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Theorien der Literatur VII

2018
978-3-7720-5629-1
A. Francke Verlag 
Günter Butzer
Hubert Zapf

Die "Theorien der Literatur" sind eine seit Jahrzehnten etablierte Buchreihe, die auf Ringvorlesungen an der Universität Augsburg zurückgeht. Bd. VII enthält erstmals einen thematischen Schwerpunkt: Es geht um die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten. Im Fokus stehen dabei nicht Künste wie Musik und Bildende Kunst, sondern konkrete Ausformungen wie die Symphonik, die Malerei, der Comic oder der Film. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen einzelnen Kunstformen, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArt Studies untersucht werden.

ISBN 978-3-7720-8629-8 www.francke.de Günter Butzer, Hubert Zapf (Hrsg.) Die „Theorien der Literatur” sind eine seit Jahrzehnten etablierte Buchreihe, die auf Ringvorlesungen an der Universität Augsburg zurückgeht. Band VII enthält erstmals einen thematischen Schwerpunkt: Es geht um die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten. Im Fokus stehen dabei nicht Künste wie Musik und Bildende Kunst, sondern konkrete Ausformungen wie die Symphonik, die Malerei, der Comic oder der Film. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen einzelnen Kunstformen, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArt Studies untersucht werden. THEORIEN DER LITERATUR Literatur und die anderen Künste VII BAND VII Literatur und die anderen Künste THEORIEN DER LITERATUR GRUNDL AGEN & PERSPEK TIVEN Theorien der Literatur VII Herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Theorien der Literatur Grundlagen & Perspektiven Band VII: Literatur und die anderen Künste Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg 2015 / 2016 herausgegeben von Günter Butzer und Hubert Zapf Titel: Schmuckbuchstabe aus Hans Sachs: (Das vierdt poetisch Buch) mancherley neue Stücke schöner gebundener Reimen. Nürnberg: Heußler, 1576; Oettingen-Wallersteinsche Sammlung der Universität Augsburg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.francke de E-Mail: info@francke.de Satz: pagina GmbH, Tübingen Printed in Germany ISBN 978-3-7720-5629-1 Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Robert Bauernfeind Stilisierte Krokodile. Bild und Text in der frühneuzeitlichen Naturkunde . . . . . . . . . . . . 9 Stephanie Wodianka Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Christine Lubkoll Symphonien. Instrumentalwerke als poetologische Modelle in Empfindsamkeit, Romantik und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Hans Vilmar Geppert Erzählte Bilder. Aporie der Kunst und ästhetische Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Johanna Hartmann Drama als intermediales Genre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Lothar van Laak Literatur und Film: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame . . . . . . . . . . . . 119 Timo Müller Hip-Hop und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Stephanie Waldow „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic. Einige Überlegungen zu Linie und Lyrik . . 143 Adina Sorian Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis . . . 167 Bernd Oberdorfer Religion und Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Die Beiträgerinnen und Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Vorwort 7 Vorwort Literaturtheorie ist in den letzten Jahrzehnten national und international zu einem der wichtigsten Bereiche der Literatur- und Kulturwissenschaften geworden. Ihr kommt eine grundlegende, kritisch-reflektierende und systematisch-orientierende Funktion für die gegenwärtige und künftige Lehre und Forschung zu. Literaturtheorie in dem Sinn, wie sie von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes verstanden wird, ist nichts Abgehobenes oder nur Abstraktes, sondern stellt eine eigenständige, transdisziplinäre Form des Nachdenkens über Texte, kulturelle Prozesse, Symbolsysteme und Modelle menschlicher Selbstinterpretation dar. Sie ist daher in ihrer Bedeutung, wie die Literatur selbst, nicht auf den innerakademischen Bereich begrenzt, sondern potenziell von allgemeinerem Interesse. Das breite Spektrum von Fragen und Aufmerksamkeitsrichtungen, das sich mit ihr seit jeher verbunden hat und das sich im Repertoire klassischer Positionen von der Antike bis zur Moderne niederschlägt, hat sich im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert noch einmal entschieden erweitert durch neuere Ansätze, die sich im kritischen Dialog mit der Geschichte der Literaturtheorie herausgebildet haben und die mittlerweile zu wesentlichen Bezugspunkten eines zunehmend globalisierten literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskurses geworden sind. Im Blick auf diese Situation wurde die Reihe Theorien der Literatur konzipiert, in der bislang sechs Bände erschienen sind. Auch die Beiträge des nun vorliegenden siebten Bandes beziehen sich auf beide im Untertitel angesprochenen Seiten der literaturtheoretischen Debatte - auf ihre in lang zurückreichenden Reflexionsprozessen herausgebildeten Grundlagen und auf die in den vergangenen Jahrzehnten formulierten neuen Perspektiven , die oft unter Einbeziehung von Erkenntnissen anderer Disziplinen ästhetische Zeichenprozesse beleuchten und in ihren verschiedenen historischen, kulturellen, psychologischen und anthropologischen Dimensionen herausarbeiten. Diese beiden Pole markieren ohnehin keinen binären Gegensatz, denn einerseits bleiben auch die innovativen Ansätze der neueren Zeit noch im Gestus des radikalen Neuaufbruchs auf die Geschichte der Begriffs- und Diskursbildung angewiesen, die sich mit der kulturellen Evolution der Literatur und Literaturtheorie entwickelt hat. Und andererseits entfalten die klassischen Positionen im Rahmen neuer Fragestellungen und interdisziplinärer Impulse teilweise eine erstaunliche Aktualität, die sie als unverzichtbaren Bestandteil auch gegenwärtiger Orts- und Funktionsbestimmungen von Literaturtheorie erscheinen lässt. Dieser Dialektik von Tradition und Innovation ist auch der vorliegende Band der Reihe treu geblieben. Er setzt jedoch insofern einen neuen Akzent, als er mit dem Thema „Literatur und die anderen Künste“ erstmals einen thematischen Schwerpunkt etabliert. Im Fokus steht dabei nicht die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten im Allgemeinen, sondern zu konkreten Kunstformen. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen den Künsten, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArts Studies analysiert werden. Er versammelt Arbeiten, die die Bild-Text- Beziehungen in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Werken der Naturkunde, aber auch im modernen Comic behandeln, ebenso wie Studien, die die Konkurrenz der Künste in der Renaissance und ekphrastische Verfahren in der realistischen Literatur des 19. Jahrhunderts 8 Vorwort untersuchen. In zwei Aufsätzen stehen die Rolle der Symphonik als Leitkunst für die Literatur der Romantik und der Moderne sowie die Relation von HipHop und Literatur im Zentrum. Ein Beitrag befasst sich mit der medialen Transposition eines literarischen Texts in unterschiedliche filmische Formate, ein weiterer thematisiert die Beziehung von Literatur und Film aus der Perspektive der psychoanalytischen Theorie Jacques Lacans. Die abschließenden Studien leuchten das intermediale Potenzial des Dramas aus und beschäftigen sich mit den interdiskursiven Bezügen von Literatur und Religion. Wie die vorherigen Bände der Reihe, sind auch die vorliegenden Beiträge aus einer Ringvorlesung hervorgegangen, die im Wintersemester 2015 / 16 und im Sommersemester 2016 an der Universität Augsburg stattfand. Zu den beteiligten Fächern gehören Kunstgeschichte und Filmwissenschaft, Anglistik und Amerikanistik, Germanistik und Romanistik sowie Theologie und Vergleichende Literaturwissenschaft. Der herzliche Dank der Herausgeber gilt den Beiträgerinnen und Beiträgern sowie Tillmann Bub vom Francke Verlag für die ausgezeichnete Kooperation, insbesondere auch Claire Zander und Kathrin Windholz für ihr Engagement und die Sorgfalt, mit der sie das Manuskript für den Druck vorbereitet haben, sowie der Kurt-Bösch-Stiftung zugunsten der Universität Augsburg für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Es ist beabsichtigt, die Reihe sowohl als Vorlesung als auch in Publikationsform fortzusetzen. Augsburg, im November 2017 Günter Butzer und Hubert Zapf Stilisierte Krokodile 9 Stilisierte Krokodile Bild und Text in der frühneuzeitlichen Naturkunde Robert Bauernfeind 1. Visuelles Argumentationsmaterial Text und Bild galten in der frühneuzeitlichen Naturkunde und insbesondere der Zoologie als gleichrangige Erkenntnismittel. Zum einen verdankte die Naturkunde des 16. und 17. Jahrhunderts einen wesentlichen Impuls der humanistischen Aufarbeitung antiker Schriften; dabei bildete etwa Plinius’ Historia Naturalis einen zentralen Bezugspunkt der nachantiken Betrachtung der Natur. Zum anderen musste sich diese Revision an den Kenntnissen exotischer Tiere messen lassen, die zunächst die spanischen und portugiesischen, dann vor allem die niederländischen Seefahrer aus Amerika und Asien nach Europa brachten. Die Basis der frühneuzeitlichen Naturkunde bestand also in der Auswertung antiker Texte; für die Einordnung bislang unbekannter Arten boten hingegen Bilder eine primäre Orientierung. Ihr epistemologischer Wert erschließt sich daraus, dass die Protagonisten der Naturgeschichte - besonders prominent Konrad Gessner und Ulisse Aldrovandi - Künstler anstellten, die nach Bildvorlagen ebenso wie lebenden Tieren und Präparaten Darstellungen von hoher mimetischer Raffinesse anfertigten. Ein berühmtes Beispiel sind zwei Vipern, die Jacopo Ligozzi, Hofkünstler der Medici, für Aldrovandi gezeichnet hat. Indem Ligozzi die Schlangen als Trompe-l’oeil darstellte - die Tiere scheinen sich, ornamental in einander verschlungen, auf dem mit zwei Textblöcken beschriebenen Blatt zu winden -, verschärfte er die Suggestionskraft der Darstellung so weit, dass die Gefährlichkeit der Giftschlangen geradezu greifbar erscheint. 1 Das argumentative Potential der Bilder versuchten die Autoren auch für ihre Publikationen zu nutzen. Konrad Gessner ordnete etwa die Einträge in seiner vierbändigen, ab 1551 erschienenen Historia Animalium um die Darstellung des jeweils beschriebenen Tiers an, wobei der Text das Bild durch Verweise einbezieht. Die für den Druck benutzten Holzschnitte erreichen selten die ästhetische Qualität der Zeichnungen; gleichwohl vermögen sie wesentliche Merkmale der Tiere zu veranschaulichen. Ein berühmtes Beispiel ist die Darstellung eines Paradiesvogels im dritten Band, das zugleich die methodischen Schwierigkeiten der Erfassung exotischer Fauna aufzeigt, die jeweils nur an raren Einzelexemplaren vollzogen werden konnte. Als Vorlage scheint eine Zeichnung von Konrad Peutinger gedient zu haben, dem jedoch lediglich der Balg des Vogels vorgelegen war. Da diesem vermutlich bereits vor seinem Export nach Europa die Füße entfernt worden 1 Fischel, Angela: „Zeichnung und Naturbeobachtung. Naturgeschichte um 1600 am Beispiel von Aldrovandis Bildern“. Das technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder . Hgg. Horst Bredekamp, Birgit Schneider, Vera Dünkel. Berlin 2008. 212-223, hier: S. 213. 10 Robert Bauernfeind waren, entstand dort die Annahme, der Paradiesvogel habe keine Füße und verbringe sein gesamtes Leben im Flug. 2 Sie verfestigte sich so sehr, dass der Paradiesvogel bereits in Joachim Camerarius’ ab 1592 erschienen Symbola et Emblemata zum Sinnbild für ein vergeistigtes Leben überhöht war. 3 Bild und Text trugen somit gleichermaßen zu einer für die frühneuzeitliche Naturkunde bezeichnenden Ambivalenz bei: Einerseits tradierte die Rezeption der antiken Schriften auf Mythen und Legenden beruhende Informationen auch dann, wenn diese durch die eigene Anschauung falsifiziert waren, andererseits war auch die empirische Erfassung, mit der überkommene Annahmen kritisiert werden sollten, kaum gegen Fehldeutungen gefeit, da gerade im Falle exotischer Fauna oft nur einzelne Exemplare untersucht und keine überindividuellen Merkmale festgestellt werden konnten. Im Folgenden soll an einer Motivgeschichte des Krokodils vom 15. bis ins 18. Jahrhundert dargelegt werden, wie sich bestimmte Stereotype in der Darstellung der Tiere etablierten und tradiert wurden, und damit die frühneuzeitliche Ikonographie des Krokodils umrissen werden. Die These lautet, dass die Übernahme bestimmter Formeln aus dem Bereich der Hochkunst die naturhistorischen Illustrationen selbst dann noch stilisierte, wenn die Augenzeugenschaft der Autoren die entsprechenden Eindrücke bereits falsifizieren konnte. 2. Krokodile in der mittelalterlichen Naturdeutung Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet ein Blatt aus der Peregrinatio in Sanctam Terram , Bernhards von Breydenbach 1486 publiziertem Reisebericht über seine Pilgerfahrt nach Jerusalem. Der Holzschnitt zeigt in streumusterhafter Anordnung acht Tiere, die Bernhard und seine Gefährten auf ihrer Route über Ägypten gesehen haben wollen, darunter eine Giraffe und ein Einhorn sowie rechts oben ein Krokodil. Alle sind durch Inschriften bezeichnet, so auch das Krokodil als „Cocodrillus“. 4 Eine schwarze Linie rahmt das Bild, unter ihr versichert Bernhard die Betrachter der Wahrhaftigkeit der Darstellung: „Hec animalia sunt veraciter depicta sicut vidimus in terra sacra.“ 5 Schon die Darstellung des Krokodils lässt daran jedoch Zweifel aufkommen: Furchtbar gewunden erscheint das echsenähnliche Wesen mit dem langen, nach oben gereckten Hals, den übermäßig langen Gliedmaßen mit gekrümmten Krallen und besonders dem in Form einer 8 zweifach gerollten Schwanz. Das Bild ist einer von sechsundzwanzig Holzschnitten, die der niederländische Künstler Erhard Reuwich, der Bernhard auf der Reise begleitet hatte, für die Peregrinatio angefertigt hat. Dass Bernhard und Reuwich nicht alle der dargestellten Tiere mit eigenen Augen gesehen haben können, versteht sich schon in Anbetracht des Einhorns. Die Beobachtung von Krokodilen erwähnt der Text hingegen bei der Schilderung einer Nilfahrt. Reuwich dürfte 2 Die Entdeckung der Natur. Naturalien in den Kunstkammern des 16 . und 17 . Jahrhunderts . Ausstellungskatalog. Hg. Wilfried Seipel. Wien 2006, S. 89. 3 Vgl .: Joachim Camerarius d. J. Symbola et emblemata tam moralia quam sacra. Die handschriftlichen Embleme von 1587 . Hgg. Wolfgang Harms und Gilbert Heß. Tübingen 2011, S. 466. 4 Diese Bezeichnung entspricht der Tradition mittelalterlicher Bestiarien, vgl. Timm, Frederike: Der Palästina-Pilgerbericht des Bernhard von Breidenbach und die Holzschnitte Erhard Reuwichs . Die Peregrinatio in terram sanctam ( 1486 ) als Propagandainstrument im Mantel der gelehrten Pilgerschrift . Stuttgart 2006, S. 234. 5 „Diese Tiere sind wirklichkeitsgetreu dargestellt, so wie wir sie im Heiligen Land gesehen haben“ (Übersetzung R. B.). Abgebildet in Timm, Palästina-Pilgerbericht , S. 556. Stilisierte Krokodile 11 jedoch keine Gelegenheit gehabt haben, die Tiere detailliert zu studieren; eher scheint er sich bei der Darstellung an Vorlagen aus mittelalterlichen Bestiarien und Enzyklopädien orientiert zu haben. 6 Frederike Timm zufolge muss Reuwichs Augenzeugenschaft an der Vorprägung dieser Bild- und Texttradition relativiert werden. 7 Im Gegensatz zu anderen von antiken Autoren beschriebenen Exoten wie Nashörnern, Nilpferden oder Haien war die Kenntnis von Krokodilen während des Mittelalters nämlich nicht verblasst. Bartholomäus Anglicus erwähnt Krokodile in De proprietatibus rerum ebenso wie Vinzenz von Beauvais im Speculum maius . 8 Noch älter ist die Beschreibung von Krododilen im Liber Monstrorum , einer frühmittelalterlichen Abhandlung über die drei Arten von Monstren und Ungeheuern, die dem anonymen Verfasser am Schrecklichsten erscheinen, nämlich Wundermenschen, gefährliche Tiere sowie Drachen und Schlangen. Der mittlere Themenblock enthält einen Eintrag über Krokodile, demzufolge die am Nil heimischen Tiere sowohl am Ufer als auch im Wasser lebten, überwiegend dösten, aber vom Geruch von Menschenfleisch erregt werden könnten, auf das sie gierig seien. 9 Als deskriptive Auflistung bildet der Liber Monstrorum eine Ausnahme in der mittelalterlichen Tradition der Naturbetrachtung, die hauptsächlich von dem Bestreben geleitet war, in Naturphänomenen Gleichnisse geistlich-moralischer Maximen zu erkennen. Ihre berühmteste Ausformung ist bekanntlich der Physiologus , eine seit der Spätantike nachweisbare Sammlung von Tierbeschreibungen, die jeweils als Beispiele christlichen Verhaltens ausgelegt werden. Bis ins 13. Jahrhundert überliefert, beinhalten einige Physiologus -Handschriften auch Kapitel über Krokodile. Sie beschreiben das Krokodil als menschenfressendes Mischwesen aus Schlange und Löwe, das seine Opfer beim Verschlingen betrauert. Damit ist auf das Phänomen der sogenannten Krokodilstränen angespielt, denn tatsächlich sondern verschiedene Arten von Krokodilen während des Fressens ein Tränensekret ab; der Physiologus deutet dies als Heuchelei und vergleicht das Krokodil mit Mächtigen und Raffgierigen, die am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott ihre eigenen Missetaten beweinen, dann aber keine Gnade mehr finden, sondern zur Hölle fahren. 10 Diese Deutung übernahm noch Konrad von Megenberg in seinem 1348 bis 1350 entstandenen Buch der Natur , das als erste Naturkunde in deutscher Sprache zu den einflussreichsten Lehrbüchern des Mittelalters zählt. Neben dieser moralisierenden Auslegung von Texten gab es im Mittelalter, wie Johannes Tripps aufzeigte, auch bildhafte Arrangements von Krokodilen. Krokodilhäute wurden aus Ägypten nach Europa exportiert, wo sie als Zeichen der Allmacht Gottes ins Bildprogramm gotischer Kirchenbauten integriert werden konnten; dies entspricht einer gängigen Gleichung von Krokodilen mit dem biblischen Leviathan (Hiob 40, 25-32). Krokodile konnten aber auch als Drachen gelten; ihre Häute wurden besonders dort in Kirchen aufgehängt, wo ein Drachenkampf zu den regionalen Heiligenlegenden gehörte. Bis heute erhalten blieb ein Präparat in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Mantua, das dort um 1500 befestigt 6 Timm, Palästina-Pilgerbericht , S. 235. 7 Timm, Palästina-Pilgerbericht , S. 241. 8 Hünemörder, Christian: „Krokodil“. Lexikon des Mittelalters , Band V: Hiera-Mittel bis Lukanien. München / Zürich 1991, Sp. 1542. 9 Der Text lautet im Original: „In Nilo autem flumine ferunt esse corcodrillos, beluas non modicae staturae, quae ad solis aestum per litora se sternunt et humani generis sunt rapaces si quo excitati sibi vicinos persenserunt. Quae bestiae maximeiun aqius et in oris litorum demorantur.“ Zitiert nach Liber Monstrorum . Hg. Moritz Haupt. Berlin 1863, S. 21. 10 Vgl . Physiologus. Frühchristliche Tiersymbolik . Aus dem Griechischen übersetzt und herausgegeben von Ursula Treu. Berlin 1981, S. 104 f. 12 Robert Bauernfeind wurde. In Metz, wo der Hl. Klemens das Oberhaupt einer Drachenbrut gebannt haben soll und sich die Einwohner im Gegenzug zum christlichen Glauben bekannten, wurde das aus Teilen einer Krokodilhaut angefertigte Modell des Drachen nicht nur in der Kirche aufbewahrt, sondern auch bei Prozessionen getragen. 11 Der Drachenkampf bzw. -bann ist ein Topos mittelalterlicher Heiligenlegenden und verweist meist auf den Sieg des Christentums über das Heidentum. Als Erhard Reuwich also ein krallenbewehrtes Ungetüm in Holz schnitt und als Krokodil bezeichnete, mögen ihn zwei Traditionen geleitet haben: Die moralisierende Deutung älterer Texte in der Tradition des Physiologus , zu der keine eigene Kenntnis der Tiere nötig war und in der das Krokodil zum Sinnbild schlechten Verhaltens geraten war, und die bildhafte Ausstellung manipulierter Krokodilpräparate, die den Leviathan, aber auch Drachen und den Satan selbst porträtieren konnten. Ob Bernhard von Breydenbach und seinem begleitenden Künstler überhaupt daran gelegen war, die vielleicht am Nil beobachteten Tiere zu dokumentieren, oder ob sie in der Erwähnung des allegorisch stark aufgeladenen Geschöpfs womöglich negative Reiseerlebnisse kompensieren wollten, sei dahingestellt. Reuwichs Holzschnitt beinhaltet jedenfalls die früheste druckgraphische Darstellung eines Krokodils in Europa und zählt damit zu den bedeutendsten Tierdarstellungen der Inkunabelzeit. 3. Chroniken und Flugblätter Die Vorbildfunktion von Reuwichs Bildern wird etwa daran augenfällig, dass sein Krokodil noch in einer frühen deutschen Ausgabe von Sebastian Münsters Cosmographia , erschienen 1546 in Basel, als Illustration eines Abschnitts über Ägypten diente. 12 Diese folgte auf die zwei Jahre zuvor erschienene lateinische Erstausgabe, die bekanntlich zu den enzyklopädischen Hauptwerken der Renaissance zählt. Sie führt die von Hartman Schedel modernisierte Tradition der Weltchronik fort und beinhaltet einen auf sechs Bücher verteilten chronologisch-geographischen Überblick der Weltgeschichte vom biblischen Schöpfungsbericht bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Zentraleuropa; nur die beiden letzten Bücher behandeln Asien, Afrika und Amerika. Tiere spielen in Münsters geographisch orientiertem Werk eine untergeordnete, in ihrer teils sensationellen Charakterisierung jedoch nicht zu unterschätzende Rolle. Im Bereich der vertrauten Länder Mitteleuropas gilt das Interesse an Tieren vornehmlich dem Nutzwert. Je weiter der Text jedoch von seinem Entstehungsort fortführt, desto mehr Betonung liegt auf dem Befremdlichen und Sensationellen der Fauna. Im Niemandsland jenseits der Überprüfbarkeit orientierte sich Münster an den Überlieferungen der antiken Literatur. Die Bücher über Asien und Afrika geben hinsichtlich der Fauna meist Plinius und Strabo wieder; die Mitteilungen über Amerika beschränken sich auf Auszüge aus den Briefen Amerigo Vespuccis. 13 11 Tripps, Johannes: „Paul de Limbourg malt einen Drachen oder: getrocknete Krokodile und Lindwürmer im geistlichen Leben der Spätgotik“. Engel, Teufel und Dämonen. Einblicke in die Geisterwelt des Mittelalters . Hgg. Hubert Herkommer, Rainer Christoph Schwinges, Marie-Claude Schöpfer Pfaffen. Basel 2006. 131-139, hier S. 133 f. 12 Münster, Sebastian: Cosmographia . Basel 1546, S. 653. 13 Vgl. McLean, Matthew: The Cosmographia of Sebastian Münster. Describing the world in the Reformation . Aldershot 2007. 