninas and the Mirror of the Prince«, 539; m. H.). 206 P OPPENBERG , »Pro fano«, 434; m. H. 66 Dort, wo der externe Betrachter steht, sind, wie der Spiegel indiziert, konzeptionell nicht nur die fiktiven Porträtierten, Philip IV und seine Frau María Ana zu vermuten, sondern zugleich der reale Diego Velázquez. Wäre der Spiegel also echt und nicht gemalt, würde er, wie auch in den zuvor betrachteten Gemälden, den Rezipienten sowie den Maler widerspiegeln und insofern in das Bild hineinziehen; es wirkt, als würde das Gemälde eben diesen Sachverhalt inszenieren, indem es das Malen (in Gestalt des fiktiven Velázquez links) und das Betrachten (durch die Infantin und ihre Entourage rechts) in das Bild selbst transponiert. Eine Personengruppe - sechs der neun Figuren in Las Meninas - wendet sich aufmerksam und anscheinend erwartungsfroh aus dem Bild heraus und blickt in Richtung ihres realen Pendants: des Bildbetrachters. 207 So wird der Betrachter (wie zuvor in den flämischen Gemälden vom konvexen Spiegel-Auge) vergleichsweise offensiv angeblickt und dazu herausgefordert, die komplexen Bildrelationen nachzuvollziehen. Diese dauernde Herausforderung kann als faszinierend und zugleich als irritierend empfunden werden: »Why after over three centuries does Las Meninas continue to bother us? « 208 Einer der Hauptinitiatoren dieser spannungsreichen Vielschichtigkeit ist der Spiegel. Was genau spiegelt er? Sind die Proportionen seines Spiegelbildes wirklichkeitsgetreu? Handelt es sich überhaupt um einen Spiegel oder eher um ein Gemälde? Einerseits bietet sich der Spiegel dem Betrachter als Spion an: Ohne ihn gäbe es keinen Anhaltspunkt dafür, was der fiktive Velázquez malt. Andererseits zeigt die Vielzahl der Diskussionen um seinen Gehalt, dass der gemalte Spiegel eben in doppeltem Sinne »sombre« ist. Darüber hinaus zeigt der Spiegel das, was der reale Velázquez nicht malt bzw. nur im Modus seiner Abwesenheit darstellt, nämlich das Königspaar. Las Meninas kehrt jene Eigenschaft des Spiegels, die in den früheren Bildern durch die Perspektiverweiterung oder die fremden Personen implizit wirkt, nach außen: Der gemalte Spiegel reflektiert immer auch den malerischen Schöpfungsprozess und insofern das Gesamtgemälde. Er spiegelt das Gemälde des fiktiven Velázquez (sowie das des realen); analog dazu reflektiert der Spiegel van Eycks das Arnolfini-Doppelbildnis und jener Memlings die Madonna mit dem Donator. So bekleiden weder der gemalte noch der literarische Spiegel einfach nur dokumentarische Funktionen, sondern entfalten Kräfte, die nicht nur die Schöpfungsprozesse von Kunst auf ambivalente Weise inszenieren, sondern den Gehalt des Dargestellten verändern und sogar vollkommen verkehren 207 Auch das gespiegelte Königspaar blickt aus dem Spiegel direkt zum Rezipienten. 208 S EARLE , » › Las Meninas ‹ and the Paradoxes of Pictorial Representation«, 477. 67 können. Da der Spiegel ein - teilweise oder vollkommen - unerwartetes Abbild zeigt, akzentuiert er die Unberechenbarkeit des Gesamtwerkes. Dieses ist gegenüber der Realität genauso autonom, wie es das Spiegelbild gegenüber dem Abbild des Gesamtwerkes ist. Die Eigendynamik des Spiegels schafft eine Reihe von Vieldeutigkeiten, die Gides Äußerung, derzufolge der Spiegel am besten dazu geeignet sei, das Gesamtgemälde zu erleuchten, bemerkenswert erscheinen lässt. Denn wie bereits eine kurze Auseinandersetzung mit den Gemälden zeigt, erleichtert der Spiegel das Verständnis gerade nicht, sondern er erschwert es. Der Spiegel blickt nach innen und weitet dadurch das Außen; jede genaue Betrachtung ein- und desselben Gegenstands bezieht das Außen auf intensivere Weise mit ein. So ist es eben jenes Wechselspiel aus Erleuchtung und Verdunklung, das der › kleine dunkle Spiegel ‹ jeweils eindringlich bewirkt. 3.3 Spiegel in der Literatur. Shakespeare, Goethe, Poe und Gide Neben den drei gemalten Beispielen nennt Gide sechs literarische: drei fremde und drei eigene. Zunächst finden drei prominente Texte von Shakespeare, Goethe und Poe Erwähnung: Enfin, en littérature, dans Hamlet, la scène de la comédie; et ailleurs dans bien d ’ autres pièces. Dans Wilhelm Meister, les scènes de marionnettes ou de fête au château. Dans La Chute de la Maison Usher, la lecture que l ’ on fait à Roderick, etc. Die mise en abyme ist in den genannten Stücken unterschiedlich gestaltet und wird auf je eigene Weise wirksam. In Hamlet (um 1600) ist sie laut Gide »la scène de la comédie«, in Wilhelm Meister (1795/ 96) »les scènes de marionnettes ou de fête au château« und in The Fall of the House Usher (1839) »la lecture«. Der per se weite Radius der mise en abyme zeigt sich in den genannten Beispielen als Spiel im Spiel, als Marionettenstück, als Vorspiel auf einem Schlossfest sowie als Lektüre. Um welche neuen Aspekte können die genannten Werke das bislang gewonnene Verständnis der mise en abyme bereichern? Aufgrund der Fülle bestehender Forschungsliteratur zu den drei Werken sowie einer ausführlichen Analyse der literarischen mise en abyme in den Kapiteln 5 - 7 wird sich die Betrachtung auf einen Aspekt konzentrieren, der zum Verständnis der mise en abyme grundlegend von Bedeutung und allen drei Texten zu eigen ist: die (Selbst-)Erkenntnis im Spiegel selbstreferentieller Literatur. 68 Zunächst wirken Gides Beispiele willkürlich zusammengestellt. Gleichzeitig aber sind sie aufeinander bezogen, und zwar nicht nur weil Gide, wie aus seinen Notizen hervorgeht, 1891 The Fall of the House of Usher las und diese Lektüre rund ein Jahr später wiederholte, unmittelbar nachdem er Goethes Wilhelm Meister zu Ende gelesen hatte; 209 die genannten Beispiele sind darüber hinaus auch motivlich miteinander verbunden. Im fünften Buch der Lehrjahre spielt Wilhelm Meister ausgerechnet den Hamlet; und Ethelred, die Figur en abyme in The Fall of the House of Usher erkämpft sich schließlich ein magisches Schild, welches wiederum auf den letzten Gegenstand in Gides Vergleich vorausdeutet: »ce procédé du blason« eines Wappenschilds. Die gewählten Beispiele enthalten folglich nicht nur Spiegel, sondern sie spiegeln sich sukzessive ineinander: Hamlet in Wilhelm Meister und The Fall of the House of Usher in der Heraldik. Dadurch wird wiederum der hybride Charakter der Tagebuchpassage deutlich: Sie ist theoretische Reflexion über Kunst, vor allem über Literatur, und zugleich Literatur über einen theoretischen Gegenstand. Die Dynamiken literarischer Spiegelungen werden nicht nur beschrieben, sondern inszeniert, und diese poetische Inszenierung poetologischer Sachverhalte ist der mise en abyme per se zu eigen. Sie verstärkt assoziative Spiegelungen nicht nur innerhalb eines Einzelwerkes, sondern durch die Einlagerung anderer Kunstwerke auch auf intertextueller und intermedialer Ebene. 210 In allen drei Werken markiert die mise en abyme bedeutende Wendepunkte: Im Hamlet überführt der Prinz durch eine theatrale Inszenierung der vermuteten Ermordung seines Vaters dessen Mörder und macht sich letztendlich als Rächer seines Vaters selbst zum Mörder. Im Wilhelm Meister entfacht das Marionettenspiel Wilhelms künstlerische Begeisterung, die er auf dem Schloss durch die Vorbereitung eines Theaterstückes weiter entwickelt; die Aufführung des Hamlet bewirkt schließlich Wilhelms Distanzierung vom 209 Vgl. M ARTY , »Notes et variantes«, 1399. 210 Dabei zeigen sich wieder › Inkonsistenzen ‹ : Warum nennt Gide beispielsweise die Marionetten- und Schlossszene als mises en abyme in Goethes Wilhelm Meister? Es ist bemerkenswert, dass gerade Wilhelm Meisters Hamlet-Inszenierung, immerhin die »Achse« des Gesamtromans (G REINER , »Puppenspiel und Hamlet-Nachfolge«, 292), keine Erwähnung findet, obgleich sie als eine der wohl populärsten Re-Lektüren bzw. mises en abyme der Literaturgeschichte gilt (Vgl. H AVERKAMP , »Hamlet Anamorphose«, 137): Bernhard Greiner zufolge sei im »Singulären dieser Aufführung [. . .] das Ganze des Romans enthalten, seine Theorie der Bildung wie seine Theorie des Theaters« (G REINER , »Puppenspiel und Hamlet-Nachfolge«, 292). So folgen Shakespeare und Goethe in Gides Aufzählung zwar direkt aufeinander, ihre auffälligste Verflechtung, der Hamlet, wird allerdings nicht expliziert. 69 Theater. 211 In The Fall of the House of Usher steht die Binnenlektüre, die der Ich- Erzähler seinem nervenkranken Freund Roderick Usher zur Beruhigung vorliest, in unmittelbarem Zusammenhang mit der › Auferstehung ‹ von Rodericks totgeglaubter Schwester Madeline und dem spektakulären › Untergang des Hauses Usher ‹ . In allen drei Fällen ist die mise en abyme darüber hinaus mit einem entscheidenden Moment der (Selbst-)Erkenntnis verbunden. In einem gemeinsamen Reflexionskontext zeigen die drei Werke eine - parallel zur steigenden Komplexität der mise-en-abyme-Struktur - kontinuierlich wachsende Vielschichtigkeit im Erkenntnisprozess der Hauptfigur. Eng geführt lassen die drei von Gide erwähnten Beispiele folgende Gleichung entstehen: Je komplexer die mise en abyme, desto komplexer auch der Moment der (Selbst-)Erkenntnis bzw. je komplexer der Moment der (Selbst-)Erkenntnis, desto komplexer auch die mise en abyme. Im Hamlet liegt insofern eine mise en abyme vor, als der Prinz eben jene Mordszenerie theatral inszenieren lässt, die ihm der Geist seines Vaters zuvor als wahre Ursache seines Todes geschildert hatte. In der › Mousetrap ‹ en abyme müssen Claudius, Hamlets Onkel, und Gertrude, Hamlets Mutter, gezwungenermaßen die jeweils eigene Schuld erkennen - Brudermord bzw. treulose Neuvermählung - , während Hamlet seinen Verdacht dank der Bühneninszenierung in Gewissheit überführt. Hamlet durchlebt während der Rezeption dieses Binnenstückes, das außerdem durch eine antizipierende Pantomime gedoppelt wird, also weniger eine eigene Selbsterkenntnis als vielmehr die Erkenntnis der Schuld seines Onkels. Er versucht, das Theater zu einer Art › Zwangskatharsis ‹ für Claudius und Gertrude zu instrumentalisieren: Hum, I have heard That guilty creatures sitting at a play, Have by the very cunning of the scene Been struck so to the soul, that presently They have proclaimed their malefactions[.] 212 Das Binnenstück dient einer intensiven Wahrheitsfindung und erhellt - wie von Gide als Grundzug der mise en abyme bestimmt - das Gesamtgefüge auf ambivalente Weise: »What, frighted with false fire? «, 213 ruft Hamlet angesichts der verräterischen Unruhe seines Onkels zynisch. Claudius vollführt, während er tatsächlich in die › Mausefalle ‹ en abyme tappt, in gewisser Weise einen › Freudschen Versprecher ‹ . Er erkennt sich selbst als Erkannten und reagiert 211 Vgl. G OETHE , Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Romane und Novellen, Bd. II, erstes Buch, v. a. Kapitel 1 - 8, drittes Buch, Kapitel 6 - 8 sowie insbesondere das fünfte Buch. 212 S HAKESPEARE , Hamlet, 142 f.; m. H. 213 Ebd. 164. 70 auf diese › Erleuchtung ‹ , obgleich er sie zu verdunkeln versucht, mit der Forderung nach Licht: »Give me some light. Away! «, was von seinen Untergebenen bezeichnenderweise als dreimaliges Echo perpetuiert wird: »Lights, lights, lights! « 214 So offenbart sich die Wahrheit in Gestalt eines Spiels im Spiel und insofern als potenzierte Fiktion. Dieses Paradoxon - im Medium von Täuschung, Falschheit und Lüge durch ein »false fire« Erleuchtung, Wahrheit und (Selbst-)Erkenntnis zu suchen und zu finden - , ist ein, wie sich in den Textanalysen ausführlicher zeigen wird, grundlegender Zug der mise en abyme. Im Wilhelm Meister dominieren die Binneninszenierungen sowie metafiktionale Reflexionen den Gesamttext bereits stärker als im Hamlet. Anders als in Shakespeares Stück wird mehrmals und an entscheidenden Stellen ein Verwischen der Illusionsgrenzen nahe gelegt. 215 Die deutlich komplexere und in vielen Textstellen über die Grenzen einer eigenen Binneninszenierung hinaus gehende mise en abyme ist vergleichsweise explizit mit der charakterlichen Selbstfindung der Hauptfigur verbunden. In den Marionettenspielen seiner Kindheit erkennt Wilhelm die eigene künstlerische Berufung, die er im Vorspiel auf dem Schloss in einer theaterästhetischen Auseinandersetzung gegen den Grafen festigen und konkretisieren muss und später in seiner eindringlichen Auseinandersetzung mit der Hamlet-Figur auf einen Höhepunkt führt. Gerade in der Rolle des melancholischen, zaudernden und von seinem Vater bzw. vom Schicksal fremdbestimmten Prinzen erkennt Wilhelm sich selbst. 216 Konsequenz dieser intensiven Innenschau durch das Studium der Hamlet-Figur ist schließlich die Selbstfindung inner- und zugleich außerhalb der fiktiven Theaterrolle. 217 Dass Wilhelm den Hamlet spielt, dabei zunächst mit der Rolle verschwimmt, diese aber gerade durch das Theaterspielen letztlich von sich selbst zu distanzieren und dabei auch als 214 Ebd. 215 Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen beispielsweise in der Szene des echten Überfalls während der Kampfproben für die Schlussszene des Hamlet (vgl. G OETHE , Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: ders., Romane und Novellen, Bd. II, viertes Buch, Kapitel 5). Weitere Grenzverwischungen zeigen sich bei der Erscheinung des Geistes in der Hamlet-Aufführung (vgl. ebd. v. a. fünftes Buch, Kapitel 11, aber bereits zuvor Kapitel 6 und 10), darüber hinaus beim wahnhaften Ineinander-Übergehen von Aurelia und ihrer fiktiven Rolle Ophelia (vgl. ebd. viertes Buch, Kapitel 14, 16 und 20) oder generell mit Blick auf Wilhelms Übernahme der Charakterzüge Hamlets (nicht nur für seine Rolle; vgl. Anm. 216). 216 Vgl. ebd. v. a. viertes Buch, Kapitel 3. 217 Vgl. zur Entwicklung von Wilhelms Theaterkonzept: G REINER , »Puppenspiel und Hamlet-Nachfolge«, 288. 71 Kunst zu objektivieren lernt, ist ein zentraler Schritt in seiner » › Bildung ‹ eines stabilen Ich«. 218 Das Moment der Ich-Auslotung durch Reflexion im Medium der Literatur findet sich in Poes The Fall of the House of Usher stark verdichtet, wobei der Zusammenbruch des Hauses Usher gerade nicht die Ausbildung, sondern den Untergang eines › stabilen Ichs ‹ zu symbolisieren scheint. Auf Handlungsebene der Gesamtgeschichte erkennt sich Roderick Usher erst in dem Moment selbst als jener »miserable wretch«, 219 der die Lebenszeichen seiner zu hastig › eingesargten ‹ 220 Schwester nicht zu beantworten gewagt hatte, nachdem er durch die Lektüre des »Mad Trist« von »Sir Launcelot Canning« endgültig an den Abgrund des Wahnsinns geführt wird; auf einer zweiten Bedeutungsebene materialisiert der Ich-Erzähler im Moment der Lektüre der Rittergesichte die eigene »hysteria«, 221 die sich von Anfang an in der Parallelführung vom namenlosen Ich-Erzähler und der Figur Roderick Usher angedeutet hatte und sich in einer »morbid acuteness of the senses« 222 manifestiert: insbesondere in der geheimnisvollen Eigenschaft, das Herz anderer über weite Entfernungen schlagen zu hören und sich davon psychisch affektieren zu lassen. 223 Nachdem Roderick buchstäblich am Herzschlag seiner lebendig begrabenen Schwester zugrunde geht, stürzt das gesamte Haus Usher in sich zusammen. Dieser Einsturz des zuvor facettenreich beschriebenen Hauses versinnbildlicht auf tiefgründige Weise den durch die mise en abyme erfolgenden › Einsturz des Textgebäudes ‹ (und vice versa): Die totgeglaubte Schwester Madeline wird in einem hauseigenen Verlies »within the main walls [. . .] at great depth« 224 in einen Sarg verschlossen und insofern motivlich mit der Rittergeschichte en abyme korreliert. Analog 218 Ebd. 293. 219 P OE , The Fall of the House of Usher, in: ders., Tales of mystery and imagination, 154. Der Ich- Erzähler hatte seinem Freund schon zu Beginn der Kurzgeschichte, zumindest gedanklich, eine solche Charakterschwäche attestiert: »a finely moulded chin, speaking, in its want of prominence, of a want of moral energy« (ebd. 141). Am Ende ist es jener Mangel an Charakterstärke, den Roderick selbst erkennt. 220 Ebd. 149. 221 Ebd. 150. 222 Ebd. 142. 223 Zu Beginn der Kurzgeschichte hatte der Ich-Erzähler die Bitte seines nervenkranken Freundes, ihn durch einen Besuch aufzuheitern, nicht ablehnen können, da er den Herzschlag des Bittenden trotz der großen räumlichen Entfernung zu fühlen glaubte: »It was the manner in which all this, and much more, was said - it was the apparent heart that went with his request - which allowed me no room for hesitation« (ebd. 138; Hervorhebung im Original). Eben diese Fähigkeit zeigt am Schluss auch der im Wahnsinn sterbende Roderick bezüglich seiner Schwester: »Do I not distinguish that heavy and horrible beating of her heart? Madman! « (ebd. 154). 224 Ebd. 148; m. H. 72 dazu, dass Madeline nach einigen Tagen aus der › Tiefe der Gemäuer ‹ schließlich das Gesamtgebäude zum Einsturz bringt, wirkt auch die mise en abyme: Während der Ich-Erzähler die Geschichte des Ritters Ethelred vorliest, der in eine Hütte einbricht und darin einen Drachen erschlägt, verschwimmen die Ebenen zwischen Rahmen- und Binnengeschichte - anders als bei Shakespeare und viel stärker als bei Goethe - in einer »most extraordinary coincidence« 225 untrennbar ineinander. Eben jene Geräusche, die in der Handlung en abyme ertönen, hallen auf paradoxe Weise auf Ebene der Rahmengeschichte nach: And now - to-night - Ethelred - ha! ha! - the breaking of the hermit ’ s door, and the death-cry of the dragon, and the clangor of the shield! - say, rather, the rending of her [Madelines] coffin, and the grating of the iron hinges of her prison, and her struggles within the coppered archway of the vault! 226 So weist die Gesamtgeschichte eben jenes Hauptcharakteristikum auf, das die › Wiedergängerin ‹ Madeline schon als Lebendige zeigte: eine schleichende Auflösungsbewegung, »[an] approaching dissolution«, 227 die sich durch die mise-en-abyme-Setzung von Gesängen und Bildbeschreibungen sowie durch Anspielungen auf Texte anderer Autoren ankündigt und schließlich in der den Gesamttext › zersetzenden ‹ mise en abyme der Rittergeschichte kulminiert. Insgesamt zeigt sich, dass Hamlets Verstand ebenso »[b]lasted with ecstasy« 228 ist wie (zumindest zeitweise) jener Wilhelm Meisters und, in stärkster Potenzierung, jener Roderick Ushers oder seines Alter egos, des Ich-Erzählers. Während Hamlet sich aus diesem Zustand zum Wahnsinn gesteigerter Melancholie letztendlich nicht befreien kann, spielt bei Wilhelm Meister die Kunst - und zwar gerade der Hamlet - im Selbstfindungsprozess eine entscheidende Rolle. Indem er eine ihm charakterlich sehr ähnliche Figur im Rahmen einer Theaterinszenierung inkorporiert, schafft er es, sich letztendlich von ihr (und eigenen als negativ empfundenen Charakterzügen wie Schwermut, Unentschlossenheit oder Passivität) zu distanzieren. Der Ich- Erzähler in Poes The Fall of the House of Usher erlebt das Zusammenspiel von psychischen Prozessen, Selbsterkenntnis und selbstreferentieller Geschichte in einer starken Verdichtung, die sich motivlich als »condensation of an atmosphere of their own« 229 offenbart. Diese Kondensierung besteht darin, das Erlebte gerade als Ich-Erzähler einer niedergeschriebenen Geschichte - und damit auch den Wahnsinn im Medium der Literatur - zu bannen. Der 225 Ebd. 153. 226 Ebd. 154. 227 Ebd. 143. 228 S HAKESPEARE , Hamlet, 151. 229 P OE , The Fall of the House of Usher, in: ders., Tales of mystery and imagination, 147. 73 Ich-Erzähler tritt zwar in das Haus Usher und damit symbolisch in den eigenen Wahnsinn ein, doch er bringt dieses Haus durch die Lektüre der Geschichte en abyme letztendlich zum Einsturz. Während Roderick Usher und seine Schwester untergehen müssen, kann der Ich-Erzähler das zusammenstürzende Haus gerade noch rechtzeitig verlassen. Dieser Zerfall von Haus und Geschichte zieht jeweils unheimliche »fragments of the › H OUSE OF U SHER ‹ « nach sich: [T]here was a long tumultuous shouting sound like the voice of a thousand waters - and the deep and dank tarn at my feet closed sullenly and silently over the fragments of the › H OUSE OF U SHER ‹ . 230 Haus und Text bzw. Fiktion werden analog geführt, durch ihre › Zerstörung ‹ allerdings eine Befreiung in Aussicht gestellt. Die Selbsterkenntnis durch eine Wechselwirkung von Schöpfer, Schöpfungsprozess und Schöpfung, die sich letztendlich als Bannung oder sogar Befreiung von eigenen psychischen Nöten manifestiert, ist eine für Gide elementare Funktion selbstreferentieller Schreibprozesse. Er reflektiert diese Dynamik unter dem Begriff der rétroaction in unmittelbarem Kontext seiner Ausführungen zur mise en abyme. Die mise en abyme und die rétroaction werden in der Forschung zumeist getrennt verhandelt. 231 In Gides Denken sind die beiden Konzepte allerdings unmittelbar aufeinander bezogen, wie folgender deiktischer Anschluss zwischen der viel zitierten Tagebuchpassage und der weit weniger bekannten Vorstellung einer rétroaction verdeutlicht: Ce qui le serait beaucoup plus, ce qui dirait bien mieux ce que j ’ ai voulu dans mes Cahiers, dans mon Narcisse et dans La Tentative, c ’ est la comparaison avec ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second › en abyme ‹ . Cette rétroaction du sujet sur lui-même m ’ a toujours tenté. 232 Unter der rétroaction ist Gide zufolge eine »méthode d ’ action sur soi-même« 233 im Medium selbstreferentieller Literatur zu verstehen. In einem Kunstwerk mit mise en abyme, wie in den von Gide genannten eigenen Texten Les Cahiers d ’ André Walter oder La tentative amoureuse, lässt sich die »réciprocité« eines Schreibenden und seines Geschriebenen - »l ’ influence du livre sur celui qui l ’ écrit, et pendant cette écriture même« 234 - besonders wirkungsvoll inszenieren. La tentative amoureuse erweist sich hierfür als eindringliches Beispiel: Der Ich-Erzähler überträgt das eigene Begehren, eine »irréalisable joie«, in 230 Vgl. ebd. 155; Hervorhebung im Original. 231 E SCOBAR , »L ’ abyme différencié«, 382. Eine Ausnahme bildet: G RUBER , »Literatur und Heraldik«. 232 G IDE , Journal, 171 f.; m. H. 233 Ebd. 171. 234 Ebd. 170 f. 74 einer die Illusionsebenen verwischenden mise en abyme auf die Figuren Luc und Rachel und lässt sie, stellvertretend für sich selbst, ein körperliches »désir« ausleben. 235 Während die Liebenden nach einiger Zeit »désenchanté[s]« 236 voneinander lassen, kann der Ich-Erzähler das Begehren nicht nur in Form einer Geschichte vergeistigen, sondern sich gleichsam durch sie befreien. Er geht aus dieser »tentation«, die sowohl (literarischer) › Versuch ‹ als auch (Erzählung einer) › Versuchung ‹ ist, als Veränderter hervor: »Car en sortant de nous, il [le livre] nous change, il modifie la marche de notre vie«; der Schreibende inszeniert folglich einen Raum, in dem das sujet als schreibendes »sujet agissant« sowie als »sujet qu ’ on image« in fruchtbarer Weise aufeinander wirken können und letztendlich Erkenntnis und Befreiung des Schreibenden nach sich ziehen. 237 Die mise en abyme ist in diesem Prozess der Selbstkonstituierung nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern sie setzt eben jenen Prozess einer gewissermaßen therapeutischen › Selbst-Distanzierung ‹ sowohl für den Schreibenden als auch für das Geschriebene ins Werk: Wie das moi (des Ich-Erzählers) in einem abstrahierenden (Schreib-)Akt zum lui (Lucs) 238 werden kann, ist auch das Werk en abyme es selbst und zugleich ein anderes: »[Q]uand on peut lire un livre dans le livre«, schreibt Derrida in »Ellipse«, »une origine dans l ’ origine, un centre dans le centre, c ’ est l ’ abîme, le sans-fond du redoublement infini. L ’ autre est dans le même«. 239 Im Konzept der rétroaction ist nun beachtenswert, dass künstlerische Schöpfungsprozesse und insofern Genialität und Scharfsinn - entgegen der seit der Antike geltenden Vorstellung der saturnischen Melancholie des Künstlers 240 - gerade nicht im Zeichen der schwarzen, sondern der gelben Galle stehen. Es reicht Gide zufolge nicht aus, dass innerhalb einer Geschichte eine Geschichte erzählt wird: »[Il] faut que ce soit un homme en colère, et qu ’ il y ait un constant rapport entre la colère de cet homme et l ’ histoire racontée.« 241 Hier offenbart sich ein grundlegender, von Gide allerdings nicht explizierter Unterschied zwischen den zuvor genannten Werken (mit ihren melancholischen Hauptfiguren Hamlet, Wilhelm, Roderick und dem Ich-Erzähler) und dem Konzept der rétroaction: Der selbstreflexive und selbstreflexiv schreibende Künstler möge nicht schwermütig, sondern zornig sein. Der Reihung der literarischen Beispiele lässt sich folglich 235 Ebd. 171. 236 Ebd. 237 Ebd. 238 Es ist vermutlich kein Zufall, dass lui und Luc phonetisch fast deckungsgleich sind. 239 D ERRIDA , L ’ écriture et la différence, 431. 240 Vgl. L ÜTKE N OTARP , Von Heiterkeit, Zorn, Schwermut und Lethargie, 233. 241 G IDE , Journal, 171. 75 in mehrfacher Hinsicht eine Steigerung ablesen: vom vergleichsweise schlicht konstruierten Spiel im Spiel zu ebenentransgressiver mise en abyme, von Melancholie zu Wahnsinn bzw. von Melancholie zu Zorn, vom Untergang des Ichs zu seiner Selbstkonstituierung und Befreiung im Spiegel abyssaler Schreibbzw. Theaterpotenzierungen. Diese Steigerung in der Interaktion psychischer und ästhetischer Selbstreflexion wird im Zuge der Textanalyse nachvollzogen und vertieft werden: Während Reza in Une pièce espagnole eine vergleichsweise übersichtlich gestaltete Form von mise en abyme entwirft, welche die Prozesse der rétroaction zwischen den Figuren und ihren Rollen nur anklingen lässt, konstruiert sich die wahnsinnige Hauptfigur Charles Charles in Chaurettes Provincetown Playhouse bereits in vollkommener psychischer Abhängigkeit von seinem en abyme inszenierten Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté. Genets › Neger ‹ gehen insofern noch einen Schritt weiter, als sie Schwermut und Wahnsinn in einer programmatischen Übersteigerung ihrer »colères [et] humeurs« 242 überwinden und sich gerade als zornige Schöpfer zyklischer Binneninszenierungen von ihren weißen Unterdrückern befreien wollen: »[N]ous n ’ avions que nos colères et nos rages«, 243 versichern sich die › Neger ‹ -Schauspieler vor jeder Vorstellung en abyme. 3.4 Spiegel in der Heraldik Nach den Spiegelungen aus der Malerei und der Literatur, die - wie die zu untersuchenden Texte von Reza, Chaurette und Genet - sukzessive an Komplexität zunehmen, markiert Gide abrupt einen Wendepunkt: »Aucun de ces exemples n ’ est absolument juste.« Anschließend lässt er seine Ausführungen in einen (angesichts der später vollzogenen Begriffsausdifferenzierung) erstaunlich simpel scheinenden Vergleich mit der Wappenkunde münden: »Ce qui [. . .] serait beaucoup plus [juste], [. . .] c ’ est la comparaison avec ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second › en abyme ‹ «. Dieses Bild eines Wappens im Wappen kontrastiert so deutlich mit der Komplexität der zuvor genannten Werke und dem eigenen literarischen Schaffen, dass Gides assoziativer Vorstoß gemeinhin als ein »eher unglückliche[r] Rekurs auf die Heraldik« abgetan wird. 244 Seit Bruce Mor- 242 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 483. 243 Ebd. 484. 244 G OEBEL , »Vorgespielte und wahre Unendlichkeit«, 92. 76 rissette 1971 belegte, dass ein Wappen, das en abîme 245 eine exakte Reproduktion seiner selbst aufweisen würde - oder diesen Prozess ins Abgründige potenzierte - , gar nicht existiert, gilt Gides heraldische Überlegung sogar als »défectueuse« und zur Begriffsbildung wenig brauchbar. 246 Doch Gide proklamiert, anders als ihm von Dällenbach und anderen nachgesagt wird, 247 nicht dezidiert eine unendliche Spiegelung desselben Wappens in sich selbst; wörtlich spricht er davon › im ersten Wappen [von diesem ersten] ein zweites en abyme zu setzen ‹ . Außerdem wusste Gide, wovon er sprach; er verwendete den Begriff des abyme nicht einfach en passant oder aus rein assoziativer Freude am › Abgrund ‹ , sondern setzte sich intensiv mit der Heraldik auseinander. An Paul Valéry schrieb er am 15. November 1891, also bereits zwei Jahre vor seinem Tagebucheintrag zur mise en abyme, dass er sich eifrig »l ’ art du Blason« aneigne. 248 Vor diesem Hintergrund soll nicht entschieden werden, ob Gides heraldische Äußerungen (fachlich oder argumentativ) gelingen oder nicht, sondern es ist zu überlegen, was sein Exkurs sowie dessen Darstellung zur Begriffsklärung und zum Verständnis der mise en abyme beitragen können. Immerhin gebrauchen wir den aus der Heraldik stammenden Begriff bis heute, obgleich Gides Äußerungen als › fehlerhaft ‹ gelten. Zunächst stellt sich grundsätzlich die Frage, inwiefern heraldische und literarische Verfahren überhaupt in einen gemeinsamen Reflexionskontext gestellt werden können. Wappen dienten im Hochmittelalter als Erkennungszeichen, da zu Beginn der Kreuzzüge die Ritter durch ihre aufwendige Schutzkleidung nicht mehr zu identifizieren waren. 249 Sie entwickelten sich im Feudalismus zu »rechtlichen Symbolen«: 250 Als solche sind sie verschiedenfarbige und -geformte Gebilde aus verschlüsselten Bedeutungsträgern, die häufig, wie eine eigene Sprache, sehr komplexe Ausmaße annehmen können. Schon Victor Hugo 245 Aus Gründen der Übersichtlichkeit findet hier »en abîme« mit î Verwendung, zumal diese Schreibung im heraldischen Kontext die gängige ist. Gides orthographische Entscheidung gegen das î wird in Kapitel 4.2. reflektiert. 246 M ORRISSETTE , »Un héritage d ’ André Gide«, 128. Vgl. auch: E SCOBAR , »L ’ abyme différencié«, 389 f. 247 Vgl. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 17. Ähnlich heißt es beispielsweise bei Jutta Zimmermann: »Gide prägte für diese Art der Spiegelung den Begriff mise en abyme, der der Heraldik entnommen ist und dort ein Wappen bezeichnet, das in sich noch einmal das gleiche Wappen in kleinerer Form enthält« (Z IMMERMANN , Metafiktion im anglokanadischen Roman der Gegenwart, 53 f.). Vgl. zu dieser Thematik bereits: H YTIER , André Gide, 288 - 315, besonders 288 f. 248 M ARTY , »Notes et variantes«, 1399. 249 Vgl. N EUBECKER , Wappenkunde, 6. 250 Ebd. 9. 77 reflektiert das Wappen als Sprache. In Notre-Dame de Paris heißt es: »Pour qui sait le déchiffrer, le blason est une algèbre, le blason est une langue.« 251 Die Wappenfiguren - geometrische Heroldsbilder, differenzierende Beizeichen sowie (die reale Welt spiegelnde, aber dabei stilisierte) gemeine Figuren - können sich innerhalb desselben Wappens zu mehreren Ebenen aufschichten. 252 Im Interpretationsprozess gilt es, die einzelnen Ebenen dieses Gesamtgefüges sukzessive abzutragen. Zur fachsprachlichen Sortierung der einzelnen Elemente, der so genannten Blasonierung, herrschen umfangreiche, da sehr feingliedrige Richtlinien vor, die mit einer langen Reihe spezieller Begrifflichkeiten angereichert sind (und damit auch an literaturwissenschaftliche Fachtexte erinnern). 253 Heraldische und literarische Werke haben als Schnittmenge folglich eine eigene sprachliche bzw. hieroglyphische Verfasstheit, Mehrschichtigkeit, Komplexität, Chiffrierung und Dechiffrierung gemein. Beide stehen einerseits für sich selbst und sind als solche autonom lesbar, verweisen aber andererseits auf konkrete Personen - den Wappenträger bzw. den Autor - , und dies weit über deren Tod hinaus. Besonders die heraldische Vielschichtigkeit scheint den jungen Gide fasziniert zu haben. In seiner Bibliothek befand sich ein Exemplar des heraldischen Lexikons von Menestrier, L ’ Abrégé méthodique des principes héraldiques ou Du véritable art du blason. 254 Der dort verzeichnete Eintrag zu Abysme lautet wie folgt: Abysme est le milieu et le centre de l ’ écu, quand on suppose que l ’ écu est rempli de trois, quatre ou plusieurs autres figures, qui étant élevées en relief font de ce milieu une espèce d ’ Abysme. Ainsi quand on void une pièce beaucoup plus petite au milieu de ce trois, quatre ou six figures qui paroissent plus élevées, on doit dire qu ’ elle est en Abysme[.] 255 Der Teil en abîme ist also konzeptionell nicht nur kleiner als die umgebenden Figuren und in ihrer Mitte angeordnet, er liegt darüber hinaus auch graphisch › tiefer ‹ als sein Umfeld. Die umgebenden Figuren ragen reliefartig nach oben 251 H UGO , Notre-Dame de Paris, 144. Der Erzähler betont die Relevanz, Verbreitung und Funktion dieser › Sprache ‹ : »L ’ histoire entière de la seconde moitié du moyen âge est écrite dans le blason, comme l ’ histoire de la première moitié dans le symbolisme des églises romanes. Ce sont les hiéroglyphes de la féodalité après ceux de la théocratie« (ebd.). Vgl. zum Zusammenhang von Heraldik und Lehnswesen: N EUBECKER , Wappenkunde, 6 - 10. 252 Vgl. F ILIP , Einführung in die Heraldik, 72 - 84. 253 Vgl. ebd. 32 - 36. 254 Vgl. M ARTY , »Notes et variantes«, 1399. 255 Zit. nach: ebd. 78 und lassen ihr Zentrum, die Mittelfigur, dadurch als scheinbaren Abgrund unter sich. So ist mit en abîme primär eine Verortung gemeint: eingelagert, zentral, in die Tiefe gerückt. Diese Begriffsverwendung ist auch in der heutigen Heraldik noch durchaus üblich, wobei weniger die Tiefe als die Zentrierung betont wird: »Abîme (en): Expression qui qualifie une figure posée au centre de l ’ écu.« 256 Die für die mise en abyme charakteristischen Spiegeleffekte sind aber weder in dieser ersten Definition noch in anderen einschlägigen Definitionen des 19. Jahrhunderts 257 erkennbar. Neben dieser kleinen und abgründig erscheinenden Mittelfigur kennt die Heraldik allerdings eine weitere Konstruktion, die für den mise-en-abyme- Begriff von Relevanz ist und die Spiegelung bereits im Namen trägt: le blason dans le blason, das Wappen im Wappen. Auf diese Figur scheint Gide in seiner Tagebuchnotiz anzuspielen; denn er spricht nicht von einem Wappen, das verschiedene einzelne Wappenfiguren enthält, sondern von ganzen Wappen en abyme. Im Deutschen wird dieses Verfahren, das über den Schildinhalt des einen Wappens hinausgeht und mindestens ein zweites Wappen miteinbezieht, für gewöhnlich mit › Schild im Schild ‹ umschrieben. 258 Diese Fusion zweier Wappen ist insbesondere im Hochadel zu verzeichnen. Sie drückt mehrere Herrschafts- oder Besitzansprüche aus und kann durch verschiedene Verfahren herbeigeführt werden, insbesondere durch eine Nebeneinanderstellung (zu so genannten Allianzwappen) oder eine Zusammensetzung verschiedener Wappen im selben Schild durch »Einfassung, Verschränkung, Einpfropfung, Auflegung (Einverleibung)«. 259 Für die Figur der mise en abyme ist insbesondere die letztgenannte Variante und dabei speziell die Auflegung eines Mittelschildes von Bedeutung. 260 Wird auf den Mittelschild ein verkleinerter Schild aufgelegt, ergibt sich die folgende Konstruktion: 256 T HIÉBAUD , Dictionnaire des termes du blason, 45. Vereinzelt finden sich auch Angaben zu den Größenverhältnissen. So heißt es im Dictionnaire héraldique: »Un écusson placé luimême › en abîme ‹ a une superficie de 1/ 9 de l ’ écu sur lequel il est posé« (C RAYENCOUR , Dictionnaire héraldique, 9). Die deutsche Übersetzung lautet »Schildmitte, Herzstelle« (N EUBECKER , Deutsch und Französisch für Heraldiker, 7). 257 Ob Gide nur diese oder auch andere Quellen zum heraldischen abîme zu Rate zog, ist ungewiss. Ähnliche Grunddefinitionen lassen sich auch in anderen Lexika jener Zeit finden, z. B. im Alphabet et figures de tous les termes du blason unter dem Eintrag »abîme«. 258 Vgl. S CHEIBELREITER , Heraldik, 119 - 121. 259 Ebd. 120. 260 Vgl. ebd. 32. 79 H ERZSCHILD M ITTELSCHILD H AUPTSCHILD Der Herzschild ist der Orientierungspunkt des Gesamtwappens und zeigt zumeist das älteste und bedeutendste Wappen, folglich das Haupt- oder Stammwappen: »Das Stammwappen nimmt in der Regel den vornehmsten Platz, den Herzschild, ein, im M[ittelschild] finden sich die minder bedeutenden und im Rückenschild die untergeordneten Wappen.« 261 Im Französischen leitet der Heraldiker die final erfolgende Blasonierung des Herzschildes mit den Worten »sur le tout du tout de« ein. 262 Dabei ist interessant, dass der Herzschild symbolisch gerade nicht tiefer, sondern, im Gegenteil, höher als die ihn enthaltenen Wappen liegt. In der Heraldik oszilliert der Herzschild grundsätzlich zwischen Tiefe und Höhe, zwischen › darunter ‹ und › darauf ‹ . Dies korrespondiert, wie sich noch genauer zeigen wird, der Eigenschaft der literarischen mise en abyme, dem rahmenden Werk unter- und zugleich überlegen zu sein, aus der Tiefe heraus über das Gesamtwerk hinauszugehen. Der Herzschild lässt sich als Nukleus des Gesamtwappens begreifen, was bezüglich selbstreferentieller Kunst der bereits konstatierten Relevanz des poetologischen Teils en abyme - des »centre secret« oder des »Fenster[s] nach einem ganz anderen Raum« 263 - für das Gesamtwerk korrespondiert. Genauso wie der Herzschild das bedeutendste Stammwappen ausstellt, verhandelt die mise en abyme das poetische und poetologische Zentrum des Gesamtwerkes, sein sujet même. Die zentralen Aspekte des heraldischen abîme-Begriffs - Verkleinerung, Einlagerung und Zentrierung - treten auch mit Blick auf die Fusion mehrerer Wappen zu Tage; und, anders als im Kontext der einzelnen Wappenfiguren en abîme, zeigt sich in Wappenfusionen deutlich das Merkmal der Spiegelung. 261 O SWALD , Lexikon der Heraldik, 274. 262 G ALBREATH / J ÉQUIER , Handbuch der Heraldik, 297. 263 Vgl. Kapitel 1, S. 2 f. 80 Eine Verschachtelung verschiedener Wappen ist immer mit einer formalen Spiegelung verbunden: Die Wappenform erscheint (mehrfach) in derselben Wappenform. Neben dieser formalen Spiegelung vollziehen sich insbesondere in komplexen Wappen - wie in jenen ganzer Staaten oder Staatsfusionen - eine Reihe von Motivspiegelungen. 264 Durch jede Spiegelung, die ein Text bzw. ein Wappenschild in sich selbst produziert, vergrößert er sich. Der Herzschild verliert angesichts dessen aber nicht an Bedeutung, sondern wirkt im Gegenteil durch die mehrfache Rahmung in seiner zentralen Stellung betont. Jede Spiegelung bzw. jede mise en abyme verweist auf die Relevanz des en abyme Gesetzten. Insgesamt betrachtet ist die Aufregung um Gides › defizienten ‹ Wappenvergleich nicht nachvollziehbar. Der finale Exkurs in die Heraldik bringt die Grundkonstituenten der mise en abyme, die Gide mit den gemalten und literarischen Beispielen zuvor andeutet, auf den Punkt: Ineinander-Lagerung mindestens zweier (familiärer bzw. literarischer) Geschichten, Ebenenpluralität, Spiegelung eigener Formen und Motive innerhalb des Gesamtgefüges sowie Konzentration auf das Innerste. Dort, so zeigt der Herzschild, finden sich - zentriert, umrahmt, spiegelnd und verdichtet - jene Auskünfte, die für das Grundverständnis des Ganzen von elementarer Bedeutung sind. 265 264 Vgl. beispielsweise das »mittlere Wappen der österreichischen Länder« (1915): Das Emblem von Österreich - in Rot ein silberner Balken - liegt auf dem Herzschild und darüber hinaus auch auf dem Mittelschild sowie zweifach auf dem Hauptschild. Zudem finden sich auch andere Teilspiegelungen, die sich von Ebene zu Ebene erstrecken, beispielsweise der Adler. Die Spiegelung der Wappenform korrespondiert also inhaltlich-motivlichen Spiegelungen - auf allen Ebenen findet sich ein silberner Balken vor rotem Hintergrund als äußere Gestalt für das Haus Österreich. 265 Inwiefern die vermeintliche Defizienz von Gides Wappenvergleich zur Definition der mise en abyme dennoch von Relevanz ist, reflektiert das folgende Kapitel, insbesondere 4.2. 81 4. Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme. Ein erster Überblick 4.1 Problematisierung eines kategorialen mise-en-abyme- Begriffs [. . .] z. B. bin ich tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste. Lauter schwere Sätze von einem Widerschein ins Unendliche und einer Tiefe, die wohl nicht jedermanns Gabe ist; ja vielleicht darf nur einer, der imstande ist, denselben Infinitiv, von welchem Zeitwort man will, im Genitiv mehrmals hintereinander zu schreiben, zu sich sagen: ich philosophiere. J EAN P AUL , Flegeljahre. Eine Biographie 266 Die Kehrseite der interpretatorischen und katalogisierenden Bemühungen auf dem Feld der Selbstreferentialität und besonders jenem der mise en abyme ist ein unhandliches Instrumentarium nebeneinander geltender und ineinander verschränkter Termini. Bereits 1988 bezeichnet Chanady die Forschung zur Selbstreferentialität als »dialogue de sourds«, 267 2001 konstatiert Wolf noch immer ein »terminologisches Dickicht«. 268 Pichler spricht mit Blick auf die Forschung zur Selbstreferentialität von einer »Übergeneralisierung«, 269 umgekehrt ließe sich auch von › Überspezifizierung ‹ sprechen. Unzählige Termini sind Zeugen eigener Schwerpunktsetzungen, Auslassungen und Perspektiven, sind sie doch immer Stützpunkte bestehender Methoden und Theoreme. Sie sind begrifflich nicht voneinander zu trennen, da kein Konsens darüber herrscht, für welche selbstreferentiellen Phänomene welche Begriffe 266 J EAN P AUL , Sämtliche Werke, Bd. I.2, 653; Hervorhebung im Original. 267 C HANADY , »Une métacritique de la métalittérature«, 145. 268 W OLF , »Formen literarischer Selbstreferenz in der Erzählkunst«, 50 sowie »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen«, 29. 269 P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion, 17. 82 verbindlich festzulegen sind. 270 Unter Einbezug internationaler Termini weitet sich die Begriffsflut vollends ins Uferlose aus. 271 Fricke ordnet den vermeintlichen Oberbegriffen ihrerseits einen Oberbegriff über - jenen der »Potenzierung«. 272 In den meisten Beiträgen zu selbstreferentiellen Phänomenen wird der vermeintliche Oberbegriff der Potenzierung indes gar nicht erwähnt, er hat sich also entgegen der Behauptung Frickes nicht gegen die »Übermacht der terminologischen Konkurrenz internationaler, moderner bzw. postmoderner Vokabeln« 273 durchsetzen können, womit er den Werdegang vieler anderer Begriffe teilt. Häufig stehen Termini unverbunden nebeneinander, da es sich angesichts der Dynamik internationaler Publikationen zu diesem nach wie vor stark beforschten Themenfeld als unmöglich erweist, dass man sich auf eine Fachsprache sowie einheitliche Begriffsbildungen einigen kann und möchte. 274 Dies gilt auch für die Vielzahl an Konstituenten, die der mise en abyme je nach Forschungslager zubzw. abgesprochen werden; beispielsweise die vermeintliche Totalität der Spiegelung, die Ebenenpluralität, der Gegenstand der Spiegelung oder ihre Verortung im Werkganzen. 275 Häufig ist der Spagat zwischen einem differenzierten und dabei gleichzeitig operablen definitorischen Instrumentarium - ganz zu schweigen vom Herausdestillieren einer konsensfähigen Definition - weder für Oberbegriffe wie Selbstreferentialität oder Metafiktion noch für spezifischere Phänomene wie die mise en abyme zu leisten. So erweist es sich beispielsweise als unmöglich, Dällenbachs Kategorien »mise en abyme fictionnelle«, »mise en abyme énonciative« oder »mise en abyme (méta-)textuelle« getrennt voneinander zu untersuchen; ein solches Vorgehen wäre nur dann durchführbar, wenn die Priorität vom Verständnis des Textganzen auf das Bedienen der verschiedenen Kategorien verschoben würde. 270 Pichler weist zu Recht auf das terminologische › Katz-und-Maus-Spiel ‹ hin, das einige Autoren, z. B. Bartlett/ Suber bereits mit ihrer Titelgebung zu spielen scheinen: Self- Reference. Reflections on Reflexivity (vgl. P ICHLER , Das Spiel mit Fiktion, 68). 271 Etchisons Sammelband, der neue Entwicklungen im Horror-Genre präsentiert, trägt einen Titel, der angesichts der terminologischen Widrigkeiten mehrdeutig wird: Metahorror. 272 Fricke führt zur Rechtfertigung dieses Begriffes Novalis und Schlegel ins Feld, die im Zusammenhang mit selbstreferentiellem Schreiben programmatisch von »Potenzierung« sprechen (F RICKE , »Potenzierung«, 144 f.). 273 Ebd. 145. 274 Patricia Waugh, eine der ersten und bedeutendsten Forscherinnen auf dem Feld der Selbstreferentialität, versieht das erste Kapitel ihrer Monographie Metafiction mit einem sprechenden Titel: »What is metafiction and why are they saying such awful things about it? « 275 Vgl. Kapitel 2.2. 83 Wenn Scheffel nicht einmal Gides Les Faux-Monnayeurs als Beispiel für mise en abyme fassen kann, wenn Ron bei aller theoretischen Ausdifferenzierung in letzter Instanz auf die Resümierfähigkeiten des Lesers rekurriert, 276 wenn Meyer-Minnemann/ Schlickers einen Terminus zur Klassifizierung von mise en abyme zur Diskussion stellen und dabei einräumen, kein adäquates Textbeispiel für den entworfenen Terminus zu kennen 277 und wenn in dieser extremen und international betriebenen Terminologisierung die Zugehörigkeiten unklar und so letztlich obsolet werden, 278 dann wird deutlich, dass es der theoretische Diskurs in vielen Fällen seinem Untersuchungsobjekt gleichtut und um sich selbst kreist. Dabei wird der selbstreferentielle Text häufig nicht hinreichend berücksichtigt. Dass zwischen Text und Theorie ein Graben klafft, ist mittlerweile Forschungskonsens; 279 und dennoch konstatieren große Teile der aktuellen Forschung weiterhin einen bemerkenswerten Mangel an systematischen Beschreibungsmodellen für innovative Erzählformen und paradoxe Grenzüberschreibungen wie Metalepsen, mises en abyme und die verschiedenen Spielarten der Metanarration, Metadeskription und paradoxer Darstellungsverfahren. 280 Im Zuge dieser geforderten Ausdifferenzierung besteht latent die Gefahr, dass das › terminologische Dickicht ‹ die Sicht auf den Primärtext einschränkt, vordeterminiert oder sogar versperrt, besonders dann, wenn ganz bestimm- 276 Ron spricht in diesem Kontext von »the reader ’ s ability to give a verbal description or paraphrase which picks out of the story just that part which resembles the whole« (R ON , »The Restricted Abyss«, 429). 277 Den Mangel an einem literarischen Beispiel kommentieren die Autoren des Artikels wie folgt: »Malheureusement, nous n ’ avons pas trouvé d ’ exemples français pour la mise en abyme horizontale, mais nous sommes sûrs qu ’ il doit y en avoir« (M EYER -M INNEMANN / S CHLICKERS »La mise en abyme en narratologie«, 99). 278 Das terminologische Durcheinander wird in Chanadys Aufsatz, der eigentlich Klärung intendiert, besonders deutlich: »Ce qu ’ on appelle autoreprésentation du code devrait donc plutôt être rebaptisé autoréférentialité du code. Quant à l ’ autoreprésentation de la diégèse [. . .] il serait plus juste de parler de spécularité [. . .]. Une œ uvre dont l ’ aspect dominant est la spécularité ne fait pas nécessairement partie de la métalittérature, quoiqu ’ elle puisse avoir des aspects métalittéraires« (C HANADY , »Une métacritique de la métalittérature«, 144 f.). 279 So heißt es im Vorwort des Sammelbandes Metaisierung in Literatur und anderen Medien, »es [sei] höchste Zeit, dass die in der Erzählforschung bislang bestehende große Kluft zwischen differenzierter Theorie- und Begriffsbildung auf der einen Seite und zum Teil bemerkenswert schlichten Analysen und Interpretationen von Erzähltexten auf der anderen geschlossen wird« (H AUTHAL [u. a.], »Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate«, 17). 280 Ebd. 16. 84 ten »Schneisen« 281 gefolgt werden soll. In Wolfs Parallelführung von Botanik und Literatur, im Zuge derer für beide Disziplinen derselbe ordnende Anspruch abgeleitet wird, 282 bleiben entscheidende Merkmale literarischer Texte außen vor, die gerade dann eine besondere Schlagkraft entwickeln, wenn die Texte selbstreferentiell agieren: ihre semantische Nicht-Greifbarkeit, ihre Paradoxien, programmatische Vielschichtigkeit und ständige Selbstbespiegelung sowie ihre steten Angriffe auf den klassifizierenden Rezipienten. Grundsätzlich stellt sich die Frage, ob ein Text, der die eigene Geschlossenheit, Kohärenz, Eindeutigkeit und Sinnstiftung durch selbst produzierte innerfiktionale Strategien aufgreift und problematisiert - das Spektrum reicht von leichter Andeutung über völlige Selbstironie bis zu metaphorischer › Selbstvernichtung ‹ - durch eine im naturwissenschaftlichen Sinn klassifizierende Methode adäquat erfasst werden kann. Selbstreferentielle Texte inszenieren Widersprüchlichkeiten, produzieren und rezipieren sich selbst, spielen in jeglicher Hinsicht Grenzübertretungen durch und fordern eine solche Flexibilität auch dem Rezipienten ab. Sie präsentieren sich als prozesshaft, vorläufig und potenziell unabschließbar; erinnert sei an die Urform programmatischer Metafiktion, an Friedrich Schlegels progressive Universalpoesie: Andere Dichtarten sind fertig und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja, das ist ja ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. 283 281 W OLF , »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen«, 29 und 59. So fordern beispielsweise die Herausgeber des Sammelbandes Metaisierung in Literatur und anderen Medien eine Verwendung ihrer Kategorien: »Sieht man einmal ab von einigen Studien zu einzelnen Autorinnen und Autoren, so mangelt es drittens an literaturtheoretisch und terminologisch fundierten anwendungsorientierten Untersuchungen, die die Formen und Funktionen selbstreflexiver Phänomene unter Rückgriff auf die in diesem Band eingeführten Kategorien charakterisieren und analysieren« (H AUTHAL [u. a.], »Begriffsklärungen, Typologien, Funktionspotentiale und Forschungsdesiderate«, 16; m. H.). 282 Vgl. W OLF , »Metaisierung als transgenerisches und transmediales Phänomen«, 30: »Kann man im Ernst Wissenschaft ohne Beschreibungsdiskurs, ohne Begriffe betreiben, und verlangt nicht gerade die Vielzahl verwandter Begriffe in einem Wissensgebiet nach einer Systematik? Hat nicht z. B. Carl von Linné im 18. Jahrhundert durch die Systematik seiner Begrifflichkeit und Klassifikation v. a. die Botanik entscheidend vorangebracht? In der Tat: Das scheinbare Chaos der Phänomene bedarf kognitiver Ordnungsversuche, und seien die vorgeschlagenen Konzeptordnungen noch so problematisch und vorläufig. Es bedarf solcher Versuche umso mehr in einem Gebiet wie der Intermedialitätsforschung, an der mehrere Disziplinen beteiligt sind, denn wie sollte eine Verständigung über die Disziplingrenzen möglich sein, wenn die Gegenstände nicht klar beschrieben und mit Begriffen belegt wären? « 283 S CHLEGEL , »Athenäums-Fragmente«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 183. 85 Diese Ungebundenheit und Unabschließbarkeit bezieht Schlegel nicht nur auf die Werke selbst, sondern verlangt sie auch dem ordnenden Rezipienten ab: »Sie [. . .] kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen.« 284 Wenn nun aber immer neue Konzepte und Kategorien zur Selbstreferentialität von außen und mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit an Texte herangetragen werden, müssen Vielfalt und Widersprüchlichkeit selbstreferentieller Dynamiken notwendigerweise kanalisiert - und gegen Schlegel doch »zergliedert« werden: »das ist, als wenn ein Kind Mond und Gestirne mit der Hand greifen und in sein Schächtelchen packen will«. 285 Weite Teile der Forschung legen hingegen nahe, jedwedes Meta-Phänomen könne erfasst und klassifiziert werden, wenn nur die › Schachtel ‹ passend bzw. das Instrumentarium feinsensorisch genug sei. Dies ist vor dem Hintergrund, dass der selbstreferentielle Text selbst, in einigen Fällen mehr, in anderen weniger explizit, ein solches Vorgehen konterkariert, unterwandert oder parodiert, kritisch zu hinterfragen. 4.2 Neuperspektivierung der mise en abyme Un beau sujet! cela fait rire. G IDE , Les Faux-Monnayeurs 286 Gides kleiner Tagebuchabschnitt trägt in einem poetisch-poetologischen Wechselspiel eine Fülle an Implikationen und Assoziationen zum Verständnis von Funktions- und Wirkungsweisen der mise en abyme in sich. Der Autor scheint mögliche Effekte der mise en abyme nicht nur theoretisch zu evozieren, sondern durch semantische Unklarheiten und logische Brüche zu inszenieren, wodurch sich wichtige Anhaltspunkte für einen interpretatorischen Umgang mit abyssalen Werken gewinnen lassen. Gides Wappenexkurs wurde häufig so ausgelegt, dass die genaue Reproduktion eines Wappens - formaler oder inhaltlicher Natur - in sich selbst gemeint ist. In diesem Fall könnte man mit Morrissette davon ausgehen, dass Gide, da die Heraldik eine solche Konstruktion bisher nicht kennt, einen Fehler beging und sein Rekurs auf die Heraldik tatsächlich › unglücklich ‹ zu nennen ist. 287 In Anbetracht der reflektierten und ambivalenten Grundstruk- 284 Ebd. 285 S CHLEGEL , »Über Goethes Meister«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 133. 286 G IDE , Romans et récits, 421. 287 Vgl. Anm. 244. 86 tur seiner Tagebuchpassage, der Paradoxien und Mehrdeutigkeiten der gemalten Spiegel sowie seiner heraldischen Kenntnisse ist es aber durchaus möglich, dass Gide den heraldischen › Fehler ‹ bewusst beging. Gide ist nicht primär Theoretiker, sondern, wie die Schriftsteller und Maler, die er anführt, in erster Linie Künstler. Sein Wappenbild ist im übertragenen Sinn mit den gemalten Spiegeln vergleichbar. Die Maler konstruieren den Spiegel nicht als bloßen Gebrauchsgegenstand; als solcher würde er seine Gegenstände ausschnitthaft darbieten oder an beliebiger Stelle abschneiden. Dies ist aber in keinem der besprochenen Beispiele der Fall: Der Spiegel tritt vielmehr mit einem eigenen Bildgehalt autonom in ein Konkurrenzverhältnis zum Gesamtgemälde. Er stellt selbst ein Bild und insofern ein Paradoxon dar: Er gibt vor, materieller Spiegel zu sein, ist aber, als gemalter, immer bereits Kunst und insofern kein einfacher Spiegel mehr. Ähnliches geschieht im Wappenexkurs, in dem Gide auf eine gegenständliche, scheinbar reale Figur rekurriert: dasselbe Wappen im Wappen. Bezüglich der Form ist diese Spiegelung durchaus üblich, als verkleinerte Reproduktion von Form und Inhalt existiert sie realiter jedoch nicht. In dieser Hinsicht gleicht Gides Wappenkonstruktion, wenn er sie denn tatsächlich als exakte Wiederholung des Selben im Selben verstanden wissen will, den gemalten Spiegeln - evoziert werden vermeintlich reale Spiegelungen, die sich letztendlich als Inszenierungen poetischer Bilder herausstellen: Das gemalte Spiegelbild ist ebenso Konstruktion wie dasselbe Wappen im Wappen. Morrissette spricht mit Blick auf Gides Wappenvergleich von einer »fausse métaphore«. 288 Doch inwiefern kann eine Metapher falsch sein, insbesondere dann, wenn ein Dichter sie verwendet? Sie ist bestenfalls kühn, aber sie ist nicht falsch. Sie regt dazu an, Entferntes aufeinander zu beziehen und schafft semantischen Mehrwert: Und eben dies ist auch eine der zentralen Funktionen der mise en abyme. Laut Roman Jakobson ist jede »poetische Mitteilung [. . .] eigentlich zitierte Rede mit all den eigentümlichen und verwickelten Problemen, welche die › Rede innerhalb der Rede ‹ dem Linguisten auferlegt.« 289 Die mise en abyme potenziert dieses › Problem ‹ der › Rede innerhalb der Rede innerhalb der Rede. . . ‹ ad infinitum. Sie verleiht einem literarischen Werk Tiefe, spaltet es in mehrere Illusions- und Sinnebenen auf und stellt diese durch eine Vielzahl an sichtbaren und versteckten (Zerr-)Spiegelungen in einen gemeinsamen Horizont. Bereits in ihrer Begrifflichkeit ist sie - in viel stärkerem Maße als beispielsweise der Begriff der Metafiktion oder jener des Theaters auf dem Theater - selbst eine Metapher. 288 M ORRISSETTE , »Un héritage d ’ André Gide«, 128. 289 J AKOBSON , »Linguistik und Poetik«, in: ders., Poetik, 111. 87 Es ist anzunehmen, dass sich Gide bewusst für den Facettenreichtum und die Paradoxien der gewählten Begrifflichkeit entschied. 290 Die Vorstellung, dass sich ein Kunstwerk selbst › in den Abgrund setzt ‹ löst eine Fülle unterschiedlicher, widersprüchlicher und beunruhigender Assoziationen aus. Diese schon im Begriff angelegte Polysemantik und Nicht-Greifbarkeit, die den vielschichtigen Funktionen der mise en abyme für den Primärtext und Wirkungen auf den Rezipienten korrespondiert, führt Gide in actu vor: Seine scheinbare begriffliche Festlegung der mise en abyme ist vielmehr ein Aufzeigen ihrer Abgründigkeit. Diese Abgründigkeit zeigt sich selbst in der Orthographie des abyme. Gide verwendet den Begriff nicht nur inhaltlich › falsch ‹ , sondern verändert auch dessen Schreibung. Der Autor entscheidet sich für die Orthographie en abyme mit y, obwohl sich selbst in der Heraldik jene mit î bereits zu Gides Zeiten durchgesetzt hatte. 291 In Gides heraldischem Lexikon heißt es noch »abysme«: mit y und s. 292 Gide hingegen übernimmt das y, nicht aber das s. Gruber mutmaßt, Gide verwende diese Schreibung in Anlehnung an den Heraldiker Victor Bouton und dessen Nouveau traité du blason, dem sie darin »versehentlich unterlief«. 293 Grubers These muss aber Spekulation bleiben, da nicht rekonstruiert werden kann, welche heraldischen Handbücher Gide im Einzelnen konsultierte. Es ist auch nicht zentral, ob Gide diesen › Fehler ‹ kopiert oder ihn selbst begeht. Wichtig ist, dass er sich für ein Graphem entscheidet, das weder das damals (wie heute) geläufige Wort für › Abgrund ‹ (abîme) übernimmt noch dessen gängige Vorformen, wie beispielsweise abisme oder abysme, sondern bekannte Schreibweisen in einer leicht verfremdeten Orthographie unterläuft. Gide lässt seine Tagebuchpassage also in einem, je nach Blickwinkel, falschen oder innovativen Begriff kulminieren, was abermals den ambivalenten, poetischen wie poetologischen Charakter seiner Äußerungen unterstreicht. Akustik und Grafik klaffen in der Folge auseinander. Abyme lässt akustisch den abîme, den Abgrund, anklingen; graphisch erfolgt allerdings eine Distanzierung. So schwingt der Abgrund in seiner metaphysischen Bedeutung immer mit - wie in Les Faux-Monnayeurs beispielsweise in der Nähe von Teufel, Engel und mise en abyme oder im Ortswechsel zwischen Paris/ Saas-Fée/ Paris als Wechselspiel von diabolischer Tiefe und sublimer Höhe nachvollzogen werden kann. Gleichzeitig geht 290 Eben den Facettenreichtum der Begrifflichkeit blendet Dällenbach dezidiert aus. Die mise en abyme sei ein terminus technicus und auch als solcher zu behandeln (D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 17). 291 Vgl. G RUBER , »Literatur und Heraldik«, 224. 292 Vgl. Anm. 255. 293 G RUBER , »Literatur und Heraldik«, 224. 88 der abyme über den abîme hinaus, öffnet ihn auf andere Bereiche hin, bricht ihn auf für Spekulationen, lässt Raum für Paradoxien. Es wirkt, als würde sich Gides Offenheit im abyme-Begriff bereits in der Wortarchitektur visualisiert finden. Abyme sprengt mit seinem y das eigentlich gängige î auf und vollzieht anstelle des schließenden Daches eine horizontale wie vertikale Verlängerung in die Tiefe, die insgesamt auch graphisch eine Öffnung bewirkt. Eben diese öffnende Wirkung, so wird sich in der Textanalyse zeigen, entfalten abyssale Verfahren nicht zuletzt dadurch für den Gesamttext, dass sie sich im Verbund mit › fehlerhaften ‹ und gleichzeitig innovativen Textdynamiken vollziehen. 294 Gide skizziert also ein Konzept, verwischt aber im selben Handstreich dessen Grenzen. Der Autor nennt unterschiedlichste literarische und malerische Werke von hoher Komplexität, um abschließend und ohne weitere Erklärungen in den Raum zu stellen, dass das, was er eigentlich meine, sich am ehesten in der vergleichsweise schlichten (aber nur formal existenten) Figur eines › blason en abyme ‹ realisiert finde. Er konstruiert seine Ausführungen zwar einerseits in Form einer Klimax, die er mit den verschiedenen Beispielen aus Malerei, Literatur und Heraldik illustriert, andererseits aber hält er keines dieser Beispiele für »absolument juste«; 295 letztlich auch den heraldischen Abgrund nicht. Er rundet seine Skizze selbstreferentieller Dynamiken zwar final mit dem Exkurs in die Heraldik ab, der heraldische abyme ist als Beispiel aber auch nicht › absolut richtig ‹ , sondern nur richtiger: »Aucun de ces exemples n ’ est absolument juste. Ce qui le serait beaucoup plus [. . .].« 296 Gide macht also keinen Hehl daraus, dass er die Gestalt, die Funktions- und Wirkungsweisen der mise en abyme gedanklich nur umkreist; er gibt nicht vor, sie zu fassen. Es ist folglich widersinnig, dem Dichter, wie häufig geschehen, definitorische Widersprüchlichkeit vorzuwerfen und die seither (und bis heute) schwelenden Schwierigkeiten in der theoretischen Definition von mise en abyme auf die Kryptik und die Widersprüchlichkeiten von Gides Tagebucheintrag - oder spezifisch auf den scheinbar unzuläng- 294 Die Nähe und gleichzeitige Differenz, Weiterentwicklung oder Andersausdeutung des bereits bestehenden und semantisch besetzten Begriffs abîme in abyme erinnert an das rund 80 Jahre später von Derrida geprägte Kunstwort der différance. Dieses lässt Derrida ebenfalls aus der auditiv nicht erfassbaren Überführung eines Buchstabens (e) in einen anderen (a) entstehen, um sein Aufgreifen und Neujustieren einer bereits existenten Konzeption, jener von Saussure, schon in der Orthographie sichtbar zu machen. Sowohl mise en abyme als auch différance weisen explizit auf etwas hin, das in jedem Text und a priori in jedem Kunstwerk implizit angelegt ist: Mehrdeutigkeit, infinite Verweisstrukturen und Dekonstruktion von finalen Bedeutungszuschreibungen. Vgl. zur mise en abyme bei Derrida: B ERTA , Oltre la mise en abyme, 223 - 236. 295 G IDE , Journal, 171. 296 Ebd. 89 lichen Vergleich mit der Wappenkunde - zurückzuführen. 297 Gide reflektiert die mise en abyme offenbar nicht nur aus poetologisch klassifikatorischer, sondern auch aus poetischer Motivation, und dies ist für die Untersuchung abyssaler Strukturen von zentraler Bedeutung. Texte en abyme sind zugleich Literatur und Theorie, literarische Theorie und theoretische Literatur. Als solche sind sie per se beides, sowohl programmatisch, explizit und kohärent als auch mehrdeutig, implizit und widersprüchlich; eben dies wird an Gides Tagebuchpassage deutlich. Es scheint Gide nicht auf eine korrekte Bildlichkeit im Besonderen oder Kohärenz, Nachvollziehbarkeit oder Systematik im Allgemeinen anzukommen, sondern auf die prozessuale Begrifflichkeit eines »mettre [. . .] en abyme«. 298 Bezeichnenderweise ist es nicht Gide, der die Spiegelungen terminologisch als mises en abyme festhält, sondern die Forschungsliteratur. 299 Gide bietet kein begriffliches › Produkt ‹ an, sondern akzentuiert die Prozesshaftigkeit des beschriebenen Phänomens auch auf terminologischer Ebene: »ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second › en abyme ‹ .« 300 Angesichts der bevorstehenden Analyse abyssaler Texte stellt sich die Frage, was unter Gides en abyme transponierten »sujet même de cette œ uvre« zu verstehen ist, mit besonderem Nachdruck. Gide deutet an, dass ihm die Transposition eines sujet même desselben Werkes gefalle, dass dieser Vorgang das Werk erhelle sowie dessen Gesamtproportionen auslote, und nennt für dieses Verfahren einige Beispiele; wie und auf welchen Ebenen sich die Transposition vollzieht und worin das sujet même besteht, sagt er jedoch nicht oder nur ambivalent. Der Exkurs in die Heraldik verdeutlicht, dass der Herzschild jene Informationen trägt, die für das Grundverständnis des Gesamtschildes von zentraler Bedeutung sind; en abyme (oder heraldisch: en abîme) offenbart sich also der Gehalt, das elementare Wesen der Gesamtkonstruktion. Erst vom Herzschild ausgehend lassen sich die vielfältigen Gesamtrelationen verstehen. Angesichts der offensichtlichen Relevanz des Gehalts en abyme stellt sich die Frage, was genau dort zu erkennen ist: Lassen sich generelle Aussagen über die Natur des abyssalen Teils treffen? Ein Herzschild, der mit dem Gesamtwappen identisch wäre, ist je nach Perspektive falsch oder fiktiv. Einerseits betont Gide also die Bedeutsamkeit des en abyme transponierten sujet, das durch das Adjektiv même noch verstärkt 297 Vgl. z. B. D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 61 oder G OEBEL , »Vorgespielte und wahre Unendlichkeit«, 92. 298 G IDE , Journal, 171. 299 Vgl. M AGNY , Histoire du roman français, Bd. I, 269 - 278. 300 G IDE , Journal, 171; m. H. 90 wird, andererseits belässt er es unkonturiert, mehr noch, er zeichnet es als Paradoxon. Das sujet même ist in seiner Doppelbedeutung von Subjekt und Sujet schon per se ambivalent. 301 Als »le sujet même de cette œ uvre« zeigt es sich aber noch ambivalenter. Was ist »le sujet même« desselben Werkes? Und wie lässt es sich verbindlich bestimmen? Es ist bemerkenswert, dass ein Autor überaus komplexer Texte wie selbstverständlich postuliert, das sujet même eines Werkes lasse sich so einfach festlegen. Was kann beispielsweise als sujet même seines Romans Les Faux-Monnayeurs bezeichnet werden? Der Roman scheint in seiner Vielsträngigkeit gerade darauf angelegt zu sein, kein eindeutiges sujet même darzubieten. Andererseits tut er es doch: im Romanprojekt Edouards. Sein Roman, so betont der fiktive Autor beständig, habe aber ebenfalls kein sujet: »Mon roman n ’ a pas de sujet.« 302 Das › sujet principal ‹ oder das › sujet profond ‹ , wie es in Parallelstellen heißt, sei gerade nicht fest oder statisch, sondern bestehe im »effort du romancier«, Welt und Realität in Stilisierung und Fiktion zu überführen. 303 Im Zuge dessen dürfe der Künstler nichts erzwingen, sondern müsse betrachten, wie sich sein sujet von selbst entfalte: »Je crois«, notiert Gide 1921 in sein Tagebuch, »que le majeur défaut des littérateurs et des artistes d ’ aujourd ’ hui est l ’ impatience: s ’ ils savaient attendre, leur sujet se composerait lentement de lui-même dans leur esprit«. 304 Eben dieses Phänomen ist vielen selbstreferentiellen Texten zu eigen, scheinen sie sich im Potenzieren ihrer Fiktion(en) - autopoietischen Systemen gleich - eigenmächtig fortzuentwickeln. Diese autopoietische Dynamik klingt auch in Gides Beschreibung eines Wappens im Wappen an: »ce procédé du blason qui consiste, dans le premier, à en mettre un second › en abyme ‹ .« 305 Es scheint, als würde Gide dem Wappen eine aktive Rolle zuerkennen: › dieser Prozess des Wappens, der darin besteht, in das erste ein zweites hineinzusetzen. ‹ In dieser Formulierung, der aufgrund ihrer finalen Stellung in der Tagebuchpassage eine besondere Relevanz innewohnt, ist nicht recht ersichtlich, wer der Initiator eines solchen Prozesses ist. Das Wappen selbst? Oder eine externe, eine autoritative Instanz? Eine ungezwungene Entwicklung der literarischen › Komposition ‹ aus sich selbst heraus reflektiert Gide expliziter an anderer Stelle in seinem Tagebuch: »La composition d ’ un livre, j ’ estime qu ’ elle est de première importance [. . .]. Je vais vous dire le fond de ma pensée là-dessus: le mieux est de laisser l ’œ uvre se composer et s ’ ordonner elle- 301 Vgl. Kapitel 3.1. 