264-267. Stilisierte Krokodile 13 Dass Reuwichs kleines Scheusal in frühen Ausgaben der Cosmographia zu sehen ist, ist erstaunlich, hatte Münster doch mit Rudolf Manuel Deutsch einen namhaften Künstler für die Illustrationen seines Buchs engagiert, der für die Erstausgabe auch ein Krokodilbild angefertigt hat. Deutschs Bild dürfte die erste naturnahe Darstellung eines Krokodils in der Druckgraphik sein. Das Tier stolziert, das Maul halb geöffnet, in Seitenansicht von links nach rechts durch eine steinige Uferlandschaft, die links unten an ein fließendes Gewässer grenzt. Wesentliche Merkmale von Krokodilen, so die kegelförmigen, teils über den Kiefer ragenden Zähne, die fünf Finger mit Krallen an den Händen sowie die Nackenspalte, sind für eine Identifikation der Ordnung ausreichend wiedergegeben. 14 Gleichwohl weist die Darstellungen auch Unstimmigkeiten auf, insbesondere den zu klein geratenen Kopf, der wie ein entfleischter Schädel aussieht; womöglich hat sich Deutsch an einem Präparat in entsprechendem Zustand orientiert. Für ein Präparat als Vorlage spricht bei diesem Bild - ebenso wie bei den meisten folgenden - im Übrigen die für Krokodile ungewöhnliche Stellung der Extremitäten, da Krokodile meist mit seitlich abgewinkelten Extremitäten liegen, während eines ihrer seltenen Läufe hingegen schwierig zu beobachten sind. Das Bild illustriert einen Textabschnitt über die antike ägyptische Stadt Arsinoe, den Münster hauptsächlich aus Strabons Geographie übernommen hat. Dort habe es einen Kult gegeben, bei dem ein als heilig geltendes Krokodil von Priestern mit Opferspeisen gefüttert worden sei. Es folgt ein Abriss über Verhalten und Merkmale der Tiere, der u. a. die Frage aufwirft, ob Krokodile eine Zunge haben oder nicht, auf das wundersame Wachstum der Tiere hinweist, die aus kleinen Eiern schlüpften, und die Gefährlichkeit der Krokodile andeutet. Auch Münster erwähnt im Übrigen Krokodilstränen, deutet sie aber nicht moralisch, sondern bezeichnet sie als sprichwörtlich. 15 Münsters Verzicht auf eine christlich-moralische Gleichung ist programmatisch für die Cosmographia : Zwar legitimierte auch Münster seine Studien mit der seit den mittelalterlichen Enzyklopädien topischen Motivation, im Studium der Dinge die Weisheit Gottes zu entziffern. 16 Ihm war allerdings weniger an einem theologisch begründeten Weltbild und einer auf die Endzeit hinweisenden Historiographie gelegen; die Cosmographia profanisierte Wissen, wie Detlef Haberland ausführte, um der Gelehrtenwelt der Renaissance ein Handbuch der Staaten und sozialen Systeme, kulturhistorischen Entwicklungen und naturgeschichtlichen Besonderheiten bereitzustellen. Sie stellt damit einen „Paradigmenwechsel von größtem Ausmaß“ und gewissermaßen einen Endpunkt der Chroniktradition dar, an deren Stelle im 16. Jahrhundert bereits die Spezialisierung auf einzelne Bereiche der Naturkunde tritt. 17 Für diese war auch der Rang der Bilder von zentraler Bedeutung. Bereits die mittelalterlichen Enzyklopädien waren in illuminierten Prachtausgaben erschienen, doch erst die Druckgraphik hatte zu einer Verbreitung illustrierter Bücher jenseits der höchsten gesellschaftlichen Eliten geführt. 18 Entgegen einer im Mittelalter dominierenden Skepsis 14 Die Krallen sind dabei nicht ganz korrekt, denn nur die drei medianen Finger von Krokodilen weisen Krallen auf; bei Deutsch sind es vier. 15 Vgl. Münster, Cosmographia , S. 1137. 16 McLean, Cosmographia , S. 267. 17 Haberland, Detlef: „Die Kosmographie - Typologie und Medienstrategie“. Cognition and the Book. Typologies of formal organisation of knowledge in the printed book of the early modern period . Hg. Karl A. E. Enenkel. Leiden 2005. 125-160, hier S. 143. 18 Koschatzky, Walter: Die Kunst der Graphik. Technik, Geschichte, Meisterwerke . München 1975, S. 48. 14 Robert Bauernfeind am Erkenntniswert konkreter Abbildungen, die insbesondere von Augustinus formuliert worden war, hatte in epistemologischer Hinsicht bereits Schedel Bilder als genuine Informationsmedien hervorgehoben. 19 Abb. 1: Flugblatt mit der Darstellung eines Nilkrokodils Den Holzschnitten in der beinahe durchgehend illustrierten Cosmographia kommt Mathew McLean zufolge über einen illustrativen ein ordnender Wert zu, denn ihr Layout unterteilt und betont einzelne Textstellen. Zugleich steigerte die dichte und teils hochwertige Bebilderung die Attraktivität der Publikation. 20 Nicht zufällig sind dabei Exoten wie das Krokodil in größerem Format hervorgehoben, galt ihnen doch ein seit der Entdeckung Amerikas gesteigertes Interesse in der europäischen Gelehrtenwelt. Münsters Kompilation antiker Texte über Krokodile ist insofern programmatisch, als die frühneuzeitliche Naturkunde auf die Herausforderung der neuen oder zumindest seit der Antike nicht mehr in Europa gesehenen Arten mit der Auswertung der antiken Literatur reagierte; die Texte des Altertums, nicht die moralisierenden Deutungen des Mittelalters, bildeten die methodische Grundlage der neuzeitlichen Naturgeschichte. Deren weiterhin bestehende theologische Verpflichtung wird aus dem Beibehalten jenes Providentia-Topos ersichtlich, der die Erforschung der Natur als Weg zur Erkenntnis der Weisheit Gottes preist. Münsters Bemühungen, akkurate Bilder von besonders bizarr geformten Tieren wie Deutschs Krokodil, aber auch eine Kopie 19 Haberland, Kosmographie , S. 129. 20 McLean, Cosmographia , S. 241. Stilisierte Krokodile 15 nach dem berühmten Rhinozeros von Albrecht Dürer in den Text einzufügen, scheint auf eine charakteristische Einstellung dieses Topos in der Frühen Neuzeit zu reagieren, der zufolge das Wirken der Natur bzw. der göttlichen Schöpfung in ihren ungewöhnlichen Ausformungen besonders deutlich zu erkennen sei; wie Lorraine Daston aufzeigte, bildete diese - mit „Neugierde“ unzureichend übersetzte - curiositas gleichsam den Nukleus der frühneuzeitlichen Epistemologie. 21 Mit der technischen Reproduzierbarkeit der Druckgraphik setzte eine regelrechte Kaskade von naturkundlichen Darstellungen ein. Einzelne Bilder wie Dürers Rhinozeros wurden über Jahrhunderte kopiert und fanden selbst noch in Publikationen Verwendung, die sich mit dem Tier durchaus nicht befassen, sondern mit seinem hohen Wiedererkennungswert nur mehr eine generelle Exotik markieren. 22 Diese Entwicklung betraf die Wissenszirkulation in der Sphäre der Gelehrtenwelt ebenso wie im populären Bereich, wo einzelne Bilder in Flugschriften und Einblattdrucken verbreitet wurden. Deutschs Krokodil etwa diente 1564 als Vorlage für eine Reihe von Flugblättern, die das Bild in diversen Variationen in einen neuen Kontext setzen. 23 Ein in Straßburg gedrucktes Exemplar zeigt das Bild in der charakteristischen Anordnung zeitgenössischer Flugblätter - das Bild wird also zwischen eine ausführliche, von Reizwörtern geprägte Überschrift und einen erläuternden Text gesetzt - doch bei der insgesamt erkennbaren Orientierung an der Vorlage irritiert auf dem Blatt der median nach oben gerollte Schwanz des Krokodils (Abb. 1); im Übrigen wurde die landschaftliche Einfassung auf einen Hügel reduziert. In der für Sensationsnachrichten typischen Betonung einer authentischen Darstellung des Unglaublichen verschärft die Überschrift den Appellcharakter des Layouts: 24 „Warhafftige Beschreibung eines grausamen erschröcklichen grossen Wurms / wölcher zu Lybia in Türckey / an der babylonischen Gräntzen wunderbarlicher weiß gefangen und umbbracht worden ist / der da in Latein Crocodili / und auff Teütsch Lindwurm genennet würt.“ Damit ist ein Teaser für die im Text anschließende Geschichte gesetzt, die denn auch eine Drachentötermär im Ambiente eines Orientalismus avant la lettre bietet. Sie beschreibt das furchtbare Treiben eines Krokodilpaars, das zwei Jahre lang Land und Menschen bei der Stadt „Libia“ terrorisiert habe. Auftritt dann ein Christ in türkischer Gefangenschaft, der sich vom Fang der Tiere seine Freiheit verspricht und sich, nachdem er die Hilfe Gottes erfleht hat, auf die Jagd macht. Er baut eine Falle, die List geht auf, Männchen und Weibchen fallen in die Grube, wo beide 30 Tage lang unter wildem Geschrei vegetieren; das Geschrei der Krokodile sei so schrecklich gewesen, dass es in der nahgelegenen Stadt eine Welle von Fehlgeburten ausgelöst habe. Der Held hingegen hat nun nicht nur seine Freiheit errungen, 21 Vgl. Daston, Lorraine: „Die Lust an der Neugier in der frühneuzeitlichen Wissenschaft“. Curiositas. Welterfahrung und ästhetische Neugierde in Mittelalter und früher Neuzeit . Hg. Klaus Krüger. Göttingen 2002. 147-176. 22 Zur Rezeption von Dürers Rhinozeros siehe Clarke, T. H.: The Rhinoceros from Dürer to Stubbs 1515 - 1799 . London, New York 1986. Zur Modifikation naturkundlichen Bildmaterials siehe Fischel, Angela: Natur im Bild. Zeichnung und Naturerkenntnis bei Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi . Berlin 2009. 23 Vgl. Deutsche illustrierte Flugblätter des 16 . und 17 . Jahrhunderts. Die Sammlung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel; Teil 1 . Ethica, Physica . Hg. Wolfgang Harms. Tübingen 1985. 488-492. Ingrid Faust versammelte insgesamt fünf Flugblätter mit Varianten des Krokodils, vgl. Faust, Ingrid: Zoologische Einblattdrucke und Flugschriften vor 1800 . Band I: Wirbellose, Reptilien, Fische . Stuttgart 1998. 146-155. 24 Harms, Wolfgang: „Historische Kontextualisierungen des illustrierten Flugblatts“. Das illustrierte Flugblatt der frühen Neuzeit. Traditionen, Wirkungen, Kontexte . Hgg. Wolfgang Harms und Michael Schilling. Stuttgart 2008. 21-62, insbesondere S. 24 f. 16 Robert Bauernfeind sondern wird gefeiert und belohnt. Abschließend wird die Hilfe des allmächtigen Gottes gepriesen und der Text nimmt eine Wendung: Der Verfasser gibt in der ersten Person an, er selbst habe „in Libia“ seinem Helden eines der Krokodile abgekauft und wolle nun die Kenntnis der Geschichte einer breiten Öffentlichkeit nicht vorenthalten. Das einzig erhaltene Exemplar dieses Flugblatts beinhaltet eine handschriftliche Notiz: „Vidi Rostochij, war achzehen II Schuh lang. Hat 66 Zenen“. Wolfgang Harms vermutete wegen dieser Eintragung sowie des reißerischen Texts, dass das Flugblatt als Souvenir eines fahrenden Schaustellers angefertigt wurde, der ein Krokodilpräparat im deutschsprachigen Raum vorführte. 25 Das Präparat könnte Ingrid Faust zufolge stark manipuliert worden sein und so als Orientierung für den Holzschneider gedient haben, das Tier mit gerolltem Schwanz darzustellen. 26 Bild und Text des Flugblatts tragen somit dazu bei, Kenntnisse über Krokodile neuerlich zu verunklären. Zur Hochzeit der sogenannten Türkengefahr - nach der ersten Belagerung Wiens 1529 - scheint der Text nicht zufällig eine Drachentötung durch eine christlichen Helden im osmanischen Raum zu beschreiben und damit eine etablierte Erzählform des Kampfs gegen das Heidentum zu aktivieren, zumal die Überschrift mit der Übersetzung von Krokodil als Lindwurm deutlich die mittelalterliche Gleichung von Krokodilen und Drachen aufleben lässt; bereits Münster hatte jedoch zwischen beiden unterschieden. 27 Dem Text des Flugblatts entspricht die bildliche Verzerrung des Krokodils durch den gerollten Schwanz, der Deutschs Bild mit jenem Reuwichs zu verbinden scheint. 4. Kunsttheorie und Ikonographie Dieses Bilddetail kann als Pathosformel der Drachendarstellung gelten. Mehrfach gewundene oder gerollte Schwänze sind bereits auf Tierdarstellungen antiker Sarkophage zu sehen; lückenlos zieren sie dann die Darstellung von Drachen, Basilisken und Meeresungeheuern bis weit in die Frühe Neuzeit. Als prominente Beispiele seien nur der Drache auf Paolo Uccellos Darstellung des Heiligen Georg von 1470 oder jener auf Raffaels Heiliger Margarete erwähnt. In der Bildpraxis, Drachen als Mischwesen aus Merkmalen verschiedener, potentiell für den Menschen gefährlicher Tiere zu gestalten, verweist der Schlangenschwanz nicht nur auf die in der Genesis begründete negative Assoziation der Schlange. 28 Insbesondere in der Spätrenaissance, als sich gewundene Bewegungen als stilistisches Prinzip etablierten, geriet die Schlangenform, die Figura serpentinata , in den Fokus der Kunsttheorie. Bereits Leonardo da Vinci hat in seinen Tierstudien über diese Windungen als ein motorisches Prinzip der Tierwelt nachgedacht; auf einem Studienblatt, das mehrere Federskizzen von Drachenkämpfen zeigt, notierte er: „Die schlangenartige Bewegung ist die vorrangigste Bewegung bei Tieren und ist zweifach, denn die erste erfolgt längs, die zweite der Quere nach.“ 29 Und 1584 empfahl Giovanni Paolo Lomazzo bekannt- 25 Harms, Deutsche illustrierte Flugblätter , S. 488. 26 Faust, Zoologische Einblattdrucke , S. 146. 27 Münster deutet Drachen, einer Passage bei Plinius folgend, als Würgeschlangen. 28 Zur Darstellung von Drachen siehe jüngst Deckers, Regina: „Der Drache in Mythologie und Kunst“. Monster. Fantastische Bilderwelten zwischen Grauen und Komik . Ausstellungskatalog. Hg. Peggy Große. Nürnberg 2015, 60-85. 29 Zitiert nach Clayton, Martin: „‚Alle Werke der Natur, welche die Welt zieren‘. Leonardo da Vinci“. Wunderbare seltene Dinge. Die Darstellung der Natur im Zeitalter der Entdeckungen . Hg. David Attenborough. München 2008. 38-71, hier S. 65. Stilisierte Krokodile 17 lich die Schlangenwindung in seinem Trattatto dell’arte della pittura als eine Grundlage des Gestaltideals, wofür er als Zeugen immerhin Michelangelo aufrief; für Lomazzo war die Anwendung der Schlangenlinie nichts weniger als „das ganze Geheimnis der Malerei.“ 30 War die formale Betonung der Schlangenbewegung im 16. Jahrhundert also von der Kunsttheorie verbürgt, erklären Quellen der selben Zeit auch den besonderen Gehalt des Schlangenschwanzes als Symbol für List und Tücke. So zeigt eine Allegorie des Irrglaubens von Antonius Eisenhoit die personifizierte Häresie als schöngewachsenen Frauenakt, der jedoch mit Hirschhufen und Eselsohren sowie den Köpfen eines Drachens und eines Stiers zum Mischwesen mutiert. Neben Bibel, Rosenkranz und Geldbeutel ist ihr ein Mantichor als Begleittier zur Seite gestellt. Von besonderem Interesse ist jedoch der lange Schlangenschwanz, der der Häresie aus dem Steißbein wächst und, zu zwei Rollen gewunden, im rechten Vordergrund in Form einer Pfeilspitze ausläuft. Eine Beischrift erläutert die Bedeutung der einzelnen Motive. Drachenkopf und Stierkopf stünden demnach für Irrlehre und Wildheit, Bibel und Rosenkranz für den erlogenen Gottesnamen und Scheinheiligkeit, der Geldbeutel für Gier. Der Schlangenschwanz schließlich verdeutliche Hinterhalt: „Cauda serpent insidias.“ 31 Der gerollte Krokodilschwanz auf dem Straßburger Flugblatt mag nur ein Beispiel für die Verzerrung naturkundlichen Wissens auf der populären Ebene des 16. Jahrhunderts sein; tatsächlich folgte auf ihn eine in Antwerpen angefertigte Kopie, auf der das Krokodil jedoch aus einem Gewässer steigt, sodass der Schwanz nicht zu sehen ist. Damit ist nicht nur die offenbar auch von Zeitgenossen für unwahrscheinlich befundene Darstellung eliminiert, sondern zugleich auf die amphibische Lebensweise von Krokodilen hingewiesen. Der Text auf dem Antwerpener Flugblatt beinhaltet denn auch nicht die Geschichte des Drachentöters, sondern eine niederländische Übersetzung des entsprechenden Abschnitts aus Münsters Cosmographia . 32 Doch obwohl dieses Flugblatt belegt, dass im 16. Jahrhundert durchaus an der Darstellung von Krokodilen mit gerollten und gewundenen Schwänzen gezweifelt wurde, hielt diese sich, konsolidiert von Kunsttheorie und Symboldenken, mit erstaunlicher Beharrlichkeit. 5. Gessner, Ligozzi und Camerarius Ihrer Wirkung vermochte sich offenbar auch Konrad Gessner nicht zu entziehen, der den Eintrag über Krokodile in seinem Thierbuch mit zwei Holzschnitten illustrieren ließ, deren größerer ein Nilkrokodil mit einem wenn nicht gerollten, so doch S-förmig nach oben geschnellten Schwanz zeigt. Die Darstellung widerspricht zunächst Gessners Beschreibung der Tiere, die nach einem Überblick über die Nomenklatur in den europäischen Sprachen hauptsächlich antike Kenntnisse über äußere Merkmale, Verhalten, Verbreitung und Fortpflanzung auflistet, um anschließend auch Besonderheiten wie die Nutzbarkeit von Krokodilen in Küche und Pharmazie zu nennen. Unter den Merkmalen betont Gessner insbesondere die harte Panzerung der Krokodile mit Schuppen, die sie annähernd unverletzbar 30 Zitiert nach Maurer, Emil: Manierismus. Figura serprentinata und andere Figurenideale. Studien, Essays, Berichte . München 2001, S. 21. 31 Wunderwerk. Göttliche Ordnung und vermessene Welt. Der Goldschmied und Kupferstecher Antonius Eisenhoit und die Hofkunst um 1600 . Ausstellungskatalog. Hg. Christoph Stiegemann. Mainz 2003, S. 178. 32 Vgl. Faust, Zoologische Flugblätter , S. 152. 18 Robert Bauernfeind mache und auch den Schwanz überziehe. In der Kompilation aller verfügbaren Quellen bleiben Gessners Ausführungen selten ohne innere Widersprüche, und so bietet auch sein Kapitel über Krokodile einige Ungereimtheiten, denn auf die Beschreibung des Krokodils als panzerstarrendes Geschöpf folgt eine Szene, in der es ebenso grausam wie agil erscheint: Aber wann die vom Hunger wütend werden / sollen sie sich so grausam erzeigen / daß sie mit einem Schlag ihres Schwanzes auch die allerstärcksten darnieder schlagen / und sie so dann im Grimm aufffressen. 33 Auch wenn dieser Passus nicht behauptet, dass Krokodile ihre Schwänze wie auf den Bildern recken und rollen könnten, gibt er einen vagen Hinweis auf die mögliche Verbreitung entsprechender Vorstellungen; sie mag von den zeitgenössischen Bildern angeregt gewesen sein. Zu den spektakulärsten Krokodildarstellungen dieser Zeit zählt ein Aquarell aus dem Besitz Erzherzog Ferdinands II . 34 Das heute Jacopo Ligozzi zugeschriebene Blatt zeigt ein Krokodil in Seitenansicht vor einer Flusslandschaft. Die Merkmale des Krokodils sind naturnah erfasst, insbesondere die Zähne, die Nackenspalte sowie die mit Schwimmhäuten verbundenen Zehen des hinteren Beinpaars. Allerdings ist der Körper des Tiers caudal nach oben gerichtet; aus der Bewegung ergibt sich ein Schwung, in dem der Schwanz in anatomisch unmöglicher Enge nach vorne gebogen ist. Zwei Details scheinen das Tier in einen erzählerischen Zusammenhang zu setzen: In Hintergrund der Landschaft befindet sich eine antikisierend gestaltete Stadtansicht, den linken Vordergrund schließt hingegen ein Haufen menschlicher Knochen ab, darunter ein Schädel und eine Hand. Das Bild zählte zu einem Konvolut von 100 Blättern, die Ferdinand II . bei Ligozzi in Auftrag gegeben zu haben scheint. 35 Sie zeigen überwiegend adriatische Meeresfauna; die Tiere sind überwiegend in Seitenansicht vor neutralem Hintergrund oder allenfalls auf der Andeutung eines Sandstrandes angeordnet sind. Nur eine kleine Gruppe des Codex weist eine umfangreichere landschaftliche Einfassung auf. Wie die Zeichnungen, die Ligozzi für Aldrovandi geschaffen hat, belegt auch diese Sammlung den erkenntnistheoretischen Wert der Bilder, deren Informationsgehalt allein aus Ligozzis präziser Erfassung entsteht. 36 Das Krokodilblatt nimmt einen hybriden Status ein, da nicht die Konzentration auf das Tier, sondern die landschaftliche Kontextualisierung es charakterisiert. Christina Weiler meint in den Knochen im Vordergrund die ikonographische Andeutung einer Seelenwanderung zu erkennen, bei der das Krokodil eine Reinkarnation des verstorbenen Menschen darstelle. 37 Eher scheint der Knochenhaufen jedoch auf das Potential des Tiers hinzuweisen, Menschen zu fressen; vergleichbare Fraßattribute finden sich auf zahlreichen Darstellungen 33 Gesnerus redivivus auctus & emendatus, oder: Allgemeines Thier-Buch. Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfüssigen, so wohl zahmer als wilder Thieren, welche in allen vier Theilen der Welt zu finden . Hg. Conrad Forer. Frankfurt am Main 1669, S. 376. 34 Abgebildet in Weiler, Christina: „Wie das Mittelmeer nach Innsbruck kam“. Von Fischen, Vögeln und Reptilien. Meisterwerke aus den kaiserlichen Sammlungen . Ausstellungskatalog. Hg. Christina Weiler. Wien 2011.18-39, hier S. 34. 35 Heute zusammengefasst als Cod. Ser. n. 2669 in der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien. 36 Im Vergleich zu typischen Zeichnungen Ligozzis aus der Sammlung Aldrovandis scheint die Zuschreibung des Krokodilblatts an ihn aus stilistisch-technischen Gründen fragwürdig. 37 Weiler, Mittelmeer , S. 35. Stilisierte Krokodile 19 von Raubtieren im 16. Jahrhundert. 38 Die Ruinenkompartimente im Hintergrund mögen hingegen, wie Weiler schreibt, in einem gängigen ikonographischen Sinn auf das Wiederaufleben der Antike und nicht zuletzt die damit verbundene Neubewertung auch der antiken Naturkunde verweisen; 39 die auffälligen Obelisken dürften allerdings auch als Verweise auf Ägypten als Verbreitungsgebiet von Krokodilen zu verstehen sein. 40 Selbst im Kontext einer zoologischen Bildersammlung hat jedenfalls die Anatomie der Krokodile den Künstlern Schwierigkeiten bereitet. Auch hier deutet die übermäßige Biegung des Hinterleibs auf die gängige Verzerrung der Darstellung. Die Naturgeschichten Gessners und Aldrovandis hatten ab dem späten 16. Jahrhundert Kompendien bereitgestellt, die über eine rein naturkundliche Erfassung der Arten hinausgingen; gerade die kulturgeschichtlichen Erweiterungen um Sprichwörter und Symbolwert speisten Material in den frühneuzeitlichen Naturdiskurs ein, das in Allegorien umgesetzt wurde. 41 Exemplarisch sind die bereits erwähnten Symbola et Emblemata von Joachim Camerarius, eine vierteilige Reihe von Emblembüchern, die ausschließlich Naturmotive beinhalten. Die einzelnen Bücher sind, da sie je einhundert Embleme beinhalten, als Zenturien bezeichnet; das erste behandelt Pflanzen, die drei übrigen die Tiere der Erde, des Himmels und des Wassers. Als bestechende Leistung dieser Bücher wird heute die Exaktheit zahlreicher Pflanzendarstellungen gewürdigt; als Arzt und Botaniker war Camerarius das Studium in einem eigenen Kräutergarten möglich; überdies bezog er Informationen aus der Korrespondenz mit Gelehrten wie Aldrovandi, Francesco Calzolari und Carolus Clusius. 