302 G IDE , Les Faux-Monnayeurs, in: ders., Romans et récits, 312. 303 Ebd. 312 f. 304 G IDE , Journal, 1156. 305 Ebd. 171. 91 même, et surtout ne pas la forcer.« 306 Les Faux-Monnayeurs lässt sich als vielschichtiger Roman über das Schreiben eines vielschichtigen Romans (über das Schreiben eines vielschichtigen Romans) verstehen, wobei die langsame Entwicklung eines sujet même eben zum sujet même des Gesamtwerkes wird. So ist es zunächst als Abwesendes bzw. als werkintern erst noch zu Findendes erkennbar. Geeignetes Instrument dieser autopoietischen Entwicklung eines Sujets ist die mise en abyme. Diese essenzielle Funktion der Selbstbespiegelung zeigt sich anschaulich in den von Gide genannten Gemälden. Nimmt man Gide beim Wort, ist das sujet même, das sich im Spiegel zeigen soll, in Memlings Madonna mit dem Donator die Anbetung der Madonna, was von allen Beispielen noch am eingängigsten wäre; doch soll das sujet même in van Eycks Arnolfini-Doppelbildnis die Anwesenheit zweier fremder Männer, in Massys ’ Der Geldwechsler und seine Frau jene eines lesenden Mannes, in Memlings Maria mit dem Kind die ebenfalls unerklärbare Präsenz zweier Kinder und in Velázquez ’ Las Meninas die (nur mutmaßliche) Gegenwart des Königspaars sein? In allen Fällen inszenieren die Spiegel keine eindeutigen sujets mêmes, sondern im doppelten Sinne des sujet-même-Begriffs personale wie thematische Fremdkörper, die man mit Wolfgang Iser als Leerstellen verstehen kann; 307 durch die stete Inszenierung von Fenstern - wiederum Öffnungen bzw. leere Stellen - im Spiegel werden sie noch akzentuiert. Der Spiegel zeigt dem Betrachter kein eindeutiges sujet même, sondern provoziert Reflexionen darüber, was in der Wechselwirkung von Gesamtwerk und Teil en abyme überhaupt als sujet même entwickelt bzw. verstanden werden kann. Die Suche (des Schöpfers, des Werkes selbst sowie des Rezipienten) nach einem sujet même wird in Las Meninas besonders faszinierend in Szene gesetzt. Was ist das sujet même dieser vielschichtigen Konstruktion? Die Infantin und die Hoffräulein? Das Königspaar? Der Maler? Das Malen? Ein Anhaltspunkt ist die bildinterne Leinwand, die wir - ihrerseits eine Leerstelle - als reines Gerüst aus Leinen und Holz nur von hinten sehen. Letztendlich wissen wir als Betrachter nicht, was der fiktive Velázquez malt. Das sujet même seines Werkes ist nicht identifizierbar. Der Maler selbst hält gerade einen Moment inne - den Pinsel zwischen Farbe und Leinwand - , um sein Sujet zu betrachten, um es erst entwickeln und in Kunst überführen zu können. Dabei trifft sein Blick den unseren, und so scheint es, als wäre der Betrachter selbst konzeptueller Teil des sujet même dieses Gemäldes. Der Spiegel erlaubt uns einerseits einen Blick auf das gemalte Sujet (das Königspaar); andererseits zeigt die Vielzahl 306 Ebd. 1156; Hervorhebung im Original. 307 Vgl. Kapitel 6.7. 92 von Einwänden, die immer wieder gegen die These eines en abyme gemalten Königspaares vorgebracht wird, 308 dass sich das sujet même gerade nicht bereitwillig fassen lässt, 309 sondern den Prozess seiner Findung und Ausgestaltung fiktionsintern erst durchläuft. Es wird ewig in dieser Dynamik verharren und den Betrachter insofern kontinuierlich dazu herausfordern, es identifizieren zu wollen. Das sujet même ist, so hat sich bisher gezeigt, nicht statisch; und die mise en abyme ist weniger ein Instrument der Spiegelung eines fertigen sujet même als vielmehr ein Medium seiner Inszenierung und Auslotung. Der Fokus der folgenden Textanalyse richtet sich vornehmlich auf jene drei Instanzen, die an der werkinternen Zurschaustellung und Entwicklung eines sujet même beteiligt und insofern in selbstreferentiellen Texten besonders akzentuiert sind: illusionsintern inszenierte Produktions- und Rezeptionsprozesse künstlerischer Werke sowie die en abyme zur Schau gestellten und mit einer impliziten (sowie ambivalent bis › fehlerhaft ‹ inszenierten) Poetologie versehenen Werke selbst. Durch die Untersuchung theatraler Texte erhält jede dieser Perspektiven mindestens ein Pendant: dem Dichter en abyme wird ein Regisseur (bzw. ein Dramaturg) zur Seite gestellt, dem Leser ein Zuschauer, dem Text eine Inszenierung, der Figur ein Schauspieler. Da sich alle abyssalen Texte auf mehreren Illusionsebenen abspielen, werden zunächst die Pluralität dieser Ebenen, ihr Verhältnis zueinander sowie ihre jeweiligen Grenzräume (zwischen Realität und Fiktion) in den Blick genommen. 308 Vgl. beispielsweise S EARLE , » › Las Meninas ‹ and the Paradoxes of Pictorial Representation«, 485. 309 So fragt Svetlana Alpers zu Recht: »Where are the king and queen or what is the source of their reflections, and what is the subject on the unseen canvas? « (A LPERS , »Interpretation without Representation«, 33; m. H.). Oder mit Snyder auf das Gesamtgemälde bezogen: »What, then, is the subject of Las Meninas? « (S NYDER , » › Las Meninas ‹ and the Mirror of the Prince«, 564; m. H.). 93 5. Yasmina Rezas Une pièce espagnole 5.1 Am Ende ein Vorspiel. Ebenenkonstruktion und Ausgangspunkte en abyme P ARSKY . Écrire pour le théâtre? Non, non, non . . . Mais non! Comment même l ’ idée peut me traverser l ’ esprit! Je dois avoir quelque chose de vicié dans le cerveau. D ’ ailleurs au théâtre, je ne supporte que le boulevard . . . R EZA , L ’ homme du hasard, 23. A URELIA . Voulez-vous bien, puisque c ’ est notre dernière fois, que je vous joue ce Prélude? R EZA , Une pièce espagnole, 121. Nach zwei Romanen, zwei Drehbüchern und fünf Theaterstücken erscheint 2004 Yasmina Rezas Une pièce espagnole. 310 Aufgrund seiner strukturellen Komplexität bekleidet es eine Sonderstellung in Rezas Werk. Diese Sonderstellung wird sowohl von der Reza-Kritik als auch von Reza selbst hervorgehoben, wobei sich allerdings eine deutliche Diskrepanz abzeichnet: Auf der einen Seite findet sich eine Vielzahl von Feuilleton-Kritikern, 311 die das Stück gerade wegen seiner vermeintlich dilettantischen Meta-Strukturen zumeist mit deutlichen Worten abqualifiziert. 312 Reza, so postulieren große Teile der Kritik, kreiere ein metatheatrales Stück, um als Schriftstellerin ernst genommen und mit Literaturgrößen wie Pirandello verglichen zu werden. 313 310 Im Folgenden werden die Seitenzahlen, die sich auf Une pièce espagnole beziehen, in Klammern in den Fließtext gesetzt. 311 Wissenschaftliche Beiträge zu Une pièce espagnole sind rar. Eine Ausnahme bildet Denis Guénouns Monographie über Rezas Werke, die dem Stück ein kurzes Kapitel widmet (vgl. G UÉNOUN , Avez-vous lu Reza? , 233 - 240). Amanda Giguere bespricht insbesondere verschiedene Inszenierungen des Stückes auf amerikanischen Bühnen (G IGUERE , The Plays of Yasmina Reza, 106 - 115). 312 So schreibt beispielsweise Dorothee Hammerstein in Theater heute, dass Une pièce espagnole, »dieses schlechte Stück«, keine nennenswerte Reflexion auf das Theaterspielen produziere, sondern lediglich oberflächlich mit Pirandello »flirte« (H AMMERSTEIN , »Glanz und Elend von St. Germain«, 30). 313 Nicht nur Une pièce espagnole, sondern auch andere Werke Rezas weisen selbstreferentielle Strukturen auf: »Art« verhandelt anhand eines monochromen Gemäldes eine spannungsreiche Auseinandersetzung mit dem Wert und der Beurteilung moderner 94 So wird Une pièce espagnole häufig als oberflächliches Metaspektakel abgetan, als später Ausläufer jenes Trends der 1980er Jahre, Spiel-im-Spiel-Produktionen publikumswirksam bis zum Exzess zu treiben. 314 Auf der anderen Seite steht die Autorin selbst, die mit Nachdruck die poetologische Bedeutung ihres Stückes betont: »Étrange impression que ce texte [Une pièce espagnole] est un condensé de tout ce qui m ’ a jamais intéressée dans l ’ écriture.« 315 Vor dem Hintergrund der bisherigen Beobachtungen verwundert es nicht, dass Reza das poetologische › Kondensat ‹ ihres bisherigen Schreibens in den Strukturen einer mehrfachen mise en abyme verhandelt. Une pièce espagnole ist nicht lediglich ein spanisches Stück, sondern, analog zur länderspezifischen Titelgebung: ein bulgarisches Thesenstück in einer spanischen › Familienkomödie ‹ (37), die von einer französischen Ebene kommentierender Schauspieler-Figuren gerahmt wird; im Kern dieser Verschachtelung, ausgehend von der bulgarischen Ebene, findet sich ein Präludium Mendelssohns und insofern ein weiteres Stück. Durch diese Verschachtelung ergibt sich das folgende › Wappen ‹ : F RANZÖSISCHE E BENE S PANISCHE E BENE B ULGARISCHE E BENE M ENDELS - SOHNS P RÄLUDIUM Kunst, die Hauptfiguren in L ’ homme du hasard und Adam Haberberg sind Schriftsteller, ebenso, wenn auch gescheitert, Avners Sohn in La Traversée de l ’ hiver und Alex in Conversations après un enterrement. Trois versions de la vie variiert dieselbe Beziehungskonstellation sukzessive dreimal und verdeutlicht insofern den Konstruktionscharakter literarischer Texte. 314 Vgl. zum Modetrend selbstreferentieller Inszenierungen: K OWZAN , »Théâtre dans le théâtre«. Brian McHale betont darüber hinaus die Wirksamkeit und weite Verbreitung der mise en abyme in narrativer Unterhaltungsliteratur wie beispielsweise in Kriminal- oder Fantasyromanen (vgl. M C H ALE , »Cognition En Abyme«, 180 - 184). 315 R EZA , L ’ aube le soir ou la nuit, 99 f. Die erhöhte Bedeutung, die sie gerade diesem formal auffälligsten ihrer Stücke zumisst, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie ein Binnenstück daraus, die spanische › Familienkomödie ‹ des fiktiven Olmo Panero, unter dem Titel Chicas (2010) verfilmt hat. Sie habe die Notwendigkeit empfunden, so die Autorin selbst, Paneros Stück nun tatsächlich auszuarbeiten (vgl. H ANIMANN , »Männerwelten, Frauensache«, n. pag.) Dieses Spiel mit einem selbst gestalteten fiktiven Alter ego wird im Folgenden noch deutlicher zu Tage treten. 95 Auf dem Herzschild, dem zentralen Ort der Gesamtkonstruktion, erklingt ein Präludium. Es geht den einzelnen Illusionsebenen, anders als ein Vorspiel suggeriert, aber nicht voraus, sondern markiert - als hörbarer Ausklang des Gesamtstückes - ihren gemeinsamen Schlussakkord. Im Verlauf des Gesamtstückes wird das Präludium nicht nur mit Anspielungen auf Bach, seine Fugentechnik sowie Erläuterungen zur Werkgenese versehen, sondern darüber hinaus mit detaillierten Kommentaren zur Spielästhetik angereichert, womit sich deutliche Spiegelungen en abyme auf das Stückganze ergeben. Das bulgarische Binnenstück (mit Mendelssohns Präludium) ist folglich von zentraler Bedeutung für das abyssal eingerichtete Stück und wird steter Bezugspunkt sein. 316 Um das Vorspiel herum lagern sich drei theatrale Illusionsebenen. Auf der äußersten, der französischen, proben fünf Schauspieler-Figuren - A CTEUR (qui joue Fernan), A CTRICE (qui joue Pilar), A CTRICE (qui joue Nuria), A CTEUR (qui joue Mariano) sowie A CTRICE (qui joue Pilar) - ein zeitgenössisches Theaterstück des fiktiven Nachwuchsschriftstellers Olmo Panero. Dabei reflektieren sie ihre Einstellung zu Schauspielexistenz und › echtem Leben ‹ (14) im Allgemeinen sowie ihr Verhältnis zu Autor, Mitspieler, Regisseur, Kritiker, Kostümbildner und einzuübender Rolle im Besonderen. Sie äußern sich nacheinander, in getrennten Sequenzen, 317 wobei ihre Aussagen stets als »imaginaire« gekennzeichnet sind. Diese imaginierte Auseinandersetzung des Schauspielers mit der Thematik › Theater ‹ weist weder eine kohärente Handlungsfolge noch einen Spannungsbogen noch (direkte) Interaktion zwischen den Figuren auf. Vielmehr wird den unterschiedlichen Charakteren die Gelegenheit geboten, sich scheinbar frei und spontan mit dem theatralen Makrokosmos auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung verläuft zumeist konfliktiv: Die Schauspieler-Figuren imaginieren eine Vielzahl berufsspezifischer Spannungen und Unannehmlichkeiten. 318 316 Die Relevanz des bulgarischen Stückes für ihr gesamtes Schreiben deutet die Autorin, ohne dies weiter auszuführen, in einem Interview an (vgl. R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 70). 317 Die fünf Schauspieler wählen fünf Ausdrucksformen: »Interview«, »Dialogue«, »Confession«, »Entretien« oder »Monologue«. Vier dieser fünf Ausdrucksformen, in denen sie das Wort ergreifen, implizieren die Präsenz von (mindestens) einer weiteren gesprächsbereiten Person. Die zweite Person ist zwar immer in gewisser Weise präsent - ihre Fragen, Kommentare, Ansichten, usf. lassen sich aus der Rede des Schauspielers rekonstruieren - sie ist aber niemals physisch anwesend. Der Schauspieler, der sich stets an eine bestimmte Person zu richten scheint, spricht de facto ins Leere: »devant personne« (29). Dies unterstreicht die Künstlichkeit der dargebotenen Situation. 318 In der Forschungsterminologie würde diese Ebene als »thematisches Metadrama« bezeichnet (vgl. V IEWEG -M ARKS , Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, 19 - 22). 96 Die zweite Fiktionsebene beginnt immer dann, wenn sich die fünf Schauspieler-Figuren ihrer Anmerkungen zu Theaterbetrieb und Schauspielkunst enthalten und ausschließlich ihre Rolle in Paneros Stück verkörpern. Letzteres spielt in Spanien und inszeniert eine spanische Familie: Die nachmittägliche Zusammenkunft, zu der die etwa sechzigjährige Pilar einlädt, um ihren neuen Lebensgefährten Fernan mit ihren beiden Töchtern Nuria und Aurelia sowie deren Ehemann Mariano bekannt zu machen, artet zusehends in ein Fiasko aus Eifersucht, Missgunst, Täuschung, Beleidigung, Handgreiflichkeiten sowie Alkohol- und Valiumkonsum aus. Paneros › Familienkomödie ‹ gestaltet sich also in der für Reza nicht untypischen › soziohysterischen ‹ Prägung. Das Tor in die dritte Illusionsebene bildet Aurelias Beruf. Sie ist, wie ihre Schwester, Schauspielerin: Aurelia erfolglos in kleinen Theaterrollen, Nuria preisgekrönt in seichten Filmproduktionen. Aurelia probt gegenwärtig ein bulgarisches Stück aus den 1970er Jahren, ihr Mann Mariano dient ihr dabei als Stichwortgeber; sie verkörpert die Rolle der Klavierlehrerin Mademoiselle Wurtz, er, wenn auch nur als provisorischer Notbehelf, jene des Klavierschülers Monsieur Ki š . Die Sprache ist pathetisch, die Handlung überschaubar: Die Lehrerin liebt ihren Schüler. Ob ihre Liebe erwidert wird, bleibt ungewiss. Das Stück spielt im Bulgarien der 1970er Jahre, seine Figuren sind Bulgaren. Wird es zum Gegenstand einer Unterhaltung, nennt man es - wie angelehnt an Une pièce espagnole - schlicht »une pièce bulgare« (52). Wieder klassifizieren Herkunft des Autors und Handlungsort das jeweilige Stück minimal, doch offenbart auch dieser Titel unüblicherweise weder eine Gattung, noch eine zentrale Figur, weder einen Motivkomplex noch einen Handlungsstrang, Charakterzug oder Sinnspruch. Durch diese verdoppelte Konstruktion eines jeweils länderspezifisch betitelten Binnenstückes ergeben sich bereits strukturell deutliche Spiegeleffekte, die durch die gemeinsame Rahmung einer französischen Ebene noch verstärkt werden. Auch das bulgarische Stück markiert im Gefüge der Illusionsebenen noch keinen Endpunkt, sondern eröffnet seinerseits einen weiteren Spielbereich, mehr noch, es treibt das Spiel im Spiel im Spiel im Spiel auf seinen expliziten Höhepunkt: Besprochen und letztendlich gespielt wird kein Bühnenwerk, sondern ein Präludium von Mendelssohn und insofern, analog zur Gesamtstruktur, ein deutsches Stück. So ist die bulgarische Illusionsebene, auf der ein Musikstück besprochen, geübt und letztendlich in toto gespielt wird, also schon per se eine Metaebene: Sie handelt nicht primär davon, was zu spielen sei, sondern vielmehr wie. Dabei reflektiert sie en abyme die Grunddisposition des Gesamtstückes. Une pièce espagnole inszeniert ein Spiel (die spanische › Familienkomödie ‹ ) und zugleich Direktiven zur Spielweise dieses Spiels (die 97 französische Metaebene). Diese Konstellation findet sich im bulgarischen Stück zwischen Theorie (des Klavierunterrichts) und Praxis (des finalen Vorspiels) auf ein und derselben Illusionsebene zusammengeführt; insofern lässt es sich als Kondensat der Gesamtkonstruktion verstehen. Eine Gemeinsamkeit zwischen den gerahmten Ebenen besteht darin, dass keine unverzerrt zum Ausdruck kommen kann: das Klavierspiel nicht wegen der Unfähigkeit des Schülers und der Kommentare der Lehrerin, das bulgarische nicht wegen Marianos Interventionen und das spanische nicht wegen der Einschübe der monologisierenden Schauspieler; alle Binnenstücke werden ständig durch metatheatrale Kommentare parzelliert. En abyme wird also eine Situation durchgespielt, die sowohl jener der sie umgebenden Ebenen als auch der realen Inszenierung von Une pièce espagnole entspricht: Es liegt ein Werk vor, ein Präludium, das zwischen Schöpfer (Mendelssohn), interpretierender Mittlerfigur (Klavierlehrerin) und Rezipient (Klavierschüler) ausgehandelt wird. Eben diese Dreiteilung entspricht der theatralen Grundkonstitution: Ein Stück - sei es eines der Binnenstücke oder das Gesamtwerk - wird zwischen seinem Schöpfer (Reza, Panero oder dem bulgarischen Dramatiker), interpretierenden Vermittlern (in Gestalt realer oder fiktiver Regisseure und Schauspieler) sowie seinen außerwie innerfiktionalen Rezipienten ausgelotet. So ergibt sich das Bild einer französischen Schauspielebene, in die eine spanische Familienkomödie, ein bulgarisches Zweipersonenstück › düsterer ‹ Grundstimmung 319 sowie ein Präludium Mendelssohns eingelagert werden. Im Zuge dieser mehrfachen mise en abyme ergibt sich zwar eine Reihe von Spiegeleffekten, die den gegenseitigen Bezug der Ebenen aufeinander betont, gleichzeitig aber zeigt sich Une pièce espagnole in Bezug auf Gattung, Stil und Thematik disparat. Das Gesamtstück, so der eingangs angedeutete Vorwurf vieler Rezensenten, falle auseinander, sei zu überladen. Dennoch trifft die häufig im Umgang mit (v. a. postmoderner) Selbstreferentialität zu verzeichnende Schwierigkeit, verschiedene Illusionsebenen als solche zu identifizieren und präzise voneinander zu scheiden, auf Une pièce espagnole gerade nicht zu. 320 Die Illusionsebenen werden durch eine eigene Titelgebung sowie ein verändertes Druckbild explizit voneinander geschieden. Jede der 28 Szenen trägt eine Kennzeichnung, die eine rasche Zuordnung zu einer der drei Hauptillusionsebenen erlaubt. Die Betitelung »[. . .] imaginaire. A CTEUR [oder] A CTRICE (qui joue [. . .])« kennzeichnet die erste Illusionsebene der französischen Schauspieler-Figuren. Sowohl die (spanische) zweite als auch die 319 So postuliert die A CTRICE (qui joue Aurelia): »Mon mari dans la pièce espagnole trouve cette pièce bulgare sinistre« (54). 320 Die Ebenen sind zumindest im Schrifttext deutlich voneinander getrennt. 98 (bulgarische) dritte Illusionsebene sind indessen mit »Pièce espagnole« überschrieben, wobei sich die bulgarische Illusionsebene wiederum von der spanischen abgrenzt, indem sie ein anderes Schriftbild aufweist. So unmissverständlich die formal sichtbare Dreiteilung in eine französische, eine spanische und eine bulgarische Spielebene erfolgt, gliedert sich Une pièce espagnole auch innerfiktional durch einen dreifachen Rollenwechsel in drei Spielebenen auf, die mit Blick auf Raum, Zeit, Figur, Handlung und Sprache sehr unterschiedlich konzipiert sind. Es treten also, wenn das Präludium als eigenständig betrachtet wird, 321 vier autonome Spielbereiche mit jeweils eigener Realität zu Tage. Keine der Illusionsebenen ist - anders als in Provincetown Playhouse oder Les Nègres - als Handlungsmotor einer anderen instrumentalisiert. Die Figuren stellen keine raum-zeitliche Nähe und insofern keine funktionale Einbindung her, indem zumindest eine von ihnen einem der Binnenstücke als unmittelbarer Zuschauer beiwohnen und das Gesehene auf die eigenen Belange einwirken lassen würde. 322 Man spricht im spanischen Stück über das bulgarische, und wie zur (bestätigenden oder kontrastiven) Illustration des Gesagten wird das bulgarische Stück gelegentlich auch für den externen Zuschauer präsentiert. Analog verhält es sich auf metatheatral höherer Ebene, vom französischen zum spanischen Stück. So werden die Grenzen zwischen den Spielbereichen auch niemals in actu überschritten. Die Figuren fallen nicht aus ihrer Rolle 323 oder erschaffen, wie es beispielsweise den Figuren in Genets Stücken beliebt, mit wenigen Worten neue Illusionen, zwischen denen sie dann metaleptisch hin- und herwanderten. So erweckt Une pièce espagnole den Eindruck, zwar komplex konstruiert, aber überschaubar und in letzter Instanz › autoritär ‹ geordnet zu sein. Dennoch gewinnt die mise en abyme, wie sich im Folgenden zeigen wird, an Tiefe. Der Vergleich der Stückkonstruktion mit dem oben skizzierten Wappenbild ist also, anders als sich für die Stücke Chaurettes oder Genets zeigen wird, tragfähig: Die Ebenen sind zwar ineinander gelagert, gleichzeitig aber durch graphische wie inhaltliche Grenzen voneinander getrennt. Den konzeptuellen › Herzschild ‹ dieser Konstruktion bildet das Präludium von Men- 321 Das Präludium stellt zwar keine eigene theatrale Illusionsebene dar, ist aber als eigenständiges Werk im Werk mit deutlichen poetologischen Implikationen als mise en abyme zu verstehen. 322 Zwar ist Mariano bei Aurelias Proben anwesend, doch ist er selbst als Monsieur Ki š in diese Probe involviert. Aurelias Familie aber sieht sich das bulgarische Stück an keiner Stelle an, sie lässt es also nicht zum Bestandteil ihrer Realität im spanischen Stück werden. 323 Die Ausnahme bildet der Monolog des Schauspielers, der Mariano verkörpert (27. Szene). Vgl. Anm. 367. 99 delssohn. Une pièce espagnole endet mit einer Szenenanweisung der bulgarischen Spielebene: »Mademoiselle Wurtz s ’ assoit et joue le Prélude n° 5 de Mendelssohn« (122). Diese dramaturgische Direktive, die den finalen Übergang der dritten (bulgarischen) auf die vierte und › tiefste ‹ abyme-Ebene (des Mendelssohn-Präludiums) markiert, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Sie eröffnet jene Untersuchungsfelder, die im Folgenden für Une pièce espagnole erörtert werden. Zum ersten endet das Stück paradoxerweise mit einem Vorspiel, wodurch es seinen vermeintlichen Endpunkt konterkariert: Indem Une pièce espagnole an letzter Stelle ein Vorspiel inszeniert, endet es zwar - und sogar publikumswirksam in einer Schlussmelodie - , doch gleichzeitig endet es nicht, ist ein Vorspiel doch per definitionem der Auftakt zu einem Hauptteil. Diese Infragestellung eines Schlusspunktes korrespondiert einigen grundlegenden Merkmalen, die sich als Hauptcharakteristika der mise en abyme erwiesen: Prozessualität, potenzielle Unabschließbarkeit, Zyklizität. So wirft ein Vorspiel en abyme grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit eines Werkganzen, nach seinen Grenzen und damit auch nach seiner abschließend beurteilenden Rezeption auf. Darüber hinaus ist das Vorspielen der Klavierlehrerin ein mehrdeutiges Geständnis: Indem sie spielt, › setzt sie alles auf eine Karte ‹ : »Voulez-vous bien, puisque c ’ est notre dernière fois, que je vous joue ce Prélude? Ceci est mon va-tout monsieur Ki š , je vais le jouer comme je vous l ’ ai expliqué« (121; m. H.). Durch ihr Klavierspiel versucht Lehrerin Wurtz ihren untalentierten Schüler Monsieur Ki š für sich einzunehmen, und bereitet diesen Moment mit ausführlichen Anweisungen zum Spiel verbal vor. Aus einer Meta-Position heraus kennzeichnet sie es als von tiefgründiger Relevanz: »On ne parle pas comme ça à un élève, ce n ’ est pas un cours, c ’ est une confidence, très haute, les mots dévoilent d ’ autres mots« (84). Ihr › sehr lautes Geständnis ‹ ist folglich in zweifacher Hinsicht eine Offenbarung: in ästhetischer (Wie soll das Kunstwerk gespielt werden? ) sowie in sentimentaler (Wird der Schüler die Gefühle der Lehrerin durch ihr Spiel erahnen und infolgedessen die seinen offenbaren? ). 324 Für das Verständnis der mise en abyme ist vor allem die Frage von Relevanz, inwiefern der (klavierspiel-)ästhetische Diskurs der Lehrerin als poetologisches › Geständnis ‹ des selbstreferentiellen Theaterstückes zu verstehen ist. Musikalische und poetische Kompositionsprozesse verschränken sich nämlich nicht nur an dieser Stelle, sondern gehen das gesamte Werk 324 Vor diesem Hintergrund ist das Präludium auch als Vorspiel zu einer Liebesgeschichte zu verstehen, die sich die Klavierlehrerin mit ihrem Schüler wünscht. 100 hindurch eine enge Verbindung ein. Diese Verbindung ist genauer zu betrachten, wobei insbesondere die Spielweise des Präludiums, ihre Widerspiegelung in der Tiefenstruktur von Une pièce espagnole sowie die Widmung an Bach (53) und die damit einhergehenden Gemeinsamkeiten zwischen Rezas Stück und Bachs Kunst der Fuge in den Blick zu nehmen sind. Neben der Prozessualität sowie dem poetologischen Geständnis offenbart die letzte Szenenanweisung ein Wechselspiel aus vrai und faux, aus Wahrheit, Wirklichkeit, Lüge und Illusion. Der Direktive, Mendelssohn zu spielen, die im Rahmen einer Inszenierung nicht hörbar ist, geht ein letzter verbaler Akt der Klavierlehrerin voraus: »[J]e ne veux pas être aimée pour de vrai« (122). Adressat ist ihr (nicht anwesender oder nicht in Erscheinung tretender) Schüler Ki š . Sie wolle nicht › in Wirklichkeit ‹ oder nicht › wahrhaftig ‹ geliebt werden. Ihre Worte sind nicht nur die letzten des bulgarischen, sondern zugleich die letzten des Gesamtstückes, womit sie besonders akzentuiert werden. Folglich ist der finale Höhepunkt non-verbal die besondere und ausführlich vorbereitete Interpretation eines Präludiums und verbal eine Problematisierung von Wahrheit und Fiktion. Diese Spannung zwischen Kunst und Kunstkritik, zwischen Fiktion und Wahrheit äußert sich nicht nur im Umfeld des zu spielenden Präludiums, sondern durchzieht als dicht geknüpftes Gewebe sowie als Grundkonstituente der mise en abyme das Werkganze. Diese Spannung zwischen Wahrheit und Schein blickt gerade im Theater auf eine lange Tradition zurück, in die sich Une pièce espagnole offenbar einreiht. Schließlich richtet sich das Augenmerk auf den Klavierschüler Ki š , mit dem das final erklingende Mendelssohn-Präludium zunächst geübt und für den es letztendlich gespielt wird. Er tritt vorwiegend als Rezipient bzw. »interprète« (82) ästhetischer Reflexionen in Erscheinung und spiegelt sich insofern in fiktionsinternen Zuschauerfiguren anderer Illusionsebenen wie beispielsweise Pilar, Fernan oder Mariano. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern Ki š’ Unvermögen, die ästhetischen Spielanweisungen zu erfassen oder erfassen zu wollen, als Spiegel verschiedener Rezeptionsprozesse in und von Une pièce espagnole zu verstehen ist. 101 5.2 Poetologisches › Im-Werden-bleiben ‹ durch die Dynamik der mise en abyme La seule différence entre la réussite et l ’ échec, avait dit Goncharki, c ’ est le mouvement. Un truc qui marche, ça crée de l ’ agitation. Vous échappez un peu à la morosité de la vie. R EZA , Adam Haberberg, 17. Das in Une pièce espagnole final gespielte und zuvor ausführlich besprochene Präludium gehört zu Mendelssohns Sechs Präludien und Fugen für Klavier (1837). 325 Die Klavierlehrerin betont, dass dieses Werk gerade ohne › die Lust entstanden sei, ein Werk zu erschaffen ‹ - »sans désir de faire une œ uvre« (53; m. H.). Die einzelnen Fugen weisen einen »ostentativ prozessual inszenierten Werkverlau[f]« auf. 326 Mendelssohn verfasst also eine Reihe von Präludien und Fugen, die zwar zu einem Werk - zum Opus 35 - zusammengefasst werden, aber weder für sich genommen noch in ihrer Zusammenstellung als Werk angelegt sind; und Reza wählt eines dieser Präludien aus, setzt es als Schlusspunkt unter ihr eigenes Werk und problematisiert gerade dadurch das Setzen eines solchen › Schlusspunktes ‹ und insofern das Setzen eines geschlossenen Werkganzen. Rezas stückintern betriebene Infragestellung eines Werk-Begriffs erinnert an Gides prozessuale und ambivalente Formulierung eines »sujet même de cette œ uvre«. 327 Gide lässt in seiner Tagebuchpassage nicht nur das sujet même (und damit seinen Werk-Begriff) im Unklaren, sondern inszeniert diese Unklarheit durch die Auswahl seiner Beispiele, durch › fehlerhafte ‹ Inhalte und Schreibweisen oder mehrdeutige Reflexionen. Eine solche Inszenierung eines dynamischen Werk-Begriffs vollzieht sich auf mehreren Ebenen auch in Une pièce espagnole. Eine diesbezüglich bedeutende Stelle findet sich in Szene 20, der zweiten und mittleren des bulgarischen Stückes und insofern in zentraler Position en abyme. Die Klavierlehrerin versucht ihrem untalentierten Schüler zu erläutern, wie Mendelssohns Präludium zu spielen sei. Die betreffende Passage handelt von der Nicht-Abschließbarkeit von Werken und ist selbst als nicht abschließbar inszeniert. Die Klavierlehrerin beginnt 325 Vgl. M ENDELSSOHN B ARTHOLDY , Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke, v. a. 326 - 336. 326 H INRICHSEN , »Jenseits des Historismus«, 103. 327 G IDE , Journal, 171. Vgl. Kapitel 3. 102 mit der Aufforderung, man möge sie zum Schweigen bringen, doch gleichzeitig äußert sie den folgenden Satz, ohne auch nur einmal inne zu halten: Arrêtez-moi, s ’ il vous plaît, si je vous ennuie, je vous parle comme si vous étiez un interprète de talent, alors que vous êtes le pire élève que j ’ aie jamais eu, vous riez, je continue, ne donnez pas l ’ impression qu ’ il y a un début et une fin, rentrez dans le Prélude comme si vous formuliez tout haut, et parce qu ’ il vous est impossible de le taire, ce qui est déjà, ignorez où vous allez, n ’ allez nulle part qui existe, rien ne va jusqu ’ au bout monsieur Ki š , aucune œ uvre ne va jusqu ’ au bout, les œ uvres s ’ interrompent, il n ’ y a pas de fin possible, même la mort ne finit rien, la mort n ’ est qu ’ une péripétie, qui ne finit rien, ne clôt rien, on ne va jamais jusqu ’ au bout, jusqu ’ au bout de quoi? (82 f.) Bezeichnenderweise schließen die Ausführungen der Klavierlehrerin letztendlich nicht mit einem Punkt, sondern stattdessen mit einem Fragezeichen. Die Passage › endet ‹ mit der Feststellung, dass man niemals ans Ende komme und der finalen Frage, was überhaupt ein Ende habe oder ein Ende sei. Anstelle eines Schlusspunktes setzt die Klavierlehrerin eine Infragestellung desselben. Diese Dynamik spiegelt jene des Gesamtstückes, das statt eines Schlussakkords ein Vorspiel und insofern als finalen Höhepunkt und in der tiefsten mise en abyme die Unmöglichkeit in Szene setzt, das Werk zu beenden. Das Nicht-Abgeschlossene ist jeder einzelnen Illusionsebene konzeptionell eingeschrieben: Sie befinden sich alle im Zustand des Unfertigen. Die erste Illusionsebene gibt sich als Rahmen einer Theaterprobe aus; die zweite Illusionsebene wird durchgängig als Probe bezeichnet (14, 25, 37, 53). Sichtbare Spuren eines Provisoriums, wie beispielsweise Unterbrechungen, soufflierte Passagen, Unsicherheiten in Bezug auf das eigene Spiel oder wertende Stellungnahmen, zeigen sich auf der dritten Illusionsebene, der des bulgarischen Stückes, das Aurelia in Anwesenheit ihres Mannes Mariano zu proben versucht. Auch Mendelssohns Präludium, um das die Figuren als Lehrerin und Schüler unablässig kreisen, wird erst am Ende fließend gespielt, zuvor wurde es mühsam geübt. Es gilt das Anvisierte erst noch zu finden, das zu Probende in ein Werk zu überführen. Une pièce espagnole besteht also vorrangig in der Erarbeitung eines spanischen Stückes mit selbstreferentiellen Elementen und inszeniert damit en abyme die Erarbeitung seiner selbst. Zentraler Motor der Stückobsession eines Nicht-Enden-Könnens oder - Wollens ist die mise en abyme: Die Ebenen der mise en abyme unterbrechen und spiegeln sich, stellen einander (ironisierend) in Frage und verhindern, wie insbesondere die Gemälde in Gides Tagebucheintrag illustrieren, definitiv gesetzte Endpunkte. Konstruiert ein Werk fiktionsimmanent weitere Werke oder stellt es in seinem Innern auf andere Weise Spiegel auf, die das Gesamtwerk bespiegeln, führt dies unweigerlich zum Aufsprengen einer 103 festen (Werk-)Ordnung zugunsten eines freieren Spiels von Zuordnungen und Reflexionen. Jede mise en abyme, und sei sie auch noch so illusionskompatibel gestaltet, bricht den Text, dem sie innewohnt, in unterschiedlicher Intensität auf. Sie hält ihm einen Spiegel vor, zeigt ihm, wie er ist, zeigt ihm in experimentellen oder (eigen-)ironischen Strukturen aber auch, wie er sein könnte oder sein müsste. Dadurch dynamisiert sie ihn, versetzt ihn stetig in Bewegung, unterwandert sowohl Anfangsals auch Endpunkte. Dies lässt sich anschaulich anhand der eingangs abgebildeten Skizze eines Wappens im Wappen (im Wappen) nachvollziehen: Geht man von außen nach innen, beschreibt man immer wieder, nahtlos ineinander übergehend, Anfang und Ende. Am Rand der ersten Illusionsebene beginnt die zweite, am Rand der zweiten die dritte usf. - Ende und Anfang fallen ineinander, das Stück bleibt › im Werden ‹ . Aristoteles ’ »eine, ganze und vollständige Handlung, die Anfang, Mitte und Ende hat«, 328 wird auf die sich prozessual entwickelnde Mitte verschoben. Une pièce espagnole führt vor, wie aus mehreren provisorischen Ebenen ein Werk entsteht. Doch dieses Werk trägt seine an Mendelssohn angelehnte und en abyme entwickelte › Unlust, ein Werk zu bilden ‹ unverhohlen zur Schau, zumal sich »pièce« im Sinn von › Stück ‹ per definitionem als › Un-Ganzes ‹ zu erkennen gibt. Analog dazu, dass Une pièce espagnole als Endpunkt ein Präludium erklingen lässt, kennzeichnet es sich darüber hinaus selbst unentwegt als Vorspiel. Das › wirkliche ‹ , das vollständige Stück mit Anfang, Mitte und Ende will sich, so scheint es, nicht finden lassen, sondern lieber im Proben und Ausprobieren, in Prozessualität und Selbstfindung verharren. Erinnert sei an Théophile Gautiers Staunen vor Velázquez ’ Las Meninas: »En face des Ménines on est tenté de dire: Où donc est le tableau? « 329 Wo ist nun also das Stück? , fragt sich, analog zu Gautier, der Rezipient abyssaler Texte wie Rezas Une pièce espagnole. 328 A RISTOTELES , Poetik, 33; Hervorhebung im Original. 329 G AUTIER , Guide de l ’ amateur au Musée du Louvre, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. VIII, 271. 104 5.3 Kompositionsprozesse en abyme Y VAN . Je ne suis pas aussi sévère que toi. C ’ est une œ uvre, il y a une pensée derrière ça. M ARC . Une pensée! Y VAN . Une pensée. M ARC . Et quelle pensée? Y VAN . C ’ est l ’ accomplissement d ’ un cheminement . . . M ARC . Ah! ah! ah! Y VAN . Ce n ’ est pas un tableau fait par hasard, c ’ est une œ uvre qui s ’ inscrit à l ’ intérieur d ’ un parcours . . . M ARC . Ah! ah! ah! R EZA , »Art« 330 Une pièce espagnole zeigt sich durch seine Strukturen en abyme als prozesshaft und konzeptuell unfertig. Dabei bietet die mehrfache mise en abyme kompositorische Spielräume, die das Werk gerade nicht in einem zufälligen oder beiläufigen Entstehungsprozess kennzeichnen, sondern seine reflektiert konstruierte Verfasstheit offenbaren. Dies offenbart sich insbesondere in einer Parallelführung von poetischen und musikalischen Kompositionsprinzipien. 5.3.1 Schreiben als Komponieren J ’ écris en fait comme on joue une musique, plus que dans le maniement d ’ idées ou de nostalgie ou de sentiment profond. C ’ est privilégier le rythme qui est pour moi une chose essentielle au théâtre. R EZA , »Interview« 331 Une pièce espagnole besteht aus 28 Szenen, die sich, unabhängig davon, welcher Illusionsebene sie angehören, in fortlaufender Nummerierung aneinander reihen. Das Gefüge der Szenen und jenes der Illusionsebenen sind auffällig aufeinander bezogen. Besonders der › Herzschild ‹ en abyme, das bulgarische Stück, verhält sich in besonderer Weise zu seinem rahmenden Umfeld. In einer graphischen Nachbildung der Stückstruktur tritt eine 330 R EZA , Théâtre, 32 f. 331 H ELLERSTEIN , »Interview«, 948. 105 regelmäßige Anordnung zu Tage. Dreizehn Szenen entfallen auf das französische Stück, zwölf auf das spanische und drei auf das bulgarische: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Bulg. Ebene 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 Franz. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Bulg. Ebene 21 22 23 24 25 26 27 28 Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Span. Ebene Franz. Ebene Bulg. Ebene Wie zu erwarten, umfasst die äußerste Ebene die meisten, die kleinste Ebene en abyme die wenigsten Szenen. Schon ein erster Blick auf das Szenen- und Illusionsebenengefüge offenbart strukturelle Parallelen. Das bulgarische Stück wirkt in seiner zentralen Positionierung - zehnte, zwanzigste und letzte Szene - wie eine Achse der Gesamtstruktur. Es teilt Une pièce espagnole, dessen Oberflächenstruktur gleichmäßig in den Bahnen einer fortlaufenden Szenennummerierung (1 - 28) erfolgt, in drei Abschnitte mit zweimal zehn und einmal acht Szenen. So scheint es, als untergliedere sich Une pièce espagnole, das im Schriftbild zwar Szenen-, aber keine Akteinteilungen vornimmt, durch seine mise en abyme doch in Akte - oder analog zu seiner beständig betonten Grundmusikalität - in drei › Strophen ‹ oder › Sätze ‹ . Dies ist insofern interessant, als Dreiteiligkeit »eines der wichtigsten Formungsprinzipien in der Musik« darstellt. 332 Durch die Platzierung des bulgarischen Stückes als Einschnitt in der zehnten und zwanzigsten Szene - Zahlen, die mit der Ziffer 0 enden - beginnt der jeweils folgende Teil wieder mit 1, 2, usf., wodurch sich die Kongruenzen 1 - 11 - 21, 2 - 12 - 22 usf. ergeben. Durch die jeweils wieder bei 1 beginnende Zählung wirken die drei Teile jeweils eigenständig und gleichzeitig aufeinander bezogen. Dies zeigt sich auch darin, dass die Szenen der drei Spielebenen nicht willkürlich platziert sind, sondern einen eigenen Platz im Gesamtgefüge einnehmen. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass jeder › Satz ‹ jeweils mit einer (ansonsten nicht vorkommenden) Szenenfolge - spanische-französische-bulgarische Ebene - schließt. So wird strukturell der Eindruck erweckt, als würden die drei › Sätze ‹ oder › Strophen ‹ denselben › Ausklang ‹ oder › Refrain ‹ aufweisen. Hinzu 332 A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 84. 106 kommt eine innere Rhythmik des jeweiligen › Satzes ‹ : der erste alterniert streng zwischen französischer und spanischer Ebene, während der zweite sukzessive eine Doppelung, ein zweifaches Alternieren sowie eine Doppelung der Ebenenfolge aufweist; der dritte › Satz ‹ zeigt diesen Rhythmus - einer Krebsfuge ähnlich 333 - umgekehrt und verkürzt: Alternieren, Doppelung, Alternieren. Dieser formale Aufbau korrespondiert in seiner lyrisch-melodischen Beschaffenheit sowohl der musikalischen Grundkonzeption des Stückes - beispielsweise seien die Szenen legato zu spielen - als auch seinen Themen und Motiven. Der erste › Satz ‹ grenzt sich durch sein regelmäßiges Alternieren der Szenenfolge von den folgenden ab, und diese strukturelle Eigenständigkeit entspricht einer inhaltlichen: Anders als in den folgenden › Sätzen ‹ treten die Figuren des spanischen Stückes, der Haupthandlungsebene, im ersten › Satz ‹ ausschließlich in Zweierkonstellationen auf. Dadurch erhalten sie die Gelegenheit, sich direkt und indirekt vorzustellen. Das Konfliktpotenzial innerhalb der Figurenkonfiguration tritt deutlich zutage und lässt die Spannung auf die raum-zeitliche Zusammenkunft der Akteure im zweiten › Satz ‹ kontinuierlich ansteigen. So bildet der erste › Satz ‹ - wie es ein erster Akt klassischerweise vollführen würde - eine Exposition. Der zweite und der dritte › Satz ‹ sind insofern formal wie inhaltlich aufeinander bezogen, als sie jeweils exakt in jener Szene, die ihren Mittelpunkt bildet - die 15. bzw. die 24. - den negativen Höhepunkt des Familientreffens darstellen: Während ein erster Tränenausbruch Pilars, auf den ihre attackierenden Töchter kontinuierlich und mit zunehmender Aggressivität hinarbeiten, in der Mitte des zweiten › Satzes ‹ - am Ende der 15. Szene - noch ignoriert bzw. als harmloses › se moucher ‹ verleugnet werden kann (69), verliert Pilar in der Mitte des dritten › Satzes ‹ - am Ende der 24. Szene - unübersehbar die Fassung und beendet damit abrupt das familiäre Beisammensein: »Ça y est, elle chiale« (110). Eine dritte Analogie zwischen musikalischer Tiefenstruktur und inhaltlicher Strukturierung wird an der im Stück dominierenden Dreizahl deutlich. Die drei › Sätze ‹ , die sich durch die Zäsur des bulgarischen Stückes sowie ihre innere Rhythmisierung abzeichnen, spiegeln sich deutlich in der Grunddisposition des Gesamtstückes: Drei Illusionsebenen angesiedelt in drei europäischen Ländern setzen die Konflikte dreier Generationen in Szene (von Pilar über ihre drei Töchter bis hin zu ihren Enkelkindern), wobei beim Zusammentreffen nur drei der weiblichen Familienmitglieder anwesend 333 Vgl. zu Parallelen zwischen abyssaler Struktur und Kunst der Fuge ausführlicher: Kapitel 5.3.2. 107 sind; drei Paare (Fernan-Pilar, Mariano-Aurelia, Nuria-Gary 334 ) interagieren in einer dreifach angelegten Räumlichkeit (»jardin public«, »chez Pilar«, »dehors«), wobei die Hauptszenerie, »chez Pilar«, wiederum dreifach aufgeteilt ist: die Akteure treffen in der Küche, auf dem Balkon und im Wohnzimmer aufeinander. Insgesamt wird deutlich, wie reflektiert das mehrschichtige Stück Une pièce espagnole › komponiert ‹ ist. Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass Olmo Paneros Binnenstück illusionsintern wie selbstverständlich als »composition« (14) oder »partition« (44) bezeichnet wird. Rezas Stück inszeniert Musiker sowie Musikstücke und weist selbst eine rhythmisierte Tiefenstruktur auf. Form und Inhalt spiegeln sich in mehrfacher Hinsicht ineinander, wobei die besondere Relevanz der strukturellen Verfasstheit verschiedenartig akzentuiert wird. In einem Interview betont Reza, dass ihr die sprachliche Komposition ihrer Werke - das rhythmische und klangliche Potenzial der Sprache - grundsätzlich wichtiger sei, als der Inhalt. 335 Das › Wie ‹ ist wesentlicher als das › Was ‹ : Die mise en abyme ist ein wirkungsmächtiges Instrument, um diese Prämisse zu realisieren, zur Geltung zu bringen und noch zu steigern. In Rezas Texten entsteht die Musikalität zumeist aus dem Klang der Wörter, ihrer Anordnung und ihrem Wechselspiel mit den fortwährend zu setzenden »silences et temps«. In Une pièce espagnole erhalten Musikalität, Klangcharakter und Rhythmus durch die mehrschichtige Struktur en abyme ganz neue Entfaltungsspielräume. Sie können sich von der verbalen auf die strukturelle Beschaffenheit des Textes ausweiten und diesen durch das musikalische Zusammenspiel der Illusionsebenen rhythmisieren. Die dabei entstehende Polyphonie ist ein häufiges Kennzeichen abyssaler Texte. Sie erlaubt einerseits ein Ineinander ganz verschiedener Tonarten - theatralisierte Sprache auf der französischen Ebene, mit › neopoetischen ‹ (66) Elementen versehene Alltagssprache auf der spanischen oder überladene Pathetik auf der bulgarischen 336 - und ist andererseits durch eine Vielzahl paralleler Motive aufeinander bezogen. Dadurch wird an die Spielweise eines mehrstimmigen Kanons bzw. einer Fuge erinnert. 334 Gary Tilton ist zwar nicht physisch anwesend, er ist aber mehrmals Gegenstand von Unterhaltungen und Spekulationen. Sein Anruf führt schließlich zum endgültigen Abbruch des ohnehin schon eskalierten Beisammenseins. 335 Vgl. V ERNA , »Glück ist langweilig«, n. pag. 336 Auch die Tonart des Präludiums, nämlich › b-moll ‹ , wird mehrfach reflektiert. 108 5.3.2 Die mise en abyme als Kunst der Fuge Dans certaines pièces de L ’ Art de la fugue, j ’ ai trouvé matière à faire danser mon âme. [. . .] [I]nexplicablement porteuse de joie, contrapunctus 14, unfinished, sur la pochette du disque, j ’ aimais ce mot unfinished, mi, ré, do, so, la, si, ré S TOP arrêt pour cause de mort, long silence radical, l ’œ uvre n ’ est pas inachevée mais infinie, non incomplète mais unfinished, arrêtée et infinie par le tombeau. R EZA , Une désolation, 133. 337 Mendelssohns Präludium gehört nicht nur in den Kontext von Sechs Präludien und Fugen, sondern ist, was die Klavierlehrerin besonders betont, dezidiert als Hommage an Bach verfasst worden: »Nous travaillons un prélude de Mendelssohn, une œ uvre peu connue, extraite des six préludes et fugues, écrits en hommage à Bach« (53). Vor dem Hintergrund der zentralen und sich auf verschiedenen Ebenen offenbarenden Bedeutung, die das Präludium für Rezas Gesamtstück hat, stellt sich die Frage, ob Une pièce espagnole selbst Anklänge an Bachs Fugenkunst aufweist, zumal Reza das eigene Schreiben explizit in die Nähe fugaler Komposition rückt: »J ’ écris beaucoup plus comme on écrit de la musique, à plusieurs voix, en contre-point, en contre-temps, en rythme.« 338 Im Kontext der mise en abyme sind insbesondere Parallelen in der Konstruktion sowie in der Wirkung und Funktion fugaler und abyssaler Kompositionstechniken von Relevanz. Dieser Vergleich beschäftigte schon André Gide, wie ein Blick auf Les Faux-Monnayeurs und insbesondere Edouards Erläuterungen seines Romans en abyme offenbart: »Ce que je voudrais faire, comprenez-moi, c ’ est quelque chose qui serait comme L ’ Art de la fugue. Et je ne vois pas pourquoi ce qui fut possible en musique serait impossible en littérature . . .« 339 337 Hervorhebungen im Original. 338 Zit. nach: O EHLSEN , Zur Literatur Yasmina Rezas, 118. 339 G IDE , Les Faux-Monnayeurs, in: ders., Romans et récits, 315. Eine Übertragung musikalischer Begrifflichkeiten - wie Kontrapunkt, Fuge oder Polyphonie - auf literarische Werke ist sowohl mit Blick auf Produktionswie auch auf Rezeptionsprozesse besonders ausdifferenziert im 20. Jahrhundert unternommen worden. Diesbezügliche Erkenntnisse sowie Problematisierungen sind bereits in einer Reihe wissenschaftlicher Untersuchungen nachlesbar. Vgl. G IER / G RUBER , Musik und Literatur; G RAGE , Literatur und Musik in der klassischen Moderne; W OLF , The Musicalization of Fiction; mit besonderem Blick auf das Werk André Gides: S ISTIG , André Gide. Die Rolle der Musik in Leben und Werk, v. a. 355 - 400. 109 Bachs Kunst der Fuge ist fragmentarisch geblieben. 340 Sie besteht aus unterschiedlichen Sätzen, deren Anordnung bis heute nicht geklärt werden konnte. Diese Prozessualität korrespondiert grundsätzlich der Durchführung der Fugen, die, anders als die Fugenexposition, zumeist konzeptionell unvollständig sind. 341 Es entspricht folglich der Grundkonstitution der evozierten Fugenkunst Bachs, dass Une pièce espagnole die Unabschließbarkeit von Werken zugunsten ihrer freien Dynamik durchspielt. Neben dieser Parallele eines in Frage gestellten Werkganzen zeigen sich weitere Analogien. Sowohl Bachs Kunst der Fuge als auch Rezas Une pièce espagnole kündigen ihren selbstreferentiellen Grundgehalt bereits im Titel an. In beiden Fällen wird keine thematische Bezeichnung, sondern der Verweis auf die jeweilige Kunstform gewählt: eine Fuge bzw. ein Stück (welches in seiner Offenheit als »pièce« sowohl ein theatrales als auch ein musikalisches bezeichnen könnte). Eine weitere Gemeinsamkeit besteht in den sichtbaren Spuren, die der jeweilige Künstler in seinem selbstreferentiellen Werk hinterlässt. Das Thema der Schlussfuge in Bachs Kunst der Fuge gestaltet sich auf Basis der Noten B-A-C-H. 342 So entwirft der Komponist eine Fuge, die auf seinem eigenen Namen basiert. Eben diese werkinterne Inszenierung des Schöpfers, der sich nicht damit begnügt, seinen Namen unter sein Werk zu setzen, sondern sich ihm im Prozess seiner Genese in einer kunstvollen Spiegelung auf ewig einschreibt, ist ein grundlegendes Merkmal abyssaler Werke. Sie wird - in ironischer Brechung - auch in Rezas Une pièce espagnole verwirklicht. Reza erschafft sich im fiktiven Olmo Panero, einem eitlen, erfolgsverwöhnten und medial › gehypten ‹ Jungautor, 343 selbstironisch - sie Yasmina, der (Jasmin-)Strauch, er Olmo, die Ulme - ein fiktives Alter Ego, dessen aktuelles Stück - wie das ihre und gleichzeitig als das ihre - selbstreferentiell konstruiert ist. Neben diesen ersten grundsätzlichen Parallelitäten zwischen der Kunst der Fuge und Une pièce espagnole sind die Fuge und die mise en abyme auch als musikalische bzw. literarische Kompositionsprinzipien miteinander vergleichbar. Dies wird bereits in der Grunddefinition der Fuge deutlich, derzufolge sie - wie auch die mise en abyme - ein »auf Imitation beruhendes 340 Vgl. H OUBEN , Die Aufhebung der Zeit, 213. 341 Vgl. A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 131. 342 Vgl. E GGEBRECHT , Bachs Kunst der Fuge, 10 f. 343 So hat Une pièce espagnole in gewisser Weise zwei Erzeuger - geschlechtlich ausdifferenziert eine Mutter und einen Vater - Yasmina Reza und Olmo Panero, die sich ironisch ineinander spiegeln: »Il [Olmo Panero] est ce qu ’ on appelle un jeune auteur. Un garçon qui a un certain succès dans son pays. Un jeune auteur, bien qu ’ il ne soit pas spécialement jeune« (41). 110 Kompositions- und Strukturprinzip« 344 ist. Die Funktionsweise einer Fuge lässt sich vereinfacht an ihrer Vorform, dem Kanon, erläutern: 345 Ein Thema - das als »Subjekt« bezeichnet wird 346 und darin bereits semantisch mit Gides gespiegeltem sujet même als Grundkomponente der mise en abyme vergleichbar ist 347 - spielt polyphon mit sich selbst: Eine Leitstimme gibt ein Thema vor, »das alle Stimmen durchwandert.« 348 Die Fugentechnik weist eine Bandbreite an Möglichkeiten auf, das prägnante Hauptthema zu variieren. Während der Comes das Hauptthema in der Oberquint imitiert, ist der Kontrapunkt (oder das Kontrasubjekt) eine sich kontrastiv zu Dux und Comes verhaltende Stimme. 349 Die Themenführung, der Ablauf der Fuge, kann sich auf vielfältige Weise vollziehen, beispielsweise durch Engführung, Inversion, Diminution, Augmentation oder Krebslauf. 350 Dieses facettenreiche, kontrastive und Spiegelungen produzierende Durchspielen eines Themas auf verschiedenen Ebenen, die Erarbeitung eines sujets, ist auch der mise en abyme zu eigen. Abyssale Werke imitieren in der Potenzierung von Illusionen, Figuren und Motiven auf polyphone Weise sich selbst. Dabei implizieren weder die Fuge noch die mise en abyme ein aus singulären › Einzeltönen ‹ aufgebautes Werk, dessen Perfektion beim Entfernen einer einzelnen Note zu zerfallen drohte, sondern betreiben in dynamischen Wechselspielen von Thema und Gegenthema, von Wiederholungen, Variationen und Spiegelungen, von Mehrschichtigkeit, Polyphonie und vielfältigen Bezugssystemen auf höchst komplexe (und dennoch spielerisch wirkende) Weise die Genese eines Werkes: Weder die Fuge noch die mise en abyme präsentieren ein fertiges Thema, sondern offenbaren, dass sie ihr Subjekt bzw. ihr Sujet gerade finden, modulieren, bespiegeln, in Frage stellen, erst noch erarbeiten und dies potenziell ad infinitum. Das gleiche Thema wird wiederholt, jedoch ohne, dass es exakt dasselbe wäre. Das abyssale Werk im Werk ist zwar das Werk, gleichzeitig aber ist es durch die Verkleinerung, Spiegelverkehrung oder besondere Akzentuierung ein anderes. Ähnlich verhält es sich mit dem immer wieder durchgespielten Hauptthema der Fuge. Es entstehen Variationen auf verschiedenen Ebenen, die im Falle der Fuge tatsächlich auch graphisch nachvollzogen werden können. Sowohl Fugen als auch abyssale 344 A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 122. 345 Vgl. H OFSTADTER , Gödel, Escher, Bach, 8. 346 A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 370. 347 Vgl. Kapitel 3. 348 B ÖTEL , Mendelssohns Bachrezeption und ihre Konsequenzen, 74. 349 Gleichzeitig ist der Kontrapunkt als Fortsetzung des Grundthemas zu verstehen, indem er sich häufig aus demselben Fugenmaterial speist (vgl. A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 128). 350 Vgl. H OFSTADTER , Gödel, Escher, Bach, 9. 111 Werke wirken häufig konstruiert, künstlich und höchst kunstvoll. Beide Kunstformen, sowohl die musikalische als auch die literarische, folgen einerseits klaren und selbstreferentiellen Strukturen und bieten andererseits schöpferischen Entfaltungsspielraum. 351 Das Fugenthema ist, damit es sich leicht wiedererkennen lässt, grundsätzlich prägnant gehalten. Darüber hinaus wird es durch eine »sprechende Pause« eingeleitet. 352 Auch in Une pièce espagnole werden häufig signifikante Pausen gesetzt, bezeichnenderweise erfolgt vor der Nennung der Hauptthematik eine in Worte gefasste Pause, die durch den Zeilenumbruch besonders hervorgeben wird: Le temps passe. C ’ est une pièce sur la solitude et le temps qui passe, deux sujets irréparablement liés. (54) Nach der Pause offenbart sich das prägnante Hauptthema. Es handle sich um ein Stück über die Einsamkeit und die vergehende Zeit, »deux sujets irréparablement liés« (m. H.), um »le temps qui passe et nous rejette dans le rien« (106). Dieses zentrale Sujet, 353 das musikalisch zumeist als Dux bezeichnet wird, durchzieht nicht nur das bulgarische Binnenstück, sondern alle drei Illusionsebenen 354 und damit Une pièce espagnole als thematische mise en abyme in Gänze. Dabei werden die einsamen und vom Vergehen der Zeit beherrschten Figuren in ein dichtes semantisches Netz eingebunden: jenes der inertie. Kontrastiv dazu ergreifen Charaktere das Wort, die sich gegen Alleinsein, Sinnlosigkeit und vergehende Zeit zur Wehr setzen. Ihr Diskurs zeichnet sich hingegen durch das Wortfeld der activité aus. So äußern sich die Spannungen, die mit dem explizierten Grundthema einhergehen, insbesondere in einer Motivkette zwischen inertie und activité, zwischen Leblosigkeit bzw. Starre 351 Die Fugenkunst stellt laut Amon/ Gruber den Versuch dar, Gottes Schöpfung im Rahmen einer harmonischen, feinsinnigen und vollkommenen Kunstform nachzuahmen (vgl. A MON / G RUBER , Lexikon der musikalischen Form, 122). Eben diese Spiegelung göttlicher und weltlicher Schöpfungsprozesse inszenieren auch die Schriftsteller des spanischen Barock, deren Werke - in besonderem Maß Calderóns El gran teatro del mundo - einen ersten Höhepunkt selbstreferentiellen Schreibens darstellen. 352 Vgl. ebd. 124 353 In einem Interview bezeichnet Reza die Zeit als »the only subject« (ihrer Werke): »Everything comes down to this« (A NDELMAN , »From Dawn to Dusk«, 234). 354 Die Dominanz der Dreizahl in Une pièce espagnole korrespondiert der grundsätzlichen Dreistufigkeit einer einfachen Fuge: Exposition, Durchführung, Schluss. 112 und Bewegung. 355 Die Autorin beschreibt ihre Figuren als zwanghaft dynamisch: Les personnages, quel que soit leur âge - aucun n ’ est jeune - , se battent pour rester en devenir. Rester en devenir, l ’ obsession de tous ceux à qui j ’ ai donné un nom et une voix. D ’ où vient cette déchirante propension à se sentir, au moindre ralentissement, écarté de la vie? 356 Im Kontext dieser Obsession, sich bewegen zu müssen, um sich lebendig zu fühlen, ist die Doppelbedeutung von inertie von Bedeutung. In der deutschen Übersetzung wird der in Une pièce espagnole häufig verwendete Begriff inertie bzw. inerte mit › Trägheit ‹ oder › träge ‹ übersetzt. Damit verengt sich sein Spektrum auf die gängige Bedeutung »Qui n ’ a ni activité ni mouvement propre«; die zweite Facette aber, »Qui ne donne pas signe de vie [. . .] inanimé [. . .] immobile«, 357 das Leblose, das Erstarrte und insofern tot Scheinende, schwingt in der deutschen Variante nicht mit. Doch ist es gerade diese Bedeutungskomponente, die Une pièce espagnole als eines seiner grundlegenden Motivfelder bestimmt. Die Spannung zwischen inertie und activité, die Obsession der Figuren, › im Werden zu bleiben ‹ , dies aber angesichts der vergehenden Zeit oder einer tief empfundenen Einsamkeit nicht zu können und in Folge dessen wie leblos zu erstarren, zieht sich als Grundthema durch das Gesamtstück, wird en abyme expliziert und findet sich auf allen Illusionsebenen gespiegelt, konterkariert und facettenreich variiert. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Une pièce espagnole abyssale und fugale Kompositionstechniken zusammen inszeniert. Das Grundthema dieser literarischen Fugenkunst, der stete Zwang, › im Werden zu bleiben ‹ , korrespondiert der Grunddisposition abyssaler Werke und den poetologischen Prämissen von Une pièce espagnole und ist im Folgenden kurz auszuführen. »La phrase la plus courante, vous l ’ avez peut-être prononcée vous-même Pilar, c ’ est: que fait le syndic, le syndic ne fait rien« (15). Mit dieser referierten Kritik an der vermeintlich untätigen Berufsgruppe der Hausverwalter eröffnet Fernan, selbst »syndic«, das Spanische Stück von Olmo Panero. Im Folgenden versucht er mehrfach, den lädierten Ruf der Hausverwalter langatmig zu rehabilitieren, wobei er in deutlicher Ironisierung auf ganzer Linie Bewegung und Tätigkeit propagiert. Damit stellt er sich in der Familie seiner neuen Partnerin, Pilar, zunehmend ins Abseits. Er ist, wie er selbst konstatiert und mehrfach von Außenstehenden hören muss, der Andere; 355 Vgl. R EZA , Ein spanisches Stück, übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt- Henkel, 39; passim. 356 R EZA , L ’ aube le soir ou la nuit, 100. 357 Le Grand Robert, 108. 113 anders insofern, als er eine lebensbejahende und dynamische Grundeinstellung vertritt, die den übrigen Figuren gänzlich verwehrt ist: »[V]ous êtes d ’ une école enviable qui suppose que l ’ existence mène quelque part, vous êtes mal tombé chez nous« (100), bemerkt Aurelia. Sie spricht nicht nur für sich selbst, sondern mit »nous« im Namen ihrer Familie, der, mit Ausnahme Fernans, alle Protagonisten der spanischen Handlung angehören. Hier Fernan, Vertreter jener › beneidenswerten Schule ‹ , die dem Leben Sinnhaftigkeit abgewinnen und verleihen kann, dort die anderen, welche die Nutzlosigkeit des eigenen Daseins in Anbetracht der vergehenden Zeit zwar ebenfalls konstatieren, ihr aber nicht entgegenzuwirken vermögen. Sie verharren in Resignation und Einsamkeit. Die Gegensätzlichkeit ihrer Haltung ist den Figuren nicht nur in den Mund gelegt, sondern zudem unverkennbar ins Gesicht geschrieben. Während Fernan »si jeune«, »si enthousiaste« (117) erscheint, 358 bescheinigen sich Aurelia, Nuria und Mariano gegenseitig, obgleich an Jahren deutlich jünger, ihren physischen Verfall. Dieser vollzieht sich wiederum als schleichendes Absterben. Ihre Trägheit, das Vergehen der Zeit und das Absterben ihrer Existenz - mehrfach thematisiert als »le mou« - scheinen unaufhaltsam Besitz von ihren Körpern zu ergreifen. 359 Insbesondere Fernan und Mariano stehen einander als Kontrastcharaktere gegenüber. Mariano versucht zwar vehement, seine Jugend durch Bodybuilding oder Haarfärbungen künstlich zu konservieren, verwelkt jedoch › düster ‹ , › auf unheimliche Weise ‹ (»sinistrement«, 90) und muss diese Leichenhaftigkeit unkaschierbar, als »masque de la mort«, 360 zur Schau tragen: »Regarde-toi mon pauvre amour, tu as une tête cadavérique« (108). So werden Marianos leichenhaftes Antlitz und Fernans jugendliche Frische als die physischen Eckpunkte der Merkmalsopposition inertie - activité visualisiert. Während Fernan in auffälliger Häufung von den semantischen Feldern › Bewegung ‹ und › Schnelligkeit ‹ begleitet wird, 361 Nichtbremsbarkeit sogar pathetisch zum Absolutum erklärt - »Je tiens à 358 Fernans Jugendlichkeit wird von den anderen Figuren mit Argwohn zur Kenntnis genommen: »Ce couple me dégoûte. Je les trouve malsains. Il a l ’ air d ’ être son fils« (75). 359 Besonders die beiden Schwestern kreisen um die Thematik ihres körperlichen Verfalls: »A URELIA . Tu es très belle, moi par contre j ’ ai découvert une chose terrifiante, mes joues n ’ ont plus aucune densité, quand j ’ embrasse Lola c ’ est ferme, c ’ est dense, ça résiste, moi touche, tu vois, il n ’ y a plus rien, c ’ est fini, c ’ est mou./ N URIA . Moi aussi! / A URELIA . Ah oui toi aussi, mais moins que moi« (76). 360 R EZA , Hammerklavier, 15 f. 361 Weitere Textstellen, in denen Fernan mit den semantischen Feldern von Schnelligkeit und Bewegung verbunden wird, sind die folgenden: »aucune femme n ’ est en mesure de me freiner« (117), »nous allons mener grand train« (117), »être réélu c ’ est avoir enjambé tous les obstacles« (105) oder »Une de ces petites péripéties qui prennent des allures de fatalité« (74). Sogar seine Ideen sind, wenn auch ironisch, › blitzschnell ‹ und insofern 114 dire, je tiens à dire que je n ’ ai pas l ’ intention de me réfréner en quoi que ce soit« (98) - erstarrt Mariano: »[Tu] veux la paix, tu veux qu ’ on te foute la paix, tu n ’ aspires qu ’ à l ’ immobilité« (108). So wird Mariano auch physisch stets in sitzender oder erstarrter Pose dargestellt. 362 Er ist unbeweglich, da beschwert: Jeder einzelne Bereich seines Lebens, in den er Einblick gewährt, ist semantisch mit › ertragen ‹ konnotiert. 363 Fernan und Mariano visualisieren activité bzw. inertie nicht nur, sondern variieren dieses Hauptthema auch mit Blick auf Fernans Berufsfeld, genauer auf das Verhältnis von Hausverwaltern und Wohnungseigentümern. Fernan gehöre, so Mariano, einer Zunft von › Feiglingen ‹ und › Nieten ‹ an, die nur aufgrund mangelnder Aktivität der Klientel im Amt verharren könne: Les hommes sont inertes. Vous devez votre pérennité non à la satisfaction mais à l ’ inertie des hommes. C ’ est pourquoi vous êtes des tocards et des lâches. Vous devriez réfléchir à cette position existentielle. Vivre selon l ’ inertie. (58) Indem Mariano Fernan nicht persönlich angreift - Angriffsfläche wäre, so zeigt sich im Verhalten von Pilars Töchtern, genügend vorhanden - , sondern als zugehörig zur Berufsgruppe der Hausverwalter attackiert, zielt er weniger auf das Individuum Fernan, als vielmehr erneut auf dessen Aktivität und lebensbejahende Existenz, die ihre Kraft gerade aus der hausverwaltenden Verankerung bezieht. Fernan reagiert ebenfalls nicht auf Mariano als Person, sondern auf Mariano als einen Repräsentanten seiner als Gegenspieler empfundenen, da untätigen bzw. leblosen Klientel. Bezeichnenderweise gibt er sich als »le premier à condamner l ’ inertie de la clientèle« (58; m. H.) semantisch mit activité konnotiert: Seinen Einfall, Pilar zum Einkaufen auszuführen, hält er für »une idée fulgurante« (116). 362 Eine bezeichnende Unterhaltung zwischen Aurelia und Mariano lautet beispielsweise: »A URELIA . Tu veux qu ’ on se promène? / M ARIANO . C ’ est pire« (27). Darüber hinaus erläutert Mariano, warum er › definitiv ‹ auf seinen Sport verzichtet habe, worauf seine Frau erwidert: »Il dit qu ’ il a renoncé à l ’ aïkido mais il n ’ a jamais pensé à faire de l ’ aïkido, ni à faire aucun sport« (46). 363 Als Vater erträgt Mariano die Ungezogenheiten seiner Tochter, als Lehrer die geistige Trägheit und gedankliche Starre seiner Schüler, als Hausbewohner die »dictature d ’ un prothésiste du rez-de-chaussée« (57) und als Lebenspartner die Regentschaft seiner neurotischen Frau: »Qu ’ est-ce que je peux faire? « (90). Letztere verlangt ihm darüber hinaus ab, ihr bei den Proben als Ratgeber, Mutmacher und provisorischer Spielpartner zur Seite zu stehen, und zwingt ihn somit in eine Rolle, die ihn das Bedürfnis nach Flucht und insofern nach Bewegung explizit formulieren lässt: »Ecoute Aurelia tu me fatigues, tout ça me fatigue, et si j ’ étais ce Ki š , je me serais tiré depuis longtemps« (84). Doch Mariano verharrt sowohl in der Rolle von Ki š wie auch als Mariano in gewohnter Erstarrung: »Ils restent un long temps tous les deux, en silence« (85). Nicht nur die eigene Existenz, sondern auch die wider Willen angenommene Rolle vermitteln Mariano ein »sentiment de mort« (26 f.). Ironisch kommentiert er: »J ’ agonise« (40). 115 zu erkennen. Mariano konzentriert sich hingegen ausschließlich auf Zynismen und einen exzessiven Alkoholkonsum. Dabei ist ihm durchaus bewusst, dass letzterer kaum als Initiativtätigkeit begriffen werden kann: »Je ne bois qu ’ en réaction« (27, m. H.). Mariano trinke, um sich nicht zu zerstören. Tränke er nicht, fiele er auseinander: »Je me détruis quand je ne bois pas. Et non le contraire. Je bois pour ne pas me détruire. Boire me tient ensemble, voyezvous. Boire me colmate« (89). Sogar der betrunkene Zustand Marianos während des Familientreffens wird, wie seine gesamte Erscheinung, mit »mort« korreliert: »[Tu] es ivre mort« (58), konstatiert Aurelia. Doch das Bild des Auseinanderfallens begleitet nicht nur ihren Mann, sondern auch Aurelia selbst. Letztere konsumiert keinen Alkohol und fällt, was in der Logik der durchkomponierten Stückmotivik kaum verwunderlich ist, tatsächlich auseinander: Im Zuge einer Panikattacke durchleidet sie die eigene Auflösung: A URELIA . Je me dissous! N URIA . Tu ne te dissous pas! A URELIA . Retiens-moi! P ILAR . Mais qu ’ est-ce qu ’ elle a? C ’ est quoi? N URIA . Une crise d ’ angoisse maman! (106 f.) Das (das Gesamtstück durchziehende) »Im-Werden-bleiben« kleidet sich hier also in ein eindringliches Bild: Bleibt die Figur nicht in schaffenskräftiger Bewegung, erstarrt sie nicht lediglich in ruhender Pose, sondern sie fällt auseinander, löst sich auf: se déliter, se dissoudre, ne pas se tenir ensemble, se désintégrer und se détruire sind einige der Verben, die das Stück in diesem Kontext variiert (119, 107, 89, 110, 89). Das Hauptmotivfeld aus inertie und activité, als Ausdruck versuchter und misslungener Sinnsuche angesichts der vergehenden Zeit, das hier exemplarisch und auszugsweise am Verhältnis von Fernan und Mariano nachvollzogen wurde, bestimmt in zahlreichen Variationen auch den Diskurs der anderen Figuren. 364 Es wird mehrfach bezüglich der Lebenseinstellung, des 364 Aurelia begreift sich, wenngleich erst Mitte Vierzig, bereits als Vergangene (109). Ihre martialisch eingefärbte Semantik charakterisiert sie als Kriegführende gegen die vergehende Zeit: »[M]oi le temps me fout en l ’ air, me démolit, le temps, me démolit, il est trop tard, je ne ferai rien de ma vie« (108 f.). Obschon sie sich sowohl im Beruf als auch als Mutter und Hausfrau › verbeißt ‹ (90), sind ihre Mühen von keinerlei Erfolg gekrönt. Ihre Schauspielerei stagniert, ihre Erziehungsbefähigung wird vehement in Frage gestellt und der häusliche Lebensbereich ist verschandelt (106). Nuria führt mit dem Desaster ihrer Kleiderwahl vor, dass nur eine adäquate Hülle eine Identität garantiere (68). Sobald diese Hülle schadhaft ist - es fehlt ein passendes Kleid - bricht die gesamte Idee zusammen. »Ils ne jouent pas leur existence, mais, plus grave, l ’ idée qu ’ ils s ’ en sont faite«, notiert Reza in L ’ aube le soir ou la nuit (56). Diese › Idee der eigenen Existenz ‹ fortwährend erstrahlen zu lassen, avanciert für Nuria zum einzigen Lebensinhalt (68). 116 Charakters, der Physis oder der Berufsfelder durchgespielt und insofern unterschiedlich variiert. So bildet sich ein dichtes Motivnetz aus, das selbst Gebrauchsgegenstände mit einschließt. So erscheint beispielsweise die Schauspielerin Nuria zur Goya-Verleihung in einer bereits getragenen Abendgarderobe und bricht damit das Tabu der Hollywoodmaschinerie, dass äußerer Glanz unikal zu sein habe. Dieses Zweimaltragen desselben Kleides unterstreicht das Gefangensein der »cohorte de spectres« (118) in ihrem unbewegliches Dasein. Das Verharren im Alten (Kleid) wird wiederum vom dynamischen Fernan konterkariert. Dieser sucht, anders als Nuria, den Aufbruch ins Neue: »[J ’ ]en ai marre de ces moineaux, nous voulons du bruit, des voitures et des vitrines« (115). Was er dort zu tun beabsichtigt, ist symptomatisch: Der stets sich programmatisch Bewegende beabsichtigt, seiner Lebensgefährtin neue Schuhe zu kaufen. Doch soll es gerade kein schmückendes, sondern ein funktionstüchtiges Paar sein: »Des chaussures plates, c ’ est mieux pour marcher sur des graviers«(117). 365 Im Vergleich mit der Kunst der Fuge verhalten sich die Figuren, was insbesondere am Beispiel von Fernan und Mariano deutlich wird, wie Subjekt und Kontersubjekt: Ein Thema wird eingangs einstimmig vorgetragen - »le syndic ne fait rien« (15) - und im Folgenden je nach Stimme bekräftigt oder konterkariert. Hinzu kommen weitere Stimmen, wie jene der weiblichen Figuren, die das Thema der (Un-)Tätigkeit wiederum › in eigener Tonart ‹ variieren, wodurch die Entwicklung des Grundthemas an jene der Fugenkunst erinnert. Die Variation eines Themas ist nicht nur Merkmal einer Ebene, sondern des Gesamtstückes. Der Motivkomplex aus inertie und activité durchzieht neben der spanischen Illusionsebene sowohl die äußere wie auch die innere. Dabei kommt es zu Zerr-Spiegeleffekten zwischen den Ebenen, die im übertragenen Sinne wie Spiegelfugen wirken: Nicht nur einzelne Stimmen, sondern ganze Sätze beziehen sich aufeinander, 366 was sich, übertragen aufabyssale Texte, dergestalt äußert, dass sich nicht einzelne So offenbart sich, dass auch Nuria erstarrt ist: als postmoderne Variante der Figuren Genets, in ihrem äußeren Glanz einer Filmschauspielerin. Vgl. Kapitel 7. 365 Fernan und Pilar lernen sich gerade deswegen kennen, weil der Hausverwalter Fernan in Anbetracht eines schadhaften Treppenbesatzes fürchten musste, Pilar könnte mit ihren hohen Absatzschuhen stürzen. So wird der Eindruck erweckt, dass Fernan es sich von Anfang an zur Aufgabe gemacht hat, Pilars Bewegung zu schützen und zu fördern. In Fernans Einflussbereich scheint sich Pilar ebenfalls in Bewegung zu setzen, was sich wiederum auf sprachlicher Ebene niederschlägt: »Je suis contente que les arbres me voient passer avec toi, tout ce que j ’ ai connu sans toi, ces arbres, ces allées, me voient passer à ton bras« (87; m. H.). Dabei erscheint die Mutter dank ihrer neuerlichen Dynamik »plus attirante que [s]es filles, »plus fraîche que [s]es filles« (115) und rückt damit auch physisch in die Nähe Fernans. 366 Vgl. S CHLEUNING , Johann Sebastian Bachs »Kunst der Fuge«, 51 f. 117 Figurenstimmen, sondern ganze Illusionsebenen (in Verkehrung) aufeinander beziehen. Diese literarische › Spiegelfuge ‹ lässt sich wiederum am Verhältnis von Fernan und Mariano exemplifizieren. Sie führen ihr Kontrastverhältnis aus dem spanischen Stück insofern fort, als der A CTEUR (qui joue Fernan) in gänzlicher Opposition zu seiner fiktiven Rolle - Fernan - sowie zum A CTEUR (qui joue Mariano) nunmehr inertie figuriert. Die Thematik wird also beibehalten, aber spiegelverkehrt ausgestaltet: Während Fernan im spanischen Stück stets in Bewegung bleibt und dafür uneingeschränkte Freiheit einfordert - »[L ’ ]horizon est trop court dorénavant pour que je m ’ emmerde avec le conformisme« (98) - , ist es eben dieser Konformismus, der den Schauspieler, der Fernan spielt, auf nächsthöherer Illusionsebene erstarren lässt. Ebenso programmatisch wie der gespielte Fernan das spanische Stück eröffnet - »le syndic ne fait rien« (15) - beginnt mit dem A CTEUR (qui joue Fernan) das französische: »Les acteurs sont des lâches. [. . .] Moi le premier« (13). Es sei die in seinem Berufsfeld grassierende »folie de séduction« (79), die ihn unfrei mache, da sie ihn an die Erwartungshaltung von Autor, Dramaturg, Kritiker und Zuschauer binde und ihn dadurch erstarren lasse. Eben diesen betäubenden Konformismus kritisiert der A CTEUR (qui joue Mariano). Er bedauert gerade »le mou« seiner Figur, das jedwede »dimension active« abtöte (26). In seinen insgesamt vier Redebeiträgen auf der ersten Illusionsebene reklamiert er unentwegt activité als künstlerische Autonomie, insbesondere mit Blick auf Kritiker, Autor und die zu probende Figur. In der letzten dieser vier Szenen führt Mariano schauspielernd vor, was er bis dato nur verbalisiert hatte: Während der A CTEUR (qui joue Fernan) alles unternimmt, um dem Stückautor Panero zu gefallen und dabei erstarrt, gestaltet der Schauspieler, der die Rolle von Mariano inkarniert, die seiner Meinung nach dürftig und lächerlich konzipierte Rolle eigenmächtig weiter und zieht sie dadurch von der Ebene der spanischen › Familienkomödie ‹ auf jene der metatheatralen Kommentare, womit Une pièce espagnole zum ersten und einzigen Mal eine Figur aus der Rolle fallen lässt 367 und dadurch sowohl eine inhaltliche wie formale activité akzentuiert. 367 Formal wird dieser eigenständigen Aktivität der Figur Rechnung getragen, indem die entsprechende Szene - die 27. - die Einzige der französischen Ebene ist, die auf den Zusatz »imaginaire« verzichtet. Die 27. Szene stellt insofern einen finalen Spannungsmoment dar. Zentrales Thema dieser letzten Sequenz der französischen Ebene ist wiederum - und in mehrfacher Hinsicht - das Ende. Sie beginnt bezeichnenderweise damit, dass sich der A CTEUR (qui joue Mariano) fragt: »Aurelia, je me demande parfois comment nous finirons« (117; m. H.). Anschließend führt der Schauspieler den Zerfall seiner von ihm wenig geschätzten Rolle aktiv und unerbittlich vor: Als Mariano thematisiert er die Entfremdung von sich selbst und anderen, seinen Schönheits- 118 So verkehren sich in der mise en abyme die Rollen bei beibehaltener Thematik. Zwischen der ersten und der zweiten Illusionsebene scheint nicht nur mit Blick auf (den Darsteller von) Fernan und (den Darsteller von) Mariano, sondern auch bezüglich der anderen Figuren eine Art Zerrspiegel positioniert zu sein, der sich mit der Komposition von Spiegelfugen vergleichen lässt. 368 Analog zur formalen Präzision der Fugentechnik schlägt sich die Spiegelung auch formal nieder: Die Figur, die sich der inertie widersetzt, ist auch jeweils die verbal aktivste. Während der aktive Fernan im spanischen Stück von allen fünf Figuren über den größten Redeanteil verfügt und der starre Mariano quantitativ an vorletzter Stelle rangiert, verhält es sich analog zur gespiegelten Gesamtsituation im rahmenden Stück der Schauspieler-Figuren genau umgekehrt: der Anteil des A CTEUR (qui joue Mariano) am Gesamtgesprochenen ist der höchste, jener des A CTEUR (qui joue Fernan) der vorletzte. 369 Nicht nur die beiden äußeren Ebenen, sondern auch die bulgarische inszeniert den Konflikt von inertie und activité. Die Klavierlehrerin, die zuvor immer wieder semantisch als › Stagnierte ‹ gekennzeichnet wird, 370 spricht und Jugendwahn, seinen Alkoholismus, die drohende Perspektive auf ein Pflegeheim. Nachdem er die Figur › Mariano ‹ in einem weinerlichen Monolog vollkommen der Lächerlichkeit preisgegeben hat, richtet sich der A CTEUR (qui joue Mariano) vorwurfsvoll an den vermeintlich untätigen Stückautor Olmo Panero. Dieser solle als Schöpfer von seinem Recht Gebrauch machen, aktiv über Leben und Tod seiner fiktiven Kreaturen zu verfügen. Doch eben dies ist dem Autor offensichtlich nicht gelungen. 368 Ein Zerrspiegel zwischen zwei Figuren zeigt sich in einer Reihe von Beispielen auch bezüglich der Schwestern Aurelia und Nuria. Im spanischen Stück sind beide Schauspielerinnen. Aurelia scheint weniger schön und weniger talentiert zu sein als ihre Schwester. Sie inkarniert die Klavierlehrerin Wurtz und insofern eine Frau, die in einen Mann verliebt ist, der sie warten und im Ungewissen lässt. Eben diese Rolle wird auf Ebene der französischen Schauspieler-Figuren besprochen. Dort ist es allerdings nicht die Schauspielerin, die Aurelia, sondern jene die Nuria spielt, die zeitlebens von einer solchen Rolle träumt. Dies reflektiert die A CTRICE (qui joue Nuria) am Beispiel von Tschechows Onkel Wanja: »Je voulais jouer Sonia. Dans Oncle Vania. C ’ était le rôle que je voulais jouer. Mon rêve à moi, quand j ’ étais jeune. L ’ oubliée, la mal-aimée. La moche. Elle aime un homme qui ne la regarde même pas« (35). Eben diese Geringschätzung spielt (und hinterfragt) letztendlich nicht sie, sondern ihre Schwester im spanischen Stück, Aurelia alias Mademoiselle Wurtz (121). 369 Die spiegelbildliche Verkehrung des Wortverhältnisses beschränkt sich nicht auf die beiden Männer, sondern gilt konsequent für das gesamte Figurenkabinett. 370 Die Klavierlehrerin wird zwar anfangs als sich Bewegende gekennzeichnet (»Chaque mardi, monsieur Ki š , je traverse le fleuve pour venir chez vous«, 38), bei ihrem Schüler angekommen erstarrt aber auch sie (»Ensuite je m ’ assois sur ce siège inconfortable«, 39), mehr noch, sie bewegt sich rückwärts (»[Je] prends soin de me reculer pour vous mettre à l ’ aise«, 39.). Durch die Stagnation ihres Schülers (»[Il] ne travaille pas son piano, il ne fait aucun progrès, au fur et à mesure, je n ’ ai plus de raison de venir«, 54) verliert auch sie ihre Bewegungsmöglichkeit: »Lui ne me dit jamais de ne plus venir, j ’ ai peur de cette phrase, je la redoute à chaque fois« (54). So verfallen beide in Erstarrung: »[Ni] vous ni 119 letztendlich nicht nur die lange vermiedenen »mots définitifs« (39) aus, mit denen sie Gefahr läuft, das regelmäßige Zusammensein mit dem begehrten Klavierschüler zu beenden, sondern sie setzt, nachdem dieser weiterhin bewegungslos bleibt, 371 › alles auf eine Karte ‹ - im Französischen wiederum mit der Bewegung suggerierenden Formulierung des »va-tout« (121; m. H.) - , um ihn durch ihre Interpretation Mendelssohns in Bewegung zu versetzen: »[V]ous allez vous lever, vous retourner, et me regarder« (121). Insgesamt wirkt es, als ziehe sich das zentrale Sujet - Einsamkeit und drohende Sinnlosigkeit angesichts der vergehenden Zeit - als dominantes semantisches Feld zwischen inertie und activité durch das Gesamtstück. Dabei wird es durch Wiederholungen, Spiegelungen, Echo-Effekte und kontrapunktische Bewegungen variiert. Dass literarische Kunstwerke musikalisch konstruiert sind, ist kein singuläres Phänomen; beispielsweise werden die Texte Thomas Bernhards häufig mit musikalischen Kompositionsprinzipien in Verbindung gebracht und insbesondere mit der Fugenkunst verglichen. 372 Was nun mit Blick auf Une pièce espagnole deutlich wird, ist der erweitere Radius literarischer Fugenkomposition. Wenn sich ein Text über mehrere Illusionsebenen aufspannt, was im Zuge einer Inszenierung sogar plastisch erfahrbar wird, scheint er sich im übertragenen Sinne in eine Partitur aufzufächern. Die Variationen eines Themas vollziehen sich in der Folge nicht nur auf einer, sondern auf mehreren Ebenen, wodurch sich die Spiegelungseffekte noch wirkungsmächtiger ausgestalten können. Da ein und derselbe Schauspieler nicht nur eine, sondern mit seiner ersten mindestens zwei oder drei weitere Stimmen zum Ausdruck bringt - die reale Schauspielerin Dominique Reymond spielt beispielsweise die A CTRICE (qui joue Aurelia), die ihrerseits Aurelia darstellt, die wiederum als Mademoiselle Wurtz auftritt - wird das Hauptmerkmal der Fugenkunst, die Polyphonie, auf besondere Weise in Szene gesetzt. So bricht die Perspektive in verschiedene und teilweise konträre Blickwinkel auf. Im Zuge dieser Polyphonie erzeugt Une pièce espagnole letztlich eine Aporie: Einerseits kündigt sich am Ende jeder Illusionsebene ein Ausbruch aus dem Zustand der inertie an; andererseits aber erfährt jede der vollzogenen oder in Aussicht gestellten Aktivitäten eine mehr oder minder offene Ironisierung, womit sich ihre Nachhaltigkeit moi ne bougeons« (39). Diesen zentralen Satz muss Aurelia alias Mademoiselle Wurtz aufgrund der Inkompetenz ihres Spielpartners sogar zweimal aussprechen. 371 Aurelia verbalisiert die Szenenanweisung: »Après je me déplace, toi tu ne bouges pas« (81). 372 Vgl. O LSON , »Thomas Bernhard, Glenn Gould, and the Art of the Fugue«. 120 augenblicklich relativiert. Diese Ironisierung erfolgt sowohl ebenenintern (beispielsweise durch einen streckenweise grotesken Pathos der Figuren) als auch ebenentransgressiv durch die ironisierenden Kommentare auf der nächsthöher gelegenen Illusionsebene sowie die insgesamt vollzogene Verkehrung der Positionen. Die Rollen im Gefüge von inertie und activité sind innerhalb der einen Illusionsebene zwar festgelegt, erscheinen aber auf anderen Ebenen in exakter Verkehrung. So sind es gerade die Ebenenpluralität und die sich darin (verzerrt) vollziehenden Spiegelungen, die inertie und activité permanent in der Schwebe halten. Dieser Zustand zwischen Bewegung und Starre korrespondiert der ontologischen Beschaffenheit von Fuge und mise en abyme im Allgemeinen. Sie oszillieren selbst zwischen den genannten Polen. Einerseits tragen sie - in der etymologischen Bedeutung › Flucht ‹ bzw. › In-den-Abgrund-Setzung ‹ - die ihnen inhärente Bewegung schon im Namen. Andererseits sehen sich beide Phänomene häufig dem Vorwurf ausgesetzt, mechanisch und starr zu sein: Während die Fuge bei Kritikern als mathematisch und leblos gilt, 373 wird die mise en abyme häufig auf ein Phänomen der bloßen formalen Wiederholung reduziert. Sie wiederholt die Form in der Form. Doch die Kombination von Wiederholung und Variation ist per se beides, Bewegung und Starre. Es wird etwas › wieder-geholt ‹ (Bewegung), das bereits existiert (Starre). Es wird nicht aus einer tabula rasa heraus vollkommen neu kreiert, sondern auf strukturelle Vorformen rekurriert, die Fugenform bzw. die Werkim-Werk-Struktur. Beide Phänomene, sowohl die Fuge als auch die mise en abyme, stoßen zwar Bewegung an, diese Bewegung ist aber autoreferentiell, kreist also zuvörderst um ein und dasselbe Werk und dessen Grundthematik. Insofern offenbart sich eine Bewegung, die aus einer höchst kunstvollen Selbstumkreisung resultiert. Die mise en abyme ist nicht uneingeschränkt eine Figur der Bewegung, der aufzubrechenden Starre, sondern auch sie vereint analog zur Fuge sowie in der Dynamik von Une pièce espagnole beides: activité und inertie, Bewegung und Starre, Konstruieren und Konstruiert-Sein. Das wie besessen angestrebte »rester en devenir«, das die Autorin als Hauptmerkmal ihrer Charaktere beschreibt, korrespondiert dem poetologischen › Im-Werden-Bleiben ‹ der mehrschichtigen Gesamtkomposition, das wiederum an Schlegels Postulat ewig »im Werden« verharrender selbstreferentieller Werke 374 oder die durch die gemalten Spiegel in ständiger 373 »Vermutlich sehr trocken«: Diesen Kommentar notiert Robert Schumann an den Rand seiner Kopie von Bachs Kunst der Fuge (vgl. M ARTIN , Ein unbekanntes Schumann-Autograph, 411). 374 Vgl. Anm. 283. 121 Dynamik gehaltenen Gemälde erinnert. Eine solche musikalisch-poetologische Prozesshaftigkeit weist Une pièce espagnole auch bezüglich seiner theatralen Implikationen auf. 5.4 Spielen vs. Spielen. Komponieren und Inszenieren in der mise en abyme A URELIA . Jouez sans créer d ’ événements autres que la musique (82). Auf der rahmenden Meta-Ebene von Rezas Une pièce espagnole werden vorwiegend schauspielästhetische und theoretische Fragen reflektiert, während die Schauspieler der spanischen › Familienkomödie ‹ eine Rolle spielen und einen vergleichsweise ausgeprägten Handlungsstrang präsentieren. Analog dazu werden auf der dritten Ebene des bulgarischen Stückes hauptsächlich musikästhetische und -theoretische Fragen verhandelt, wohingegen auf der vierten Ebene ein Klavierspiel ertönen soll. Schauspiel und (poetologisch eingefärbtes) Klavierspiel werden also theoretisch wie praktisch parallel geführt und verflechten sich nicht zuletzt in den Begriffen jouer, jeu und pièce ineinander. Une pièce espagnole integriert durch die Nennung von Komponisten und Pianisten, den Handlungsstrang des Klavierunterrichts und das finale Spielen eines Präludiums musikalische Elemente. Darüber hinaus zeigt es sich durch seine musikalische Tiefenstruktur sowie die strukturellen Anklänge an Bachs Fugenkunst selbst als musikalisch verfasst. Diese Grundmusikalität vollzieht Une pièce espagnole nicht nur auf Ebene seines Textkörpers, sondern überträgt sie auf seine Inszenierung. 375 Die erste und insofern programmatische Szenenanweisung verlangt den Schauspielern dezidiert eine musika- 375 Analog zur konzeptuellen Verflechtung musikalischer und poetischer bzw. musiktheoretischer und poetologischer Prämissen finden sich auch auf Ebene der künstlerischen Produktionsprozesse Vertreter verschiedener Kunstformen. Das Spektrum reicht von den fiktiven Künstlerfiguren der ersten Illusionsebene (wie dem Autor Olmo Panero, den fünf Schauspielern sowie dem Regisseur), der zweiten Illusionsebene (den Schauspielerinnen Aurelia und Nuria) und der dritten Illusionsebene (der Pianistin Mademoiselle Wurtz) bis hin zur (punktuellen oder ausführlicheren) Erwähnung real existenter Künstlerfiguren - den Autoren Virgil und Tschechow, den Schauspielerinnen Olga Knipper, Sharon Stone und Penélope Cruz sowie den Komponisten Bach, Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Brahms und dem Pianisten Neuhaus. Diese intertextuelle Verschränkung literarischer, dramatischer und musikalischer Künstlerfiguren ist nicht nur Une pièce espagnole, sondern einer Reihe weiterer Stücke Rezas zu eigen. Dabei betont Reza stets die Rolle von Musik(ern) (vgl. H ELLERSTEIN , »Entretien avec 122 lisch konnotierte Spielweise ab. Die Bühne, der theatrale Raum, wird nicht spezifiziert, die Spielweise des dort aufzuführenden Stückes hingegen schon; es sei unabdingbar, dass die Schauspieler zwischen ihren Redebeiträgen Pausen ließen: Aucune mention spécifique de décor. Également, ne sont (presque) pas indiqués dans le texte les indispensables silences et temps. Les passages entre la pièce espagnole et les apartés des acteurs doivent se faire sans rupture; il faut jouer › legato ‹ comme on dit en musique. (9) Darüber hinaus sei der Übergang zwischen den Illusionsebenen legato zu spielen. Ausgehend von den schauspielästhetischen Direktiven nach Maßgabe musikalischer Prämissen - das Wechselspiel von Ton und Stille sowie Legato-Bögen zwischen verschiedenen Sequenzen - zeigen sich einige für das Verständnis des Gesamtstückes sowie der Wirkungs- und Funktionsweisen seiner mehrfachen mises en abyme elementare Aspekte. Die Pausen sind im Französischen in »silences et temps« differenziert, wortwörtlich also in: › Stille und Zeit ‹ . 376 Diese dramaturgische Direktive korrespondiert (bis hinunter auf die semantische Ebene) der bereits reflektierten Grundthematik des Gesamtstückes: Ständig wird in unterschiedlichen Kontexten und auf allen Illusionsebenen die Angst vor der erbarmungslos vergehenden Zeit, vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit der eigenen Existenz thematisiert. Spielästhetischer Indikator dieser Spiegelung sind die von den realen Schauspielern zu setzenden »indispensables silences et temps«. Das zentrale Sujet, die Wirkungsmacht der vergehenden Zeit, soll also, wie die en abyme entwickelten spielästhetischen Prämissen im finalen Vorspielen des Präludiums, inszenatorisch hörbar werden. So beschreibt die Autorin selbst die Relevanz dieses musikalischen Prinzips für ihr Theater: »Wenn es keine Pausen in meinen Theaterstücken gibt, wenn man sie ohne Momente des Schweigens spielt, dann haben sie keinen Wert mehr. Dann werden sie zu N ICHTS .« 377 Eine analoge formale wie inhaltliche Ineinander-Spiegelung des Gesamtstückes und seiner Binnenebenen zeigt sich auch bezüglich des Legato-Spiels. Legato zu spielen, erfordert eine spürbare Verbindung der einzelnen Töne. Yasmina Reza«, 951). Vgl. zu dieser Thematik: A MEND -S ÖCHTING , »Beethovensonate als Metapher? « und B ARBEDETTE , »Yasmina Reza«. 376 In der Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel wird an dieser Stelle nur von »Pausen« gesprochen (R EZA , Ein spanisches Stück, 8). 377 R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 18; Hervorhebung im Original. Die Eingangsdidaskalie in Rezas jüngstem Stück, Comment vous racontez la partie von 2011, gleicht jener von Une pièce espagnole auf das Wort. Ihr ist bezeichnenderweise ein verstärkendes »Attention« vorangestellt: »Attention aux indispensables silences, temps et contretemps, qui ne sont pas indiqués« (R EZA , Comment vous racontez la partie, 9). 123 Dadurch verschiebt sich der Schwerpunkt abermals vom Anfang und Ende auf die Dynamik der Mitte. Übertragen auf das Theater werden die Schauspieler also dazu angehalten, die Szenen durch ihr Spiel ineinander gleiten zu lassen: Es ist beispielsweise vorstellbar, dass sie die Kommentare der ersten Illusionsebene bruchlos in die Sequenzen des Panero-Stückes einfließen lassen, ohne einen anderen Ton anzuschlagen, sich umzukleiden, etc. Gleiches gilt für die Übergänge vom Panero-Stück zu jenem des bulgarischen Dramatikers. Dieses programmatische Legato-Spiel wird nicht nur als dramaturgische Direktive ausgegeben, sondern ist dem Text, wie die zu setzenden Pausen, bereits inhaltlich und motivlich eingeschrieben. Vor dem Hintergrund drohender Einsamkeit und Sinnlosigkeit geht es auch auf Inhaltsebene darum, legato zu spielen, Verbindungen zu schaffen. Hauptthema der spanischen Handlungsebene ist die junge Liaison zwischen Pilar und Fernan, welche sich in jener (gerade entstehenden) zwischen Nuria und Gary, jener (langjährigen) zwischen Aurelia und Mariano sowie der (kürzlich beendeten) zwischen Cristal und ihrem Liebhaber spiegelt. Diese partnerschaftlichen Beziehungen werden innerhalb eines familiären Gefüges reflektiert, dessen innere Bindungen gerade als unlebbar expliziert werden: Nous ne savons pas créer une atmosphère de fête, chez nous, il a raison, relativisons le chez nous, ce qu ’ on appelle une fête vire aussitôt à la catastrophe [. . .] nous ne sommes pas assez heureux peut-être d ’ une façon générale pour nous tenir gaiement ensemble [. . .] nous n ’ avons jamais été détendus, je veux dire lorsque nous sommes ensemble, en famille[.] (101; Hervorhebung im Original) Der Wunsch, sinnvolle Beziehungen zu schaffen, ist über die spanische Ebene hinaus auch Hauptmotiv der bulgarischen Ebene. Hier wird er von der spanischen › Familienkomödie ‹ abstrahiert und ausgehend von der Liebeserklärung der Klavierlehrerin als menschliches Grundbedürfnis thematisiert. 378 Die dramaturgischen Vorgaben, Pausen zu setzen sowie legato zu spielen, reflektieren folglich jene thematischen Hauptachsen des Gesamtstückes, die sich en abyme am deutlichsten offenbaren: »Nous travaillons un piano qui n ’ avance pas. Le temps passe. C ’ est une pièce sur la solitude et le temps qui passe« (54; m. H.). So ist es abermals der bulgarische › Herzschild ‹ , der die Grundthematik des Gesamtstückes, die zwischen den Illusionsebenen gespiegelt wird und sich darüber hinaus laut Eingangsdidaskalie in der Inszenierung niederschlagen soll, verdichtet und expliziert. Dies wird in beiden Fällen, den zu setzenden Pausen sowie den Legato-Bögen, nicht nur 378 »Je me suis présentée à vous sans rien espérer. J ’ attendais pourtant quelque chose, comme on attend de la vie, dès qu ’ on fait un pas dehors, tout le monde attend de la vie quelque chose qui n ’ est pas nommé et qu ’ on ne sait pas, une sorte d ’ atténuation de la solitude, sous n ’ importe quelle forme, une place même austère, un privilège à soi« (121). 124 thematisiert, sondern en abyme durchgespielt und im Zuge dessen vordeterminiert. Die erste Szenenanweisung betont die Relevanz der auditiven Leerstellen. Doch im Text selbst, so heißt es, seien sie nicht verzeichnet; tatsächlich finden sich nahezu keine Angaben dazu, an welchen Stellen die Schauspieler Pausen setzen sollen. Sie können diesbezüglich scheinbar frei entscheiden. Gleichzeitig aber wird ihre Freiheit en abyme eingeschränkt und ironisiert, indem sich ihre dort agierenden Abbilder, die Schauspieler-Figuren, als unfähig erweisen, die im bulgarischen Stück gesetzten Pausen zu respektieren bzw. intuitiv zu setzen oder gesetzte Pausen der Mitspieler als solche zu erkennen: Mariano et Aurelia. Chez eux. Mariano, une brochure à la main, donne la réplique à Aurelia. M ARIANO . Vous me troublez. (Un temps.) Vous me troublez. A URELIA . Il le dit deux fois? M ARIANO . Non, mais tu ne répondais pas. A URELIA . Parce que je laisse un temps. Vous me troublez. M ARIANO . Vous me troublez. [. . .] (Un temps.) M ARIANO . »Voulez-vous que nous abandonnions le Mendelssohn? « A URELIA . Je sais, mais laisse-moi mettre un temps! . . . (38 f.) 379 Indem er die Akzentuierung von Stille und vergehender Zeit en abyme hartnäckig boykottiert, hindert der unverständige Mariano seine Frau alias Mademoiselle Wurtz daran, die pathetische Wirkung des bulgarischen Stückes - und damit jene der Gesamtkonstruktion - zu entfalten. Die Selbstironie, die Une pièce espagnole mithilfe seiner werkinternen Spiegel entfaltet, ist nicht nur für Rezas Stück essenziell, sondern eine Grundkonstituente abyssaler Texte. Das Stück scheint seine eigenen, in der ersten Szenenanweisung dargelegten Grundprinzipien zu karikieren. Une pièce espagnole beharrt auf seinen ästhetischen Maximen, indem es auf Ebene der Fiktion gerade ihre Zerstörung inszeniert: Sollten sich die realen Schauspieler nicht an Rezas erste Szenenanweisung halten, nicht genügend Pausen setzen oder Pausen als solche erkennen, stellten sie sich auf eine Stufe mit dem ignoranten Mariano. Insofern sorgt der abyssale Dramentext fiktionsintern und unter Einbezug des Publikums präventiv für die Einhaltung seiner Prämissen. Ein ähnliches Bild zeichnet sich bezüglich der Legato-Bögen. Une pièce espagnole fordert das Legato-Spiel nicht nur in dramaturgischer Hinsicht, sondern sorgt einer möglichen Nichtbeachtung auf Ebene des Dramentextes 379 Hervorhebungen und verändertes Schriftbild im Original. 125 vor. Rezas Stück spannt selbst verschiedenste Legato-Bögen von Szene zu Szene, ganz gleich, welcher Illusionsebene sie angehören. Dies kann beispielsweise am Übergang der neunten Szene (erste Illusionsebene) zur zehnten Szene (zweite Illusionsebene) nachvollzogen werden: In der neunten Szene beschreibt die A CTRICE (qui joue Nuria) die magische Wandelbarkeit von Schauspielern. Sie schließt ihre Skizzierung wie folgt: »[I]ls [les acteurs] traversent un fleuve, ils vont d ’ un âge à un autre, ils ne marchent pas dans le temps réel« (37). Dieses Gleiten von einer Zeit in die andere führt nun in der folgenden Szene (und zwei Illusionsebenen tiefer) die Schauspielerin Aurelia vor, indem sie als Klavierlehrerin aus dem spanischen in das bulgarische Stück und damit von der Gegenwart in die 1970er Jahre übergeht. Dieses Übergehen, das die A CTRICE (qui joue Nuria) oben im Bild einer Flussüberquerung zeichnete, wird dabei gespiegelt: Die Klavierlehrerin überquert auf einer Brücke tatsächlich einen Fluss bzw. thematisiert dies zumindest - »Chaque mardi, monsieur Ki š , je traverse le fleuve pour venir chez vous« (38) - und erweckt die in der vorigen Szene verwendete Metapher damit zum Leben. So wirkt es, als habe die A CTRICE (qui joue Nuria) das Schauspielertum nicht lediglich beschrieben, sondern in Gestalt von Aurelia alias der Klavierlehrerin leibhaftig heraufbeschworen. Ein zweites Beispiel soll genügen, um den Facettenreichtum dieser Legato- Bögen zu verdeutlichen: In der so genannten › Verführungsszene ‹ (20), die von Fernan und Pilar gespielt wird, ergeht sich Fernan ausführlich in der Beschreibung seines Tätigkeitsfeldes. Im Rahmen dieser Selbstverherrlichung wird Pilar auf die Rolle des staunenden Bewunderers reduziert. Ihre Redeanteile beschränken sich ausschließlich auf: »Bien sûr«, »Non«, »C ’ est incroyable«, »Je comprends« (17 f.). In der folgenden Szene äußert die A CTRICE (qui joue Pilar) ihren Unmut darüber, › steif zu wirken ‹ (18), › eingezwängt zu sein ‹ (ebd.), › ein Gefühl des Erwürgtwerdens ‹ (20) zu empfinden und macht ihren Spitzenkragen dafür verantwortlich. Ihre Beklemmungsgefühle folgen aber vielmehr als Reaktion auf die vorangehende Szene, auf das Inkarnieren einer (zwischen Fernans langen Monologen zur Hausverwaltung) verbal eingekeilten Figur. In der abyssalen Konstruktion wird insofern legato komponiert, als Themenfelder ebenen- und szenenübergreifend aufgegriffen und einfach weitergeführt (8./ 9. Szene), eingehender erläutert (13./ 14. Szene) oder unter einem anderen Blickwinkel dargestellt werden (1./ 2. Szene). 380 Dabei zeigen sich Karikierungen (14./ 15. Szene) oder schlichtweg Herabwürdigungen 380 Beispielsweise anhand der Thematik physischer Wandelbarkeit (8./ 9. Szene), der Beschreibung des bulgarischen Stückes (13./ 14. Szene) oder dem Vorwurf der Untätigkeit (1./ 2. Szene). 126 (17./ 18. Szene). 381 Des Weiteren ergibt sich der Eindruck einer motivlich verbundenen Szenenfolge durch diametral entgegengesetzte Stellungnahmen ähnlich emotionaler Kontrastcharaktere (11./ 12. Szene), 382 komplementäre Figurenkonstellationen (20./ 21. Szene), 383 sowie ironische Frage-Antwort-Spiele (10./ 11.). 384 Die inszenatorisch geforderten Legato-Bögen sind dem Text folglich in Gestalt von sprachlichen, strukturellen, motivlichen, thematischen oder metaphorischen Anschlüssen bereits eingearbeitet. Die Szenenanweisung, die für die Spielästhetik des Gesamtstückes von grundlegender Bedeutung ist, korrespondiert dabei in elementarer Weise dem Zusammenspiel der Ebenen. So leistet die Autorin ihrem Ansinnen nach inszenatorischer Szenenverkettung textuellen Vorschub und verlangt den Schauspielern etwas ab, was der Text allerdings schon von allein leistet. Darüber hinaus wird das Legato-Spiel, wie im Fall der zu setzenden Pausen, en abyme auch inszeniert: Aurelia (alias Klavierlehrerin Wurtz) wird durch Marianos Ignoranz der zu setzenden »temps« ständig aus ihrem Spiel herausgerissen. Dadurch wechselt sie kontinuierlich zwischen dem Ton der gespielten Klavierlehrerin sowie ihrem eigenen, genauso wie Mariano zwischen dem seinen und jenem des Klavierschülers changiert. Im Zuge dessen entstehen Tonwechsel, die legato gespielt werden. Sie vollziehen sich in unmittelbarer Nähe zueinander, häufig im selben Satz. Im Kontext der en abyme reflektierten Inszenierungsprämissen ist auch von Relevanz, dass Aufführung und Text schon per se in ein Spannungsverhältnis treten: Während der Aufführung ein bruchloses Zusammenziehen der Spielsequenzen abverlangt wird, nimmt der Text, zumindest graphisch durch Nummerierungen, Überschriften und unterschiedliche Typographie, eine ausdrückliche Separierung dieser Spielsequenzen vor. Wie soll eine Inszenierung auf diese bereits im Text angelegte Widersprüchlichkeit reagieren? Une pièce espagnole scheint sich unverrückbar zwischen Starre (durch offensichtlich autoritär vorgenommene Strukturierung) und Bewegung 381 So kontrastieren Marianos Empörungen über das Mietrecht mit den Implikationen einer Tragödie (14./ 15. Szene). Die Herabwürdigung ergibt sich durch einen unterschiedlichen Blick auf das Liebespaar Fernan-Pilar (17./ 18. Szene). 382 Die Schauspieler, die Fernan bzw. Mariano spielen, bringen unmittelbar nacheinander ihre gegensätzliche Haltung in Bezug auf den Stückeschreiber Panero zum Ausdruck. 383 Inmitten ihrer misslungenen Inneneinrichtung (108) verharren Mariano und Aurelia am Ende der 20. Szene in desillusioniertem Schweigen, während das lebensbejahende Paar Fernan-Pilar in der 21. Szene in einer angeregten Unterhaltung in Bewegung gezeigt wird. 384 So fragt sich der vom bulgarischen Stück gelangweilte Mariano am Ende der 10. Szene »Qui peut aller voir ça? « (40). Die 11. Szene beginnt mit einer ironisierten Antwort, indem der Stückautor selbst als gerade angekommener Zuschauer beschrieben wird: »Olmo Panero a traversé les Pyrénées« (41). 127 (durch das geforderte Unterlaufen der eigenen Strukturierung) einzuschreiben. So zeigt sich, dass die Rezeption eines abyssalen Textes, wie sie nicht nur durch Zuschauer oder Leser, sondern vor allem durch Regisseure, Schauspieler und Dramaturgen erfolgt, nicht unmittelbar geschehen kann, sondern sich mit seinem Spiegelbild en abyme auseinandersetzen und sich ihm gegenüber auf die eine oder andere Weise positionieren muss. Dies ist, wie der renommierte Dramaturg Michael Eberth pointiert, mit enormen Schwierigkeiten verbunden: Mir selbst raubte eine Heiserkeit am Premierenabend die Stimme. Ich nahm das Verstummen symbolisch. In den vier Jahrzehnten, in denen es zu meinen Aufgaben gehört hatte, den Stücken, die mir am Herzen liegen, den Weg auf die Bühne zu ebnen, hatte sich nichts als schwieriger erwiesen als die Aufgabe, »Ein Spanisches Stück« auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses zu bringen. 385 Das Zusammenspiel aus mise en abyme und Implikationen der eigenen theatralen Verfasstheit ist eng mit einer motivreichen Konfrontation von Realität, Fiktion und Fiktionspotenzierung verwoben. 5.5 Realität und Fiktion(-spotenzierung) im Spiegel der mise en abyme Is all that we see or seem but a dream within a dream? P OE , »A Dream within a Dream«, V. 10 f. Dreams are real. G ENET / W ISCHENBART , »Interview«, 42. Indem die französischen Schauspieler-Figuren ihren Wirkungsbereich, wie der Text nicht expliziert, sondern nur andeutet, 386 in Frankreich entfalten, antizipieren sie fiktionsintern die Situation der realen Uraufführung. Diese fand im Januar 2004 im Pariser Théâtre de la Madeleine statt. 387 Die realen 385 E BERTH , »Gefallsucht bricht Leidenschaft«, n. pag. 386 Es wird erwähnt, dass der Spanier Olmo Panero die Pyrenäen überqueren müsse, um den Proben beizuwohnen (41). 387 Luc Bondy, dem das Stück gewidmet ist, inszenierte die Uraufführung mit den renommierten Schauspielern Marianne Denicourt, Thierry Fortineau, André Marcon, Bulle Ogier und Dominique Reymond. 128 französischen Schauspieler der Uraufführung spielen also fiktive französische Schauspieler, die ein spanisches Stück proben. So werden sie dazu angehalten, sich im Rahmen einer fiktiven Rolle mit ihrer eigenen Grundsituation auseinanderzusetzen. Dies wird stückintern wiederum vorweggenommen, wie beispielsweise an folgendem Monolog der A CTRICE (qui joue Nuria) deutlich wird: Je répète une pièce espagnole, une comédie familiale, dans laquelle je joue le rôle d ’ une actrice. C ’ est bizarre d ’ interpréter une actrice, j ’ ai l ’ impression de devoir signaler que c ’ est une actrice, le metteur en scène dit, contente-toi d ’ être toi-même, mais c ’ est quoi moi-même? C ’ est quoi moi-même-actrice? Ça existe? (37) Auf diese Weise verschränken sich Fiktion (einer zu spielenden Rolle) und Realität (der eigenen Schauspielexistenz) bereits konzeptuell ineinander. Diese Konstellation wird fiktionsintern dadurch dupliziert, dass die Schauspieler-Figuren Charaktere verkörpern, die ihrerseits, wie im Fall von Nuria und Aurelia, wieder Berufsschauspieler sind. So potenziert Une pièce espagnole in einer mehrfachen mise en abyme seinen fiktionalen Grundgehalt von Illusionsebene zu Illusionsebene. Auf der ersten Illusionsebene geben die Schauspieler-Figuren vor, nicht zu spielen, sondern den Theaterbetrieb in vergleichbar authentischer Weise zu reflektieren; auf der zweiten Illusionsebene bringen sie (ohne metatheatrale Erläuterungen) eine › Familienkomödie ‹ zur Aufführung, wodurch sich die Fiktion offensichtlich potenziert; dieser Eindruck wird mit Beginn der dritten Illusionsebene insofern gesteigert, als das bulgarische Stück, anders als das spanische, aus dem es erwächst, weder aktuelle Themen noch Alltagssprache, sondern eine per se künstliche Situation mit hohem Pathos inszeniert. Diese kontinuierliche Fiktionspotenzierung geht mit einer Verwirrung des Rezipienten einher, die wiederum mitreflektiert wird: Mariano alias Monsieur Ki š lässt das bulgarische Binnenstück mit den an die Klavierlehrerin gerichteten Worten »Vous me troublez« (38) beginnen und expliziert damit die Empfindung, die der reale Rezipient gerade durchlebt. Letzterer hat sich zuvor neun Szenen lang auf das abrupte Wechselspiel aus französischem und spanischem Stück einzustellen versucht, als Une pièce espagnole plötzlich und einleitungslos eine weitere (bulgarische) Illusionsebene eröffnet. Mit der Potenzierung des Stückes geht die wachsende Verwirrung des Rezipienten einher, was fiktionsintern der dreimaligen Wiederholung des Ausspruches »Vous me troublez« korrespondiert. Die Spannung zwischen Illusion und Realität wird weitergeführt und noch intensiviert: Das bulgarische Stück stellt ein Kondensat aus französischem und spanischem Stück dar, indem es Fiktion (die Klavierlehrerin und ihr Schüler) und Fiktionsbruch/ Kommentierung der Fiktion (Mariano und 129 Aurelia) ausdrücklich auf einer Illusionsebene ineinander verschränkt. Der letzte gesprochene Satz des Gesamtstückes - und gleichzeitig Höhepunkt des bulgarischen Stückes en abyme - ist dem ambivalenten Geständnis der Klavierlehrerin vorbehalten: »[Je] ne veux pas être aimée pour de vrai« (122). Sie wolle nicht › in Wirklichkeit ‹ oder nicht › wahrhaft ‹ geliebt werden. Dieses Oszillieren zwischen Sein und Schein, zwischen verschiedenen Wirklichkeitsstufen wird nicht nur final expliziert und in Form einer mehrfachen mise en abyme gestaltet, sondern durchzieht als existenzielle Grundproblematik alle Illusionsebenen des Gesamtstückes. Die Figuren geben, obgleich sie nicht illusionsbrechend aus ihrer Rolle zu fallen pflegen, dennoch eine Verlorenheit zwischen Fiktion und Realität zu erkennen: »parfois il arrive que je ne me souvienne plus des inflexions de la vie« (70) oder »bien que je ne puisse dire exactement en quoi consiste la vie réelle« (14). 388 Das › wahre Leben ‹ ist eben deswegen obsolet geworden, weil es nicht (mehr) als › wahr ‹ empfunden werden kann. Der Mensch scheint nicht nur auf, sondern auch jenseits der Bühne eine Rolle zu spielen. 389 Dieser Topos des theatrum mundi durchzieht nicht nur die äußere, sondern jede einzelne und insbesondere die spanische Illusionsebene. Die unterschiedlichen Spielbereiche spiegeln sich, so unterschiedlich, separat und unabhängig sie durch Schriftbild und Handlungsführung auf den ersten Blick auch scheinen mögen, folglich im steten Reflektieren der eigenen Scheinhaftigkeit ineinander. Une pièce espagnole lässt es nicht dabei bewenden, zwei Binnenstücke mit einer metatheatralen Rahmung zu versehen, sondern variiert die formale mise en abyme im Sinne einer facettenreich ausgestalteten Motivspiegelung zwischen vrai und faux. So wird das nachmittägliche Beisammensein, das sich bereits durch die Typenhaftigkeit der Figuren und die Überzogenheit ihrer Handlungsweise theatral einfärbt, in der typisch dreiteiligen Potenzierung auch auf metaphorischer Ebene theatralisiert: Als Pilar die ständigen Provokationen ihrer Tochter Aurelia schließlich mit einer Ohrfeige quittiert, reagiert ihre zweite Tochter Nuria enerviert: »Bon, moi ces scènes me tuent, je m ’ en vais! Je viens ici trois fois par an et trois fois par an il y a un drame! « (96) Während diese Form diskursiver Metadramatik 390 - durch theatrales Vokabular wie › Szene ‹ 388 In ihrem Roman Nulle part verbindet Reza das › wahre Leben ‹ dezidiert mit der bereits verhandelten Problematik der inertie: »Nous soulevons la question de la vie réelle, faut-il s ’ en distraire ou ne voir de salut qu ’ en elle, dans sa platitude, ses inerties, ses recommencements« (R EZA , Nulle part, 35). 389 Der Autorin zufolge gehe es ihr »um das Verhältnis von Schauspieler, Rolle und Mensch« und ein permanentes, existenzielles Rollenspiel (M EISTER , »Ich schreibe als Mann«, 142). 390 Vgl. zu diesem Terminus der Metadramatik: V IEWEG -M ARKS , Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, 30 - 35. 130 oder › Drama ‹ - auch alltagssprachliche Verwendung findet und insofern illusionskompatibel verläuft, sticht das Bewusstsein der Figuren bezüglich ihrer theatralen Verfasstheit in der folgenden Textstelle bereits stärker ins Auge. Als Fernan mit Blick auf die zerrütteten Familienverhältnisse seine Trauer über einen generellen Wertverfall zum Ausdruck bringt, kommentiert Mariano die Wirkung der dargebrachten › Familienkomödie ‹ - im doppelten Wortsinn - selbstbewusst: »Nous nous voyons dans cette configuration deux fois par an Fernan, la réunion d ’ aujourd ’ hui, en votre honneur, même pas deux fois par an« (100 f.). Mit seinem Kommentar fällt Mariano zwar nicht illusionsbrechend aus seiner Rolle, er deutet aber an, dass er um die Scheinhaftigkeit des eigenen Rollenspiels weiß. Dabei wird, in Analogie zur rahmenden Meta-Ebene, die Schauspielerei in einem Theaterstück mit jener im alltäglichen Leben parallelisiert. Die Figuren spielen hier wie dort eine Rolle, treffen jeweils in unterschiedlichen › Besetzungen ‹ zusammen, um › zu Ehren ‹ wechselnder Zuschauer Schein zu produzieren. Als die nervliche Anspannung ihren Höhepunkt erreicht, feiert Mariano den Erfolg der geleisteten Darbietung schließlich vergleichsweise offensiv: »Il [Fernan] est enchanté, il échappe à l ’ ennui mortel, vous êtes au théâtre Fernan, vous qui aimez le théâtre« (109 f.). Das Vokabular der drei angeführten Passagen trägt eine auffällig theatrale Markierung: »scènes«, »drame«, »configuration« und schließlich »théâtre«. Die Figuren geben durch die Verwendung einer theatralen Metaphorik zu erkennen, dass sie nicht Pilar, Fernan, Aurelia, Mariano oder Aurelia sind, sondern ihr nachmittägliches Beisammensein als Spiel im Spiel inszenieren und damit in spiegelnder Wechselwirkung mit der Ebene der kommentierenden Schauspieler stehen. »On regarde des choses se dérouler sachant qu ’ on les regarde se dérouler«, konstatiert Reza mit Blick auf Trois versions de la vie. 391 Dieser Eindruck gilt für Une pièce espagnole in besonderem Maße. Die verkörperten Figuren werden nicht lediglich zum Leben erweckt, sondern es vollzieht sich in einer doppelten mise en abyme der Prozess als solcher, das Lebendigmachen durch schauspielerische Leistung, und dies sogar › zu Ehren ‹ eines stückinternen Zuschauers (Fernan). Die Bewegungen zwischen vrai und faux zeigen sich in Une pièce espagnole nicht nur in der Metaphorik bzw. in Wortspielen, sondern auch in einigen Szenen mit emphatischer Sprache, die im Rahmen des ungezwungenen Familienfestes auffällig theatral hervorstechen. Zu nennen wären beispielsweise Marianos › neopoetische Anstrengungen ‹ - »[ses] élans néo-poétiques« (66) - , die innerhalb der Fiktion eines familiären Beisammenseins dezidiert als 391 H ELLERSTEIN , »Entretien avec Yasmina Reza«, 948. 131 unecht erlebt werden. 392 Die sprachliche Künstlichkeit, die sich auch in der Rede Aurelias zeigt, 393 tritt besonders deutlich zu Tage, wenn sich Fernan seinem Tätigkeitsfeld eines Hausverwalters oder den Feinnuancen des Nachbarschaftsrechtes zuwendet. Seine Reden weisen ein hohes Maß an konstruierter Schriftsprachlichkeit auf: Monologizität, hohe Informationsdichte, Texthierarchisierung, Explizitheit, Stringenz, konjunktional verschachtelte Sätze, Partizipialkonstruktionen, fachspezifisches Vokabular, Nominalstil, rhetorische Fragen, Parenthesen. Der elaborierte Stil seiner Rede kontrastiert nicht nur mit der Plattitüde seines Gegenstandes, sondern gleichsam mit einer Reihe von Binsenweisheiten, mit denen er seine Ausführungen › verziert ‹ . 394 Gotthold Ephraim Lessing hütete sich einst »mehr vor dem Schwülstigen [. . .], als vor dem Platten«, 395 Fernan vereint beides in pathetischen Lobgesängen auf das Hausverwaltertum. Dabei scheint er den (implizit metatheatralen) Versuch anzustellen, die Hausverwaltung als interessantes Aufführungssujet zu etablieren. Seine Anstrengungen sind aber, wie das demonstrative Desinteresse seiner Zuhörer beweist, nicht von Erfolg gekrönt. So wird in Fernans Bemühungen auch die Schwierigkeit ironisiert, bühnenwirksame Texte zu verfassen sowie diese adäquat zu vermitteln - wiederum ein dominantes Thema der rahmenden Schauspiel-Ebene. Das Wechselspiel aus faux und vrai wird über die poetische Sprachverwendung hinaus durch eine ganze Reihe von Requisiten und vermeintlich bedeutungslosen Details ausgestaltet: So begehrt Aurelia beispielsweise »faux sucre« (50) und kostet als Einzige vom › falschen Kuchen ‹ . 396 Ihre Tochter besitzt »un portable. Un faux« (31), dazu einen › falschen ‹ Staubsauger (47 - 51). Dabei handelt es sich um Kinderspielzeuge, die Gegenstände aus der 392 Auf das erste der beiden von Nuria vorgeführten Kleider reagiert er noch mit einem schlichten, aber enthusiastischen »Pour à cent pour cent« (62). Die zweite Abendgarderobe kommentiert der sonst erbarmungslose Zyniker auffällig pathetisch: »Il me semble . . . si j ’ ai la permission de m ’ exprimer. . . qu ’ une femme qui part à la fête dans cette robe va au-devant du chagrin, ou 1 ’ espère, ou s ’ y destine ardemment« (65). 393 Vgl. beispielsweise die folgende Textstelle: »[Aurelia] pour qui on va devoir se trimballer en banlieue pour applaudir une pièce bulgare à base de silence et de Mendelssohn, ne peut pas, il faut la comprendre, apprécier les élans néo-poétiques de son mari, ne peut pas voir avec légèreté 1 ’ originalité de ces robes et encore moins évaluer leur mélancolique sous texte. Voilà pourquoi, pardonne-moi Nuria, je te livre mon impression avec une brutalité indépendante de ma volonté« (66). 394 Fernans Kommentare beziehen sich zumeist auf seine Tätigkeit als Hausverwalter: »[Une] récrimination qui va s ’ aggravant car je n ’ hésite pas à le dire, la multiplication des moyens de communication assassine la communication« (15). 395 L ESSING , »Hamburgische Dramaturgie«, in: ders., Werke, Bd. IV, 503. 396 Aurelia empört sich ausführlich darüber, dass ihre Mutter den Gästen einen tiefgefrorenen Kuchen anbietet, obwohl sie mehrere Konditoreien in der Nähe habe (60). 132 Welt der Erwachsenen möglichst originalgetreu zu imitieren versuchen und, obgleich sie faktisch unecht sind, als echt wahrgenommen und reflektiert werden. 397 Die Spannung zwischen vrai und faux kennzeichnet neben diesen Gegenständen auch das Ambiente, beispielsweise den ausführlich thematisierten Innenhof. Mariano wünscht sich ihn als »jardin humain«, er erhält aber einen auffallend künstlichen, da akkurat zurecht geschnittenen »truc à l ’ allemande« (57). Nicht nur die Umgebung, sondern auch die Physis der Figuren oszilliert zwischen vrai und faux: Mit Ausnahme von Fernan entwerfen die Figuren ein Schönheitsideal, das einer nur künstlich (durch Bodybuilding, Solarien oder Haarfärbungen) zu konservierenden Jugend huldigt. So ergibt sich eine Vielzahl intratextueller Spiegelungen zwischen der Ebene der Schauspieler-Figuren und jener des spanischen Binnenstückes. Darüber hinaus weist Une pièce espagnole gerade in seiner Inszenierung von vrai und faux weit über sich selbst hinaus, wie sich in der Titelgebung andeutet. Die durch den Titel erzeugte Unbestimmtheit ist nicht nur der fehlenden Präsentation eines Stückinhalts sowie dem unbestimmten Artikel »une«, sondern vor allem dem Substantiv »pièce« geschuldet. Der Begriff › Stück ‹ ist universell und kann gleichermaßen eine Tragödie wie eine Komödie sowie ihre jeweiligen Unter- und Nebenformen bezeichnen. Reza scheint mit der literarischen Praxis zu spielen, dramatische Texte durch eine untertitelnde Gattungsbezeichnung zu klassifizieren. Die Gattungspräzisierung entfällt, mehr noch, das Sich-Entziehen einer Gattungszuordnung rückt richtungweisend bis in den Titel vor. Was bei aller Unbestimmtheit aber deutlich zutage tritt, ist ein Selbstbekenntnis als Theaterillusion. Denn dass im Theater ein › Stück ‹ zur Aufführung kommt, bedarf üblicherweise keiner titulativen Ankündigung. Aus der Unbestimmtheit, die die Betitelung Une pièce espagnole erzeugt - welches denn bzw. was für eins? - , ragt ein Element deutlich heraus und hebt sich wie ein Relief gegen sie ab: das Adjektiv »espagnole«. 398 Wenn die titulative Betonung des Spanischen, das beständige Oszillieren zwischen Schein und Sein, zwischen Wahrheit und Lüge, Marianos nostalgische Plädoyers für die › Klassiker ‹ 399 sowie der einzig explizierte Straßenname 397 Auch der Name der Tochter - Lola - provoziert als Schwesterform von Lolita Assoziationen zu Schein und Sein. Als international bekannteste gilt Nabokovs Lolita, weder Frau noch Kind, Scheinfrau oder Scheinkind. 398 »Warum spanisch? «, fragt die Autorin den Journalisten in einem Interview zurück. »Das ist einfach so gekommen, spontan. Ich will gar nicht wissen warum« (R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 61). 399 Seine Affinität für die Klassiker beschreibt Mariano wie folgt: »Les classiques, oui. Le mot juste. La phrase qui ne peut pas être remplacée par une autre, oui. Ça n ’ existe plus aujourd ’ hui« (89). 133 der »rue Vélasquez« (116) in einen Reflexionskontext gestellt werden, liegt es nicht allzu fern, an den ersten theatralen Höhepunkt programmatischer Schein-Sein-Inszenierung zu denken: an das spanische Siglo de Oro und seine Hauptthematik des engaño-desengaño. Als Vorläufer der barocken Welttheater-Metaphorik gilt Thomas Kyds The Spanish Tragedy (um 1586), 400 dessen Titel in deutlicher Verwandtschaft zu jenem Rezas zu stehen scheint. Versteht sich Une pièce espagnole also als Reminiszenz barocker Stücke, insbesondere des spanischen Siglo de Oro wie Lope de Vegas Lo fingido verdadero (1608) oder Calderóns El gran teatro del mundo (um 1636)? Lope gestaltet den Topos des theatrum mundi motivlich aus, und Calderón bildet ihn zur Grundkonzeption seines El gran teatro del mundo aus. In beiden Stücken wird die Diskrepanz zwischen göttlicher Wahrheit und irdischem Blendwerk (in Form von Rollenspielen, Theater im Theater oder metatheatralen Reflexionen) kunstvoll in Szene gesetzt. Obgleich das Spiel (im Spiel) in beiden Fällen auf das wahrhafte Jenseits ausgerichtet ist, wird es dennoch in theatralen Termini beschrieben: Es ist, im Fall Calderóns, ein »teatro [. . .] de las verdades« und bei Lope eine »comedia [. . .] divina«. 401 Die Welt ist eine Bühne, die sich, zumindest semantisch, auch auf das göttliche Jenseits erstreckt. Im Zuge dessen spiegeln sich göttliche und poetische Schöpfungsprozesse facettenreich ineinander und kulminieren in Calderóns Figur des A UTOR , der als göttlicher Schöpfer zunächst die Welt und aus bzw. auf ihr die irdische Bühne als theatrales Kunstwerk erschafft. Rezas Une pièce espagnole ist nicht auf eine transzendentale Wahrheit ausgerichtet, lässt aber in seiner mehrfachen mise en abyme deutliche Anklänge an die Kompositionsform des theatrum mundi erkennen. Einerseits entspinnt sich eine in sich geschlossene Handlung, wobei die spanischen Figuren an keiner Stelle illusionsbrechend ihren Status als spanische Figuren reflektieren, sich also nicht selbst von einer Meta-Ebene aus betrachten und damit die typographisch korrekt gezogenen Grenzen zwischen den Illusionsebenen in actu übertreten würden. Andererseits aber evozieren die Sprache, Metaphorik und Plakativität ihrer Seinsweise, 402 das Umfeld, in dem sie sich 400 Vgl. F ORESTIER , Le théâtre dans le théâtre, 24. 401 L OPE DE V EGA , Lo fingido verdadero, in: ders., Obras escogidas, Bd. III, 204; C ALDERÓN DE LA B ARCA , El gran teatro del mundo, Z. 1387 f. 402 Die Charaktere verharren in einem Typus. Obwohl die Ereignisse im familiären Kreise turbulent verlaufen, ereignen sich keine psychologischen Entwicklungen. Es findet lediglich eine Ausreizung jenes Potenzials statt, das im jeweiligen Typus von vornherein angelegt ist. Besonders eindringlich zeigt sich dies an Aurelia: Sie ist »paranoïaque« (49), »terriblement nerveuse« (62), »aigrie« (66), »jalouse« (66), »gentille avec personne« (70), »neurasthénique« (90), »folle« (96). So scheint nicht einmal ihre Valiumsucht, aufgrund derer sie abschließend als »droguée« (110) bezeichnet wird, überraschend. Diese 134 bewegen sowie die Physis, die sie zur Schau tragen, beständig und verschiedenartig den diffusen Grenzraum zwischen Realität und Täuschung, Wahrheit und Lüge, Schein und Sein. Une pièce espagnole ist insofern mit prominenten Urformen (welt-)theatraler Selbstreferentialität vergleichbar, als es die Reflexionen zur Rolle, ihrer Verkörperung sowie Verteilung ebenenhierarchisch zwar vom › fiktiveren ‹ Binnenspiel abgrenzt, im Zuge dieses Binnenspiels aber metaphorisch und diskursiv beständig auf die eigene Fiktionalität bzw. Theatralität rückverweist und damit die Illusionsebenen ineinander verschwimmen lässt. 403 So zeigt sich eine mehrfache mise en abyme, deren Funktion - erinnert sei an die das Verhältnis von Urbild und Abbild reflektierenden Spiegel der Malerei - nicht zuletzt darin besteht, den Prozess der Fiktionalisierung, den Akt der Schöpfung von Figuren und ihren Welten grundsätzlich zu prüfen und zu problematisieren. Diese auf Handlungsebene figurierten Prozesse, die sich in den Stücken von Chaurette und Genet stark verkomplizieren, stellen für den Rezipienten eine besondere Herausforderung dar, wie sich bereits mit Blick auf die Rezeption von Une pièce espagnole zeigt. Plakativität, die nicht auf Entwicklungen angelegt ist, trifft auch auf die anderen Figuren zu. Was Reza mit Blick auf die Charaktere ihres Stückes Trois versions de la vie (2000) konstatiert, gilt gleichsam für Une pièce espagnole: »Ce ne sont pas des personnages psychologiques, ce ne sont pas des personnages qu ’ on fasse vivre émotionnellement au premier degré« (H ELLERSTEIN , »Entretien avec Yasmina Reza«, 948). So entstehen Figuren eines zeitgenössisch interpretierten Welttheaters: Aurelia ist die Depressive, Mariano der Alkoholiker, Fernan der Spießbürger, Pilar die zwanghaft jugendliche Pensionärin und Nuria der Star aus der Welt der › Reichen und Schönen ‹ . 403 Diese fließenden Grenzen zwischen Theatralität und vermeintlicher Realität verlaufen bisweilen auch auf sprachlich engstem Raum, beispielsweise in versteckten Wortspielen. Fernans Sohn ist Briefträger, was im Deutschen metatheatral nicht auffällig markiert ist; anders im Französischen: »facteur« unterscheidet sich orthographisch nur insofern vom stückintern omnipräsenten »acteur«, als ihm ein › f ‹ vorangestellt ist. Diese spielerische Präsenz des Schauspielers im deutlich ironisierten Briefträger - und damit wiederum die Parallelführung von vrai und faux - wird dadurch hervorgehoben, dass sich die beiden Schauspielerinnen Aurelia und Nuria den Begriff »facteur« mehrfach provokativ hin und her werfen (94 f.). 135 5.6 Die Starre des Rezipienten [Le] public riait d ’ un bout à l ’ autre de la pièce [»Art«]. Dans ma loge, je l ’ entendais et j ’ étais au bord de me jeter par la fenêtre. Y ASMINA R EZA , »Interview« 404 Fernan, Aurelia und Mariano sprechen über Aurelias aktuell zu probendes Stück, »la pièce bulgare«. Die Geschichte an sich sei schon reichlich banal, ihr Stil aber eine Zumutung: F ERNAN . Et de quoi parle votre pièce? A URELIA . De pas grand-chose. M ARIANO . Si, si, raconte. A URELIA . Une histoire très banale en elle-même. M ARIANO . Mais dans un style qui va vous plaire. (52) Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Kommentare lässt sich Marianos Kommentar bezüglich des bulgarischen Stils ausschließlich ironisch verstehen. 405 Die mise en abyme zwischen bulgarischem Binnen- und Rezas Gesamtstück tritt deutlich zu Tage, denn auch Une pièce espagnole erzählt banale Geschichten: primär ein aus dem Ruder gelaufenes Familientreffen sowie eine möglicherweise einseitige Liebe. Doch es ist gerade ihr ironisierter »style qui va vous plaire«, der diese › Banalitäten ‹ prägt und sie damit, wie Mariano nahe legt, zu einer besonderen Herausforderung für die innerwie außerfiktionalen Zuschauer macht. In der Feuilleton-Kritik fiel Une pièce espagnole weitestgehend durch: Zumeist wurde Rezas Stück aufgrund seiner mehrfachen mise en abyme als anstrengend und verwirrend, als › zu viel ‹ abgetan. Selbst Luc Bondy, der Regisseur der Uraufführung, verriet im Programmheft - provokativ, publikumswirksam oder ernsthaft? - , auch er habe das Stück noch nach zwei Monaten Probe nicht durchblicken können. 406 So sorgte Jürgen Gosch, der Une pièce espagnole für das Hamburger Schauspielhaus 2005 in deutscher Sprache uraufführte, eingangs mit einem expliziten und in Rezas Text nicht vorhandenem Fingerzeig prophylaktisch für Klarheit: »Dies hier ist eine Meta- Ebene! «, ertönte es aus dem Off. 407 404 Zit. nach: O EHLSEN , Zur Literatur Yasmina Rezas, 134. 405 Während der Proben hatte Mariano das Stück mit Kommentaren wie »J ’ agonise« (40) oder »Qui peut aller voir ça? « (ebd.) unterbrochen. 406 Vgl. VON U THMANN , »Trocken: Yasmina Rezas neues Stück › Une pièce espagnole ‹ «, n. pag. 407 T HEURICH , »Lass mal, das kippt hier! «, n. pag. 136 Es ist gerade die abyssale Konstruktion, die der Unterhaltungslust des Rezipienten offenbar zuwiderläuft. »Fläche, Tiefe, nur die Mühen der Ebenen sind sichtbar«, konstatiert Werner Theurich. 408 Die Kritiker verstehen die selbstreferentielle Komponente zwar häufig als Eintrittskarte in qualitativ höhere Literatursphären, 409 tun sie aber im Falle Rezas als unnütz ab - »mindestens genauso amüsant« wäre das Stück ohne metatheatrale Implikationen gewesen. 410 Diese Kritik des Stückes wird in den Strukturen der mise en abyme allerdings bereits antizipiert. Dabei ergibt sich ein Zuschauer-Bild, das alles andere als schmeichelhaft ist. Gerade das Lamento der Feuilletonkritiker, das Stück sei nicht erheiternd genug, wird fiktionsintern plakativ vorweggenommen. Dabei zeigt sich vor allem Pilar - als Rezipientin der Schauspielkunst ihrer beiden Töchter - penetrant und borniert. Ihr ist es ausschließlich daran gelegen, unterhalten zu werden: 411 P ILAR . Pourquoi je n ’ aimerais pas? N URIA . Parce que tu n ’ aimes pas ce genre de film. P ILAR . On ne rit pas? N URIA . Pas du tout. P ILAR . C ’ est dommage. Les gens aiment rire. N URIA . Eh bien ils ne riront pas. P ILAR . C ’ est dommage. N URIA . Oui. [. . .] P ILAR . C ’ est vrai? . . . Mais pourquoi vous ne faites jamais des choses gaies? Les gens aiment les choses gaies. (33) › Die Leute wollen lachen, wollen lustige Dinge. ‹ Eben dieses Postulat findet sich fast durchgängig als dramenexterne Erwartungshaltung, die Une pièce espagnole, so der Konsens, nicht oder nicht ausreichend erfüllen könne. »Wir haben bezahlt, wir machen das Publikum aus, und darum wollen wir auch unsern eignen, guten Geschmack haben und keine Possen«, entrüstet sich der Leutner in Tiecks metatheatralem Stück Der gestiefelte Kater. 412 Bei Rezas 408 Ebd. 409 Reza bemühe sich, das Etikett des Boulevardtheaters abzustreifen und sich »in die Liga des obersten Realitätsverwirrspielers Luigi Pirandello (Sechs Personen suchen einen Autor) und des obersten Schauspielereiräsonierers Thomas Bernhard (Der Ignorant und der Wahnsinnige) hinauf- und hinüberzuschwingen« (H AGE / H ÖBEL , »Frau Rezas Gespür für Schmäh«, 141). 410 Ebd. Ganz ähnliche Kritiken finden sich in der Welt ( VON U THMANN , »Trocken: Yasmina Rezas neues Stück › Une pièce espagnole ‹ «), Zeit (M ÖNNINGER , »Einmal Leben«) und Theater heute (H AMMERSTEIN , »Glanz und Elend von St. Germain«). 411 Außerdem bedient die Mutter ein zweites gängiges Klischee: Sie will ihre Töchter, auch wenn es die fiktive Rolle ganz anders vorsieht, in äußerlich vorteilhafter Aufmachung erleben. 412 T IECK , Der gestiefelte Kater, in: ders., Schriften, Bd. VI, 495. 137 Stücken ist offenbar das Gegenteil der Fall: Es sind gerade Possen, die man als zahlender Zuschauer glaubt, einfordern zu dürfen. 413 Auch Fernan spiegelt den außerfiktionalen Rezipienten, wobei neben seiner Unterhaltungslust vor allem sein Bildungshintergrund problematisiert wird. Mit den Worten »Je vous parle en spectateur« (67) wendet er sich an die Schauspielerin Nuria. 414 Als »spectateur« der en abyme thematisierten Kino- und Theaterkunst legt Fernan großen Wert auf die Würdigung seiner literarisch-philosophischen Bildung (16, 52), die gleichzeitig eine unverkennbare Ironisierung erfährt. »Grâce à vous, je renoue avec mes humanités« (69), verkündigt er stolz. »Elles sont hideuses! « (69), erwidert Nuria. Sie spricht zwar in einem sich parallel vollziehenden Gespräch von ihren Abendkleidern, in grammatikalischer und syntaktischer Hinsicht bezieht sich das › Scheußliche ‹ aber direkt auf Fernans humanistische Bildung. Der selbst ernannte »humaniste« scheint Theaterbesuche auf anstrengende »sorties« im Sinne von › Ausflügen ‹ zu reduzieren. 415 Dabei wird der Eindruck erweckt, dass nicht nur der mühsam zu planende › Ausflug ‹ ins Theater, sondern vor allem das Rezipieren eines Theaterstückes im Vergleich zu den ebenfalls erwähnten Kinofilmen als anstrengend empfunden wird. Vor diesem Hintergrund wirkt Fernans angestrengt bildungsbürgerlicher Habitus - der jenen von Rezas Theaterpublikum ironisiert - blasiert und leer. Mariano spiegelt den außerfiktionalen Rezipienten ebenfalls. In den Sequenzen des bulgarischen Stückes wohnt er den Proben seiner Frau Aurelia als Zuschauer und Stichwortgeber bei. Als solcher zeigt er sich ungeduldig, ignorant und zynisch; und auch in seiner zweiten Rolle, jener des Klavierschülers Ki š , verhält er sich borniert, was Aurelia bezeichnenderweise direkt auf sein mangelndes Interpretationsvermögen bezieht: »[Je] vous parle 413 Die amüsierte Zuschauerreaktionen in »Art« kommentiert Reza, wie im Eingangsmotto zitiert, alles andere als erfreut. Da das Publikum an den falschen Stellen lache, zerstöre es beständig die das Stück konstituierenden Momente der Stille. 414 Das theatrale Beisammensein wird nicht nur inszeniert, sondern explizit › zu Ehren ‹ Fernans aufgeführt (101). Es kennzeichnet ihn also, wenn auch vergleichsweise dezent, als innerfiktionalen Zuschauer. In diesem Kontext ist auch sein Nicht-Involviertsein in die familiären Bande der Schauspieler von Bedeutung. Mehrfach wird es als Außenseitertum hervorgehoben. Diese Fremdartigkeit wird ihm nicht nur von außen bescheinigt - »Votre avis compte par-dessus les autres puisque vous êtes la seule personne étrangère, le seul regard objectif en quelque sorte« (63) - , er ist sich ihrer auch selbst bewusst: »Je dis une bêtise sûrement, mais je n ’ ai aucun contact avec ce monde, je ne connais pas les vedettes, enfin je veux dire les artistes, vous devez le comprendre . . .« (104). 415 Aus der Frage, ob er in Anbetracht seiner geisteswissenschaftlichen Ausbildung regelmäßig ins Theater gehe, erläutert Fernan: »Je suis moins organisé. C ’ était ma femme qui organisait ces sorties [au théâtre]. Je vais au cinéma en revanche« (52). 138 comme si vous étiez un interprète de talent, alors que vous êtes le pire élève que j ’ aie jamais eu« (82; m. H.). Die Lage scheint aussichtslos: »[Vous] ne faites aucun progrès« (39). Es vollzieht sich also die Fiktionalisierung eines negativen Zuschauertyps, der sich unterhaltungsfixiert (Pilar), selbstherrlich, pseudo-gebildet (Fernan), lernunfähig (Ki š ), zynisch und ignorant (Mariano) zeigt. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Diskussionen um den literarischen Wert Rezas bei jeder ihrer Veröffentlichungen neu entzünden und gerade ihre Theaterstücke immer wieder der Boulevard- und höchstens der »Edel-Boulevard«-Maschinerie zugeordnet werden, 416 erhält dieser Aspekt eine besondere Relevanz. Es scheint, als reflektiere die Autorin in den Strukturen der mise en abyme eben jenen Zuschauertypus, den sie für den Erfolg ihrer Stücke verantwortlich zeichnet. 417 Die negative Einfärbung des Zuschauers anhand der Figuren Pilar, Fernan, Mariano und Ki š vollzieht sich insofern vergleichsweise dezent, als sie stark in ihre jeweilige Fiktion eingebettet ist. Der reale Zuschauer müsste im Moment des Schauens eine gedankliche Transformationsleistung erbringen (wollen), um die ironischen Kommentare auf sich selbst zu beziehen. Auf der übergeordneten Illusionsebene der probenden Schauspieler wird hingegen direkte Kritik am Zuschauer geübt: »[Le] spectateur, dont on se plaît à ne jamais rien dire, mais qui doit être attaqué de front, et de la façon la plus virulente« (80). Das Adjektiv »virulente« bezeichnet in seiner Grundbedeutung »infectieux« oder »contagieux«. 418 Une pièce espagnole scheint eben eine solche › virulente Attacke ‹ gegen den Zuschauer zu betreiben. Sie › überträgt sich ‹ von Illusionsebene zu Illusionsebene: Fernan, Pilar, 416 L ANGMANN , »Der Tod definiert das Leben«, n. pag. Dieses Urteil fällen nicht nur Feuilletonkritiker, sondern auch Kollegen: »Yasmina Reza? Das ist doch eher Boulevard« und als solches, so Peter Handke weiter, nichts Bleibendes (J UNGK , »Immer noch Sturm«, n. pag.). 417 »On peut dire, je ne vois pas, je ne saisis pas, on ne peut pas dire › c ’ est une merde ‹ «, verteidigt Serge in »Art« sein kürzlich erworbenes und äußert umstrittenes Kunstwerk und fordert seinem Freund im Zuge dessen eine verständige und offene Rezeptionshaltung ab (R EZA , »Art«, in: dies., Théâtre, 207). Rezas Welterfolg »Art« kreist in toto um die Rezeption und den (offensiv durch die Rezipienten bestimmten) Wert von Kunstwerken. Das Publikum verfolgt, wie die drei Hauptfiguren Marc, Serge und Yvan ein zeitgenössisches Kunstwerk betrachten. Es handelt sich um einen »Antrios«, eine große weiße Fläche mit »fins liserés blancs transversaux« (ebd. 195), die je nach Blickwinkel, als großer Durchbruch oder »merde blanche« (ebd. 199) gehandelt wird. Durch die Absenz von Farben, Motivik oder Perspektiven zugunsten eines Weiß auf Weiß steht das Kunstwerk als solches zur Disposition. Vgl. zur Bedeutung solcher Inszenierungen von › Leerstellen ‹ für die mise en abyme: Kapitel 6.7. 418 Le Grand Robert, 1867. 139 Mariano und der Klavierschüler können als negative Figurationen von Zuschauertypen bzw. Interpreten noch ignoriert werden, spätestens aber, wenn in der 19. Szene der A CTEUR (qui joue Mariano) von der Notwendigkeit eines »attaqu[er] de front« spricht, müsste auch der reale Zuschauer, des Künstlers »pire ennemi« (79), aufmerken. Dies ist aber nicht der Fall. In der größtenteils negativen Feuilletonkritik zu Une pièce espagnole wird die stückinterne Ironisierung eines bestimmten Zuschauer-Typus nicht einmal erwähnt. Es ist bemerkenswert, wie der Rezipient, der einen »postmodernen Partyknüller« 419 im Stil von »Art« und keine selbstreferentiellen, da »anstrengend[en]« Konstruktionen verlangt, 420 in seiner Erwartungshaltung, amüsiert zu werden, seine en abyme inszenierte Karikierung ignorieren kann. Es sei weder Bondys Schuld noch jene der Schauspieler, schreibt Jörg von Uthmann, »wenn uns der komische Teil hungrig lässt.