42 Trotz dieser empirischen und um Aktualität bemühten Methoden zeigen die Symbola et Emblemata das Fortleben der mittelalterlichen Allegorese unter neuen Gesichtspunkten auf, denn der ordnende Gedanke des Werks besteht in der Suche nach dem verschlüsselten Sinn hinter der sichtbaren Erscheinung der Natur. Dieser ist jedoch nicht theologisch orientiert, sondern ethisch, denn der Körper und seine Triebe erscheinen als Herausforderung, der nur durch eine kontemplative Lebensweise zu begegnen sei. 43 38 Erwähnt seien hier nur der Vielfraß auf Olaus Magnus’ Carta Marina sowie die Darstellung afrikanischem Monster mit acht Beinpaaren auf einem zeitgenössischen Flugblatt, vgl. Faust, Ingrid: Zoologische Flugblätter und Einblattdrucke vor 1800 . Band V: Nashörner, Tapire, Pferdeartige. Sammelblätter, Monster . Stuttgart 2003, S. 226. 39 Weiler, Mittelmeer , S. 35 ff. 40 Bekanntlich stammen die berühmten Obelisken Roms aus Ägypten; mehr oder minder phantastisch gestaltete Obelisken gehören zudem zu den gängigen Afrika-Attributen der Erdteil-Ikonographie, siehe unten. 41 Der vollständige Titel von Gessners Thierbuch von 1669 verdeutlicht diesen Zusammenhang durch die Nennung aller möglichen Interessenten, für die das Werk von Nutzen sein sollte: Thierbuch. Das ist ein kurze beschreybung aller vier füssigen Thieren / so auff der erden und in wassern wonend / sampt irer waren conterfactur: alles zu nutz und gutem allen liebhabern der künsten / Arzeten / Maleren / Bildschnitzern / Weydleüten und Köchen / gestelt. Erstlich durch den hoch=geleerten herren D. Cünrat Geßner in Latin beschriben / yetzunder aber durch D. Cünrat Forer zu mererem nutz aller mengklichem in das Teütsch gebracht / und in ein kurze komliche ordnung gezogen. 42 Harms, Wolfgang und Ulla-Britta Kuechen: Joachim Camerarius. Symbola et Emblemata. Naturalis historia Bibliae. Schriften zur biblischen Naturkunde des 16.-18. Jahrhunderts Band 2 / 1, 2 / 2. Graz 1986, S. 16 f. 43 Vgl. Papy, Jan: „Joachim Camerarius’ Symbolorum & Emblematum Centuriae Quator. From natural sciences to moral contemplation“. Mundus emblematicus . Hg. Karl A. E. Enenkel und Arnoud S. Q. Visser. Turnhout 2003. 201-234, hier S. 215. 20 Robert Bauernfeind Camerarius versah seine Embleme mit einem kulturhistorischen Apparat, der auf den gegenüberliegen Seiten jeweils eine Auflistung von antiken und modernen Quellen als Belege liefert. In diesem philologischen Zugang zur Naturkunde liegt die Verflechtung von Deskriptivem und Sprichwörtlichem seines Emblembuchs begründet; auch Gessner und Aldrovandi hatten die antike Überlieferung als Basis ihrer naturkundlichen Schriften heran gezogen, in der Auswertung jedoch in verschiedene Sparten unterschieden, die Sprichwörter weiterführend beinhalten. 44 Der Ansatz, das naturhistorische Wissen der Antike in Sinnbildern zu visualisieren und zugleich auf abstrakte Sachverhalte umzumünzen, lässt sich an einem Krokodil-Emblem der zweiten Zenturie exemplarisch nachvollziehen. Das Ikon zeigt ein Krokodil an einem Ufer vor offener See, auf der links ein Schiff fährt, rechts einige Felsen eine Insel bilden. Das Tier selbst kauert im rechten Vordergrund, in leichter Aufsicht von rechts nach links gelagert, über dem nackten Leib eines Mannes und vergießt Tränen, wobei sein Schwanz schlängelnd in die Höhe gerichtet ist. Ein zweiter, ebenfalls nackter Mensch nimmt am linken Bildrand mit erhobenen Armen Reißaus. Verstreute Muscheln kennzeichnen die Litoralzone, in der sich das Geschehen abspielt. Unter dem Lemma „DEVORAT, ET / PLORAT“, gibt das Epigramm Aufschluss über das zu Sehende: „Non equidem ambigui dictis mihi fidere amici,/ Certum est, ut lacrymis nec Crocodile tuis.“ 45 Das Thema des Emblems sind also wiederum die sprichwörtlichen Krokodilstränen als Zeichen falscher Freundschaft, die bereits Plinius beschrieben hatte und die über das Mittelalter durch die Physiologus-Tradition in Europa bekannt blieben, dort allerdings als Mahnung gegen Opportunismus unter Androhung von Höllenstrafen. Camerarius mag im Übrigen hervorragende Abbildungen von Pflanzen verwendet haben; seine Krokodile sind ästhetisch eher unbeholfene Phantasiegeschöpfe, deren Gestaltung hinter dem zeitgenössischen Kenntnisstand zurückblieb. Gleichwohl zeigt auch hier der flammenförmig nach oben züngelnde Schwanz, dass das Detail als Sinnbild des Hinterhältigen verstanden wurde. 6. Präparate Einen charakteristischen Stellenwert erlangten Krokodilpräparate in den Sammlungsräumen frühneuzeitlicher Kunstkammern und Naturalienkabinette. Besonders eindrücklich zeigt etwa das 1599 veröffentlichte Frontispiz zum Sammlungsinventar des italienischen Apothekers Ferrante Imperato das Präparat eines Nilkrokodils, das rücklings von der Decke hängt, sodass sein Rückenpanzer zum zentralen Blickfang der mit zahlreichen Kuriositäten bestückten Zimmerdecke gerät (Abb. 2). Die Belebung des Interieurs mit Besuchern verleiht diesem nicht nur eine die Sammlung gleichsam aktivierende Dynamik. 46 Indem der Kupferstich die von Imperatos Sohn gehaltene Führung zweier Edelmänner durch die Sammlung zeigt, offenbart er zugleich den sozialen Prestigegewinn, den bürgerliche Naturaliensammler erzielen konnten; Imperato selbst verfolgt das Geschehen in selbstgewisser Haltung an 44 Vgl. Harms / Kuechen, Camerarius , S. 3; Fischel, Natur , S. 21. 45 „ES VERSCHLINGT / UND HEULT DABEI“ - „Du weist mich an, so wenig einem unsteten Freund zu vertrauen, das steht fest, wie deinen Tränen, Krokodil.“ (Übersetzung R. B.) 46 Siehe hierzu Felfe, Robert: „Umgebender Raum - Schauraum. Theatralisierung als Medialisierung musealer Räume“. Kunstkammer - Laboratorium - Bühne. Schauplätze des Wissens im 17 . Jahrhundert . Hgg. Herbert Schramm und Ludger Schwarte. Berlin 2003. 226-264. Stilisierte Krokodile 21 die Rückwand gelehnt, auf Augenhöhe mit dem hohen Besuch, der die Blicke, geleitet von einem Zeigestab, nach dem Krokodil richtet. Abb. 2: Das Museum des Ferrante Imperato Dass Krokodilpräparate zu den erstrangigen Sammlungsstücken der Kabinette zählten, belegt auch Willem Swanenburghs 1610 entstandene Darstellung des Hortus Botanicus in Leiden, der ein Vierteljahrhundert zuvor der Universität angegliedert worden war. Die in Vogelperspektive gezeigte Vedute des Gartens schließt am vorderen Bildrand mit einem separaten Streifen ab, auf dem markante Objekte der universitären Sammlung aufgereiht sind. Zu ihnen zählen drei ausgestopfte Krokodilhäute; zumindest die Schwänze der beiden kleineren Exemplare sind schlängelnd nach oben gewunden. Die frühneuzeitlichen Naturaliensammlungen entsprachen dem Leitgedanken der Naturgeschichte, die göttliche Schöpfung gerade in ihren außergewöhnlichen Formen zu entschlüsseln. Die zentrale Hängung von Krokodilpräparaten mag dabei einerseits deren Größe geschuldet gewesen sein; in der meist symmetrischen Raumorganisation kommt Krokodilen und anderen Überformaten wie Haien und Würgeschlangen gleichwohl ein herausragender Status zu, den sie als quintessenzielle Exoten erfüllen. Neben dieser wissenschaftlichen Präsentation konnten Krokodilpräparate jedoch auch in der Frühen Neuzeit als Drachen herhalten. Zum lokalen Wahrzeichen geriet etwa ein Krokodil, das Matthias II . 1608 der Stadt Brünn geschenkt hatte und das dort mit einer Legende in Verbindung gebracht wurde, der zufolge ein Drache einst die Stadt in Angst und Schrecken versetzt habe, dann aber durch den Witz und Mut eines Ritters überwältigt worden sei. Als ‚Brünner Drache‘ hängt bis heute ein Nilkrokodil im Durchgang des Alten 22 Robert Bauernfeind Rathauses. 47 Die Geschichte zeigt einerseits, dass Krokodilpräparate um 1600 zur herrschaftlichen Repräsentation gehören konnten, da sie als exotische Seltenheiten auf Finanzkraft und weitreichende Verbindungen schließen ließen; Matthias selbst soll das Krokodil von einer türkischen Delegation erhalten haben. Andererseits bietet sie eine Variante des Drachenkampfs als verbreiteter Gründungslegende, die in diesem Fall aber nicht auf die historische Christianisierung, sondern auf das städtische Selbstbewusstsein hinzuweisen scheint. Diese Affirmation des eigenen Rangs war in den Reichsstädten um 1600 verbreitet und äußerte sich maßgeblich in öffentlichen Kunstwerken, deren Ikonographie sich auf die Stadtgründungen bezieht. Auf eine annähernd gleiche Gründungssage wie Brno beruft sich etwa auch Klagenfurt, und die Kärntner Stände ließen ihrem Selbstverständnis 1590 in einer monumentalen Brunnenskulptur Ausdruck verleihen, die einen Lindwurm darstellt. 48 Der Vergleich mit dem Brünner Drachen ist darin aufschlussreich, dass der Klagenfurter Lindwurm als Mischwesen aus Schlangenleib mit Pranken, Fledermausflügeln und einer Art Hundekopf kaum Merkmale eines Krokodils aufweist, sein typisch gewundener Schwanz aber eindrucksvoll auf die Bemühungen zeitgenössischer Darstellungen schließen lässt, Krokodile einer geläufigen Drachenikonographie anzugleichen. 7. Ikonographie der Erdteile Den Status des paradigmatischen Exoten, den Krokodile im Sammlungsgefüge von Kunstkammern und Naturalienkabinetten einnahmen, bestätigt auch ihr Einsatz in der Ikonographie der Erdteile. Die Darstellung der vier Kontinente Europa, Asien, Afrika und Amerika als Personifikationen mit charakteristischen Attributen aus Kultur und Natur gehört zu den verbreitetsten Themen frühneuzeitlicher Bildprogramme. Ihre definitive Anweisung formulierte Cesare Ripa in der zweiten Ausgabe seiner Iconologia von 1603, in der er zugleich die eigentliche Bedeutung des Zyklus als Bekräftigung der europäischen Vorrangstellung in der Welt umriss. Demnach solle Europa als Trägerin der einzig wahren Religion mit imperialen Zügen hervorgehoben werden. Ihr und der annähernd gleichwertigen Erscheinung Asiens stehen als unzivilisierte Erdteile Afrika und Amerika gegenüber, die Ripa vornehmlich anhand wilder und gefährlicher Tiere bestimmt. Ripa orientierte sich für seine Entwürfe an antiken Text- und Bildquellen, auf die auch die Personifikation von Ländern bzw. Erdteilen als weibliche Figuren zurückgeht; für die Charakterisierung Amerikas berief er sich auf die Reiseliteratur seit Kolumbus und Vespucci. Ihr entnahm er auch das für die amerikanischen Indigenen lange Zeit bemühte Stereotyp der Anthropophagie, das auf die vermeintliche Beobachtung von Menschenfleisch in den Vorräten brasilianischer Tupi durch Vespucci zurückging und in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts auf grausame Weise bestätigt schien. Ripa schildert die Personifikation Amerikas dementsprechend als menschenfressende Amazone, deren Streitbarkeit durch ihre Bewaffnung mit Pfeil und Bogen und deren Anthropophagie durch einen pfeildurchbohrten Menschenkopf zu ihren Füßen zu verbildlichen sei. Als Begleittier weist er ihr ein Krokodil zu, das nicht nur für die gefahrvolle Fauna Amerikas stehe, sondern als Menschenfresser der Anthropophagie der Personifikation entspreche: „La lucerta, overo liguro sono 47 Vgl. Gorys, Erhard: Tschechische Republik. Kultur, Landschaft und Geschichte in Böhmen und Mähren . Köln 1994, S. 338. 48 Neubauer-Kienzl, Barbara und Wilhlem Deuer: Renaissance in Kärnten . Klagenfurt 1996, S. 56 ff. Stilisierte Krokodile 23 animali fra gli altri molto notabili in quei paesi, peri òche sono grandi, &fieri, che devorano non solo li altri animali: ma gl’huomini ancora.“ 49 Abb. 3: Ein Nilkrokodil als Attributtier der Personifikation Afrikas Noch schärfer als Ripa hatte der niederländische Kupferstecher Adriaen Collaert bereits 1589 ein Krokodil als Alteritätszeichen eingesetzt. In einer Serie von Erdteil-Allegorien nach Entwürfen von Maerten de Vos ordnete er es allerdings nicht Amerika, sondern Afrika als Begleittier zu (Abb. 3). Der muskulöse Akt der Personifikation reitet auf dem von rechts nach links durchs Bild stolzierenden Reptil, das die umgebende Natur geradezu subsumiert. Diese besteht aus einer schroffen Weltlandschaft voll wilder Fauna, im Hintergrund einerseits durch Palmen als exotisch markiert, andererseits durch einen Obelisken und ein Aquädukt auf die Bedeutung Nordafrikas in der Antike verweisend. Die paradigmatische Erscheinung des Krokodils wird links durch die Gegenüberstellung seines Mauls mit dem eines (phantastisch gestalteten) Nilpferds betont, rechts durch die Parallelisierung seines schleifenförmig gewundenen Schwanzes mit einem verschlungenen Schlangenpaar; diese Form wird im linken Mittelgrund überdies in der Figur eines Basilisken aufgenommen, der auf die in der antiken Literatur beschriebenen Wundertiere des afrikanischen Hinterlands 49 „Die Echsen oder Schleichen sind unter anderem daher sehr bemerkenswerte Tiere in diesen Landen, da sie groß und wild sind, und sie verschlingen nicht nur die anderen Tiere, sondern sogar Menschen.“ (Übersetzung R. B.) Zitiert nach Ripa, Cesare: Iconologia . Hg. Stephen Orgel. The renaissance and the gods, Band 21. New York 1976, S. 354. 24 Robert Bauernfeind verweist und als vermeintlich todbringendes Geschöpf ein besonderes Faszinosum der frühneuzeitlichen Naturkunde bildete. Das Motiv einer Krokodilreiterin mag bizarr erscheinen, doch dürfte es von einer Plinius- Passage motiviert gewesen sein, der zufolge ein legendäres Volk in Afrika einst Krokodile soweit zu zähmen verstanden hätte, dass es sie als Reittiere nutzen konnte. Collaert gelang durch diese Darstellung jedenfalls die Suggestion beinahe magisch mit der Natur verbundener Ethnien, die einen umso größeren Gegensatz zu den europäischen Kulturgesellschaften bilden, als die von ihnen harmonisierte Fauna als heimtückisch und giftig dargestellt wird. 8. Rubens Die Vermutung, es habe manipulierte Krokodilpräparate gegeben, deren Schwanz nach dem Vorbild von Drachendarstellungen gerollt war, wird auch von den Krokodilen genährt, die Peter Paul Rubens gemalt hat. Rubens hat in mindestens drei Monumentalgemälden Krokodile dargestellt. Das früheste zeigte Neptun und Amphitrite und verbrannte 1945 in Berlin; auf ihm war das Götterpaar von mythologischen Figuren und wilden Tieren umringt, zu denen auch ein von rechts ins Bild schwimmendes Krokodil gehörte, auf das sich spielerisch eine Nereide lehnte. Die auch auf der fotographischen Reproduktion erkennbare Nahtstelle auf der Nackenspalte lässt darauf schließen, dass Rubens sich an einem ausgestopften Präparat orientiert haben dürfte. Er wiederholte das Motiv auf den Vier Flüssen des Paradieses von 1615, auf denen das Krokodil als Attributtier des Nils von links ins Bild schwimmt und von Putten umspielt wird. Bei beiden Gemälden fällt auf, dass die Krokodile vom Bildrand abgeschnitten werden; nur der allerdings deutlich nach oben gerollte Ansatz ihrer Schwänze ist zu erkennen. Rubens’ berühmtestes Krokodil ist allerdings das auf der Jagd auf Nilpferd und Krokodil von 1616. 50 Das Gemälde zeigt den Höhepunkt des Jagdgeschehens, bei dem die beiden Tiere von drei berittenen Jägern und deren Treibern in die Zange genommen und nun mit Lanzen niedergestochen werden sollen. Im Tumult trampeln sie über einander; grausame Details wie die Quetschungen, die die gefallenen Treiber erleiden, und die Bisse, mit denen sowohl die Hunde als auch ein Pferd ihren Opfern zusetzen, steigern die Dynamik der Darstellung. Sie verdichten auch den Eindruck einer Bewährungsprobe, der die Jagd ikonographisch in Parallele zum Krieg setzte und im kaltblütigen Jäger Ideale des Regierens spiegelte. Hierzu trägt auf Rubens’ Bild die äußerste Wildheit der Beute bei, zumal derartige Exoten in Europa kaum je, zumindest aber nicht lebend zu sehen waren. Arnout Balis nahm an, dass Rubens das Nilpferd auf der Grundlage von Studien zweier ausgestopfter Exemplare gemalt haben dürfte, die 1601 in Rom ausgestellt worden waren. 51 Angesichts der hohen Ähnlichkeit der drei Krokodile, die Rubens gemalt hat, ließe sich für dieses Tier eine ähnliche Vermutung anstellen. Mehr noch scheint es sich um ein manipuliertes Präparat mit nach oben schlängelndem Schwanz gehandelt zu haben, den Rubens zweimal durch den Bildrand abschnitt, in der Jagd auf Nilpferd und Krokodil hingegen überzeugend in die Komposition eintragen konnte, da dieses Krokodil zwischen den Jägern 50 Abgebildet in Flämische Malerei des Barock in der Alten Pinakothek . Museumskatalog. Hgg. Konrad Renger und Claudia Denk. München 2002, S. 449. 51 Vgl. Balis, Arnout: „Hippopotamus Rubenii. Een hoofdstukje uit de geschiedenis van de zoölogie“. Feestbundel bij de opening van het kolveniershof en het Rubenianum . Hg. Frans Baudouin. Antwerpen 1981. 127-142. Stilisierte Krokodile 25 und dem Nilpferd eingeklemmt erscheint. Es sei im Übrigen erwähnt, dass Rubens mit dem Thema kaum am zeittypischen Exotismus gelegen haben dürfte; eher scheint der Bericht über ein römisches Relief, auf dem eine Krokodiljagd dargestellt war, den humanistisch gelehrten Künstler zur Nachbildung des Sujets motiviert zu haben. 52 Abb. 4: Soutmans Kupferstich nach Rubens’ Jagd auf Nilpferd und Krokodil Rubens’ Jagdgemälde wurde in der druckgraphischen Version seines Kupferstechers Pieter Claesz. Soutman vervielfältigt (Abb. 4). Von dieser Vorlage übernahm der flämische Maler Jan van Kessel Rubens’ Nilpferd und Krokodil für einen 1664-1666 entstandenen Erdteile-Zyklus, der auf vier von jeweils sechzehn kleinformatigen Landschaften umgebenen Allegorien das Thema ausreizt. In womöglich bewusster Analogie zur Kompilatorik der zeitgenössischen Naturgeschichte versammelte van Kessel dafür eine Unzahl von Bildvorlagen aus zoologischen Publikationen und Reiseberichten, die er gleichberechtigt mit Tierdarstellungen aus der flämischen Malereitradition verband, und versah die allegorischen Bilder so mit dem Anschein wissenschaftlicher Präzision. 52 Renger, Flämische Malerei , S. 448. 26 Robert Bauernfeind Abb. 5: Jan van Kessels Ansicht von Havanna Die Ansicht von Havanna zeigt Krokodil und Nilpferd in einem neuen Zusammenhang, in dem sie nicht von Jägern bedrängt werden, sondern als vermeintliche Vertreter der kubanischen Fauna erscheinen, die mit Imponiergehabe um ein erlegtes Krokodil streiten; ein weiteres Krokodil reckt von rechts den Kopf in die Szene, während verstreute Knochen, darunter der Kinnbacken eines Esels sowie ein Menschenschädel, auf vergangene Fressräusche schließen lassen. Van Kessel münzte Rubens’ Vorlage damit auf die Amerika-Ikonographie um und setzte die kannibalischen Krokodile in Analogie zur angeblichen Anthropophagie der amerikanischen Indigenen. 53 Hatte Rubens versucht, die unwahrscheinliche Schanzenform des Krokodilschwanzes in der dicht gedrängten Komposition zu kaschieren, so scheint van Kessel sie als Zeichen für das durchtriebene Verhalten des Tiers extrapoliert zu haben. Dies erscheint umso naheliegender, als der Maler auch mehrere Krokodilmotive nach Camerarius in den Erdteile-Zyklus integriert hat; die Reptilien zucken und schlängeln und verheißen nichts Gutes in den fernen Gefilden. 53 Diese erscheint in mehreren Variationen auf dem zentralen Gemälde der Amerika-Tafel. Stilisierte Krokodile 27 Abb. 6: Maria Sibylla Merians Kampf zwischen einem Kayman und einer Korallenschlange 9. Merian und Seba Die Zählebigkeit, mit der sich die Schlangenschwanz-Formel hielt, wird an zwei berühmten Krokodildarstellungen des 18. Jahrhunderts deutlich. 1719 erschien die zweite, erweiterte Ausgabe von Maria Sibylla Merians Metamorphosis insectorum Surinamensium , die die Darstellung eines Kampfs zwischen einem Kaiman und einer Korallenschlange beinhaltet (Abb. 6). Die beiden Reptilien winden sich in Seitenansicht um einander; der neutral gehaltene Hintergrund und der lediglich als Fläche markierte Vordergrund gewährleisten die Konzentration auf die beiden Tiere, die mit so hoher mimetischer Präzision gestochen sind, dass die Form und Lage jeder einzelnen Schuppe nachvollziehbar wird. In einem Detail zeigt das Bild den Anlass des Kampfs, denn die Schlange ist eine Nesträuberin und lässt in ihrer Gier nicht einmal vom Ei des Kaimans ab, als dieser sie bereits mit seinen nadelspitzen Zähnen fixiert hat. Das Fortbestehen der Art bleibt ohnehin gewährleistet, denn im Schutz der Hinterbeine des Muttertiers schlüpft soeben ein Jungtier aus einem weiteren Ei. Merian hat den Kampf in geradezu ornamentalen Windungen komponiert, wobei sich insbesondere die Schlange in zwei Schleifen in die Höhe zu recken scheint. Dort wird sie von dem spiralförmig gerollten Schwanz des Kaimans gehalten; die Formen lassen den Kraftakt, in der Luft zu ringen, geradezu physisch spürbar werden. Das Bild sticht aus seinem Kontext heraus, denn die Metamorphosis insectorum Surinamensium , in erster Auflage 1705 erschienen, waren das Ergebnis eines Aufenthalts Merians in der niederländischen Kolonie Surinam von 1701 bis 1702, wo Merian Insekten und Pflanzen studierte, Proben sammelte und Zeichnungen anfertigte. Das Buch zeigt die Ergebnisse in kolorierten Kupferstichen, die von Texten kommentiert werden. Ihr typischer 28 Robert Bauernfeind Aufbau verbindet von unten ins Bild rankende Pflanzenstängel mit Blättern und Blüten sowie Insekten in verschiedenen Entwicklungsstadien zum Überblick eines je spezifischen Biotops. Nur auf einigen Tafeln fügte Merian weitere Tierarten wie Schlangen und Eidechsen hinzu, verband diese Darstellungen allerdings mit der Aussicht auf eine eigenständige Publikation zur südamerikanischen Fauna, die jedoch nicht erscheinen ist. 54 Womöglich war die Darstellung des Kaimans ursprünglich dafür vorgesehen. Ihr ging eine Zeichnung voraus, auf der Kaiman und Korallenschlange zwar in der gleichen Position kämpfen, der Anlass dazu aber unterschlagen bleibt, da das Bild nicht die Eier des Kaimans zeigt. 55 Nicht nur die etwas willkürliche narrative Einbindung des Sujets für die druckgraphische Publikation legt die Vermutung nahe, dass Merian die Kampfszene kaum auf der Grundlage eigener Beobachtungen gezeichnet haben dürfte. 56 Auch der Text von Merians Publikation erwähnt den Kampf nicht, sondern beschreibt den Kaiman in allgemeinen Zügen und geht kaum über jene Erkenntnisse hinaus, die bereits auf den Flugblättern des 16. Jahrhunderts über Krokodile verbreitet wurden. Dies gilt besonders für die Beschreibung des Tiers als Marodeur: Es handle sich um Krokodile, die von den Indianern „Caymans“ genannt würden, sie seien große, sehr kräftige und gefährliche Raubtiere und lebten zu Wasser wie zu Lande. Unvorstellbar sei ihr Wachstum, da sie aus kleinen Eiern schlüpften und ihre ursprüngliche Größe in kurzer Zeit um ein Vielfaches überträfen. Zweimal geht Merian auf die Schuppenpanzerung der Tiere ein: „Vorne der Oberkörper und der Schwanz sind stark geschuppt und so hart, dass sie unverletzbar sind. […] wenn sie sich mit ihren Körpern wenden und kehren könnten, würde ihnen nichts entkommen.