« Reza sei selbst schuld, wenn man sie an ihren eigenen Maßstäben messe. Von ihrem nächsten Stück erwarte man wieder eine »Sättigungsbeilage«. 421 Dieser Anspruch, › gesättigt ‹ zu werden, korrespondiert jenem der en abyme inszenierten Zuschauer- Figuren Pilar, Fernan oder Mariano und kontrastiert mit der Forderung der Autorin nach gedanklicher Beweglichkeit. In einem Interview verlangt die Autorin für ihr strukturell ebenfalls auffälliges Theaterstück Trois versions de la vie (2000) dezidiert die Mitarbeit des Rezipienten: »Donc, vraiment si le public ne travaille pas avec moi, c ’ est fichu.« 422 Diese Forderung stellt sich für das vier Jahre später erscheinende Stück Une pièce espagnole noch viel dringlicher, zumal es Reza zufolge, wie eingangs zitiert, in seinen selbstreferentiellen Strukturen all jene Komponenten enthalte, die sie jemals im Schreiben interessiert hätten. 423 So offenbart sich insgesamt betrachtet eine deutliche Diskrepanz zwischen den poetischen wie poetologischen Ambitionen der Autorin, die en abyme prozesshaft und provisorisch erarbeitet werden, und der (imaginierten wie realen) Starre ihrer Publikumsreaktionen. Darüber hinaus scheint sich die »derzeit erfolgreichste Theaterautorin der Welt« 424 mittels der mise en abyme auch selbstkritisch mit dem eigenen (Boulevard-)Erfolg auseinanderzusetzen. Rezas Triumph wird häufig als dürftig abgetan. Er dokumentiere, so eine häufige Klage insbesondere des französischen Feuilletons, 425 den kulturellen Verfall eines zunehmend unter- 419 V ON U THMANN , »Trocken: Yasmina Rezas neues Stück › Une pièce espagnole ‹ «, n. pag. 420 H AGE / H ÖBEL , »Frau Rezas Gespür für Schmäh«, 141. 421 V ON U THMANN , »Trocken: Yasmina Rezas neues Stück › Une pièce espagnole ‹ «, n. pag. 422 H ELLERSTEIN , »Entretien avec Yasmina Reza«, 948. 423 Vgl. Anm. 315. 424 T HEURICH , »Lass mal, das kippt hier! «, n. pag. 425 Vgl. S CHNEIDER , »Yasmina Reza in a Major Key«, n. pag. sowie R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 55. 140 haltungsfixierten Theaterpublikums. Oder anders gewendet: Reza diene sich mit ihrem seichten Emotional-Slapstick jenem oberflächlichem Zeitgeist an. Eben eine solche »folie de la séduction« (79), die Sucht, zu gefallen, wird anhand der Binnenstücke aus unterschiedlichen Blickwinkeln reflektiert und, je nach Position, bejahend oder verneinend durchgespielt: Einerseits wird postuliert, dass die Gefallsucht jeglichem künstlerischen Anspruch zuwiderlaufe. 426 Andererseits werden Erfolge - und seien sie auch noch so › winzig ‹ - hochgeschätzt, wie aus Fernans ambivalenter Rechtfertigung seiner erfolgreichen Hausverwalterei hervorgeht. 427 Auch Olmo Panero, Rezas fiktives Alter ego, ist erfolgreich, mehr noch, er weiß um seinen Erfolg und empfindet bezüglich der eigenen literarischen Produktion ebenfalls Befriedigung - das sei › obszön ‹ , lautet die illusionsinterne Antwort darauf. 428 Une pièce espagnole zeigt in einer mehrfachen mise en abyme, wie sich Schöpfer, Werk, Inszenierung und Rezipient in einem unabschließbaren Prozess gegenseitig reflektieren. Vor diesem Hintergrund sind definitive Auskünfte weder zu verlangen noch zu postulieren: Man möge ihn nicht in eine Definition zwängen, lässt der A CTEUR (qui joue Mariano) den fiktiven Kritiker Wilhelm Bolochinsky wissen. Definierbarkeit und Definiert-Werden bedeuten Fixierung und insofern Bewegungslosigkeit, der Schauspieler betont hingegen - stellvertretend für das Gesamtstück - den › inkonstanten ‹ , den › umherwan- 426 Mit dem Konflikt aus Gefallsucht und Eigenständigkeit setzt sich vor allem der Schauspieler, der Mariano spielt, auseinander: »Dans un entretien que j ’ ai lu, Wilhelm Bolochinsky dit que les acteurs ne sont pas des artistes pour la bonne raison que les acteurs ont la folie de la séduction, qui est une folie radicalement contraire à toute forme d ’ art, toute forme d ’ art entravé par le désir de séduction est à jeter aux ordures, ne peut même pas, selon Bolochinsky, prendre le nom d ’ art, un mot de toute façon spolié de façon quasi définitive« (79). Alle Schauspieler-Figuren, die auf der französischen Ebene zu Wort kommen, reflektieren die als bitter empfundene Notwendigkeit, zu gefallen, auf unterschiedliche Weise. Sie machen deutlich, dass es eben jene Gefallsucht ist, die sie schauspielerisch paralysiert. 427 »Les gens comme moi nous apprécions le succès voyez-vous, nous le considérons comme une gratification, [. . .] être reconnu pour ce qu ’ on veut être vous rend le monde moins hostile, je dis peut-être une bêtise mais on ne peut pas avoir tort d ’ être heureux, même pour pas grand-chose, pour une victoire minuscule, je ne compare pas, qui est quand même une victoire sur l ’ obscurité, l ’ inutilité, le temps qui passe et nous rejette dans le rien« (104 - 106). 428 Es ist der Schauspieler, der Mariano spielt, der die Befriedigung des erfolgreichen Autors scharf kritisiert: »[La] satisfaction de l ’ auteur étant la chose la plus médiocre qui soit, pour ne pas dire la plus répugnante, lors de notre lecture je vous ai vu sourire monsieur Panero, à la lecture de votre propre pièce, je vous ai vu sourire aux anges, vous enchanter tout seul sur votre chaise, un peu en retrait, comme il se doit, le retrait du garçon à cheval entre la gêne et l ’ arrogance, je vous ai vu sourire aux anges à l ’ écoute de votre partition [. . .] la satisfaction de l ’ auteur est obscène« (44). 141 delnden ‹ und damit auch widersprüchlichen Aspekt künstlerischer Prozesse und Existenzen (81): Une pièce espagnole endet zwar, allerdings mit einem Vorspiel; es präsentiert sich › im Werden ‹ und weist gleichzeitig eine reflektierte und autoritär geformte formale Struktur auf; die Ebenen sind einerseits deutlich getrennt und sollen andererseits › legato ‹ ineinander übergehen; die Grenzen zwischen Realität und Illusion werden verbal problematisiert, zwischen › realen ‹ und › fiktiven ‹ Spielebenen aber als solche akzeptiert; dem Rezipienten wird eine Komödie geboten und seine Unterhaltungserwartung gleichzeitig ironisiert; der stückinterne Autor empfindet aufgrund des eigenen Boulevard-Erfolgs Befriedigung, diese Befriedigung wird jedoch umgehend als selbstherrlich und beschränkt ins Lächerliche gezogen. Es sind die Strukturen der mise en abyme, die dieses vielseitige Sowohl-Als-Auch ermöglichen, indem sie nicht nur dem Werk im Prozess seiner Schöpfung, sondern auch dem Schöpfer selbst sowie dem Rezipienten einen Spiegel vorhält. Insofern ist sie nicht lediglich ästhetische Selbstbespiegelung, sondern leistet einen produktiven Außenbezug. Diese vermeintlichen Inkonsistenzen, die sich im Rahmen einer mehrfachen mise en abyme auf fruchtbare Weise entfalten, werden in Normand Chaurettes Provincetown Playhouse deutlich radikalisiert. Dies gilt insbesondere für die widersprüchliche Konstruktion von Kunst und Künstlichkeit, von Wahrheit und Täuschung, von Poesie und Poetologie, von autoritärer Komposition und selbstgenerativer Werkgenese, von theatraler Gattung und proklamierter Unspielbarkeit sowie für die Problematisierung des Autors und seiner › Entmachtung ‹ , die Konfrontation von Ordnung und Starre bzw. Offenheit und Bewegung, von respektierter Publikumserwartung und offensiver › Publikumsbeschimpfung ‹ . 142 6. Normand Chaurettes Provincetown Playhouse 6.1 › Verfluchte Unnatürlichkeiten sind da in dem Stück! ‹ Zur Ebenenkonstruktion D ER F ISCHER . Verfluchte Unnatürlichkeiten sind da in dem Stück! [. . .] L EUTNER . Am meisten erbosen mich immer Widersprüche und Unnatürlichkeiten. [. . .] M ÜLLER . Freilich! freilich! - das Ganze ist ausgemacht dummes Zeug, der Dichter vergißt immer selber, was er den Augenblick vorher gesagt hat. T IECK , Der gestiefelte Kater 429 Der 1954 in Montréal geborene Normand Chaurette ist einer der bedeutendsten Theaterautoren Kanadas. Sein Gesamtwerk ist seit 1976 auf über ein Dutzend (überwiegend dramatische) Texte angewachsen und, obgleich international aufgeführt und mehrfach ausgezeichnet, 430 hierzulande nahezu unbekannt. 431 Selbst in der québecer Forschungslandschaft, die Chaurettes literarisches Schaffen seit Anfang der 1980er Jahre mit Interesse und Anerkennung verfolgt, 432 finden sich bislang nur wenige Studien, die sich en détail und 429 T IECK , Schriften, Bd. VI, 510. 430 Vgl. einleitend und überblickend zu Chaurette und seinen Werken die folgenden Fachlexika: Dictionnaire des auteurs de langue française en Amérique du Nord; Dictionnaire des œ uvres littéraires du Québec; Encyclopedia of Literature in Canada; The Oxford Companion to Canadian Literature. Weitere Verweise finden sich in S ARRASIN , »Bibliographie de Normand Chaurette«. 431 Die Ausnahme bildet Le petit Köchel. Es wurde in der Übersetzung von Hinrich Schmidt- Henkel als Der kleine Köchel am 28. 10. 2001 am Deutschen Schauspielhaus Hamburg aufgeführt. Nicht nur das Werk Chaurettes, sondern die québecer Literatur im Allgemeinen sind in Deutschland häufig unbekannt. Die beiden im Jahre 2000 (bei Synchron bzw. Wunderhorn) erschienenen Anthologien von G REIF / O UELLET , die québecer Originaltexte zusammenstellen, sowie B AIER / F ILION , die deutsche Übersetzungen präsentieren, arbeiten dieser Unkenntnis dezidiert entgegen. 432 2011 hat Chaurette für sein neuestes Werk Ce qui meurt en dernier beispielsweise den renommierten Prix du gouverneur général dans la catégorie Théâtre gewonnen. In der Laudatio wurde sein Werk mit einer Einschätzung gewürdigt, die sich von Ce qui meurt en dernier auf sein Gesamtwerk übertragen lässt: »Normand Chaurette parvient, dans une langue ciselée, à provoquer des atmosphères inquiétantes et mystérieuses. [. . .] La finesse de son écriture est entièrement au service de sa proposition théâtrale« (Conseil des Arts du 143 weiterführend mit seinen komplexen Texten auseinandersetzen: 433 »Ses textes ont la particularité d ’ être maintenant incontournables dans la dramaturgie contemporaine, sans avoir réussi à attirer suffisamment l ’ attention des littéraires.« 434 Provincetown Playhouse gehört Chaurettes Frühwerk an. Der Autor war, als er die Erstfassung 1978 binnen kurzer Zeit redigierte, nur einige Jahre älter als seine neunzehnjährige Hauptfigur Charles Charles, und dennoch veränderte Provincetown Playhouse als eines der grundlegenden Werke der Nouvelle dramaturgie québécoise die ästhetische Ausrichtung des québecer Theaters nachhaltig. Jean-Cléo Godin spricht in einem Artikel zu Chaurette und Dubois erstmalig von einer »dramaturgie nouvelle au Québec«. 435 Seither hat sich in der Forschungsliteratur weitestgehend der Begriff Nouvelle dramaturgie (québécoise) etabliert. Neuartig ist diese Dramaturgie insofern, als sie Ende der 1970er Jahre mit dem zu jener Zeit sehr populären gesellschaftspolitischen Theater, mit dem realistischen québecer Kolorit der Stücke eines Jean-Claude Germain oder Michel Tremblay bricht und anstelle der Begründung und Etablierung eines nationalen québecer Theaters das Theater bzw. das Kunstwerk als solches in den Blick nimmt. Provincetown Playhouse ist nach wie vor eines der wichtigsten Stücke jener Zeit und der québecer Literatur überhaupt, 436 nicht zuletzt deshalb, weil es ihm gelingt, komplexe poetologische Positionen als spannungsreichen »coup de théâtre prodigieux« (60) 437 zu verhandeln. Motor dieser Verschränkung von Poetologie und Kriminalhandlung ist die mise en abyme. 438 Sie vollzieht Canada [http: / / www.revuejeu.org/ nouvelle/ anonyme/ normand-chaurette-recoit-le- 75 e-prix-litteraire-du-gouverneur-general-dans-la-categ; letzter Zugriff: 01. 07. 2014]). 433 Mit Blick auf Provincetown Playhouse sind positiv hervorzuheben: D ION , Le moment critique de la fiction, 89 - 111, G ODIN , »Chaurette Playhouse« sowie R IENDEAU , La cohérence fautive, die erste und bislang einzige Monographie zu Chaurette. Eigens erwähnt seien außerdem zwei Magisterarbeiten, die sich v. a. mit Provincetown Playhouse auseinandersetzen: V ILLEMURE , La spirale dans l ’œ uvre de Normand Chaurette sowie L OFFRÉE , L ’ ambiguïté raisonnée. Es mangelt allerdings nicht an Feuilleton-Artikeln zu Chaurette, seinen Texten und deren Inszenierungen, besonders in der québecer Tageszeitung Le Devoir sowie der Theaterzeitschrift Jeu. 434 R IENDEAU / L ESAGE , »De Nelligan à Martina North«, 423. 435 G ODIN , »Deux dramaturges de l ’ avenir? «, 113. 436 Vgl. V ILLENEUVE , »Provincetown Playhouse«, 663. Laut Villeneuve - und einer von ihm erwähnten Kritikerumfrage - gehört das Stück zu den zehn wichtigsten Theaterstücken eines québecer »répertoire national« (ebd. 663). 437 Die im Fließtext in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf Chaurettes Provincetown Playhouse. 438 Selbstreferentielle und abyssale Strukturen ziehen sich als Grundkonstituente durch Chaurettes Gesamtwerk. Rêve d ’ une nuit d ’ hôpital (1980) offenbart sich beispielsweise in toto als »l ’ abîme du Rêve« (31, 72 f.) des bedeutenden québecer Poeten Émile Nelligan 144 sich insbesondere zwischen den beiden Hauptillusionsebenen - dem Gesamtstück Provincetown Playhouse sowie seinem Binnenstück Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté - und bekleidet wichtige Funktionen insbesondere für Poetologie, Struktur, Theatralität und rezeptionsästhetische Fragestellungen. Der vollständige Titel des gemeinhin zu Provincetown Playhouse verkürzten Stückes lautet: Provincetown Playhouse, juillet 1919, j ’ avais 19 ans. Das »je« bezieht sich nicht allein auf einen Charles Charles, sondern auf zwei: Der Hauptprotagonist in Provincetown Playhouse, der gleichzeitig als neunzehnjähriger Charles Charles 19 und achtunddreißigjähriger Charles Charles 38 auftritt, trägt seine Bewusstseinsspaltung als auktoriale Direktive bereits im gedoppelten Namen. Der Vorfall, auf den der Stücktitel in der Nennung von Zeit und Ort anspielt, liegt 19 Jahre zurück. Charles Charles ist inzwischen 38 Jahre alt und seit 19 Jahren Insasse einer Psychiatrie in Chicago, weil er - im Provincetown Playhouse, 439 am 19. Juli 1919, neunzehnjährig - in seinem Debüt als Regisseur ein Kind › aufschlitzen ‹ (72) ließ und damit seine gerade erst begonnene Karriere, wie er sich ausdrückt, auf › schillerndste ‹ Weise beendete: Charles Charles, 38 ans, auteur dramatique et comédien, leur dire que je suis fou. Autrefois l ’ acteur l ’ un des plus prometteurs de la Nouvelle-Angleterre. Ma fin de carrière: l ’ une des plus prématurées et des plus éblouissantes de l ’ histoire. Depuis je suis seul. Depuis, c ’ est un one-man-show. Mesdames et Messieurs. (26) Seit jenem 19. Juli 1919 sei er allein, gefangen in seiner psychiatrischen »oneman-show«. So offenbaren sich unmittelbar zu Stückbeginn bereits verschiedene Illusionsebenen. Zunächst ist eine grundsätzliche Differenzierung vorzunehmen: zwischen Charles Charles ’ Théâtre de l ’ immolation de la beauté, das er an jenem 19. Juli zur ersten und einzigen Aufführung brachte, und der (1879 - 1941) und seiner Werke. Fêtes d ’ automne (1982) entsteht aus dem binnenfiktionalen Tagebuchschreiben der Protagonistin Joa und La société de Métis (1983) aus dem Lebendigwerden gemalter Porträts. Fragments d ’ une lettre d ’ adieu lus par des géologues verhandelt die scheiternde Interpretation verschiedener Binnentexte, vor allem die Fragmente des Geologen Toni von Saikin. In Chaurettes einzigem Roman Scènes d ’ enfants (1988) versucht der Hauptprotagonist Mark den Selbstmord seiner Frau Vanessa durch das Schreiben eines cahier bleu sowie eines Theaterstückes zu ergründen. Vgl. zur Selbstreferentialität in Chaurettes Gesamtwerk ausführlicher: J ESSEN , »Une réponse de Normand«. 439 Das Theater Provincetown Playhouse hat ursprünglich in Provincetown (Massachusetts) existiert und gilt als Geburtsstätte des modernen amerikanischen Theaters. Vgl. Kapitel 6.3. 145 › Realität ‹ , 440 in der sich diese Aufführung vollzog sowie deren Konsequenzen (die Jahre 1919 - 1921). Charles Charles, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller, empfindet das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, »une pièce sur la Beauté« (88), heute wie damals als sein »chef-d ’œ uvre« (27). Höhepunkt ist die Opferung eines Kindes. 441 Es sind die Figuren esprit du bien und esprit du mal, die das Opfer vollziehen, indem sie das Kind, das von Anfang an in einem zentral auf der Bühne positionierten Sack kauert, mit Messern durchstechen. Nun rechtfertigt die Konzeption und Aufführung eines solchen Stückes - da Illusion! - noch keine dauerhafte Einweisung in eine Psychiatrie. In dem Moment aber, da sich Illusion und Realität auf folgenschwere Weise ineinander verzahnen, Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen und der Sack tatsächlich ein Kind enthält, erweist sich die vermeintliche Abbildung, die Fiktion, als Realität und wird infolgedessen auch nach Maßstäben der Realität beurteilt. Das auf der Bühne Dargestellte ist nicht länger Kunst, sondern ein Verbrechen: Nicht esprit du bien und esprit du mal opfern eine Allegorie der Schönheit, sondern die Schauspieler Alvan Jensen und Winslow Byron ermorden den vor Stückbeginn entführten Frank Anshutz. 442 Wissen Alvan und Winslow, dass der Sack nicht, wie inszenatorisch festgelegt, Watte und Schweineblut, sondern ein echtes Kind enthält oder wissen sie es nicht? So lautet das zu Beginn formulierte »énigme« (26) des Stückes. 443 Alvan und Winslow werden in einem langwierigen Gerichtsverfahren des vorsätzlichen Mordes an Frank Anshutz angeklagt, schuldig gesprochen und mit Erreichen der Volljährigkeit (mit 21) hingerichtet. Charles Charles erklärt man für unzurechnungsfähig und weist ihn in eine Psychiatrie ein. An diesem Ort - hier setzt Chaurettes Provincetown Playhouse ein - richtet der nunmehr Achtundreißigjährige seinen Blick starr zurück, auf jenen 19. Juli vor 19 Jahren. Abend für Abend erlebt er die Opferung (bzw. den Mord) des Kindes in einer allabendlichen mise en abyme von neuem. Dazu 440 Es wird sich zeigen, dass Fiktion und vermeintliche Realität in Provincetown Playhouse nicht verbindlich zu differenzieren sind, weswegen von › Realität ‹ kaum gesprochen werden kann. 441 Vgl. zum Aspekt mythologischer Opferungen in verschiedenen Werken Chaurettes: T HERRIEN , De l ’ autopsie à l ’ utopie. 442 Der Name › Frank Anshutz ‹ klingt deutsch bzw. jüdisch; er erinnert klanglich an Anne Frank sowie an Auschwitz und ist kein typischer afroamerikanischer Name, obgleich das Kind, so Charles Charles, schwarz gewesen sei. Es wird sich in der weiteren Textanalyse zeigen, dass Provincetown Playhouse eine vielschichtige Dynamik des Sich- Entziehens entwickelt, die weit über diese Namensunklarheit hinaus geht. 443 »L ’ énigme de la pièce: › Savaient-ils que ce sac contenait un enfant? ‹ « (26) 146 erscheinen ihm Alvan, Winslow und sein Alter ego als ewig Neunzehnjährige. Zwischen der › realen ‹ Figur von 1938 (dem als psychisch krank internierten Charles Charles) und den halluzinierten Figuren von 1919 findet Interaktion ausschließlich zwischen Charles Charles als Achtunddreißigjährigem und Charles Charles als Neunzehnjährigem und insofern nur innerhalb der Hauptfigur statt. 444 Die Bewusstseinsspaltung wird dramaturgisch also durch eine Figurendoppelung inszeniert: Im Personenverzeichnis wird die Figur Charles Charles zweimal aufgelistet. Das Zusammenspiel dieser beiden Figuren, Charles Charles 38 und Charles Charles 19, leistet eine retrospektive › Aufklärung ‹ des Verbrechens, die ihren Höhepunkt in der schließlichen Koinzidenz von Ermittler und Schuldigem findet (und insofern den Ödipus- Stoff anklingen lässt 445 ): Wie am Ende des Gesamtstückes zu Tage tritt, hatte der neunzehnjährige Charles Charles das Kind Frank Anshutz entführt, betäubt und anstelle von Watte und Schweineblut in den Sack gelegt (achtzehnte Szene). Er habe dieses Verbrechen bei vollem Bewusstsein geplant und ausgeführt, verstanden als Racheakt an den beiden Schauspielern seines Stückes, der eine Alvan, ein enger Freund, der andere Winslow, Charles Charles ’ Geliebter. Nachdem er deren Verrat an ihm - ein intimes Verhältnis der beiden - heimlich entdeckte, habe er sie zu Mördern wider Willen gemacht und insofern als stiller Fädenzieher ihre Hinrichtung initiiert, 446 sich selbst aber durch einen vorgetäuschten Wahnsinn vor der drohenden Todesstrafe gerettet. 447 »Verfluchte Unnatürlichkeiten sind da in dem Stück! «, bemerkt der Fischer in Tiecks Der gestiefelte Kater. Ähnlich empfindet auch der Rezipient in Provincetown Playhouse, werkintern gespiegelt als fiktive Zuschauer-Figur. Gleichzeitig muss er sich fragen: Wo ist eigentlich »das Stück«? Die »Unnatürlichkeiten« vollziehen sich nicht allein auf Ebene der Handlung - kulminierend im Inbegriff des Verbrechens, Kindsmord 448 - sondern gleichsam in Bezug auf die formale Gestaltung des Stückes. Provincetown Playhouse ent- 444 Nur einige allgemein gehaltene Szenenanweisungen von Charles Charles 38 sind an alle Figuren gerichtet. 445 Anders als Ödipus weiß Charles Charles 38 allerdings, dass er selbst der gesuchte Schuldige ist. Die bewusste Täuschung des Rezipienten lässt ihn eher in die Nähe von Richter Adam aus Kleists Der zerbrochene Krug rücken. 446 Ein Spiel im Spiel, das zum Zweck der Rache instrumentalisiert wird, blickt auf eine lange Reihe literarischer Vorläufer zurück. Vgl. V IEWEG -M ARKS , Metadrama und englisches Gegenwartsdrama, 74. 447 Vgl. zum Wahnsinn im québecer Theater der 1980er Jahre: M OSS , »Still Crazy After All These Years«. 448 Dieses Motiv findet sich auch in Chaurettes Theaterstück Les reines, das 1997 als erstes Theaterstück aus Québec sogar an der Comédie-Française in Paris aufgeführt wurde (vgl. C AYOUETTE , » › Les reines ‹ à la Comédie-Française«). 147 spinnt zwar einen Plot, doch gleichzeitig offenbart es eine stark verworrene formale Struktur. Es ist unklar, wie viele Fiktionsebenen sich ineinander fügen; und auf welche Weise sie dies tun; ob sie narrativ oder theatral vermittelt werden; und wie der Rezipient das Verhältnis der Fiktion(sebenen) zur immer wieder neu perspektivierten › Realität ‹ der vermittelten Geschehnisse bewerten soll. Darüber hinaus kann nicht beantwortet werden, ob Charles Charles, und mit ihm Provincetown Playhouse, überhaupt eine › Realität ‹ außerhalb der Chicagoer Psychiatrie kennt und, damit einhergehend, ob das Théâtre de l ’ immolation de la beauté je aufgeführt wurde, ein Prozess stattfand und ob Alvan und Winslow tatsächlich existier(t)en. Sie, die zu Stückbeginn zusammen mit Charles Charles 19 ein »monstre à trois têtes« (26) figurieren, könnten ebenso als monströse Wucherungen einer kranken Psyche zu verstehen sein. Knotenpunkt des abyssalen Gewebes aus unterschiedlichen Illusionsebenen ist das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, das 1919 aufgeführt und dabei durch das Füllen des Sackes, das Füllen des Signifikanten (ein Kind) mit dem Signifikaten (das Kind Frank Anshutz), in Realität überführt wurde. Eben dieses Auf- und Überführen wird wiederum inszeniert: allabendlich, in der »one-man-show« (26) eines »halluciné« (26). In diesem › Psychiatrie-Stück ‹ , das hier aus Gründen der Übersichtlichkeit als solches bezeichnet wird, im Stück selbst aber nur die Bezeichnung »pièce« (26) trägt, wird reflektiert, ergänzt und erläutert. Diese um das Théâtre de l ’ immolation de la beauté herum gelagerten Reflexionen zur Ästhetik des Stückes, zu seiner Rezeption und vor allem zur Ungerechtigkeit des Gerichtsverfahrens sowie zum Fehlurteil der Geschworenen fungieren aber nicht nur als rahmendes Supplement, sondern werden ihrerseits als Stück inszeniert. Am Ende der ersten Szene des Gesamtstückes beginnt es dezidiert als Theatervorstellung: Charles Charles 38, der sich zuvor in knappen Worten als Künstler, einst vielversprechend, heute geisteskrank, in Szene gesetzt hatte, begibt sich damit in die Position eines Beobachters, eines Zuschauers: sitzend, rauchend, wartend. Gleichzeitig verhält er sich von Anfang an wie ein Regisseur, ein Magister ludi, auf dessen Geheiß - »il frappe les trois coups du début de la pièce« (m. H.) - das Psychiatrie-Stück erst beginnen darf: Charles Charles 38 marche vers la table, s ’ y assoit, tire une cigarette de sa poche. Du revers de sa cigarette, il frappe les trois coups du début de la pièce. Il allume. II fume. Un temps. (26) Die nun einsetzende zweite Szene markiert die Geburt der längst vergangenen Neunzehnjährigen Charles Charles, Alvan und Winslow im »tremblement convulsif« (27) ihres Schöpfers Charles Charles 38. Es scheint, als 148 würde er die drei Figuren, die sich von Anfang an auf der Bühne befinden, erst in einer Art psychischen Wehe zum Leben erwecken. Das Psychiatrie- Stück endet, setzt man als sein Hauptmerkmal die Anwesenheit der drei Neunzehnjährigen fest, erst mit Beginn der letzten, der neunzehnten, Szene. So treten nun insgesamt schon drei Illusionsebenen in Erscheinung, die sich vorsichtig, von außen nach innen, wie folgt umreißen lassen: Zum ersten Charles Charles 38 allein in einer Chicagoer Psychiatrie (erste und neunzehnte Szene), zum zweiten Charles Charles 38 im Psychiatrie-Stück mit seinen heraufbeschworenen Spektren im Nachspielen der Ereignisse von 1919 - 1921 (zweite bis achtzehnte Szene), und darin, auf einer dritten Illusionsebene sein eigentliches »chef-d ’œ uvre« (27), das Théâtre de l ’ immolation de la beauté (sechste Szene). Zum Verständnis der mise en abyme sind die parallel geführten Unterschiede, die die beiden inneren Illusionsebenen voneinander trennen und gleichzeitig aufeinander beziehen, von besonderer Relevanz: Das eine, das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, spielt am 19. 07. 1919 auf dem Dachboden eines Fischgeschäfts in Provincetown, das andere, das Psychiatrie-Stück, seit 1919 allabendlich in einer Chicagoer Psychiatrie. Das eine ist als unikale Aufführung konzipiert (»Il ne devait y avoir qu ’ une seule représentation«, 76), das andere als unaufhörliche Wiederholungsschleife: »[Ma] pièce recommence continuellement. Ma pièce dure depuis dix-neuf ans. À tous les soirs, elle recommence« (99). Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté zählt drei neunzehnjährige Schauspieler, das Psychiatrie-Stück inszeniert dieselben drei, als heraufbeschworene Spektren, dazu den, der sie heraufbeschwört. Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté ist Teil des Psychiatrie-Stückes und gleichzeitig sein Ausgangspunkt, ihm quantitativ deutlich untergeordnet und wird zu Beginn der sechsten Szene explizit durch die Betitelung »La pièce« (53) als Stück en abyme hervorgehoben. Beide akzentuieren in einem zum Teil identischen Bühnenbild das erstochene Kind, dies häufig in wortwörtlicher Übereinstimmung, wobei das Théâtre de l ’ immolation de la beauté die Idee einer Opferung zelebriert, welche im Psychiatrie-Stück als vorsätzlicher Mord enttarnt wird. Das Psychiatrie-Stück besteht folglich im unendlichen Wieder-Holen des Théâtre de l ’ immolation de la beauté und ist gleichzeitig etwas vollkommen Anderes, es holt das bereits Aufgeführte zwar wieder, zeigt es aber vor der › realen ‹ Folie einer homosexuellen Dreiecksaffäre mit Liebe, Betrug, Rache, Mord, Hinrichtung, Psychiatrie. So liegt zwar deutlich eine mise en abyme vor, doch vollzieht sich die Spiegelung ins Unendliche nicht in den abyme hinein, sondern eher aus ihm heraus. Es ist das rahmende Stück, welches das innere immerzu widerspiegelt. Diese Spiegelung im Rahmen erinnert an das 149 Potenzial der Konvexspiegel in den besprochenen Gemälden von van Eyck, Memling und Massys: Der konvexe Spiegel ist kein Instrument der bloßen Reduplikation, sondern er erweitert die Perspektive, indem er Zusatzinformationen liefert oder ausschließlich im Spiegel sichtbare Personen in das Kunstwerk integriert. Darüber hinaus initiiert er eine Neuperspektivierung, welche die Interpretation des Ganzen nachhaltig verändert. Solche Spiegelungen offenbart auch Provincetown Playhouse: Das allegorische Opferzeremoniell (des Binnenstückes) wird durch die Spiegelung (im Rahmen) zum vorsätzlichen Mord. Dadurch hält sich der Tod des Kindes in der Schwebe zwischen fiktiver Opferung und realem Mord. Insofern offenbart sich eine Dynamik, die bereits im Kontext der gemalten Spiegel diskutiert wurde: Der Spiegel kann das Gesamtkunstwerk gleichzeitig als erleuchtetes sowie als verdunkeltes reflektieren; im übertragenen Sinne scheint er es einerseits zu erklären und andererseits weiter zu verkomplizieren. Dabei verschwimmen in einer an Velázquez ’ Las Meninas erinnernden Dynamik die Illusionsebenen ineinander: Zeigt das Gespiegelte die werkimmanente Realität oder bereits eine Fiktion? Neben den bisher umrissenen Hauptillusionsebenen skizziert Provincetown Playhouse noch weitere › Spielflächen ‹ , die, jeweils auf verschiedene Weise, als eigene › Realitäten ‹ kenntlich gemacht werden. Zum einen gilt das für die so betitelten »Extraits des Mémoires de Charles Charles«, die das Stück fünfmalig, zwischen den Szenen 4, 5 und 6 sowie 10, 11, 12 und 13, nicht theatral, sondern narrativ unterbrechen (41, 51, 73, 79, 85). Es handelt sich um kurze Tagebuchausschnitte, als deren Urheber Charles Charles angegeben wird, jedoch ohne Altersangabe, weder als Charles Charles 38 noch als Charles Charles 19. Da insofern keine der Charles-Charles-Bühnenfiguren als Tagebuchautor identifiziert werden kann, bleibt fraglich, ob sich schattenhaft eine vierte Spielart ihrer selbst andeutet, eine, die das Spielgeschehen weder in Szene setzt noch als Charles Charles 38 oder Charles Charles 19 daran teilnimmt, sondern eine, die es aus der Retrospektive niederschreibt, 449 die Szenen anordnet und an adäquater Stelle mit Fragmenten aus seinem Tagebuch ergänzt. Alter, Status und Involviert-Sein dieser weiteren Facette im Charles-Charles-Kaleidoskop bleiben im Dunkeln; genauso wie die Hintergründe seiner »Extraits des Mémoires«: Sie werden auf keiner der Illusionsebenen auch nur erwähnt und wirken insofern autonom bzw. den anderen Ebenen übergeordnet. Sie bleiben stets auf Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté und seine Aufführungssituation bezogen und werden vom ersten bis zum fünften Extrait immer spezifischer: 1. Die Ausstrahlung bzw. die ver- 449 Alle Tagebucheinträge sind in Tempusformen der Vergangenheit formuliert. 150 blüffende Ähnlichkeit der drei Schauspieler. 2. Die Anspannung des Dramatikers angesichts des wartenden Publikums. 3. Der Prozess sowie das Verhältnis von beauté und laideur. 4. Der verkannte Innovationsanspruch der drei jungen Künstler und das Ineinanderübergehen von Realität und Fiktion. 5. Das stückinterne Leitprinzip der cohérence fautive. 450 Extraits verweisen auf ein Ganzes und dies umso mehr, als an einer Stelle sogar Auslassungsklammern gesetzt werden (79). Ob, in welcher Form, seit wann und zu welchem Zweck ein Ganzes entsteht, bleibt offen. Trotz dieser Unbestimmtheiten werden die »Extraits des Mémoires de Charles Charles« im Verlauf des Gesamttextes auffällig und eigenständig gewichtet, wie bereits am Druckbild ersichtlich wird: Sie erscheinen, auch wenn sie nur einen einzigen Satz umfassen, auf einer eigenen Doppelseite 451 und sind darüber hinaus kursiv und fett gesetzt. Die Extraits drängen sich also trotz ihrer relativen Kürze und ihres Fragmentcharakters in den Vordergrund. 452 Neben den Theaterstücken von Charles Charles sowie seinen Extraits stellt sich der Gerichtsprozess der Szenen 4 - 5, 11 - 14 sowie 16 - 17 zusätzlich als eigene Illusionsebene dar. Inszenatorisch wird er durch einen Lichtwechsel von den anderen Ebenen abgesetzt: »L ’ éclairage change d ’ intensité« (35). Dieser Lichtwechsel markiert den Auftakt eines heillosen Verwirrspiels: Alle vier Figuren, deren Realitätsstatus ohnehin problematisch ist, beginnen ihrerseits zu spielen und die Fiktionsschraube damit weiter hinaufzudrehen. Die Figuren spielen die Ankläger, die Zuschauer und sich selbst, wobei die verschiedenen Rollen keinem der vier Akteure fest anhaften, sondern scheinbar willkürlich zwischen ihnen hin und her gegeben und ausgefüllt werden. Mitunter spielt einer mehrere Rollen, mitunter spielen alle zusammen - überschrieben mit T OUS - eine einzige Rolle. Die Grenzen zwischen den Illusionsebenen sind durchlässig, werden bewusst durchlässig gehalten, nicht zuletzt dadurch, dass die dargebotene Rolle an einigen Stellen als solche kenntlich gemacht wird, meistens aber sehr vage bleibt und nicht eindeutig zugeordnet werden kann. Hinzu kommt, dass die gespielten Passagen unvermittelt von narrativen Einschüben der Beteiligten durchbrochen werden. 450 Vgl. Kapitel 6.2. 451 Einzig der dritte Tagebucheintrag erscheint nicht auf einer eigenen Doppel-, sondern einer Einzelseite. Offen bleibt, ob es sich dabei um ein Versehen im Setzungsprozess handelt. 452 Das Verfahren, Tagebuchausschnitte mit zusätzlichen Informationen zum Handlungsgeschehen sowie Reflexionen zu den Figuren, zur Ästhetik, Wirkung und Intention des literarischen Kunstwerkes in das Kunstwerk selbst zu integrieren und dort als Gedanken einer künstlerischen Alter-Ego-Figur zu fiktionalisieren, erinnert an Edouards Heft in Gides Les Faux-Monnayeurs. 151 So zeichnen sich nun mindestens fünf Illusionsebenen ab: Als Rahmen Charles Charles 38 in einer Chicagoer Nervenheilanstalt, darin das Psychiatrie-Stück und darin das Théâtre de l ’ immolation de la beauté sowie das Nachspielen des Gerichtsprozesses. Die »Extraits des Mémoires de Charles Charles« scheinen eine eigene, übergeordnete Ebene zu bekleiden. Hauptwerk en abyme ist das Théâtre de l ’ immolation de la beauté. Alle anderen Illusionsebenen bleiben auf dieses Binnenstück bezogen und bespiegeln es auf je unterschiedliche Weise. Im Kontext der Ebenenkonstruktion und der Identifizierbarkeit verschiedener Illusionsebenen richtet sich der Blick nun auf die stückspezifische Grunddisposition, die bereits im zweiten Satz artikuliert wird. Sie lautet: »La pièce se passe dans la tête de l ’ auteur, Charles Charles 38« (24). Der illusionsexterne Autor überträgt seine Autorität scheinbar gleich zu Beginn des Stückes auf den illusionsinternen Autor und problematisiert schon allein dadurch den Versuch, das Stück von außen zu fassen. Hinzu kommt, dass der Autor, dessen Kopf fortan als Bühne des Gesamtgeschehens und damit aller ineinander verschränkter Illusionsebenen zu gelten hat, sich selbst als theatrale Figur in Szene setzt, diese aber nicht als zuverlässige Instanz verstanden wissen will. Er siedelt sie in einer psychiatrischen Klinik und damit plakativ 453 in einer Sphäre an, die sich einer Klassifizierung in Realität, Traum, Halluzination, Imagination oder potenzierte Imagination und somit einer verbindlichen Unterscheidung in verschiedene Realitäts- und Illusionsebenen per se entzieht. Dabei verkompliziert sich die Rezeption insofern, als der Wahnsinnige nicht als vom Wahnsinn Befallener erscheint, sondern, im Gegenteil, angibt, seinen Wahnsinn inszeniert zu haben, um so der drohenden Todesstrafe zu entgehen (33, 111). So lässt sich nicht einmal der Wahnsinn, das Außer-Kraft-Setzen normativer Logik, als gegeben betrachten. Andererseits habe der den Wahnsinnigen Spielende es nicht beim bloßen Vorspielen, beim Wahnsinn im Modus der reinen Fiktion, bewenden lassen, sondern, die Komplexitätsspirale dreht sich weiter, sich selbst und alle Beteiligten so nachhaltig von der Figur des Wahnsinnigen überzeugt, dass er diesen Wahnsinnigen fortan dauerhaft, als theatrale Lebensrolle verkörpere, oder anders, auch außerfiktional wahnsinnig geworden sei: 453 Der Eindruck eines plakativen Wahnsinns wird durch Szenenanweisungen wie die folgenden erweckt: »regard d ’ un halluciné«, »intonation d ’ un illuminé«, »sourire figé«, »[d]ès le premier coup d ’œ il, on sait qu ’ il est fou« (26). Es ist (der wahnsinnige) Charles Charles selbst, der diese Szenenanweisungen ausspricht, weswegen offen bleibt, inwiefern sie Gültigkeit beanspruchen dürfen. 152 Il s ’ agissait de le dire . . . il s ’ agissait d ’ un peu de lucidité. Quand on se trouve acculé, qu ’ il y a plus rien d ’ autre à dire . . . leur dire que j ’ étais fou, et le devenir, par conséquent. (99) 454 In diesem (nur inszeniert? ) wahnsinnigen › Kopf des Autors ‹ spielt sich also konzeptionell das Gesamtgeschehen ab. Wie soll unter diesen Voraussetzungen die Frage nach dem Authentizitätsgrad seines Wahnsinns und der damit verbundenen Unterscheidbarkeit in einzelne Illusionsebenen je verbindlich beantwortet werden? Der Rezipient wird in den Kopf eines Protagonisten versetzt, der umgehend und kontinuierlich den eigenen Wahnsinn reflektiert und inszeniert. Was bleibt, ist eine nicht auflösbare Grundspannung, in der das Kreter-Paradox anklingt: Charles Charles 38, der Psychiatrieinsasse, sagt: Ich bin (nicht) wahnsinnig. Gides Erstdefinition der mise en abyme trifft in mehrfacher Hinsicht auch auf Provincetown Playhouse zu. Das sujet même eines Kunstwerkes wird im Werk selbst »à l ’ échelle des personnages« 455 gespiegelt: Nicht nur der Autor Charles Charles, dupliziertes sujet même im Sinne von Subjekt, sondern auch sein Hauptwerk, Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté, findet sich en abyme eines Geflechts verschiedener Illusionsebenen. In diesem Geflecht wird das innerste Stück im doppelten Wortsinn reflektiert: widergespiegelt und mit Reflexionen versehen. Dabei zeigt sich, anders als in Rezas Une pièce espagnole, in dem auf ineinandergelagerten Fiktionsebenen autonome Spielebenen mit eigenen fiktiven Charakteren entstehen, eine Konstruktion, die mit der vergleichsweise überschaubaren Konstruktion eines Wappens im Wappen (im Wappen) nicht hinreichend erfasst werden kann. Da es sich um die mise en abyme desselben Autors und desselben Stückes handelt, lässt sich mit Dällenbachs Terminologie eher von einer »réduplication spécieuse« oder »aporistique« 456 sprechen. Aporetisch ist die Spiegelung insofern, als sie im Stück selbst jene Widersprüche inszeniert, welche die Klärung der Gesamtkonstruktion unmöglich machen. Wo man auch anfängt, man gerät in eine möbiusartige Schleife. In einer solchen Möbiusschleife werden alle herkömmlichen Orientierungspunkte (oben-unten, links-rechts oder vorne-hinten) insofern hin- 454 Moss deutet Charles Charles ’ Verhalten als poetologischen Perfektionismus: »Being a perfectionist devoted to the dream of making art and life coincide, he [Charles Charles] has become insane in order to play his role correctly« (M OSS , »Still Crazy After All These Years«, 38). 455 G IDE , Journal, 171. 456 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 52 und 142. 153 fällig, als sich nur eine einzige Fläche offenbart: Wenn der Finger über die Außenseite fährt, gerät er automatisch auf die Innenseite und von dort wieder auf die Außenseite. So verhält es sich auch in Chaurettes Provincetown Playhouse: Obwohl man versucht, verschiedene Orte zu identifizieren (Psychiatrie, Strand, Gerichtssaal oder Tagebuch), findet man sich durch semantische Brüche immer wieder auf der einen Fläche, der Bühne des Provincetown Playhouse. So schließt der Versuch, die Ebenenkonstruktion in Provincetown Playhouse zu erfassen, mit der Erkenntnis, dass sich die Ebenenkonstruktion letztendlich nicht erfassen lässt. Es tritt die besondere Dynamik eines Sowohl-als-auch zu Tage: Einerseits steckt Provincetown Playhouse verschiedene Illusionsbereiche ab, beispielsweise durch dreimaliges Klopfen (Psychiatriestück), durch Binnenüberschriften wie »La pièce« (53; Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté), durch Lichtwechsel (Gerichtsprozess) oder sogar durch graphische Hervorhebungen wie Kursivierung oder Platzierung auf Einzelseiten (»Extraits des Mémoires de Charles Charles«); dadurch verleiht Provincetown Playhouse seiner Mehrdimensionalität den Anschein von Übersichtlichkeit und Kohärenz. Andererseits aber ist es bemüht, die gezogenen Grenzen sogleich wieder zu verwischen. Dies wird im (vorgespielten) Wahnsinn des Hauptprotagonisten und im Zusammenspiel der Ebenen deutlich und zeigt sich insbesondere in den logischen Brüchen des Gesamtstückes, die sich immer dann manifestieren, sobald seine eigens abgesteckten Illusionsebenen als gegeben betrachtet werden. Die Brüche in der Logik der Handlungsfolge gehen deutlich über die bisher behandelte Nichtgreifbarkeit eines komplexen und dynamischen Ineinanders hinaus und illustrieren den aporetischen Charakter des Gesamtgefüges auf besonders anschauliche Weise. Zu Beginn des nachgespielten Prozesses wird der Autor beispielsweise dazu angehalten, seine Konzeption von Theater darzulegen: »Mon Dieu«, antwortet er, »comment est-ce que je vous dirais bien . . . Nous, ça fait dix-neuf ans qu ’ on y consacre notre vie, alors vous expliquer ça en deux mots« (35 f.). Neunzehn Jahre Aufopferung ließen sich nicht in wenigen Worten resümieren. Zum Zeitpunkt des realen Prozesses, den die Protagonisten nachzuspielen vorgeben, hat der Autor sein neunzehntes Lebensjahr gerade erst erreicht, kann sein Leben folglich nicht seit bereits neunzehn Jahren einer bestimmten Theaterästhetik widmen. So wird suggeriert, dass nicht Charles Charles 19, sondern Charles Charles 38, der sich seit seinem Debüt als Theaterautor und schauspieler vor 19 Jahren der immergleichen Ästhetik widmet, die Frage des Richters beantwortet und damit die Spielbereiche von 1919 und 1938 ineinander aufgehen lässt. Ein zweites Beispiel für diese (bewusst) fehlerhafte oder widersinnige Verflechtung der Illusionsebenen zeigt sich im Kontext der Unterbrechungen 154 und Neuanfänge während der Premiere des Théâtre de l ’ immolation de la beauté. Es muss, da sich Charles Charles wiederholt durch zu spät kommende Zuschauer verunsichern lässt, dreimalig von vorn beginnen, was zur Folge hat, dass das zunehmend unruhigere Publikum den Stückanfang mitzusprechen beginnt: »[Les spectateurs] connaissaient le début par c œ ur, eux . . . on les entendait chuchoter › Juillet 1919, j ’ avais 19 ans . . . ‹ ou encore › Le savaient-ils qu ’ il y avait un enfant dans le sac? ‹ « (71) Letztere Frage: › Wussten sie, dass im Sack ein Kind steckte? ‹ ist in der Handlungslogik nicht, wie an dieser Stelle suggeriert, Bestandteil des Théâtre de l ’ immolation de la beauté - hier postulieren die Protagonisten (im Modus der Fiktion) ja vehement, dass der Sack ein Kind enthalte - sondern ist die immer wieder gestellte Leitfrage im späteren Prozess; und dieser wird erst hinterher, im äußeren Psychiatrie-Stück, theatralisch verarbeitet. »Il se peut que nous fassions quelques erreurs« (54), lässt Charles Charles 19 im Kontext seiner Inszenierung vom Théâtre de l ’ immolation de la beauté verlauten. Dieses Eingeständnis, das vordergründig auf mangelnde Textkenntnis in der Aufführungssituation hinweist, lässt sich als Charakteristikum en abyme auf alle Illusionsbereiche anwenden. Eine erste Annäherung an das Stück fördert also eine besondere Dynamik aus Fiktion und Realität, aus Grenzziehung und Grenzverwischung, aus Kohärenz und (ästhetisch produktivem) Fehler zu Tage. Die Denkfigur eines Sowohl-als-auch spielt Provincetown Playhouse im Hinblick auf seine Mehrschichtigkeit oder auf den Wahnsinn des Hauptprotagonisten nicht nur strukturell und thematisch durch, sondern es entwirft darüber hinaus eine Begrifflichkeit, die eben jene Dynamik terminologisch abzubilden scheint: die cohérence fautive (85). 155 6.2 Die mise en abyme als › cohérence fautive ‹ C HARLES C HARLES 38. Un chef-d ’œ uvre! Et d ’ une cohérence! (47) Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. S CHLEGEL , »Rede über die Mythologie« 457 Es ist Charles Charles, der den Terminus der cohérence fautive einmalig in seinen »Extraits des Mémoires« nennt, ohne ihn dabei näher zu erläutern. 458 Was er allerdings betont, ist die allumfassende und dominierende Kraft, welche die cohérence fautive auf ihr Umfeld zu entfalten scheint: Ce qui caractérisait d ’ abord et avant tout notre vie de cette époque-là, c ’ était la cohérence fautive. (85; m. H.) Cohérence (von lat. cohaerens: › zusammenhängend ‹ ) bezeichnet ein Gefüge widerspruchsfrei ineinander greifender Ideen; fautive deutet auf › defizitär ‹ , › Fehler enthaltend ‹ . Wie kann also eine cohérence fautive, eine › fehlerhafte Kohärenz ‹ , kohärent sein? Der Begriff der cohérence fautive scheint vielmehr die Figur einer contradictio in adiecto zu beschreiben: Cohérence und fautive sind zwei Teile eines Ganzen, die sich gegenseitig unterminieren, das Ganze damit einer Festlegung entziehen und den Blick auf die Zyklizität einer immer wieder versuchten (cohérence), aber nicht gekonnten (cohérence fautive) Festlegung lenken. Dies führt der Begriff in nuce vor, wie ein zweiter Übersetzungsversuch veranschaulicht: Cohérence fautive erschöpft sich nicht allein in der Bedeutung › fehlerhafte Kohärenz ‹ , sondern lässt sich darüber hinaus als › Kohärenz aus Fehlern ‹ verstehen, womit die erste Klassifizierung - als contradictio in adiecto - konterkariert wird. Denn anders als eine fehlerhafte Kohärenz bleibt eine Kohärenz, die sich aus Fehlern stiftet, den Fehler zum sinnstiftenden Prinzip erhebt, gleichwohl kohärent und stellt insofern keinen 457 S CHLEGEL , Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 318 f. 458 Pascal Riendeau veröffentlichte 1997 eine erste Monographie zu Chaurettes Werk. Sie führt die cohérence fautive bereits im Titel: La cohérence fautive. L ’ hybridité textuelle dans l ’œ uvre de Normand Chaurette. Darin hinterfragt und reflektiert Riendeau das paradoxe und mehrschichtige Spiel innerhalb der Begrifflichkeit allerdings nicht weiter. In den folgenden Kapiteln soll es hingegen als Ausgangs- und steter Bezugspunkt dienen. 156 unmittelbaren, keinen Widerspruch in sich dar. So umschließt cohérence fautive beides, ist Kohärenz und ist es nicht. Jeder Versuch, das Geschehen objektiv zu rekonstruieren, muss zwangsläufig nach Maßgabe einer cohérence fautive erfolgen. Provincetown Playhouse gestaltet den Hang zum Fehler bzw. das Wechselspiel zwischen Fehler und Nicht-Fehler neben den bereits thematisierten logischen Brüchen bis in die Orthographie aus. Die autorisierte Ausgabe von Provincetown Playhouse weist nur einen einzigen auffälligen Rechtschreibfehler auf: A LVAN . Et puis? Qu ’ est-ce que ça prouve? On appelle ça une coïncidence. En tant que meurtrier involontaire de cet enfant, je plaide non coupable. [. . .] Personne savait. Alors il y a eu confusion, parce que tout le monde était sensé tout savoir. (96; m. H.) Anstelle von › censé ‹ steht »sensé«. Der Satz › man nahm an, dass alle alles wussten ‹ oder › alle hätten eigentlich alles wissen sollen ‹ , der per se ein Ausschließen von Vagheiten und Fehlern in Frage stellt, stellt sich selbst in Frage; tut dies aber nicht n ’ importe comment, sondern indem er statt › censé ‹ als vermeintlichen Fehler »sensé« und damit › sinnvoll ‹ setzt. Der Fehler, der Mangel an Sinn, wird › sinnvoll ‹ und bleibt zugleich Fehler, oder anders herum, das vermeintlich › Sinnvolle ‹ birgt stets Fehler. Die Implikationen der cohérence fautive und ihre Wirkungskraft scheinen angesichts der Häufigkeit, der Relevanz und der Ambivalenz unterschiedlicher Formen von Fehlerhaftigkeit in Provincetown Playhouse poetologische Grundprinzipien des Gesamttextes zu sein. Dabei ist es nicht relevant, ob dieser oder jener Fehler bewusst gesetzt ist; vielmehr werfen Fehler in einem Gesamtgefüge die Frage auf, wie interpretativ mit jenem Gesamtgefüge zu verfahren ist. Ein Fehler untersteht ja gerade nicht den Bedingungen, unter denen sich die einzelnen Phänomene eines Textes relational zu einem Ganzen zusammenfügen. Gerade durch den Fehler wird das Kohärente, das Zusammenhängende, gestört oder sogar gebrochen. Wie ist der Fehler also zu bewerten, welche Maßstäbe sind anzulegen, um seine Relevanz in einem Textganzen zu erfassen? Im Kontext der Ebenenkonstruktion wurde offenbar, dass sich die cohérence fautive gerade in den Strukturen der mise en abyme produktiv entfalten kann. Das Binnenspiel Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté wird auf verschiedenen Illusionsebenen gespiegelt, wobei sich, wenn diese Spiegelungen als gegeben betrachtet werden, umgehend weitere logische Brüche manifestieren. Die mise en abyme ist, wie in seiner Grundkonstitution auch der Fehler, schon per se der Bruch eines zusammenhängenden Gefüges. Eine erste Illusionsebene wird zugunsten einer zweiten aufgebrochen und von dieser zweiten aus neu perspektiviert. Gide zufolge sei 157 kein Verfahren geeigneter, um das Gesamtkunstwerk zu erhellen. Zwischen cohérence und fautive, zwischen Lüge und Wahrheit, Erhellung und Verdunklung, Vorspiegelung und Spiegelung entfaltet die mise en abyme eine besondere Wirkungsmacht. Die mise en abyme und die cohérence fautive sind zwei ineinandergreifende ästhetische Prinzipien, die neben dem Oszillieren zwischen Bruch und Ganzheit, zwischen Kohärenz und Inkohärenz weitere ontologische Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide tragen den Fehler bereits programmatisch im Begriff: als orthographischer Fehler (abyme statt abîme bzw. abysme) 459 bzw. als explizites Adjektiv »fautive«. Darüber hinaus halten beide das Werk in einer nicht auflösbaren Spannung und fungieren als Träger oder Katalysatoren poetologischer Prinzipien. In die Überlegungen zu mise en abyme und cohérence fautive ist miteinzubeziehen, dass der Begriff der cohérence fautive neben seinem Oszillieren zwischen Fehler und Kohärenz noch weiter über sich hinausweist, umfasst fautive neben der Semantik von › Fehler ‹ doch auch jene im Werk Chaurettes so elementare von faute: › Schuld ‹ , › Verschulden ‹ , › Verantwortlichkeit ‹ . Die › fehlerhafte Kohärenz ‹ oder die › Kohärenz aus Fehlern ‹ ist gleichzeitig eine › schuldhafte Kohärenz ‹ , eine › Kohärenz aus Schuld ‹ . Es ist gerade die Schuldfrage (allegorische Opferung vs. Rache-/ Kindsmord), die nicht nur als cohérence fautive, sondern gleichsam im Zusammenspiel der Illusionsebenen bzw. in den Strukturen der mise en abyme je unterschiedlich ausgelotet, dabei aber nicht gelöst wird. Diese ersten Implikationen von cohérence fautive und mise en abyme lassen sich anhand eines in Provincetown Playhouse dominanten Motivkomplexes illustrieren: der Zahl 19. Von Anfang an, bereits mit der Titelgebung, drängt sich die 19 als stückkonstituierend in den Mittelpunkt, wobei sich eine Reihe deutlicher Spiegelungen zwischen den verschiedenen Illusionsebenen ergeben und damit den Eindruck einer komplexen Konstruktion en abyme verstärken: Am 19. Juli 1919, dem 19. Geburtstag von Charles Charles 19 führen die drei neunzehnjährigen Schauspieler nach 19 Tagen Probe ein Theaterstück auf, das einen mit 19 Messerstichen ausgeführten Mord durchspielt. 19 Jahre später, am 19. Juli 1938, feiert Charles Charles (auf einer anderen Illusionsebene) seinen 38. und damit zum zweiten Mal seinen 19. Geburtstag. Dazu werden (wiederum auf einer anderen Illusionsebene), wie jeden Abend seit 19 Jahren, der 19. Juli 1919 und seine Folgen inszeniert. Diese inhaltlichen Analogien spiegeln sich in den strukturellen: Sowohl Provincetown Playhouse als auch das Théâtre de l ’ immolation de la beauté - 459 Vgl. Kapitel 3.4. bzw. 4.2. 158 ersteres tatsächlich, letzteres nur konzeptionell - bestehen aus 19 Szenen. 460 Einerseits determiniert die Zahl 19 das Stückgefüge und ist ganz explizit Grundlage seiner Kohärenz: »Un seul coup de couteau a dû être suffisant d ’ ailleurs. Les dix-huit autres, c ’ était pour la cohérence« (44; m. H.). An dieser Stelle tritt die Bedeutungsnuance › Kohärenz aus Schuld ‹ oder › schuldhafte Kohärenz ‹ deutlich zu Tage. Diese Kohärenz ist aber keine allgemeingültige, sondern dezidiert eine solche, die nur innerhalb der stückinternen Logik als Charles Charles ’ Gedankenkonstrukt nachzuvollziehen ist: »Il [Charles Charles] était fasciné par le chiffre 19« (76), sagt Winslow über seinen Freund, um die Dominanz der 19 zu begründen. Sobald man die von ihr ausgehende Kohärenz von außen - sei es als stückexterner Rezipient oder dessen fiktionsimmanentem Spiegelbild: dem Richter - zu greifen versucht, entzieht sie sich: »Pourquoi dix-neuf? Pourquoi ce chiffre revient-il si souvent? « (37), fragt der Richter, worauf Charles Charles antwortet: C HARLES C HARLES 19. C ’ était le 19 juillet 1919 et ce soir-là je fêtais mes 19 ans. C HARLES C HARLES 38. Pouvez-vous m ’ expliquer le rapport? C HARLES C HARLES 19. Y en a pas. (37) Was folgt, ist keine Erläuterung, sondern ein Themenwechsel. Die Antwort bleiben die Protagonisten konsequent schuldig. Die Zahl 19 verleiht ihrem Stück Kohärenz und tut es nicht, ebenso wie es die Begrifflichkeit der cohérence fautive auf engstem Raum vorführt, und ebenso wie die mise en abyme für das Gesamtstück wirkt. Was die Protagonisten allerdings vehement betonen, ist das Neue ihrer Ästhetik: »C ’ est différent de ce qu ’ on représente d ’ habitude« (36). Dieses programmatisch Neue des Stückes en abyme korrespondiert wiederum der Zahl 19. Denn was dieser 19 - jenseits der subjektiven Faszination, die sie auf den Autor Charles Charles ausübt - per se und objektiv innewohnt, ist das Neue. Dieses Neue durchzieht Provincetown Playhouse auf allen drei Untersuchungsebenen: der poetischen Schöpfung, des Werkes sowie dessen Rezeption. 460 Die Vornamen der drei Protagonisten Charles, Winslow und Alvan enthalten zusammen 19 Buchstaben. Dass Normand Chaurette zwar nicht am 19., aber am 9. Juli geboren ist, verleiht diesem Geflecht um die Zahl 19 eine weitere ironische Nuance. 159 6.3 Ästhetische Produktion en abyme. Zwischen Tradition und Innovation Nos vues étaient plus audacieuses[.] »Extrait des Mémoires de Charles Charles« (79) Die Zahl 19 ist von zentraler Bedeutung für das Gesamtstück. Der deutsche Begriff › neun ‹ birgt › neu ‹ , ein sprachliches Phänomen, das sich in vielen indoeuropäischen Sprachen beobachten lässt, 461 ausgehend vom rekonstruierten Etymon *newn. Die französischen Formen neuf für › neun ‹ bzw. neuf für › neu ‹ sind sogar homonym. Nun ist die Leitzahl in Provincetown Playhouse nicht neun, sondern neunzehn. Im Französischen ergibt dies einen interessanten Effekt: dix-neuf ist sowohl phonetisch wie auch graphisch nah an der Imperativform dis neuf: › sag neu! ‹ . Die lautmalerische Passage, bezeichnenderweise der neunten Szene, in der scheinbar nur Nonsens kultiviert wird (67 - 69), führt die Neunzehn, das Sagen und das Innovative sogar auf engstem Raum zusammen: »Dix-neuf défunts disent aux neveux novateurs« (69; m. H.). Das Wortspiel von dix-neuf und dis neuf mag Zufall sein; außerdem stellen sich die (realen) Rezipienten, die sich die Symbolik unbedingt erklären wollen, auf eine Stufe mit den fiktionsintern parodierten Richtern. Die Korrespondenz zwischen dem leitmotivischen dix-neuf und dem innovatorischen Anspruch, den Provincetown Playhouse gerade auf der Ebene des Sagens bzw. der Form geltend macht, ist aber dennoch unübersehbar. Der sprachliche und formale Innovationsdrang wird nicht nur von den fiktionsinternen Künstlern geltend gemacht, sondern auch explizit von Chaurette vertreten: »Dans mon cas, le contenu a sans doute son importance, mais la forme est ce qui m ’ intéresse davantage.« 462 Die Präferenz von Sprache 463 und Form eines Kunstwerkes gegenüber seinem Inhalt ist im québecer Literaturkontext der späten 1970er Jahre tatsächlich ein ästhetisches Novum. Dieses programmatisch Neue wird nun gerade - für jene Zeit ein weiteres Novum - als mise en abyme inszeniert. Die Struktur en abyme ermöglicht es, das Neue nicht nur darzubieten, sondern es auf Distanz zu setzen, zu betrachten, weiterzuentwickeln und verschiedentlich zu verorten. Im Zuge dessen kann 461 Im Sanskrit liegen na ’ va und navah nah beieinander, im Griechischen εννέα und νέος , im Lateinischen novem und novus, im Spanischen nueve und nuevo, im Italienischen nove und nuovo, im Norwegischen ni und ny, usf. 462 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 447. 463 Entgegen dem Zeitgeist der québecer Bühnen der 1970er Jahre verfasste Chaurette seine Texte nicht im joual, dem Soziolekt der Arbeiterviertel Montréals. Er misst der Sprache vielmehr eine autonome, bewegende und symbolstiftende Kraft zu (vgl. G ODIN / L AFON , Dramaturgies québécoises des années quatre-vingt, 144). 160 es in bestimmte Traditionslinien eingeschrieben und anderen konfrontativ gegenübergestellt werden. Provincetown Playhouse setzt nicht nur Charles Charles und seine Freunde Alvan und Winslow, sondern eine ganze Reihe unterschiedlicher Kunstschaffender in Szene: Die amerikanischen Dramatiker William Vaughn Moody (1869 - 1910) und Eugene O ’ Neill (1888 - 1953), des Weiteren der russische Schauspieler und Regisseur Konstantin Stanislawski (1863 - 1938) sowie der legendäre Schauspieler und Schauspiellehrer Lee Strasberg (1901 - 1982). Sie befinden sich, so legt es die entsprechende Illusionsebene nahe, alle gemeinsam in einem Zuschauersaal, um dem Théâtre de l ’ immolation de la beauté des jungen Charles Charles 19 beizuwohnen (48 f.). Aufführungsort ist das Provincetown Playhouse. 464 Dieses Theater ist ebenso wie die genannten Dramatiker und Schauspieler (bzw. Schauspiellehrer) keine Fiktion, sondern existierte tatsächlich. Es erhielt seinen Namen von einer Theatergruppe, die sich in Provincetown als Provincetown Players gründete und 1915 erste Aufführungen präsentierte. 465 Charles Charles und seine Freunde werden dieser Gruppe explizit zugerechnet: ». . . le jeune Frank Anshutz, 5 ans, est éventré de dix-neuf coups de couteau durant une pièce montée par le groupe des Provincetown Players« (38). Wirkung und Ästhetik der Provincetown Players sind also explizit mit dem Kindsmord korreliert. 466 Die Protagonisten von Chaurettes Provincetown Playhouse stellen sich ganz offensichtlich, und zwar nicht allein plakativ über die Namensgebung, sondern insbesondere durch die Inszenierung der mise en abyme in die Tradition der Provincetown Players. Ein Provincetown Player zu sein, impliziert literatur-, theater- und kulturgeschichtlich einen Bruch mit ästhetischen Traditionen zu vollführen und einem radikalen Neuanfang entgegenzustreben. 467 Noch heute gelten die Kreationen des Provincetown Playhouse als 464 Es ist Alvan, der diesen Bezug explizit herstellt: »J ’ avais accepté de me joindre au Provincetown Playhouse pour faire partie du Théâtre de l ’ immolation de la beauté« (81). 465 B ACH , Susan Glaspell und die Provincetown Players, 19. 466 Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die zahlreichen Berührungspunkte und Analogien zwischen (den Figuren in) Chaurettes Provincetown Playhouse und den realen Provincetown Players, ihrem berühmtesten Dramatiker O ’ Neill und seinen Stücken - insbesondere dem dezidiert genannten Bound East for Cardiff - en détail darzulegen (vgl. hierzu ausführlicher: G ODIN , »Chaurette Playhouse«, v. a. 55 - 59). Im Kontext der folgenden Ausführungen ist von besonderer Relevanz, dass gerade die Inszenierung von O ’ Neills Bound East for Cardiff am 28. Juli 1916 eine Zäsur markierte: »a turning point for the novice playwright and for the American theater« (E GAN , Provincetown as a Stage, ix). Auf diesen ästhetischen Wendepunkt scheint Charles Charles mit seinem innovativen Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté anzuspielen. 467 Charles Charles 19 präsentiert sich dem Publikum wie folgt: »Auteur dramatique et comédien. Je suis l ’ un des acteurs les plus prometteurs de la Nouvelle-Angleterre. Je suis 161 Geburtsstunde des modernen amerikanischen Dramas. 468 Auch die Namen der fiktionalisierten Theatergrößen Stanislawski und Strasberg sind mit Traditionsbruch, Reformgeist und innovativem Künstlertum verbunden. 469 So sind die Parallelen zwischen dem amerikanischen Provincetown der 1910er und dem Montréal der späten 1970er Jahre nicht zu übersehen: Eine neue Theaterästhetik wird en abyme inszeniert und ist dazu bestimmt, eine als überholt erachtete abzulösen. Eine diesbezüglich relevante Passage findet sich in Charles Charles ’ Mémoires: Ce qu ’ on nous reprochait le plus, c ’ était l ’ exaltation. Défaut notoire, qui nous distinguait, Alvan, Winslow et moi, de ces autres fumistes dont le théâtre n ’ avait recours qu ’ à de tristes et médiocres pensées. Nos vues étaient plus audacieuses; nous disions que le théâtre était nos vies. Hélas, trop pris dans le dédale de l ’ Art, Alvan et Winslow furent les derniers à se rendre compte que nous dérangions. Quant à moi, je savais, dès le début, que même au théâtre un enfant ne pouvait être éventré sans susciter quelque rumeur. (79) Hier, auf der Seite der Provincetown Players, Begeisterung, Vision, Wagemut, Berufung, Provokation. Dort, im Kreis der »autres fumistes«, nur Schaumschlägerei aus traurigen und mittelmäßigen Gedanken. Hier eine Problematisierung (der wechselseitigen Überführung) von Realität und Fiktion sowie einer Rezeption, die sich gegen derartige Ansätze sperrt. Dort das Verbleiben in referentiellen und insofern harmlos-behaglichen Gewässern. Hier das stolze Selbstbewusstsein, einer neuen Künstlergeneration anzugehören, »de la relève« (27) zu sein, dort das naturalistisch-realistische québecer Theater der 70er Jahre. Die Provinz Québec hat sich, wie schon vielfach untersucht und reflektiert wurde, erst vergleichsweise spät als solche gefunden und emanzipiert: in der Révolution Tranquille der 1960er Jahre. 470 Das Bühnengeschehen jener Zeit stellte sich maßgeblich in den Dienst einer nationalen Identitätsfindung. 471 So de la relève. J ’ ai étudié avec Eugène O ’ Neill, j ’ ai fait mes débuts il y a trois ans dans Bound East for Cardiff, j ’ ai 19 ans. Ma dernière pièce est un chef-d ’œ uvre« (27). 468 Vgl. G OLDMAN , »The Culture of the Provincetown Players«, 291 f. sowie S ARLOS , »Producing Principles and Practices of the Provincetown Players«, 89. 469 Vgl. B LANK , Schauspielkunst in Theater und Film, v. a. 16 - 25 sowie 89 - 120. 470 Exemplarisch sei auf einige Studien jüngeren Datums verwiesen: B ATIGNE , Québec. Espace et sentiment; C ORBO / L AMONDE , Le rouge et le bleu; D URAND , Histoire du Québec; F ERRETTI / M IRON , Les grands textes indépendantistes; K EMPF , Quebec. Wirtschaft, Gesellschaft, Politik; K OLBOOM / L IEBER / R EICHEL , Le Québec; P LOURDE , Le Français au Québec. 471 Vgl. G ODIN / L AFON , Dramaturgies québécoises des années quatre-vingt, 7 - 9. Anne Héberts Le temps sauvage (1963) und insbesondere Michel Tremblays Les belles-s œ urs (1968) gelten als Durchbruch dieses Theaters einer nationalen Identitätskonstituierung. Als Vorstufen werden häufig Gratien Gélinas Tit-Coq (1947), das erste franko-kanadische Theaterstück, sowie Marcel Dubés Zone (1953) angesetzt. Auf die Frage nach seinen literarischen 162 verarbeitete eine Vielzahl von Stücken die inneren und äußeren Befreiungsprozesse - vor allem aus politisch, wirtschaftlich und klerikal reaktionären Machtgefügen der Regierung Duplessis - und begleitete und beeinflusste die Selbstkonstitution des frankophonen Nordamerikaners, und zwar gerade nicht als frankophoner Nordamerikaner, weder als kolonialisierter Spielball zwischen Frankreich und England noch als andersartiger Nordamerikaner, sondern, sich selbst und seine Autonomie behauptend, als Québécois. Dieser Québécois, der sich erst mit Beginn der Révolution Tranquille als solcher bezeichnete, bevölkerte spätestens seit Michel Tremblays Les Belles-s œ urs (1968) über ein Jahrzehnt die québecer Theaterbühnen. Er artikulierte sich sehr häufig im joual, der »Unterklassensprache« 472 der québecer Arbeiterviertel und brachte dessen Belange aufs Parkett. 473 Dann, bereits ein gutes Jahrzehnt nach Tremblays Paukenschlag zur Begründung und Etablierung eines nationalen, eines québecer Theaters, ertönte ein anderer, jener Chaurettes, diesmal aber aus der entgegengesetzten Richtung: Provincetown Playhouse lenkt den Blick nicht auf den Québécois und seine Selbstfindung, sondern höchst subjektiv, selbstreferentiell und in Strukturen en abyme auf die Theaterkunst eines québec-entfärbten 474 Psychiatrieinsassen und damit auf das Theater selbst: »Pour moi, l ’ art n ’ a pas de raison d ’ être, si ce n ’ est que du message ou du discours«, 475 betont Chaurette. Damit ebnete der junge Chaurette den Weg für die so genannte Nouvelle dramaturgie québécoise, im Zuge derer sich die Werke in ihrer poetischen Dichte und innovativen Kraft - thematisch, sprachlich und motivlich - aus Québec hinausbewegten und in einen internationalen Kontext stellten. 476 Vorläufern grenzt sich Chaurette explizit von diesen Autoren ab und verweist auf »les travaux plus souterrains« von ungleich schwerer zu klassifizierenden Autoren wie Robert Gurik oder Claude Gauvreau (R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 438). 472 B AIER / F ILION , Anders schreibendes Amerika, 9. 473 Häufig gespielte Themen waren beispielsweise hohe Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit, Alkoholismus, Generationenkonflikte und Bigotterie. 474 Charles Charles trägt keinerlei Züge, die ihn als Québécois identifizieren würden. 475 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 447. 476 Dies betrifft zum einen Setting und Sujets. Zum anderen reflektiert und entfaltet die › Neue Dramaturgie ‹ die zu jener Zeit international unter dem Begriff der Postmoderne zusammengefassten literarischen Techniken, wie beispielsweise: unterschiedlich verarbeitete Spielformen von Metatheatralität, insbesondere Reflexionen auf den (oder vom) in actu dargestellten Künstler - vornehmlich Schreibender, Dramaturg oder Schauspieler - damit verbunden Gattungshybridität, Episierung des Dramatischen, Intertextualität, Fragmentierung, Introspektive bei gleichzeitiger Entpsychologisierung der Figuren sowie Diskontinuität in der Konstruktion von Handlung, Zeit und Raum. Chaurette, Bouchard, Dubois u. a. konzipieren das textinterne Verhältnis von Realität und Fiktion vollkommen anders als ihre schreibenden Vorgänger. Vgl. speziell zu 163 Dabei rebelliert die mise en abyme gegen deskriptives Theater, das ästhetische und politische Meinungen › unreflektiert ‹ auf die Bühne bringt. So ist es vor diesem literaturhistorischen Hintergrund kaum als gratuit zu verstehen, dass Provincetown Playhouse die avantgardistischen Schirmherren eines modernen Theaters wie O ’ Neill oder Stanislawski in Szene setzt. Vielmehr scheinen seriöse, reflektierte und progressive Beweggründe ausschlaggebend zu sein. Die mise en abyme ermöglicht es, eben diese Entwicklung verstehbar zu machen, das ästhetisch Neue nicht als fertiges Produkt in Szene zu setzen, sondern ein solches auszuloten. Denn gleichzeitig vollzieht sich der Rekurs auf diese vermeintlichen Vorbilder nicht eindeutig affirmativ, sondern erkennbar ironisiert: C HARLES C HARLES 38. Il était effectivement des nôtres, le monsieur Stanislavski. Il était assis de biais, il attendait impatiemment que le spectacle commence . . . Une minute avant le début de la représentation, j ’ ai pu voir qui était dans la salle . . . Ah . . . Lee Strasberg, grand perruquier de New York, assis dans la première rangée . . . Et derrière . . . Monsieur Eugène O ’ Neill! Ah, monsieur O ’ Neill, il ne faut pas vous attendre à du génie, mais vous allez voir qu ’ on a du talent! . . . Oh, monsieur Vaughn Moody, fallait pas vous déranger pour si peu . . . bonjour Monsieur. . . et vous, ah! je ne vous avais pas reconnu . . .[.] (48 f.) Der Tonfall dieser Passage ist doppelbödig, sogar spöttisch. Wichtige Vertreter moderner Dramatik und Theaterkunst finden sich zusammen in den ersten Reihen eines provisorisch über einem Fischladen eingerichteten Zuschauersaales. Diese spezifische Konstellation aus Stanislawski, Vaughn Moody, O ’ Neill und Strasberg 1919 im Provincetown Playhouse ist historisch betrachtet unmöglich: Vaughn Moody starb bereits 1910, Strasberg war zu diesem Zeitpunkt erst neun Jahre alt, wodurch sich abermals die Zahl 19 ergibt. Diese Tatsache akzentuiert die Konstruiertheit und Fremdartigkeit dieses fiktionalisierten Quartetts sowie ihre › Einverleibung ‹ in die › Logik ‹ von Chaurettes Provincetown Playhouse. Zusammen erwarten die historischen Figuren ungeduldig, inmitten von Fischgestank, 477 das Erstlingswerk und »chef-d ’œ uvre« des jungen Charles Charles. Affektiert und wie mechanisch aneinander gereiht werden sie zur Kenntnis genommen, wobei fraglich bleibt, als wer sie eigentlich zu gelten haben und in welcher Funktion sie anwesend sind. Der Einzige unter ihnen, der näher spezifiziert wird, ist Lee Chaurette als Wegbereiter einer neuen Theaterkonzeption: G ODIN / L AFON , Dramaturgies québécoises des années quatre-vingt, v. a. 103 - 146; G ODIN , »Création et réflexion« 57 - 72; H UFFMAN , »Les nouvelles écritures théâtrales«; L OISELLE , »Paradigms of 1980 ’ s Québécois and Canadian Drama«; W EISS , »New Theatre in Quebec«. 477 Der Gestank wirkt ironisch, nicht zuletzt da er die Aura der vier Künstler Stanislawski, Vaughn Moody, O ’ Neill und Strasberg stört. Charles Charles begreift ihn als schlechtes Vorzeichen (76). 164 Strasberg, und zwar nicht als richtungweisender Reformator des Schauspiels, sondern eigenartigerweise als »grand perruquier de New York« (48). Einerseits werden also internationale, v. a. amerikanische Vorbilder als Zuschauer einer neuen Stückästhetik en abyme inszeniert, womit sich Provincetown Playhouse als Glied einer Kette innovativer Theaterideologien zu erkennen gibt. Andererseits werden diese Vorläufer nicht als Autoritäten des modernen Theaters dargestellt, sondern ihrerseits, als weitere Spektren, 478 ironisiert. So stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich Provincetown Playhouse überhaupt mit der durch Stanislawski, Vaughn Moody, O ’ Neill und Strasberg evozierten Theatererneuerung identifizieren will. Letztere wird, in der Bewegung der cohérence fautive, als Horizont ein- und wieder abgeblendet. Die vermeintlichen Vorbilder werden zwar buchstäblich in den (Theater - )Raum gestellt, nicht aber für die eine oder andere Botschaft instrumentalisiert. Sie bleiben, vergleichbar mit den fremden Figuren in den gemalten Spiegeln, vage und verzerrt und provozieren unterschiedliche Interpretationen ihrer Anwesenheit. Provincetown Playhouse inszeniert en abyme und als sein Herzstück Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté. Durch die Werk-im-Werk-Strukturen kann es seinem Binnenstück ein eigenes Publikum kreieren und wählt sich dazu eine illustre Runde aus innovativen Theaterkünstlern. Durch diese Kontextualisierung wird das Stück en abyme aufgewertet und als ästhetisch innovativ gekennzeichnet. Gleichzeitig aber dürfen die historischen Reformer das Stück zwar bewundern, nicht aber für ihre jeweils eigene Theaterkonzeption annektieren. Dies ist, wie sich besonders in der Besprechung der Gemälde zeigte, 479 ein konstitutives Merkmal der mise en abyme. Ein Teil verhält sich spiegelnd zu einem Ganzen, wobei sich häufig die Machtverhältnisse verkehren. Der Teil ist nicht nur Spiegel des Ganzen, sondern er präsentiert sich nicht selten als unabhängig, als über das Ganze hinausgewachsen und ihm überlegen. 478 Sie treten als Figuren nicht auf, sondern werden lediglich erwähnt und beschrieben. 479 Vgl. Kapitel 3.2. 165 6.4 › Une œ uvre injouable. ‹ Abyssale Konflikte zwischen Text und Inszenierbarkeit C HARLES C HARLES 19. C ’ est une œ uvre injouable, je le sais, mais je sais qu ’ elle sera montée quand même. (27) An der Aufzählung von Repräsentanten bestimmter Theaterideologien sticht neben ihrem innovatorischen Grundgestus noch ein zweiter Aspekt ins Auge, der im Kontext der en abyme visualisierten künstlerischen Produktionsprozesse ebenfalls relevant ist und gleichzeitig den Autonomiegestus des geschriebenen Theatertextes offenbart: Gemeint ist die Aufteilung in zwei Autoren bzw. Dramatiker (O ’ Neill und Vaughn Moody) einerseits und zwei Regisseure bzw. Schauspieler (Stanislawski und Strasberg) andererseits. Theatertext und Theaterinszenierung sind also zahlenmäßig ausgewogen vertreten und nebeneinander gestellt. Diese Verteilung auf zwei Lager findet sich in der Figur Charles Charles in Personalunion; Charles Charles ist, unabhängig von seinem Alter ego, immer Autor, Regisseur und Schauspieler. Zunächst richtet sich das Augenmerk nun auf die beiden erstgenannten Funktionen: Schreibender und Inszenierender. Die mise en abyme ist ein effektives innerliterarisches Instrument, um die Autoritätsfiguren theatraler Texte in einen Kontext zu stellen und die übliche Sukzession, in der zunächst der Schreibende und dann erst, häufig vom Schreibenden losgelöst, der Inszenierende handelt, aufzubrechen. In theatralen Texten mit mise en abyme werden, wie sich schon bei Reza andeutete, Autor und Regisseur häufig miteinander konfrontiert, wobei poetische und poetologische Prämissen nicht selten mit inszenatorischen und theatralen Notwendigkeiten in Konflikt geraten. Provincetown Playhouse reflektiert diesen Konflikt auf allen Illusionsebenen. Im Falle von Charles Charles ist der Konflikt zwischen Schreiben und Inszenieren besonders virulent, da er in Personalunion beide Funktionen auf einmal übernimmt. Hinzu kommt, dass er nicht den Anschein erweckt, als zögen sein schreibendes und sein theatrales Ich an einem Strang. Vielmehr wirkt es, als unterminiere das eine das Tun des anderen. Text und Inszenierung verweisen im Modus der cohérence fautive in einer unerschöpflichen und ambivalenten Bewegung aufeinander. Dies vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Von innen nach außen, beginnend bei der Grunddisposition des Stückes, dem Kindsmord: Charles Charles schreibt ein Stück, mit dem er sich, indem er es inszeniert, sowohl als Autor wie auch als Regisseur und Schauspieler vernichtet: »Je sais que je risque la fin de ma carrière, peu importe, il 166 faut jouer le chef-d ’œ uvre« (27). Er weiß, und darin manifestiert sich die Spannung zwischen Dramatiker und Regisseur besonders pointiert, dass sein Stück wohl › schreibbar ‹ , aber › nicht spielbar ‹ ist; und dennoch, daran zweifelt er zu keinem Zeitpunkt, wird er es spielen (lassen): »C ’ est une œ uvre injouable, je le sais, mais je sais qu ’ elle sera montée quand même« (27). Die Autorfigur Charles Charles spricht sich mit Blick auf diese Aufführung aber von jeglicher Schuld am Kindsmord frei: J ’ ai écrit une pièce sur la Beauté, c ’ est tout ce que j ’ ai à dire. Tout ce que je sais, c ’ est qu ’ un enfant y a laissé sa peau. Ça fait partie des choses qui nous échappent, à nous, les auteurs. Un enfant qui meurt sur scène, d ’ un point de vue strictement théâtral, c ’ est de l ’ ordre de l ’ imprévu. Comme n ’ importe quelle anicroche, le décor qui flanche, un comédien qui rate son entrée. C ’ est jamais drôle. (88) Ein auf der Bühne › krepierendes Kind ‹ gehe den Autor, der lediglich ein Stück über die Schönheit geschrieben habe, also nichts an: › Auf so was haben wir Autoren keinen Einfluss ‹ . So wird einerseits ein deutlicher Graben zwischen Schreiben und Inszenieren gerissen. Dieser wird aber andererseits rasch wieder zugeschüttet, denn auch vom Theater aus betrachtet - als Regisseur oder Schauspieler - sei ein auf der Bühne sterbendes Kind etwas Unvorhersehbares: › Wie jede andere Panne auch, eine Kulisse, die umkippt, ein Schauspieler, der seinen Auftritt verpatzt. ‹ So legt Charles Charles zweifach, als Autor und als Regisseur, nahe, dass der › reale ‹ Kindsmord als Unfall gewertet werden müsse. Gleichzeitig aber ist dieser › reale ‹ Kindsmord, anders als es die bisherigen Textausschnitte suggerieren, mitnichten ein Zufallsprodukt oder ein sich bühnentechnisch einschleichender Fehler, sondern von bemerkenswerter Kohärenz. Charles Charles ’ Théâtre de l ’ immolation de la beauté handelt von der Opferung eines Kindes als Allegorie der Schönheit. 480 Der in Aussicht gestellte Kindsmord ist dabei theaterkonventionell als Fiktion konzipiert: »[D]ans la réalité, le sac devait contenir de l ’ ouate plus une petite poche qui devait renfermer du sang de cochon« (77). Nun ist es aber eben diese Theaterkonvention - ein Mord darf sich nur fiktional vollziehen oder, allgemeiner, Fiktion muss Fiktion bleiben - mit der Charles Charles in seinem Stück en abyme bricht, indem er die Watte durch das Kind Frank Anshutz ersetzt. Die Inszenierung dieser Theaterästhetik ist also gerade nicht › einer 480 »Mesdames et Messieurs, le théâtre auquel vous allez assister ce soir va vous prendre à témoin du sacrifice de la beauté. Ce sac contient un enfant. À la fin de la pièce, l ’ enfant sera éventré de dix-neuf coups de couteau sous vos yeux« (27). 167 unglücklichen Verkettung bedauerlicher Umstände ‹ 481 geschuldet, sondern folgt kohärent der Ästhetik des Stückes: »Un enfant vivant, c ’ était l ’ idéal. Là, l ’ immolation devenait réellement concrète. Être cynique, on pourrait dire que c ’ est heureux qu ’ un pareil hasard soit arrivé« (37). So formuliert es Charles Charles, der die Verwirklichung dieses › Ideals ‹ ja selbst betreibt. An anderer Stelle drückt er sich noch deutlicher aus: »Dix-neuf coups de couteau dans le ventre, vous admettrez que pour un théâtre de la vérité, ç ’ a été réussi« (35). Im Stück en abyme geht es also dezidiert um das Erlebnis von Wahrheit. Provincetown Playhouse scheint den Konflikt zwischen vrai und faux, wie jenen in Rezas Une pièce espagnole, hinter sich zu lassen bzw. ihn stark zuzuspitzen. In Chaurettes Stück geht es nicht primär darum, den Konflikt von Fiktion und Realität zu inszenieren, sondern innerhalb und mittels der Fiktion Wahrheit zu erzeugen. Dazu ist die mise en abyme offenbar ein adäquates poetisches Verfahren. Ein Werk setzt sich selbst bzw. eines seiner gespiegelten Abbilder auf Distanz, um sich besser betrachten und analysieren sowie diese Betrachtungen und Analysen in einem theatralen Rahmen verwirklichen zu können, der mit jenem des Gesamtwerkes nicht deckungsgleich ist. Das Werk ist also gleichzeitig es selbst und ein anderes, bringt seine Konstituenten zur Entfaltung, ohne sich dabei zu erschöpfen: So kann sich Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté als »théâtre de la vérité« feiern, da die Fiktion (eines allegorisch getöteten Kindes) und die Realität (eines getöteten Kindes) für den kurzen Moment zwischen der Binneninszenierung und dem Fund der Kinderleiche deckungsgleich sind; 482 Charles Charles ’ Kunst ist nicht mehr einfache Abbildung, sondern auf zynische Weise Wahrheit geworden. In Chaurettes Provincetown Playhouse hingegen muss der Sack, anstelle eines wahren Kindes, mit Watte und Schweineblut gefüllt werden, woran expliziert wird, dass das Stück selbst kein › Theater der Wahrheit ‹ ist, sondern ein solches im Rahmen seiner mise en abyme nur inszenieren kann. Bezüglich der werkintern verhandelten Wahrheitsfrage dieser ambivalenten Interaktion von Gesamt- und Binnenstück ist von zentraler Bedeutung, dass die Vollendung des › Theaters der Wahrheit ‹ zugleich seine Vernichtung impliziert. Einerseits bringt Charles Charles sein Theater, indem er das Fiktum als Faktum inszeniert, zu höchster Vollendung. Andererseits zerstört er es dadurch 481 »La pièce commençait d ’ ailleurs avec une allusion [. . .] à l ’ événement tragique qui s ’ est produit à la fin de la pièce grâce à un malheureux concours de circonstances regrettables« (81 f.; m. H.). 482 Diese Deckungsgleichheit findet sich in der gleichzeitigen Präsenz von Sonne und Mond sublimiert: »Je me suis dit: › Charles Charles, le soleil a jamais été aussi beau sur la mer ‹ . . . Et du côté de l ’ est, on voyait la pleine lune . . . c ’ était comme un rêve . . . J ’ ai couru chez Winslow. . .« (105). 168 gerade. Es sind die Strukturen der mise en abyme, die dieses Wechselspiel nicht nur sichtbar machen, sondern in denen es sich ad infinitum treiben lässt, indem das Binnenstück immer wieder von vorn beginnt (99) und insofern als › Theater der Wahrheit ‹ gerade keine feste oder eindeutige Wahrheit proklamiert. Damit befindet sich der Rezipient nun nicht mehr auf der Ebene der Inszenierung von 1919, sondern auf jener seit 1919, hier als › Psychiatriestück ‹ bezeichnet. Auf dieser Ebene gestaltet sich das auffällig markierte Verhältnis zwischen Theatertext und Theaterinszenierung vergleichsweise explizit. Charles Charles erklärt, sich als Inszenierender üblicherweise › peinlich genau ‹ an seinen geschriebenen Text zu halten: »Mais on peut dire que, généralement, je respecte scrupuleusement mon texte« (100). Das › généralement ‹ impliziert einen gewissen Spielraum, und eben jenen füllt Charles Charles buchstäblich mit Leben: Il y a des soirs où j ’ apporte certaines modifications à ma pièce. Des fois j ’ allonge des répliques, d ’ autres fois, je coupe ce qui est écrit pour m ’ éloigner un peu de mon sujet. (Un soir, j ’ ai décidé de remplacer le sac par un petit lapin! À chaque fois qu ’ on disait « projecteur sur un sac », le petit lapin se mettait à sauter, c ’ était assez baroque, les gens comprenaient difficilement pourquoi on faisait tant d ’ histoires autour d ’ un petit lapin, mais moi je me suis amusé follement! Alors ça m ’ a donné des idées, à chaque premier jeudi du mois, je remplace le sac par quelque chose d ’ autre . . . un soir, je l ’ ai remplacé par un tracteur. Alors là, c ’ était ambigu! Quand le tracteur faisait marche arrière, il faisait tchouk-tchouk et il lui sortait de la vapeur, on le confondait avec une locomotive! ) Mais on peut dire que, généralement, je respecte scrupuleusement mon texte. C ’ est pas parce que je me permets des libertés un jeudi par mois que j ’ ai cessé d ’ être fidèle à mes intentions d ’ auteur! (100; m. H.) Im Psychiatrie-Stück muss der dramatische Text, wie in Inszenierungen üblich, Veränderungen über sich ergehen lassen: Er wird verlängert, verkürzt, variiert. Der Sack, als Komplement zu den Messern immerhin Hauptrequisite des Gesamtstückes, muss weichen: einem Kaninchen, einem Spielzeugtraktor, anderen Objekten, zunächst wie zufällig, dann institutionalisiert, jeden ersten Donnerstag im Monat. Die Ironie ist unüberhörbar, besonders wenn Charles Charles seine wie willkürlich vorgenommenen Sack-Substitutionen mit Kommentaren wie › das war ziemlich barock ‹ oder › also das war wirklich doppeldeutig! ‹ versieht. Dem Text wird Gewalt angetan, er wird im Lächerlichmachen seines Herzstückes bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Bezeichnenderweise spricht der Autor davon, sich durch ein hüpfendes Kaninchen oder einen rückwärts fahrenden Spielzeugtraktor von seinem sujet zu entfernen. Und dennoch (oder gerade dadurch) bleibt Charles Charles den eigenen Aussagen zufolge »fidèle à [s]es intentions d ’ auteur«. Wie ist das möglich? Potenzielle Veränderungen, wie sie spätere reale Inszenierungen 169 vornehmen, werden bereits vom Autor selbst durchgespielt und dabei ironisiert. Die hier zur Schau getragene Abweichung vom Theatertext im Inszenierungsprozess scheint sich dem Theatertext Provincetown Playhouse folglich als ontologisches Wesensmerkmal innerhalb seiner mises en abyme bereits eingeschrieben zu haben. So werden der Inszenierung scheinbar Spielräume eröffnet - › seht her, das Stück lässt sich verändern! ‹ - , de facto aber zeigt das Stück, dass es sich der einen Interpretation einer Inszenierung immer entziehen wird. Mit diesen Überlegungen tritt eine weitere, abschließend zu reflektierende Illusionsebene in den Fokus: jene des Gesamtstückes. Das Spannungsverhältnis von dramatischem Text und seiner Inszenierung zeigt sich nicht nur mit Blick auf die Binnenstücke, sondern auch eine Ebene › höher ‹ : an der Schwelle von Chaurettes Provincetown Playhouse und dessen Inszenierung. Mit Nachdruck stellen sich die Fragen: Was lese ich? Was sehe ich? Können - und wenn ja, wie? - Gelesenes und Gesehenes zusammengebracht werden? 483 Auch hier stört die Inszenierung den Text, stört der Text die Inszenierung, und gleichzeitig sind es eben diese gegenseitigen Störungen, welche die erfolgreiche Genese von Text und Inszenierung (letztere zumindest en abyme) bewirken. Vor diesem Hintergrund ist ein Blick auf den Stückbeginn notwendig. Er erweist sich als eine einzige große Szenenanweisung, die, selbst mehrschichtig, die verschiedenen Illusionsebenen des Gesamttextes eröffnet und sie en abyme zueinander in Beziehung setzt, was sich sogar graphisch nachvollziehen lässt. Diese mehrschichtige Szenenanweisung kulminiert wiederum im Evozieren des materiellen Stücktextes: DÉCOR Une table sur laquelle on a déposé un sac et des couteaux. La pièce se passe dans la tête de l ’ auteur, Charles Charles 38. Dans cette tête, le décor représente la mer un soir de pleine lune. Odeur de sel et de poisson frais. Bruit d ’ un harmonica, bruit des vagues. 1 Silence. Le noir. Les quatre personnages sont en scène. Attitudes, gestes et éclairages tels que décrits par Charles Charles, 38 ans, qui s ’ adresse au public; il est d ’ abord invisible. C HARLES C HARLES 38. Odeurs de sel et de poisson frais. Bruit d ’ un harmonica, bruit des vagues. Projecteur sur trois garçons. Enveloppés dans la fumée bleue de leurs cigarettes, avachis dans un coin, serrés les uns contre les autres comme un seul monstre à trois têtes, ils fixent le public avec méfiance. [. . .] Projecteur sur Charles Charles; un grand jet blanc, comme un rayon de lune sur son costume d ’ aliéné. La scène est envahie de sa présence, théâtre ce soir, 19 juillet, théâtre et pleine lune 483 Diese Fragestellung bezieht sich im Rahmen dieser Arbeit auf das Verhältnis von Gesamttext und Szenenanweisungen. 170 dans le grenier d ’ une cage un soir d ’ été. Il se tient lui aussi face au public, mais à l ’ écart des trois garçons. Il a 38 ans. Tempes légèrement grisonnantes, regard d ’ un halluciné, sourire figé. Dès le premier coup d ’ oeil, on sait qu ’ il est fou et on sait que dix-neuf ans plus tôt il a été beau. Comme il s ’ avance vers le public, les trois garçons sont plongés dans le noir. L ’ intonation d ’ un illuminé, Charles Charles dit: - › Charles Charles, 38 ans, auteur dramatique et comédien, leur dire que je suis fou. Autrefois l ’ acteur l ’ un des plus prometteurs de la Nouvelle-Angleterre. Ma fin de carrière: l ’ une des plus prématurées et des plus éblouissantes de l ’ histoire. Depuis je suis seul. Depuis, c ’ est un one-man-show. Mesdames et Messieurs. ‹ Décor: une table et quatre chaises. Le texte de la pièce est sur la table[.] (25 f.) Drei eigene Typen von Szenenanweisung treten unmittelbar, sogar schon in unterschiedlichem Schriftbild, zu Tage: Eine erste Szenenanweisung, mit »Décor« überschrieben, noch außerhalb der ersten Szene. Eine zweite, kursiv gesetzt, scheinbar in der Form einer herkömmlichen Didaskalie, als Auftakt der ersten Szene. Schließlich eine dritte, die beides in einem ist: Fortsetzung der Szenenanweisung und Eingangsmonolog des Hauptprotagonisten, also eine Szenenanweisung als Figurenrede, welche die gesamte erste Szene ausfüllt. Die Szenenanweisungen sind, spiegelbildlich zu den Illusionsebenen, also ebenfalls mehrschichtig. Diese Auffächerung in unterschiedliche didaskalische Ebenen und ihre Spiegelung ineinander setzt sich auch innerhalb des langen Eingangsmonologs von Charles Charles fort: Charles Charles entwirft verbal nicht einfach eine Szenerie, sondern diverse ineinander gelagerte Szenerien, wie sich an folgenden Direktiven seiner Rede ablesen lässt: »Odeurs de [. . .]«, »Projecteur sur trois garçons«, »Projecteur sur Charles Charles«, »L ’ intonation d ’ un illuminé, Charles Charles dit: › Charles Charles, 38 ans ‹ «, »Décor: une table«. Besonders auffällig daran ist, dass Charles Charles nicht nur Versatzstücke der mit D ÉCOR betitelten Didaskalie variiert, sondern vor allem, dass er den eigenen Inszenierungsprozess darstellt. So scheint es, als würde er in seinem Eingangsmonolog nicht nur seine (Spiel-) Welt, sondern mit ihr sich selbst erschaffen. Dies erinnert an die wichtige Funktion der Spiegel in den besprochenen Gemälden, den jeweiligen Schöpfer als Bestandteil des Bildes zu präsentieren. Provincetown Playhouse vollzieht jenen selbstreferentiellen Coup zweifach: Charles Charles schreibt sich seinem eigenen Text nicht nur en abyme als Autor ein, sondern er inszeniert sich darüber hinaus als Inszenierender. Die Szenenanweisungen entwickeln sich also von eher externen Inszenierungsdirektiven zu Bestandteilen der Handlung, womit eine Grundkonstituente der mise en abyme in theatralen Texten plastisch vorgeführt wird: wie aus dem Wort des Autors inszenierte Fiktion entsteht. Bei aller Komplexität ist eines gewiss: Der Rezipient befindet sich von Anfang an nicht lediglich in 171 einer Chicagoer Psychiatrie, sondern zugleich am Strand von Cape Cod, im Theatersaal des Théâtre de l ’ immolation de la beauté sowie in jenem von Provincetown Playhouse. Aus der komplexen Ineinanderschachtelung der Szenenanweisungen ergibt sich eine Reihe von Fragen: Wie stellt man bühnenkonkret einen Autor dar, der, ausgestattet mit einer scheinbar stückexternen Imaginationsvollmacht - »La pièce se passe dans la tête de l ’ auteur, Charles Charles 38« (25) - sich selbst als Schöpfer seiner selbst (mit 38 Jahren) als Schöpfer seiner selbst (mit 19 Jahren) und gleichzeitig als ihre körperlose Spielform inszeniert? Wie arrangiert man den Schauplatz des Gesamtstückes (unter Ausklammerung des ersten Satzes) als Kopfinneres eines (gespielt) wahnsinnigen Autors und darin außerdem eine Strandszenerie als Vollmondnacht, diese angereichert mit Reizungen von Gehör- und Geruchssinn, während sich der Körper des Betreffenden in einer Chicagoer Psychiatrie befinden soll? Oder gegenständlicher: Wie erweckt man › ein bisschen ‹ (»C ’ est un peu comme s ’ il [. . .]«, 25; m. H.) den Anschein, als trüge der Autor ein Messer am Gürtel? Steht ein Tisch auf der Bühne? Sind ein Sack und Messer (erstes Bühnenbild) oder ein Theatertext (zweites Bühnenbild) oder diese stückkonstituierenden Requisiten zusammen darauf angeordnet? Es ist eben jene carte blanche des Stückbeginnes, die diese oder ähnliche Fragen kleinkariert und nichtig erscheinen lässt: Denn schließlich befindet sich der Rezipient in der Grunddisposition des Stückes zuvörderst im Kopf eines Psychiatrie-Insassen. Insofern bleibt nicht nur die klassizistische Forderung nach der Einheit des Raumes, sogar in extremis, erhalten, sondern alles, jeder Gedanke - »Quand on est fou, les choses se passent très vite dans une tête« (111) - wird potenziell ein darzustellendes Bühnenbild. Wie aber hat eine reale Inszenierung auf diese Grundgegebenheiten zu reagieren? Auf jede der oben gestellten Fragen muss in dieser oder jener Form geantwortet werden. In der lesenden Rezeption kann sich jede Offenheit uferlos in alle Richtungen potenzieren, ohne in eine figurative Form gezwängt zu werden. Der Inszenierung hingegen ist eine solche Verdinglichung per se eingeschrieben. Jede inszenatorische Entscheidung bedeutet eine Festlegung, eine solche trägt der offene Theatertext jedoch nicht mit. Einen scheinbaren Ausweg aus diesen Schwierigkeiten wählte 1984 der québecer Regisseur Pierre Fortin. 484 Er richtete den Fokus auf die im Text 484 Fortin inszenierte Provincetown Playhouse mit der zwei Jahre zuvor gegründeten Truppe Têtes Heureuses am Maison Carrée in Chicoutimi sowie an der École nationale de Théâtre in Montréal. Zwei Jahre zuvor war das Stück schon einmal aufgeführt worden, im Café Nelligan in Montréal in der Inszenierung von Michel Forgues (1982). Sicher ist, dass es mit vier Figuren auf die Bühne gebracht wurde, genau wie in späteren Inszenierungen 172 angekündigte »one-man-show« (26) bzw. »one-man-show à trois personnages« (27) und ließ Provincetown Playhouse von einem einzigen Schauspieler, Larry Tremblay, in Szene, oder besser: in Sprache setzen. Tremblay spielte alle vier Figuren auf einmal, wurde allerdings von einem fünfköpfigen Chor begleitet. 485 Bedenkt man aber, dass das illusionsexterne Personenverzeichnis nicht nur eine, sondern vier Figuren aufführt, wird abermals deutlich, dass Provincetown Playhouse als Text zu Provincetown Playhouse als Inszenierung in einem Spannungsverhältnis steht. Wie man es macht, macht man es falsch und, als cohérence fautive, zugleich richtig: Betont man die Einheit des sich im Kopfinnern eines Autors abspielenden Stückes, beschneidet man die Vielfalt der szenischen Bilderfolge, die sich in eben diesem Kopf produziert. Hebt man hingegen die szenische Bilderfolge hervor, muss die Idee der Einheit einer kopfinneren Bühne dezentralisiert werden. »[U]ne œ uvre injouable« (27) - als solches gilt nicht nur Charles Charles ’ Théâtre de l ’ immolation de la beauté, sondern Provincetown Playhouse und Chaurettes Gesamtwerk, wie der Autor selbst resümiert: »Injouable, voilà bien le mot avec lequel je vis depuis vingt ans! « 486 Chaurette quittiert diese Problematik, die er außerfiktional erlebt und en abyme verarbeitet, mit Ironie: Les gens se rendent compte que ce n ’ est pas tellement rentable de monter Chaurette; il y a des impératifs économiques dans les théâtres, et je suis le premier à les encourager en leur disant: › Vous avez raison, je suis un cadeau empoisonné, je ne fais que des flops . . . ‹ [.] 487 Interessant ist seine Wortwahl: Unrentabel sei es, ihn, nicht sein Werk, aufzuführen, nicht letzteres, sondern er sei ein › vergiftetes Geschenk ‹ . Eben diese Formulierung, eine nicht unübliche, metonymische façon de dire, aktualisiert Chaurette in seinem Provincetown Playhouse als komplexes und widersprüchliches Ineinander von Werk und Autor bzw. von Werk und, in Personalunion: Autor, Regisseur und Schauspieler. Provincetown Playhouse auch, beispielsweise jener von Alice Ronfard 1992 im Espace GO in Montréal. Im Jahr 2004/ 2005 zeigte Carole Nadeau die bisher jüngste eines knappen Dutzends (auch englischer und italienischer) Inszenierungen von Provincetown Playhouse. Vgl. ausführlicher zu den beiden bekanntesten Inszenierungen, jenen von Fortin und Ronfard, mit besonderem Blick auf die Inszenierungsmechanismen eines univers clos: H UFFMAN , »Mettre la scène en cage«. 485 Vgl. C OTNOIR , »Une photo ne vaut pas toujours mille mots«, 104 f. 486 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 445. Diese Unspielbarkeit wird aber nicht am Text analysiert, sondern am mäßigen Erfolg der tatsächlichen Inszenierungen bemessen. Vgl. zu mangelnden Erfolgen realer Inszenierungen: V ILLENEUVE , »Provincetown Playhouse«, L ÉVESQUE , »Une pièce fascinante, un spectacle quelconque« sowie »Chaurette, auteur qui attend«. 487 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 437. 173 problematisiert also auf verschiedenen seiner Ebenen die Materialisierung (und damit die Festlegung und › Domestizierung ‹ ) von Fiktion. Diese gilt (und feiert sich) in einer mehrfachen mise en abyme als unspielbar und insofern als nicht greifbar. Gleichzeitig eröffnet sie einen tiefgründigen Blick auf das problematisierte Ineinander von Werk, Autor, Regisseur und Schauspielern und verhindert, dass es im Zuge einer realen Aufführung aufgelöst oder harmonisiert werden kann. Möglicherweise erklingt eben deshalb, wie mehrere Szenenanweisungen (warnend? ) explizieren, das Stückganze hindurch ein eigenartiger Mundharmonika-Klang. Die dabei entstehenden Geräusche werden bezeichnenderweise nicht als › Klänge ‹ , › Töne ‹ oder › Melodien ‹ , sondern als › Lärm ‹ , als »bruit d ’ un harmonica« (25; m. H.), bezeichnet. › Harmonia ‹ ist in Provincetown Playhouse offenbar nur in Verzerrung, als Lärm, zu vernehmen. 6.5 Der Tod des Autors W INSLOW . On a écrit dans les journaux des choses très péjoratives à son sujet [de Charles Charles], de quoi tuer un auteur. (77) Provincetown Playhouse illustriert in einer auffälligen Metaphorik von Geburt und Tod das Schwangergehen eines Autors mit der Idee eines sich entziehenden, eines nicht aufführbaren Theaterstückes und die › Geburt ‹ dieser Ideen in die Welt ihrer Inszenierung; damit gehen die Entwicklung einer neuen Theaterästhetik 488 und schließlich die Reaktionen anderer auf das neu Entstandene einher. Die mise en abyme stellt diese Dynamik aus Erzeugung, Entstehung, Entwicklung und Konfrontation mit dem Außen in einen Reflexionskontext. Bezeichnenderweise versteht Ricardou in einer weiten Begriffsbestimmung nicht nur den Ödipus-Mythos, sondern sogar Ödipus selbst, im Leib seiner Mutter, als eine Form von mise en abyme: Ödipus wird seinen Vater ermorden und spiegelt sich deshalb, so Ricardou, in den Orakelsprüchen, die als antizipierende mises en abyme gleichsam gegen die Gesamterzählung aufbegehren. 489 Ein abyssaler Text trägt sich selbst (bzw. einen prägnanten Teil seiner selbst) aus und setzt diesen in ein deutliches Konfliktverhältnis zu seinem Vater, dem Autor. Diese Wechselwirkungen aus 488 Diese Metaphorik findet sich auch häufig in Feuilletonartikeln und Überblicksdarstellungen zu Chaurette. Über Provincetown Playhouse heißt es beispielsweise, es würde »l ’ acte de naissance d ’ une nouvelle génération de dramaturges québécois« bedeuten (V ILLENEUVE , »Provincetown Playhouse«, 664). 489 Vgl. Anm. 109. 174 autoritativer Macht und selbstgenerativer Gegenkraft zeigen sich in Provincetown Playhouse besonders eindringlich. An Charles Charles ’ Geburtstag soll auch die Geburt seines Théâtre de l ’ immolation de la beauté und damit einhergehend jene von Charles Charles als »Auteur dramatique et comédien [. . .] l ’ un des acteurs les plus prometteurs de la Nouvelle-Angleterre« (26 f.) vorgeführt werden; Provincetown Playhouse inszeniert diese doppelte › Geburt ‹ als mise en abyme. Was im Zuge dieser Inszenierung auf offener Bühne zelebriert wird, ist aber gerade nicht der Tag einer Geburt, sondern das Töten eines Kindes im Sack, ein Motiv, welches das Bild eines Fötus in der Gebärmutter evoziert. 490 Das Szenario der Tötung ist metaphorisch nicht allein mit dem Binnenstück, sondern gleichzeitig mit seinem Erzeuger selbst verbunden: Letzterer inszeniert an seinem neunzehnten Geburtstag das Durchdringen eines fetal wirkenden Gebildes mit neunzehn Messerstichen, was sein Publikum durch ein gemeinsames Rückwärtszählen begleitet. 491 Dass zurück- und nicht nach vorn gezählt wird, ist bemerkenswert. Es scheint, als lasse sich Charles an seinem Geburtstag selbst auf den Tag seiner Geburt und insofern auf den Zustand eines fetalen Gebildes zurückzählen. So sieht Gilles Chagnon in dieser Geste einen symbolischen Selbstmord. 492 Neben dieser Perspektivierung des Mords als Selbstmord ist auch jene eines Selbstopfers denkbar. Denn Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté inszeniert die Schönheit als Rolle, und diese wird dezidiert von Charles Charles 19 bekleidet: C HARLES C HARLES 38. C ’ était un soir de pleine lune [. . .] on montait le théâtre de l ’ immolation de la beauté . . . C HARLES C HARLES 19. J ’ étais la beauté . . . (48) 490 Gross deutet diesen Akt in einer die homosexuellen Textimplikationen betonenden Lektüre als männliches Eindringen und Zerstören von Weiblichkeit und Mutterschaft: »On the verge of adulthood, Charles kills a child, in an orgy of blows that figuratively become gang rape, matricide and infanticide. All signs of weakness and the feminine are obliterated, and only normatively constructed adult males remain« (G ROSS , »Offstage Sounds«, n. pag.). Diese Lesart ist insofern wenig überzeugend, als es gerade nicht »normatively constructed adult males« sind, die übrig bleiben; außerdem sind es Alvan und Winslow, die den Sack durchstechen, und dezidiert nicht Charles Charles. Vgl. mit Schwerpunkt auf homosexuelle Lesarten auch: M OSS , »Sexual Games«. 491 »Ils [les spectateurs] comptaient les coups, sachant qu ’ il y en aurait dix-neuf, ça allait de soi . . . je dirais même qu ’ ils ont dû compter à rebours, en commençant par 19, comme pendant les dernières secondes d ’ un match de boxe« (44). 492 »Au lieu de célébrer sa venue au monde par un sacrifice allégorique, ce que l ’ auteur accomplira dans le meurtre véritable de l ’ enfant qui jouait de l ’ harmonica sur le rivage, c ’ est son propre suicide« (C HAGNON , »La scène cautérisée«, 15). 175 Charles Charles opfert seinem Theatercoup nicht nur eine vielversprechende Karriere als junger Autor, Regisseur und Schauspieler, sondern in einer Art gesellschaftlichen Selbstmords gleichsam seinen Verstand: Charles Charles gibt an, seinen Verstand im Zuge des Prozesses nicht einfach verloren, sondern ihn vielmehr geopfert zu haben, dem Theaterspielen als (Über-) Lebensrolle. 493 Fortan verlegt er seine Theaterbühne in »une maison de fous« (33). Dieser Ort erlaubt es ihm wie kein anderer, 494 das Spielen-Wollen auf immer zu kultivieren, jeden Abend um 20 Uhr, immer und immer wieder den Kindsmord durchzuexerzieren, dem eigens entwickelten »théâtre de la vérité« (35) › sein Leben zu opfern ‹ (36). 495 Erst unter diesen Voraussetzungen kann er ein Theaterstück entstehen lassen, das nicht von vornherein scheitern muss, aber nur, weil es sich gleichzeitig als Theaterschimäre (mit nichtfiktivem Hintergrund), Wahnvorstellung und Kinderspielerei darstellt. Die Paradoxie einer bewussten Opferung des eigenen Verstandes, den man eigentlich nur verlieren kann und nicht freiwillig › aufgibt ‹ , unterstreicht Provincetown Playhouse insbesondere in seinem Schlusstableau, wenn es den internierten Charles Charles explizit als spielendes Kind in Szene setzt: Unbehütet und orientierungslos, von seinen Spielgefährten allein gelassen, sitzt er verängstigt auf dem Boden, inmitten der Messer, des Sacks und des Theatertextes, jener Hauptrequisiten, die - nun erst soll es dem Rezipienten ins Auge stechen? - › eigentümlicherweise an Kinderspielzeug ‹ (113) erinnern. Jutesäcke, Theatertexte und insbesondere Messer sind nun aber gerade kein Kinderspielzeug, ganz im Gegenteil; nur dadurch, dass Charles Charles im Stückverlauf angedeutet hatte, diese Gegenstände gelegentlich durch ein Kaninchen und Spielzeugtraktoren zu ersetzen, wird die Verbindung zu Kinderspielzeug verständlicher. Es wird abermals deutlich, dass sich die Rezipienten, wie der Autor, in dessen Kopf sie sich konzeptuell befinden, stets mit der Herausforderung konfrontiert sehen, Fiktion entstehen zu lassen und eben diesen Prozess in seiner Komplexität kritisch zu reflektieren. In Charles Charles ’ › Spielzeugkiste ‹ scheinen auch seine Spielgefährten selbst zu gehören: das › dreiköpfige Monster ‹ (25) aus Charles 493 Hätte Charles Charles an dieser Stelle nicht gespielt, wäre er nicht in die Psychiatrie gebracht, sondern mit seinen Freunden hingerichtet worden, was er wie folgt reflektiert: »J ’ ai dit › Charles Charles, tu vas jouer un fou, et ce sera ton plus beau rôle, et si tu crois à ton personnage, le public te saluera. Ton génie, ton talent, c ’ est pour aujourd ’ hui. ‹ Et c ’ est comme ça que le théâtre m ’ a condamné à mort, et c ’ est comme ça que le théâtre m ’ a sauvé la vie« (99). 494 »Ici, à Chicago, je suis bien, j ’ ai de l ’ espace, je me sens chez moi. Vous savez, le grand silence religieux, le silence dont rêvent tous les auteurs, il est ici« (99). 495 »Nous, ça fait dix-neuf ans qu ’ on y consacre notre vie« (36). 176 Charles 19, Alvan und Winslow, diese wie auf Geheiß erwachenden Marionetten. 496 Charles Charles ist also ein Autor, der bei aller hier durchexerzierten Relativität dieser Begrifflichkeiten sowohl auf › fiktiver ‹ als auch auf › realer ‹ Ebene ein Kind opfert oder, je nach Blickwinkel, ermordet. Gleichzeitig ist er durch die Strukturen der mise en abyme in eine Motivkette verwickelt, die ihn selbst als Ermordeten, als Geopferten sowie als Kind kennzeichnet. Diese Motivketten lassen sich vom Text selbst abstrahieren und in einen größeren literarischen bzw. literaturtheoretischen Kontext stellen. Als Chaurette sein Provincetown Playhouse Mitte der 1970er Jahre zu redigieren begann, wurde Roland Barthes ’ Aufsatz »La mort de l ’ auteur« (1968) bereits international diskutiert. Die angesprochenen Motive lassen sich über die bisherigen Überlegungen hinaus vor dem Hintergrund des von Barthes postulierten › Tod des Autors ‹ verstehen. 497 Der Autor und Regisseur Charles Charles situiert sich durch die mise en abyme symbolisch zwischen Opfer und Opferndem, zwischen Getötetem und Tötendem, Luzidität und Wahnsinn, Erwachsenem und Kind; dabei ergeben sich eine Reihe von Analogien zwischen den Texten Chaurettes und jenen Barthes ’ , die für die Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme bedeutend sind. Die Analogien zwischen »La mort de l ’ auteur« und Provincetown Playhouse fangen bereits bei der gleichzeitigen Geburt von Text und Autor an oder, in Barthes ’ Terminologie, von Text und › Schreiber ‹ : »[Le] scripteur moderne naît en même temps que son texte«. 498 Tatsächlich besteht Charles Charles vehement darauf, dass sein Text dem Publikum an seinem Geburtstag präsentiert werden müsse, wobei er sich, seine neunzehn Jahre, über die neunzehn Messerstiche mit dem Binnenstück korreliert. So werden die Geburt des Autors und die Geburt des Théâtre de l ’ immolation de la beauté parallel geführt. 499 Darüber hinaus besitzt Charles Charles, wie der moderne 496 Sie werden gleich zu Stückbeginn als eingeschüchterte (und insofern dressiert wirkende) › Zirkustiere ‹ beschrieben: »Ils ont pourtant l ’ air égaré, dépaysés comme des bêtes de cirque avant le spectacle et c ’ est un peu ce qu ’ ils sont, ces trois garçons aux cheveux blonds tout juste bons à être beaux« (25). 497 Das Motiv des getöteten Autors durchzieht Chaurettes Gesamtwerk als Grundkonstituente. In La sociétié de Métis wird es besonders anschaulich inszeniert: Die vierköpfige société von Zoé Pé erschießt letztendlich ihren Maler Hector Joyeux, um an jene vier Porträts zu kommen, denen sie zu Stückbeginn als Fiktionen entstiegen war. 498 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64; m. H. 499 Bezeichnenderweise spricht sogar der reale Autor Normand Chaurette in Bezug auf das Jahr 1980, dem Aufführungsjahr seines Erstlingswerks Rêve d ’ une nuit d ’ hôpital, als von seinem › Geburtsdatum ‹ : »On commence seulement à parler des années quatre-vingt. Évidemment, 1980, c ’ est un peu comme ma date de naissance« (R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 436; m. H.). 177 Schreiber im Sinne Barthes, kein Sein, das vor oder über seinem Schreiben läge: 500 Über die Figur Charles Charles sind keinerlei Informationen bekannt, die über sein Verhältnis zum Théâtre de l ’ immolation de la beauté hinausgehen. Ein Leben außerhalb dieses Stückes hat der Autor nicht. Vor diesem Hintergrund wird vielleicht auch eine seiner Aussagen verstehbar, die in anderem Kontext schlicht als logischer Bruch im Verhältnis der Illusionsebenen gedeutet wurde: 501 Der Neunzehnjährige lässt den Richter auf dessen Frage, worin seine Theaterkonzeption eigentlich bestehe, wissen, dass er diese Frage nicht in einem Satz beantworten könne, da er sein Leben bereits seit neunzehn Jahren eben dieser Theaterkonzeption widme (36), was bedeuten würde, dass er sie seit seiner Geburt durchexerziert und folglich jenseits von ihr gar nicht existiert. Anders als der traditionelle Autor unterhält der moderne Schreiber laut Barthes nicht »le même rapport d ’ antécédence qu ’ un père entretient avec son enfant.« 502 Dass sich Charles Charles zu seinem Text, der durch die Jutetextur des zentral positionierten Sackes motivlich aufgegriffen wird, gerade nicht vorgängig-väterlich verhält, zeigt sich in der Absenz seiner Vorgeschichte, der scheinbar unendlichen Zyklizität seiner Psychiatriebühne sowie in seiner auffällig inszenierten Geburt im Text selbst. Der Autor Charles Charles bekleidet im Textganzen einen bedeutenden Stellenwert, der an Barthes ’ »scripteur moderne« erinnert. Gewiss, das Schreiben offenbart sich im Fall von Provincetown Playhouse nicht als Schreibakt im Sinne eines in actu gezeigten Schriftstellers, doch es ist im Figurendiskurs nicht nur allgegenwärtig, 503 sondern darüber hinaus ontologisch mit den Spiel- und Inszenierungsprozessen verbunden, wie Charles Charles präzisiert: »J ’ ai écrit ma pièce tout en la jouant« (99; m. H.). Insofern ist der »performatif«, den Barthes für das moderne Schreiben fordert, 504 theatral inszeniert. Zentrum dieser performativen Dynamik ist der Sack. Er enthält ein schwarzes Kind und ist weiß beleuchtet. 505 Diese Betonung eines schwarz- 500 Vgl. B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64: »[Il] n ’ est d ’ aucune façon pourvu d ’ un être qui précéderait ou excéderait son écriture«. 501 Vgl. Kapitel 6.1. 502 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64. 503 Diese Betonung des Schreibaktes zeigt sich in vielen Äußerungen des Autors Charles Charles, beispielsweise: »J ’ écris des pièces que seul un fou peut écrire! « (36) - »Erreur! J ’ ai écrit: C ’ est comme s ’ il en avait un, lui aussi« (43) - »J ’ ai conçu une pièce spéciale, je l ’ ai écrite spécialement pour un public intelligent« (59) - »J ’ ai écrit une pièce sur la Beauté, c ’ est tout ce que j ’ ai à dire« (60). Außerdem wird häufig der materielle Text evoziert: »Le texte de la pièce est sur la table« (26). 504 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64. 505 Die Beleuchtung des Sacks betreibt Charles Charles mit Nachdruck: »Comment voulez vous que les gens comprennent l ’ importance du sac s ’ il n ’ est pas éclairé! Je me mets dans 178 weißen Gebildes ließe sich, vor der Folie von »La mort de l ’ auteur«, als Figuration des Schreibens selbst deuten: »L ’ écriture, c ’ est [. . .] le noir-et-blanc où vient se perdre toute identité, à commencer par celle-là même du corps qui écrit.« 506 Die Dominanz der Schrift gegenüber der Schreiber-Identität findet sich auch in Provincetown Playhouse: Nicht nur der Autor Charles Charles inszeniert sich, fernab von Text und Fiktion, als identitätslos, dasselbe gilt für seine Freunde. Über das Theater(-spielen) hinaus treten sie nicht in Erscheinung. Dabei macht sich Charles Charles als Schreibender - wie der von Barthes angeführte Proust, dessen Figur den für Provincetown Playhouse interessanten Namen Charlus trägt 507 - eine Grenzverwischung zur Aufgabe, die sich mit Barthes als Verschwimmen von Autor und Figuren fassen lässt: »brouiller inexorablement, par une subtilisation extrême, le rapport de l ’ écrivain et de ses personnages«: 508 Proust a donné à l ’ écriture moderne son épopée: par un renversement radical, au lieu de mettre sa vie dans son roman, comme on le dit si souvent, il fit de sa vie même une œ uvre dont son propre livre fut comme le modèle[.] 509 Charles Charles ’ Situation ist vergleichbar: Sein Leben fließt nicht einfach in sein Werk ein, sondern das Theater ist sein Leben, und sein Leben ist sein Werk. 510 Insgesamt wird Charles Charles als ein Autor inszeniert, dessen la peau d ’ un spectateur moyen, eh bien je ne comprends rien! [. . .] (Le sac s ’ éclaire.) (56) »Projecteur sur un sac! « (68) wird als Leitsatz mehrfach wiederholt. 506 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 61; m. H. 507 Bezeichnenderweise heißt die von Barthes erwähnte Proust-Figur aus À la recherche du temps perdu (Bd. 4: Sodome et Gomorrhe) Palamède de Guermantes, Baron de Charlus, bei Barthes kurz: Charlus. Chaurettes Namensgebung › Charles Charles ‹ könnte sich als Anklang sowohl an Barthes ’ Text als auch an jenen Prousts verstehen. Insbesondere die folgende Textstelle aus Barthes ’ »La mort de l ’ auteur« lässt den Rezipienten von Provincetown Playhouse aufmerken: »[M]ais que Montesquiou, dans sa réalité anecdotique, historique, n ’ est qu ’ un fragment secondaire, dérivé, de Charlus« (B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 63; m. H.). Das sekundäre Charlus- Fragment könnte in der eigenartigen Doppelbenennung › Charles Charles ‹ widerhallen, zumal Charles Charles (19, 38 oder jener ohne Altersspezifizierung) zwischen Fiktion und Realität als »abgeleitetes Fragment« zu verstehen ist. Die Namensgebung ist auch im Kontext von Prousts Sodome et Gomorrhe von Interesse, da sowohl Charlus wie auch Charles Charles homosexuell sind, was gesellschaftlich in beiden Fällen nicht toleriert wird. 508 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 63. 509 Ebd. 63. 510 »Nos vues étaient plus audacieuses; nous disions que le théâtre était nos vies« (79). Gleiches gilt, wie aus der nous-Form hervorgeht, für seine Alter-Ego-Figuren Alvan und Winslow. 179 Autorität permanent in Frage gestellt wird. 511 Er erscheint nicht als Herrscher über seine Texte, sondern vielmehr als deren Medium. Charles Charles konstituiert sich zwar einerseits als Autor, spricht von seinen »intentions d ’ auteur« (100), banalisiert diese aber sogleich, beispielsweise durch die Transformation in scheinbar beliebiges Kinderspielzeug. Zudem distanziert er sich von der Vorgehensweise vieler Kollegen, die als Autoren dominant und mit dem Anspruch auf Objektivität die Interpretation ihrer Texte zu beeinflussen versuchen. 512 Insofern ist das Unverständnis der fiktionsinternen Rezipienten - »[J ’ ]arrive mal à saisir ce qu ’ a voulu dire l ’ auteur« (90) - , die als Anhänger einer überkommenen Autor-Konzeption die eine Absicht, die eine Botschaft suchen, nicht verwunderlich, denn laut Barthes gibt es keinen Inhalt, 513 zumindest keinen verbindlichen. Dies betont auch Alvan für die Provincetown Players: Toute cette histoire est gouvernée au départ par l ’ ignorance. Personne savait. Alors il y a eu confusion, parce que tout le monde était sensé tout savoir. [. . .] Alors on s ’ est pris à notre propre jeu. Ce qu ’ il aurait fallu dire au public, c ’ est que dans la réalité le sac contenait de l ’ ouate. Mais ç ’ aurait été lui mentir, parce que dans la réalité il contenait un enfant. (96) Wenn es keine autoritäre Stimme mehr zu eruieren gilt, wird der Text, so Roland Barthes, zu einem › mehrdimensionalen Raum ‹ : Nous savons maintenant qu ’ un texte n ’ est pas fait d ’ une ligne de mots, dégageant un sens unique, en quelque sorte théologique (qui serait le »message« de l ’ Auteur- Dieu), mais un espace à dimensions multiples, où se marient et se contestent des écritures variées, dont aucune n ’ est originelle[.] 514 Gerade in Texten mit mise en abyme kann sich diese Mehrdimensionalität aus › vielfältigen Schreibweisen, von denen keine ursprünglich ist ‹ , besonders nachdrücklich ausgestalten. Abyssale Texte stellen häufig auf unterschiedlichen Illusionsebenen je unterschiedliche Werke, Schreib-, Inszenierungs- und Rezeptionsweisen aus und lassen damit schillernde › étranges monstres ‹ 511 »Mesdames et Messieurs, la pièce que vous allez voir est l ’œ uvre d ’ un jeune auteur dangereusement malade«, (29) sagt er - so oder ähnlich - immer wieder über sich selbst und seinen Geisteszustand. 512 »Un auteur peut difficilement raconter avec objectivité. Il aura tendance à dire des choses qu ’ il n ’ aura pas réussi à faire passer dans l ’ écrit. Ou il attirera l ’ attention sur son aspect, à son avis, le mieux réussi . . . il va essayer de brouiller les pistes, expliquer à outrance, ce qui revient au même. Compliquer ce qui est simple, simplifier ce qui est compliqué. J ’ ai écrit une pièce sur la Beauté, c ’ est tout ce que j ’ ai à dire« (88). 513 Vgl. B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 44: »[Il] n ’ y a pas de fond«. 514 Ebd. 65; m. H. 180 entstehen. 515 Über die Vielfalt je andersartiger Töne und Formen hinaus treten auch die auf den Illusionsebenen dargebotenen Inhalte trotz kohärenzstiftender Spiegelungen zumeist in ein Spannungsverhältnis, wodurch es sich grundsätzlich verbietet, einen »sens unique« zu eruieren. Dass sich keines der inneren Werke und seiner › Schreibweisen ‹ als originär versteht, zeigt sich insbesondere in der häufig akzentuierten Zyklizität abyssaler Texte. Nicht zuletzt durch die komplexe Ebenenkonstruktion ist die mise en abyme schon strukturell ein Instrument zur Ausgestaltung eines »un espace à dimensions multiples«. Provincetown Playhouse spielt Machtverhältnisse zwischen Autor und Text auf verschiedenen Ebenen durch. Was bleibt, ist ein Oszillieren zwischen zwei Hauptpolen: Charles Charles ist einerseits eine Autor(itäts)figur, die sich in einen eigenen Herrschaftsbereich projiziert, um sich dort als diktatorischer Magister ludi jede Fantasie zu erfüllen, und gleichzeitig ist er diesen Projektionen in jeder Hinsicht unterworfen. Mit Barthes gesprochen ist Charles Charles »en rien le sujet dont son livre serait le prédicat«. 516 Er ist als Subjekt mehrfach gespalten und, was mit dieser Zersplitterung seiner Identität einhergeht, selbst zum › Prädikat ‹ seines › Buches ‹ geworden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern sich das › Buch ‹ , der Text oder die Fantasien innerhalb der mise en abyme verselbständigen und sich, losgelöst vom › eliminierten ‹ Autor, eigenständig, in mehrdimensionalen Strukturen, selbstgenerativ fortgestalten. 515 Der Begriff des »étrange monstre« geht auf Pierre Corneille zurück, der seine frühe Komödie L ’ Illusion comique als ein solch › eigenartiges Monstrum ‹ bezeichnet ( Œ uvres complètes, Bd. I, 613). 516 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64. 181 6.6 Die Selbstgenese des Werkes (im Werk im Werk . . .) Ja, auch das Werk, das teuer erkaufte, es bleibe Dir köstlich; Aber so Du es liebst, gib ihm Du selber den Tod, Haltend im Auge das Werk, das der Sterblichen keiner wohl endet: Denn von des Einzelnen Tod blüht ja des Ganzen Gebild. S CHLEGEL , Jugendschriften 517 M ARTINA N ORTH . Cela dit, nulle surprise à l ’ effet que je sois celle qui ponde, et qui sorte en même temps de son œ uf. C HAURETTE , Le passage de L ’ Indiana, 74. Provincetown Playhouse inszeniert eine weitere Figur, die von besonderer Künstlichkeit ist: den retardataire, den › Zuspätkommenden ‹ . 518 Er ist einer der Rezipienten des Binnenstückes und im abyssalen Raum sehr präsent. 519 Von ihm ausgehend lassen sich wichtige Erkenntnisse für das künstlerische Selbstverständnis von Charles Charles und für die Ästhetik seiner Gesamtkomposition (als fiktionsinterner Spiegel von Provincetown Playhouse) gewinnen. Noch bevor der › Zuspätkommende ‹ überhaupt begrifflich als »retardataire« (67; passim) Erwähnung findet, beschreit Charles Charles 38 kataphorisch das Ausmaß der Katastrophe seines Erscheinens: »C ’ est raté à cause de lui! À cause de lui. C ’ est un coup monté! « (61) Gerade als im Théâtre de l ’ immolation de la beauté das Durchstechen des Sacks, insbesondere in seiner Wirkung auf den Zuschauer, atmosphärisch vorbereitet wird - »Les comédiens se tournent vers le sac. Silence. Immobilité« (61) - betritt der › Zuspätkommende ‹ genau »[au] pire moment« (62) den Zuschauersaal, wodurch der anvisierte Effekt der Theaterillusion - »L ’ effet doit surprendre, semer l ’ an- 517 Zit. nach: B ENJAMIN , Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 84 f. 518 Durch seine Störungen der Illusion kontrastiert der retardataire die von Charles Charles angeheuerte hurleuse, die, ebenfalls eine sehr konstruierte Figur, das Publikum des Théâtre de l ’ immolation de la beauté durch ihre Entsetzensschreie von der Authentizität des Kindsmordes überzeugen soll. 519 Der › Zuspätkommende ‹ wird zwar nicht als eigene Figur inszeniert, von Charles Charles und seinen Freunden aber ausführlich beschrieben und thematisiert. 182 goisse, doit tenir le spectateur en haleine« (61) - völlig zerschlagen wird: »Justement, c ’ est raté! « (61) Zunächst ist die gewählte Formulierung eines »coup monté«, eines › abgekarteten Spieles ‹ , von Interesse: Einer Verspätung im Theater sind schlimmstenfalls verheerende Auswirkungen zuzusprechen, doch von verheerenden Absichten der Zuspätkommenden auszugehen, ist eher unüblich. Sowohl das französische Original »coup monté« (m. H.) als auch die deutsche Übersetzung › abgekartetes Spiel ‹ evozieren Inszenierung, Konstruktion, Unecht-Sein. Dies ist insofern relevant, als sich die Figur des › Zuspätkommenden ‹ und Charles Charles in mehrfacher Hinsicht ineinander spiegeln und im Zuge dessen weitere Einblicke in die Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme des Gesamtstückes gewähren. Es handelt sich bei beiden um stark durchkonstruierte und plakativ inszenierte Figuren, die den zerstörerischen Einbruch - »irruption« (71) gelesen als »attaque«, »envahissement«, »incursion« 520 - von Realität in die Fiktion vorführen: Charles Charles 19 durch das Vertauschen von Watte und Kind und der › Zuspätkommende ‹ , wiederum ironisiert, durch das Vertauschen von 20 Uhr und 20 Uhr 30. Beide ziehen die Aufmerksamkeit des Publikums massiv auf die eigene Person und die bewirkte Störung. Beide stehen jedoch nicht für eine Realität, die sich als Gegenpol zur aufgeführten Fiktion verstehen ließe, sondern offenbaren ihrerseits eine theatralisierte Form von Realität: Charles Charles als (Eigen-)Inszenierung eines wahnsinnigen Kindsmörders, der › Zuspätkommende ‹ als in Szene gesetzter Stereotyp eines Verspäteten: »Projecteur sur un retardataire! « (68). 521 Beide, Charles Charles wie auch der › Zuspätkommende ‹ , erscheinen darüber hinaus multipliziert: Vier sichtbare Protagonisten - Charles Charles 38, Charles Charles 19, Alvan und Winslow, allesamt der Psyche eines Autors entsprungen und über das Motiv der Ich-Spaltung untrennbar mit ihm und miteinander verbunden - spiegeln sich in einem › Zuspätkommenden ‹ , der gleichsam nicht als Unikat, sondern wiederum als vierfach Potenzierter in Erscheinung tritt. 522 Beide, und darin besteht die wichtigste Facette ihrer Ineinanderverzahnung, behindern das Théâtre de l ’ immolation de la beauté bei der wirkungsmächtigen Entfaltung seines Höhe- 520 Le Grand Robert, 393. 521 Er überklettert die anderen Zuschauer, entschuldigt sich lautstark, täuscht sich dabei in der Reihe, fragt links und rechts, was bisher passiert ist, äußert auf unterschiedlichste Weise sein Unverständnis, glaubt plötzlich, das Stück zu kennen und kündigt ein › völlig unerwartetes Ende ‹ (64) an, nur um im direkten Anschluss wieder auf sich selbst und sein Zuspätkommen zu rekurrieren. 522 »Puis au dixième tableau, il est arrivé un autre retardataire. Puis un autre encore . . . [. . .] alors on a dit au quatrième retardataire: › ASSEYEZ-VOUS, PUIS FERMEZ-LA! ‹ « (71; Hervorhebung im Original). 183 und Endpunkts, der Opferung des Kindes: Das grobe Eindringen des › Zuspätkommenden ‹ und seiner Doppelgänger in die Theaterillusion hat zur Folge, dass das Stück immer wieder von neuem beginnen muss. Charles Charles 38 sieht sich insofern zu dieser eigentlich unsinnigen Wiederholungsschleife gezwungen, als seine Konzentration durch das offensichtliche Unverständnis der › Zuspätkommenden ‹ nachhaltig beeinträchtigt werde. 523 Was außerhalb der Fiktion des Théâtre de l ’ immolation de la beauté als unkontrollierbare Größe erscheint, 524 steht in spiegelnder Wechselwirkung mit der Grundkonzeption des Psychiatrie-Stückes, die Charles Charles 38 ja als intendierte Endlosschleife umreißt (99): Dort, im Theatersaal von 1919, beginnt das Stück also auf äußeren Druck, gezwungenermaßen von vorn, hier, in der Psychiatrie, programmatisch, von innen heraus. Die Analogieführung von Charles Charles 38 und dem › Zuspätkommenden ‹ tritt nicht zuletzt darin zu Tage, dass das Stück des jungen Charles Charles, das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, in jenem seines gealterten Alter ego, im Psychiatrie-Stück, unbehindert entfaltet werden könnte, 525 de facto aber nicht entfaltet wird. Ursache ist Charles Charles 38 selbst, der immer wieder in das angespielte Stück eingreift und es damit zum steten Wiederbeginn zwingt: 526 »Non, attendez! . . . Il faut recommencer. . .« (56), befiehlt er mehrfach. So ergibt sich durch das Zusammenspiel, durch den »coup monté« von Charles Charles und den › Zuspätkommenden ‹ das folgende, scheinbar destruktive Bild: Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté kommt über einige wenige Eingangsrepliken nicht hinaus, in Szene 6 füllen sie knapp zwei Seiten, es wird immer wieder, wie durch äußere Hiebe, unterbrochen oder, 523 »Le succès de la pièce était compromis! A fallu tout recommencer. Sans quoi ç ’ aurait été impossible de continuer. Imaginez-vous . . . vous êtes l ’ auteur, vous jouez le rôle principal, et vous avez beau vous concentrer, vous savez, c ’ en est une idée fixe, vous savez qu ’ il y a quelqu ’ un dans la salle qui comprend pas un mot de ce que vous dites parce qu ’ il a manqué le début, alors il a fallu tout recommencer, à cause de lui, tout recommencer depuis le début« (65). 524 Die Schauspieler seien durch die ständigen Unterbrechungen der › Zuspätkommenden ‹ und die damit erzwungenen Wiederholungen › außer sich gewesen ‹ (62). 525 »Et, croyez-le ou non, depuis dix-neuf ans, y a pas eu un seul retardataire. Pas un seul! « (99). 526 In diesem Kontext ist die Geschichte des realen Theaterhauses der Provincetown Players interessant: Es wurde mehrfach durch Brände, Überschwemmungen und Stürme beschädigt oder zerstört; das dritte Playhouse in Provincetown brannte 1977 - und damit unmittelbar vor der Redaktion von Chaurettes Provincetown Playhouse - vollkommen ab (vgl. W ILKINS , »Phoenix in Provincetown«, n. pag.). Diese Zerstörungen eines Theaterhauses als Symbol des Theaters bzw. das Wechselspiel aus dessen Niedergang und Erneuerung könnten den Autor inspiriert haben. Das › Niederbrennen ‹ (brûler) findet sich en abyme im Théâtre de l ’ immolation de la beauté als zentrales Motiv. 184 um im stückinternen Bild zu bleiben, durchstochen und › geopfert ‹ . Höhepunkt und Ende können nur hastig und narrativ vermittelt werden. 527 Eine solche gerade als › Opferung ‹ begriffene › Zerstörung ‹ der konkreten Darstellungsform durch ihre Ironisierung, wie sie insbesondere in der (früh-) romantischen Dichtung vollzogen wurde, ist laut Walter Benjamin »gleichsam der Sturm, der den Vorhang vor der transzendentalen Ordnung der Kunst aufhebt«; 528 er nähert das Werk der Unzerstörbarkeit der ewigen Form und damit der Idee der Formen an. Die scheinbare Paradoxie, das eigene Werk im Innern seiner Fiktion durch Selbstironie › sterben ‹ zu lassen bzw. zu › opfern ‹ , es aber gerade dadurch › unsterblich ‹ zu halten, ist eine wichtige Funktion der mise en abyme: Sie stört die Illusion, ohne sie zu zerstören, sie verortet die konkrete Form en abyme im universalen Zusammenhang der Formen schlechthin, wie in Gides ästhetischer Formalisierung der mise en abyme mithilfe der Heraldik deutlich wird. Aus sich selbst heraus entstehend zeigt sie die formale Begrenzung des Werkes auf und erweitert das Werk zugleich, wiederholt und schreitet voran: im Sinne der romantischen Reflexion durch eine stets »sich potenzierende Folge von › Selbstschöpfungen ‹ und › Selbstvernichtungen ‹ «. 529 »Cette pièce n ’ a qu ’ un début! Silence! On reprend! « (57), ruft Charles Charles programmatisch. Ein aristotelisch geschlossenes Kunstwerk mit Anfang, Mitte und Ende wird lediglich angestimmt. Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, so eine von dieser Bemerkung ausgehende Lesart, existiert in toto nur als Idee. Ihre Materialisierung kann nur angedeutet, nicht aber tatsächlich vollzogen werden, sie ist zum Scheitern verurteilt. Dieses Scheitern des inneren Werkes ist ein gängiges Merkmal abyssaler Texte. 530 Nicht das fertige Produkt, sondern der Prozess einer versuchten Werkgenese steht im Mittelpunkt. Im Zuge dessen werden Schreibvorgänge als Experimente inszeniert und nicht selten als undurchführbar ad acta gelegt. Die Nicht- 527 Charles Charles 38 schildert das Ende der Aufführung wie folgt: »Dix-neuf coups de couteau, oui . . . Un des retardataires a demandé qu ’ est-ce qu ’ il y avait dans le sac. Et tous les spectateurs ont répondu en ch œ ur, c ’ était divin comme effet: › Un enfant ‹ . . . C ’ est qu ’ ils ne pouvaient pas savoir. . . Et nous non plus, comment est-ce qu ’ on aurait pu prévoir. . . Il y a eu un grand silence, puis je me souviens d ’ avoir dit quelque chose comme quoi l ’ enfant était mort . . . il y a eu quelques applaudissements . . . on a salué deux fois . . . non, trois fois . . . puis quand les spectateurs ont quitté le théâtre, on s ’ est mis à nettoyer la salle« (72). 528 B ENJAMIN , Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, 86. 529 M ENNINGHAUS , Unendliche Verdoppelung, 156. 530 Vgl. beispielsweise G IDE , Les Faux-Monnayeurs, K OKIS , Le maître de jeu oder R OBIN , La Québécoite. In allen drei Romanen wird jeweils ein Romanprojekt im Prozess seines Scheiterns dargestellt. 185 realisierbarkeit der Idee lässt sich aber nicht als rein destruktiver Akt verstehen oder, um im stückkonstituierenden Bild zu bleiben: Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté wird eben nicht in einer Art acte gratuit 531 willkürlich, absichts- und sinnlos getötet, sondern dem Gelingen einer anderen Idee geopfert. Es muss Fragment bleiben, damit dieses andere Stück, das Rahmenstück, entstehen kann, eines, das eben dieses Fragmentarische in sein Zentrum rückt, es teils nachspielend, teils nacherzählend rekonstruiert, und zwar in einer abyssalen Struktur. Gerade dadurch, dass der Schöpfer das Scheitern seines Alter ego inszeniert, entzieht er sich seinem Scheitern. 532 Denn de facto bringt er ja ein Stück zur Aufführung: das Psychiatrie-Stück, das nicht nur Anfang, Mitte und Ende aufweist, wenn auch nicht als Werkeinheit im aristotelischen Sinn, sondern durch die schrittweise Verbrechensaufklärung mit einem kohärenzstiftenden Spannungsbogen sowie einem dramatischen Höhepunkt ausgestattet ist. Ausgeführt wurde das »crime parfait« (83), die Ermordung dreier Unschuldiger, nicht von einem namenlosen Unbekannten, sondern, wie sich am Ende herausstellt, vom Hauptprotagonisten, von Charles Charles, dem Schöpfer aller anderen Figuren und Erzähler dieser »histoire de sac« (88). Das Universum Chaurettes entfaltet anstelle eines oder mehrerer Kerne ein Ineinanderverwobensein vieler Schichten. Dies betrifft das Übermittelte ebenso wie den Übermittler selbst; die Autor(itäts)figur Charles Charles ist nicht nur zwei, sondern viele. 533 Dabei scheint es, als würde Provincetown Playhouse nicht von außen konstruiert, sondern als konstruierte es sich in seiner Struktur en abyme von allein: Der Text stößt den Prozess seiner Genese innerfiktional an und durchläuft ihn auf vielfältige Weise. Dies ist insgesamt betrachtet ein Charakteristikum sowohl von Chaurettes Gesamtwerkes als 531 Im Text wird ein solcher acte gratuit zwar nicht expliziert, wohl aber befürchtet Charles Charles 38 eine »gratuité«: »Par moment, j ’ ai été assailli des doutes les plus effrayants: est-ce qu ’ ils vont s ’ apercevoir que le théâtre est devenu de moins en moins accessible . . .? Est-ce qu ’ ils vont penser que l ’ enfant, c ’ est une gratuité, une facilité . . .? « (59; m. H.). 532 So teilen Provincetown Playhouse und Les Faux-Monnayeurs eine weitere wichtige Gemeinsamkeit: Während das Binnenwerk - nicht nur in einem eigenen Tagebuch, sondern vor allem in Gesprächen zwischen den Figuren - ausführlich und aus den unterschiedlichsten Perspektiven reflektiert wird, steht ihm de facto nur ein vergleichsweise sehr knapper Raum zu, um sich in seiner reinen Textgestalt darzubieten: Beide Werke en abyme, sowohl Edouards Roman Les Faux-Monnayeurs als auch Le Théâtre de l ’ immolation de la beauté von Charles Charles 19, brechen jeweils nach nicht einmal drei Seiten ab (vgl. G IDE , Les Faux-Monnayeurs, in: ders., Romans et récits, 442 - 444 sowie C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 53 - 55). 533 In Chaurettes Theaterstück Je vous écris du Caire wird die innere Schichtung anhand der Hauptfigur Verdi besonders augenscheinlich nach außen gestülpt (vgl. dazu ausführlicher: J ESSEN , »Une question de Normand«, 92 f.). 186 auch abyssaler Texte im Allgemeinen. Die Figuren befreien sich unmittelbar nach ihrer Geburt vom (Schöpfer-)Vater, um sich ihre Welt (schreibend oder inszenierend, komponierend oder malend) selbst zu erschaffen. 534 So verkehren sich die Hierarchien. Der Teil en abyme spiegelt das Gesamtwerk nicht nur, sondern er generiert es. Martina North aus Chaurettes Le passage de l ’ Indiana kleidet diese paradoxe Dynamik in das Bild von der Henne und dem Ei: »Cela dit, nulle surprise à l ’ effet que je sois celle qui ponde, et qui sorte en même temps de son œ uf.