“ 57 Damit widerspricht der Text deutlich den übersteigerten Windungen, in denen Merian den Kaiman zeichnete. Sie entsprechen als Fortführung der Schlangenschwanz-Tradition allerdings den gestalterischen Prinzipien von Merians Darstellungen exotischer Flora und Fauna, die, wie Susan Owens darlegte, auf Spiralformen beruhen und zur Steigerung ihrer Wirkung auch den Bildrand sprengen können. 58 Merians Bild sollte für die Vorstellung von Kaimanen in Europa umso prägender bleiben, als es noch 1797 als Vorlage für eine Illustration der dritten Auflage der Encyclopædia Britannica diente. Diese zeigt schautafelhaft acht Echsen, von denen dem Kaiman im unteren Bilddrittel der meiste Raum zukommt; er ist auch als einzige Art zweifach vertreten, da ihm das schlüpfende Jungtier aus Merians Stich hinzugefügt wurde. Eine Irritation geht davon aus, dass der zuständige Kupferstecher Andrew Bell Merians Kaiman zwar recht präzise 54 Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin . Ausstellungskatalog. Hg. Kurt Wettengl. Frankfurt am Main 1997, S. 226. 55 Abgebildet in Owens, Susan: „‚Mit großem Fleiß, Zier und Geist‘: Maria Sibylla Merian.“ Wunderbare seltene Dinge. Die Darstellung der Natur im Zeitalter der Entdeckungen . Hg. David Attenborough. München 2008. 138-174, hier S. 168 f. 56 Als Orientierung könnten allerdings die um 1700 beliebten Waldbodenstilleben gedient haben, auf denen oft mit einander kämpfende Reptilien und Amphibien dargestellt sind; in einer gängigen ikonographischen Deutung versinnbildlichen sie das Ringen niederer Kräfte um die aufstrebende Seele, vgl. Schneider, Norbert: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei der frühen Neuzeit . Köln u. a. 2009 (1989). 194-203. 57 Zitiert nach Schmidt-Loske, Katharina: Die Tierwelt der Maria Sibylla Merian. Arten, Beschreibungen und Illustrationen . Marburg 2007, S. 108. 58 Owens, Merian , S. 171. Stilisierte Krokodile 29 kopierte, dessen gewundene Haltung aber durch den Verzicht auf die Korallenschlange um ihren Zusammenhang brachte. Das Rokoko-Krokodil par excellence stach jedoch Jacobus Houbraken für Albert Sebas Thesaurus , dem visuellen Kompendium zu einer der größten Naturaliensammlungen der Zeit. Noch rigoroser als bei Merian sind die Seiten dieser vier zwischen 1734 und 1765 erschienenen Bände nach dem Prinzip symmetrischer Spiralen organisiert, die insbesondere die zahlreichen Schlangen wie schleichende Rocailles aussehen lassen. Selbst ein Alligator, den Seba wie die meisten seiner Stücke direkt von den Landungsplätzen der Ost- und Westindischen Handelskompanien in Amsterdam in Empfang genommen haben mag, muss sich diesen Stilvorgaben fügen. 59 In zwei gegenläufigen Windungen, den Schwanz zur Spirale gerollt, pirscht er wie eine angespannte Feder über die Bildfläche, auf eine Eidechse lauernd, die ihrerseits noch rasch den Schwanz zum heraldischen Ornament schwingt, ehe sie das Weite sucht. Bereits 1753 veröffentlichte der Verlag der Homannschen Erben in Nürnberg eine Kopie nach Sebas Bild in einer Reihe einzelner Kupferstiche mit zoologischen Sammeldarstellungen, die den Atlanten des Verlags beigefügt werden konnten. 60 Es verdichtet den gefährlichen Eindruck der Vorlage noch dadurch, dass der Bildraum durch eine Linie gerahmt ist, die das Krokodil zweifach übertritt und so als Trompe-l’oeil erscheint. Diese Augentäuschung erscheint umso vielschichtiger, als das Blatt als Bildträger durch zahlreiche Inschriften bestätigt scheint, die in Kartuschen hervorgehoben sind, aber auch in Angleichung an die Bewegung des Reptils erscheinen, so unter seiner linken Hand. Sie beinhalten nach dem Vorbild der klassischen Naturgeschichte Informationen zur Nomemklatur, zu Färbung und anderen Merkmalen sowie zum Verhalten (nicht zuletzt wird auch hier wieder auf das immense Wachstum der aus kleinen Eiern schlüpfenden Tiere hingewiesen). Allerdings deutet sich dabei eine Entzauberung der Darstellung an, denn eine Anmerkung rechts oben verrät - wohl kaum im ästhetischen Sinne Sebas -, das Krokodil sei „hier nur wegen Enge des Raums gekrümmt.“ 61 Die Krokodildarstellungen Merians und Sebas wurden noch bis Ende des 18. Jahrhunderts in populären Naturkunden nachgedruckt. Unter den sprunghaften Kenntnisgewinnen dieser Zeit wich jedoch die Stilisierung der Tiere einer rationaleren Darstellungsform. 10. Vom Naturalienkabinett zum Aquarium Die hier vorgestellte Motivgeschichte vermag vielleicht zwei Überlegungen zu verdeutlichen: 1. Nicht zuletzt wegen ihres Status als potentielle Menschenfresser erregten Krokodile in der frühneuzeitlichen Naturgeschichte besondere Aufmerksamkeit. Wegen ihrer Größe und bizarren Erscheinung kam ihnen nicht nur ein zentraler Status in den Naturaliensammlungen zu; ihr Gefahrenpotential motivierte auch die Stilisierung ihrer Darstellung in Anlehnung an die traditionelle Drachen-Ikonographie. Windungen, Drehungen und Rollen vermittelten, von der Kunsttheorie der Spätrenaissance forciert, als kompositorische Formel einen Sinngehalt von Aggression und Tücke und wurden den 59 Müsch, Irmgard: „Albertus Sebas Naturaliensammlung und ihr Bildinventar“. Albertus Seba. Das Naturalienkabinett. Locupletissimi rerum naturalium thesauri. 1734 - 1765 . Hgg. Irmgard Müsch, Rainer Willmann und Jes Rust. Köln 2011. 14-22, hier S. 14. 60 Abgebildet in Faust, Zoologische Einblattdrucke , S. 156. 61 Abgebildet in Faust, Zoologische Einblattdrucke , S. 156. 30 Robert Bauernfeind Darstellungen auch dann aufgezwungen, wenn sie von der eigenen Beobachtung der Künstler - von Reuwich bis Merian - nicht bestätigt worden sein konnten. Besonders deutlich wird diese Stilisierung, wenn Präparate manipuliert wurden, um dem Stereotyp mit schlängelnden und gerollten Schwänzen gerecht zu werden. 2. Mit dieser bildlichen Stilisierung ging eine Verklärung der Tiere einher. Zwar hatten prominente Naturforscher wie Konrad Gessner in ihren Publikationen eine generelle Trennung von empirischer Beobachtung und literarischer Zuschreibung angestrebt und damit insbesondere der Naturallegorese mittelalterlicher Tradition Einhalt geboten. Zugleich entwickelte jedoch die humanistische Emblematik neue uneigentliche Lesarten der Natur in Orientierung an antiken Vorbildern. Krokodile konnten dabei etwa als Alteritätszeichen in der Darstellung außereuropäischer Kulturen dienen, wurden aber auch weiterhin - insbesondere auf populärer Ebene - mit Drachen identifiziert, um in dieser Rolle etwa städtische Gründungslegenden zu vergegenwärtigen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts brachen die Bedingungen der traditionellen Naturgeschichte in sich zusammen. Methodisch ließ die Neuorganisation der Taxonomie durch Carl von Linné das Paradigma des Kuriosen obsolet erscheinen. Gesellschaftlich büßten die typischen Sammlungsstücke durch zunehmende Verfügbarkeit ihren Rang als Distinktionsmerkmal ein; dies umso mehr, als das vormals überwiegend elitär verhandelte Wissen über Tiere, Pflanzen und Mineralien zunehmend in illustrierten Enzyklopädien und populären Naturkunden verbreitet wurde. Manifest wurde die Popularisierung der Naturgeschichte mit der Gründung öffentlicher botanischer und zoologischer Gärten, deren bildhafte Arrangements einheimischer und exotischer Tiere und Pflanzen die frühneuzeitliche Vorgeschichte wie Fieberträume der Naturalienkämmerer reflektierten. 62 Als ein spätes Beispiel feiert eine 1913 im neu eröffneten Berliner Aquarium entstandene Photographie den bürgerlichen Triumph über die ungezähmte Natur der kolonialisierten Welt. Das Bild zeigt die Krokodilhalle, die das Kernstück des Gebäudes bildete, im Aufriss. Auf einer die Anlage überspannenden Holzbrücke hat sich eine Besuchergruppe versammelt, darunter liegen nicht weniger als zwölf Krokodile auf der Nachbildung von Ufern, deren exotischer Eindruck durch die seitliche Bepflanzung mit Tropenbäumen verstärkt wird. Kompositorisch wirkt die Aufnahme beinahe, als sei ein Frontispiz jener Renaissance- Sammlungen auf den Kopf gestellt worden, auf denen Krokodilpräparate den Raum als zentrale Stücke dominierten. Die Besucher zeichnen sich hingegen nicht länger als Mitglieder der sozialen Elite aus, die auf ihren Bildungsreisen exklusive Einblicke in die Baupläne der Schöpfung erhalten, sondern erfahren - in Kleidern, Fräcken und Hüten bürgerlich uniformiert - den sublimen Immersionseffekt der Anlage, der sie an der Grenze zu Charlottenburg in tiefe Wildnis zu verschlagen scheint: Auge in Auge mit den Menschenfressern, doch über sie erhaben. Rund einhundert Jahre später mutet die Aufnahme allenfalls dahingehend antiquiert an, dass Zoobesucher heute eher Funktionsjacken als Fräcke tragen. Über den Nutzen, exotische Raubtiere unter künstlichen Bedingungen zur Schau zu stellen, ließe sich freilich streiten. 62 Als besondere Spektakel ragten dabei die ephemeren Großaquarien der Weltausstellungen heraus, deren Einsatz modernster Baumittel die Unterwerfung und Verfügbarkeit exotischer Natur durch die Industrienationen repräsentieren sollte, siehe Brunner, Bernhard: Wie das Meer nach Hause kam. Die Erfindung des Aquariums . Berlin 2011. 91-107; Harter, Ursula: Aquaria in Kunst, Literatur und Wissenschaft . Heidelberg 2014. 58-73. Stilisierte Krokodile 31 Abb. 7: Die Krokodilhalle des Berliner Aquariums Literaturverzeichnis Primärliteratur Forer, Conrad (Hg.): Gesnerus redivivus auctus & emendatus, oder: Allgemeines Thier-Buch. Eigentliche und lebendige Abbildung aller vierfüssigen, so wohl zahmer als wilder Thieren, welche in allen vier Theilen der Welt zu finden . Frankfurt am Main 1669. Münster, Sebastian: Cosmographia . Basel 1544. -: Cosmographia . Basel 1546. 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Von Fischen, Vögeln und Reptilien. Meisterwerke aus den kaiserlichen Sammlungen . Ausstellungskatalog. Hg. Christina Weiler. Wien 2011. Wettengl, Kurt (Hg.): Maria Sibylla Merian. Künstlerin und Naturforscherin . Ausstellungskatalog. Frankfurt am Main 1997. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 35 Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste Stephanie Wodianka 1. Einführung Das italienische Wort paragone kann man mit ‚Vergleich‘ oder ‚Gegenüberstellung‘ ins Deutsche übersetzen. Jenseits seiner allgemeinen Bedeutung wird unter dem Begriff Paragone in der Kulturgeschichte ein besonderer Vergleich, eine besondere Gegenüberstellung bezeichnet: Die vergleichende Gegenüberstellung der Künste. 1 Diese vergleichende Gegenüberstellung war nicht immer von gleicher kultureller Relevanz. Vielmehr gibt es Konjunkturen dieses Paragone und der Vergleich der Künste war durch verschiedene kulturelle Herausforderungslagen motiviert: Das Bedürfnis zu bestimmen, was die Künste sind, was sie jeweils im Vergleich ausmacht, ist gebunden an einen mehr oder weniger expliziten Rechtfertigungszwang eigenständiger Existenz. Dieser Rechtfertigungszwang kann verschiedene Ursachen haben, ist aber immer gebunden an kulturelle Transformationen: Transformationen von Wissenskulturen, Transformationen materieller und ökonomischer Bedingungen von Kunst, oder auch Transformationen des künstlerischen Feldes durch veränderte Medienkulturen, ‚neue Künste‘, die das Verhältnis der Künste untereinander neu verhandelbar machen. Entsprechend vielfältig sind die herangezogenen Vergleichsmomente: Die vergleichende Gegenüberstellung der Künste bedarf immer der Präzisierung, auf welche Charakteristika dieser Vergleich sich eigentlich bezieht. Der Paragone führt somit immer auch zur Frage, welche Charakteristika die eine und die andere Kunst hat, ob sie überhaupt Eigenschaften hat, die andere Künste nicht haben - ob es sie überhaupt gibt. Der Paragonediskurs ist deshalb nie einfach nur ein neutraler, gegenüberstellender Vergleich, sondern an Interesselagen gebunden: Interesselagen von Künstlern, die ihre künstlerische Identität und / oder ihre ökonomische Existenz an diese Frage gebunden sehen und an die Interesselagen von Kunst-Rezipienten, die ihre Ansprüche in die Diskussion einbringen und für ‚ihre‘ Kunst Partei ergreifen. Paragone meint deshalb als kulturgeschichtlicher Begriff mehr als nur ‚gegenüberstellender Vergleich‘, er meint ‚Wettstreit‘ der Künste. Mit der Kunst ist es wie im Leben: Besonders herausgefordert zum Vergleich sehen wir uns mit dem, was uns ähnlich ist. Aristoteles hatte für Dichtung, Rhetorik, Bildkünste Tanz und einige Arten der Musik die Naturnachahmung zum gemeinsamen Ziel erklärt und damit die Grundlage für das Bestreben dieser Künste geschaffen, bei aller Gemeinsamkeit das je Eigene hervorzuheben. Dass Aristoteles selbst bereits die Unterschiedlichkeit der formalen Mittel der Künste bei ihrer Naturnachahmung angeführt hatte (und somit 1 Einen guten diachronen und systematischen Überblick bietet Pfisterer, Manfred: „Paragone“. Rhetorisches Wörterbuch der Rhetorik . Bd. 6. Hg. Gert Ueding. Tübingen 2003. 528-546. Vgl. zur Einführung auch Tauber, Christine: „Paragone“ . Lexikon der Kunstwissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Hg. Stefan Jordan und Jürgen Müller. Stuttgart 2012. 250-261. 36 Stephanie Wodianka selbst sein Gleichheits-Postulat relativiert hatte), wurde vergessen. Die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden, Möglichkeiten und Grenzen von Literatur und bildender Kunst wurde besonders häufig und mit besonderem Interesse gestellt - mit dem Ziel, sich wechselseitig voneinander abzugrenzen. Das liegt daran, dass Antike, Renaissance und Barock eine prinzipielle Vergleichbarkeit von Malerei und Dichtung hinsichtlich ihrer künstlerischen Mittel und Ziele gegeben sahen, und deshalb wurde den Grenzlinien zwischen diesen beiden Künsten besonders große Aufmerksamkeit zuteil. Die Konkurrenz der Bildenden Künste zu den artes liberales (also zu Dichtung, Rhetorik und Musik), ist ein Grundmotiv antiker und mittelalterlicher Literatur. Zwei Formeln haben in diesem Kontext besonders folgenreiche Interpretationen erfahren: Die Formel ut pictura poesis erit von Horaz (es ist mit der Dichtung wie mit der Malerei), und die Rede des Simonides von Keos, der Malerei als muta poesis (stumme Dichtung) und die Dichtung als pictura loquens (sprechende Malerei) bezeichnete. Die Interpretationen dieser Formeln wendeten das Deskriptum und machten es mitunter sogar zum Präskriptum : Aus ‚Es ist mit der Poesie wie mit der Malerei‘ wurde zeitweise die Doktrin ‚Es sei mit der Malerei wie mit der Poesie.‘ Die Argumente für die spezifische Überlegenheit waren vielfältig, lassen sich jedoch auf zwei Hauptbereiche reduzieren: 1. das Mimesispotential, 2 und 2. das Potential für kulturelles Gedächtnis. 3 Mit Bezug auf das Mimesis-Potential wurde das Kriterium der ‚Wahrheit‘ diskutiert (etwa Bildkünste zur Darstellung des corpus , Dichtung zur Darstellung von anima ), der Überlegenheit der angesprochenen Sinne bzw. ihrer Täuschbarkeit (Tastsinn, Hörsinn, Sehsinn) und das Kriterium des Rückbezuges auf die Wirklichkeit durch sittlichen und staatlichen Nutzen. Mit Bezug auf das kulturelle Gedächtnis wurde abgewogen, welche Kunst beständigere Kunstwerke hervorbringe, welches Erinnerungs- und Gedächtnispotential sie im Sinne gegenwärtiger Aneignung, aber auch im Sinne des anhaltenden Nachruhmes des Werkes selbst und des Dargestellten habe. Der Paragone der Künste hat - bei allem Streit - zu einer Differenzierung künstlerischer Beschreibungskategorien und zu einem geschärften Bewusstsein für Selbst- und Fremdsichten der Künste und ihrer Gattungen / Genres geführt. Außerdem kann man von einer Aufwertung des Kunstdiskurses sprechen, der sich spätestens durch Castigliones ‚Cortegiano‘ im 16. Jahrhundert vollzog - zunächst im Sinne einer Aufwertung als hofwürdigem Thema, im 18. und 19. Jahrhundert als Gegenstand gelehrter und zunehmend öffentlichkeitsrelevanter Urteilsbildung. Nachdem Leonardo da Vinci 1492 die Malerei als Ursprung der Dichtung, Malerei, Skulptur und Musik postuliert und somit deren klare Überlegenheit genealogisch definiert hatte, bemüht sich Benedetto Varchi in seinen Vorlesungen und Abhandlungen zum Paragone um ein ausgewogeneres und möglichst alle Argumente würdigendes Urteil, das letztlich die lange vergessene Ähnlichkeitsrelativierung des Aristoteles wiederbelebt: Die unterschiedlichen formalen Mittel von Dichtung und Malerei sind es, die die Dichtung für die Darstellung des Inneren und die Malerei für die Darstellung des Äußeren geeigneter erscheinen lassen. Dabei formuliert Varchi so, dass die Dichtung als die allumfassendere 2 Vgl. Simonis, Annette u. Linda Simonis: „Der Vergleich und Wettstreit der Künste. Der ‚Paragone‘ als Ort einer komparativen Ästhetik“. Comparative Arts. Universelle Ästhetik im Fokus der vergleichenden Literaturwissenschaft. Hg. Achim Hölter. Heidelberg 2011. 73-86. 3 Vgl. Gedächtnisparagone. Intermediale Konstellationen. Hgg. Sabine Heiser und Christiane Holm. Göttingen 2010. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 37 Kunst erscheint, weil ihr Zuständigkeitsbereich in den der Malerei auszugreifen scheint und ihre soziale wie individuelle Differenzierungsfähigkeit besonders hervorgehoben wird: Es ist darauf hinzuweisen, dass der Dichter sie [die Natur] mit Worten nachahmt und die Maler mit Farben. Wichtiger noch, die Dichter ahmen vor allem das Innere nach, das heißt die Vorstellung und die Leidenschaften der Seele, auch wenn jene oftmals die Köper und alle Eigenschaften aller belebten und unbelebten Dinge beschreiben und sozusagen mit Worten ausmalen. Die Maler hingegen ahmen vor allem das Äußere nach, das heißt die Körper und die Eigenschaften aller Dinge. Denn die Gedanken und Handlungen von Königen und Bürgern unterscheiden sich voneinander […]. Ein Soldat und ein Kaufmann haben gewöhnlich unterschiedliche Redeweisen und Sitten […]. Ein und derselbe Mensch kann sogar von sich selbst verschieden sein, je nach Alter oder durch diverse Zufälle. All dies müssen Dichter kennen und auszudrücken wissen. 4 Lessing war in seiner berühmten Schrift Laokoon 5 von 1766 weniger auf höfische Konsensfähigkeit bedacht, wie bereits der Untertitel des Werkes zeigt: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie . Er suchte programmatisch mehr das Trennende als das Gemeinsame - und findet es in der Unterscheidung von Zeit und Raum: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit, wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander […] existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen. Gegenstände, die nebeneinander […] existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander […] folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie. 6 Die mögliche Widerrede seiner Gegner, dass schließlich die Ilias des Homer und dessen Beschreibung des Schildes von Achill der beste Gegenbeweis für seine Theorie sei, greift Lessing selbst auf und geht in die Offensive. Homer beschreibe nämlich in der Ilias gar nicht das Schild des Achill als ‚Körper‘: Homer malet nämlich das Schild nicht als ein fertiges vollendetes, sondern als ein werdendes Schild. Er hat also auch hier sich des gepriesenen Kunstgriffes bedienet, das Koexistierende seines Vorwurfs in ein Konsekutives zu verwandeln, und dadurch aus der langweiligen Malerei eines Körpers das lebendige Gemälde einer Handlung zu machen. Wir sehen nicht das Schild, sondern den göttlichen Meister, wie er das Schild verfertiget. 7 Anhand von Lessings Laokoon -Schrift wird auch deutlich, inwiefern der Paragone nicht nur zur Differenzierung der Künste, sondern auch zur Differenzierung ihrer Gattungen beigetragen hat. Auf die Frage, warum der Laokoon der Laokoon-Gruppe nicht wirklich schreie (obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte, schlangenumwunden, angesichts des eigenen Todes und dem seiner Söhne, noch dazu in weiser Voraussicht des Untergangs von Troja), 4 Varchi, Benedetto et al.: Paragone. Rangstreit der Künste. 2. Vorlesung (1547). Darmstadt 2013. 5 Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Werke in acht Bänden . Bd. VI. Hg. Karl Eibl u. a. München 1974. 7-187. 6 Lessing, „Laokoon“, Abschnitt XVI, S. 103. 7 Ebd., Abschnitt XVIII. 38 Stephanie Wodianka im antiken Epos des Vergil aber sehr wohl und laut, antwortet er Folgendes: 8 Im Epos ist der schmerzverzerrende Schrei des Laokoon möglich, weil er in der Zeit situiert ist und folglich in der Einbildung des Lesers auch wieder vorüber geht, während er der Skulptur körperhaft und unveränderlich, quasi ad infinitum eingeschrieben wäre. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Schönheit und Schmerz, wie sie die Antike konzipiere, sei somit im Epos relativiert bzw. auf einen Moment reduziert. Das Gleiche gelte jedoch nicht für die Tragödie als weitere der Dichtung zugehörige Gattung, Leidensdarstellungen haben für Lessing dort keinen Platz: Da man den Schmerzensschrei einer Figur in der Tragödie tatsächlich höre und nicht wie im Epos nur mit Hilfe der Einbildungskraft zu hören glaube, beleidige dieser Sinneseindruck Auge und Ohr und sei auch zur Erregung von Mitleid ungeeignet, und so müsse sich die Tragödie strenger an die Gesetze halten, die für Malerei und Skulptur gelten. Nach diesem einführenden Überblick möchte ich in meinem Beitrag weitere Etappen des Paragone vorstellen und dabei auf Texte von Goethe, Leopardi, Zola und Baudelaire rekurrieren. Mit Goethe, Leopardi und Zola möchte ich zeigen, dass im 18. und 19. Jahrhundert die Flexibilität der Fokalisierung zum privilegierten Argument in der Paragone -Diskussion zwischen Malerei und Dichtung wird: Die literarische Thematisierung des Sehe-Punktes selbst, auch in seiner Variabilität und möglichen Gegenläufigkeit, wird der Ausführung malerischer Perspektive gegenübergestellt. Im letzten Teil werde ich ein Beispiel dafür geben, inwiefern das Erscheinen einer neuen Kunst, der Photographie, zu neuen Selbstbestimmungen der Literatur geführt hat und diese dabei weniger die Abgrenzung, sondern die Koalition mit den Bildkünsten suchte: Baudelaire. Ein folgenreicher kulturgeschichtlicher Kontext für die Etappen des Paragone -Diskurses ist - neben der Renaissance - der Grand tour , 9 die Konjunktur einer Bildungsreise, 10 die zunächst Aristokraten, dann aber auch Gelehrte und schließlich Bürgerliche Europas unter dem Vorzeichen sich wandelnder Konventionen und Bildungsziele aufbrechen ließ. Reise, Reiseerleben, Reisebericht und Reisedeutung waren damals wie heute nicht nur von Unmittelbarkeit und Subjektivität, sondern auch von Konventionalität und Normen geprägt. 