« 535 Für Provincetown Playhouse lässt sich der Begriff cohérence fautive als texteigener und wirksamer Katalysator fassen: Ein Ganzes, dessen Teile unermüdlich aufeinander verweisen und sich gegenseitig in Frage stellen, sich aber eben in dieser zyklischen und endlosen Bewegung als Einheit, als Ganzes manifestieren. Einzelne Teile dieses Ganzen scheinen kohärent und logisch konstruiert, versucht man aber, sie als Ganzes zu greifen, entziehen sie sich: Chaque réplique isolée est pleine de bon sens, y compris celle qui a été dite durant qu ’ on éventrait l ’ enfant, je veux dire pendant qu ’ on immolait la victime. Vous voyez, c ’ est seulement quand les spectateurs se retrouvent dans la rue, après la pièce, qu ’ ils prennent conscience subitement qu ’ ils viennent d ’ assister à l ’œ uvre d ’ un fou. (36) Andererseits wird die Einheit oder Kohärenz aus vermeintlich Uneinheitlichem oder Inkohärentem und die daraus erwachsende autopoietische Kraft auch motivlich durchgestaltet, beispielsweise im Bild einer scheinbaren Selbst-Auflösung: Das Théâtre de l ’ immolation de la beauté gerät ab der sechsten Szene aufgrund verschiedener Widrigkeiten, beispielsweise der › Zuspätkommenden ‹ , in eine Wiederholungsschleife, in der es sich zunächst leise stellt und dann › vorspult ‹ . 536 Splitter der verschiedenen Ebenen reihen sich offenbar willkürlich zu einem Disparatum kontextentrissener Sätze aneinander. Kontexte zerfallen in Sätze, Sätze in Wortspiele, Wortspiele in einzelne Laute. Provincetown Playhouse scheint sich, in der auf engstem Raum inszenierten Unordnung der eigenen Illusionsebenen, schließlich in Lautmalerei aufzulösen: 534 In anderen Werken Chaurettes, beispielsweise in La société de Métis, Je vous écris du Caire, Scènes d ’ enfants oder Stabat Mater werden über den literarischen Kontext hinaus malende bzw. komponierende oder musizierende Künstler in Szene gesetzt. 535 C HAURETTE , Le passage de l ’ Indiana, 74. 536 In den Szenenanweisungen heißt es zunächst, dass das Stück »recommence à mi-voix« (59). Dieser verfremdende Effekt wird durch das spätere › Vorspulen ‹ noch verschärft: »Musique accélérée. Gestes et paroles des comédiens à peine compréhensibles. La pièce recommence, les répliques se chevauchent, les mots sont escamotés« (67). 187 C HARLES C HARLES 19. Neuvième tableau. Tableau des sonorités en › eu ‹ ! W INSLOW . Dix-neuf défunts disent aux neveux novateurs. A LVAN . › . . . ne noue le feu et ne nie les neufs d ’ Yseult! ‹ C HARLES C HARLES 38. Tableau des consonnes liquides! C HARLES C HARLES 19. Lo, la, li, elle est là . . . W INSLOW . Lou, la lou, le loup l ’ a lue . . . A LVAN . La lune, elle est là! C HARLES C HARLES 19. Elle est pleine, la lune. C HARLES C HARLES 38. Tableau des sifflantes. T OUS . Le céçacé. C HARLES C HARLES 38 . . . des sifflements! Tous sifflent longuement. (68 f.) Die Sprache zeigt sich als autonom, als autorunabhängig, als verselbständigt. Sie offenbart sich als eigene, geradezu anarchistische Kraft, die sich nicht auf einen Ursprung zurückführen lässt, sondern sich selbst sowie den Autor generiert (und nicht umgekehrt): »[C ’ ]est le langage qui parle, ce n ’ est pas l ’ auteur«. 537 Diese Autonomie illustriert Provincetown Playhouse in einem scheinbar selbständigen Durcheinanderwerfen seiner Fiktionsebenen, die en abyme bis zum freien Spiel einzelner Buchstaben betrieben wird. Dabei unternimmt das Stück aber nicht etwa die eigene Zersetzung in einzelne Phoneme, im Gegenteil, es konstituiert sich, was sich in einer gemeinsamen Selbstvergewisserung, die als Höhepunkt den Schlussakt aus einzelnen Zischlauten beendet, offenbart: »C HARLES C HARLES 38 . . .. et de la lettre P! T OUS . Provincetown Playhouse! « (68). Provincetown Playhouse, ein entfesseltes Instrument, das statt einer Melodie nur noch Einzelnoten erklingen lässt, scheint seinem Publikum vorzuführen, dass es wuchernd, disparat und zerfallen, aber trotzdem ein kohärentes Ganzes ist. Denn bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich diese Selbstkonstituierung im Modus vermeintlicher Selbstauflösung genau in der Mitte des Stückes vollzieht: Der Ausruf »Provincetown Playhouse! « ist nicht nur die Endreplik der neunten von neunzehn Szenen, sondern in Bezug auf die Seitenzahl sogar der exakte Stückmittelpunkt. 538 Damit soll nicht behauptet werden, dass Chaurette sein Stück bis auf die Druckfahne hin durchkonstruiert hätte. Interessanter ist der grundsätzliche Stückcharakter eines Dazwischen, jenseits von Kohärenz und Inkohärenz: Einerseits spielt Provincetown Playhouse immerzu damit, die (Theater-)Spielerei eines Wahnsinnigen und insofern vollkommen disparat 537 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 62. 538 Das Stück erstreckt sich in der Erstausgabe von 1981 von Seite 24 bis Seite 114, folglich über eine Länge von 90 Seiten. Die diskutierte Stelle von Selbstauflösung bzw. -konstituierung, kulminierend im kämpferischen Ausruf »Provincetown Playhouse«, findet sich auf Seite 69, das heißt 45 Seiten nach der ersten Seite und insofern genau in der Stückmitte. 188 und inkohärent zu sein, andererseits beharrt es auf seiner Einheit, Kohärenz und Geschlossenheit. Eben dieser Zwischenzustand ist, von Chaurettes Werk abstrahiert, grundsätzliches Kennzeichen abyssaler Konstruktionen: Einerseits sprengt die mise en abyme den Text in unterschiedliche Sinn- und Stilebenen auf, und andererseits hält sie ihn durch eine Reihe von Binnenspiegelungen sowie durch die Reflexion der Genese und Poetologie des Gesamtwerkes zusammen. Über das Ende seines Theaterstücks Fragments d ’ une lettre d ’ adieu lus par des géologues sagt Chaurette: »[Elle = une pièce policière] s ’ achève par un monologue sur la question de l ’ âme, qui ne propose aucune solution à l ’ intrigue d ’ abord annoncée.« 539 Eine Lösung des Handlungsknotens wird weder in seinen anderen Werken noch in einer Vielzahl abyssaler Texte postuliert. In Le Petit Köchel heißt es über das Kind: »Il ne supporte pas les aboutissements. Il n ’ est tranquille que dans le recommencement perpétuel«. 540 In einer sich selbst generierenden Zyklizität wuchern sich (Chaurettes) abyssale Texte scheinbar eigenständig ins Nichtabschließbare aus. Autor(itäts)figuren werden obsolet, geraten, wie im Falle von Charles Charles, in den Sog der eigenen Fiktionen. 541 In einem Interview mit Pascal Riendeau äußert Chaurette über Provincetown Playhouse: »[J]e poursuis une histoire, je cherche un coupable, une conclusion.« 542 Auch der reale Autor weiß nicht, er verfolgt und sucht eine Geschichte, einen Schuldigen, eine Konklusion, die sich ihm, sonst müsste er sie nicht verfolgen, entziehen. Provincetown Playhouse stößt en abyme also 539 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 442; m. H. 540 C HAURETTE , Le Petit Köchel, 39. 541 In der Inszenierung der Têtes Heureuses (vgl. Anm. 484) wurde dieses Gefangensein in den eigenen Fiktionen auf interessante Weise verbildlicht: Nicht nur die Bühne, sondern der gesamte Theatersaal sowie dessen Zugang waren mit enormen Papierstreifen tapeziert, die den genauen Wortlaut von Provincetown Playhouse darboten. So befanden sich sowohl die Figuren und Schauspieler als auch die Zuschauer innerhalb des Textes. Die Szenen 18 und 19 waren mit großen weißen Papierbahnen verdeckt, die in Szene 18, als Charles Charles seine Intrige zu gestehen beginnt, abgerissen wurden (vgl. G ODIN , »Deux dramaturges de l ’ avenir? «, 114 f.; passim und H UFFMAN , »Mettre la scène en cage«, n. pag.). Das Verharren in eigenen Fiktionen ist in vielen der Texte Chaurettes zu beobachten, beispielsweise mit Blick auf Emile Nelligan, den Hauptprotagonisten in Rêve d ’ une nuit d ’ hôpital, die Verdi-Figuren in Je vous écris du Caire, Vanessa in Scènes d ’ enfants oder Joa in Fêtes d ’ automne. In La société de Métis wird dieses Phänomen insofern verbildlicht, als die vierköpfige société um Zoé Pé zunächst jeweils als Gemälde inszeniert wird, die Gemalten den Gemälden dann als Protagonisten entsteigen, das gesamte Stück hindurch auf sich selbst als Gemalte fixiert bleiben - sie wollen der Gemälde mit den eigenen Konterfeis unbedingt habhaft werden - und letztendlich wieder als Gemalte in ihrem Rahmen präsentiert werden. 542 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 439. 189 die Genese eines anderen Werkes an, dessen Entwicklung wiederum zur treibenden Kraft der Rahmenhandlung (und damit des Gesamtwerkes) wird. 6.7 Der Rezipient als Richter, der Richter als Rezipient 6.7.1 Der Künstler und sein Henker C HARLES C HARLES 38. J ’ ai écrit ma pièce tout en la jouant, pour un public venu spécialement pour me juger. (99) [La] naissance du lecteur doit se payer de la mort de l ’ Auteur. B ARTHES , »La mort de l ’ auteur« 543 Der Richter und sein juristisches Gefolge sind die Hauptrezipienten des Stückes en abyme, des Théâtre de l ’ immolation de la beauté. »Ils ont dû relire la pièce une dizaine de fois« (101), unterstreicht Charles Charles 19. Das juristische Rezeptionsverhalten und die dadurch provozierten illusionsinternen Reaktionen lassen sich als allegorisches Spiel verschiedener Methoden von Textrezeption lesen. Die Richter sind Richter nicht nur in juristischem Sinne, sondern sie sind zugleich Kunstrichter. Als solche beurteilen sie nicht nur das Théâtre de l ’ immolation de la beauté zwecks Verbrechensaufklärung, sondern zeitgenössische Kunstströmungen im Allgemeinen. 544 Analog dazu werden die fiktiven Zuschauer des Théâtre de l ’ immolation de la beauté als › aufmerksame Richter ‹ bezeichnet: »Winslow frappa du revers de son couteau les trois coups du début de la pièce. Puis le grand silence, le silence des juges attentifs, le silence froid et ordonné se fit« (51). In Chaurettes Passage de l ’ Indiana zieht die Autorin Martina North Richter, Prozess und Urteilsspruch (als Be- und Verurteilung) auf engstem Raum zusammen: »Juge? Donc procès? Donc jugement? « 545 Die juristische Herangehensweise, die wiederum von Charles Charles, Alvan und Winslow nachgespielt wird, erscheint von Anfang an grob und beschränkt: Beschlagnahmung des Theatertextes, öffentliche Lektüren zur Befriedigung von Schaulustigen, Kommentare trotz mangelnder Befähi- 543 B ARTHES , Le bruissement de la langue, 67. 544 Beispielsweise den Surrealismus: »Ils ne sont pas les seuls, allez! Vous avez vu l ’ exposition des surréalistes au Musée d ’ Art moderne? [. . .] Vous l ’ avez trouvé, vous, le nu qui descend l ’ escalier? « (90 f.). 545 C HAURETTE , Le passage de l ’ Indiana, 22. 190 gung. 546 Die Richter legen Rezeptionsmechanismen an den Tag, die eine (parodiert) hermeneutische Einfärbung tragen: Es werden Informationen über den Autor eingeholt, 547 Versuche unternommen, ihn einer bestimmten künstlerischen Strömung zuzuordnen und Interpretationsentwürfe durch Meinungen aus unterschiedlichen (Fach-)Gebieten (wie Psychologie, Geisteswissenschaft oder Theologie) unterfüttert. Doch dabei sprechen die Juristen der reinen Textgestalt keine Autonomie zu, sondern fordern den Künstlern, die sie als klassische (und im Sinne Barthes ’ überkommene) Autoren bzw. Autoritäten zu verstehen scheinen, konkrete Beispiele ihrer Ästhetik und erklärbare Zusammenhänge ab. 548 Dabei ignorieren sie, dass sich weder Beispiele noch Zusammenhänge finden, wie der Autor vergeblich betont: »Y en a pas. À proprement parler, y en a pas« (36). Sie verstehen nicht, beharren auf Fragen, die sich (ironisiert) auch dem Rezipienten von Provincetown Playhouse stellen: Pourquoi alors avoir annoncé que le sac contenait un enfant? Pourquoi avoir décidé de représenter la pièce une seule fois? pourquoi écrire une pièce de théâtre sur un sujet si bizarre? pourquoi choisir le théâtre au lieu des ruelles? pourquoi cet enfant vous dérangeait tant, qu ’ avait-il fait? pourquoi il est dit en page 19 . . . pourquoi dixneuf coups de couteau? . . . (89) So gehört der außerfiktionale Rezipient, der sich eben diese oder ähnliche Fragen stellt, konzeptuell jener Gruppe von › Schwachköpfen ‹ (36) an, die, aus einer präfigurierten Erwartungshaltung heraus, das Stück begreifen und in einer bestimmten Lesart festhalten will. Wie in Rezas Une pièce espagnole ist auch der Rezipient in Provincetown Playhouse ignorant, voreingenommen und zynisch: Die Juristen messen Sachverhalten eine Bedeutung bei, die keine haben, tun dies selbstgerecht und dogmatisch. 549 Der Richter äußert unverhüllt, dass ihnen nicht daran gelegen ist, sich auf das Kunstwerk einzulas- 546 »Et puis ils ont été plus loin. Ils se sont emparés du texte de la pièce, ils en ont fait des lectures publiques pour l ’ auditoire qui regrettait de ne pas avoir été là le soir de la représentation. Le juge et les deux avocats qui lisaient ma pièce, c ’ est ce qui s ’ appelle trahir un auteur. . . eux qui étaient pas allés au théâtre trois fois dans leur vie, et en plus ils se permettaient des remarques . . .« (90). 547 »Moi, j ’ ai pris quelques notes sur son passé, ça pourrait peut-être vous éclairer« (90). 548 Ein Pendant zu den Richtern in Provincetown Playhouse ist die Untersuchungskommission in Chaurettes Theaterstück Fragments d ’ une lettre d ’ adieu lus par des géologues. Auch sie versucht auf umstrittene (und letztendlich erfolglose) Weise einen Tod, den des Geologen Toni van Saikin, aufzuklären. Vgl. zum (Text-)Verständnis vor der Folie von Fiktion, Lüge und Wahrheit: D UPONT , »Interprétation et quête de la vérité par la fiction« und D ION , Le moment critique de la fiction, 89 - 111. 549 »Je vous l ’ ai dit cent fois . . . aucun rapport! vous attachez de l ’ importance aux choses qui n ’ en ont pas« (95), betont Winslow. 191 sen, 550 sondern sie sich schlichtweg verweigern: »Eh bien, je m ’ oppose à cette histoire« (47). In der Notwendigkeit, die › (Kriminal-)Geschichte ‹ 551 dennoch zu fassen und einen Schuldigen zu benennen, versuchen die Richter-Rezipienten, die naturgemäß hermetische Fiktion des Théâtre de l ’ immolation de la beauté vor der Folie ihrer realen Hintergründe zu erfassen und damit, was der Dynamik des Gesamtstückes diametral entgegenläuft, Fiktion und Faktizität verbindlich zueinander in Beziehung zu setzen. Dies zieht die folgende Beweisführung nach sich: Winslow, dazu liegen Zeugenberichte vor, hatte sich am Nachmittag der Uraufführung in eine Schlägerei verwickeln lassen; sein Gegner war, wie auch das einige Stunden später im Zuge des Theaterstückes erstochene Kind, von schwarzer Hautfarbe. Juristisches Ergo: Winslow hat vorsätzlichen Kindsmord begangen, sein Motiv ist Rassismus. Ein gewaltbereiter Rassist ersticht mithilfe eines Freundes ein schwarzes Kind und dies im Beisein von 150 Zuschauern bzw. Zeugen. Dank dieser Beweisführung machen die Juristen das › crime inqualifiable ‹ gewaltsam › qualifiable ‹ , 552 konterkarieren, dass »das Nichtverstehen sich niemals gänzlich auflösen will«. 553 Verglichen mit Rezas Une pièce espagnole radikalisiert sich die Borniertheit des fiktionalen Rezipienten: Die Richter verstehen die ihnen vorliegende Geschichte, koste es, was es wolle, als kohärent und handlungsorientiert. Dabei ignorieren sie, dass jede Replik für sich genommen zwar »pleine de bon sens« (36) sei, ihr Zusammenziehen in einen Gesamtkontext das Stück aber als »l ’œ uvre d ’ un fou« (36) entlarve. Es wird also deutlich, dass sich die Juristen gewissermaßen gegen die für das Stück so essenzielle Wirkungsmacht der cohérence fautive sperren und sie einseitig, zugunsten einer vermeintlichen › Kohärenz aus Schuld ‹ determinieren. Da sich die cohérence fautive aber nicht ohne weiteres auflösen lässt, stehen die selbst ernannten Anwälte von Realität und Wahrheit ihrerseits vor der Notwendigkeit, Illusion zu erzeugen. Sie stellen sich in einer Mischung aus › Erfinden ‹ , › Verwechseln ‹ und › Interpretieren ‹ ihre eigene Geschichte zusammen: »Inventez des preuves«, konstatiert der Hauptverdächte Winslow, »je m ’ en fous. Continuez de confondre, d ’ interpréter, c ’ est ce que vous faites 550 Dieses Unverständnis auf Seiten der Rezipienten hatte Charles Charles schon im Vorfeld befürchtet: »Vous savez, j ’ ai vécu des angoisses abominables en écrivant ma pièce. Par moment, j ’ ai été assailli des doutes les plus effrayants: est-ce qu ’ ils vont s ’ apercevoir que le théâtre est devenu de moins en moins accessible . . .? « (59). 551 Die stückinterne Realität wird bezeichnenderweise als › Geschichte ‹ bezeichnet: »Toute cette histoire est gouvernée au départ par l ’ ignorance« (96; m. H.). 552 »De toute l ’ histoire, votre crime restera l ’ un des plus ignobles, des plus . . . inqualifiables« (92; m. H.). Zu bedenken ist auch die Doppeldeutigkeit von inqualifiable: › abscheulich ‹ und › unklassifizierbar ‹ . 553 S CHLEIERMACHER , Hermeneutik und Kritik, 328. 192 depuis le début« (95); wobei ihre Gier nach einer › prestigeträchtigen ‹ , › interessanten ‹ und › bedeutenden ‹ Geschichte durch den vermeintlich rassistischen Hintergrund des Verbrechens, den sie sich eigens konstruieren, befriedigt werde: »Heureusement pour vous qu ’ il était noir, monsieur le juge! Ça donne du prestige. Ça rend l ’ affaire intéressante, ça prend des proportions« (95). Das Erfundene führt, nachdem sich die Rezipienten hinreichend mit ihrer eigenen Rezeption › amüsiert haben ‹ (91) über ein definitives Gerichtsurteil zur Hinrichtung zweier Unschuldiger. Eben dies, ein Erfinden um jeden Preis, wird auch den Verdächtigen abverlangt. Die (Kunst-)Richter bedrängen die Angeklagten zwei Jahre lang, ihrerseits eine kohärente Geschichte zu produzieren: Il nous fallait répondre, tout dire, au besoin il fallait inventer. . . ils toléraient aucun silence, il fallait toujours qu ’ on raconte, c ’ était assommant, à la fin on ne savait plus rien, et eux, ils arrivaient mal à comprendre, et nous aussi, parfois c ’ était le fouillis total. (89) Ein unerhört hohes Maß an Explizitheit, ein ständiger Zwang, auseinander zu legen, Stellung zu beziehen, zur Not mit Erdachtem, führe dazu, dass sich beide Seiten, Produzent wie Rezipient, verlören und einem »fouillis total« (m. H.) ausgesetzt seien: eine verhängnisvolle Wechselwirkung, die sich nicht nur fiktionsimmanent auf Richter, Angeklagte und ihre Fiktionen, sondern gleichsam auf Rezipient, Autor und Provincetown Playhouse beziehen lässt. Provincetown Playhouse bekennt sich in der en abyme durchgespielten Diskreditierung einer erzwungenen und schematischen Rezeptionshaltung zu seiner semantischen und strukturellen Offenheit, die es durch Selbstreflexivität, cohérence fautive, Grenzverwischungen, Bewusstseinsstörung bzw. spaltung und Zyklizität verschiedenartig durchspielt. Im Zuge dessen scheint Provincetown Playhouse weitere Anklänge an wichtige Diskussionen der 1970er Jahre in Szene zu setzen bzw. vorwegzunehmen, und zwar Wolfgang Isers Gedankenfigur einer › Leerstelle ‹ . 6.7.2 › J ’ ai un blanc. ‹ Leerstellen en abyme C HARLES C HARLES 19. Qu ’ avez-vous fait entre six et sept? W INSLOW . C ’ est impossible . . . j ’ ai un blanc . . . (103) Das Rezeptionsverhalten der Richter und damit der Konflikt zwischen (innerer) Offenheit und (äußerer) Fixierung wird als Schwarz-Weiß-Motivik verhandelt. Das erstochene Kind ist schwarz, seine Mörder weiß. Von hier aus 193 entwickelt der Gerichtshof seine eklatante Fehlrezeption. Doch nicht allein die schwarze Hautfarbe des Kindes Frank Anshutz ist ausschlaggebend für die Verurteilung der Angeklagten. Erst das Zusammendenken einer schwarzen und einer weißen Beweislast führt zur Hinrichtung der Angeklagten: »Nous avons des preuves [. . .] L ’ enfant était noir« (93) sowie »Comment ils ont réussi à le prouver? Je vous le donne en mille: à cause d ’ un blanc« (103). Auf Handlungsebene bedeutet das blanc ein fehlendes Alibi. Dieses ist allerdings nicht einfach als fehlendes Alibi, sondern als Gedächtnislücke der Schuldigen konzipiert: Alvan und Winslow geben vor, sich nicht mehr daran erinnern zu können, womit sie zur Tatzeit, während der Entführung und Betäubung des Kindes, zwischen 18 und 19 Uhr am Tage der Uraufführung, beschäftigt waren. Diese angebliche Gedächtnislücke - Alvan und Winslow, so beobachtet Charles Charles 19, liegen zum fraglichen Zeitpunkt schlafend nebeneinander - trägt nicht die idiomatische Bezeichnung › trou de mémoire ‹ , sondern eine nur in Québec übliche, ambivalente Schwesterform: »j ’ ai un blanc [de mémoire]« (103). 554 Die Richter verhalten sich schon von Berufs wegen konträr zu potenziellen blancs. Deshalb setzen sie alles daran, die blancs zu füllen: Sie pressen Theatertext und -aufführung des Théâtre de l ’ immolation de la beauté gewaltsam in von außen herangetragene Klassifizierungen, schneiden ab, was übersteht - »Cette réplique, ici en page 8, elle me gêne terriblement« [. . .] »Bof! Sautez-la! « (91) - und füllen gewaltsam aus, was (angeblich oder tatsächlich) Lücken enthält: Winslow hat das schwarze Kind zwar getötet, aber nicht als Rassist wie die Juristen postulieren, sondern (unwissend) als Schauspieler. Er verschweigt seine Beschäftigung zur Tatzeit der Entführung, zwar weil er sich schuldig gemacht hat, aber nicht durch einen Kindsmord an Frank Anshutz, sondern durch den Verrat an Charles Charles. Eine konträre Haltung wird anhand der Tatverdächtigen Alvan und Winslow vorgeführt: Das blanc wird weiß gehalten. Angesichts ihrer drohenden Exekutierung spielen die beiden Hauptverdächtigen zwar mit der Möglichkeit, ihr blanc zu füllen, es wie die anderen Protagonisten mit einer imaginierten Geschichte zu beschreiben: Zum fraglichen Zeitpunkt habe Winslow eine »envie folle« (105) verspürt, den Sonnenuntergang zu zeichnen, 554 In Le Petit Robert 2012 ist »blanc de mémoire« als schweizer und kanadischer Regionalismus »Trou de mémoire« verzeichnet (263). Jean-Cléo Godin, emeritierter Literaturprofessor der Université de Montréal und selbst gebürtiger Québécois, hält die Formulierung »blanc de mémoire« aber interessanterweise für eine »expression fautive [. . .] précisément pour permettre ces jeux d ’ opposition« zwischen Schwarz und Weiß (G ODIN , »Deux dramaturges de l ’ avenir? «, 114; m. H.). Abermals deutet sich also die dem Stück inhärente Wirkungsmacht einer cohérence fautive zwischen Kohärenz (Quebecismus) und Fehler (»expression fautive«) an. 194 Alvan sei der Wunsch gekommen, ein Fotoalbum zur Hand zur nehmen. Es wird deutlich, dass Alvan und Winslow nicht nur Geschichten produzieren könnten, sondern dass die Geschichten selbst - künstlerische Produktion bzw. Rezeption - wiederum zwei Hauptstränge sowohl in Provincetown Playhouse als auch abyssaler Texte im Allgemeinen widerspiegeln. In ihren konjunktivischen Spekulationen darüber, womit sie sich hätten beschäftigen können, materialisieren sie ihr geistiges blanc zu einem weißen Blatt Skizzenpapier bzw. zu einem Album (lat. albus: › weiß ‹ ) und insofern auch materiell zu einem › Weißen ‹ . Dieses Weiße wird aber letztendlich nicht durch › irgendetwas Erfundenes ‹ geschwärzt: »Il y avait pourtant un tas de choses à faire entre six et sept, un soir de juillet . . . Ils auraient pu inventer, n ’ importe quoi . . . mais ils ont préféré se taire« (107). Obgleich man ihnen zwei Jahre lang tagtäglich die Möglichkeit dazu gibt, was wiederum auf einer der abyssalen Ebenen nachgespielt wird, lassen sich Alvan und Winslow nicht auf eine kohärente Geschichte festlegen, und werden infolgedessen, so eine mögliche Lesart, von einer dies nicht tolerierenden Geisteshaltung zum Tod verurteilt. Hinter dem Zusammenspiel von noir et blanc steht ein breites Spektrum an möglichen farbsymbolischen Ausdeutungen. Der wohl augenscheinlichste Bezug besteht zwischen den beiden Verurteilten und blanc in der Bedeutung von › Unschuld ‹ . An dieser Stelle soll das Festhalten der Unschuldigen am blanc aber nicht moralisch - haben Alvan und Winslow tatsächlich eine › weiße Weste ‹ ? - sondern als (rezeptions-)ästhetisches Postulat überdacht werden. In Provincetown Playhouse bezeichnet das blanc nicht nur einen geistigen Aussetzer - auf Englisch, Chaurettes zweiter Sprache, 555 und in der Dynamik der cohérence fautive bezeichnenderweise mit blackout übersetzbar - , sondern evoziert gleichzeitig einen weißen Fleck im Gedächtnis, eine Gedächtnislücke oder einfach eine Leerstelle. Der Begriff der Leerstelle ist eine Grundkonstituente in Wolfgang Isers Rezeptionsästhetik und wird auf Französisch häufig mit blanc (du texte) wiedergegeben. 556 Leerstellen in literarischen Texten sind, so Iser, »keineswegs, wie man vielleicht vermuten könnte, ein Manko, sondern bilden einen elementaren Ansatzpunkt für seine Wirkung«. 557 Sie sind insofern die »Gelenke des Textes«, als sich in ihnen die verschiedenen Textsegmente in einer potenziell freien Bewegung zusammenfügen lassen. 558 Leerstellen enthalten das künstlerische Potenzial eines literarischen Textes, da 555 Normand Chaurette ist als gebürtiger Québecer ebenso frankowie anglophon. 556 Vgl. insbesondere I SER , L ’ acte de lecture, v. a. 317 - 398. In einigen seiner auf Englisch verfassten Texte spricht Iser von vacancy oder blank (vgl. z. B. I SER , »Interaction between Text and Reader«). 557 I SER , »Die Appellstruktur der Texte«, 235. 558 I SER , Der Akt des Lesens, 284. 195 erst sie einen semantischen Mehrwert und insofern Vieldeutigkeit ermöglichen. Leerstellen offerieren »Auslegungsspielraum« und appellieren damit an den Leser, diesen Raum auszufüllen: 559 Der Leser wird die Leerstellen dauernd auffüllen beziehungsweise beseitigen. Indem er sie beseitigt, nutzt er den Auslegungsspielraum und stellt selbst die nicht formulierten Beziehungen zwischen den einzelnen Ansichten her. 560 Die Richter, die sich den fiktionsimmanenten Leerstellen am eifrigsten widmen, füllen auf, beseitigen, stellen Beziehungen her. Doch unterminieren sie damit die an den impliziten Leser gestellte Rezeptionsaufgabe: Denn sie füllen die Leerstellen nicht in einem prinzipiell unabschließbaren Interpretationsprozess »dauernd«, nicht je nach Lektürevorgang zu immer anderen, einander auch widerstreitenden, Sinngefügen auf, sondern betonieren sie einmalig und dogmatisch in einer einzigen Lesart fest, die mit der »Mannigfaltigkeit von Ansichten« 561 kurzen Prozess macht. 562 Die eigentlich zu fördernde »Kompositionsaktivität des Lesers« 563 bzw. des Rezipienten wird insofern ad absurdum geführt, als die »Kombinationsnotwendigkeit« letztlich einer intensiv verfolgten doktrinären »Komplettierungsnotwendigkeit« weichen muss. 564 Die Richter entwerfen »einen Illusionszusammenhang der dargestellten Wirklichkeit« und zerstören damit »das Potential ihrer Vorstellbarkeit«, dessen »Einlösung zu einer Aktivität des Lesers« hätte werden sollen. 565 Damit illustrieren sie auf ironische Weise »die Zumutung, die ihm [dem Rezipienten] mit der völligen Vorentschiedenheit eines solchen Textes abgefordert wird.« 566 Die Leerstellen bzw. Freiräume dürfen nicht länger als 559 I SER , »Die Appellstruktur der Texte«, 235; passim. Dadurch konstituiert der Leser, so Bougault, den › ästhetischen Effekt ‹ eines Kunstwerkes mit: »Autrement dit, à travers les blancs du texte, le lecteur est investi du pouvoir de constitution de l ’ effet esthétique. Cette responsabilité lectoriale que nécessite le texte fictionnel, est absente dans les autres écrits et devient donc problématique« (B OUGAULT , »Le rôle des blancs«, n. pag.). 560 I SER , »Die Appellstruktur der Texte«, 235. 561 Ebd. 562 Auch Rezas »Art« spielt deutlich mit den Implikationen einer Leerstelle und den unterschiedlichen Möglichkeiten, sie rezeptionsästhetisch auszufüllen. Im Mittelpunkt des Gesamtstückes steht ein weißes Gemälde: »C ’ est une toile d ’ environ un mètre soixante sur un mètre vingt, peinte en blanc. Le fond est blanc et si on cligne des yeux, on peut apercevoir de fins liserés blancs transversaux« (Théâtre, 195). Auf dem Höhepunkt der Dramenhandlung zeichnet eine der Hauptfiguren, Marc, »sur une pente un petit skieur avec un bonnet« (ebd. 249) auf das Gemälde. Bezeichnenderweise verwendet er, wenn auch ohne es zu wissen, einen abwaschbaren Filzstift. Vgl. zum blanc im Werk bei Gide u. a.: G RAF -B ICHER , Funktionen der Leerstelle. 563 I SER , Der Akt des Lesens, 288. 564 Ebd. 284. 565 I SER , Der implizite Leser, 356f. 566 I SER , Der Akt des Lesens, 296. 196 leer oder frei angezeigt bleiben, und die › Gelenke des Textes ‹ drohen, sofern sich der Rezipient der Lesart der Richter anschließt, einzurasten. Insofern könnten sie als Negativfolien zu leistender Interpretationsaktivität verstanden werden. Was sich in Rezas Une pièce espagnole bereits andeutet, tritt in Provincetown Playhouse also vergleichsweise deutlich zu Tage: Der abyssale Text fordert seinen Betrachter zu ganz unterschiedlichen und dezidiert unvoreingenommenen Stellungnahmen heraus. Rezipienten, die sich gegen diese Offenheit sperren, können in den Strukturen der mise en abyme besonders nachdrücklich diskreditiert werden. Provincetown Playhouse setzt die Leerstelle in Form des verhängnisvollen »j ’ ai un blanc« (103) nicht nur explizit, sondern auch illusionsimmanent in Szene. Dies zeigt ein Blick hinter das als blanc Kaschierte und damit auf das Verhältnis zwischen Alvan und Winslow; auf Handlungsebene fungiert es als Ausgangspunkt der dramatischen Dynamik: Charles Charles 19 entdeckt den an ihm verübten Treuebruch, bleibt dabei selbst unerkannt, entführt daraufhin Frank Anshutz, um ihn durch die untreuen Gefährten töten zu lassen. Ein sexueller Akt zwischen Alvan und Winslow wird dabei angedeutet, nicht aber ausgesprochen. Vielmehr verbirgt er sich - erinnert sei an den Gedankenstrich in Kleists Marquise von O . . .. - hinter Auslassungspunkten und insofern hinter visualisierten Leerstellen: 567 C HARLES C HARLES 19. Dis qu ’ est-ce que tu as vu! C HARLES C HARLES 38. Winslow. Et puis Alvan. Tous les deux. Dans la chambre. Ils faisaient que dormir. . ., dans le silence, ma foi ils souriaient . . . une tendresse qui m ’ a fait plus mal que si j ’ avais vu autre chose . . . ce soir-là, l ’ immolation de la beauté . . . et moi qui croyais . . . qui croyais que Winslow. . . Un temps. (109) So lässt sich das Verhältnis von Alvan und Winslow als unausgesprochenes begreifen 568 und erinnert damit an Isers Umschreibung einer Leerstelle als »nicht formulierte«, »ausgesparte« oder »ausgefallene Beziehung«. 569 Analog zu diesen Leerstellen vollzieht sich auch der Kindsmord, Dreh- und Angelpunkt der Gesamtkomposition: Er schimmert allein durch drei Auslassungspunkte hindurch: »Et puis il y a eu la fin . . . j ’ allais dire › si inattendue! ‹ . . .« (71). In der unmittelbar folgenden Äußerung wird die Kindstötung bereits als 567 Bougault spricht in seiner Analyse moderner Lyrik in diesem Fall von »blancs typographiques« (B OUGAULT , »Le rôle des blancs«, n. pag.). 568 An diesem Punkt wird das genderorientierte Interesse an Provincetown Playhouse verstehbar: Homosexualität ist in literarischen Texten der frühen 1980er Jahre Québecs ein weiteres Novum. Als gesellschaftlich tabuisiert ist es unaussprechbar und insofern zwangsläufig ein blanc. 569 I SER , »Die Appellstruktur der Texte«, 235 sowie Der Akt des Lesens, 284 f. 197 vollzogen dargestellt. 570 Es wird deutlich, dass sich apodiktische Rezeptionshaltungen - sowohl jene von Charles (Alvan und Winslow seien Liebhaber) als auch jene der Richter (die Schuldigen hätten das Kind aus rassistischen Motiven getötet) - in plakativ und sogar graphisch offen gehaltene Leerstellen einschreiben, was in beiden Fällen fatale Konsequenzen nach sich zieht: insgesamt drei Mordfälle. Dieses Morden lässt sich insofern vom Handlungsverlauf abstrahieren und allgemein auf Rezeptionsprozesse übertragen, als Interpretation immer auch › Mord ‹ an Bedeutungen ist: Die Bedeutungsvielfalt, die jedem Text innewohnt, wird durch das Interpretieren und Exponieren ausgewählter Bedeutungen zerstört. Nicht nur Provincetown Playhouse, sondern viele abyssale Texte entfalten sich als Kunstwerk vor den Augen des innerwie außerfiktionalen Rezipienten und binden diesen auf sehr facettenreiche Weise in ihren Entfaltungsprozess ein. Die Vielschichtigkeit aus fehlerhaften und widersprüchlichen, aus dunklen, verschachtelten und nicht greifbaren Texten hindert den Rezipienten daran, sich in einer Sichtweise einzurichten, in der bestimmte Werkaspekte als gegeben und fest lokalisierbar erachtet werden. Vielmehr verlangt jeder einzelne Text, ihn in verschiedenen Interpretationen immer wieder neu und anders zu durchlaufen. Mit Barthes gesprochen ist »l ’ espace de l ’ écriture [. . .] à parcourir, il n ’ est pas à percer; l ’ écriture pose sans cesse du sens mais c ’ est toujours pour l ’ évaporer«. 571 Barthes ’ Semantik materialisiert sich in Provincetown Playhouse auf zweifache Weise: Der Sack ist letztendlich nicht einmalig zu durchstechen (trans-percer), sondern allabendlich neu und anders zu füllen, womit ein ständiges › Durchqueren ‹ verschiedener Darbietungen und Textfassungen einhergeht. Darüber hinaus lässt eine jener Utensilien, mit denen Charles Charles den Sack in seinem Psychiatriestück füllt, tatsächlich, wie Barthes formuliert, › Sinn abdampfen ‹ : »Quand le tracteur faisait marche arrière, il faisait tchouk-tchouk et il lui sortait de la vapeur, on le confondait avec une locomotive! « (100) »Messieurs j ’ aimerais que vous alliez plus loin«, heißt es leitmotivisch in Chaurettes Theaterstück Fragments d ’ une lettre d ’ adieu lus par des géologues. 572 Der Rezipient muss sich (interpretatorisch) bewegen, die Texte (und manchmal auch die Rezipienten en abyme) machen es ihm vor: Es gilt also gerade 570 »Mesdames et messieurs, le théâtre auquel vous avez assisté ce soir vous a pris à témoin du sacrifice de la beauté. Nous l ’ avons éventré de dix-neuf coups de couteau, sous vos yeux. Retournez chez vous, la comédie est finie« (72). 571 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 66; m. H. 572 C HAURETTE , Fragments d ’ une lettre d ’ adieu lus par des géologues, 48; m. H. 198 nicht das Credo »Les retardataires ne seront pas admis à la représentation«, 573 im Gegenteil, sie konstituieren das Stück, indem sie durch ihre Bewegung des Neu-Ankommens ein Verharren im interpretatorischen Sich-Angekommen- Glauben unterminieren. 574 Erinnert sei an die Programmatik des internierten Charles Charles: »[Ma] pièce recommence continuellement« (99). Das Einmalige, das Spektakuläre, das Nicht-Realisierbare, dezidierte Hauptkonstituenten des Théâtre de l ’ immolation de la beauté von 1919, fügen sich seit 1919 in die Endlosschleife des Psychiatrie-Stückes und unterwerfen sich damit der Reflexion. Dabei bringt es Provincetown Playhouse mit sich, dass jedes neue Durchlaufen der Schleife eine anders akzentuierte Lesart des Stückes anbietet. Wie der Rezipient damit umgeht, steht auf einem anderen Blatt, seine Reaktionen werden aber gleichzeitig im Text selbst antizipiert: Au septième tableau, la salle se viderait, ça allait de soi . . . Il fallait trouver autre chose que des rituels. Le public déteste les rituels. Alors j ’ ai décidé d ’ écrire un coup de théâtre prodigieux! (59 f.) Die Zuschauersäle haben sich während der Inszenierungen einiger Stücke Chaurettes (trotz oder gerade wegen aller ironischen und en abyme inszenierten Präventivmaßnahmen) tatsächlich geleert. 575 Auch Provincetown Playhouse war weniger ein Publikumsmagnet denn ein Achtungserfolg unter Theaterkritikern und Literaturwissenschaftlern. Und gleichzeitig befriedigt das Stück die Sensationslust eines innerwie außerfiktional mit Boykott drohenden Publikums doch: als »coup de théâtre prodigieux! Sublime! Inouï! « (60), u. a. mit Psychiatrie, homosexueller Dreiecksgeschichte, Betrug, Rache, pervers eingefädeltem Mord und Entlarvung der › vertrauten Erzählerfigur ‹ als Täter. 576 573 Dies ist, wie auf der Homepage vieler Theater bzw. Ticketbörsen nachzulesen ist, eine gängige Floskel bezüglich der Eintrittsmodalitäten in den Theatersaal. 574 Potenzielle Lesarten stellt Loiselle einander resümierend gegenüber: »The power of Chaurette ’ s play rests mainly in its ability to suggest many interpretations. Seen by some as a play about the social persecution of homosexual artists, by others as a study of relationship between art, reality and madness, it is perceived by yet other observers as either a pure aesthetic object or a clever parody of avant-garde theatre« (L OISELLE , »Paradigms of 1980 ’ s Québécois and Canadian Drama«, 94). 575 Während der Aufführungen von Chaurettes Theaterstück Fêtes d ’ automne, die sich nur einige Monate vor jener von Provincetown Playhouse im Jahre 1982 vollzogen, verließ das Publikum den Theatersaal sogar »massivement« (R IENDEAU , »Fêtes d ’ automne«, 375). Für die Zuschauer gilt offensichtlich dasselbe wie für die Leser; insgesamt wird Chaurette immer wieder als »auteur qui ne cesse de déstabiliser son lectorat« beschrieben (B ÉRARD , »Regards et jeux dans l ’ espace théâtral«, 50). 576 Dieser Kunstgriff ist auch in der Unterhaltungsliteratur sehr beliebt. In Agatha Christies Roman The Murder of Roger Ackroyd (1926) stellt sich Dr. Sheppard, der Ich-Erzähler und scheinbar vertrauenswürdige Assistent von Hercule Poirot, schließlich als gesuchter 199 Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis zur eigenen Wirkung und Rezeption weist auch Jean Genets Les Nègres auf. Dabei zeigt sich, wie bereits von Une pièce espagnole zu Provincetown Playhouse, eine erneute Radikalisierung der Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme. Während die mise en abyme in Une pièce espagnole das konfliktive und zugleich schöpferisch-produktive Verhältnis von Realität und Fiktion, dynamischer Kreation und abgeschlossenem Kunstwerk, von autoritärer Konzeption und freier Selbstgenese sowie von Kunstwerk, Inszenierung und Rezeption vergleichsweise spielerisch in Szene setzt, intensivierten sich diese Spannungen in Chaurettes Provincetown Playhouse im Zuge der cohérence fautive erheblich; dabei verschärft sich sowohl die Auseinandersetzung mit dem Wirkungs- und Funktionspotenzial von (eigener) Literatur und theatraler Inszenierung als auch, analog dazu, der kulturpolitische Außenbezug zu Publikumserwartung und literarischem Zeitgeist. Genets › Neger ‹ gehen, indem sie die mise en abyme politisieren, noch einen Schritt weiter, und zwar in beide Richtungen, nach innen wie nach außen: Obgleich (oder gerade weil) dezidiert soziopolitische Inhalte verhandelt werden, lösen sich referentielle Anhaltspunkte in einem exzessiven Illusionsspiel vollkommen in Nichts auf. Mörder heraus. Eine neuere Variation dieses unzuverlässigen Erzählens lieferte 2003 der amerikanische Kriminalautor Dennis Lehane mit seinem - 2009 von Martin Scorsese verfilmten - Thriller Shutter Island. Hier wird schließlich angedeutet, der Hauptprotagonist Edward Daniels sei derselbe Mann, den er die Romanhandlung hindurch zu finden versucht: Andrew Laeddis, den Mörder seiner Frau. Dieses sich für den Rezipienten spektakulär offenbarende › Aha-Erlebnis ‹ - von Dr. Sheppard, Edward Daniels oder Charles Charles die Gesamthandlung hindurch getäuscht worden zu sein - steigert offensichtlich das Vergnügen an der Fiktion und offenbart deren Wirkungsmacht. 200 7. Jean Genets Les Nègres 7.1 › Nous ne sortirons jamais de ce bordel. ‹ 577 Gefangen in der Ebenenkonstruktion F ÉLICITÉ . Blancs? Non, noirs. Noirs ou blancs? Ou bleus? Rouges, verts, bleu, blanc, rouge, vert, jaune, que sais-je, où suis-je? (515) 578 H INZE . Nehmen Sie sich doch zusammen, das ganze Stück bricht sonst in tausend Stücke. T IECK , Der gestiefelte Kater 579 Les Nègres, 1957 publiziert und am 20. Oktober 1959 in einer Aufsehen erregenden Inszenierung von Roger Blin am Théâtre de Lutèce in Paris uraufgeführt, gilt als Genets »schwierigstes und umstrittenstes Stück«. 580 Dies liegt vor allem darin begründet, dass es einen Stoff verhandelt, der vor dem Hintergrund überkommener Machtansprüche und drängender Entkolonialisierungsbestrebungen 581 sowie der einflussreichen Bewegung der Négritude, 582 577 G ENET , Le Balcon, in: ders., Théâtre complet, 313. 578 Die im Fließtext in Klammern gesetzten Seitenzahlen beziehen sich auf Genets Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 471 - 542. 579 T IECK , Schriften, Bd. VI, 542. 580 N IEVERS , »Les Nègres«, 434. Genets Werk wurde in der Forschungsliteratur bereits ausführlich und unter verschiedensten Blickwinkeln untersucht (vgl. Urban, Der Raum des Anderen, 127). Allein Webbs Bibliographie, Jean Genet and his Critics (1982), verzeichnet bei ihrem Erscheinen knapp zweitausend Titel. Da sich im Jahr 2010 Genets Geburtstag zum hundertsten Mal jährte, und dieses Ereignis vielerorts durch Konferenzen begangen wurde, erschien gerade in jüngster Zeit eine Reihe weiterer Studien. Eine Aufarbeitung der mise en abyme in Genets Werk steht allerdings noch aus. 581 1960, fast zeitgleich mit der Uraufführung von Les Nègres, erlangten 16 afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit von früheren Kolonialmächten (vgl. S HIPWAY , Decolonization and its Impact, 199; bezüglich der Folgen der Entkolonialisierung für die französische Gesellschaft und der Ausgrenzung der Schwarzen: L AVERY , The Politics of Jean Genet ’ s Late Theatre, v. a. 137 - 142). 582 Vgl. insbesondere: S ENGHOR , Négritude et Humanisme, C ÉSAIRE , Discours sur le colonialisme sowie F ANON , Peau noire, masques blancs und Les Damnés de la terre. 1956, parallel zur Redaktion von Les Nègres, fand in Paris der erste Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler sowie die Gründung der ersten schwarzen Theatertruppe in Frankreich, Les Griots, statt (vgl. zu den Einflüssen der Négritude auf die Ästhetik Genets: C HILD - O LMSTED , »Black on White«). 201 einer ausgeprägten › Negrophobie ‹ 583 und der allmählichen Aufhebung der Rassentrennung von besonderer Brisanz war: die Vernichtung eines weißen Machtapparats durch schwarze Freiheitskämpfer. Was das Stück aber zu einer besonderen Herausforderung macht, ist die Verhandlung des sozial, politisch und ökonomisch brisanten Rassenkonflikts in äußerst ambivalenten mise-enabyme-Strukturen, was sowohl schwarze wie weiße Rezipienten irritierte. 584 Anders als in Rezas Une pièce espagnole oder Chaurettes Provincetown Playhouse entfaltet Les Nègres folglich eine politische mise en abyme, die trotz ihrer potenzierten selbstreferentiellen Bezüge offenbar nicht von › lebensweltlichen ‹ Belangen zu trennen ist: 585 »Of all Genet ’ s plays, The Blacks treats social and political issues - racism and colonialism - most frontally.« 586 Dadurch erweitern sich die Perspektiven auf die Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme beträchtlich. 587 In Les Nègres potenzieren sich viele der bisher besprochenen Facetten der mise en abyme - Ebenenpluralisierung, problematisierte Bespiegelung poetischer Produktions- und Rezeptionsprozesse sowie von Text- und Aufführungsbedingungen, ästhetische Innovation, Paradoxien und autopoietische Dynamiken - ins Bodenlose: »Puisque nous sommes sur la scène, où tout est relatif« 583 L AVERY , The Politics of Jean Genet ’ s Late Theatre, 137. 584 Vgl. A PPLEFORD , »The Indian Act(ing)«, 113 sowie C HALAYE , Du Noir au nègre, 384 f. »Die Zuschauer wußten kaum, wie sie reagieren sollten«, schreibt Edmund White, der renommierte Genet-Biograph, »der Schönheit applaudieren, die Feindseligkeit auszischen oder in frostiger Ablehnung das Theater verlassen« (W HITE , Jean Genet, 532). Auch in den Reihen der vermeintlich unterstützten Schwarzen machte sich Empörung breit, da Genets Stück teilweise als konservativ, teilweise als fremd und verzerrend wahrgenommen wurde. Dieses Urteil wurde aber später insbesondere von poststrukturalistisch und kulturwissenschaftlich ausgerichteten Kritikern revidiert (vgl. L AVERY , The Politics of Jean Genet ’ s Late Theatre, 142 f. sowie 146 f.). 585 In der Terminologie von Wolfgang Matzat lässt sich Genets Les Nègres als eine Kombination aus › dramatischem ‹ , › theatralischem ‹ und › lebensweltlichem ‹ Theater verstehen: Der Zuschauer wird durch eine »dominant theatralische Vermittlung« (M ATZAT , Dramenstruktur und Zuschauerrolle, 53) zwar auf Distanz gesetzt, gleichzeitig aber lässt das Binnenstück eine Intrige, Identifikationspotenzial, einen ungewissen Handlungsverlauf und insofern auch einen »dramatischen Charakter« (ebd. 36) erkennen; darüber hinaus ist ein starker Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gegeben. Gleichzeitig aber handelt es sich bei Genets Les Nègres nicht um ein »Reflexionstheater« (ebd. 62) im Sinne Brechts. Diese Zuordnungsschwierigkeiten bzw. das Verschwimmen verschiedener Kommunikationsebenen ist stark mit der mise en abyme verknüpft, wie im Zuge der folgenden Ausführungen näher zu erläutern ist. 586 B RADBY / F INBURGH , Jean Genet, 146. 587 Vgl. zur Verbindung metatheatraler und politischer Implikationen: W OLF , »Spiel im Spiel und Politik«. Der Sammelband Macht von Birgit Haas versammelt aktuelle Perspektiven auf die zeitgenössische Verbindung von (Meta-)Theater und Politik. 202 (496), betont der Spielführer Archibald. Nichts und niemand hat absolute Gültigkeit, alles versinkt im › Sumpf ‹ (524) (meta-)theatraler Anarchie. 588 Dies unterscheidet Les Nègres von den zwei zuvor untersuchten Werken. Rezas Une pièce espagnole und Chaurettes Provincetown Playhouse spielen zwar in unterschiedlicher Intensität mit den Grenzen der eigenen Fiktion, sie lassen fiktionale Hauptstränge aber in letzter Instanz bestehen: Rezas Une pièce espagnole kann trotz aller Effekte von Metatheater und mise en abyme als eskalierendes Familientreffen und Provincetown Playhouse als eine (von einem Psychiatrieinsassen erzählte) homosexuelle Dreiecksaffäre mit tödlichem Ausgang rezipiert werden. Doch wie soll der Rezipient von Genets Les Nègres das Gesehene oder Gelesene in Worte fassen? Schauspieler spielen ausschließlich Schauspieler, es entsteht reine Reflexion: Schwarze Schauspieler spielen einen weiß maskierten Hofstaat, lassen aber hinter den weißen Masken deutlich ihre natürliche dunkle Hautfarbe erkennen; 589 dieser per se ambivalente Hofstaat will eine Gruppe von › Negern ‹ , bestehend aus noch schwärzer bemalten schwarzen Schauspielkollegen, die den Weißmaskierten ein Binnenspiel darbieten, verurteilen und hinrichten, wird aber in einen Hinterhalt gelockt, mit Knallerbsen erschossen und in die Hölle geschickt. Les Nègres baut zwar Fiktion(en) auf, beispielsweise den Mord am weißen Hofstaat sowie zuvor jenen an einer weißen Frau, doch scheinbar nur, um diese immer wieder zu zerstören. 590 Dabei sind es, anders als in den vorigen Werken, nicht mehr Figuren einer übergeordneten, vermeintlich › realeren ‹ Illusionsebene, die das Gespielte als Fiktion entlarven, sondern die Figuren selbst zersetzen beständig die eigene fiktionale Welt. So hält der Diener den Gouverneur, der seinen Text plötzlich von einem Notizzettel abliest, beispielsweise dazu an, seine Rolle besser vorzubereiten und anders zu spielen: »Apprenez votre rôle dans les coulisses. Quant à cette dernière phrase vous auriez tort de la lancer sur un ton de proclamation« (481). Dieses unmittelbare Aus-der-Rolle-Fallen oder die Demonstration eines der Figur eigentlich unangemessenen Wissens - »C ’ était un artifice pour leur faire savoir que nous savons« (481) - ist im metatheatralen Kontext nicht außergewöhnlich, 588 Dieser › Sumpf ‹ ist explizit mit einer Warnung der Nicht-Annäherung verbunden: »Ici le Nord, là, l ’ Est, l ’ Ouest, le Sud. Sur chacun de ces rivages, au bord du fleuve, dans les plaines, nos soldats sont tombés, n ’ approchez plus, c ’ est une fondrière . . .« (524). 589 Mit dieser auffälligen Kostümierung scheint Genet die bedeutende Négritude-Studie Frantz Fanons, Peau noire, masques blancs, zum Leben zu erwecken. Gemeinsamer Ausgangspunkt von Genet und Fanon ist die gezwungenermaßen unfrei (gegen die Weißen und ihre Vorurteile) erfolgende Identitätsfindung der › Neger ‹ (auch Fanon und die Bewegung der Négritude verwenden diesen Begriff; vgl. K RUGER , »Ritual into Myth«, 59). 590 Vgl. Z IEGLER , Jean Genet, 101. 203 sondern wurde und wird regelmäßig ausgestaltet. Was Les Nègres aber von vielen anderen selbstreferentiellen Stücken, inklusive den bisher untersuchten, unterscheidet, ist die Mannigfaltigkeit, Intensität und Unmittelbarkeit seiner Illusions(zer)störung. Die Frage nach einem Ursprung der Illusionen, nach einer Urillusion oder Urfigur, lassen Genets › Neger ‹ vollkommen ins Leere laufen. Um aus einer Rolle fallen zu können, so der Erwartungshorizont des Rezipienten, muss diese Rolle in ihren Konturen erfassbar sein. In Une pièce espagnole beispielsweise offenbaren sich die Schauspieler-Figuren der ersten und äußersten Illusionsebene (A CTEUR qui joue . . .) als Urfiguren, und in Provincetown Playhouse übernimmt Charles Charles 38 diese Funktion. Von diesen Figuren ausgehend entspinnen sich die verschiedenen Fiktionsfäden. Diese Fäden lassen sich, auch wenn sie sich noch so sehr ineinander verschlingen, doch auf einen Ursprung zurückführen. Dies gilt bedingt auch für Genets Stücke Le Balcon oder Les Bonnes, in denen das exponierte An- und Ausziehen der Figuren zumindest andeutungsweise Anfang und Ende verschiedener Fiktionen bzw. den Übergang der einen Figur (beispielsweise eines Kleinbürgers) in die andere (einen Bischof) markiert. Anders Les Nègres: »Je l ’ ai bien précisé: ce sont des Nègres et des comédiens. Ce n ’ est pas une pièce comme les autres«, schreibt Genet an seinen Verleger Barbezat. 591 Auf der Bühne, so lautet die Spielmaxime der › Neger ‹ , sei alles relativ, doch relativ wozu? Obgleich viele Illusionsebenen realer oder fiktiver als andere erscheinen, ist es unmöglich, die Facetten von Realität und Fiktion, die teilweise zu inhaltsvollen Geschichten ausgesponnen werden, präzise zu benennen, geschweige denn sie zu hierarchisieren. Eine ähnliche Beobachtung trat bereits in der Auseinandersetzung mit Chaurettes Provincetown Playhouse zu Tage. Doch der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Stücken lässt sich auf eine formelhafte contradictio in adiecto aus Provincetown Playhouse bringen: die cohérence fautive. Während sich Chaurettes Stück kontinuierlich mit einer Dynamik aus versuchter und nicht erreichbarer Kohärenz entfaltet, seinen letztendlichen Ankerpunkt aber zumindest im (wenn auch ambivalenten) Wahnsinn der Hauptfigur findet, aus der heraus das Stückuniversum einer › schuld-/ fehlerhaften Kohärenz ‹ und damit Poesie entwickelt wird, 592 lässt Les Nègres keinen Sachverhalt außerhalb von Fiktionspotenzierung und theatraler Irrationalität bestehen: »Ou nous continuons le simulacre, ou nous sortons« (510). So weist Les Nègres die vergleichsweise komplexeste Ausprägung spiegelnder Selbstreferentialität auf. 591 C ORVIN / D ICHY , »Notice«, 1188 (Brief vom 11. Juni 1956). 592 Vgl. Kapitel 6.2. 204 Die Hauptillusionsebene, eine Art Rahmenspiel, in dem acht schwarze Figuren sowie fünf weißmaskierte Vertreter eines kolonialen Machtapparats aus Königin, Gouverneur, Missionar, Richter und Diener interagieren, zergliedert sich wiederum in eine Vielzahl von schwächer oder stärker gezeichneten Illusionsebenen. Scheinbar › fiktivster ‹ Pol ist darin ein Stück en abyme, das von sechs der acht schwarzen Figuren bestritten wird. Es beginnt wie folgt: V ILLAGE , tout à coup furieux il semble s ’ élancer; fait un gale comme pour écarter tout le monde. Écartez-vous! J ’ entre. (506) Mit den Worten › Ich trete ein ‹ tritt die männliche Figur also ein: sowohl (mikrostrukturell) in den Spielraum des Binnenstückes, einen Laden, als auch (makrostrukturell) in das Binnenstück selbst. Im Moment des Eintritts in die › neue Welt ‹ 593 einer zweiten Spielebene übernimmt der Spielführer Archibald die Gesten eines Dirigenten, der die Einsätze seiner Truppe koordiniert. 594 Villages Worte sind performativ. Nicht, indem er eine Tür öffnet, sondern indem er sagt, › ich trete ein ‹ , tritt er ein. Wort ist Tat, und Tat ist Wort: »[Il] suffira que je m ’ en aille à reculons pour réussir l ’ illusion théâtrale de vous écarter de moi« (496), lässt Archibald die zur Flucht bereiten Figuren Vertu und Village wissen, um sich dann mit seiner Truppe umzudrehen, die Hände vor dem Gesicht. Darüber hinaus weist »J ’ entre« im Sinne von › Ich dringe ein ‹ auch schon auf den dramatischen Höhepunkt des Binnenstückes hin: Der eintretende (schwarze) Mann wird die hinter einem Tresen stehende (weiße) Frau vergewaltigen und anschließend töten. 595 Dieser Sexualmord ist umso bedeutender, als er sich allegorisch als Vernichtung der weißen › Rasse ‹ durch die schwarze vollzieht. Dies wird vor allem dadurch nahe gelegt, dass die Figuren keine Individuen, sondern plakativ › Rassen ‹ darstellen. Die weiße Frau, gespielt von Diouf, ist keine spezifische weiße Frau, sondern wird, bezeichnenderweise mit dem Namen Marie, als die weiße Frau par excellence karikiert; ihre Haupttätigkeiten beziehen sich auf Kirche und Haushalt. 596 Die 593 Diouf äußert kurz zuvor: »Je vais faire mes premiers pas dans un monde nouveau« (504). 594 Vgl. G ENET , »Pour jouer › Les Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 473: »Lorsque Village commence la tirade: › J ’ entre et je m ’ apporte . . . ‹ , Archibald prendra les gestes d ’ un chef d ’ orchestre, donnant la parole tantôt à l ’ un tantôt à l ’ autre.« 595 Aus anderer und immer mitgedachter Perspektive handelt es sich nicht um eine Vergewaltigung, sondern um einen beidseitig gewollten Akt. Da die Weiße, so eine eingestreute Information, den Schwarzen zu sich ins Schlafzimmer zieht (516) und ihr Mann außerdem als › Gehörnter ‹ bezeichnet wird (511), relativiert sich der dominante und gewaltsame Akt des Schwarzen genauso wie andere zentrale Ereignisse der Gesamtkonstruktion. 596 »Elle tricote, comme vous l ’ avez vu, des passe-montagnes, pour les petits ramoneurs. Le dimanche, elle chante à l ’ harmonium. Elle prie. (Au Masque: ) À genoux! (Il s ’ agenouille.) Les mains jointes. Les yeux au ciel. Bien. Priez! (Toute la Cour applaudit avec une élégante 205 universelle Gültigkeit der weißen Frau als weiße › Rasse ‹ wird dadurch untermalt, dass individuelle Gesichtszüge hinter einer plumpen weißen Maske verdeckt werden. Die Starre dieser weißen Maske trägt die Starre des inkarnierten Charakters äußerlich zur Schau. Die Figur ist reine Karikatur der westlichen Zivilisation: »l ’ Admirable Mère des Héros morts« (540). Vor Beginn des Binnenstückes bringt die weiße Frau den Hofstaat in Gestalt von Miniaturpuppen zur Welt. Dieser Geburtsakt, der eine materielle Spielform von mise en abyme produziert, gibt sie als eine Art Urmutter der Weißen zu erkennen; dies wird, wie bei Genet üblich, ironisch gebrochen, nicht nur per se durch das stehende Gebären von Hofstaat-Puppen, sondern auch durch derbe Kommentare der Betroffenen: »Et voilà! C ’ est debout que ma mère m ’ a chiée« (513), konstatiert beispielsweise die Königin. »Le Blanc est enfermé dans sa blancheur. Le Noir dans sa noirceur«, vermerkt Frantz Fanon mit Blick auf die starren Grenzen zwischen Schwarzen und Weißen. 597 Dieser Determinierung verleiht Genet theatralen Ausdruck. Das Verbrechen des › Negers ‹ Village an der weißen Marie ist die Tat des Schwarzen-Stereotyps an seinem weißen Pendant: »Ce n ’ est plus un Nègre que vous traînez à vos jupes, c ’ est un marché d ’ esclaves tirant la langue« (513). So stehen sich im Binnenspiel keine Individuen, sondern › Rassen ‹ gegenüber, die weiße als unter- und die schwarze als überlegene: »Il a tué par haine. Haine de la couleur blanche. C ’ était tuer toute notre race et nous tuer jusqu ’ à la fin du monde« (527), konstatiert der weiße Richter. Die vorgespielte Ermordung an einer Weißen, so stellt sich gegen Stückende heraus, war dazu vorgesehen, den Hofstaat von der sicheren Balustrade, die als europäischer Kulturraum konzipiert ist, hinunter zu den › Negern ‹ in das für sie unwegsame und verfängliche Gebiet des afrikanischen Urwaldes 598 zu locken. Dort angekommen, urteilt nicht wie vorgesehen der weiße Hofstaat über die schwarzen Mörder, sondern andersherum, der Hofstaat wird seinerseits gerichtet und ermordet. So verbinden sich das Rahmen- und das Binnenstück en abyme in mehrfacher und vielschichtiger Hinsicht: Beide Stücke folgen einem schriftlich fixierten Text (484), offenbaren einen rituellen Charakter, sind metatheatral, illusions(zer)störend und werden vor einem weißen Publikum aufgeführt. distinction.) - Elle réussit encore bien d ’ autres choses. Elle peint à l ’ aquarelle et elle rince les verres« (512). 597 F ANON , Peau noire, masques blancs, 27. 598 In der Szenenanweisung heißt es: »[T]rès doucement d ’ abord, puis de plus en plus fort, Les Nègres, presque invisibles sous le balcon, font entendre les bruits de la forêt vierge: le crapaud, le hibou, un sifflement, rugissements très doux, bruits de bois cassé et de vent« (523). 206 Beide inszenieren als finalen Höhepunkt die Ermordung der weißen › Rasse ‹ : das äußere Stück als Erschießen des westlich-kolonialen Machtapparats aus Monarchie, Militär, Justiz und Kirche und das innere als Ermordung der christlichen Urmutter Marie. So inszeniert Les Nègres in zweifacher Hinsicht die Urangst des weißen Kolonialisten: das Aufbegehren der unterdrückten Schwarzen und ihr gewaltsames Streben nach Unabhängigkeit, das mit der Eliminierung der weißen Unterdrücker einhergeht. Es scheint, als solle das Weiße im Zusammenwirken von Rahmen- und Binnenstück zweifach und endgültig vernichtet werden, sowohl im Jetzt-Zustand seiner gesellschaftlichen Konstitution als auch in der Zukunft seiner potenziellen Fortpflanzung. So zeigt ein erster Blick auf die Stückkonstellation, dass Genet sowohl die Fiktion als auch die Realität (einer der virulentesten soziopolitischen Auseinandersetzungen jener Zeit) potenziert in Szene setzt. Abgründiges Fiktionsspiel und realhistorischer Ernst sind direkt aufeinander bezogen, ohne dass erkennbar wäre, wo das eine aufhört und der andere beginnt. Dabei spiegeln sich die schwarz gemalten und weiß maskierten Hauptfiguren aus Binnen- und Rahmenstück sowohl ineinander als auch in den weißen und schwarzen Rezipienten ihrer Aufführungen. 7.2 Der Tod des Rezipienten P IERROT . Ich will einmal über die Lampen hinweg den berühmten Sprung vom Felsen Leukate in das Parterre hineintun, um zu sehen, ob ich entweder sterbe, oder von einem Narren zu einem Zuschauer kuriert werde. T IECK , Die verkehrte Welt, 574. Der ironisch konnotierte Sprung, den Tiecks Pierrot zwischen Bühne und Zuschauersaal und insofern mitten durch die › vierte Wand ‹ hindurch vollführen will, antizipiert die seit der Moderne florierende Interaktion zwischen Bühnengeschehen und Publikum. Auch Genets › Neger ‹ beziehen die Zuschauer in ihr Spiel mit ein, wobei sie anfangs gerade keinen Sprung androhen, sondern vielmehr einen deutlichen Graben ziehen: A RCHIBALD . Silence. (Au public.) Ce soir nous jouerons pour vous. Mais, afin que dans vos fauteuils vous demeuriez à votre aise en face du drame qui déjà se déroule ici, afin que vous soyez assurés qu ’ un tel drame ne risque pas de pénétrer dans vos vies précieuses, nous aurons encore la politesse, apprise parmi vous, de rendre la communication impossible. La distance qui nous sépare, originelle, nous l ’ augmenterons par nos fastes, nos manières, notre insolence - car nous sommes aussi des comédiens. (481) 207 Der Graben, der zwischen Bühne und Zuschauerraum ohnehin bestehe, werde durch dreiste Gesten der Schauspielerei, die das »drame« en abyme begleiten, noch weiter vergrößert, sogar unpassierbar gemacht, wodurch eine Verständigung mit den Zuschauern unmöglich würde. 599 So könne sich der Zuschauer, vom inszenierten Binnenstück unberührt, bequem in seinem Fauteuil zurücklehnen. Einen solchen › sicheren Graben ‹ zwischen Bühne und Theatersaal einzurichten und in der Folge als Grenze zu respektieren, ist aber offensichtlich weder Absicht noch Wirkung des Gesamtstückes. Dies offenbart sich zum einen in der Textdynamik selbst, insbesondere in der Vergewaltigung von Marie sowie in der finalen Ermordung ihrer › Familie ‹ , des fiktiven Hofstaat-Publikums: Anders als es der Spielführer in obigem Zitat ankündigt, › penetrieren ‹ die › Neger ‹ › das wertvolle Leben der Weißen ‹ also in buchstäblichem Sinne. Darüber hinaus zeigt sich die Grenzübertretung in einer Vielzahl gereizter Reaktionen von Seiten der realen Rezipienten. Prominentestes Beispiel ist Eugène Ionesco, der eben nicht unberührt auf der anderen Seite des Grabens in seinem Fauteuil verharrte, sondern den Theatersaal mitten in der Uraufführung verließ und damit demonstrativ sein Missfallen bekundete. Ionesco war, so der Regisseur Roger Blin, schockiert, als Weißer von Schwarzen beleidigt zu werden. 600 Durch diese seinerseits theatralische Geste bestätigte Ionesco Genets Vorhaben: »tenter de blesser les Blancs«. 601 Der mise en abyme wohnt in dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit aus vermeintlichem Nicht-Angreifen-Wollen und tatsächlichem Angriff eine entscheidende Funktion inne: In ihren Strukturen wird der Zuschauer, der sich durch einen breiten Graben exzessiven Schauspielens (»nos fastes, nos 599 »Vous allez nous parler raison, conciliation: nous nous obstinerons dans la déraison, dans le refus« (490), erläutert Archibald, der Spielführer der schwarzen Truppe, mit Blick auf das außerwie das innerfiktionale Publikum. Unter »déraison« ist dabei nicht primär › Unvernunft ‹ im Sinne von Wahn, sondern die Irrationalisierung durch offensive Fiktionspotenzierung zu verstehen. Die programmatisch verfolgten Verhaltensweisen der › Neger ‹ - »déraison« und »refus« - bedingen sich also gegenseitig als ostentatives Schauspiel. 600 Vgl. K NAPP , »An Interview with Roger Blin«, 113. Warum verweigert sich gerade Ionesco, einer der Hauptvertreter des Absurden Theaters? In seiner einflussreichen Studie Das Theater des Absurden bespricht Martin Esslin Genets Werke im Kontext des Absurden Theaters. Doch der entscheidende Unterschied zwischen den Texten Genets und jenen von Ionesco, Beckett oder Adamov besteht gerade darin, dass letztere trotz der Absurdität des Dargestellten an der Vermittelbarkeit von Illusion festhalten. Der Zuschauer des Absurden Theaters kann sich in letzter Instanz distanziert in seinem Sessel zurücklehnen und das Vorgeführte als Vorführung, als (wenn auch absurde) Illusion rezipieren. Dies ist mit Genets Stücken, in denen die Urillusion durch eine sehr komplexe mise en abyme verweigert und der Zuschauer beständig attackiert wird, gerade nicht mehr möglich. 601 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 838. 208 manières, notre insolence«, 481) vom Bühnengeschehen geschützt wähnen soll bzw. will (»la politesse, apprise parmi vous«, 481; m. H.), geradewegs in das Stück hineingezogen, um darin aus verschiedenen Perspektiven attackiert zu werden. Diese Angriffe werden gleich zu Stückbeginn in einer doppelten Stoßrichtung der abyssalen Aufführung vorbereitet. Archibald richtet sich in seiner Funktion als Spielführer der Binneninszenierung an beide Betrachtergruppen, »s ’ adressant tantôt au public, tantôt à la Cour«: »Mesdames, messieurs [. . .]. Nous nous embellissons pour vous plaire. Vous êtes blancs. Et spectateurs. Ce soir nous jouerons pour vous« (480). Les Nègres lässt es nicht bei einer expliziten Korrelation des Zuschauers en abyme mit seinem fiktionsexternen Pendant bewenden, sondern visualisiert ihr Verhältnis in einem kunstvoll konstruierten Spiegelbild, das sich insbesondere anhand des zentral positionierten Katafalks zeigt: »Au milieu de la scène, directement sur le plancher, un catafalque recouvert d ’ une nappe blanche« (478) heißt es vor Stückbeginn im Décor. Der Katafalk enthält den Angaben der Schauspieler-Figuren zufolge die Leiche jener Frau, deren Mord sie im Stück en abyme nachspielen. Er ist nicht nur in konzeptueller, sondern auch in materieller Hinsicht ein Symbol des Binnenstückes: Ein »catafalque« ist eine »[e]strade décorée sur laquelle on place un cercueil«, 602 ein schwarz verhängtes Gerüst, auf dem ein Sarg ausgestellt wird. Gleich nach dem Aufziehen des Vorhangs wird also eine Konstruktion sichtbar, die in der Form eines erhöhten Vierecks - und weil sich kein Sarg darauf befindet - eine Art Bühne auf der Bühne und insofern eine Miniaturbühne en abyme evoziert. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die aufsteigenden Treppen, die sich dahinter, und im Halbkreis um den Katafalk herum erstrecken, von denen aus ein fiktives Publikum das Spielgeschehen betrachtet. So spiegelt sich mit Katafalk und Balustrade der reale Theatersaal im Bühnenbild. Diese visuelle Spiegelbeziehung zwischen Gesamtstück und mise en abyme intensiviert sich weiter: In der Binneninszenierung verfolgen weißmaskierte Zuschauer das Spiel schwarzer Schauspieler, und eben dies kennzeichnet auch die reale Aufführungssituation. Vor Stückbeginn formuliert der Autor: U N SOIR UN COMÉDIEN ME DEMANDA D ’ ÉCRIRE UNE PIÈCE QUI SERAIT JOUÉE PAR DES N OIRS . [. . .] Cette pièce, je le répète, écrite par un Blanc, est destinée à un public de Blancs. Mais si, par improbable, elle était jouée un soir devant un public de Noirs, il faudrait qu ’ à chaque représentation un Blanc fût invité - mâle ou femelle. L ’ organisateur du spectacle ira le recevoir solennellement, le fera habiller d ’ un costume de cérémonie et le conduira à sa place, de préférence au centre de la première rangée des fauteuils d ’ orchestre. On jouera pour lui. Sur ce Blanc symbolique un projecteur sera dirigé 602 Le Grand Robert, 1994. 209 durant tout le spectacle. Et si aucun Blanc n ’ acceptait cette représentation? Qu ’ on distribue au public noir à l ’ entrée de la salle des masques de Blancs. Et si les Noirs refusent les masques qu ’ on utilise un mannequin. (477) In diesem Abschnitt zeichnet sich ab, wie vehement Genet auf seiner klaren Schwarz-Weiß-Verteilung insistiert. Seinen Worten lässt er Taten folgen: Inszenierungen, die Les Nègres mangels schwarzer Schauspieler mit weißen zu besetzen gedenken, versucht er, zumindest in den ersten Jahren nach der Pariser Uraufführung, zu verbieten. 603 Dadurch, dass der reale Zuschauer entweder weiß ist oder exemplarisch eine weiße Maske trägt, wird er direkt mit seinem fiktiven Pendant, dem Hofstaat, verbunden. Er muss im kolonialen Machtapparat mit weißer Hautfarbe, der ihm gegenüber (und wie er auch) in schauender Tätigkeit gezeigt wird, sein eigenes Abbild erkennen. Vor diesem Hintergrund lässt sich Les Nègres schon in seiner Grunddisposition als exzessive mise en abyme begreifen: Der Vorhang öffnet sich, der weiß maskierte Hofstaat tritt ein, und es scheint, als blicke das Publikum, das sich unfreiwillig zu einer exemplarischen weißen Maske verdichtet sieht, direkt, bevor überhaupt ein Wort (zu Handlung oder Personenkonstellation) fällt, in einen Spiegel. 604 Diese Form von mise en abyme, die sich nicht damit begnügt, in einem fiktionalen Fragment das fiktionale Ganze zu bespiegeln, sondern im Zusammenspiel von Fragment und Ganzem das Außen spiegelnd wiederholt, ist vergleichsweise extrovertiert und offensiv. Die Korrelation von fiktivem und realem Publikum wird im Stückverlauf in mehreren Motiven variiert und auch physisch inszeniert: Archibald bittet einen der realen Zuschauer auf die Bühne, lässt ihn das Strickzeug von Marie, der weißen Urfigur, halten und › verstrickt ‹ ihn damit materiell mit seinem karikierten Spiegelbild. Dabei wird deutlich, dass es nicht allein um die gezeigte Aufführung geht, sondern darum, das Publikum zu einem Teil dieser Aufführung werden zu lassen. Dass die weißen Rezipienten von ihrer Balustrade aus nicht objektiv urteilen, sondern auf beschränkte Weise › vor-urteilen ‹ , zeigt sich insbesondere in der Interaktion von Gesamtstück und Aufführung en abyme. Genets Hofstaat-Figuren sind, wie die Richter in Chaurettes Provincetown Playhouse, als Publikum und zugleich als Gerichtshof in die Handlung integriert; sie sind in doppeltem Sinne Richter: ästhetisch und juristisch. Sie kommentieren und bewerten das von den › Negern ‹ aufgeführte Stück en abyme und intendieren schließlich, wie auch die Richter in Provincetown Playhouse, die Hinrichtung 603 C ORVIN / D ICHY , »Notice«, 1212 und 1217. 604 Anders als beispielsweise in Le Balcon setzt Les Nègres keine materiellen Spiegel in Szene. Vgl. zum Spiegel in Genets Texten und insbesondere in Le Balcon: W ENT -D AOUST , »Objets et lieux dans › Le Balcon ‹ de Genet«, 23 - 33. 210 der Schauspieler. So sind in beiden Stücken die Rezeption fiktionsinterner Illusion, Verurteilung und (vollzogene bzw. intendierte) Hinrichtung der Spielenden miteinander korreliert. Die Hinrichtung wird in beiden Fällen mit dem vermeintlich perversen Gegenstand des abyssalen Stückes begründet. In beiden Stücken fühlen sich die Vertreter von Staat, Kirche und Gesellschaft so sehr in ihren gesellschaftskonstituierenden Werten bedroht, dass die Exekution der Verantwortlichen unvermeidlich erscheint. Ästhetische Beurteilung wird also jeweils als juristische Verurteilung inszeniert. Dabei lässt die mise en abyme die Grenzen verschwimmen. Haben die › Neger ‹ die weiße Frau (und die Provincetown Players ein Kind) ermordet? Diese Fragestellung ist in existenzieller Weise mit den Wirkungs- und Funktionsweisen künstlerischer Gestaltungsprozesse verbunden, da der Mord jeweils als Theaterstück inszeniert wird; 605 doch in letzter Instanz, so legen beide Stücke nahe, spielt der Gegenstand der Anklage keine Rolle. Viel relevanter als das vermeintliche Verbrechen bzw. dessen künstlerische Gestaltung scheint den fiktiven soziopolitischen Autoritäten zu sein, dass die › Neger ‹ › Neger ‹ bleiben, und die Machtverhältnisse zwischen Unterdrückern (Weißen, Richtern, Rezipienten) und Unterdrückten ( › Negern ‹ , Verbrechern, Künstlern) unverändert fortbestehen. Denn analog zu den Richtern in Provincetown Playhouse richten auch jene in Les Nègres vollkommen willkürlich, als ob sie einzig und allein um des Richtens Willen richteten: L E J UGE : Qui est le coupable? (Silence.) Vous ne répondez pas? Je vais vous tendre une perche, la dernière. Écoutez: il nous est indifférent que ce soit l ’ un ou l ’ autre qui ait commis le crime, nous ne tenons pas à celui-ci ou à celui-là, si un homme est un homme, un Nègre est un Nègre, et il nous suffit de deux bras, deux jambes à casser, d ’ un cou à passer dans le n œ ud coulant, et notre justice est heureuse. Alors quoi, un bon mouvement. (533) Ein beliebiger › Neger ‹ , genau wie in Provincetown Playhouse ein beliebiger Schuldiger, der als Homosexueller im frühen 20. Jahrhundert ebenfalls außerhalb normativer Gesellschaftsstrukturen angesiedelt ist, sei auszuliefern, damit sich die Mühlen der weißen Unterdrücker-Justiz weiterdrehen und ihn stellvertretend für die Masse der Unterdrückten vernichten können. Königin, Geistlicher und Gouverneur warten in diesem Prozess schon ungeduldig auf das Ausüben ihrer Funktionen. Doch der Sexualmord des › Negers ‹ Village an der weißen Marie ist eben kein › realer ‹ Mord, sondern dezidiert ein Theaterstück und entzieht sich in der einem Kunstwerk eigenen Bewegung einem außerfiktionalen Zugriff: Der Katafalk, das Zentrum des Binnenstückes, enthält, anders als die › Neger ‹ von Beginn an behauptet 605 Vgl. Kapitel 7.4. 211 hatten, nicht die Leiche der getöteten weißen Frau, sondern er erweist sich gegen Stückende in einem spektakulären Coup als leer. Welches Vergehen haben die Weißen nun noch zu richten? Der leere Katafalk erzeugt eine ähnliche Dynamik wie die als Gedächtnislücken konzipierten blancs der Schuldigen in Chaurettes Provincetown Playhouse: 606 »[Un] extraordinaire vide a plus de présence que le plein le plus dense«, schreibt Genet an seinen Regisseur Roger Blin. 607 Was die Zuschauer-Richter unbedingt als konkretes Verbrechen begreifen wollen, halten die Schauspieler-Verurteilten vage. Genauso vehement wie sich Chaurettes Angeklagte Alvan und Winslow weigern, ihr blanc mit einem konkreten kriminellen Delikt zu füllen, lehnen es Genets verurteilte › Neger ‹ ab, eine Leiche in ihren Katafalk zu legen. Sie lassen sich nicht auf einen verbindlichen Tatbestand festlegen, sondern › ent-konkretisieren ‹ ihr vermeintliches Verbrechen nach allen Regeln der Kunst. Der Sexualmord ist aufs engste mit der Aufführung en abyme korreliert. Vor diesem Hintergrund wird durch das Zusammenspiel von Verbrechen, von Binnen- und Gesamtstück eine unauflösbare Gleichung vorgeführt: Wenn das Verbrechen nicht geklärt werden kann, bleiben auch das Stück en abyme und mit ihm das Gesamtstück offen, frei und dezidiert nicht kategorisierbar. Sinnbild dieser Befreiung ist die Ermordung des Hofstaates. Anders als in Chaurettes Provincetown Playhouse wird nämlich nicht die Hinrichtung vermeintlich schuldiger Künstler-Figuren, sondern die Ermordung unterdrückender und kategorial denkender Richter-Rezipienten inszeniert. 608 Bei dieser Befreiung ist ein Aspekt besonders bemerkenswert: Als der Spielführer seine umstürzlerische Intention klar äußert - »nous devons achever ce spectacle, et nous débarrasser de nos juges« (535) - , sind innerfiktional gar keine »juges« mehr vorhanden: Sie hatten zuvor die Masken, die das schwarze Gesicht der realen Schauspieler laut der ersten Szenenanweisung ohnehin nur partiell verdeckten, gelüftet und sich (in der Textversion unter den Namen C ELUI QUI ÉTAIT LE JUGE oder C ELLE QUI TENAIT LE RÔLE DE LA REINE ) als der Schauspielgruppe der › Neger ‹ zugehörig entlarvt: »Nous nous étions couverts d ’ un masque à la fois pour vivre l ’ abominable vie des Blancs, et pour vous aider à vous enliser dans la honte, mais notre rôle de comédien tire à sa fin« (535). Alle sich auf der Bühne befindlichen Figuren, auch jene des Hofstaates, geben sich nach der gelungenen Hinrichtung des schwarzen Verräters also für einen kurzen Spielmo- 606 Vgl. Kapitel 6.7.2. 607 G ENET , Lettres à Roger Blin, 14. 608 »Wie stirbt ein Leser und warum ist es manchmal notwendig, ihn zum Tode zu verurteilen? «, fragt Thomas Voss zu Beginn seines Kapitels über den » › Tod des Lesers ‹ und seine Folgen für die Rezeptionsästhetik« (V OSS , Die Distanz der Kunst, 127). 212 ment als schwarzes Kollektiv zu erkennen. Sie explizieren, was eigentlich von Anfang an gilt und durch die zu kleinen Masken stets sichtbar bleibt: Die auf der Bühne agierenden › Neger ‹ sind teilweise zwar weiß maskiert, konzeptuell bleiben sie aber schwarz; so sitzen die einzig realen Weißen, gegen die Les Nègres seine Schlagkraft entfaltet, im Zuschauerraum. Les Nègres entfaltet eine komplexe und weitgreifende Demütigung des Weißen (Rezipienten): im engeren Sinne des weißen Richters, der als Kunstrichter ja per se mit dem weißen Rezipienten korreliert ist, 609 und im weiteren Sinne des Weißen überhaupt. Als Reaktion darauf vollführen die weißen Zuschauer der Darbietung en abyme, was jene realen im Zuschauerraum für gewöhnlich nicht wagen, nämlich kommentierend, sich verteidigend und ihrerseits attackierend in das sie herabwürdigende Spiel der Schauspieler einzugreifen. Dabei machen sie als kolonialer Machtapparat den weißen Standpunkt stark, auf den der abendländische Wohlstand begründet ist. Der Weiße ist, wenn man Genets Ausführungen in seiner Préface hinzuzieht, nicht nur der (politisch, wirtschaftlich, sozial oder kulturell) aktive oppresseur, sondern der Weiße ist jeder, der einem ausbeutenden Gesellschaftssystem angehört und von dessen Annehmlichkeiten alltäglich profitiert. 610 Sowohl aktiver Unterdrücker als auch passiver Profiteur sind zuvörderst durch den Blick auf ein Schauspiel en abyme miteinander korreliert. Der weiße Blick, der die › Neger ‹ -Figuren überhaupt erst zum Leben erweckt und zum Fortexistieren zwingt, ist aber nicht frisch, nicht lebendig, sondern überkommen. Gezeigt wird ein Blick, der beständig zu brechen droht und letztendlich bricht: Hauptcharakteristikum der Weißen ist ihre theatral inszenierte Agonie. Noch bevor sie am Stückende von den Schwarzen getötet werden, siechen sie dahin. Sie sind das farb- und geruchlose, rückwärtsgewandte und betrübte Gegenbild der potenten › Neger ‹ . Die Königin, statische Spitze der westlichen › Zivilisation ‹ , ist nur noch eine »ruine«, deren erklärte Hauptkonstituenten Tod und stetiger Verfall sind (529). Eine grundlegende Funktion der mise en abyme in Les Nègres besteht folglich darin, den starren und entwürdigend kategorialen Blick der weißen Rezipienten zu duplizieren und dabei als überkommen zu entlarven. 611 Darüber hinaus offenbart die mise en 609 Vgl. ausführlicher zu dieser Thematik mit besonderem Blick auf Genets Le Balcon: H OMAN , The Audience as Actor and Character, 57 - 77. 610 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 838. 611 Was Genet über die Aufführung seines Stückes Les Paravents schreibt, lässt sich auch auf die Wirkung von Les Nègres übertragen: »Vraiment, il faudrait qu ’ à la sortie, les spectateurs emportent dans leur bouche ce fameux goût de cendre et une odeur de pourri. Et néanmoins que la pièce ait la consistance d ’ un silex« (G ENET , Lettres à Roger Blin, 16). 213 abyme wichtige Erkenntnisse darüber, mit welcher theatralen Ästhetik dem sterbenden Abendland zu begegnen sei. 7.3 Gebrochene Inszenierung. Artauds Théâtre de la cruauté als mise en abyme Sehen Sie den jungen F. . . an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht: die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen. Solche Mißgriffe, setzte er abbrechend hinzu, sind unvermeidlich, seitdem wir von dem Baum der Erkenntnis gegessen haben. Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. K LEIST , »Über das Marionettentheater« 612 Für Genets Theater- und Inszenierungsästhetik wird häufig jene Antonin Artauds als wegbereitend gehandelt. 613 Ein Vergleich der beiden Konzeptionen offenbart wichtige Erkenntnisse zu den Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme in Genets Theater. Die Theaterästhetiken von Artaud und Genet, »the two most › extreme ‹ figures of twentieth century French writing«, 614 sind durch eine Reihe von augenscheinlichen Gemeinsamkeiten miteinander verbunden, doch es ist gerade ihre (durch Genets mise en abyme bewirkte) Gegensätzlichkeit, die sich im folgenden Vergleich als relevant erweisen wird. Artaud und Genet fordern und entwickeln eine antireferentielle Theatralität und rekurrieren gleichzeitig auf aktuell brisante Themen: Artauds La 612 K LEIST , Sämtliche Werke und Briefe, 341 f. 613 Inwieweit sich Artaud und Genet kannten bzw. in welchem Maße der jüngere Genet von Artaud beeinflusst wurde, ist eine kontrovers diskutierte Frage. Von Genet selbst sind, mit Ausnahme eines kurzen Verweises auf Artauds Schreiberfahrungen in Psychiatrien, keine diesbezüglichen Äußerungen überliefert (vgl. B ARBER , »Genet and Artaud«, 195). Vgl. grundsätzlich zu dieser Thematik: A KSTENS , »Representation and De-realization«; B RUSTEIN , The Theatre of Revolt, 361 - 411; S U , »T/ D«. Eine erste Studie von Relevanz, die sich einer Zusammenschau der beiden Künstler widmet, stammt von Sartre: »Mythe et réalite du théâtre«, in: ders., Un théâtre de situations. 614 B ARBER , »Genet and Artaud«, 188. Barber geht in seiner Gegenüberstellung der beiden Künstler biographisch vor, indem er gemeinsame Interessen, Bekannte und Vertraute, insbesondere Paule Thévenin, in den Mittelpunkt stellt. 214 Conquête du Mexique verhandelt beispielsweise ebenso den kolonialen Hintergrund wie Genets Les Nègres. Beide Autoren diskreditieren die abendländische Gesellschaft, Kultur und Theaterkonzeption. 615 Sie glorifizieren das Ursprünglich-Primitiv-Barbarische bis hin zu einer Poetisierung des Bösen und zur Inszenierung von Verbrechen. 616 Sie schaffen theatrale Rituale und Zeremonien, in denen Körperlichkeit und (ausgeprägte und synchrone) Körpersprache als Inszenierungsmodi menschlicher Triebbewegungen betont werden. Dabei vereinigen sich (häufig clowneske) Komik und Tragik. Sie allegorisieren ihre Bühnenfiguren zu universellen images. Beide, sowohl Artaud als auch Genet, vollführen mit ihrem Theater einen Angriff auf den Zuschauer. Artaud betrachtet das abendländische Theater als tot oder vielmehr als Totgeburt, da es von Anfang nicht gelebt habe, Totes inszeniert und als Totes rezipiert worden sei. 617 Von seinen Ursprüngen an, so der Impetus Artauds, ist das Theater seinem Ursprung entfremdet gewesen, da es stets nur Wiedergabe, Wiederholung bzw. eine »imitation dérisoire de la réalité« gewesen sei. 618 Dagegen setzt Artaud: L ’ Art n ’ est pas l ’ imitation de la vie, mais la vie est l ’ imitation d ’ un principe transcendant avec lequel l ’ art nous remet en communication. 619 Der Katafalk, der in Genets Les Nègres das konzeptuelle Zentrum des Stückes en abyme bildet, führt eben diese beiden Aspekte, gegenständlich und symbolisch, zusammen: Tod und Inszenierung. Er ist eine (Miniatur-)Bühne auf der Bühne und insofern materielles Abbild der mise en abyme. Als › dekorierte (Trauer-)Bühne ‹ 620 dient er dazu, (materiell) den Toten und (übertragen) den Tod zu inszenieren. 621 Auch die spezifischere Bemerkung Artauds zur Totgeburt scheint in Les Nègres in einem Bild widerzuhallen: Die weiße Urmutter 615 Vgl. S U , »T/ D«, 74. 616 Im Folgenden reflektiert Artaud, um seine Ästhetik »en un mot« auf den Punkt zu bringen, was Genet auch häufig tut, nämlich die Schlagkraft eines »crime«: »En un mot, nous croyons qu ’ il y a, dans ce qu ’ on appelle la poésie, des forces vives, et que l ’ image d ’ un crime présentée dans les conditions théâtrales requises est pour l ’ esprit quelque chose d ’ infiniment plus redoutable que ce même crime, réalisé« (A RTAUD , »Le théâtre et la cruauté«, in: ders., Le théâtre et son double, 133). 617 Vgl. A RTAUD , »En finir avec les chefs-d ’œ uvre«, in: ders., Le théâtre et son double, 117. 618 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 92.Vgl. zu Artauds Vorstellung eines totgeborenen Theaters: D ERRIDA , »Le théâtre de la cruauté«, in: ders., L ’ écriture et la différence, 342 f. 619 A RTAUD , »Dossier du › Théâtre et son double ‹ «, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. IV, 242. 620 Le Grand Robert, 1994. 621 Vgl. ausführlich zur Thematik von Tod, Schreiben und Schrift (unter poststrukturalistischer Perspektive in Genets Romanen und seinem Stück Les Bonnes): M EX , Man bringe mir eine Leiche. 215 Marie bringt Puppen auf die Welt, die den immerfort sterbenden abendländischen Hofstaat als leblose und starre Miniaturgebilde duplizieren. Diese Episode kann als materialisierte mise en abyme des Gesamtstückes gelesen werden, gebiert letzteres doch gleichsam denselben bereits von Anfang an totgeweihten Hofstaat. Es scheint, als solle das abendländische Theater in Gestalt seines abendländischen Zuschauers, der das Theatergeschehen vorzugsweise als bloße Mimesis von Realität rezipiert und sich in letzter Instanz immer vor Beurteilung geschützt und seinerseits beurteilend zurücklehnt, sowohl bei Artaud als auch bei Genet vernichtet werden. Die Forderung Genets - »blesser les Blancs« 622 - erinnert an jene Artauds: »frapper le spectateur«. 623 Sowohl Artaud als auch Genet streben durch die Diskreditierung der starren Wahrnehmung des Rezipienten die Zerstörung überkommener Ordnungen an. 624 Doch intendieren sie dabei keine direkte (sozio-)politische Tat, sondern zielen mit einer besonderen Ästhetik auf eine grundlegende Bewusstseinsveränderung ab. Artaud strebt eine eigens entwickelte Form von Katharsis aus Verzauberung, Angst und Schrecken an, 625 die sich aus der unmittelbaren Ergriffenheit des Publikums entwickeln soll: Le spectateur qui vient chez nous sait qu ’ il vient s ’ offrir à une opération véritable, où non seulement son esprit mais ses sens et sa chair sont en jeu. Il ira désormais au théâtre comme il va chez le chirurgien ou chez le dentiste. [. . .] Si nous n ’ étions pas persuadés de l ’ atteindre le plus gravement possible, nous nous estimerions inférieurs à notre tâche la plus absolue. Il doit être bien persuadé que nous sommes capables de le faire crier. 626 Der Theaterbesuch gleiche dadurch einem chirurgischen Eingriff, bei dem der › Patient ‹ um die eigene Haut fürchten müsse. Artaud zufolge wirke das vorbildliche Theater wie Exorzismus. 627 Dazu strebt Artaud eine unmittelbare Identifizierung des Zuschauers mit dem Bühnengeschehen an: »Et au bout 622 Vgl. Anm. 739. 623 A RTAUD , »Théâtre Alfred Jarry«, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. II, 46. 624 Dabei scheut Artaud keine wirkungsmächtigen Vergleiche. In seinem Aufsatz »Le théâtre et la peste« entwickelt er eine ausführliche Analogie zwischen den bewusstseinsverändernden Auswirkungen der Pestepidemie und jenen seiner neuen Theaterkonzeption, die er in folgender Idee einer kollektiven › Ent-Eiterung ‹ kulminieren lässt: »Il semble que par la peste et collectivement un gigantesque abcès, tant moral que social, se vide; et de même que la peste, le théâtre est fait pour vider collectivement des abcès. [. . .] Le théâtre comme la peste est une crise qui se dénoue par la mort ou par la guérison« (A RTAUD , Le théâtre et son double, 45 f.). 625 Vgl. A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, 88 f. sowie »Le théâtre et la peste« (jeweils in: ders., Le théâtre et son double). 626 A RTAUD , »Théâtre Alfred Jarry«, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. II, 17. 627 Vgl. ebd. 92. 216 d ’ un instant l ’ identification magique est faite: N OUS SAVONS QUE C ’ EST NOUS QUI PARLIONS .« 628 Eine vom Aufführungsgeschehen ausgehende »force communicative« 629 solle eine Befreiung des Unbewussten und damit gleichzeitig Realität bewirken: »Le théâtre de la cruauté n ’ est pas une représentation.« 630 Um eine Konfrontation mit den eigenen Obsessionen und Urängsten sowie das Verhältnis von Repräsentation und Realität geht es auch Genet, dies allerdings mit anderen Mitteln, wollen seine › Neger ‹ , konträr zu Artauds Bühnenfiguren, die Kommunikation mit dem Zuschauer doch gerade unmöglich machen: »rendre la communication impossible« (481). Die Gegensätzlichkeit dieser Positionen gründet sich insbesondere in der jeweils unterschiedlich erfolgten Problematisierung der eigenen Wahrnehmung. Artauds Hoffnung, eine originäre, nicht repräsentierende, also nicht auf einen anderen Ort verweisende Sprache wiederherzustellen, stützt sich auf Erfahrungen mit dem orientalischen Theater. Ein prägendes Erlebnis war hierbei die Aufführung einer balinesischen Tänzergruppe. Seine Eindrücke, welche die Grundlage für »Le théâtre de la cruauté« bilden, hielt er im gleichen Jahr in einem Aufsatz fest; hierin beschreibt Artaud die balinesischen Tänzer als »hiéroglyphes animés«, 631 die sich auf grundlegende Weise vom europäischen Theater und seiner individuellen Psychologie › weniger Hampelmänner ‹ unterschieden. 632 In einer »création autonome et pure« gelinge es ihnen, ihren kollektiven Mythos, die universelle Schöpfung schlechthin auf die Bühne zu bringen. 633 Artaud glaubt, in der Bühnenperformance eine (Zeichen-)Sprache entdeckt zu haben, zu der › wir allem Anschein nach den Schlüssel verloren haben ‹ . 634 Er verortet das balinesische Theater offenbar in einem Paradies, das die Europäer verloren haben und nur noch, wenn überhaupt, durch die »Hintertür« 635 wieder betreten können. Artaud erkennt in den Tänzern entpersonalisierte Marionetten, die der Präsenz des Gött- 628 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 102; Hervorhebung im Original. 629 A RTAUD , »Théâtre Alfred Jarry«, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. II, 17. Artaud betont gegen das abendländische Theaterprinzip der Wahrscheinlichkeit die › kommunikative Kraft ‹ sowie die › Realität ‹ der Illusion: »L ’ illusion ne portera plus sur la vraisemblance ou l ’ invraisemblance de l ’ action, mais sur la force communicative et la réalité de cette action« (ebd.). 630 D ERRIDA , »Le théâtre de la cruauté«, in: ders., L ’ écriture et la différence, 343; Hervorhebung im Original. 631 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 83. 632 A RTAUD , »Le théâtre et la cruauté«, in: ders., Le théâtre et son double, 131. 633 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 81. 634 Ebd. 87. 635 K LEIST , »Über das Marionettentheater«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, 343. 217 lichen wieder einen Raum auf der Bühne geben. 636 Aus den präzise ablaufenden Bewegungen, der perfekten Ordnung des balinesischen Rituals, einer »perfection étrange«, 637 leitet er einen intellektuellen Angriff auf die etablierten Theaterkonventionen ab. 638 Artaud will eine Zäsur in der historischen Wiederholung des abendländischen Theaters der Repräsentation wagen und damit letztendlich das Paradies wieder aufschließen. Durch eine innovative Inszenierungstechnik (mit besonderer Verwendung von Körper, Bewegung, Gestik, Mimik, Stimme, Kostümierung, Maskerade, Ton, Licht und Klang) 639 sei die Theateraufführung in ein reales und wahrhaftes Ereignis zu überführen: »Nous voulons faire du théâtre une réalité à laquelle on puisse croire, et qui contienne pour le c œ ur et les sens cette espèce de morsure concrète que comporte toute sensation vraie.« 640 Artaud setzt im Zuge seiner Erkenntnisprozesse die eigene Wahrnehmung absolut: »Je place au-dessus de toute nécessité réelle les exigences logiques de ma propre réalité.« 641 Er glaubt, die europäische Perspektive im Begreifen eines »théâtre pur« 642 der Balinesen durchbrochen zu haben, gleichzeitig aber reflektiert er sich nicht selbst als Teil dieser Geschichte. Dabei ist seine Verabsolutierung der eigenen Erleuchtung insofern problematisch, als Artaud trotz aller Sensibilisierung für fremde Kulturen, oder gerade durch ihre Überbewertung, selbst auf eine Inszenierung hereingefallen ist. Denn Artauds Vorstellung eines › reinen Theaters ‹ , war, wie der Ethnologe Michael Prager überzeugend darlegt, 643 selbst inszeniert: als ein Spektakel unter vielen im › Theater des Kolonialismus ‹ der Pariser Kolonialausstellung von 1931, »die, wenn man von Hitlers Olympiade absieht, als eines der europäischen Massenspektakel der 30er Jahre gelten kann.« 644 Die balinesischen Tänze, deren rituell-religiöser Charakter eigentlich gar nicht als Massenveranstaltung gedacht waren, wurden in die künstliche Nachbildung der kolonialen Welt der Franzosen, Niederländer und anderer europäischer Staaten auf den 636 Artaud verbindet Trance, Tanz und Metaphysik auf das engste miteinander: »Nous sommes ici et soudainement en pleine lutte métaphysique et le côté durcifié du corps en transe, raidi par le reflux des forces cosmiques qui l ’ assiègent, est admirablement traduit par cette danse frénétique« (A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 99). 637 Ebd. 100. 638 Vgl. ebd. 96. 639 Vgl. ausführlich und programmatisch: A RTAUD , »Le théâtre de la cruauté. Premier manifeste«, in: ders., Le théâtre et son double, 144 - 155. 640 A RTAUD , »Le théâtre et la cruauté«, in: ders., Le théâtre et son double, 133. 641 A RTAUD , »A la grande nuit ou le bluff surréaliste«, in: ders., Œ uvres complètes, Bd. I.2, 64. 642 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 82. 643 Vgl. P RAGER , »Lebendige Hieroglyphen«, v. a. 192 - 202. 644 Ebd. 197; Hervorhebung im Original. 218 Bois de Vincennes verpflanzt. Dass dieses Theater eine (heute mit touristischen Darbietungen vergleichbare) Inszenierung der fremden Völker unter der vereinheitlichenden Metamorphose eines kolonialen »Disneyland[s] der Exotik« und letztendlich eine Selbstbeweihräucherung und eine Machtdemonstration der Kolonialmächte darstellte, 645 reflektiert Artaud nicht mit; so muss offen bleiben, warum er den kolonialen Rahmen weder in »Sur le théâtre balinais« noch in anderen programmatischen Schriften erwähnt. 646 Mit dieser Beobachtung soll Artauds Ästhetik, die zwar ihren Ausgangspunkt im balinesischen Theater nimmt, aber ästhetisch und programmatisch weit darüber hinausgeht, in ihrer Bedeutung für das moderne Theater nicht abgewertet werden; jedoch ist der Anspruch auf Wahrheitsfindung und Realität, der in der unkritischen Rezeption einer vermeintlich › echten ‹ und › ursprünglichen ‹ Inszenierung gründet, im Vergleich mit Genets Zugang zur gleichen Thematik zu problematisieren. Wie Artaud, der als Rezipient die Inszenierung des balinesischen Theaters im Rahmen der Kolonialausstellung unerwähnt lässt, blendeten auch die Rezipienten von Kleists »Über das Marionettentheater«, so die Kritik Paul de Mans, die besondere Inszenierung der verhandelten Thesen aus. 647 Bezeichnenderweise setzt Kleist die poetologischen Implikationen seines kleinen Texts in einer mehrfachen mise en abyme in Szene. 648 Diese wichtige Funktion der mise en abyme, textinterne Inszenierungen zu kreieren und als solche zu explizieren, verwendet auch Genet. Genet sah sich, ähnlich wie Artaud, in der heiklen Lage, Riten und Bräuche einer kolonialisierten Bevölkerung gezwungenermaßen als Mitglied der Kolonialgesellschaft wahrzunehmen und zu beurteilen. Doch als solches erhebt Genet gerade nicht den Anspruch, Wahrheit zu schaffen. Er schreibt bewusst als Weißer über Schwarze und behauptet dabei nie, die Gemeinplätze überwunden zu haben oder überwinden zu können. So müssen seine Schwarzen zwangsläufig › Neger ‹ sein. Sie seien gar nicht anders als als 645 Ebd. 198. Prager zufolge sollte der › Erfolg ‹ der Kolonialmächte ausgestellt werden, die ursprünglich heterogenen Kulturen verschmolzen und insofern autoritär geordnet zu haben (vgl. ebd. 198). 646 Vgl. ebd. 199. 647 Vgl. D E M AN , »Ästhetische Formalisierung«, v. a. 213 f. 648 Die vergeblichen Bemühungen des jungen Mannes, der »tagelang vor dem Spiegel« steht, um die »Grazie« der Dornenauszieher-Statue zu wiederholen, die ihm nur unbewusst gelingen konnte, werden als Geschichte en abyme erzählt (K LEIST , »Über das Marionettentheater«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, 343 f.). Auf diese Erzählung des Ich-Erzählers reagiert sein Gesprächspartner, Herr C., seinerseits mit einer Geschichte (über einen fechtenden Bären), die aufgrund ihrer deutlichen Spiegelungen der poetologischen Reflexionen des Gesamttextes ebenfalls als mise en abyme verstanden werden kann. 219 › Neger ‹ darstellbar, da sie der Feder eines Autors entstammen, der, »[qu ’ il] le veuille ou non« 649 der weißen Gemeinschaft angehöre und sich den schwarzen Belangen daher auch immer nur aus dieser, seiner ihm angeboren dominantkolonial-weißen Position heraus nähern könne. Diese Erkenntnis findet ihre ästhetische Umsetzung in der stets sich entziehenden mise-en-abyme-Struktur, die eine Überpositionierung der eigenen Wahrnehmung diskreditiert. Was Artaud dem außerfiktionalen Zuschauer angedeihen lässt, fügt Genet in den Bahnen der mise en abyme nur einer Zwischeninstanz zu, dem innerfiktionalen Abbild des realen Zuschauers. So schafft er trotz aller (ihn mit Artaud verbindenden) rituellen und extatischen Elemente seines Stückes, 650 Distanz. Während Artaud sich darum bemüht, den Theaterbesuch zu einem realen Ereignis werden zu lassen, um damit den Mimesis-Charakter des abendländischen Theaters aufzubrechen, geht Genet durch eine potenzierte Fiktionalisierung des Gezeigten (rezeptions- und produktions-)ästhetisch genau in die entgegengesetzte Richtung. Dabei imitiert er das Inszenieren von Fiktion als (vermeintliche) Realität nicht, sondern inszeniert es wiederum innerhalb seiner Fiktion als Binnenspiel und bricht es dabei ironisch: Die › Neger ‹ haben die Weiße vergewaltigt und ermordet, ihr Katafalk löst sich aber in eine Konstruktion aus zwei Stühlen und einem Betttuch auf. › Die Neger ‹ erschießen den Hofstaat »auf bestialische Weise«, 651 verwenden dazu aber Knallfrösche. Diese Reihe ließe sich mit ähnlichen Beispielen fortsetzen. 649 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 837: »Que je le veuille ou non, j ’ appartiens à la communauté blanche.« Zudem müssen sich die › Neger ‹ in ihrem fiktiven Lebensraum auch gezwungenermaßen auf Französisch - der Sprache der sie unterdrückenden Weißen - äußern, was eine schwarze Authentizität letztendlich unmöglich mache. 650 Vgl. zur Thematik von Zeremonie, Kult und Ritual ausführlicher und mit weiteren bibliographischen Angaben: B ORIE , Mythe et théâtre aujourd ’ hui, 69 - 116; C ETTA , Profane Play, Ritual, and Jean Genet, v. a. 55 - 74; E RNST , »La mort théâtrale chez Genet«; W EBB , »Ritual, Theatre, and Jean Genet ’ s The Blacks«. 651 N IEVERS , »Les Nègres«, 434. Wenn Nievers ohne Problematisierung der eigenen Wahrnehmung davon spricht, dass die Weißen »von den Schwarzen in einen Hinterhalt gelockt und auf bestialische Weise umgebracht« würden (ebd.), ist dies richtig und gleichzeitig auf amüsante Weise falsch, legt der Text doch parallel zu Nievers Perspektive die folgende nahe: Die Hofstaat-Schauspieler verlassen ihren Treppenvorsprung, klettern über die Kulissen hinunter auf die Bühne und lassen sich, dort angekommen, von den › Neger ‹ -Schauspielern mit Knallfröschen erschießen, woraufhin sie scheintot umfallen, mitunter sogar zu früh oder an falscher Stelle, was zu einer Wiederholung der Erschießung mit Knallfröschen führt. Schlussendlich stehen die solcherart › Erschossenen ‹ alle wieder auf und machen sich, als eine Art weißer Stoßtrupp aus Leichen, gemeinsam auf ihren Weg in die Hölle. So gesehen vollzieht sich nichts »bestialisch«, sondern vielmehr clownesk, wie es Les Nègres in seinem Untertitel »Clownerie« bereits ankündigt. 220 Ein grausames Theaterritual wird aufgeführt, verbindet Schauspieler und Zuschauer auf extatische Weise miteinander und erregt den Zuschauer so sehr, dass er letztendlich freiwillig (aber deutlich parodiert) in den Tod geht. Genet offenbart folglich ein völlig anderes Verständnis von Fiktion und Realität als Artaud. In Le Balcon wendet sich die Bordellbzw. Theaterbesitzerin Irma mit folgenden Schlussworten an das Publikum: »[Je] vais préparer mes costumes et mes salons pour demain . . . il faut rentrer chez vous, où tout, n ’ en doutez pas, sera encore plus faux qu ’ ici . . .«. 652 Auch Genet zufolge ist schwerlich von außerfiktionaler › Realität ‹ auszugehen, doch erhebt er im Gegenzug nicht den Anspruch, dies auf der Theaterbühne im Schaffen eigener Realität kompensieren zu können. Das auf der Bühne Dargestellte sei vielleicht weniger »faux« als die Realität, dennoch aber »faux«. Artaud hingegen eifert, indem er die Unmittelbarkeit, Natürlichkeit und Wahrhaftigkeit einer unbewussten Geste zu wiederholen versucht, den Bemühungen des jungen Mannes in Kleist »Marionettentheater« nach, der sich als Dornenauszieher versucht. 653 Diesen Drahtseilakt, künstlich und bewusst Natürliches und Unbewusstes zu produzieren, will Artaud in einer Art hypnotischen Taumel von Schauspielern und Zuschauern überwinden. Auch Genet inszeniert Rausch, Ritual, Mythos, Magie, Ursprünglichkeit, Primitivität, Barbarei, Schöpfung - doch eben immer nur plakativ und ironisiert: »Ce n ’ est pas une séance d ’ hystérie collective, c ’ est une cérémonie« (505), lässt der Spielführer Archibald verlauten. So wirkt es, als würde Genet Artauds Konzeptionen komplett en abyme setzen, dabei aber den Rezeptionsrahmen der Pariser Kolonialausstellung, den Artaud ausblendet, innerhalb der Strukturen seiner mise en abyme in den gezeigten Fokus miteinbeziehen. In Les Nègres wird aufzeigt, dass die einfache Opposition und Kulturkritik letztendlich nur die andere Seite von Kolonialismus und Imperialismus darstellt und ebenso zu pauschalen Urteilen über Orient und Okzident oder Schwarz und Weiß neigt. Bei Genet sind die Gemeinplätze mithilfe der mise en abyme selbst wieder inszeniert und der kolonial-dominante Blick dadurch stets miteinbezogen. Artauds Wunschvorstellung auf der Bühne, die von Göttern geleitete Bewegung, die den Besessenen dirigiert, ist eben kein Theater und insofern nicht aufführbar. So ist es bezeichnend, dass Artauds Werke, mit Ausnahme einer (auch für ihn selbst) unbefriedigenden Aufführung seines Stückes Les Cenci, den Weg auf die Bühne gar nicht gefunden haben. 654 652 G ENET , Le Balcon, in: ders., Théâtre complet, 350. 653 Vgl. K LEIST , »Über das Marionettentheater«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, 343 f. 654 Vgl. R ELLSTAB , Theorien des Theaterspielens, 240. Vgl. zu Beschaffenheit und (gescheiterter) Inszenierung von Artauds Stücken ausführlicher: B LÜHER , Antonin Artaud und das › Nouveau Théâtre ‹ in Frankreich, 105 - 130. 221 Genet scheint die Unmöglichkeit der szenischen Realisierung reiner Unmittelbarkeit, programmatischer Natürlichkeit sowie Wahrheit und extatischer Massenwirkung erkannt zu haben und mit einer selbstreferentiellen Ästhetik auf diese Erkenntnis zu reagieren: »A vrai dire, la meilleure arme contre le mythe, c ’ est peut-être de le mythifier à son tour, c ’ est de produire un mythe artificiel: et ce mythe reconstitué sera une véritable mythologie.« 655 Eben diese Kreation eines künstlichen und nur insofern wahrhaften Mythos inszenieren Genets › Neger ‹ als Stück en abyme. Ein weiterer Berührungspunkt zwischen Artaud und Genet - der konzeptuelle Stellenwert des Autors - eröffnet einen weiteren großen Themenbereich in Les Nègres, den der poetischen Schöpfungsprozesse als mise en abyme. Während Artaud den Autor zugunsten eines regieführenden › Zaubermeisters ‹ , »dont le pouvoir de création élimine les mots«, aus dem Theater verbannt, 656 müssten Genets › Neger ‹ im Sinne Artauds als Sklaven des Textes begriffen werden, 657 da ihre Inszenierung einem eigens verfassten Skript folgt, auf dem der Spielführer mehrfach beharrt. 658 655 B ARTHES , Mythologies, 222; Hervorhebung im Original. 656 A RTAUD , »Sur le théâtre balinais«, in: ders., Le théâtre et son double, 82; Hervorhebung im Original. In »Théâtre oriental et théâtre occidental« heißt es diesbezüglich: »[Et] l ’ auteur qui use exclusivement de mots écrits n ’ a que faire et doit céder la place à des spécialistes de cette sorcellerie objective et animée« (A RTAUD , Le théâtre et son double, 113). Vgl. zu dieser Thematik auch: A RTAUD , »En finir avec les chefs-d ’œ uvre« in: ders., Le théâtre et son double. 657 Vgl. ebd. 105. 658 Zudem ist Les Nègres, anders als es Artauds entliteralisierte Produktionen sein wollen, in erster Linie ein sprachlich verfasster Text, den Genet, so lässt sich der komplexen Werkgenese von Les Nègres ablesen, sehr intensiv überarbeitete (vgl. C ORVIN / D ICHY , »Notice«, 1186 - 1200). 222 7.4 › Notre massacre sera lyrique. ‹ Identitätssuche im Zerrspiegel F ICHTE . Pourquoi vous-même, vous n ’ avez jamais commis un meurtre? G ENET . Probablement parce que j ’ ai écrit mes livres. G ENET , Dialogues, 30. C ELLE QUI ÉTAIT LA REINE . Nous sommes des comédiens, notre massacre sera lyrique. (535) Les Nègres lässt sich (entgegen vorherrschender Forschungsmeinungen) 659 nicht auf das Zelebrieren bloßer Scheinhaftigkeit oder reiner Negation verengen. Denn das absterbende Weiße findet sein Korrelat im potenten und gestaltenden Schwarzen. Die › Neger ‹ -Figuren sind in eine Reihe vielfältiger Schöpfungsprozesse verwickelt, die eine grundlegende Wechselwirkung ästhetischer und identitätsstiftender Kräfte aufweisen. Auf der Bühne stellen die › Neger ‹ einen Sexualmord dar: vordergründig, um die Weißen zu unterhalten und deren kategoriale Verurteilungsmaschinerie funktionieren zu lassen; hintergründig aber dient dieses Mord-Schauspiel dazu, die Weißen abzulenken, damit sich in einem an die Bühne angrenzenden Handlungsbereich die heimliche Verurteilung eines schwarzen Verräters vollziehen kann: C ’ est très dur, mais si la comédie peut être menée devant eux (il montre le public), nous ne devons plus jouer quand nous sommes entre nous. Il faudra nous habituer à cette responsabilité: exécuter nous-mêmes nos propres traîtres[.] (533) Es geht den › Negern ‹ also augenscheinlich darum, im Rücken der Weißen ein unabhängiges Rechtssystem aufzubauen. Dieses Unterfangen setzt eigene Wert- und Moralvorstellungen voraus und ist Grundlage einer funktionsfähigen und autarken Zivilisation. »Si nous tranchons des liens, qu ’ un continent s ’ en aille à la dérive et que l ’ Afrique s ’ enfonce ou s ’ envole« (481), verheißt der Spielführer vor Stückbeginn, und an anderer Stelle setzt er noch deutlicher nach: »[N]ous devons achever ce spectacle, et nous débarrasser de nos juges« (535). Dieser Schlachtruf der › Neger ‹ , sich von ihren Richtern befreien zu wollen, indem sie selbst das Richten lernen, korrespondiert einer 659 Vgl. W INTER , Spielformen der Lebenswelt, 139 f. und 168. Wenn Winter beispielsweise von einem »Spiel der Negationen um der Negation willen« spricht, das sich »aus einer irrationalen Lust am Paradoxon und Absurden, am Anarchischen und Bösen« (168) vollziehe, zeigt sich die Dogmatik, mit der Genet häufig rezipiert wird. Vgl. dezidiert gegen die Thesen reiner Negativität argumentierend: U RBAN , Der Raum des Anderen, 109. 223 der Grundfunktionen der mise en abyme: Der abyssale Text entzieht sich, indem er sich im eigenen Spiegel sucht und konfiguriert, bestätigt und verändert, beurteilt und verwirft, dem unmittelbaren Zugriff von außen. In dieser Dynamik spielt die Diskreditierung des Weißen und seiner Unterdrückungsmaschinerie offenbar eine große Rolle. Vermutlich sind es nicht lediglich die dabei entstehenden visuellen, expliziten, physischen und motivlichen Spiegelungen, die Ionesco - als ausdrücklich beleidigten Weißen sowie exemplarischen Vertreter einer grundsätzlichen Negativhaltung in Bezug auf Les Nègres - dazu veranlasste, den Theatersaal demonstrativ zu verlassen. Hinzu kommt ein konzeptueller Kunstgriff der Ästhetik Genets, der den Weißen und sein Rezeptionsverhalten auf besonders beunruhigende Weise angreift. Dies veranschaulicht ein Blick auf die Beschaffenheit und das Selbstverständnis des schon im Titel angekündigten › Negers ‹ : Die › Neger ‹ sind in der Konzeption Genets keine Menschen mit dunkler Hautfarbe, sondern von vornherein reflets einfältiger rassistischer Vorurteile. Der herrisch verheerende Blick der Weißen degradiert die Schwarzen zu › Negern ‹ und damit zu entmenschlichten Klischeebildern: »Ils sont en chiffon, ils n ’ ont pas d ’ âme«, schreibt Genet in seiner »Préface inédite des › Nègres ‹ «. 660 Der plakative Anstrich, den die Weißen zur Schau tragen müssen, gilt also auch für die Schwarzen. Ihre Garderobe soll laut Eingangsdidaskalie »de fausses élégances« offenbaren und dabei als »le plus grand mauvais goût« abqualifiziert werden (478). Village, dem schwarzen Mörder, stülpen seine schwarzen Gefährten zwar keine Maske über, doch wird sein Gesicht durch Schuhcreme ins stereotyp Schwarz-Wilde übersteigert und damit zur › Neger- Maske ‹ ausgemalt. Als der stets zögernde Diouf im Zuge seiner Versöhnungsparolen mit den Weißen nicht den notwendigen Grad an Theatralität erreicht, 661 wird er umgehend vom herrischen Spielführer an den Grundtenor ihrer Aufführung erinnert: »Si vous deviez, monsieur, apporter parmi nous la moindre, la plus banale de leurs idées qui ne soit caricaturale, allez-vous-en! Barrez-vous! « (492) Genets Schwarze sind folglich schon per se Spiegel- oder vielmehr Zerrspiegelbilder ihrer selbst, was im Stück en abyme durch die Inszenierung archaischer und brutaler Rituale besonders pointiert wird. Der Rezeptionsspielraum des weißen Zuschauers wird also gezwungenermaßen auf die eigene beschränkte Wahrnehmung verengt: Er sieht (s)einen › Neger ‹ . Möglicherweise ist es dieser rezeptionsästhetische Würgegriff, aus dem sich Ionesco durch sein Weggehen befreien wollte. Vielleicht hat er erkannt, dass nicht er das Stück nach eigenem Gusto erkennen darf, 660 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 839. 661 Vgl. zur Sonderstellung Dioufs im Figurenkabinett: N EGISHI , »La dénomination dans la dramaturgie de Jean Genet«. 224 sondern dass das Stück ihn zu erkennen vorgibt, indem es ihm, dem Weißen, nicht eine beliebige, sondern seine eigene Sichtweise zeigt. So wie der weiße Hofstaat durch die Inszenierung en abyme von der Balustrade auf den Bühnenraum gelockt wird, 662 um dort in die Falle des eigenen Vorurteils zu gehen, soll es anscheinend auch dem realen Zuschauer ergehen: Indem er Les Nègres rezipiert, materialisieren sich seine eigenen Engstirnigkeiten zu Bühnenfiguren; dieser Vorgang wird in der mise en abyme durch den Blick der weißen Hofstaat-Masken auf das Schauspiel der › Neger ‹ -Schauspieler gespiegelt. Dem Rezipienten wird der Persilschein der Wertneutralität entrissen, auf Basis dessen er aus der sicheren Entfernung eines breiten Graben zum Bühnengeschehen distanziert urteilen könnte. Im Gegenzug wird ihm sein Urteil - als Vorurteil ernst genommen - wie eine farbig getönte Brille aufgesetzt. Als wer verließ Ionesco eigentlich den Saal: Als Ignorant? Als einer, der eines solchen Schauspiels nicht bedurfte? Als Unverbesserlicher? Oder als Gekränkt-Geheilter? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die › Neger ‹ mit ihrem vordeterminierten Dasein umgehen. Es zeigt sich, dass sie nicht nur die fleischgewordenen Vorurteile des weißen Hofstaates sind, sondern sie als Schauspieler bewusst und exzessiv inkarnieren: »Tu es un Nègre et un comédien« (495). Jeder von ihnen verwandelt sich auf der Bühne bewusst in ein seelenloses › Neger-Stereotyp ‹ , 663 wobei alle Register jahrhundertelang kultivierter idées reçues gezogen und noch ironisch übersteigert werden. 664 Weiß maskierter Hofstaat und schwarz gemalte › Neger ‹ sind folglich zwei Seiten derselben Medaille: Die › Neger ‹ sind in dem Maße Schauspieler und Schöpfer von Fiktionen wie die Weißen sie mit ihrem Blick dazu verurteilen, › Neger ‹ -Stereotypen zu sein. Ihr rassistisches »alien universe« 665 wird nicht einfach dargestellt, sondern als mise en abyme einer eigens geschriebenen und inszenierten Binnenaufführung auf die Spitze getrieben. Im Binnenstück vollziehen sie ihr Verbrechen weder nur als › Neger ‹ noch als Schauspieler, sondern als › Neger ‹ und Schauspieler, als schauspielende › Neger ‹ oder › negerhafte ‹ Schauspieler. Dabei machen die › Neger ‹ aus ihrer Not eine Tugend: Ihren noch vorherrschenden Mangel an eigener Identität bzw. das 662 Vgl. zur Bühnenkonstruktion ausführlich und detailreich: P IEMME , »Les espaces scéniques«. 663 Vgl. zu dieser Thematik auch: C ORVIN , »Introduction«, i-iii sowie Z IEGLER , Jean Genet, 92. 664 »[Un] Nègre balafré, puant, lippu, camus, mangeur, bouffeur, bâfreur de Blancs et de toutes les couleurs, bavant, suant, rotant, crachant, boiseur de boucs, toussant, pétant, lécheur de pieds blancs, feignant, malade, dégoulinant d ’ huile et de sueur, flasque et soumis« (489). 665 M ELCHER , »The Pirandellism of Jean Genet«, 35. Vgl. dazu auch M KAPA , »What black is black? «, 39 f. 225 Verharren im aufoktroyierten › Neger ‹ -Bild kanalisieren sie in ihrer Schauspielerei. 666 Die einzige Identität, über die der › Neger ‹ gegenwärtig verfügt, ist also jene des Schauspielers, des Schein-Produzierers - bzw. mit Blick auf seine Konstitution als reflet weißer Vorurteile - des Schein-Reproduzierers. 667 Form und Inhalt sind in interessanter Weise aufeinander bezogen: Da die › Neger ‹ keine Schwarzen sind und insofern über keinen realen Referenten in der Wirklichkeit verfügen, sind sie in absolutem Sinn Kunstfiguren. 668 Als solche können sie gewissermaßen nur in abyssalen Stücken leben, die Scheinwelt eines potenzierten Theaters wird zu ihrem einzigen Lebensraum, wie ihr Spielführer ihnen beständig wiederholt: »Mais alors, quel domaine nous reste! Le Théâtre! Nous jouerons à nous y réfléchir et lentement nous nous verrons, grand narcisse noir, disparaître dans son eau.« (495) Sinn und Zweck des › Neger ‹ -Spiels besteht darin, den › großen schwarzen Narziss ‹ in seinem Wasser verschwinden zu sehen. Die inszenierte › Zerr-Spiegelung ‹ , zu der sich die Neger genötigt sehen, findet ihren verbalen Niederschlag im wortschöpferischen und selbst spiegelbildlich angelegten Schlachtruf ihres Spielführers: › Mögen sich die Neger negern ‹ : A RCHIBALD , grave. Je vous ordonne d ’ être noir jusque dans vos veines et d ’ y charrier du sang noir. Que l ’ Afrique y circule. Que les Nègres se nègrent. Qu ’ ils s ’ obstinent jusqu ’ à la folie dans ce qu ’ on les condamne à être, dans leur ébène, dans leur odeur, dans l ’œ il jaune, dans leurs goûts cannibales. Qu ’ ils ne se contentent pas de manger les Blancs, mais qu ’ ils se cuisinent entre eux. Qu ’ ils inventent des recettes pour les tibias, les rotules, les jarrets, les lèvres épaisses, que sais-je, des sauces inconnues, des hoquets, des rots, des pets, qui gonfleront un jazz délétère, une peinture, une danse criminelles. Que si l ’ on change à notre égard, Nègres, ce ne soit par l ’ indulgence, mais la terreur! (502 f.; m. H.) 666 »They will exorcise the image by acting it out«, bringt es Graham-White auf den Punkt (G RAHAM -W HITE , »Jean Genet and the Psychology of Colonialism«, 210). 667 Die ontologische Scheinhaftigkeit des › Negers ‹ zeigt sich besonders deutlich in seinem Unvermögen, wahrhaft zu empfinden: »Tu crois l ’ aimer. Tu es un Nègre et un comédien. Ni l ’ un ni l ’ autre ne connaîtront l ’ amour« (495), ermahnt der Spielführer nicht nur Village, sondern seine Truppe insgesamt. 668 Die Inauthentizität der › Neger ‹ zeigt sich schon in ihrer Physis. Das › Neger-Sein ‹ steht den › Negern ‹ - wie bereits das › Weiß-Sein ‹ den Weißen - plakativ ins Gesicht geschrieben. Genets Programmatik zur Inszenierung, »Pour jouer › Les Nègres ‹ « (in: ders., Théâtre complet, 473 f.), fordert die Selbstbemalung der Schauspieler ins programmatisch Wilde: »Quand Bobo enduit de cirage la figure de Village, elle doit le faire avec beaucoup de soin. Elle peut utiliser des cirages noirs, jaunes, rouges et blancs afin de réussir un maquillage assez sauvage. Elle applique les couleurs comme le fait un peintre sur sa toile, en se reculant pour apprécier. Les autres Nègres, comme les visiteurs d ’ un musée, apprécient aussi, la tête penchée . . .« (473). Die Handlungsdirektive führt anschaulich vor Augen, dass der › Neger ‹ nicht per se existiert, sondern direkt vor Augen des weißen Zuschauers bzw. durch die Augen des weißen Zuschauers - des innerwie des außerfiktionalen - erst entsteht. 226 Anstatt sich resigniert in ihr Schicksal zu fügen oder sich, was ohnehin vergeblich wäre, als › Nicht-Neger ‹ zu behaupten, nehmen Genets › Neger ‹ ihr Zerrspiegelbild als theatrale Rolle an. Wie Narziss im Abgrund seiner Quelle - so versinken die › Neger ‹ im eigens geschaffenen Theater-abyme eines inszenierten Sexualmords. Im übersteigerten Verkörpern jener Rolle, die ihnen die weiße Gesellschaft zugeteilt hat, gedenken sie, eines Tages ihre › Neger ‹ -Identität durchbrechen und zu einer nicht mehr fremdbestimmten, eigenen Identität vorstoßen zu können. Die › Neger ‹ scheinen ihre › Neger ‹ - Hülle in einer Art theatralen Exorzismus so sehr aufblasen zu wollen, dass sie gemeinsam mit dem Zerrspiegel, der sie produziert, zerplatzt. Form und Inhalt, mise en abyme und › Neger ‹ , lassen sich also in ihrem aufrührerischen Charakter zusammenreflektieren. Beide begehren sie auf, und dies in ähnlicher Weise: So wie die mise en abyme in Les Nègres gegen die Inszenierung als Repräsentation und Mimesis von Wirklichkeit rebelliert, gerade indem sie diese Inszenierung radikal ins Visier nimmt und immerfort iteriert, gestalten auch die › Neger ‹ ihre Revolte: Durch die exzessive Inkorporierung und Wiederholung der (Vor-)Urteile führen sie diese ad absurdum: »Nous sommes ce qu ’ on veut que nous soyons, nous le serons donc jusqu ’ au bout absurdement« (541). Die Mechanismen von mise en abyme und › Negerrevolte ‹ denunzieren überkommene Vorstellungen also gerade durch deren unerbittliche Zurschaustellung: die mise en abyme in (theater-)ästhetischer und die › Negerrevolte ‹ in ideologischer Hinsicht. Eine weitere bedeutende Analogie von › Negerrevolte ‹ und mise en abyme liegt in ihrem potenziert fiktiven bzw. poetischen Grundcharakter. Genet reflektiert, wie auch die Autoren der engagierten Literatur, die Veränderung bzw. die Veränderbarkeit menschlichen Denkens. Dabei legt er seinen besonderen Akzent allerdings auf die Wirkungsmacht von Poesie, von Wort und Form des Kunstwerkes: »Afin que cet événement - la ou les représentations - , sans troubler l ’ ordre du monde«, schreibt Genet an seinen Regisseur Roger Blin, »impose là une déflagration poétique, agissant sur quelques milliers de Parisiens«. 669 › (Nicht) gestörte Weltordnung ‹ und › poetische Explosion ‹ werden, wie in Les Nègres, unmittelbar in einen Reflexionskontext gestellt. Die › Neger ‹ inszenieren im Stück en abyme nicht lediglich den Mord an einer Weißen, sondern vielmehr die Poetisierung desselben. Das Privileg, sich durch die Erzeugung von Fiktion als potent zu generieren, bleibt den weißen Rezipienten verwehrt und ist ausschließlich den › Negern ‹ vorbehalten. Symbol dieses Potenzials ist der Katafalk. »Nous, nous serons 669 G ENET , Lettres à Roger Blin, 11. 227 sauvés par ça« (495), betont der Spielführer, bedeutet den Katafalk und damit das Verbrechen der › Neger ‹ . 670 Da sich die › Neger ‹ ohnehin als Verdammte verstehen, halten sie vehement an ihrem Verbrechen gegen die weißen Unterdrücker fest, mehr noch, sie glorifizieren es als identitätsstiftend: F ÉLICITÉ , les mains aux hanches, et explosant. Ah, vraiment? Eh bien, Dahomey! Dahomey! Nègres, venez m ’ épauler. Et qu ’ on ne laisse pas escamoter le crime. (À la Reine) Personne n ’ aurait la force de le nier. Il pousse, il pousse, ma belle, il grandit, verdit, il éclate en corolles, en parfums, et c ’ est toute l ’ Afrique ce bel arbre, mon crime! (529) 671 Afrika und das Verbrechen werden auf engstem Raum miteinander korreliert. Ein afrikanisches Ich-Bewusstsein und der Sexualmord an Marie, der allabendlich als Binneninszenierung theatralisiert wird, 672 florieren nur gemeinsam. Der Katafalk enthält laut Angaben der › Neger ‹ die Leiche jener Frau, deren Mord im Binnenstück nachgespielt wird; darüber hinaus visualisiert er, indem er eine Bühne auf der Bühne darstellt, die Korrelation von Verbrechen und Binneninszenierung. Indem sich die Katafalk-Bühne gegen Stückende als leer erweist, wird der fiktionale Charakter der Binneninszenierung spektakulär akzentuiert: »Pas de caisse? Pas de caisse, non plus? Ils nous tuent sans nous tuer et nous enferment dans pas de caisse non plus! « (527), konstatiert der Gouverneur, worauf der Missionar die daraus resultierende Bedrohung erkennt: »Ils nous ont joué la comédie. (Au Valet.) Ne riez pas! Vous voyez bien ce qu ’ ils font de nous? « (527). Durch ihre »comédie« entziehen sich die › Neger ‹ also dem Zugriff der Weißen, verkehren das Verhältnis und gewinnen durch die theatrale Fiktionalisierung ihres Verbrechens fatalen Zugriff auf ihre Unterdrücker: L E J UGE , aux Nègres. A vous écouter, il n ’ y aurait pas de crime puisque pas de cadavre, et pas de coupable puisque pas de crime. Mais qu ’ on ne s ’ y trompe pas: un mort, deux morts, un bataillon, une levée en masse de morts on s ’ en remettra, s ’ il faut ça pour nous venger; mais pas de mort du tout, cela pourrait nous tuer. (527) »Mille cadavres ou un seul, c ’ est pareil«, schreibt Genet in seinem Roman Pompes Funèbres. 673 Doch gäbe es überhaupt keine Toten zu richten, gerät der Richter selbst in Gefahr. Die verschiedenen Funktionen im oppressiven 670 An anderer Stelle formuliert der Spielführer noch deutlicher: »N ’ oubliez pas ceci: nous devons mériter leur réprobation, et les amener à prononcer le jugement qui nous condamnera . . . Je vous le répète, ils connaissent notre crime . . .« (491). 671 Dies wird auch dadurch illustriert, dass Félicité den Katafalk wie ein Masthühnchen zu füttern vorgibt (502). 672 »Mais . . . vous avez bien fait d ’ accomplir le rite, comme chaque soir« (519; m. H.). 673 G ENET , Pompes funèbres, 142. 228 Mühlwerk, und damit die weiße Existenzgrundlage, würden obsolet. So initiieren die › Neger ‹ , anders als Figuren in engagierter Literatur, nicht lediglich ein gewaltsames Aufbegehren gegen ihre Peiniger, sondern sie inszenieren sich mithilfe ihres Stückes en abyme als Schöpfer der Illusion eines gewaltsamen Aufbegehrens. Erst Fiktion stellt eine Befreiung in Aussicht. Eine solche Befreiung, so die › Neger ‹ , kann ausschließlich im Medium der Poesie erfolgen: Faites ce que vous pourrez. Inventez, sinon des mots, des phrases qui coupent au lieu de lier. Inventez non l ’ amour, mais la haine, et faites donc de la poésie, puisque c ’ est le seul domaine qu ’ il nous soit permis d ’ exploiter. (488) Vor diesem Hintergrund gewinnt der Sexualmord, da sich die › Neger ‹ existenziell und ausschließlich als Schauspieler konzipieren, poetische Qualität: »Nous sommes des comédiens, notre massacre sera lyrique« (535). Die Narration des (den › Negern ‹ zufolge zunächst › real ‹ verübten) Mordes, die jeder Inszenierung vorausgeht (485 - 488), reicht offenbar nicht aus, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Seine Wirkungsmacht entfaltet das Verbrechen erst dann, wenn die › Neger ‹ es kontinuierlich als theatrale Inszenierung nachspielen. Mithilfe ihres selbstreferentiellen Spiels eröffnet sich den › Negern ‹ nämlich die Möglichkeit, ihre eigene Sprache zu reflektieren. Dabei können sie, um ihren eigenen Ton zu finden, deklamieren (üben), anhalten, überdenken, weiter sprechen. Vor diesem Hintergrund ist es besonders bemerkenswert, dass die Sprachfindung ausgerechnet am Begriff › Vater ‹ diskutiert wird: V ILLAGE . Minute. Le mot de père, par quoi pourrai-je le remplacer? A RCHIBALD . Votre périphrase conviendra parfaitement. V ILLAGE . Elle est bien longue. Die Periphrase, auf die man sich kollektiv einigt, um »père« zu ersetzen, lautet »le mâle qui engrossa la Négresse de qui je suis né« (488). Nicht nur das Wort › Vater ‹ , sondern auch dessen gesamte religiöse, machtpolitische und patriarchale Aura wird durch die Umschreibung sowie die Reduzierung auf den reinen biologischen Akt vernichtet bzw. durch die Verbindung von »mâle« und »Négresse« › eingenegert ‹ (503). Indem die › Neger ‹ die Sprach- und Identitätsfindung als Theaterstück en abyme inszenieren, erhalten sie freie und potenziell unendliche Spiel- und Entfaltungsräume, die ihr Spielführer dezidiert zu jenen beschränkten des rückwärts gewandten Hofstaates in Opposition setzt: »C ’ est par l ’ élongation que nous déformerons assez le langage pour nous en envelopper et nous y cacher« (488). Die › Neger ‹ leben folglich in der Sprache, sie › wickeln sich in ihr ein und verstecken sich in ihr ‹ ; poetische Sprache bedeutet per se Mehrdeutigkeit, Nicht-Greifbarkeit und 229 insofern Freiheit. 674 So spielen die › Neger ‹ ostentativ Theater, das per definitionem gesprochene Handlung ist. Als Kunstfiguren bemühen sie sich um das Erfinden einer neuen Sprache. Ihr Interesse ist dabei, wie jenes Genets, zugleich poetisch und politisch bzw. im Medium der Poesie identitätsstiftend: »Nous aussi nous sommes noirs. Mais nous, pour nous désigner, ce n ’ est pas de profondeur nocturne que nous parons nos métaphores. Ni d ’ étoiles. La suie, le cirage, le charbon, le goudron nous suffisent« (494). Sie wollen nicht imitieren, sondern neu schöpfen mithilfe einer neuen Sprache. 675 Anders als die Neger ist die Königin des Hofstaates hinter ihrer weißen Maske unfähig, sich wortgewaltig in Szene zu setzen. Im Rededuell gegen die Königin der Schwarzen scheitert sie schon am ersten Wort: Sie zeigt sich »incapable de trouver le premier mot« (529). Die Sprache der Unterdrücker ist gerade nicht schöpferisch, sondern nachahmend, repetitiv, mechanisch. Nicht nur das erste, sondern auch das letzte Wort zu finden, ist der weißen Königin verwehrt; ihr und ihrem Hofstaat bleibt lediglich die Verwendung vorgeformter Worthülsen. Ihre Sprachlosigkeit versuchen sie durch das Singen eines Psalms zu kompensieren: L A R EINE . Mais enfin, je n ’ ai pas dit mon dernier mot. L E V ALET , à son oreille: Chantez un psaume! (531) Die Weißen sind keine Künstler mit schöpferischem Potenzial, sondern passive Rezipienten. Aus diesem Grund fürchten sie die sprachschöpferische Kraft der › Neger ‹ in besonderem Maße, wie der Richter, › schreiend ‹ , expliziert: »Parce que vous êtes déguisés en chiens savants, vous croyez savoir parler, et déjà vous inventez des énigmes . . .« (490). 676 Sprachbefähigung ermächtigt offensichtlich dazu, › Wunder zu erfinden ‹ und, wie sich in der abyssalen Theaterdarbietung zeigt, diesen Wundern (auf für die Unterdrücker tödliche Weise) künstlerischen Ausdruck zu verleihen. So wird einerseits ein existenzieller Wandel in Aussicht gestellt: »Le temps n ’ est pas encore venu de présenter des spectacles sur de nobles données. Mais peut-être soupçonne-ton ce que peut dissimuler cette architecture de vide et de mots« (541). Andererseits wird dieser Wandel, der bezeichnenderweise wieder nicht › real ‹ , sondern seinerseits als › Spektakel ‹ konzipiert ist, ausdrücklich offen gehalten. Welche › edlen Gegebenheiten ‹ werden also in Aussicht gestellt und 674 Anders sieht dies Worton, demzufolge sich die › Neger ‹ in ihrer eigenen Sprache verfingen: »[The] Blacks, through their choice of a linguistic system condemn their revolt to failure« (W ORTON , »The Temptation of Language«, 170). 675 Vgl. zur Relevanz der Sprache mit Blick auf Genets Gesamtwerk: E KOTTO / R ENAUD / V ANNOUVONG , Toutes les images du langage. 676 Ähnlich beunruhigt äußert sich auch die Königin: »Assez! Et faites-les taire, ils ont volé ma voix! Au secours . . .« (499). 230 welche (politische) Rolle spielt dabei die gegenwärtig von den › Neger- Schauspielern ‹ geschaffene › Architektur aus Leere und Worten ‹ ? 7.5 Politisches Theater? Politische mise en abyme? D IOUF . Nous le savons tous que le seul événement qui pourrait nous arracher de ce jeu de miroirs c ’ est le sang. J EAN G ENET , »Appendices« 677 Les Nègres offenbart eine vergleichsweise stark politisierte Spielform von mise en abyme. Über die Frage, ob Genets Theater grundsätzlich soziopolitische Intentionen hege oder nicht, ist seit den 1950er Jahren viel diskutiert worden: »Is there any redeeming social message to be found in his plays? « 678 Ist Genet »the most politically sophisticated dramatist of his generation« oder hat er im Gegenteil keinerlei »clear political purpose«? 679 Die Frage nach der politischen Grundhaltung Genets und insbesondere seines Stückes Les Nègres ist bis heute offen. 680 Zur Unterfütterung der Argumentation, Genets Theater verweigere klare politische Aussagen, werden insbesondere die metatheatralen und abyssalen Strukturen ins Feld geführt. 681 Dort, wo es üblicherweise auf unzweideutige Stellungnahmen ankomme, lasse Genet gerade durch strukturelle Mehrschichtigkeit, durch Illusionspotenzierung und Illusionsbruch ein Höchstmaß an Uneindeutigkeit walten, womit er seine ideologischen Prämissen verwässere. Genet ist aber gleichzeitig ein sozial und politisch engagierter Autor, der sich Unterdrückten und Ausgestoßenen gegenüber außerordentlich loyal 677 G ENET , Théâtre complet, 559. 678 O XENHANDLER , »Can Genet Be Saved? «, 429. Vgl. für einen aktuellen Überblick zur politischen Dimension in Genets Werk: F INBURGH / L AVERY / S HEVTSOVA , Performance and Politics sowie L AVERY , The Politics of Jean Genet ’ s Late Theatre. 679 L AVERY , »Reading The Blacks through the 1956 preface«, 68 bzw. G RAHAM -W HITE , »Jean Genet and the Psychology of Colonialism«, 213 f. 680 2007 inszenierte Cristèle Alves Meira Les Nègres im Pariser Athénée Théâtre Louis-Jouvet. Auf die Frage nach der Umsetzung der »pertinence politique« des Stückes antwortet sie verhalten: »Le terme › politique ‹ me dérange. Je ne l ’ emploierais pas pour qualifier ma lecture de Genet.« Les Nègres sei nicht politisch, sondern humanistisch (R ENAUD / V ANNOUVONG , »Entretien avec Cristèle Alves Meira«, 171). 681 Vgl. C ONNON , »Confused? «, v. a. 428 - 437; S AVONA , Jean Genet, 119 sowie »Théâtre et univers carcéral«, v. a. 201 und 208. 231 und solidarisch zeigt. 682 Auch Les Nègres erhalte, so Genet, seinen Sinn ausschließlich vor dem Hintergrund rassistischer Vorurteile und Konflikte; das Stück schreibt sich in eine soziopolitische Aktualität ein und erhebt, zumindest indirekt, den Anspruch, »liens d ’ hommes« zu schaffen: Que deviendra cette pièce quand auront disparu d ’ une part le mépris et le dégoût, d ’ autre part la rage impuissante et la haine qui forment le fond des rapports entre les gens de couleur et les Blancs, bref, quand entre les uns et les autres se tendront des liens d ’ hommes? Elle sera oubliée. J ’ accepte qu ’ elle n ’ ait de sens qu ’ aujourd ’ hui. 683 Andererseits weist Genet mit Aussagen wie jener über sein Stück Les Bonnes die Prämissen engagierter Literatur weit von sich: »Une chose doit être écrite: il ne s ’ agit pas d ’ un plaidoyer sur le sort des domestiques. Je suppose qu ’ il existe un syndicat des gens de maison - cela ne nous regarde pas.« 684 Bertolt Brecht, der Anwalt des Proletariats, sage Genet zufolge nichts als »conneries«. 685 Polemisch grenzt sich Genet auch bezüglich der poetischen Form von Brecht ab: [P]arce que Galiléo Galiléi me cite des évidences que j ’ aurais découvertes sans Brecht. [. . .] Rien de ce que dit Strindberg ne peut être dit autrement que poétiquement et tout ce que dit Brecht peut être dit et finalement a été dit prosaïquement. 686 Genet hingegen sei als Schreibender von einem rein poetischen Interesse beseelt, wie er auf die Frage zum Verhältnis von seinem Schreiben und seiner Homosexualität erläutert. Er schreibe nicht, um die Homosexuellen zu 682 So identifiziert sich Genet ausdrücklich mit seinen › Negern ‹ : »[Je] ne pouvais me retrouver que dans les opprimés de couleur et dans les opprimés révoltés contre le blanc. Je suis peut-être un noir qui a les couleurs blanches ou roses mais noir. Je ne connais pas ma famille« (G ENET , Dialogues, 17). Genet entwickelt ein eifriges Engagement für aufständische Bewegungen, besonders leidenschaftlich und aufopferungsbereit für die Black Panther und die Palästinensische Befreiungsorganisation (vgl. zu dieser Thematik: D URHAM , »The Deaths of Jean Genet«; G AITET , »Jean Genet ’ s American Dream«; K HÉLIL , Jean Genet, v. a. 45 - 55). Genets Engagement erstreckt sich auch auf den kulturellen Bereich: Die Inszenierung von Les Nègres verhalf dem théâtre noir in Frankreich zum Durchbruch, nicht zuletzt durch Genets vehemente Forderung, trotz ihrer Unerfahrenheit afroamerikanische Schauspieler zu verpflichten; erstmalig agieren auf einer französischen Bühne ausschließlich Schwarze: Dies bedeutet insofern einen »tournant dans l ’ histoire de l ’ image de nègre au théâtre« (C HALAYE , Du Noir au nègre, 383), als Schwarze zuvor auf Rollen in seichtem, stereotypem und sexualisiertem Vaudeville-Theater beschränkt waren (vgl. L AVERY , The Politics of Jean Genet ’ s Late Theatre, 147 f.). 683 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 835. 684 G ENET , »Comment jouer › Les Bonnes ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 127. 685 G ENET , Dialogues, 11. 686 Ebd. 232 befreien, sondern »for the taste of words, even for the taste of commas of punctuation, for the taste of the sentence.« 687 Auch mit Blick auf Les Nègres findet Genet klare Worte: »La pièce que vous lirez n ’ a donc pas pour but d ’ inciter les Noirs à la révolte.« 688 Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur »communauté blanche« und eines gemeinsamen kulturellen Hintergrunds würde ein intendiertes Engagement stets die Gefahr der Selbstherrlichkeit bergen: »Il faut se méfier de notre enthousiasme pour les causes généreuses, il devient vite une attitude de complaisance à notre égard.« 689 Die Unterdrückten, so Genet, müssen sich selbst befreien: »Les minorités doivent conquérir elles-mêmes leurs libertés.« 690 Frantz Fanon zufolge werde das › kolonisierte Ding ‹ erst durch den Prozess der Selbstbefreiung Mensch. 691 Und eben diese Prämisse verhandeln Genets › Neger ‹ , die auch noch keine Menschen, sondern vielmehr › Dinge ‹ spielen. Dabei zeigt sich aber auch, dass ein Theater, das politische Inhalte verhandelt, nicht zwangsläufig im Sinne Brechts erfolgen muss. Gemeinsam ist beiden Autoren der metatheatrale Verfremdungseffekt, der die Rezipienten zu distanzierter und differenzierter Reflexion anregen soll. Genet geht es aber offensichtlich nicht um die Verkehrung von Machtverhältnissen, sondern um die Denunzierung von Macht tout court, wie aus folgendem Zitat über die Palästinenser deutlich wird: »The day the Palestinians establish themselves, I ’ ll no longer be at their side. The day the Palestinians become a nation like any other nation, I ’ ll no longer be part of it.« 692 Genet, so postuliert er immer wieder, nimmt Anteil am Prozess, nicht am Ergebnis, am Akt der Befreiung, nicht an der Etablierung einer neuen Macht. Er verspüre einzig »une volonté d ’ être contre tout pouvoir établi, d ’ être du côté du plus faible«. 