11 Die apodemische Literatur, aber auch die Künste haben zu dieser ‚Anleitung zum Sehen‘ beigetragen: Die Landschafts- und Vedutenmalerei von Hackert und anderen Malern seiner Zeit präformiert und konserviert den Blick der Reisenden, sie macht die Reiseerfahrung zum Wiedererkennen und zum Suchen von Bekanntem im Claude-Glas. 12 Und auch Reisebe- 8 Vgl. dazu Wilm, Marie-Christin: „Laokoons Leiden. Oder über eine Grenze ästhetischer Erfahrung bei Winckelmann, Lessing und Lenz“. Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Hg. Sonderforschungsbereich 626. Berlin 2006. (http: / / www.sfb626.de/ veröffentlichungen/ online/ aesth_erfahrung/ aufsaetze/ wilm.pdf). 9 Der Begriff wurde - so der Eintrag des Oxford English Dictionary - von Richard Lassels (1606-1668) geprägt, der in seinem Werk The Voyage of Italy (1670) Bildungspotentiale der Italienreise beschrieb. O. V.: „Grand Tour”. The Oxford English Dictionary. Hgg. John Simpson und Edmund Weiner. Oxford 1989. 10 Brilli, Attilio: Quando viaggiare era un’arte . Bologna 1995. 11 Boutier, Jean: Le Grand Tour: une paratique d’éducation des noblesses européennes (XVIe-XVIIIe siècles) . S. 3. (http: / / hal.archives-ouvertes.fr/ docs/ 00/ 05/ 10/ 63/ PDF/ Boutier,%20J.-2004-GrandTour.pdf). 12 Das Claude-Glas war ein kleiner leicht getönter Taschen-Konvexspiegel, den die Reisenden bei der Landschaftsbetrachtung nutzen, um rücklings, also über die Schulter mit dem Rücken zur eigentlichen Landschaftsansicht, vermittelt über den Spiegel ein verkleinertes Spiegelbild zu fokussieren, das sich durch den eingefangenen Landschaftsausschnitt sowie (z. T. vorklappbare) gefärbte Scheiben (grau, blau, gelb) möglichst den bekannten Gemälden von Lorrain annähern sollte. So wurde in der bereisten Landschaft diejenige Landschaftsästhetik gesucht und gefunden, die man aus künstlerischen Darstel- Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 39 richte und Reiseromane sind nicht nur eine Auflistung von Sehenswertem und Gesehenem, sondern sie reflektierten Wahrnehmungsästhetiken, die von der ‚Kunst des Reisens‘ geprägt und getragen wurden. Literatur und Malerei traten dabei in ein zugleich synergetisches wie paragonales Verhältnis und ihr jeweiliges die Wahrnehmung beeinflussendes Potential schien manchen so stark, dass sie auch als Konkurrent der ‚eigenen‘ Sicht auf die Dinge beschrieben wurden. „Man sah keine Natur mehr, sondern nur Bilder“, so schildert Goethe seine Eindrücke in der Italienischen Reise 13 und Germaine de Staël bedauert in ihren Carnets de Voyage en Italie beim Anblick des Vesuvkraters wenige Jahre später: „Le souvenir des poètes, Milton, Virgile, est la seule chose qui diminue l’impression de ce spectacle. On voudrait le voir en sauvage sans avoir rien lu." 14 Die Künste werden in Goethes Italienischer Reise und in Germaine de Staëls Carnet de Voyage en Italie zum Hindernis des Reiseblicks. Die Reisenden tragen Malerei und Literatur scheinbar unwillkürlich und in gewissem Maße auch unfreiwillig im Gepäck und nun verstellen sie die Sicht auf das Bereiste. Bei Goethe ist es die von der Reisekonjunktur des späten 18. Jahrhunderts inspirierte Landschaftsmalerei, die sich zwischen den Betrachter und die Natur schiebt, 15 und bei Gemaine de Staël sind es kanonische Werke der Antike bzw. des 17. Jahrhunderts, die den unmittelbaren Eindruck unmöglich machen, ihn stets kulturell relativieren und kontextualisieren. Insofern ist sowohl in der Italienischen Reise als auch in den Carnets de Voyage von einem Paragone zwischen unmittelbarer Wahrnehmung und Reise-Erfahrung einerseits und einem kunstvermittelten Reiseblick andererseits zu sprechen. Goethe und Germaine de Staël schreiben sich bzw. ihre literarischen Figuren hier mit ihrem Wunsch nach einem von Literatur und Kunst unverstellten Blick einerseits mehr oder weniger affektiert in einen Wissenschaftsdiskurs ein: Sie inszenieren sich bzw. ihre Figur als informierten Teil eines kulturellen Gedächtnisses, verleihen damit ihrem Text kulturellen Status. Zugleich thematisieren sie durch diese (Selbst)Inszenierung die uneinholbare Präformation des Reiseblicks auf Italien, der jede Authentizität und Einmaligkeit des Reiseerlebnisses in Frage stellt. Das von Germaine de Staël ersehnte voir en sauvage ist verloren, oder besser: Reisen ohne Literatur und Kunst gibt es eigentlich gar nicht. Manchmal scheinen die Künste schneller zu sein als der Reisende selbst, wie in den hier genannten Beispielen - sie stehen schon als Bild oder Text in der betrachteten Landschaft und scheinen schon Teil von ihr gewesen zu sein, bevor man selbst den Blick auf sie richtet. 2. Goethes Italienische Reise: literarische Betrachtung des eigenen Sehe-Punktes Goethes Blick ist eigentlich nie auf Italien gerichtet, er sieht immer das Bild bzw. den Text davor oder dahinter oder aber er betrachtet seine Perspektive selbst. Gerade diese Thematilungen kannte. Das eigene Reiseerleben wiederholte und kopierte intentional das bildkünstlerisch repräsentierte und kanonisierte kulturelle Wissen. (Andrews, Malcolm. The search fort he picturesque. Landscape Aethetics and Tourism in Britain 1760 - 1800 . Stanford 1989, S. 68 ff.) 13 Goethe, Johann Wolfgang: „Italienische Reise“. Goethes Werke . Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 11. 9-556, hier S. 476. 14 Balayé, Simone: Les Carnets de voyage de Mme de Staël . Contribution à la génèse de ses œuvres. Genf 1971, S. 120. 15 Vgl. dazu den einschlägigen Aufsatz von Dirk Niefanger: „‘Keine Natur mehr, sondern nur Bilder‘“. Goethes Abschied vom Vesuv“. Von der Natur zur Kunst zurück‘. Neue Beiträge zur Goethe-Forschung. Hgg. Moritz Baßler und Christoph Brecht u. a. Gotthart Wunberg zum 65. Geburtstag. Tübingen 1997. 109-126. 40 Stephanie Wodianka sierung der Perspektive macht das spezifisch Literarische für ihn aus, ist das, was die Literatur der Vedutenmalerei entgegen zu setzen hat, auch wenn sie sie für sich funktionalisiert: Die literarische Reisebeschreibung Goethes beschreibt nicht das, was das reisende Ich sieht (das erschöpft sich sowieso in dem, was durch Bilder bekannt ist), sondern sie fokussiert auch den perspektivischen Ausgangspunkt des Reisenden. Goethe bringt in seiner Italienischen Reise die fast erdrückende Überlegenheit bildkünstlerischer Reisedarstellungen gegenüber der Reiseliteratur zum Ausdruck. Insbesondere Goethes Sizilienreise 16 ist ein Gang durch eine Bildergalerie. Goethe beschreibt und betrachtet nicht Landschaft, sein Reisebericht ist Ekphrasis im Paragone der Künste: Mit keinen Worten ist die dunstige Klarheit auszudrücken, die um die Küsten schwebte, als wir am schönsten Nachmittage gegen Palermo anfuhren. Die Reinheit der Konture, die Weichheit des Ganzen, das Auseinanderweichen der Töne, die Harmonie von Himmel, Meer und Erde. Wer es gesehen hat, der hat es auf sein ganzes Leben. Nun versteh’ ich erst die Claude Lorrains und habe Hoffnung, auch dereinst in Norden aus meiner Seele Schattenbilder dieser glücklichen Wohnung hervorzubringen. 17 Goethe nutzt hier den literarischen Text, um ihn zugleich in seiner mimetischen Kompetenz in Frage zu stellen. Die Ansicht Siziliens vermag er zu erfassen („Mit keinen Worten“), literarische Sprache vermag allenfalls als Ekphrasis verweisende Kraft zu entfalten („Konture“, „Ganzes“, „Töne“, „Harmonie“), ansonsten wird ihr Versagen bescheinigt. Goethes Italienische Reise beschreibt nicht das einmalige, ‚authentische‘ Reiseerlebnis, sondern ist immer schon Wiederholung einer bereits gemachten und künstlerisch repräsentierten Erfahrung und verweist vom erlebten Moment („wer es gesehen hat“) weg: erstens durch die Generalisierung des individuell-subjektiven Erlebens, zweitens durch die Perspektive auf die zeitüberdauernde Bedeutung („der hat’s auf ein ganzes Leben“). Die Transformation subjektiven Erlebens in im Wortsinn medialisierte Wahrnehmung bedarf keines externen Mediums mehr: Goethe nutzt hier nicht mehr wie seit dem 17. Jahrhundert und auch noch bei seinen Zeitgenössen beliebt das Claude-Glas, um sein Landschaftserleben dem von Lorrain künstlich anzugleichen, sondern es stellt sich quasi auf unvermittelte (und insofern fast schon wieder authentische) Weise die Wahrnehmungsähnlichkeit mit der bildkünstlerischen Vermittlung Claude Lorrains her. Aber alle sich andeutende Unmittelbarkeit des sehenden Erlebens wird sogleich in den Horizont zukünftiger Erinnerung („dereinst im Norden“) gerückt. Goethes literarisches Italien-Bild ist bei Goethe nie Original und Urbild, sondern gegenwärtig erinnerter Teil des kulturellen Bildgedächtnisses (Lorrain) oder in Aussicht gestelltes eigenes literarisches ‚Schattenbild‘, stets Mimesis seiner selbst. In Goethes Italienischer Reise lassen sich aber auch Hinweise auf eine selbstbewusstere Konzeptionalisierung des Literarischen ausmachen, die Literatur nicht nur als pictura loquens , sondern als charakteristische Kunst mit Potentialen beschreibt, die jenseits dessen liegen, was die Malerei zu bieten hat. So beschreibt Goethe seine Ankunft mit dem Schiff auf Sizilien: Anstatt ungeduldig ans Ufer zu eilen, blieben wir auf dem Verdeck, bis man uns wegtrieb; wo hätten wir einen gleichen Standpunkt, einen so glücklichen Augenblick so bald wieder hoffen 16 Vgl. dazu Wodianka, Stephanie: „Welches Sizilien? Vittorini, Pirandello und Rossellini am Fuße des Stromboli”. Reiseziel Italien. Moderne Konstruktionen kulturellen Wissens in Literatur - Sprache - Film. Hgg. Alessandra Lombardi und Lucia Mor u. a. Frankfurt a. M. 2014. 191-211, hier insbes. S. 194 f. 17 Goethe, „Italienische Reise“, S. 302 f. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 41 können! […] Der Wirt [unseres Gasthofs], ein alter behaglicher Mann, von jeher Fremde aller Nationen zu sehen gewohnt, führte uns in ein großes Zimmer, von dessen Balkon wir das Meer und die Reede, den Rosalienberg und das Ufer überschauten, auch unser Schiff erblickten und unsern ersten Standpunkt beurteilen konnten. 18 Goethe beschreibt nicht Sizilien, er beschreibt seinen Sehe-Punkt (den Standort seines Blicks) auf Sizilien, und dann den Sehe-Punkt (Balkon) auf seinen vorherigen Sehe-Punkt (Schiff). Er unterstreicht mit dem Verweis auf die Sehgewohnheiten des Gastwirtes im Kontext der Reisekonjunktur („von jeher Fremde aller Nationen zu sehen gewohnt“), inwiefern es ihm um die „Gewohnheiten“ des Betrachtens geht und deren Aufbrechen durch eine literarische Perspektivänderung: nicht die Ansicht des Bereisten, sondern der perspektivische Ausgangspunkt der Ansicht selbst wird zum Gegenstand literarischer Darstellung. 3. Giacomo Leopardi: Rückblicke des lyrischen Ich ‚im Bild‘ der Grandtouristes Eine ähnliche Umkehrung des Reiseblicks, die für dessen spezifisch literarische und nicht bildkünstlerische Repräsentation steht, lässt sich auch bei Giacomo Leopardi ausmachen. Mein Beispiel ist hier das Gedicht La Ginestra o il fiore del deserto , das 1836 entstanden ist und die ‚Canti‘ Leopardis in der postumen Ausgabe von 1845 beschließt. Leopardi setzt sich in diesem berühmten Canto mit dem europäischen Grand Tour und seinen literarischen Folgen auseinander, das lyrische Ich, platziert am Fuße des Vesuv, präsentiert seine andere Sicht auf die Dinge und grenzt sich dabei dialogisch von den Grandtouristes ab. 19 Der Blick des lyrischen Ich am Fuße des Vesuv wird hier in ein paragonales Verhältnis zu dem von Gemälden präformierten Blick der Reisenden gesetzt. 20 Das lyrische Ich setzt sich ins Bild der Vedutenmaler und erwidert ihren Blick. Es entwickelt eine wahrnehmungsästhetische und perspektivische Opposition zur europäischen Reisekultur, ein Paragone zwischen italienischer Lyrik und europäischer Vedutenmalerei. Das lyrische Ich des Canto positioniert sich und seine unerwiderte Rede an den Ginster bereits am Gedichtbeginn an einer der wichtigsten Stationen des Grand Tour : am Vesuv. Wie bedeutsam diese örtliche Positionierung für alles weitere ist, zeigt sich daran, dass das lyrische Ich hinter der beschreibenden Ortsbestimmung zurücktritt, indem das Gedicht mit der Lokalpräposition „Qui“ bzw. mit der adverbialen Bestimmung des Ortes einsetzt. Erst in der fünften Zeile gibt es sich durch die beginnende Du-Anrede des gelb-duftenden Ginsters implizit und in Vers 7 durch „ti vidi“ auch explizit zu erkennen: Qui su l’arida schiena / Del formidabil monte / Sterminator Vesevo / La qual null’altro allegra arbor né fiore, / Tuoi cespi solitari intorno spargi, Odorata ginestra, / Contenta dei deserti. Anco ti vidi / De’ tuoi steli abbellir l’erme contrade / Che cingon la cittade / La qual fu donna de’ mortali 18 Ebd., S. 299 f. 19 Vgl. Neumeister, Sebastian: „Das Bild des Vesuv in der europäischen Literatur zur Zeit Leopardis“. Giacomo Leopardi 1798 - 1998 (= PhiN. Philologie im Netz, Beiheft 1 / 1998). Hgg. Sebastian Neumeister und Dietrich Scholler. 37-49. (http: / / www.fu-berlin.de/ phin/ bi.htm) und Wodianka, Stephanie: „Das bereiste Andere: Der ‚italienische Blick’ am Fuße des Vesuv auf den Grand Tour und die europäische Reiseliteratur“. Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes. 32 (2011), 3 / 4: 467-486. 20 Vgl. dazu auch De Seta, Cesare: L' Italia nello specchio del grand tour. Mailand 2014. 42 Stephanie Wodianka un tempo, / E del perduto impero / Par che col grave e taciturno aspetto / Faccian fede e ricordo al passeggero. 21 Bemerkenswert sind drei weitere Aspekte, die bereits hier auf den Deutungszusammenhang des Gedichtes mit der Reisekultur verweisen: Erstens und besonders deutlich die Erwähnung des „passeggero“ in Zeile 13, zweitens die Betonung des Gesichtssinns bzw. des Anblicks („ti vidi“ 7, „taciturno aspetto“ 12), und drittens der im Titel prominent vorangestellte und in Zeile 7 wiederholte Verweis auf die Wüstenhaftigkeit des Ortes („fiore del deserto“ / „contenta dei deserti“): Er assoziiert den Canto von Beginn an mit Corinne ou l’Italie (zudem weisen beide Werke die Oder-Struktur im Titel auf) bzw. mit dem berühmten Fluchtimpuls der Protagonistin Corinne beim Anblick des Vesuvs: „Cher Oswald, dit Corinne, quittons ce désert […].“ 22 Während Corinne und Oswald am Krater des Vesuv, Höhe- und Wendepunkt des Grand tour , die Flucht ergreifen, bleibt das lyrische Ich bei Leopardi provokativ sitzen und fordert den Betrachter ironisch auf, zum aufklärerischen Fortschrittsoptimismus angesichts dieser wenig einladenden Landschaft auf Distanz zu gehen: A queste piagge / Venga colui che d’esaltar con lodo / Il nostro stato ha in uso, e vegga quanto / È il gener nostro in cura / All’amante natura. […] Dipinte in queste rive / Son dell’umana gente / Le magnifiche sorti e progressive . 23 Wenn Leopardi in La Ginestra also ironisch vom in die Landschaft eingemalten Bild spricht („Dipinte in queste rive / Son dell’umana gente / Le magnifiche sorti e progressive “), so bezieht sich seine ironische Distanz nicht nur auf die Deutung des Bildes (als Gegenbeweis aufklärerisch fortschrittsverheißenden Optimismus‘), sondern auch auf Bildevokationsverfahren der Reiseliteratur, für das Goethes Italienische Reise steht. Das lyrische Ich und der Ginster sind im Vergleich mit dem Reisenden durch einen anderen Blick und ein anderes Raumverhältnis gekennzeichnet. So erblickt das lyrische Ich am Vesuv nichts Unbekanntes, sondern erlebt ein Wiedersehen mit dem Ginster (Or ti riveggo, 14), und die das Gedicht von Beginn an prägende Dialogform betont diese die Fremderfahrung des Reisenden konterkarierende Vertrautheit. Das ‚Sitzen‘ des Ginster („tu siedi, o fior gentile“, 34) und das wiederholte standortfixierende „Qui“ (1, 42, 52) stehen der Reisebewegung gegenüber („i passi del peregrin“, 20). Während die Reiseberichte topisch die Einmaligkeit und Exklusivität des Vesuv-Erlebnisses hervorheben, betont La Ginestra das Vesuv-Erlebnis als Gewohnheit, die nicht mit Bewegung im Sinne von Reisen oder Besteigen verbunden ist, sondern mit dem unbeweglichen Sitzen auf vertrautem Boden: 21 Leopardi, La Ginestra o il fiore del deserto , V. 1-13). „Hier auf dem kahlen Rücken / des schrecklichen Vesuv, / der alles vernichtet, / den kein andrer Baum, keine Blume schmückt, / streckst du ringsum deine einsamen Zweige aus, / gelber, duftender Ginster, / zufrieden mit der Öde. Ich sah deine schönen / Büsche auch in den einsamen Weiten sprießen, / welche die Stadt umschließen, die einstmals Herrin der Menschen war, und es scheint / dein stummer Anblick / dem Reisenden Zeugnis und Andenken des verlorenen Reiches zu sein.“ (1-13) 22 Germaine de Staël, Corinne ou l’Italie , S. 322. 23 Leopardi, La Ginestra , V. 37-51. „Zu diesen Hängen / sollten sie kommen, sie, die das menschliche Los / zu preisen gewohnt sind, und sehen, wie liebreich und zart, / besorgt um unsere Art / Natur sich erweist. […] / Diese Hänge schaut an! / Sie zeigen (In ihnen sind eingemalt, S. W.) des Menschengeschlechts / großartige und fortschrittliche Geschicke ”. Die von Leopardi selbst vorgenommene Hervorhebung kennzeichnet den Vers als Zitat eines ‚typisch Modernen’, der ihm als repräsentativer Vertreter des verwerflichen Fortschrittsoptimismus galt. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 43 „Sovente in queste rive […] seggo la notte“. 24 Damit setzt sich das lyrische Ich im wörtlichen Sinne ‚ins Bild’: Es platziert sich in demjenigen Landschaftsgemälde des Vesuv, das in den literarischen Reiseberichten geradezu topisch von einem Fenster gerahmt wurde. 25 Die demonstrative Sesshaftigkeit des lyrischen Ich im Landschaftsbild der Reiseberichte konterkariert damit die Weltsicht, die Beschreibungsästhetik und die Landschaftswahrnehmung der Fahrenden: „Il suol ch’io premo“ 26 bietet stattdessen den Erkenntnisgewinn und bezeichnet den unbewegten Perspektivpunkt auf die Dinge. Dass Leopardi diese den Reiseblick umkehrende Sitz-Position nicht im privilegierten literarischen Format der Reisekultur - im von Prosa dominierten Genre Reiseroman oder Reisebericht - verortet, sondern dem lyrischen Ich eines Canto zuschreibt, ist als ein zusätzliches Plädoyer im Kontext des Paragone -Diskurses zu werten. 4. Émile Zola: Manets Porträt und das literarische Porträtiertwerden Auch für Émile Zola scheint das Spezifikum der Literatur im Potential der perspektivischen Umkehrung zu liegen. Vordergründig ist in seinen Ausführungen im Salon de 1876 eine Eloge des Malers Manet zu lesen, die jedes Wettstreit-Gedankens entbehrt. Er preist den von den Zeitgenossen verachteten Maler als einen der wenigen, die dem bürgerlichen Zeitgeist nicht folgen - einem Zeitgeist, der versucht, die Photographie zum Maßstab aller Dinge zu machen und die Maler dazu verführt, mit Mitteln der Malerei kunstvergessen der Photographie nachzueifern. So schreibt Zola: 24 Leopardi, La Ginestra , V. 158 und 161. „Oftmals an diesen Hängen, / […] sitze ich nachts, […].“ 25 Exemplarisch sei hier die bekannte Passage aus Goethes Italienischer Reise genannt, in der der Reisende mit der Herzogin von Giovane durch das Schlossfenster hindurch auf den nächtlichen Vulkan blickt: „Wir gingen im Zimmer auf und ab, und sie, einer durch Läden erschlossenen Fensterseite sich nähernd, stieß einen Laden auf, und ich erblickte, was man im Leben nur einmal sieht. […] Tat sie es absichtlich, mich zu überraschen, so erreichte sie ihren Zweck vollkommen. Wir standen an einem Fenster des oberen Geschosses, der Vesuv gerade vor uns, die herabfließende Lava, deren Flamme bei längst niedergegangener Sonne schon deutlich glühte und ihren begleitenden Rauch schon zu vergolden anfing; der Berg gewaltsam tobend, über ihm eine ungeheure feststehende Dampfwolke, ihre verschiedenen Massen bei jedem Auswurf blitzartig gesondert und körperhaft erleuchtet. Von da herab bis gegen das Meer ein Streif von Gluten und glühenden Dünsten.“ (Goethe , „Italienische Reise“, S. 345 f.). Ein weiteres Beispiel für die durch das Fenster gerahmte Ansicht findet sich in Stendhals Voyages en Italie , wo der Fensterrahmen bemerkenswerterweise erst nachträglich ergänzt wurde und es erst in der Fassung von 1826 heißt: „Deux heures sonnent: le Vésuve est en feu; on voit couler la lave. Cette masse rouge se dessine sur un horizon du plus beau sombre. Je demeure trois quarts d’heure à contempler ce spectacle imposant et si nouveau, perché à ma fenêtre au septième étage.“ Stendhal, Voyage en Italie , Bd. II, S. 1469. 26 Leopardi, La Ginestra , V. 187. „[…] der Boden, / auf dem ich stehe […]“. [Übers. d. Verf.]. 44 Stephanie Wodianka Abb. 1: Gustave Caillebotte (1848-1894): Les raboteurs de parquet. 1875. Öl auf Leinwand. H. 102; L. 146.5 cm. © RMN-Grand Palais (Musée d‘Orsay). Caillebotte a exposé Les Raboteurs de parquet et Un jeune homme à sa fenêtre , d’un relief étonnant. Seulement, c’est une peinture tout à fait anti-artistique, une peinture claire comme le verre, bourgeoise, à force d’exactitude. La photographie de la réalité, lorsqu’elle n’est pas rehaussée par l’empreinte originale du talent artistique, est une chose pitoyable. (Émile Zola, Salon de 1876 ). 27 Armselig ist eine photographische Malerei, die nicht erhoben wird durch den einzigartigen Abdruck, den künstlerisches Talent zu hinterlassen vermag. Als einer der Wenigen ergreift er für Manets Kunst Partei - und Manet bedankt sich bei seinem Fürsprecher mit einem Porträt. 28 Dieses Porträt wiederum nimmt Zola zum Anlass einer Bildbeschreibung, 29 die vordergründig nichts darüber verrät, was Literatur vermag und wie ihre Position im Paragone der Künste einzuschätzen ist. Bei näherer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass Zola hier einerseits Manet als herausragenden naturalistischen Künstler ehrt, zugleich aber auch klarstellt, dass die naturalistische Malerei an die naturalistische Literatur nicht 27 Zola, Emile: „Lettres de Paris. Deux expositions d’art au mois de mai. Le salon de 1876“. Œuvres complètes. Bd. 12. Hgg. Georges Besson, Henri Mitterand und Gaétan Picon. Paris 1969. 946-971, hier S. 970. Siehe dazu die Bilder unter: https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ b/ bf/ Caillebotte_Rabotteurs_1875.jpg und https: / / upload.wikimedia.org/ wikipedia/ commons/ a/ af/ G._Caillebotte_-_ Jeune_homme_%C3%A0_la_fen%C3%AAtre.jpg. 28 Hirdt, Willi und Sabine Roßbach: Manet und Zola. Zur Symbiose von Literatur und Kunst. Tübingen, Basel 2001. 29 Zola, Émile: „Mon Salon, Édouard Manet“. Œuvres complètes. Bd. 12. Hg. Georges Besson, Henri Mitterand und Gaétan Picon. Paris 1969. 861-865. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 45 heranreichen kann. 30 Manet reflektierte selbst über die Grenzen ‚seiner‘ Kunst 31 - Zola hätte diese Grenzen offensichtlich gerne noch enger gezogen und kritisierte bereits im Jahr 1866: „Nos artistes sont des poètes. C‘est là une grave injure.“ Entsprechend ist sein Lobpreis Manets mit Vorsicht zu genießen - es währte ohnehin nur so lange, wie Manet der naturalistischen Ideologie zu folgen schien und wurde hart widerrufen, als Manet sich später dem Impressionismus zuwandte. 32 Die Doppelbödigkeit seines Zuspruchs zeigte sich auch in seiner ‚Danksagung‘ an den Schöpfer seines Porträts, wie im Folgenden zu zeigen ist. Abb. 2: Edouard Manet (1832-1883) Emile Zola. 1868. Öl auf Leinwand. H. 146.5; L. 114 cm. © RMN- Grand Palais (Musée d‘Orsay). 30 Drost verweist in seinem Aufsatz auf die grundsätzliche Eigennützigkeit, die Zola mit seiner Unterstützung Manets verfolgte: „Que Zola ait rendu justice à Manet reste n mérite exceptionnel dans l’histoire de la critique d’art de son temps, même si Zola avoue en privé qu’il voulait aussi profiter du scandale provoqué par les peintres novateurs pour faire de la publicité pour ses propres projets littéraires.“ (Drost, S. 98). Drost bezieht sich hier auf einen Brief Zolas, in dem er am 6. 2. 1865 an seinen Freund Antoine Valabrègue schreibt: „En ce moment, j’ai un double but, celui de me faire connaître et d’augmenter mes rentes.“ ( Correspondances , Bd. 1. Hg. B. H. Bakker. Montreal 1987, S. 406. Vgl. Drost, Wolfgang: „‘Vous n’êtes que le premier dans la décrépitude de votre art’. Baudelaire et Gautier, Zola et Mallarmé devant la modernité de Manet“. Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 38 (2014): 93-114. Vgl. zur Frage der Loyalität Zolas gegenüber Manet auch Savy, Nicole, „Arrêt sur image: le Portrait d’ Émile Zola par Édouard Manet“. Impressionnisme et littérature . Hg. Gérard Gengembre und Yvan Leclerc u. a. Mont-Saint-Aignan 2012. 51-61, hier S. 54 f. 31 „[…] je n’en ai pris que ce qui appartient en propre à mon art“ (Mallarmé : „Les impressionistes et Edouard Manet“. Œuvres complètes . Hg. Bertrand Marchal. Bd. 2. Paris 2003. 444-470, hier S. 470.) 32 „Les germes que j’ai vu jeter en terre ont poussé, ont fructifié d’une façon monstrueuse. Je recule d’effroi.“ Figaro, 2.5. 1896. Écrits sur l’art . Hg. Leduc-Adine, 1991, S. 473. 46 Stephanie Wodianka Zola stellt seine Ekphrasis unter das Vorzeichen der Erinnerung: Je me rappelle les longues heures de pose. Dans l’engourdissement qui s’empare des membres immobiles, dans la fatigue du regard ouvert sur la pleine clarté, les mêmes pensées flottaient toujours en moi, avec un bruit doux et profond. […] 33 Die Retrospektive auf die Vergangenheit tritt an die Stelle präsentischer Bildbetrachtung. Taubheit und Schläfrigkeit assoziiert sein Gedächtnis, einen un-sinnlichen Zustand. Zudem bezieht Zola sich auf eine Sinnesempfindung, die im toten Winkel der Malerei liegt: den Hörsinn. Weiter heißt es: Par moments, au milieu du demi-sommeil de la pose, je regardais l’artiste, debout devant sa toile, le visage tendu, l’oeil clair, tout à son oeuvre. Il m’avait oublié, il ne savait plus que j’étais là, il me copiait comme il aurait copié une bête humaine quelconque, avec une attention, une conscience artistique que je n’ai jamais vues ailleurs. [….] 34 Zola wendet die Perspektive des Malers und des Bildbetrachters gleichermaßen um: Sein autobiographisches Ich als Objekt der bildlichen Darstellung erwidert den Blick, schaut aus dem Bild heraus. Er erinnert sich, während der Maler ihn während des Malens zu vergessen haben scheint - auch hier ein Verweis auf den Paragone der Künste als Medien von Erinnerung und Gedächtnis. In Zolas Bildbeschreibung folgt ein Dialog, ausgelöst durch dessen Vorschlag, bei der künstlerischen Darstellung der Imagination größeren Raum zu geben: Ce qui m’a étonné moi-même a été la conscience extrême de l’artiste. Souvent, quand il traitait un détail secondaire, je voulais quitter la pose, je lui donnais le mauvais conseil d’inventer. ‘Non, me répondait-il, je ne puis rien faire sans la nature. Je ne sais pas inventer. Tant que j’ai voulu peindre d’après les leçons apprises, je n’ai produit rien qui vaille. Si je vaux quelque chose aujourd’hui, c’est à l’interprétation exacte, à l’analyse fidèle que je le dois.’ Là est tout son talent. Il est avant tout un naturaliste. 35 Zola wendet Manets Eingeständnis des imaginativen Unvermögens als malerisches Talent im Zeichen naturalistischer Ideale - vergleicht man diese Äußerung jedoch mit den in Le Roman expérimental vertretenen Positionen, so wird deutlich, dass der hier entwickelte und scheinbar mitgetragene Gegensatz von Imagination und detailgetreuer Analyse für die Literatur keine Geltung hat. Der literarische Naturalismus Zolas vermag seinem Programm nach Positivismus und künstlerische Schöpfungskraft zu vereinen. Zwar überlässt sich der naturalistische Roman nicht der ‘reinen Imagination’, versucht seinen sentiment personnel zu kontrollieren und sieht sich an Beobachtung gebunden, wie Zola schreibt: […] c’est l’investigation scientifique, c’est le raisonnement expérimental qui combat une à une les hypothèses des idéalistes, et qui remplace les romans de pure imagination par les romans d’observation et d’expérimentation. 36 Jedoch ‘dirigiert’ der naturalistische Dichter nach der Poetik Zolas die positivistisch beobachteten Tatsachen in seinem Werk so, dass es die Mechanismen der Wirklichkeit ersten Grades zur Darstellung zu bringen vermag. Hier entsteht der für die Literatur notwendige 33 Zola, „Mon Salon, Edouard Manet“, S. 864. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Zola, Émile: Le Roman Expérimental . (Nachdr. d. Ausg. Charpentier, Paris 1880). Paris 2006, S. 8. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 47 Freiraum, der sich von ‚reiner Beobachtung‘ genauso emanzipiert weiß wie von reiner Imagination: Nous partons bien des faits vrais, qui sont notre base indestructible; mais, pour montrer le mécanisme des faits, il faut que nous produisons et que nous dirigions les phénomènes; c’est là notre part d’invention, de génie dans l’œuvre […] Ainsi donc, au lieu d’enfermer le romancier dans des liens étroits, la méthode expérimentale le laisse à toute son intelligence de penseur et à tout son génie de créateur. 37 Und auch die folgende Passage ist nur bei naiver Lektüre als Ausdruck ungebrochener tiefster Bewunderung zu sehen: Ce portrait est un ensemble de difficultés vaincues ; depuis les cadres jusqu’au fond, depuis le charmant paravent japonais qui se trouve à gauche, jusqu’aux moindres détails de la figure, tout se tient dans une gamme savante, claire et éclatante, si réelle que l’oeil oublie l’entassement des objets pour voir simplement un tout harmonieux. 38 Die Malerei tut sich schwer, sie ist bei der von Zola als Ideal gesetzten naturalistischen Darstellung mit Hindernissen konfrontiert, die Manet als Ausnahmeerscheinung überwunden hat, sein Werk aber trotzdem noch als ein Ensemble dieser genommenen Hürden erscheinen lässt - wenngleich eine Hürden-Komposition, die einen harmonischen Gesamteindruck erzielt, weil das Auge die Disparatheit ‚vergisst‘ - ein kleiner Seitenhieb auf die Malerei, die von der Schwäche des leicht täuschbaren menschlichen Gesichtssinnes profitiert. Zola fährt fort und bedient sich der rhetorischen Figur der Paralipse, um auf die Detailhaftigkeit aufmerksam zu machen, für die er Manet schätzt - auch wenn die naturalistische Malerei grundsätzlich nicht an die Literatur heranzureichen vermag: Ich spreche erst gar nicht von den Objekten, von den Accessoires und Büchern, die auf dem Tisch herumliegen: Edouard Manet hat sich hier als Meister bewährt. Sondern ich empfehle ganz besonders die auf dem Knie der Figur ruhende Hand; das ist ein Wunderwerk. Hier endlich einmal Haut, echte Haut, ohne lächerliche Augentäuschung. 39 Das ‚Wunderwerk‘ besticht nach Zola gerade dadurch, dass es seine ‚Echtheit‘ nicht aus dem Versuch gewinnt, das Auge zu täuschen und die Grenzen zwischen Realität und Kunst zu vermischen. Mimesis bedeutet immer Wirklichkeit zweiten Grades, und Literatur und Malerei werden gleichermaßen lächerlich, wenn sie das zu vertuschen suchen. In einer noch grundsätzlicheren Hinsicht und durch eine grundlegende Strategie ist die Bildbeschreibung Zolas Auszug aus dem Salon de 1868 nicht nur Lob des naturalistischen Malers, sondern ein Plädoyer im Kontext der Paragone -Debatte: Zola entscheidet sich für ein ekphrastisches Künstlerlob, das zugleich auf jene blinde Flecken des bzw. eines jeden Gemäldes verweist, die in den Bereich spezifisch literarischer Kompetenzen fallen. Zolas ‚Bildbeschreibung‘ ist keine Beschreibung des Porträts, sondern eine Beschreibung seines Herstellungsprozesses. Er beschreibt, wie der Künstler Manet ihn malte und vor allem, welche Perspektiven der Rückblick des Porträtierten eröffnete und welche Bereiche des (geräuschvollen) Fühlens und Denkens für den Maler unerreichbar bleiben mussten - trotz 37 Ebd., S. 5 f. 38 Zola, „Mon Salon, Édouard Manet“, S. 864 f. 39 Ebd., S. 865. [Übers. d. Verf.] 48 Stephanie Wodianka aller ‚naturalistischer‘ Professionalität. Die Umkehrung des Blicks und die Flexibilität der Fokalisierung sind es, die die Literatur in die Waagschale der Künste wirft. Der Paragone zwischen Photographie einerseits und Malerei und Literatur andererseits wäre für Zola leicht entschieden. 40 Im Paragone zwischen naturalistischer Malerei und naturalistischer Literatur sieht sich Zola gezwungen, subtiler zu argumentieren. Dass er sich dabei in die Argumentationstradition von Lessings Laokoon stellt, ist offensichtlich. 5. Charles Baudelaire: Literatur als Gegenteil von Photographie Baudelaire wird im Jahr 1859 vom Herausgeber der Revue française aufgefordert, die gerade in Paris laufende Ausstellung zeitgenössischer Künstler zu kommentieren. „Soyez bref “, soll er zu Baudelaire gesagt haben, „ne faites pas un catalogue, mais un aperçu général, quelque chose comme le récit d’une rapide promenade philosophique à travers les peintures.“ 41 Baudelaire entspricht diesem Wunsch, und im Folgenden und letzten Abschnitt wird diesem mit Le Portrait betitelten Essai zum Salon de 1859 , wie er in der Revue française des gleichen Jahres publiziert wurde, eine zentrale Rolle zukommen - als Referenzpunkt für meine Interpretation des ebenfalls mit Un portrait betitelten Sonetts der Fleurs du Mal 42 und für eine Analyse zur Bestimmung des Literarischen im Paragone mit der Photographie, in Koalition mit Malerei und Zeichnung. Baudelaire führt in jener kunstkritischen Abhandlung Salon de 1854 unter der Kapitelüberschrift Le portrait eine imaginierte Diskussion mit einem fiktiven Gegenüber. Diese Szene ist unübertrefflich - an Bissigkeit und Bourgeoisie-Verachtung, aber auch an programmatischer Schärfe in Bezug auf den Paragone . Literatur und Malerei sind hier vereint im Wettstreit gegen die Photographie, die die Bedürfnisse der von Baudelaire verhassten bürgerlichen Seelen bedient und bestätigt: En face de moi, je vois l’Ame de la Bourgeoisie, et croyez bien que si je ne craignais pas de maculer à jamais la tenture de ma cellule, je lui jetterais volontiers, et avec une vigeur qu’elle ne soupçonne pas, mon écritoire à la face. Voilà ce qu’elle me dit aujourd’hui, cette vilaine Ame, qui n’est pas une hallucination: ‚En vérité, les poëtes sont de singuliers fous de prétendre que l’imagination soit nécessaire dans toutes les fonctions de l’art. Qu’est-il besoin d’imagination, par exemple, pour faire un portrait? Pour peindre mon âme, mon âme si visible, si claire, si notoire? Je pose, et en réalité c’est moi, le modèle, qui consens à faire le gros de la besogne. Je suis le véritable fournisseur de l’artiste. Je suis, à moi tout seul, toute la matière.‘ Mais je lui réponds: ‚ Caput mortuum , tais-toi! Brute hyperboréenne des anciens jours, éternel Esquimau porte-lunettes, ou plutôt porte-écailles, que toutes les visions de Damas, tous les tonnerres et les éclairs ne sauraient éclairer! plus la matière est, en apparence, positive et solide, et plus la besogne de l’imagination est subtile et laborieuse. Un portrait! Quoi de plus simple et de plus compliqué, de plus évident et de plus profond? ‘ 43 40 „L’essentiel pour lui, c’est la littérature qu’il considère comme seule propriétaire des mots, des sens et des récits. Seul le roman peut dire et raconter; il englobe tous les sujets et va incorporer l’art et les artistes, comme le reste.“ (Savy, „Arrêt sur image“, S. 61). 41 Baudelaire, Charles: Lettre à M. le Directeur de la Revue française sur le Salon de 1859 . Hgg. Wolfgang Drost u. Ulrike Riecher. Paris 2006, S. 3. Allg. Zur Bedeutung der Malerei für Baudelaires Werk vgl. Laforgue, Pierre: Ut pictura poiesis. Baudelaire, la peinture et le romantisme. Nîmes 2000. 42 Vgl. auch meine ausführlichere Interpretation des gesamten Portrait-Zyklus in den ‚Fleurs du Mal‘: Wodianka, Stephanie: „Spiegelbilder. Der Dritte Ort des Todes bei Baudelaire“. Bild und Tod . Hgg. Philipp Stoellgner und Jens Wolff. Tübingen 2016. 281-298. 43 Baudelaire, Salon de 1854 , S. 47. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 49 Zentraler Diskussionspunkt ist also die Frage der Imagination in ihrer Notwendigkeit für die Kunst im Allgemeinen, für das Porträt im Besonderen. Das verhasste bürgerliche Gegenüber ist seinerseits ein imaginiertes, aber kein halluziniertes, wie Baudelaire betont: fiktional, aber (leider) nicht fiktiv. Es sitzt ihm nah („cellule“) gegenüber („en face“) - eigentlich selbst schon eine Konstellation des verzerrten Spiegelporträts. Das bürgerliche Gegenüber behauptet sich in seiner positivistischen Materialität, die den Künstler geradezu überflüssig macht: Wozu Imagination, wenn doch alles sichtbar ist? Baudelaire nimmt diese Selbstreduktion auf die ‚Sache‘ in seiner erwidernden Beschimpfung als caput mortuum auf - der Totenschädel dient hier als Symbol irreduzibler Materialität. Kein Blitz der Welt reiche jemals aus, um diese kieselbebrillte, hintereisbergische Seele zu erhellen und sie zur Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse zu bringen: je sichtbarer die ‚positive‘ und ‚solide‘ Materie zu sein scheint, desto subtiler und notwendiger ist die Arbeit der Imagination. Das Portrait ist einfach und kompliziert, evident und tiefgründig zugleich, so die pointierte Antithese Baudelaires. Grundsätzlich ist für Baudelaire die Imagination die reine des facultés , die Königin der Vermögen, sie ist die eigentliche reine du vrai , Königin des Wahren. Das betont er deshalb immer wieder, weil er sich mit seiner Dichtung der Modernité in einer historischen Paragone -Situation befindet. Zum einen angesichts des literarischen und künstlerischen Realismus (insbesondere im Sinne der Genre- und Landschaftsmalerei), den er in seinen Schriften stets als verfehlte ästhetische Konzeption schwer zu erregender Geister („esprits paresseux et difficilement excitables“) zurückweist. 44 Zum anderen angesichts der Photographie, 45 die er als verhasste konkurrierende Modeerscheinung immer wieder polemisch thematisiert. In diesen „jours déplorables“ wie es bei ihm heißt, habe sich eine neue Industrie formiert, die nicht unwesentlich dazu beigetragen habe, dass der letzte Rest des Göttlichen im französischen Geist zum Ruin gekommen sei: 46 [L]e Credo actuel des gens du monde, surtout en France […] est celui-ci: ‚Je crois à la nature et je ne crois qu’à la nature (il y a de bonnes raisons pour cela). Je crois que l’art est et ne peut être que la reproduction exacte de la nature […] Ainsi l’industrie qui nous donnerait un résultat identique à la nature serait l’art absolue.‘ 47 Der Glaube an die reproduction exacte dessen, was als ‚Natur‘ unmittelbar sich darzulegen scheint, steht am Ursprung eines neuen, von Baudelaire als bedrohlich bewerteten bürgerlichen Kunstverständnisses, das von einer neuen Massen-Sekte propagiert und praktiziert wird: Un Dieu vengeur a exaucé les voeux de cette multitude. Daguerre fut son Messie. Et alors elle se dit: ‚Puisque la photographie nous donne toutes les garanties désirables d’exactitude (ils croient cela, ces insensés), l’art, c’est la photographie.‘ A partir de ce moment, la société immonde se rua, comme un seul Narcisse, pour contempler sa triviale image sur le métal. 48 44 Ebd., S. 22. 45 Vgl. dazu Ortel, Philippe : La littérature ou l’ère de la photographie. Enquête sur la révolution invisible. Nîmes 2002. 46 Vgl. ebd. insbes. S. 141-166. 47 Baudelaire, Charles: „Le Salon de 1859“. Œuvres complètes . Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris 1976. 608-682, hier S. 616 f. 48 Ebd. S. 617. 50 Stephanie Wodianka Die multitude , die einerseits für Baudelaire im Sinne der anonymen Masse Bedingung und Hintergrundgeräusch moderner Kunst ist (s. das berühmte und vielinterpretierte Sonett A une Passante ), wird hier zum Publikum einer bedrohlich konkurrierenden Modeerscheinung, die nach Baudelaires Ansicht zu Unrecht künstlerischen Anspruch erhebt und sich nun sogar als Inbegriff der Kunst zu behaupten droht. Die Selbstbespiegelung im Metall der Daguerrotypie wird bei ihm zum Signum eines falschen, weil positivistisch-abbildenden Kunstverständnisses, das die Bedeutung der Imagination negiert. Er selbst räumt der Photographie lediglich als technischer Dienerin der Wissenschaften und Künste einen Platz ein, vergleichbar mit dem Buchdruck und der Stenographie - sobald man ihr jedoch die Anmaßung nicht verweigere, sich Zutritt zu den Domänen der Kunst zu verschaffen, nehme das Unheil seinen Lauf: „Mais s’il lui est permis d’empiéter sur le domaine de l’impalpable et de l’imaginaire, sur tout ce qui ne vaut que parce que l’homme y ajoute de son âme, alors malheur à vous! “ 49 Die Imagination ist nach Auffassung von Baudelaire die „reine des facultés“ 50 , und ihr ist eine „apparentée avec l’infini“ 51 eigen - die technisierte Begrifflichkeit assoziiert das Faszinosum der Apparate-Photographie, um es zugleich aufzurufen und sich ihm entgegenzusetzen. So deutlich wie die Ablehnung der Photographie ist Baudelaires Affinität zur Malerei und Zeichnung. Die Inbezugsetzung von Dichtung und Malerei ist bei Baudelaire produktiv und geradezu konstitutiv für seine Poetik. 52 Baudelaire stellt der abbildenden Photographie in seinen Gedichtsammlungen Les Fleurs du Mal und Le Spleen de Paris die verweisende Literatur entgegen. Was Literatur ausmacht, ist ihr Potential, im Synergieeffekt mit Malerei und Zeichnung einen dritten Ort zu schaffen, der jenseits ihrer selbst liegt. Hier ist der Ort der reine des facultés , der Imagination. Zu illustrieren ist das anhand des Gedichtes Le Portrait im Sonett-Zyklus Un fantôme aus den Fleurs du Mal . 53 Der Zyklus besteht aus vier Sonetten, die die Titel Les Ténèbres , Le Parfum , Le Cadre und Le Portrait tragen und somit eigentlich schon durch die Titelwahl ihren Bezug zu Kunst- und Darstellungsdiskursen Baudelaires nahe legen. Le Portrait legt folglich - hinausgehend über die bisherigen Forschungen einen Deutungshorizont jenseits der Erlebnislyrik nahe. Das Gedicht ist vielmehr getragen von der ästhetischen Reflexion Baudelaires im Kontext des Salon de 1859 und von dem von Baudelaire diskutierten Paragone von Kunst (also Literatur und Malerei) einerseits und der ‚Nicht-Kunst‘ Photographie: Le Portrait La Maladie et la Mort font des cendres De tout le feu qui pour nous flamboya. De ces grands yeux si fervents et si tendres, De cette bouche où mon coeur se noya, De ces baisers puissants comme un dictame, De ces transports plus vifs que des rayons, Que reste-t-il ? C'est affreux, ô mon âme ! Rien qu'un dessin fort pâle, aux trois crayons, 49 Baudelaire, Salon de 1854 , S. 13. 50 Baudelaire, Salon de 1859 , S. 620. 51 Ebd. S. 621. 52 Westerwelle, Karin: „Einleitung“. Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker. Hg. Karin Westerwelle. Würzburg 2007. 9-26, hier S. 23 f. 53 Baudelaire, Charles: Les Fleurs du Mal (1861). Hg. Dominique Carlat. Paris 2004, S. 44-47. Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 51 Qui, comme moi, meurt dans la solitude, Et que le Temps, injurieux vieillard, Chaque jour frotte avec son aile rude… Noir assassin de la Vie et de l'Art, Tu ne tueras jamais dans ma mémoire Celle qui fut mon plaisir et ma gloire ! 54 Le Portrait erscheint bei oberflächlich-inhaltistischer Lektüre zunächst als ein Vanitas-Gedicht aus dem 17. Jahrhundert: Krankheit und Tod verwandeln das Feuer in Asche, von diesen Augen, von diesem Mund, von diesen Küssen, von diesen Empfindungen der Leidenschaft wird nichts bleiben: „Que reste-t-il? C’est affreux, ô mon âme! / Rien qu’un dessin fort pâle, aux trois crayons.“ Eine ‚ganz blasse‘ Zeichnung, mit wenig differenzierten Strichen („aux trois crayons“) aufs Papier geworfen. Damit ist ein Bild aufgerufen, das umso deutlicher hervortritt, wenn man sich der ästhetischen Dimension der ersten beiden Quartette zuwendet und das Gedicht auch ‚hört‘ und ‚sieht‘. Das erste Quartett reimt im Kreuzreim „flamboya“ und „se noya“, das zweite Quartett „rayons“ und „crayons“: Der Maler, Zeichner und Stecher Goya im ersten Quartett klanglich, im zweiten Quartett spiegelverkehrt optisch (oya / ayo) angespielt. Mit Goya und Spiegel assoziiert Baudelaire hier die berühmte Radierung Hasta la muerte / Bis zum Tod - Nr. 55 aus Goyas Sammlung Los Caprichos (Madrid 1799). Abb. 3: Francisco de Goya (1746-1828): Hasta la muerte. Capricho 55. 1799. Radierung. H. 2.15 cm; L. 1.5 cm. © Museo del Prado. 54 Ebd. S. 46 f. 52 Stephanie Wodianka Die Sammlung von insgesamt 80 Zeichnungen war Baudelaire gut bekannt und er schätzte Goya außerordentlich als „grand artiste.