693 Ein palästinensischer Staat ginge seinerseits mit Unterdrückung, Konformität und der Imitation überwunden geglaubter Machtdiskurse einher. Eben diese Gefahr deutet sich in Les Nègres an, wenn die schwarzen Protagonisten Gefahren der Sprach- 687 G RAZIA , »An Interview with Jean Genet«, 314. Ähnlich äußert sich Genet im Interview mit Hubert Fichte. Auf dessen Frage, ob er sich beim Schreiben dezidiert an jemanden wende, antwortet Genet: »Jamais. Je n ’ ai pas réussi probablement, mais c ’ est mon attitude envers la langue française, que j ’ ai voulu façonner d ’ une façon aussi belle que possible, le reste m ’ était complètement indifférent« (G ENET , Dialogues, 37). 688 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 837. 689 Ebd. 838. 690 Ebd. 691 Vgl. F ANON , Les Damnés de la terre, 6: »[La] › chose ‹ colonisée devient homme dans le processus même par lequel elle se libère.« 692 H ONEGGER / W ISCHENBART , »Interview«, 45. Vgl. zu dieser Thematik auch: B ICKEL , »Crime and Revolution«, 178. 693 G ENET , Dialogues, 26. 233 findung reflektieren 694 oder sehnsüchtig einen neuen Anführer erwarten. 695 In der Genet eigenen Grunddynamik wird die Erwartung des › Neger-Anführers ‹ durch die Frage Bobos, ob er wenigstens schwarz sei, wieder ironisch gebrochen. In der zyklischen Bewegung des Stückes ist anzunehmen, dass der mit Spannung erwartete Anführer »demain« (508), während der nächsten Inszenierung en abyme, wie sein Vorgänger hingerichtet wird. Bezeichnenderweise sei der nächste Anführer »[c]omme vous l ’ imaginez« (534), und der Imaginationsraum der › Neger ‹ ist das Theater. Politische Führungsapparate, Staatsgefüge und Machtstrukturen im Allgemeinen seien Genet zufolge stets theatral: Il me semble que le pouvoir ne peut se passer de théâtralité. Jamais. [. . .] Le pouvoir se met à l ’ abri d ’ une théâtralité, en Chine, en Union soviétique, en Angleterre, en France, partout, c ’ est la théâtralité qui domine. 696 Doch, so Genet weiter, gebe es »un endroit au monde où la théâtralité ne cache aucun pouvoir, c ’ est le théâtre. [. . .] C ’ est absolument sans danger.« 697 Genets kolonialisierte › Neger ‹ veranschaulichen dieses Potenzial des Theaterraumes auf eindrückliche Weise. So dienen die ostentativ theatralen Spiegeleffekte der komplexen mise en abyme nicht nur der Veränderung des › weißen Blicks ‹ sowie der Identitätsfindung des › Negers ‹ , sondern ganz grundsätzlich dazu, Machtstrukturen mit ihren eigenen Mitteln (wie theatraler Inszenierungskünste, orchestrierter Performances und wortgewaltiger Pathetik) vorzuführen und zu diskreditieren. Genet entblößt die Unterdrückungsmaschinerie der abendländischen Kolonisation, vermeidet es aber, dogmatisch und insofern selbst zum Unterdrücker zu werden. Les Nègres propagiert keine 694 Die Entwicklung einer eigenen Sprache birgt Gefahren. Genet zufolge sehen sich die Unterdrückten stets dem Risiko ausgesetzt, sich dem Diskurs ihrer Unterdrücker anzupassen: »Il me semble que tous les révolutionnaires se servent des moyens les plus académiques de la société qu ’ ils viennent de renverser ou qu ’ ils se proposent de renverser. Tout se passe comme si les révolutionnaires se disent: › Nous allons prouver au régime que nous venons de renverser que nous sommes capables de faire aussi bien que lui. ‹ Et alors ils imitent les académismes, ils imitent la peinture officielle, l ’ architecture officielle, la musique officielle« (G ENET , Dialogues, 20). Noch sind Genets › Neger ‹ nicht so weit, vor imitierenden Diskursen gefeit zu sein: »nous avons tenté de dérober votre beau langage« (482), sagt der Spielführer der › Neger ‹ zum weißen Hofstaat. Die › Neger ‹ sind, wie ihr Stück, selbst noch im Werden, »en train de se faire« (A SLAN , Jean Genet, 86; vgl. zum Figurenkabinett Genets zwischen Bewegung und Starre: C OOK , »Quest for Immobility« sowie F RESE W ITT , »Towards a Theater of Immobility«). 695 Alle › Neger ‹ , auch die Weiß-Maskierten, zeigen sich sehr interessiert an ihrem neuen Anführer: »T OUS , parlant ensemble: Décris-le! . . . Montre-nous-en des morceaux! .. Faisnous voir son genou, son jarret, son orteil . . . Son œ il! Ses dents« (534). 696 G ENET , Dialogues, 24. 697 Ebd. 234 › politisch korrekten ‹ und unmittelbar eingängigen Wahrheiten oder leicht zu destillierende Handlungsdirektiven. Politische Agitation oder absolute Handlungsanweisungen wären wieder nur die Kehrseite kategorialen Schwarz-Weiß-Denkens. Nur indem es sich selbst immerfort bespiegelt und dabei verzerrt, kann das Theater »ganz ohne Gefahr« (Reflexions-) Räume eröffnen. Was wäre anders, wenn, wie von einigen Kritikern gefordert, 698 weiße Schauspieler den rezipierenden Hofstaat spielen und die realen weißen Zuschauer damit noch direkter attackiert würden? Es stünde dem Rezipienten im › Sumpf ‹ von Les Nègres zumindest eine kleine feste Scholle zur Verfügung, auf der er stehen und von der aus er urteilen, einordnen und unwegsame Stückaspekte leichter ignorieren könnte: › Die Weißen sind böse, die Schwarzen nicht. ‹ Doch Genet verzichtet auf einen solch simplifizierenden doppelten Boden und entlarvt die Willkür und Leere schwarz-weißer Kategorien. Weiße sind nicht weiß: »Il faut d ’ abord vous dire qu ’ ils mentent ou qu ’ ils se trompent: ils ne sont pas blancs, mais roses, ou jaunâtres . . .« (521); und auch Nicht-Weiße erhalten keine feste Identifikationsrolle, sondern kreisen im Prozess ihrer Identitätsfindung als Schöpfer und Darsteller selbstreferentieller Fiktionen unentwegt um die im Vorspann gestellte Ausgangsfrage: »M AIS QU ’ EST - CE QUE DONC UN NOIR ? E T D ’ ABORD , C ’ EST DE QUELLE COULEUR ? « (475) 699 Die Prämisse des Spielführers - »Sous leurs yeux tu deviens un spectre et tu vas les hanter« (495) - lässt sich also in Richtung beider Seiten, der weißen wie der schwarzen Rezipienten, verstehen. Genets gewaltsam um Freiheit und Selbstbestimmung kämpfende › Neger ‹ sind, wie sich nicht zuletzt in der steten Betonung ihrer Scheinhaftigkeit sowie ihrer besonderen Sprache offenbart, konzeptuell keine Signifikate, sondern Signifikanten: 700 »Les Noirs en Amérique blanche sont les signes qui écrivent l ’ histoire; sur la page blanche ils sont l ’ encre qui lui donne un sens.« 701 Als Wuchernde verdrängen sie, gleich dem potenten Buchstaben das amorphe 698 Vgl. M ARTIN , »Racism«, 521 sowie M AILER , »Theatre«. 699 Hervorhebung im Original. 700 Indem sie sich noch schwärzer malen und stetig ihre Vermehrung betonen - »Songe, toi, aux moustiques de nos marécages, s ’ ils piquaient ma peau, de chaque abcès sortirait un Nègre« (532) - rücken sie sogar physisch in Richtung eines Zeichens. 701 G ENET , Un captif amoureux, 290. Das Bild schwarzer Zeichen auf weißer Fläche entwirft Genet in seinem letzten Roman Un captif amoureux (1986), in dem er sich nach über 25 Jahren literarischen Schweigens kurz vor seinem Tod (am 15. April 1986) noch einmal zu Wort meldet: wieder als »porte-parole de tous ceux qu ’ ils nomment des › révolutionnaires ‹ « (W EISMAN , »Jean Genet«, 302). 235 Papier, das verschwindende Weiße. 702 Ohne die sie konturierenden Schwarzen bzw. poetischen Zeichen darauf wäre die weiße Seite bedeutungslos: »Sotte, que vous seriez plate, sans cette ombre qui vous donne tant de relief« (530), sagt, »ironique«, auch die Königin der › Neger ‹ zur Königin der Weißen. Gleichzeitig aber verschwindet das Weiße dezidiert nicht vollständig, 703 sonst wäre die Seite ja › schwarz ‹ und als solche ebenfalls bedeutungslos. Das Weiße bleibt dem Schwarzen vielmehr als Hintergrund, in den es sich in einer zyklischen Endlosbewegung als Akteur einschreibt, erhalten. Als materielles Abbild dieser Schwarz-Weiß-Metaphorik kann abermals der Katafalk betrachtet werden. Unüblicherweise ist er nicht durch ein schwarzes, sondern durch ein weißes Tuch verhängt. So wirkt es, als befände sich im Zentrum der Bühne, als Bühne auf der Bühne, von Beginn an und stets in zentraler Positionierung verbleibend, eine weiße (und durch eine › Geschichte ‹ 704 zu beschreibende) Fläche. Die › Neger ‹ tanzen als schwarze Zeichen um den Katafalk herum und gestalten im Modus der Fiktionspotenzierung verschiedene Handlungsstränge aus, im Zuge derer sie immer auf den weiß bespannten Katafalk (und die angebliche Leiche darin) bezogen bleiben. Dabei geben sie sich mehrfach als Autoren der dargebotenen Fiktionen zu erkennen, wie aus den Worten ihres Spielführers ersichtlich wird: »C ’ est à moi qu ’ il faut obéir. Et au texte que nous avons mis au point« (484). Auf diese Weise beschreiben sie als schwarze Zeichen plastisch die weiße Fläche, die sie en abyme gespannt haben. Bezeichnenderweise wird die weiße Fläche des Katafalks kurz vor Spielende in einem spektakulären coup de théâtre entfernt. Die leblose Weiße ist in zweifachem Sinne durch Schwarze befleckt worden: Die weiße Frau (im Modus potenzierter Fiktionalität) vergewaltigt, die weiße Fläche symbolisch beschrieben. 705 Eben das selbstbewusste und konzeptionell unbegrenzte Entwerfen und Inszenieren einer neuen, einer eigenen Geschich- 702 »La représentation s ’ achève et vous allez disparaître« (541). So lautet die Drohung des › Negers ‹ und Spielführers Archibald an den weißen Hofstaat. 703 Vgl. dazu die Worte der Königin: »Nous partons, nous partons, mais dites-vous que nous resterons engourdis dans la terre comme des larves ou des taupes, et si un jour. . . dans dix mille ans« (541). 704 In den »Appendices« schimpft Ville de Saint-Nazaire: »Faites ce que vous voudrez. Continuez cette histoire. Amusez-vous. Amusez-les (il montre le public) moi je m ’ en vais« (G ENET , Théâtre complet, 560). 705 Analog zur symbolisch geschwärzten und schließlich entfernten weißen Fläche des Katafalks und der weißen Masken wird die hintere Fläche des Bühnenraums unmittelbar vor Spielende als schwarzer Vorhang emporgezogen, und zwar diesmal empor-, nicht auseinander gezogen, wie noch zu Stückbeginn: »Le rideau est tiré. Non levé: tiré« (478) hieß es vor dem Spiel ganz explizit. Es scheint, als würde die durch die vollzogenen Handlungsstränge geschwärzte Fläche wie eine Papierrolle aufgerollt. Indem sie aufgerollt wird, gibt sie den Blick auf die nächste, wiederum ausgebreitete jungfräuliche 236 te 706 - »écrite sur le néant, un artifice sur le néant« 707 - führen Genets › Neger ‹ dem weißen Rezipienten eindrücklich vor Augen und schreiben damit in doppeltem Sinne selbstbewusst Geschichte. Die › Neger ‹ setzen Zeichen und wollen selbst als solche gedeutet werden. Fläche frei: »un catafalque drapé de blanc comme celui qui était sur la scène au lever du rideau« (542). 706 Wieder stehen die Schwarzen, nunmehr durch die ehemaligen Weißen verstärkt und damit nicht mehr zu acht, sondern zu dreizehnt, um die weiße Fläche herum; die Weißen sind nun »débarrassés de leurs masques« (542) und folglich ebenso schwarz wie die anderen. Die Schwarzen scheinen in ihrer Grunddisposition als poetische Zeichen bereit zu stehen, die nächste Weiße (Fläche) durch eine Binneninszenierung zu › beflecken ‹ . 707 G ENET , Un captif amoureux, 11. 237 Durch den Spiegel und dahinter. Conclusio und Ausblick Por momentos pienso dar en la coyuntura de la verdad, y por minutos me hallo tan lejos della, que vuelvo a subir el monte que acabé de bajar, con el canto de mi trabajo a cuestas, como otro nuevo Sísifo. C ERVANTES , »El coloquio de los perros« 708 [Denn] wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. S CHLEGEL , »Über die Unverständlichkeit« 709 Wirkungs- und Funktionsweisen der mise en abyme Als (literarisches) Symbol steht der Abgrund für »Zustände, die (noch) nicht Gestalt gewonnen haben oder vom Standpunkt des durchschnittlichen Bewußtseins aus unvorstellbar sind«, für das »Rätselhafte, Mysteriöse und schwer Erforschbare«, generell für »Unübersichtlichkeit«. 710 Auch der Versuch, die Implikationen der mise en abyme zu rekapitulieren, ist eine besondere Herausforderung; zumal André Gide, der die Erfolgsgeschichte des Begriffs 1893 initiierte, seine Ausführungen prozessual, rätselhaft und unübersichtlich anlegte, wodurch die mise en abyme in der Folge tatsächlich zu einem › schwer erforschbaren ‹ Gegenstand wurde. Der per se unergründliche und dunkle Abgrund der mise en abyme löst offensichtlich das Bedürfnis nach Ergründung und Erleuchtung aus. Doch Gide versucht, anders als die Forschung nach ihm, gerade nicht, den Abgrund durch Sicherheit stiftende Termini und Definitionen auszuleuchten und zu überbrücken. Statt dessen schafft er eine Begriffsbestimmung, die insofern ihrem Untersuchungsgegenstand entspricht, als sie selbst abgründig und dunkel angelegt ist. Gide hält die mise en abyme definitorisch nicht fest, sondern nähert sich dem Phänomen in einer - 708 C ERVANTES , Novelas ejemplares, Bd. II, 356. 709 S CHLEGEL , Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 370. 710 Herder-Lexikon Symbole, 9 sowie R ENGER , »Abgrund/ Tiefe«, 3. 238 der mise en abyme entsprechenden - offenen Bewegung prozessual an: So kann er keines der Beispiele, die er zur Erläuterung anführt, als »absolument juste« verstehen, nicht einmal den an letzter Stelle angedachten Wappenschild en abyme. 711 Gides heraldischer abyme-Begriff, der seinen semantisch, motivlich, inhaltlich und strukturell ambivalenten Tagebucheintrag › abschließt ‹ , erweist sich sogar als besonders dunkel und › fehlerhaft ‹ : zum einen, da dasselbe Wappen im Wappen nicht existiert, und zum anderen, da selbst die orthographische Hülle › nicht stimmt ‹ : üblich wäre abîme oder abysme. 712 Vor diesem Hintergrund wird Gides Tagebucheintrag in der bisherigen Forschung, die darin dem einzigen Standardwerk zur mise en abyme, Lucien Dällenbachs strukturalistisch kategorisierender Dissertation Le récit spéculaire von 1977 folgt, häufig als unpräzise und insgesamt verwirrend abgetan. Er gilt zur Begriffsbestimmung als inadäquat und wird zugunsten von Dällenbachs Studie vernachlässigt. Doch Gide wusste, wovon er sprach. Er setzte sich ausführlich mit der Heraldik auseinander. Grundlage des Verständnisses der mise en abyme, wie es in der vorliegenden Arbeit entwickelt wurde, ist die Annahme, dass die sich in Gides Reflexionen zu künstlerischen Produktions- und Rezeptionsprozessen offenbarende › Fehlerhaftigkeit ‹ kein Versehen, sondern der mise en abyme existenziell zu eigen ist. Abyssale Texte zelebrieren die den poetischen Texten per se innewohnenden Mehrdeutigkeiten, Paradoxien und › Fehler ‹ auf offensive Weise und schaffen darüber hinaus einen Rahmen, in dem solche »verfluchte[n] Unnatürlichkeiten« 713 inszeniert werden. Dieses Sich-Entziehen entspricht bereits Gides Grunddefinition der mise en abyme, derzufolge sich innerhalb eines Kunstwerkes das »sujet même de cette œ uvre« zeige. 714 In seinem Abgrund - und damit laut heraldischer Definition zentral positioniert, gerahmt und die Hauptinformationen des Gesamtgebildes darbietend - soll sich, so Gide, eben das sujet même finden. Der Zusatz même verstärkt zwar den Fingerzeig auf das sujet, macht es aber nur noch unfassbarer: Was ist das sujet même, mehr noch, was ist das sujet même dieses Werkes? 715 Die Auseinandersetzung mit verschiedenen abyssalen 711 G IDE , Journal, 171. 712 Vgl. Anm. 256. 713 T IECK , Der gestiefelte Kater, in: ders., Schriften, Bd. VI, 510. 714 G IDE , Journal, 171. 715 Das Demonstrativpronomen »cette« legt nahe, dass sich das sujet même höchstens für das jeweilige Kunstwerk bestimmen lässt, was allgemeingültige Kategorien zur Klassifizierung selbstreferentieller Texte abermals problematisch erscheinen lässt. 239 Werken verdeutlicht, 716 dass sich das sujet gerade nicht, wie von Lucien Dällenbach postuliert, als »récit« fassen lässt, 717 sondern die grundsätzliche Frage aufwirft, was sich im Innern der mise en abyme und insofern in der Tiefe eines Kunstwerkes befindet. Im Folgenden wird versucht, die elementaren Eigenschaften der mise en abyme zunächst mit Blick auf die untersuchten Werke zu rekapitulieren und sie anschließend als Wechselspiel aus programmatisch poetologischen und zugleich widersprüchlich poetischen Erwartungshaltungen zu pointieren. Zuletzt wird der Rezipient in seinem Bemühen um (Selbst-)Erkenntnis auf dem Prüfstein stehen. Rezas Une pièce espagnole enthält als sujet même die Erarbeitung von »une pièce espagnole« des fiktiven Dramenautors Olmo Panero. Dieses Stück en abyme entwickelt wiederum »une pièce bulgare« eines anonymen Schriftstellers, welches ein weiteres (Musik-)Stück erarbeitet. 718 Schließlich wird in tiefster Verschachtelung wiederum ein Vorspiel in Szene gesetzt und damit eine selbstreferentielle Bewegung ins Unendliche angedeutet. Analog dazu ist allen Illusionsebenen gemeinsam, dass sie konzeptuell unfertig sind und als Höhepunkt jeweils ein offenes Ende inszenieren. Das Motiv der Unabgeschlossenheit durchzieht als wichtiger Bestandteil der mehrfachen mise en abyme das Werkganze. Der lockere Zusammenschluss der kommentierenden Meta-Szenen entspricht den theoretischen Erläuterungen der Klavierlehrerin. Die Anordnung folgt keiner zwingend linearen Notwendigkeit, sie könnte an jeder beliebigen Stelle unterbrochen, beendet und fortgeführt werden. Wenn Rezas Schauspieler-Figuren davon sprechen, aktuell »une pièce espagnole« zu proben, 719 nennen sie damit, ohne dies weiter zu reflektieren, den exakten Titel des Gesamtwerkes, dem sie selbst als fiktive Figuren angehören. So weitet sich die heraldische Schachtelfigur eines Wappens im Wappen im Wappen in die Richtung einer Möbiusschleife aus: Rezas Une pièce espagnole gründet in Paneros »une pièce espagnole«, 720 welches wiederum in Rezas Une pièce espagnole gründet . . ., usf. Wie in den von Gide besprochenen Bildern präsentiert die Autorin das »condensé de tout ce qui [l ’ ]a jamais intéressée 716 Die Begriffsbestimmung der mise en abyme wird mit Blick auf die in Gides Tagebuchpassage genannten narrativen, theatralen, gemalten und heraldischen Werke erarbeitet und anhand moderner Theaterstücke von Chaurette, Genet und Reza hinterfragt. Vgl. zur Auslotung des Werkkanons: Kapitel 1 und 2.3. 717 D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 61. 718 R EZA , Une pièce espagnole, 37 und 52. 719 Ebd. 37. 720 Ebd. 240 dans l ’ écriture« 721 nicht als definitiv und abgeschlossen, sondern im Moment seiner Erarbeitung: So kreiert sie nicht nur ein schöpferisches Alter ego, Olmo Panero, sondern lässt ihr Stück im theatralen Milieu wurzeln, durch Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen, Bühnenbildner, Kritiker und Rezipienten reflektieren und weiterentwickeln. Diese Künstler-Figuren verhandeln eine Reihe poetischer und poetologischer Prämissen, die in einer ironischen Sowohl-als-auch-Bewegung gleichzeitig genannt und in Frage gestellt werden. In dieser Dynamik brechen feste Autorintentionen zugunsten eines außer Kontrolle geratenen Kunstwerkes auf: »Tous ces imbéciles qui parlent de leurs intentions«, schimpft der Schriftsteller Parsky in Rezas L ’ homme du hasard: Tous ces imbéciles qui ont produit du sens à la pelle, aucun pour nous dire tout m ’ a échappé, aucun contrôle sur l ’ objet, ce que j ’ ai prémédité, je ne m ’ en souviens plus et tout ce qui reste est arrivé bringuebalant au port. 722 Trotz seiner vielfältig durchgespielten Offenheit weist Une pièce espagnole eine durchreflektierte Stückstruktur auf, die mithilfe der ironisierten Spielweisen innerhalb der mise en abyme auch der realen Inszenierung abverlangt wird. Diesen vermeintlichen Widerspruch zwischen autoritärer Konstruktion und freier Werkentfaltung löst Une pièce espagnole durch eine Engführung musikalischer und literarischer Kompositionsmechanismen, insbesondere durch Anklänge an Bachs Fugenkunst, die in der polyphonen Erarbeitung eines Subjekts eine reflektierte Konstruktion und eine freie Selbstgenese miteinander vereint. Eine weitere wichtige Parallele musikalischer und literarischer bzw. theatraler Schöpfung entfaltet sich zwischen den Ebenen in der Wechselwirkung von Ton und Stille sowie als Legato-Spiel. Diese Spielanweisungen, die sich eigentlich an externe Inszenierungen richten, leistet der Text jeweils von alleine bzw. er thematisiert und inszeniert deren mögliche (Nicht-) Beachtung innerhalb der mise en abyme. Dadurch unternimmt es der Dramentext, die eigene theatrale Umsetzung zu antizipieren, zu beeinflussen, zu karikieren und sich letztendlich als autonom zu behaupten. Die Widersprüche zwischen Offenheit und Konstruktion des Werkes, zwischen Erfüllung und Ironisierung der Publikumserwartung, zwischen verurteilter Gefallsucht und gewünschtem Erfolg der Künstler bleiben nebeneinander bestehen: »[V]euillez je vous prie«, verlangt der Schauspieler, der Mariano spielt, »ne pas nous restreindre à une définition, fût-elle à vos yeux 721 Vgl. Anm. 315. Keines ihrer Stücke, so Reza selbst, sei ihr näher als Une pièce espagnole (vgl. W ETZEL , »Yasmina Reza auch als Filmregisseurin erfolgreich«, n. pag.). 722 R EZA , L ’ homme du hasard, in: dies., Théâtre, 10. 241 prestigieuse«. 723 Mit der Hinterfragung fester und berechenbarer Autorintentionen sowie Stückstrukturen geht die Ironisierung fester und berechenbarer Interpretationsschemata einher. Die außerfiktionalen Rezipienten werden als ironisierte Figuren in die Stückentwicklung miteinbezogen. Die Vielzahl negativer Reaktionen auf Une pièce espagnole zeigt allerdings, dass gerade dieser Einbezug in die werkinterne Auslotung des sujet même als lästig empfunden wird: »Aber um was ging es gleich noch? «, 724 fragen sich der Rezensent Werner Theurich und eine Reihe weiterer Rezipienten offenbar nur widerwillig und spottend. Dass solche Reaktionen fiktionsintern bereits vorweggenommen, ironisiert und sogar zu differenzieren versucht werden, reflektieren die Kommentatoren nicht mit. Dadurch ignorieren sie den kulturpolitischen Außenbezug, den Une pièce espagnole, das so genannte › Edel-Boulevard-Stück ‹ , schafft, indem es eben diese Kategorisierung äußerer Kritiker hinterfragt. Die Frage nach dem Gehalt des Stückes stellt sich für Normand Chaurettes Provincetown Playhouse, juillet 1919, j ’ avais 19 ans noch viel dringlicher: Verhandelt es einen Kindsmord? Eine Kriminalgeschichte? Eine homosexuelle Liebe? Wahnsinn? Als potenziertes Theater alles zugleich? Provincetown Playhouse ist ein Stück mit ausgeprägten und vielfältigen mise-en-abyme- Strukturen: Sogleich zu Stückbeginn wird auf der Bühne eine zweite Bühne eröffnet. Diese Bühne kehrt sich, anders als in Rezas Une pièce espagnole und Genets Les Nègres, nicht nach außen, sondern nach innen: »La pièce se passe dans la tête de l ’ auteur, Charles Charles 38«. 725 Im weiteren Stückverlauf fächert sich die instabile Bühne eines unzuverlässigen, da den eigenen Angaben zufolge wahnsinnigen Erzählers, in immer weitere Bühnen(-stücke) auf, die sich in einem schnellen und komplexen Spiegelspiel ineinander reflektieren. Die Funktionen der mise en abyme sind dabei vielfältig: Sie ermöglicht es, ästhetische Wegbereiter (wie die amerikanischen Province- 723 R EZA , Une pièce espagnole, 81. 724 T HEURICH , »Lass mal, das kippt hier! «, n. pag. Wenn Michael Mönninger das mehrschichtige und abyssale Une pièce espagnole für die ZEIT als ein »Schubladensystem in 28 Kurzakten«, als »Rollenschubläden mit doppelten Böden« und letztendlich als »Schubladenhüter« bezeichnet, scheint es ihn zu stören, Rezas selbstreferentielles Stück nur mühsam in ein eigenes klassifikatorisches Schubladensystem einordnen zu können (M ÖNNINGER , »Einmal Leben«, n. pag.). Sogar der Regisseur der Uraufführung, Luc Bondy, beklagt die Offenheit des Stückes aufgrund der fehlenden Szenenanweisungen. Lieber hätte er Direktiven zur Hand gehabt und »wenn auch nur«, so Reza, »um sich ihnen zu widersetzen« (R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 59). 725 C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 25. 242 town Players) gleichzeitig auf- und ironisch wieder abzublenden und sich von überkommenen Poetologien (wie jener des québecer Theaters der 1970er Jahre) abzusetzen. Sie versieht die theatrale Interpretation des Stücktextes mit Aporien und spielt präventiv die eigene Auflösung durch. Die mise en abyme gibt dem Stück die Gelegenheit, den Autor sterben, ihn sich selbst opfern bzw. zum › Prädikat seines Textes ‹ 726 werden zu lassen und › ideale ‹ Werke in Szene zu setzen, die, wie das Théâtre de l ’ immolation de la beauté, konzeptuell nur ein Anfang, nur eine Idee sind. Im Zuge dessen inszeniert Provincetown Playhouse die Wirkungsmacht des Theaters noch intensiver als Rezas Une pièce espagnole und reklamiert es als autonomen Raum. Im theatralen Laboratorium des Provincetown Playhouse ist in den Strukturen verschiedener mises en abyme ein ständiges, da ebenentransgressierendes Sowohl-als-auch möglich: Genauso wie ein Kind › draufgeht ‹ 727 und zugleich gar nicht existiert (hat), ist Charles Charles all- und zugleich ohnmächtig, sind Alvan und Winslow exekutiert worden und zugleich lebendig, wird das Théâtre de l ’ immolation de la beauté einmal, nie und zugleich tagein, tagaus aufgeführt. Das Stück zelebriert in jeglicher Hinsicht Offenheit und Nicht-Wissen im Sinne eines ironisch auf die Spitze getriebenen sokratischen › Ich weiß, dass ich nicht weiß ‹ : »Je plaide l ’ ignorance«, betont der Schauspieler Alvan, um seine Gedanken über das allgemeine Nicht-Wissen selbst als »confusion« zu entwickeln. An der Hinrichtung der unschuldigen Schauspieler Alvan und Winslow wird deutlich, welche fatalen Konsequenzen ein dogmatisches › Zu-wissen-glauben ‹ nach sich zieht: Toute cette histoire est gouvernée au départ par l ’ ignorance. Personne savait. Alors il y a eu confusion, parce que tout le monde était sensé tout savoir. Voyez comme c ’ est curieux, il y a un enfant dans le sac, nous on le sait pas. Or, on dit au public qu ’ il y a un enfant dans le sac, donc le public le sait. Alors le public ignore que nous on sait pas. Alors nous tout ce qu ’ on sait c ’ est ce que le public ignore. Mais comme le public sait pas qu ’ il ignore, une fois qu ’ on saura tout le public pensera qu ’ on le savait . . . Alors on s ’ est pris à notre propre jeu. 728 Die Künstler, so Alvan, wollten lediglich ein Kunstwerk aufführen. Dadurch aber, dass ihre Rezipienten sie verbindlich beim Wort genommen hätten, sei ihnen - beiden: den Rezipienten wie den Künstlern - das Kunstwerk zur Falle geworden. Analog zu Magrittes La trahison des images (1929), das im Bild einer Pfeife gerade keine Pfeife ausstellen will und damit das Verhältnis von Wirklichkeit 726 B ARTHES , »La mort de l ’ auteur«, in: ders., Le bruissement de la langue, 64. 727 Vgl. C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 88: »[U]n enfant y a laissé sa peau«. 728 Ebd. 96. 243 und Kunst problematisiert, 729 ist das Geschehen in Provincetown Playhouse durch die mise en abyme als eine Form von › Ceci n ’ est pas un infanticide ‹ radikalisiert. Die verruchte Tat eines Kindsmords ist für den kurzen Moment der Inszenierung en abyme - solange die Zuschauer noch nicht wissen, dass der Sack nicht Watte, sondern tatsächlich ein Kind enthält - zugleich Wirklichkeit und Kunst: › Dies ist (k)ein Kindsmord ‹ . Charles Charles verkehrt in seinem potenzierten Theater traditionelle Hierarchien: In seiner Konzeption erwächst nicht aus Realität Fiktion, sondern andersherum, aus Fiktion erwächst Realität. Der Autor setzt das Theater, indem er es in sich selbst ins Unendliche spiegeln lässt, absolut. Er verbietet es, seine Fiktion nach Maßstäben der Realität zu beurteilen und spielt den Ball an den Rezipienten zurück: »Mais on ne peut pas dire que notre théâtre s ’ est donné comme mission d ’ éventrer les enfants . . . ce serait interpréter, ce serait jouer sur les mots, enfin . . . ce serait confondre les choses«. 730 Provincetown Playhouse warnt den Rezipienten immer wieder vor vorschnellen und voreingenommenen Urteilen. Dieser Warnung wird nicht nur durch die Personifizierung der schematisch denkenden und willkürlich richtenden Richter als Anti-Helden Ausdruck verliehen, sondern sie deutet sich bereits im Hauptmotiv an: »Une table sur laquelle on a déposé un sac et des couteaux.« 731 Einzig dieser erste Satz der ersten Szenenanweisung, mit ihm nur Titelgebung und Personenverzeichnis, stehen außerhalb der vollkommenen Übertragung des Stückgeschehens sowie der Darstellungshoheit an einen Psychiatrie-Insassen. 732 Durch die exponierte Positionierung und den Sonderstatus, als Einziger nicht dezidiert im Kopf eines (selbst ernannt) wahnsinnigen Autors angesiedelt zu sein, wird diesem ersten Satz ein starkes Gewicht verliehen. Ein Sack ist eine Hülle und angesichts der dargestellten Zeit des Stückes, des frühen 20. Jahrhunderts, als Jutesack per se eine Textur, die als solche den illusionsintern mehrfach evozierten Stücktext widerspiegelt. 733 Darüber hinaus führt der Sack insofern eine materielle Spielform der mise en abyme des Gesamtstückes vor, als er in toto in dessen Hauptgegenstand, »le sacrifice 729 Als Vorläuferform dieser Dynamik gilt Denis Diderots Erzählung Ceci n ’ est pas un conte (in: ders., Œ uvres complètes, Bd. XII), in der bereits wichtige Funktionen der Selbstreferentialität erörtert werden (vgl. zur Selbstreferentialität in der Narrativik der Aufklärung: B ARON , »Erkenntnis und Interesse«). Das titulative Spiel mit der eigenen Verfasstheit wird bereits im Forschungsdiskurs nachgeahmt; Michael Scheutz nennt seine Studie zur Selbstreferenz in der Philosophie: Ist das der Titel eines Buches? 730 C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 36. 731 Ebd. 25. 732 Vgl. ebd.: »La pièce se passe dans la tête de l ’ auteur, Charles Charles 38.« 733 Vgl. ebd. 26. 244 de la beauté«, 734 als Morphem eingelagert ist. Der Inhalt des Sacks, gewissermaßen das zu Stückbeginn angedeutete sujet même des Gesamtstückes, ist, sofern überhaupt vorhanden, verborgen. Wie mahnend daneben einige Messer - so als könnte jeglicher (vorhandene oder hineingedachte) Gehalt sogleich wieder zerstört werden. Provincetown Playhouse scheint sich folglich in Gänze, bezüglich seiner bedrohten Rezeption, seiner Schöpfung zwischen Genie und Wahnsinn, seiner cohérence fautive und insbesondere seines kurzen Moments der Deckungsgleichheit von Fiktion und Realität, auf Messers Schneide zu verorten. Dieser schmale Grat wird in Jean Genets Les Nègres ausdrücklich verlassen. In ihrem Stück en abyme verwenden die Figuren ebenfalls Messer. Diese richten sie aber nicht gegen das eigene Werk oder als Künstler gegen sich selbst, sondern, zumindest symbolisch, gegen die Weißen, die, wie bei Chaurette, gleichzeitig die Rezipienten ihrer Binneninszenierung und zugleich ihre Richter sind. Die Messer entstammen allerdings nicht dem ambivalenten Zwischenraum einer cohérence fautive aus Realität und Fiktion, sondern sind, wie die Schauspieler-Figuren durch eine mehrfache und illusionsstörende mise en abyme vollkommen theatralisiert: »Mais, il joue encore ou il parle en son nom [? ]«, muss selbst der Spielführer der › Neger ‹ -Truppe zögernd fragen, um erklärend hinzuzufügen: »Un comédien . . ., un Nègre . . . s ’ ils veulent tuer, irréalisent même leurs couteaux.« 735 Im Zuge dieser absoluten und zugleich politisch motivierten › Irrealisierung ‹ des verhandelten sujets spielt die mise en abyme, wenn auch in einer anderen Akzentuierung als in Une pièce espagnole oder Provincetown Playhouse, wiederum eine bedeutende Rolle. Anders als in den zuvor untersuchten Stücken führt sie ästhetische und › lebensweltliche ‹ 736 Probleme auf engstem Raum zusammen. Dabei bekleidet sie eine Reihe sich gegenseitig bedingender Funktionen: Da die › Neger ‹ keine Menschen, sondern Zerrspiegelbilder rassistischer Vorurteile darstellen, können sie sich ausschließlich in Räumen theatraler Irrationalität bewegen. Sie sind absolute Kunstfiguren und als solche auf ewig der potenzierten Bühnenillusion verhaftet. Im Spiegel der mise en abyme entlarven die › Neger ‹ nicht nur den Blick ihrer Unterdrücker als unmenschlich und überkommen, sondern sie erkennen sich selbst als Abbilder eines › Neger ‹ -Narziss, den es im Prozess einer unabhängigen Identitätskonstituierung und eigenen (poetischen) Sprachfindung durch das exzessive Inszenieren ihrer leeren › Neger ‹ -Stereotypie zu versenken gilt. Aus Mangel an eigener Sprache und, aufs engste damit 734 Ebd. 27 und 72. 735 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 535. 736 Vgl. Anm. 585. 245 verbunden, an eigener Identität - »Parler une langue, c ’ est assumer un monde, une culture« 737 - spielen die › Neger ‹ ein Theater, das sich selbst und gleichzeitig sie selbst als zu Konstituierende reflektiert. Da sich Les Nègres durch seine exzessive mise en abyme in keiner bestimmten Interpretation ad acta legen lässt - Genet wurde bezeichnenderweise von weißen wie von schwarzen Rezipienten sowohl als Visionär und Aufklärer wie auch als Reaktionär und Faschist gehandelt 738 - , kann es auch von keiner Seite instrumentalisiert werden. Les Nègres fordert gegensätzliche Reaktionen heraus, polemisiert, hallt nach, sät Zweifel: »Par contre, il m ’ était permis de tenter de blesser les Blancs, et par cette blessure fairer entrer le doute.« 739 Die › Wunde ‹ , durch die sich der › Zweifel ‹ Zutritt verschaffen soll, ist eng an das Bild des Katafalks der Binneninszenierung, einer materialisierten mise en abyme, und der (nicht) darin liegenden weißen Leiche geknüpft. Die › Neger ‹ bezeichnen ihr Spiel als »architecture de vide et des mots«, 740 und eben eine › Konstruktion aus Nichts und Wörtern ‹ ist auch der Katafalk: Er wird zwar durch die performativen Worte der Figuren beständig als Sarg ausgegeben, löst sich aber am Stückende spektakulär und mit fatalen Folgen für das weiße Abendland in einen Nicht-Katafalk (ohne Leiche) und gleichzeitig in eine tödliche Falle oder, rezeptionsästhetisch, in eine Leerstelle auf. So enthält und symbolisiert der Hohlraum des Katafalks - und mit ihm die mise en abyme - die gesamte, aus ihm hervorgehende und ihn konturierende Inszenierung neuer Sprache und Identitäten. Gerade die Vieldeutigkeiten des Theaters en abyme, die dort zu entwickelnde Sprache und die stete Potenzierung möglicher Sinnbezüge verhindert die Annahme fester Signifikate: »Il faut tenir l ’ équivoque jusqu ’ à la fin«, schreibt Genet in »Comment jouer › Le Balcon ‹ «. 741 Genets Theater hält dazu an, Kategorien nicht zu relativieren oder zu verkehren, sondern kategoriales Denken per se anzugreifen und die dabei entstehende Offenheit und Widersprüchlichkeit im eigenen Urteil auszuhalten: »Je suis donc de toute façon jugé et condamné«, schreibt Derrida in Glas, seiner kontrastiv in zwei Spalten angeordneten Lektüre von Hegel und Genet, 742 »c ’ est ce qu ’ il a toujours cherché à faire: si j ’ écris pour son texte, 737 F ANON , Peau noire, masques blancs, 50. 738 Vgl. Anm. 584 sowie 698. 739 G ENET , »Préface inédite des › Nègres ‹ «, in: ders., Théâtre complet, 838. 740 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 541. 741 G ENET , Théâtre complet, 258. 742 Das Verfahren, zwei Spalten einander gegenüber zu stellen, geht auf Genet selbst zurück, der es erstmalig in seinem Text Ce qui est resté d ’ un Rembrandt déchiré en petits carrés et foutu aux chiottes angewendet hatte, um seiner seelischen Zerrissenheit (insbesondere nach der Lektüre von Sartres autoritärer Genet-Biographie Saint Genet, comédien et martyr) Ausdruck zu verleihen (vgl. P LUNKA , The Rites of Passage of Jean 246 j ’ écris contre lui, si j ’ écris pour lui, j ’ écris contre son texte. Cette amitié est irréconciliable.« 743 Die Kunst, so zeigt Genets Les Nègres eindrücklich, bleibt autonom. Ob sich die › Neger ‹ von ihren weißen Unterdrückern und einem falschen Selbstbild befreien, bleibt ungewiss. Doch gerade dadurch, dass dieser so zentrale Aspekt auf Handlungsebene nicht vordeterminiert, sondern als mise en abyme ins Unendliche potenziert wird - »Mais . . . vous avez bien fait d ’ accomplir le rite, comme chaque soir« 744 - , rücken die realen schwarzen wie weißen Zuschauer als zu überdenkende Konstruktionen ins Blickfeld. Der Akzent verlagert sich offensiv auf die Erkenntnisfähigkeit des Rezipienten. Dieser darf, wie Derrida expliziert, zwar ein enges, da beidseitig forderndes Verhältnis zu Genets Texten ausbilden, jedoch ohne das › Unversöhnliche ‹ dieser › Freundschaft ‹ harmonisieren zu können: »Vous allez nous parler raison, conciliation: nous nous obstinerons dans la déraison, dans le refus«, verheißt der Spielführer der › Neger ‹ stellvertretend für das Gesamtstück. 745 Ein auf Harmonie angelegtes Verständnis weicht einer unbehaglichen Verkehrung der Perspektiven: »Rappelez-vous, c ’ est lui [Genet] qui vous lit«, warnt Derrida. 746 Ein grundsätzliches Charakteristikum der mise en abyme, so zeigt ein Überblick auf alle untersuchten Werke, ist die Eröffnung eines eigenen Raumes, in dem - › im Abgrund ‹ , › im Spiegel ‹ bzw. heraldisch: › auf dem Herzschild ‹ eines Kunstwerks und insofern in zentraler und metaphorisch aufgeladener Positionierung - ein Wechselspiel zwischen normativ dogmatischen und künstlerisch autonomen Erwartungshaltungen verhandelt wird. Dadurch sind abyssale Werke immer programmatisch und normativ und zugleich poetisch und widersprüchlich. Diese Ambivalenz führt Gide in seiner Tagebuchpassage eindrücklich vor. Am gespiegelten Ineinander von Programmatik, Normativität und ambivalenter Werkentfaltung sind zuvörderst der gespiegelte Schöpfer, sein Werk en abyme sowie der fiktive Rezipient beteiligt, wobei die drei Instanzen ihrem jeweiligen › realen ‹ Pendant provokativ den Spiegel vorhalten. Ihr Ringen offenbart sich in theatralen Texten besonders anschaulich, da sich die fiktionsintern gespiegelten Produktions- und Rezeptionsprozesse sowie die Werk- Genet, 120). Derrida lässt seinen Text Glas darüber hinaus jeweils mitten im Satz beginnen und auch enden, womit er die konzeptuelle Offenheit im eigenen Denkgebäude sowie in jenem Genets auch graphisch umsetzt. 743 D ERRIDA , Glas, 224. 744 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 519. 745 Ebd. 490; m. H. 746 D ERRIDA , Glas, 248. 247 strukturen - zwischen Autor und Regisseur, zwischen Leser und Zuschauer sowie zwischen Dramentext und Inszenierung - verdoppeln und gegenseitig hinterfragen. Dabei zeigen sich elementare Eigenschaften der mise en abyme, welche sich wie folgt pointieren lassen: Normative Erwartungshaltungen, die sich beispielsweise in Poetologien offenbaren, setzen eine textuelle Endversion, den point final unter einem Werk voraus, Werke mit mise en abyme greifen diesen Schlusspunkt spielerisch auf, unterlaufen ihn und illustrieren damit den grundsätzlich prozessualen Charakter poetischer Werke. Diese Prozessualität zeigt sich sowohl im scheinbar provisorischen Charakter der Tagebuchpassage Gides als auch in der jeweiligen Werkdynamik seiner gewählten Beispiele aus Malerei und Literatur sowie in der konzeptuellen Unfertigkeit bzw. der jeweils ins Unendliche weisenden Wiederholungsstruktur der untersuchten Theaterstücke. Durch die mise en abyme wird nicht nur Kunst, sondern gleichzeitig eine eigene, implizite und notwendigerweise vorläufige, veränderbare und sich selbst hinterfragende Kunsttheorie geschaffen. Dadurch wird Kunst, wie vor 200 Jahren von Friedrich Schlegel gefordert, permanent »im Werden« 747 gehalten. Eng verknüpft mit der Prozessualität ist die - versuchte bzw. problematisierte - Klassifizierbarkeit künstlerischer Werke ein charakteristisches Merkmal des abyssal inszenierten Wechselspiels: Während mit einer normativen Erwartungshaltung versucht wird, verbindlich zu klassifizieren, entziehen sich Werke mit mise en abyme einer definitiven Klassifizierung. Kategoriale Bemühungen werden in allen Werken, sogar auf Ebene der Handlung, gespiegelt, ironisiert und analog zur Intensität selbstreferentieller Dynamiken zurückgewiesen. Ein weiteres Charakteristikum der mise en abyme betrifft das Wechselspiel aus Regel und Regellosigkeit: Normative Denktraditionen fordern Kohärenz und Konsistenz, Werke mit mise en abyme umkreisen dieses Streben nach Ordnung und Gleichmäßigkeit, stehen dabei allerdings, gerade als mehrdimensionale und verzerrende Spiegelungen produzierende Konstruktionen, selbstbewusst zu Fehlern, Brüchen, Paradoxien. Dies ist, in einer vermeintlich fehlerhaften Orthographie sowie Metaphorik des abyme-Begriffs, bereits in Gides Tagebucheintrag angelegt und findet sich beispielsweise in Chaurettes Provincetown Playhouse zur richtungweisenden Stückformel der »cohérence fautive«, 748 einer › fehlerhaften Kohärenz ‹ bzw. einer › Kohärenz aus Fehlern ‹ , komprimiert. 747 S CHLEGEL , »Athenäums-Fragmente«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 183. 748 C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 85. 248 Die gespiegelte (In-)Kohärenz geht mit Traditionsbezug bzw. mit Innovationsstreben einher: Während sich normative und dogmatische Schöpfungs- und Rezeptionshaltungen auf Tradition und überlieferte Werte berufen und ihrerseits tradiert werden wollen, richten Werke mit mise en abyme den Blick (häufig provokativ) nach vorn und streben in explizitem Bruch mit überlieferten Mustern nach Innovation. So ist allen untersuchten Werken gemeinsam, dass sie sich mittels ihrer mise-en-abyme-Strukturen einer einfachen Etikettierung und Instrumentalisierung, beispielsweise als Boulevardtheater (Reza), als Nouvelle dramaturgie québécoise (Chaurette), als engagierte Literatur oder als Absurdes Theater (Genet), entziehen: Dem Publikum von Rezas Une pièce espagnole bleibt das sonst übliche Lachen angesichts des › selbstreferentiellen Schubladensystem[s] ‹ 749 im Hals stecken, Chaurettes › Neue Dramaturgie ‹ gilt zwar als ästhetisch neu, gleichzeitig aber als »injouable«, 750 und Genets › Neger ‹ vermitteln, obschon sie einen der virulentesten soziopolitischen Konflikte ihrer Zeit verhandeln, weder eine sicher dechiffrierbare Botschaft noch die Resignation in ein als absurd empfundenes Schicksal. Die offensive Verweigerung, etikettiert zu werden, vollführen Werke mit mise en abyme - in Abkehr von normativen Systemen, die, wie die aristotelische Poetik, das vollendete Gesamtkunstwerk (mit Anfang, Mitte und Ende) postulieren und zu seiner Schöpfung Leitlinien und Regeln festsetzen - nicht zuletzt durch die Integration verschiedener, einander auch widersprechender Perspektiven in ein und demselben Werk. Die Neuperspektivierung kann soweit gehen, dass das Werk en abyme die vom Gesamtwerk vorgegeben Perspektiven gänzlich aufsprengt und einen eigenen Gehalt zur Schau trägt, der selbstbewusst und autonom in ein Konkurrenzverhältnis zum Gesamtkunstwerk tritt. Dabei wird semantischer Mehrwert geschaffen und ein flüchtig gewonnenes Verständnis des Kunstwerks nicht selten in sein Gegenteil verkehrt. Deutlich offenbart sich diese Autonomie des Werkes en abyme bereits in den von Gide angeführten Gemälden, deren gemalte Spiegel jeweils einen eigenen Bildinhalt präsentieren, der jenen des Hauptgemäldes als unzureichend und beschränkt erscheinen lässt. 751 749 Vgl. M ÖNNINGER , »Einmal Leben«, n. pag. 750 R IENDEAU , »Entretien avec Normand Chaurette«, 445. 751 Dällenbach zufolge präsentierten die Spiegel in den Gemälden nur partielle, konvexe und spiegelverkehrte Varianten des Gesamtbildes und insofern gerade nicht das sujet même. Aus diesem Grund empfinde Gide die Bilder als Beispiele für die mise en abyme als unzureichend (D ÄLLENBACH , Le récit spéculaire, 21). Damit suggeriert Dällenbach, das gespiegelte sujet même müsste eine vollständige, perspektivgetreue und präzise Reproduktion des Ganzen sein. Die Auseinandersetzung mit abyssalen Kunstwerken zeigt aber, dass das sujet même gerade nicht in einem exakten und sich leicht erschließenden Spiegelbild präsentiert wird, sondern in der Wechselwirkung zwischen Spiegel und 249 Im Zuge der Eigendynamik abyssaler Werke inszeniert die mise en abyme die selbstgenerative und transgressive Kraft von Kunst und Poesie und ironisiert dabei wie in einem Zerrspiegel normative Prämissen, die einen intentional und bewusst agierenden Schöpfer voraussetzen. Im ambivalenten Begriff des sujet même gehen Schöpfer und Werk bereits semantisch ineinander über: Sujet meint sowohl (schreibendes) Subjekt als auch (erschriebenes) Sujet. Die mise en abyme eröffnet einen Raum, in dem Dichter und Gedichtetes gemeinsam inszeniert, in Beziehung gesetzt und in ihrer Wirkung aufeinander reflektiert werden. In dieser › retroaktiven ‹ Dynamik verschwimmen die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt. 752 Das Werk ist nicht statisch, sondern als Werk im Werk (im Werk . . .) immer zugleich Setzendes und Gesetztes: Es enthält ein weiteres Werk und wird selbst von einem anderen Werk enthalten. Im Zuge dieser durch Potenzierung und Grenzverwischung begünstigten Ent-Hierarchisierung wird der Autor, analog zu seinem Werk, selbst ein »sujet que l ’ on imagine«, 753 das sich im Raum der mise en abyme bereitwillig den Rückwirkungen der eigenen Kunst aussetzt. Beide sujets, sowohl das Schreibende als auch das Geschriebene, zeigen sich also im Prozess ihrer Selbstfindung. Viele selbstreferentielle Werke treiben das autopoietische Spiel so weit, dass, wie in Chaurettes Provincetown Playhouse oder in Genets Les Nègres, der › Tod des Autors ‹ bzw. der › Tod des Rezipienten ‹ durchgespielt wird. Im Zuge dieser autopoietischen Bewegung verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt sowie zwischen Realität und Fiktion, sondern auch zwischen poetischen, poetologischen und rezipierenden Unternehmungen. Der Schöpfer offenbart sich innerhalb der mise en abyme als erster Betrachter und Kommentator seines Werkes und damit des Gesamtgefüges. Im Gegenzug werden dem Rezipienten angesichts einer Vielzahl von Leerstellen, welche die mise en abyme eröffnet und potenziert, wiederum schöpferische Anstrengungen abverlangt. Dabei setzen Werke mit mise en abyme, anders als ausdifferenzierte und Unbestimmtheiten vermeidende normative Modelle, selbstbewusst Leerstellen. Solche Leerstellen, die die metaphorischen Säulen der mise en abyme - der Abgrund bzw. der Spiegel - bereits in Gesamtgemälde - zwischen Produktion, Werk und Rezeption - erst entsteht. Die Spiegel stellen zwar einen Rückbezug zum Gesamtgemälde her, verändern aber als Teile immer die Sicht auf das Ganze. 752 Vgl. diesbezüglich auch Winfried Menninghaus ’ Besprechung der › Universalpoesie ‹ Schlegels: »Je komplexer die Reflexion, desto weniger gibt es eine eindeutige Klarheit darüber, welches ein reflektierender (Subjekt) und welches ein reflektierter Pol (Objekt) ist« (M ENNINGHAUS , Unendliche Verdopplung, 67). 753 G IDE , Journal, 171. 250 ihrer Grundbeschaffenheit offenbaren, 754 fordern den Rezipienten zu einer steten »Kompositionsaktivität« 755 heraus. Doch anders als in nicht oder nur wenig selbstreferentiellen Werken sieht sich der Rezipient abyssaler Texte fortwährend mit seiner eigenen Rezeptionsaktivität konfrontiert. Der Blick in den Abgrund als (Selbst-)Erkenntnis des Rezipienten In den gemalten Spiegeln der von Gide angeführten Gemälde finden sich betrachtende Subjekte, die - mit Ausnahme von Memlings Madonna mit dem Donator Maarten van Nieuwenhove - ausschließlich im Spiegel sichtbar werden, ohne dass ihre Präsenz innerhalb des Gesamtgefüges hinreichend erläutert würde. Aus dem Spiegel heraus stören die betrachtenden Subjekte die vermeintliche Geschlossenheit des Gemäldes und bereichern es zugleich. Dadurch werfen sie eben die von Gide angeregte Frage nach dem sujet même eines bzw. des jeweiligen Kunstwerkes auf. 756 Die Spiegel inszenieren den Blick von Personen, die als fremde oder in ihrer Präsenz und Perspektivierung mehrdeutige Gestalten aus der dargestellten Szenerie herausbrechen und in ihrer betrachtenden Tätigkeit dem externen Rezipienten und seinen Interpretationsversuchen buchstäblich den Spiegel vorhalten. 757 Das abyssale Kunstwerk lässt sich, wie alle untersuchten Texte auf ihre je eigene Weise 754 Abgrund und Spiegel zeichnen sich dadurch aus, dass sie von sich aus leer sind und insofern gerade kein sujet darbieten: Der Abgrund ist per definitionem ein unendlich tiefer und substanzloser Krater, und der Spiegel braucht ein Gegenüber, um einen Gehalt darbieten zu können. Die mise en abyme inszeniert, indem sie ein unbestimmtes sujet même offenbart, ebenfalls eine Leerstelle. Vgl. Kapitel 6.7.2. 755 Vgl. Anm. 563. 756 Zusammengeführt: Wer sind in Eycks Arnolfini-Doppelbildnis die beiden Männer im Türrahmen der Hochzeitszeremonie und was machen sie dort? Wird die Hochzeit › zur linken Hand ‹ durch den Spiegel aufgewertet? Und gleichzeitig durch das Verschwinden des Hundes - dem Symbol der Treue - wieder abgewertet? Warum hebt der Spiegel in Memlings Madonna mit dem Donator die Form des Diptychons zunächst auf und setzt den Rahmen letztendlich wieder hinter die Gespiegelten? Warum entspricht die Krümmung des konvexen Spiegels nicht den Gesamtproportionen des Gemäldes? Wer sind die gespiegelten Kinder (in Memlings Maria mit dem Kind) oder der rotbetuchte Mann (in Massys ’ Geldwechsler) und welche Funktionen bekleiden diese Fremden? Ist das Königspaar in Velázquez ’ Las Meninas Gegenstand der umgedrehten Leinwand? Und/ oder tritt es gerade ein? Ist der Spiegel, der diese Fragen zu beantworten scheint, womöglich selbst ein Bild oder soll er zumindest als solches erscheinen? 757 Die Hervorhebung des außerbildlichen Betrachters verstärkt sich insofern, als vier der fünf Spiegel große Fenster zeigen und damit aus dem Spiegel heraus wiederum die Aussicht auf das Außen eröffnen. 251 zeigen, nicht einfach distanziert aus einem Fauteuil heraus rezipieren, 758 sondern es erwidert den Blick des Rezipienten: »Und wenn du lange in einen Abgrund blickst«, warnt Nietzsche, »blickt der Abgrund auch in dich hinein.« 759 Diese Warnung lässt sich nicht nur auf die von Nietzsche angedeuteten psychischen »Ungeheuer«, 760 sondern auch auf die › étranges monstres ‹ 761 abyssaler Kunstwerke beziehen. Das Zurückblicken eines Werkes visualisiert sich anschaulich in den runden und konvex nach außen gewölbten Spiegel-Augen der Gemälde. Die mise en abyme verbietet es dem Rezipienten, die eigene Wahrnehmung absolut zu setzen und fordert ihn selbstbewusst zur Mitarbeit auf: »Gläubt ihr«, schreibt Heinrich von Kleist als Reaktion auf die Kritik an seinen Erzählungen in einem Epigramm, das den sprechenden Titel »F ORDERUNG « trägt: Gläubt ihr, so bin ich euch, was ihr nur wollt; recht nach der Lust Gottes, Schrecklich und lustig und weich; Zweiflern versink ich zu nichts. 762 Das Distichon richtet sich als Kunstwerk in nuce direkt an seine Rezipienten. Es spricht in der Ich-Form. Als poetischer Text könne es alles sein und alles bewirken, zugleich aber in ein Nichts zerfallen. Über diese Wirkungsspanne entscheidet allerdings nicht der Text selbst, sondern der Rezipient. Dieser wird fiktionsimmanent zu Glaube (und insofern zu Imaginationsleistung und gleichzeitigem › Für-wahr-halten ‹ ), zu Zuversicht, Vertrauen, Verantwortungsbereitschaft und schöpferischer Aktivität aufgefordert, das Werk nicht zu zerstören, sondern es anzureichern. Eine Kritik, die mithilfe klassifizierender Theoreme und ohne die Problematisierung der eigenen Wahrnehmung selbstreferentielle Texte in Kategorien › zergliedert ‹ , suggeriert hingegen eine kaum zu erreichende Objektivierbarkeit. Abyssale Texte produzieren, wie die in Les Faux-Monnayeurs erwähnten Fische im Abyssopelagial der Tiefsee, ihr eigenes Licht. Nichts, so Gide, erhelle ein Kunstwerk besser, als die mise en abyme des sujet même. Die dabei entstehende Spiegelung erfolge allerdings mithilfe eines »petit miroir convexe et som- 758 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 481. Bezeichnenderweise vermissen zwei der Hofstaatfiguren während der Aufführung ihre Stühle, die sich letztendlich als verhüllte Stützen des Katafalks erweisen. Dass sie das › Spektakel der Neger ‹ stehend und insofern angestrengt betrachten müssen, nehmen die Betroffenen nur widerwillig hin (vgl. ebd. 480). Anstrengende Rezeption und potenzierte Fiktion werden also anhand des Katafalks abermals auf ironische Weise visualisiert. 759 N IETZSCHE , Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Sämtliche Werke, 98. 760 Ebd. 761 Vgl. Anm. 515. 762 K LEIST , Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 20. 252 bre«. 763 Der Widerspruch zwischen eigens produzierter Erhellung und Verdunklung bleibt unauflösbar bestehen. Trotz ihrer vielfältigen Strategien, sich einem Zugriff von außen zu entziehen, zelebrieren abyssale Texte aber nicht zwangsläufig reine Negation oder Selbst-Verweigerung. Genauso wenig suggerieren sie, dass Kunst und Kunstverständnis bloßer Subjektivität anheim gestellt seien. Alle untersuchten Werke werfen, indem sie die eigene Geschlossenheit immer wieder durchbrechen und anzweifeln, die Frage auf, was überhaupt als objektivierbar und wahrhaftig gelten kann. »J ’ apprenais par exemple«, sagt der › Neger ‹ Diouf über die Weißen, »qu ’ ils ont la possibilité de représenter de vrais drames et d ’ y croire.« 764 Was sind aber › wahre Dramen ‹ und an welche (ihrer) Wahrheiten kann man glauben? Erinnert sei an Kleists selbstreferentielles Distichon, das mit der Bedingung »Gläubt ihr« beginnt, ohne zu präzisieren, woran der Rezipient glauben soll. Doch wenn man glaubt, »so bin ich euch, was ihr nur wollt; recht nach der Lust Gottes«. 765 Auch Kleist gibt weder sujet même noch Wahrheit vor, sondern inszeniert anstelle dessen wiederum einen Widerspruch. Wenn wir, die direkt angesprochenen Rezipienten, also (an das Kunstwerk? ) glauben, verwandelt es sich in › alles was wir nur wollen ‹ , doch dies wiederum »recht nach der Lust Gottes«: Bezieht sich Gottes Lust - und wer ist hier eigentlich Gott? - auf die Verwandlungsfähigkeit des › Distichon-Ichs ‹ , also des Kunstwerkes, oder auf die glaubende Vorstellungskraft des Rezipienten? Und ist das, woran dieser letztlich glaubt, sein eigenes Wollen oder Gottes Lust? Die Beantwortung dieser Frage lässt die Verskonstruktion nicht zu. Sicher scheint nur eines: Glaubt man nicht, so das Distichon, »versink ich zu nichts«. 766 Ein abyssales › Versinken zu Nichts ‹ umkreisen auf selbstironische Weise sowohl Genets › Neger ‹ , indem sie den Mittelpunkt ihres Binnenstückes, den Katafalk, letztendlich als »architecture de vide et de mots« 767 entlarven, als auch Chaurettes Charles Charles, wenn er die Hauptrequisite seines Théâtre de l ’ immolation de la beauté, den mit einem Kind gefüllten Sack, in Eigenregie durch einen Spielzeugtraktor und ein Kaninchen ersetzt. Selbst in Rezas Une pièce espagnole deutet sich, wenn auch spielerischer, ein › Versinken zu Nichts ‹ an: Inszeniere man ihre Theaterstücke ohne »Momente des Schweigens«, dann, so die Autorin selbst, »werden sie zu N ICHTS «. 768 Im bulgarischen Stück 763 G IDE , Journal, 171, m. H. 764 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 522. 765 K LEIST , Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, 20. 766 Ebd. 767 G ENET , Les Nègres, in: ders., Théâtre complet, 541. 768 R EZA , Gespräche mit Ulrike Schrimpf, 18; Hervorhebung im Original. 253 en abyme ist es Mariano, der die für das Stückganze so elementaren Pausen beständig durchbricht und verspottet. Ob die Stücke tatsächlich › zu nichts zerfallen ‹ , bestimmen allerdings nicht sie selbst. Alle drei Stücke bemühen sich um ein Ausloten von Wahrhaftigkeit und (Selbst-)Erkenntnis. Dabei lässt sich wiederum eine Steigerung konstatieren: Während Une pièce espagnole den Grundkonflikt von vrai und faux hauptsächlich als (Motiv-)Spiel konstruiert, entsteht in Provincetown Playhouse in einem »théâtre de la vérité« 769 ein eigener Wahrheitsbegriff, jener der cohérence fautive; Les Nègres verlässt diesen Zwischenraum von Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion, Symmetrie und Widerspruch und zelebriert die Lüge, das ostentative Blendwerk als neue Wahrheit. »La vérité n ’ est pas mon fait«, heißt es bereits in Genets erstem Roman Notre-dame-des-Fleurs (1944), »[m]ais › il faut mentir pour être vrai ‹ . Et même aller au-delà. De quelle vérité veux-je parler? « 770 Die Frage nach der › Wahrheit ‹ , nach dem sujet même eines Werkes und dessen Erkenntnis durch den Rezipienten, verhandeln auf tiefgründige und lehrreiche Weise auch die Texte von Miguel de Cervantes, des großen Wegbereiters moderner Selbstreferentialität. Mit Friedrich Schlegel gesprochen ist nicht nur der Don Quijote eine »klassische Schrift«, sondern auch die Novelas ejemplares sind insofern Klassiker, als sie insbesondere in ihrer Selbstreferentialität »nie ganz verstanden werden können«; »[a]ber«, so Schlegel weiter, »die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.« 771 Im Prolog seiner Novelas ejemplares konstruiert Cervantes bzw. der Erzähler nicht nur sich selbst, sondern gleichsam das sujet seines Werkes als »algún misterio [. . .] escondido«. 772 Da es versäumt worden sei, sein Konterfei als Holzschnittvorlage für ein gedrucktes Bild anzufertigen, müsse der Autor seinem Leser buchstäblich als Leerstelle gegenübertreten: »esta ocasión se pasó, y yo he quedado en blanco«. 773 Ähnlich verhält es sich mit dem Werk selbst: Es solle den Leser (in Andeutung der Poetik von Horaz) unterhalten und belehren. Das »sujeto« des jeweiligen »ejemplo provechoso« wird allerdings dezidiert ausgespart. 774 769 C HAURETTE , Provincetown Playhouse, 35. 770 G ENET , Notre-dame-des-Fleurs, 115. 771 S CHLEGEL , »Über die Unverständlichkeit«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 371. 772 C ERVANTES , »Prólogo al lector«, in: ders., Novelas ejemplares, Bd. I, 53. 773 Ebd. 51; m. H. Mangels eines wirklichkeitsgetreuen Abbilds sieht sich der Autor › gezwungen ‹ , seine Physis mit Worten und insofern per se ambivalent zu beschreiben. 774 Vgl. ebd. 52: »Heles dado nombre de ejemplares, y si bien lo miras, no hay ninguna de quien no se pueda sacar algún ejemplo provechoso; y si no fuera por no alargar este sujeto, quizá te mostrara el sabroso y honesto fruto que se podría sacar, así de todas juntas, como de cada una de por sí« (Hervorhebung im Original). 254 Der Autor stellt Wahrheiten in Aussicht, nicht aber als verbalisierte, sondern als › zu entschlüsselnde Zeichen ‹ : »para decir verdades, que, dichas por señas, suelen ser entendidas.« 775 Ironischerweise erklärt sich der Autor im selben Atemzug als »tartamudo«, als › Stotterer ‹ , der aber gerade im Aussprechen von Wahrheiten, so beteuert er zumindest, nicht stottern werde. Jede der zwölf Novellen umkreist ihren exemplarischen Gehalt mehr oder minder explizit. Die letzte und am deutlichsten poetologische Novelle, »El coloquio de los perros«, ist als einzige große und konzeptuelle mise en abyme der gesamten Novellensammlung in die vorletzte Erzählung, »El casamiento engañoso«, eingelagert. Das poetologische Kondensat und gleichzeitig das programmatische › Finale ‹ der Novellensammlung (als Pendant zum Prólogo al Lector) wird wiederum in Form einer mehrfachen mise en abyme › in der Tiefe des Gesamtwerkes ‹ inszeniert. Dabei wächst die Unzuverlässigkeit der ineinander verschachtelten Erzählerfiguren scheinbar in dem Maße, wie › wahrhafte ‹ Inhalte besprochen werden: Der auktoriale Erzähler der Novellen gibt das Wort zwischen »El casamiento engañoso« und »El coloquio de los perros« zunächst an den syphilis-gezeichneten und deshalb auch geistig beeinträchtigten Campuzano ab, welcher die Redegewalt an konzeptuell noch unzuverlässigere Erzähler weiterreicht, nämlich an zwei sprechende Hunde, Berganza und Cipión. Innerhalb dieser mise en abyme gibt der Hunde-Erzähler Berganza das Wort noch weiter ab, sukzessive an vier in einem › Auferstehungshospital ‹ internierte Kranke. Die Potenzierung auffällig markierter Erzähler-Figuren auf unterschiedlichen Fiktionsebenen setzt sich also fort. Der erste der Kranken, ein Schriftsteller, sucht Anerkennung für sein deutlich ironisiertes Opus magnum, 776 ein Alchimist den Stein der Weisen und damit »la Gran Obra« par excellence, 777 ein »arbitrista« die fruchtbringende Ins-Werk-Setzung seiner vielen als »disparates« belächelten › memorials ‹ und ein Mathematiker seit über zwei Jahrzehnten den »punto fijo« sowie die »cuadratura del círculo«. 778 So kreisen die kleinen Geschichten en abyme um die Frage, was ein Werk, das bezeichnenderweise »grande en el sujeto« zu sein habe, 779 ausmache, wie es sich realisieren lasse, was mit 775 Ebd. 51. 776 Das Werk des Schriftstellers spiegelt auf ironische Weise jenes von Cervantes: Anlehnung an Horaz, vergleichbarer Entstehungszeitraum, »admirable y nueva en la invención«, episodenhaft, gewählte Sprache, problematisches Verhältnis zu potenziellen Gönnern. Vgl. C ERVANTES , »El coloquio de los perros«, in: ders., Novelas ejemplares, Bd. II, 355. 777 Die Herstellung des »Piedra filosofal« gilt in der Alchimie als › das Große Werk ‹ (vgl. A ROLA , Alquimia y religión, 36). 778 Ebd. 356 f. 779 Ebd. 355; m. H. 255 ihm geschehen solle, wie sich sein Gehalt offenbare und wie dieser letztlich zu bewerten sei. 780 Essenzielle Aspekte zu Autor, Werk und Rezeption werden wiederum in Form einer mehrfachen mise en abyme verhandelt. Anstelle der in Aussicht gestellten »verdades« erfolgt die abyssale (und insofern per se unendliche und widersprüchliche) Inszenierung einer ebenfalls endlosen und unauflösbaren Suche: nach Weisheit, Wahrheit und einem point final. »Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können? «, fragt sich Friedrich Schlegel und gibt sich die Antwort darauf selbst: 781 Ich fürchte, wenn ich anders, was das Schicksal in Winken zu sagen scheint, richtig verstehe, es würde bald eine neue Generation von kleinen Ironien entstehn: denn wahrlich die Gestirne deuten auf fantastisch. 782 »Mit der Ironie«, so fürchtet Schlegel weiter, »ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken.« 783 Eben die Kraft eines › unglaublich langen Nachwirkens ‹ dank absoluter Selbstironie scheint Cervantes selbstreferentieller Literatur zuzuschreiben. 784 So setzt sein Erzähler (im Erzähler) eben keinen point final unter den Novellenband, sondern stellt »el segundo« (Coloquio) in Aussicht. An diesem › Nicht-Ende ‹ steht allerdings die Verwandlung des Licenciado, des fiktiven Lesers: Zu Beginn hatte er sich noch ärgerlich geweigert, an »esta verdad« eines Gesprächs zweier Hunde zu glauben. 785 Nach seiner Lektüre der Binnengeschichten › gläubt er ‹ 786 hingegen. Der verwandelte Leser, der den Prozess der »schönen Selbstbespiegelung« 787 rezipiert und zugleich selbst durchlaufen hat, zeigt eine veränderte Haltung. Als Veränderter bekennt sich der Licenciado uneingeschränkt zur Autonomie von Kunst: »[No] volvamos más a esa disputa [si hablaron los perros o no]. Yo alcanzo el artificio del Coloquio y la invención, y basta.« 788 Der Begriff des »artificio« enthält die doppelte Wirkungskraft der mise en abyme: Indem sie die Form in der Form wiederholt, ist sie eine Figur der ästhetischen 780 Vgl. zur Thematik von Selbstreferentialität, Werk-Werdung und Wahrheit mit Blick auf Cervantes ’ Don Quijote: P OPPENBERG , »Das Buch der Bücher«. 781 S CHLEGEL , »Über die Unverständlichkeit«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 369. 782 Ebd. 370. 783 Ebd. 784 Diese Thematik - die mise en abyme als Medium der fiktionsinternen Entwicklung eines komplexen Ironie-Begriffs - auszudifferenzieren, könnte Gegenstand weiterer Studien sein. 785 C ERVANTES , »El casamiento engañoso«, in: ders., Novelas ejemplares, Bd. II, 294. 786 Vgl. Anm. 762. 787 S CHLEGEL , »Die Athenäums-Fragmente«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 204. 788 C ERVANTES , »El coloquio de los perros«, in: ders., Novelas ejemplares, Bd. II, 359. 256 Formalisierung, der zur Schau gestellten Künstlichkeit; gleichzeitig aber hebt sie den Kunstcharakter eines poetischen Textes hervor, indem sie die ihm eigene Mehrdeutigkeit offensiv potenziert. Sie ist, wie Schlegels Ironie-Verständnis, nicht das Produkt eines Werkes, sondern (s)eine › Denkhaltung ‹ . Wahrheiten, so Schlegel, seien trivial. Sie seien immer anders und »immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können.« 789 Durch den Spiegel der mise en abyme zu gehen, ist folglich immer eine paradoxe Bewegung: Einerseits gelangt der Rezipient tiefer in das Werk hinein, in Richtung vermeintlich objektivierbarer und kondensierter Wahrheiten, zugleich wird er fortwährend auf sich selbst und seinen versuchten Eintritt in den Spiegel zurückgeworfen. So steht er immer wieder am Anfang, wenn auch an einem anderen, einem fortgeschrittenen, da reflektierten. 789 S CHLEGEL , »Über die Unverständlichkeit«, in: ders., Charakteristiken und Kritiken, Bd. I, 366. 257 Bibliographie Primärwerke A RISTOPHANES : Komödien, hg. u. übers. v. L UDWIG S EEGER , München: Goldmann 1962. A RISTOTELES : Poetik, hg. u. übers. v. A RBOGAST S CHMITT , Darmstadt: WBG 2008. A RTAUD , A NTONIN : Œ uvres complètes, Bd. I.2, II u. IV, Paris: Gallimard 1976 - 1980. — Le théâtre et son double, Paris: Gallimard 2009. B ARTHES , R OLAND : Mythologies, Paris: Seuil 1975. — Le bruissement de la langue, Paris: Seuil 1984. B ENJAMIN , W ALTER : Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. v. H ERMANN S CHWEPPENHÄUSER / R OLF T IEDEMANN , Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. C ALDERÓN DE LA B ARCA , P EDRO : El gran teatro del mundo, hg. v. E UGENIO F RUTOS C ORTÉS , Madrid: Cátedra 2009. C ERVANTES S AAVEDRA , M IGUEL DE : Novelas ejemplares, hg. v. 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In einem Kunstwerk findet sich ein zweites, welches das erste - oder signifikante Facetten desselben - widerspiegelt und dadurch über sich selbst hinausweisend das Kunstwerk als solches fokussiert. Die mise en abyme ist nicht lediglich eine strukturelle Doppelung, sondern wirkt als Schnittstelle von Poesie und Poetologie, wie anhand der Reflexionen Gides, der den Begriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Blick auf Literatur, Malerei und Heraldik geprägt hat, fundiert erörtert werden kann. Der Einbezug künstlerischer Produktions- und Rezeptionsprozesse gestaltet sich besonders plastisch in abyssalen Theaterstücken. Die vorliegende Arbeit analysiert innerhalb eines breiten Spektrums moderner Dramen von Jean Genet, Normand Chaurette und Yasmina Reza, auf welche Weise sich die selbstreferentiellen Phänomene radikalisieren und normative Kunsttheoreme in Frage stellen.