“ 55 Die Assoziation des Goya-Gemäldes wird noch verstärkt durch das erste Terzett, in dem das lyrische Ich sich in der Zeichnung erkennt bzw. sich mit diesem vergleicht („un dessin fort pâle […] Qui, comme moi, meurt dans la solitude“), und in dem Goyas sich bespiegelnde, von Zeit und Vergänglichkeit gezeichnete Greisin isotopisch erscheint. Bei Baudelaire ist es die Zeit selbst, die als beleidigender Greis („injurieux vieillard“) mit rauem Flügel täglich Abriebspuren am lyrischen Ich bzw. an der Zeichnung hinterlässt („Chaque jour frotte avec son aile rude […]“). Trotzig hält das letzte Terzett diesem Befund entgegen: „Noir assassin de la Vie et de l’Art, / Tu ne tueras jamais dans ma mémoire / Celle qui fut mon plaisir et ma gloire! “ Während die Zeichnung der Zeit, diesem „noir assassin de la Vie et de l’Art“ zum Opfer fällt, wird „celle“, nämlich die dem lyrischen Ich Freude und Ruhm gewesene Imagination , die ihren Sitz im Gedächtnis hat („ma mémoire“), überleben. Die beiden Schlussverse reimen „mémoire“ und „gloire“, ein ruhmreicher Platz im kulturellen Gedächtnis steht am Ende des Gedichtes und widerlegt die eingangs topisch konstatierte vernichtende Macht des Todes. Das traditionsreiche Paragone -Argument des Nachruhms wird hier genutzt, um die Überlegenheit der synergetisch wirkenden, auf Imagination setzenden Künste Literatur und Zeichnung zu postulieren. Konstitutiv sind bei Goya die Perspektiven der betrachtenden Distanznahme - Baudelaire verweist mit seinem Sonett auf eine Zeichnung, die ihrerseits mehr die Varietät von Sehe-Punkten auf ein Porträt und an ihm vorbei als das Porträt selbst ins Zentrum der Betrachtung stellt. Nicht nur die sich schmückende Greisin betrachtet sich, auch ihr Spiegelbild scheint seinerseits mit einem gewissen Eigenleben aus dem Spiegel heraus den betrachtenden Blick zu erwidern. Hinzu kommen die dritten Beobachtungsinstanzen, repräsentiert durch zwei junge Männer und eine Frau, die spottend den Blickkontakt mit der sich Spiegelnden meiden. Nicht zuletzt lässt die weiße Leerstelle im Spiegelbild imaginativen Platz für einen Betrachter, der der Greisin bei ihrer Selbstbespiegelung über die Schulter blickt - insofern sind auch wir als Rezipienten in unserer möglichen Position des betrachtend-gespiegelten Dritten im Bild Goyas auf Distanz präsent. Das Sonett Le Portrait schließt somit unmittelbar an den kunstkritischen Essai Le Portrait an, bei dem die verhasste bürgerliche Seele das spiegelbildliche Gegenüber war und die Evidenz der Materialität behauptete - und der Baudelaire die reine des facultés , die Imagination entgegengesetzt hatte. Das Sonett zeichnet kein Porträt, deutet es allenfalls mit Augen und Mund an und es zeigt auch den Tod nicht, bildet ihn nicht ab. Je stärker er sich aufdrängt - im Sonett repräsentiert die scheinbare Evidenz der Gemeinplätze die scheinbare Evidenz seiner Materialität - desto vehementer setzt Baudelaire die Imagination und die Widerläufigkeit der nur scheinbar evidenten Perspektiven dagegen. Für Baudelaire geht es somit im Paragonediskurs nicht so sehr um den Wettstreit zwischen Literatur und Malerei, wichtiger sind ihm deren Koalitionsmöglichkeiten in Abgrenzung zur Photo- 55 S. Baudelaire, Charles: „Quelques caricaturistes étrangers“. Œuvres complètes . Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris 1976. 564-574, hier S. 567 f. „Bezugsfeld und Gegenstand von Baudelaires Goya-Besprechung ist vor allem die Serie Los Caprichos, achtzig Radierungen, die 1799 in Madrid erschienen sind. Doch obwohl sich Baudelaire damit nur auf einen kleinen Ausschnitt des Gesamtwerkes bezieht, hebt er mit der Verunsicherung der Wahrnehmung in der Unbestimmtheitskategorie des Phantastischen ein wichtiges Charakteristikum von Goyas Kunst hervor.“ (Full, Bettina: „Baudelaires Bildlektüren. Goya und die Darstellung des ‚comique absolu’“. Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker. Hg. Karin Westerwelle. Würzburg 2007. 77-105, hier S. 85 und S. 92.) Paragone: Bestimmungen von Literatur im Wettstreit der Künste 53 graphie. Das schlagende Argument für Literatur und Zeichnung / Malerei ist - trotz aller massenbewegender Erfolge der Photographie - für ihn, dass diese Künste Grenzen des Darstellbaren nicht zu überschreiten suchen, sondern die Grenze suchen und zugunsten der Imagination an der Schwelle des Darstellbaren stehen bleiben. So endet auch sein berühmtes Gedicht Les Phares auf die Orientierung gebenden ‘Leuchttürme’ der Malerei mit den Worten: „Car c’est vraiment, Seigneur, le meilleur témoignage / Que nous puissions donner de notre dignité / Que cet ardent sanglot qui roule d’âge en âge / Et vient mourir au bord de votre éternité! “ 56 Gerade im Stehenbleiben an der Schwelle des Darstellbaren liegt für Baudelaire das Potential der ‚wahren‘, ‚eigentlichen‘ Kunst, die Ewigkeitshoffnung der modernen Flüchtigkeit, die die Photographie nur scheinbar erfüllt: dann reimt am Schluss - wie in Le Portrait - „mémoire“ auf „gloire“. Baudelaire hat mit Goethe, Leopardi und Zola mindestens einen Standpunkt im Paragone -Diskurs gemeinsam: Das ‚Eigene‘ der Literatur wird dann diskussionswürdig, wenn das Literarische im Kontext kultureller Praktiken ( Grand tour ), künstlerischer Ausdrucksformen (naturalistische und impressionistische Avantgarde) oder Technologien (Daguerrotypie) Konkurrenz bekommt. Der Wettstreit der Künste stellt die Dichter vor die Herausforderung, die Grenzen und Möglichkeiten des Literarischen auszuloten und neu zu bestimmen: in Symbiose mit oder in Demarkation zu den anderen Künsten. Gestritten wird nicht immer laut: Es sind gerade die leise und subtiler vorgetragenen Argumente, die den Paragone nicht nur als literarischen Gegenstand, sondern auch in seinem ästhetischen Potential für die Literatur hervortreten lassen. Literaturverzeichnis Primärliteratur Baudelaire, Charles: „Le Salon de 1859“. Œuvres complètes . Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris 1976. 608-682. -: Les Fleurs du Mal (1861). Hg. Dominique Carlat. Paris 2004. -: Lettre à M. le Directeur de la Revue française sur le Salon de 1859 . Hgg. Wolfgang Drost und Ulrike Riecher. Paris 2006. -: „Quelques caricaturistes étrangers“. Œuvres complètes . Bd. 2. Hg. Claude Pichois. Paris 1976. 564-574. De Staël, Germaine: Corinne ou l’Italie. Texte établi, présenté et annoté par Simone Balayé. Paris 2000. Goethe, Johann Wolfgang: „Italienische Reise“. Goethes Werke . Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 11. Hg. Erich Trunz. München 1982. 9-556. Leopardi, Giacomo: „La Ginestra“ [1836] . Giacomo Leopardi. Canti e frammenti / Gesänge und Fragmente. Übers. v. Helmut Endrulat und Gero Alfred Schwalb. Stuttgart 1990. 234-253. Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“. Werke in acht Bänden . Bd. VI . Hg. Karl Eibl u. a. München 1974. 7-187. Mallarmé, Stéphane: „Les impressionistes et Edouard Manet“. Œuvres complètes . Hg. Bertrand Marchal. Bd. 2. Paris 2003. 444-470. 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Oder über eine Grenze ästhetischer Erfahrung bei Winckelmann, Lessing und Lenz“. Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Hg. Sonderforschungsbereich 626. Berlin 2006. (http: / / www.sfb626.de/ veröffentlichungen/ online/ aesth_erfahrung/ aufsaetze/ wilm.pdf) Wodianka, Stephanie: „Das bereiste Andere: Der ‚italienische Blick’ am Fuße des Vesuv auf den Grand Tour und die europäische Reiseliteratur“. Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 32 (2011), 3 / 4: 467-486. -: „Spiegelbilder. Der Dritte Ort des Todes bei Baudelaire“. Bild und Tod . Hgg. Philipp Stoellgner und Jens Wolff. Tübingen 2016. 281-298. -: „Welches Sizilien? Vittorini, Pirandello und Rossellini am Fuße des Stromboli”. Reiseziel Italien. Moderne Konstruktionen kulturellen Wissens in Literatur - Sprache - Film. Hgg. Alessandra Lombardi und Lucia Mor u. a. Frankfurt a. M. 2014. 191-212. Symphonien Instrumentalwerke als poetologische Modelle in Empfindsamkeit, Romantik und Moderne Christine Lubkoll In seinem Aufsatz über Symphonien , den Ludwig Tieck 1799 in den zusammen mit Wilhelm Heinrich Wackenroder verfassten Phantasien über die Kunst herausbrachte, findet sich folgende Charakteristik der musikalischen Gattung: Diese Symphonien können ein so buntes, mannigfaltiges, verworrenes und schön entwickeltes Drama darstellen wie es uns der Dichter nimmermehr geben kann; denn sie enthüllen in rätselhafter Sprache das Rätselhafteste, sie hängen von keinen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit ab, sie brauchen sich an keine Geschichte und an keine Charakter [sic] zu schließen, sie bleiben in ihrer rein-poetischen Welt. 1 Diese Überlegungen sind aus mehreren Gründen bemerkenswert. Erstens ist es zunächst nicht selbstverständlich, dass hier ein Dichter sich über die Symphonie äußert, dass er die musikalische Kompositionskunst überhaupt für diskussionswürdig erachtet. Verständlich wird dies erst, wenn man bedenkt, dass die Symphonie im 18. Jahrhundert eine relativ junge Gattung war und dann aber enorm schnell zu einer Hochblüte gelangte; außerdem beginnt um 1800 (im Spannungsfeld von Empfindsamkeit, Klassizismus und Romantik) eine intensive poetologische Reflexion, die den Stellenwert und das Ausdruckspotential der Literatur im Vergleich mit anderen Künsten zu bestimmen versucht. Das führt zum zweiten Punkt: Auffällig an den Ausführungen Tiecks ist zudem, dass er die Symphonie mit einem literarischen Text vergleicht (dem Drama), dass er aber die Musik klar als eine überlegene Darstellungsform betrachtet. Dies ist durchaus erstaunlich, wenn man den Umstand berücksichtigt, dass die Musik im ästhetischen Diskurs überhaupt erst seit dem späten 17. Jahrhundert als eigenständige Kunst bewertet (und behandelt) wurde 2 ; in den septem artes liberales wurde sie noch - im Quadrivium - in eine Reihe mit der Arithmetik, der Geometrie und der Astronomie gestellt. Allerdings ist die Formulierungsweise Tiecks durchaus ambivalent: Denn die Favorisierung der Symphonie (als musikalisches Kunstwerk) geschieht ja wiederum unter Rückgriff auf Begriffe aus der Dichtung: Zum einen wird die Musik als eine Sprache (und nicht etwa: eine Tonkunst) bezeichnet; 1 Tieck, Ludwig: „Symphonien“. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe . Bd. I. Hgg. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 240-246, hier S. 244. 2 Vgl. dazu Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800 . Freiburg i. Br. 1995, hier v. a. S. 27-83. 58 Christine Lubkoll zum anderen wird sie als eine quasi gehobene Form der Dichtung gefeiert: „in ihrer rein- poetischen Welt“. 3 In diesem Sinne wird die Musik - und hier besonders die Symphonie - im poetologischen Diskurs um 1800 oftmals als Vorbild für die Literatur ‚instrumentalisiert‘. Die ‚rein poetische Welt‘, die sich nicht an die „Gesetze der Wahrscheinlichkeit“, an „keine Geschichte“ und an „keine Charakter[e]“ halten muss, wird zum Ideal schlechthin erhoben. 4 Damit aber nicht genug: Die Nobilitierung der Symphonie zum poetologischen Modell ist nicht nur eine vorübergehende ‚Mode‘ um 1800, sondern sie prägt sich dem literarischen und kulturellen Diskurs derart ein, dass sich die Künste bis in die Moderne und Gegenwart daran abarbeiten. Die Rezeptionsgeschichte des literarischen Symphonie-Diskurses soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Am Anfang stehen einige Überlegungen zur Verortung des Themas im komparatistischen Grenzgebiet ‚Musik und Literatur‘. Auch wenn hier der Bereich der musikliterarischen Forschung nicht allgemein, sondern exemplarisch vorgestellt werden soll, erscheinen doch einige theoretisch-methodische Grundlagen hilfreich. Zweitens werden im Vorfeld der musikwissenschaftliche Begriff der Symphonie und die musikhistorische Entwicklung der Gattung skizziert, bevor im Hauptteil dann die ‚Karriere‘ des Symphonie- Diskurses in der Literaturgeschichte in einem Dreischritt erläutert wird: Zunächst geht es hier um empfindsame Anverwandlungen im Rahmen der im späteren 18. Jahrhundert aufkommenden Ausdrucks- und Gefühlsästhetik (Wilhelm Heinse, Wilhelm Heinrich Wackenroder); sodann nehme ich romantische Perspektivierungen in den Blick: zum einen die wirkungsästhetischen Reflexionen, die die „verworrene“ Komplexität der Symphonie als Gefährdung des Subjekts beschreiben (Brentano / Görres), zum anderen deren Idealisierung als polyphones Strukturideal im Sinne der progressiven Universalpoesie der Romantik (E. T. A. Hoffmann). Drittens gehe ich dann auf die Frage ein, wie das kulturgeschichtlich wirksame Paradigma der ‚Symphonie‘ in der Moderne rezipiert wird: Dabei rückt einerseits ein literarischer Text in den Fokus: Thomas Manns Roman Doktor Faustus und das vom Protagonisten verfolgte Postulat der ‚Zurücknahme‘ von Beethovens 9. Symphonie. Andererseits gewinnen auch Transformationen des Strukturideals im Medium des Films an Bedeutung - dies wird am Beispiel von Walter Ruttmanns Film Berlin - Die Sinfonie der Großstadt kurz angedeutet. 1. Vorüberlegungen Zunächst zu einer kurzen Verortung des Themas im Forschungsgebiet ‚Musik und Literatur‘: Stephen Paul Scher hat in seinem einschlägigen Handbuch Literatur und Musik folgendes Schema entwickelt: 5 3 Tieck, „Symphonien“, S. 244. 4 Ebd. 5 Scher, Stephen Paul (Hg.): Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebiets . Berlin 1984. Symphonien 59 Abb. 1: Beziehungen zwischen Musik und Literatur (Scher 1984, S. 14) Er unterscheidet zwischen den jeweils spezifischen Perspektiven der Musik- und der Literaturwissenschaft (demnach ist die Musikwissenschaft eher für den Bereich der ‚Literatur in der Musik‘ (symphonische Dichtungen, Programmmusik) und für Bereiche zuständig, in denen ‚Musik und Literatur‘ zusammenwirken (alle Formen von Vokalmusik vom Lied bis zur Oper). Die Literaturwissenschaft ist in diesem Bereich mit im Boot; außerdem kümmert sie sich vornehmlich um alle Formen der Thematisierung von ‚Musik in der Literatur‘. Hinzu kommt übrigens das ganz große Segment des Topos des Musikalischen in der Literatur: dazu gehören die Thematisierungen von Musikerfiguren, ästhetischen Reflexionen, kulturhistorisch bedeutsamen Epochen oder Gattungen der Musikgeschichte sowie spezifische Auseinandersetzungen mit Gesang oder auch mit bestimmten Musikinstrumenten und ihrer Wirkung. 6 In dieses Segment fällt auch die Frage nach der poetologischen Funktion des Kompositionsmodells ‚Symphonie‘ in der Literatur. Die neuere musikalische Forschung fordert eine intermedialitätstheoretische Fundierung. Vorreiter war und ist hier Werner Wolf. 7 Auf ihn beruft sich auch Ina O. Rajewski, die in ihrem Standardwerk zur Intermedialitätstheorie die wichtigsten Kategorien bereitstellt. 8 Sie unterscheidet zwischen Intramedialität (Bezüge innerhalb eines Mediums, z. B. Intertextualität oder Gattungstraditionen), Intermedialität („Medien überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien in- 6 Vgl. dazu auch: Lubkoll, Christine: „Musik in Literatur: Telling“. Handbuch Literatur und Musik . Hgg. Nicola Gess und Alexander Honold. Berlin / Boston 2016, S. 78-94. 7 Wolf, Werner: „Musicalized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies”. Word and Music Studies . Hg. Bernhard Walter. Amsterdam 1999. 37-58. 8 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität . Tübingen 2002. 60 Christine Lubkoll volvieren“ 9 ) und Transmedialität (medienunspezifische Phänomene wie z. B. Topoi oder ikonographische Traditionen). Innerhalb des Bereichs Intermedialität wird noch unterschieden zwischen Medienwechsel (z. B. Literaturverfilmungen), Medienkombination (z. B. alle Arten von Textvertonungen) und Intermedialen Bezügen . Hierunter versteht Rajewski „Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (= Einzelreferenz) oder das semiotische System (= Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums mit dem kontaktnehmendem Medium eigenen Mitteln“. 10 In unserem Fall wäre dies die Bezugnahme auf das semiotische System Symphonie (im Sinne einer Systemreferenz) mit den Mitteln der poetischen Sprache. Im Einzelnen kann dies bedeuten: • eine sprachliche Reflexion über die Struktur der Symphonie • die Beurteilung ihrer ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten • eine Diskussion über ihren kulturgeschichtlichen Stellenwert • die Fokussierung / Favorisierung eines bestimmten Komponisten oder Werks • den Versuch einer strukturellen Anverwandlung von Kompositionsprinzipien • die Instrumentalisierung für eine poetologische Reflexion. Einige Klärungen zum Begriff der Symphonie als musikalische Gattung erscheinen im Vorfeld der literaturwissenschaftlichen Betrachtung hilfreich. 11 Zunächst ist festzuhalten: Wörtlich bedeutet ‚Symphonie‘ nichts anderes als ‚das Zusammenklingen‘. In der Musikgeschichte bezog sich die Bezeichnung aber von Anfang an auf Instrumentalmusik. In der frühen Neuzeit ist die Symphonie im Zusammenhang mit der Oper entstanden - in der neapolitanischen opera seria war sie als rein instrumentales Einleitungsstück konzipiert und bestand aus drei Teilen (schnell - langsam - schnell). Mit dem Aufschwung der Instrumentalmusik im 18. Jahrhundert verselbstständigte sich die Sinfonia und wurde zugleich strukturell ausgebaut bzw. mit spezifischen kompositorischen Vorgaben versehen: Dabei entwickelte sich der erste Satz zur Sonatensatzform. Nach dem zweiten langsamen Satz folgte meist ein Menuett oder Scherzo; der vierte Satz diente dann einem temperamentvollen Abschluss und der individuellen Ausdruckstiefe der Komposition. Nachdem die Symphonie schon durch die Wiener-, die Mannheimer- und die Berliner Schule etabliert worden war, prägte insbesondere Joseph Haydn mit seinen über 100 Symphonien die Erscheinungsform der klassischen Symphonie. Er ist es denn auch, dessen Kompositionskunst in der Literatur um 1800 zuallererst im Zusammenhang mit vollendeter Instrumentalmusik Erwähnung findet. Der nächste große Akteur ist bekanntermaßen Mozart, der Haydns Kompositionstechnik übernahm, aber sie an Raffinesse teilweise übertraf (so wurde es jedenfalls von den Zeitgenossen wahrgenommen). Eine eigene Tiefe und Individualität im Ausdruck verlieh schließlich Ludwig van Beethoven der Gattung. Seine Symphonien zeichnen sich aus durch „Größe und Prägnanz der Themen, Kühnheit der Harmonik, Dehnung der Form, Vitalität der rhythmischen Bildungen, Erweiterung des Orchesterapparats“ und vor allem 9 Ebd., S. 13. 10 Ebd., S. 157. 11 Vgl. zum Folgenden: Finscher, Ludwig: „Symphonie“. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik . 21 Bände in zwei Teilen. 2. neu bearb. Auflage. Bd. 9. Sachteil Hg. Ludwig Finscher. Kassel (u. a.) 1998. 16-153. Außerdem: Art. „Sinfonie“. Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden . 19., völlig neu bearbeitete Auflage. Bd. 20. Mannheim 1993. 306 f. Symphonien 61 die thematische Durcharbeitung bzw. dem Zusammenhang aller Partien. 12 Die Komplexität der Beethovenschen Symphonik war es, die E. T. A. Hoffmann besonders faszinierte; in der späteren (musikwissenschaftlichen) Beethoven-Rezeption galt der Komponist dann als Vertreter einer vollendeten Klassik (von ‚Wiener Klassik‘ sprach man erst am Ende des 19. Jahrhunderts; E. T. A. Hoffmann klassifizierte Beethoven noch eindeutig als Romantiker 13 ). Im 19. Jahrhundert erlebte die Symphonie eine Hochkonjunktur; wobei der Bogen im deutschsprachigen Raum sich von Schubert und Schumann über Brahms und Bruckner bis zu Mahler und Richard Strauss spannt, im europäischen Kontext von Dvorak und Smetana über Tschaikowsky bis zu Berlioz und Saint-Saens. Wichtig und bemerkenswert ist, dass im 20. Jahrhundert eine durchaus ambivalente Rezeptionshaltung vorherrscht: Einige Komponisten knüpfen an die Vorbilder an (etwa: Prokofjiew, Schostakowitsch, Sibelius); andere experimentieren mit der Gattung und transformieren sie im Zeichen der modernen Musik (etwa: Reger, Hindemith, Schönberg, Webern). Nach der Jahrhundertmitte schwindet das Interesse an der Symphonie merklich. 2. Empfindsamkeit: Die Symphonie als Medium der Gefühlserzeugung Damit komme ich zur Trias literarischer Beispiele und wende mich zunächst der Empfindsamkeit zu. Sie hat einen entscheidenden Anteil an der Nobilitierung der Musik als Ausdrucksmedium und an der Ausprägung der empfindsamen Musikästhetik. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beobachten wir eine radikale Subjektivierung der Musikanschauung (die Komposition, den Vortrag und auch die Rezeption betreffend); und seit den 1770er Jahren erscheinen etliche Romane, in denen die Musik als ‚Sprache des Herzens‘, als Kommunikationsform der Gefühle und als Auslöser sentimentaler Stimmungen behandelt wird (oft verbunden mit religiösen Schwärmereien). 14 Zu nennen sind etwa Johann Martin Millers Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) 15 , Karl Philipp Moritz‘ Andreas Hartknopf (1786 / 90) 16 oder Jean Pauls Hesperus (1795) 17 . Eine Sonderstellung nimmt der ebenfalls 1795 erschienene Roman Wilhelm Heinses ein: Hildegard von Hohenthal . 18 Musik spielt hier nicht nur eine akzidentielle Rolle, dort, wo die ‚Sprache des Herzens‘ - in der Liebe, in der Religion - gefragt ist. Vielmehr handelt es sich um einen Text, der sich ausschließlich mit Musikreflexionen beschäftigt (und dabei en passant auch noch eine Liebesgeschichte erzählt). Er schließt dabei direkt an die zeitgenössischen Musikdiskussionen und musikgeschichtlichen Entwicklungen an und präsentiert in zahlreichen Gesprächen der beteiligten Protagonisten ein breites populäres Musikwissen (diese Konversationen machen zwei Drittel des umfang- 12 Vgl. Art. „Sinfonie“, Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, S. 307. 13 Siehe zu Hoffmanns Beethoven-Rezeption weiter unten. 14 Vgl. dazu insgesamt Müller, Ruth E.: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18 . Jahrhundert . Stuttgart 1989. 15 Miller, Johann Martin: Siegwart. Eine Klostergeschichte . Faksimiledruck der Ausgabe von 1776. Stuttgart 1971. 16 Moritz, Karl Philipp: „Andreas Hartknopf, Eine Allegorie. Predigerjahre“. Werke . Bd. 1: Autobiographische und poetische Schriften . Hg. Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981. 401-525. 17 Jean Paul: „Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung“. Werke . Abt. 1, Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München 1960. 471-1236. 18 Heinse, Wilhelm: „Hildegard von Hohenthal“. Hildegard von Hohenthal. Musikalische Dialogen. Hg. und kommentiert v. Werner Keil unter Mitarbeit von Bettina Petersen. Hildesheim, Zürich, New York 2002. 7-376. 62 Christine Lubkoll reichen dreibändigen Werkes aus). Sogar der Göttinger Musikwissenschaftler Johann Nikolaus Forkel benutzte den Roman als Quelle, auch Goethe hat sich hier informiert. Was die musikästhetische Positionierung betrifft, so markiert der Roman mithilfe einer raffinierten Komposition einen Übergang: Der Kapellmeister, Komponist und Musiklehrer Lockmann vertritt gewissermaßen noch eine barocke Position, indem er am Pythagoreismus und an der musikalischen Rhetorik festhält; der alte Reinhold ist ein Anhänger Rousseaus und steht für eine Auffassung der Musik als natürliche Empfindungssprache; und Hildegard von Hohenthal, die Titelfigur, eine bezaubernde junge Sängerin, vermittelt zwischen den Antipoden und entwirft dabei eine eigenständige Perspektive, die sich auf der Schwelle zwischen Empfindsamkeit und romantischer Musikästhetik bewegt. Dabei entpuppt sie sich als vehemente Befürworterin einer autonomen Instrumentalmusik - und genau deshalb ist der Text in unserem Zusammenhang interessant. Während Reinhold, der Rousseauist, die Instrumentalmusik als künstliche Konstruktion ablehnt und die Natürlichkeit des Gesangs favorisiert, plädiert Hildegard von Hohenthal für eine empfindungsästhetische Sicht auf die Sinfonie: Wenn ich es wagen darf, auch noch ein Wörtchen hinzuzufügen: so scheinen Sie mir, Herr Reinhold , in Italien zu sehr von den schönen Stimmen verführt zu seyn und die Instrumentalmusik nicht nach Verdienst und Würden zu schätzen. Es läßt sich viel und Wahres zu ihrem großen Lobe sagen. Sie verstärkt und bestimmt den Ausdruck der singenden Personen; drückt ihre stummen Gefühle aus, so wie die Gefühle der Nebenpersonen, und der ganzen Gesellschaft, und alles Leben der Natur, das sich durch merkliche Bewegung äußert. 19 […] Für sich allein“, fuhr Hildegard ferner fort, „ist sie ein ergötzendes Spiel für die Phantasie, und schmeichelt dem Ohr durch Neuheit von Melodie und Harmonie und Fertigkeit des Vortrags, und rührt, erschüttert wohl noch das Herz mit unbestimmten Gefühlen und Ahndungen von Leidenschaften. Wenn Sie (Reinhold, C. L.) eben Symphonien und Quartetten von Haydn oder unseren anderen Deutschen Meistern gehört hätten, so würden Sie gewiß nicht, auch nur zum Scherz, so gering von ihr gesprochen haben. 20 Schließlich deutet die Diskutantin sogar die romantische ‚Idee der absoluten Musik‘ 21 an, wenn sie die gänzliche Selbstbezüglichkeit der Orchestermusik betont: Überhaupt aber hat man noch nicht einmal die Frage aufgeworfen, was unsere ungeheuern Orchester bey einer dramatischen Begebenheit eigentlich vorstellen und bedeuten. Etwa die harmonischen Wände der Scene? oder die Nebengefühle der singenden Personen? oder die Gefühle der mithandelnden? oder die Gefühle des zuhörenden Publikums? oder alles zusammen? […] Inzwischen will ich Ihnen die beste Antwort darauf ins Ohr sagen: das Orchester stellt, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, vor - das Orchester! 22 Damit bewegt sich die Protagonistin Heinses ganz nah an Tiecks Rede von der ‚rein poetischen Welt‘, wie dieser sie im Aufsatz Symphonien einige Jahre später entwickelt. Es ist allerdings zu Recht darauf hingewiesen worden, dass auch Tieck - und mit ihm sein Freund 19 Heinse, „Hildegard von Hohenthal“, S. 167. Hervor. i. O. 20 Ebd., S. 168. Hervor. i. O. 21 Vgl. dazu einschlägig Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik . Kassel, München 1984. 22 Heinse, „Hildegard von Hohenthal“, S. 176. Symphonien 63 Wackenroder - mit einem Bein noch in der Empfindsamkeit stehen. 23 Die empfindsame Ausdrucksästhetik wird nachdrücklich von beiden in den Phantasien über die Kunst vertreten - von Wackenroders Aufsätzen über die Wunder der Tonkunst und Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik über den Brief Joseph Berglingers bis hin zu Tiecks Die Töne und Symphonien . Besonders ausführlich äußert sich auch Wackenroder über die Symphonie: Und doch kann ich‘s nicht lassen, noch den letzten, höchsten Triumph der Instrumente zu preisen: ich meine jene göttlichen großen Symphoniestücke (von inspirirten [sic] Geistern hervorgebracht), worin nicht eine einzelne Empfindung gezeichnet, sondern eine ganze Welt, ein ganzes Drama menschlichen Affekten [sic] ausgeströmt ist. Ich will in allgemeinen Worten erzählen, was vor meinen Sinnen schwebt. 24 Wackenroders Ausführungen über die Tonkunst ähneln den Beschreibungen der Hörerlebnisse, die dem Protagonisten Joseph Berglinger in der gleichnamigen Novelle widerfahren. Der Text erschien als letzte Erzählung in Wackenroders und Tiecks Sammlung Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders , die 1796 (mit der Jahresangabe 1797) im selben Verlag und in derselben Aufmachung wie ein Jahr zuvor Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre veröffentlicht wurde. 25 Schon der Titel verdeutlicht die offensichtliche Verwurzelung beider Autoren in der Welt der Empfindsamkeit. Die Berglinger-Novelle handelt jedoch von einem problematischen modernen Künstlersubjekt, das zwar bei der Rezeption von Musik größte Empathien erlebt, dann aber als Komponist (in der zweiten Hälfte der Erzählung) am „Käfig der Kunstgrammatik“ 26 und am mangelnden Kunstverstand des Publikums scheitert (auch wenn ihm am Schluss eine Passionsmusik gelingt, an der er aber zugrunde geht). Mit Blick auf das poetologische Modell der Symphonie interessiert hier nur der erste Teil, in dem die enthusiastischen Hörerlebnisse Berglingers beschrieben werden: Dieser favorisiert zwar in erster Linie die alte Kirchenmusik, gerät aber auch beim Erlebnis einer Sinfonie in Verzückung: Wenn Joseph in einem großen Concerte war, so setzte er sich, ohne auf die glänzende Versammlung der Zuhörer zu blicken, in einen Winkel, und hörte mit eben der Andacht zu, als wenn er in der Kirche wäre, - ebenso still und unbeweglich und mit so vor sich auf den Boden sehenden Augen. Der geringste Ton entschlüpfte ihm nicht, und er war von der angespannten Aufmerksamkeit am Ende ganz schlaff und ermüdet. Seine ewig bewegliche Seele war ganz ein Spiel der Töne; - es war als wenn sie losgebunden vom Körper wäre und freyer umherzitterte, oder auch als wäre sein Körper mit zur Seele geworden, - so frey und leicht ward sein ganzes Wesen von den schönen Harmonieen [sic] umschlungen, und die feinsten Falten und Biegungen der Töne drückten sich in seiner weichen Seele ab. 27 23 Naumann, Barbara: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik . Stuttgart 1990. 24 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik“. Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, 1799 . Hg. Ludwig Tieck. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I: Werke. Hgg. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 216-223, hier S. 221 f. 25 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I: Werke. Hgg. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 130-145. 26 Ebd., S. 139. 27 Ebd., S. 133. 64 Christine Lubkoll Bey fröhlichen und entzückenden, vollstimmigen Symphonieen, die er vorzüglich liebte, kam es ihm gar oftmals vor, als säh‘ er ein munteres Chor von Jünglingen und Mädchen auf einer heitern Wiese tanzen, wie sie vor- und rückwärts hüpften und wie einzelne Paare zuweilen in Pantomimen zu einander sprachen und sich dann wieder unter den frohen Haufen mischten. Manche Stellen in der Musik waren ihm so klar und eindringlich, daß die Töne ihm Worte zu seyn schienen. Ein andermal wieder wirkten die Töne eine wunderbare Mischung von Fröhlichkeit und Traurigkeit in seinem Herzen […]. Und mit welchem Entzücken hörte er ein solches Tonstück an, das mit einer muntern und heitern Melodie, wie ein Bach, anhebt, aber sich nach und nach unvermerkt und wunderbar in immer trüberen Windungen fortschleppt, und endlich in heftig-lautes Schluchzen ausbricht oder wie durch wilde Klippen mit ängstigendem Getöse daherrauscht. - Alle diese mannigfaltigen Empfindungen nun drängten in seiner Seele immer entsprechende sinnliche Bilder und neue Gedanken hervor: - eine wunderbare Gabe der Musik, - welche Kunst wohl überhaupt um so mächtiger auf uns wirkt, und alle Kräfte unsers Wesens um so allgemeiner in Aufruhr setzt, je dunkler und geheimnißvoller ihre Sprache ist. 28 Auffällig ist hier eine doppelte Ausrichtung: Einerseits beschreibt der Erzähler die Symphonie als eine absolute Musik, eine geheimnisvolle Sprache in Tönen, die mit ihren schönen Harmonien nicht zuletzt ein erhabenes, vom Irdischen losgelöstes Gefühl im Rezipienten erzeugt. Andererseits aber werden konkrete Bilder phantasiert (tanzende Paare, rauschende Bäche, beängstigende Klippen), und dieses ‚inwendige Sehen‘ ist es auch, das die geradezu pathologische Gefühlschwärmerei ausmacht (in der zitierten Stelle erscheint Berglinger zumindest als Melancholiker; am Ende stirbt er an einem überreizten Gemüt und am Nervenfieber). Eine solche doppelte Stoßrichtung - die Pathologisierung hier, die Idealisierung dort - bestimmt auch die romantischen Ausprägungen des literarischen Musikdiskurses, um die es im Folgenden gehen soll. Denn einerseits findet sich in der romantischen Literatur, die eine besondere Vorliebe für die Musik als ästhetisches Vorbild pflegt, eine deutliche Tendenz zur Verbindung von Musikleidenschaft und Wahnsinn (und damit auch eine ironische Persiflage des überzogenen empfindsamen Musikdiskurses) - es geistern verrückte Künstlertypen durch die Texte, die insbesondere durch Instrumentalmusik in phantasmatische Welten getrieben werden. Das Feuerwerk an Phantasien und inwendigen Bildern, wie es schon in der Berglinger-Novelle als wirkungsästhetischer Effekt der Symphonie beschrieben wird, ist oftmals verantwortlich für eine bedrohliche Lebensuntüchtigkeit der Subjekte. Die Palette reicht hier von Brentanos und Görres BOGS ; der Uhrmacher über die zahlreichen spleenigen Musikerfiguren bei E. T. A. Hoffmann (Kreisler, Rat Krespel, Ritter Gluck und andere) bis hin zu nachromantischen Musiker-Erzählungen Grillparzers und Stifters. Andererseits ist es aber gerade die Romantik, die die Symphonie zum poetologischen Ideal erhebt - aufgrund ihrer komplexen Polyphonie, ihres thematischen Facettenreichtums und ihrer dynamischen Anlage gilt sie als Realisation der progressiven Universalpoesie schlechthin. Vor allem E. T. A. Hoffmann adaptiert und nutzt das Modell der Symphonie für eine genuin romantische Schreibweise. Bevor Hoffmanns romantische Poetik der Instrumentalmusik ins Zentrum rückt, soll an dieser Stelle zunächst ein Text Beachtung finden, der das Erlebnis der Symphonie und den absoluten Wahnsinn eines übertriebenen (empfindsamen) Musikenthusiasten auf hintersinnige Weise persifliert. Es geht um die Gemeinschaftsproduktion der beiden Romantiker Clemens Brentano und Josef Görres: BOGS , der Uhrmacher (Der vollständige Titel lautet: 28 Ebd., S. 133 f. Symphonien 65 „Entweder wunderbare Geschichte von BOGS , dem Uhrmacher, wie er zwar das menschliche Leben längst verlassen, nun aber doch, nach vielen musikalischen Leiden zu Wasser und zu Lande, in die bürgerliche Schützen-Gesellschaft aufgenommen zu werden Hoffnung hat, oder die über die Ufer der badischen Wochenschrift als Beilage ausgetretene KONZERT-ANZEIGE. Nebst des Herrn BOGS wohlgetroffenem Bildnisse und einem medizinischen Gutachten über dessen Gehirnzustand“). 29 Der Name BOGS setzt sich aus den Anfangs- und Endbuchstaben der Nachnamen beider Verfasser zusammen: Brentan OG örreS. Der Titel enthält unübersehbar intertextuelle Anspielungen auf Christian Reuters Schelmuffskys Curiose und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land 30 sowie auf Gottfried August Bürgers „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande […] des Freyherrn von Münchausen“ 31 ; die Erzählung weist sich selbst damit als Schelmenstück aus. Im Text findet sich übrigens ein wirres Durcheinander von Zitatfetzen aus den genannten Vorläufern. An dieser Stelle kann nicht auf die reiche Polyphonie des Textes und seine programmatische intertextuelle Verfahrensweise eingegangen werden, im Fokus steht vielmehr die Pathologisierung des sinfoniebegeisterten Musikliebhabers. BOGS ist einerseits ein braver Uhrmacher, der seinen Ordnungssinn durch das Tragen unzähliger Uhren beweist und um Aufnahme in die bürgerliche Schützengesellschaft ersucht. Andererseits gerät er beim Hören von Musik derart außer sich und in einen Rauschzustand blühender Phantasien, dass die Gesellschaft und auch er selbst dies als höchst gefährlich ansieht. Deshalb „verordiniert“ 32 die Schützengesellschaft dem Bürger einen Konzertbesuch, den er genau protokollieren soll, erst dann kann der bürokratische Akt der Aufnahme vollzogen werden. Der Uhrmacher besteht die Prüfung natürlich nicht, wird in die Pathologie gebracht, wo ein Teil seines Kopfes, nach ärztlicher Untersuchung, explodiert und weggesprengt wird. Der anderen, der „zurückgebliebenen Hälfte“ wird am Ende die Aufnahme in die Schützengesellschaft höchst formell ‚bewilligt‘. In dem von der Gesellschaft eingeforderten Selbstbekenntnis des Uhrmachers beschreibt dieser sein Musikerlebnis folgendermaßen: Mein Herz pochte, alle meine Pulse schlugen, meine ganze Person knisterte von den gehenden Taschenuhren, die Musikanten stimmten, die Lichter blitzten, die Menge summte, man wich aus meiner Nähe, man hielt mich für eine geladene Flasche einer Elektrisiermaschine, der Saal drehte sich mit mir, aus allen Instrumenten brach ein Orkan von Tönen, ich drückte die Augen zu, die Knie zusammen, die beiden Hände in den Rocktaschen, meine Uhren fassend, adieu Welt! Der Sturm einer heidnischen Symphonie griff in meine dünnen Haare, mein Gehirn schlupfte mit allen seinen Fähigkeiten zu den Ohren heraus, tat sich auseinander wie zwei Segeltücher, die der Wind aufbauschte, der mich durch Himmel und Erde, Wasser und Feuer trug, und einigemale an Felsen schleuderte, ach, meine Uhren! Wehe! wehe! ein Leck, ein Leck, wir gehen unter, die Elemente drangen an allen Seiten herein, die Segel gerissen, und durch meine Ohren strömte ein 29 Brentano, Clemens und Joseph Görres: „BOGS der Uhrmacher“. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe . Hg. Anne Bohnenkamp u. a. Bd. 21,1: Satiren und kleine Prosa. Hg. Maximilian Bergengruen u. a. Stuttgart 2013. 9-53. Titel, S. 15. 30 Reuter, Christian: Schelmuffskys Curiose und Sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land . Hg. Ilse-Marie Barth. Stuttgart 2002. 31 Bürger, Gottfried August: „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande und einstige Abenteuer des Freyherrn von Münchausen, wie er derselben bey der Flasche im Cirkel seiner Freude selbst zu erzählen pflegt.“ Sämtliche Werke . Hgg. Günter und Hiltrud Häntzschel. München, Wien 1987. 495-592. 32 Vgl. Brentano / Görres, „BOGS, der Uhrmancher“, S. 25. 66 Christine Lubkoll Strudel Musik, ganz schmeckend wie der feurige zehnmal abgezogene Alkohol, stieg, stieg, füllte das Haupt, unter gieng die Welt, aus den Augen brannte, weinte ich. 33 Im Anschluss an diese Selbstbeschreibung werden die auflodernden Phantasien des Rezipienten einer „heidnischen Symphonie“ geschildert, und es ist übrigens interessant, dass hier nicht nur Bilder aufsteigen wie bei Berglinger, sondern ganze Geschichten erzählt werden - mit einem vollen Sack intertextueller Anspielungen, die ausgeschüttet und wild durcheinandergemixt werden. Die Symphonie erscheint also als eine Phantasie-Erzeugungsmaschine, das Hörerlebnis des Orchester-Orkans wird aber wiederum in Literatur überführt, in ein ‚wahnsinniges‘ Text-Universum, das als ‚Polyphonie pur‘ inszeniert wird. Auch die Makrostruktur des Textes ist vielstimmig und polyperspektivisch organisiert - enthält er doch eine Zusammenstellung verschiedener Textzeugen, die um den Fall BOGS herum gruppiert werden: das Plakat mit der Konzert-Anzeige als Initiator, die Verlautbarungen der Schützengesellschaft, diverse Bekenntnisse und Berichte des Uhrmachers BOGS , ein medizinisches Gutachten, ein Dekret usw. Auch in E. T. A. Hoffmanns Kreisleriana ist es so, dass das polyphone Modell der Symphonie auf der Ebene der Textorganisation als Strukturmodell erscheint; auch hier ist es ein wahnsinniger Musiker, der für eine übersteigerte Phantasie steht und diese - in Texten ebenso wie in musikalischen Kompositionen - zu Papier bringt. Das Besondere an den Kreisleriana ist allerdings, dass der Text neben beißenden Persiflagen auf das bürgerliche Musikleben eine explizite romantische Musikästhetik enthält - man kann auch sagen: eine ‚Symphonie‘-Ästhetik, die als poetologisches Modell fungiert und über allem steht: Ich meine den Aufsatz über „Beethovens Instrumentalmusik“ 34 . Es handelt sich ursprünglich um Rezensionen über Beethovens 5. Symphonie und seine Streichtrios, die Hoffmann 1810 bzw. 1813 für die Allgemeine Musikalische Zeitung verfasst hatte. Die ästhetischen Kernaussagen führte er im Aufsatz „Beethovens Instrumentalmusik“ zusammen und fügte diese in die Kreisleriana ein - diese Textsammlung ist wiederum Teil der 1814 / 15 erschienenen Phantasiestücke in Callots Manier . Mitten hinein in einen bunten Reigen skurriler Geschichten setzt E. T. A. Hoffmann sein poetisches Manifest. Dieses beginnt folgendermaßen: Sollte, wenn von der Musik als einer selbständigen Kunst die Rede ist, nicht immer nur die Instrumentalmusik gemeint sein, welche, jede Hilfe, jede Beimischung einer andern Kunst (der Poesie) verschmähend, das eigentümliche, nur in ihr zu erkennende Wesen dieser Kunst rein ausspricht? - Sie ist die romantischste aller Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf. - Orpheus’ Lyra öffnete die Tore des Orkus. Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben. 35 Entscheidend ist hier die Formulierung einer „Idee der absoluten Musik“ 36 - der Vorzug der Musik wird gerade darin gesehen, dass sie frei von referentiellen Bezügen ist, dass sie nichts Bestimmtes ausdrückt und gerade deshalb so ausdrucksvoll erscheint (eine Idee, 33 Ebd., s. S. 27. 34 Hoffmann, E. T. A.: „Beethovens Instrumentalmusik“. Ders.: „Kreisleriana“. Ders., Phantasiestücke in Callots Manier [1814-1815] . Sämtliche Werke Bd. 2.1: Werke 1814 . Hgg. Wulf Segebrecht, Hartmut Steinecke et al. Frankfurt a. M. 1993. 52-61. 35 Ebd., S. 52 f. 36 Vgl. nochmals Dahlhaus, Die Idee der absoluten Musik. Symphonien 67 die, wie wir gesehen hatten, schon bei Heinse und Tieck im Ansatz vorhanden war). Als Inbegriff eines solchen Ideals werden die Instrumentalmusik und insbesondere die Symphonie betrachtet. In seiner Rezension kommt Hoffmann alias Kreisler jedoch nicht gleich auf Beethoven zu sprechen, sondern macht zuerst - im Sinne einer Steigerung - eine Komponistenreihe auf: Haydn - Mozart - Beethoven. Alle drei versteht er übrigens, wie bereits erwähnt, als Vertreter der Romantik, allerdings in verschiedenen Entwicklungsstufen. Die Symphonien Haydns und Mozarts sind demnach noch an konkretere Vorstellungswelten gebunden, sie ermöglichen, so die Aussage des Textes, ein inwendiges Sehen von Bildern. Über Haydns Symphonien heißt es etwa: Mozart und Haydn, die Schöpfer der jetzigen Instrumental-Musik, zeigten uns zuerst die Kunst in ihrer vollen Glorie; wer sie da mit voller Liebe anschaute und in sie eindrang, ist - Beethoven! - Die Instrumentalkompositionen aller drei Meister atmen einen gleichen romantischen Geist […], der Charakter ihrer Kompositionen unterscheidet sich jedoch merklich. - Der Ausdruck eines kindlichen heitern Gemüts herrscht in Haydns Kompositionen. Seine Sinfonien führen uns in unabsehbare grüne Haine, in ein lustiges buntes Gewühl glücklicher Menschen. Jünglinge und Mädchen schweben in Reihentänzen vorüber; lachende Kinder, hinter Bäumen, hinter Rosenbüschen lauschend, werfen sich neckend mit Blumen. 37 Es folgt eine Charakteristik der Symphonien Wolfgang Amadeus Mozarts: In die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. […] Liebe und Wehmut tönen in holden Geisterstimmen; die Nacht geht auf in hellem Purpurschimmer und in unaussprechlicher Sehnsucht ziehen wir nach den Gestalten, die freundlich uns in ihre Reihen winkend in ewigem Sphärentanze durch die Wolken fliegen (Mozarts Sinfonie in Es dur unter dem Namen des Schwanengesanges bekannt). 38 In Beethovens Instrumentalwerk sieht Hoffmann dann jedoch den Gipfel und eben die vollkommene Gestaltung der romantischen Symphonieästhetik: So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheuern und Unermeßlichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklange aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher! - […] Beethovens Musik bewegt die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes und erweckt eben jene unendliche Sehnsucht, welche das Wesen der Romantik ist. 39 Die zentralen, im Beethoven-Aufsatz geradezu inflationär verwendeten Vokabeln lauten: Unendlichkeit und Sehnsucht. 40 Damit ist aber nicht allein das Unfassbare angesprochen, sondern es geht vor allem um ein dynamisches Zeichenmodell: um das permanente Verklingen und Fortschreiten der Töne, das einen Sog bewirkt und das eigentümliche Wesen der Musik ausmacht. Diese nach vorne drängende Themenführung kann man zu Beginn 37 Hoffmann, „Kreisleriana“, S. 53. 38 Ebd., S. 53 f. 39 Ebd., S. 54 f. 40 Vgl. dazu Lubkoll, Christine: „‚Unendliche Sehnsucht‘ der Romantik“. Unendlichkeit. 5 Vorträge . Hg. Rudolf Freiburg. Erlangen 2016. 59-84. 68 Christine Lubkoll von Beethovens 5. Symphonie besonders gut nachvollziehen: in der permanenten Wiederholung und Variation des Hauptmotivs ‚dadada da‘. Außerdem analysiert Hoffmann als Musikwissenschaftler die Struktur der Komposition. Dabei bringt er - neben dem Aspekt der dynamischen Bewegung der Themen und Motive - einen weiteren Begriff ins Spiel, der für seine Ästhetik sehr wichtig ist: den Begriff der „kontrapunktischen Verschlingung“ 41 : Welches Instrumentalwerk Beethovens bestätigt dies alles wohl in höherm Grade als die über alle Maßen herrliche tiefsinnige Sinfonie in c-Moll. Wie führt diese wundervolle Komposition in einem fort und fort steigenden Klimax den Zuhörer unwiderstehlich fort in das Geisterreich des Unendlichen. Nichts kann einfacher sein, als der nur aus zwei Takten bestehende Hauptgedanke des ersten Allegros, der, anfangs im Unisono, dem Zuhörer nicht einmal die Tonart bestimmt. Den Charakter der ängstlichen, unruhvollen Sehnsucht, den dieser Satz in sich trägt, setzt das melodiöse Nebenthema nur noch mehr ins klare! - 42 […] Wie einfach - noch einmal sei es gesagt - ist das Thema, das der Meister im Ganzen zum Grunde legte, aber wie wundervoll reihen sich ihm alle Neben- und Zwischensätze durch ihr rhythmisches Verhältnis so an, daß sie nur dazu dienen, den Charakter des Allegros, den jenes Hauptthema nur andeutete, immer mehr und mehr zu entfalten. Alle Sätze sind kurz, beinahe alle nur aus zwei, drei Takten bestehend, und noch dazu verteilt in beständigem Wechsel der Blas- und der Seiteninstrumente; man sollte glauben, daß aus solchen Elementen nur etwas Zerstückeltes, Unfaßbares entstehen könne, aber statt dessen ist es eben jene Einrichtung des Ganzen sowie die beständige, aufeinander folgende Wiederholung der Sätze und einzelner Akkorde, die das Gefühl einer unnennbaren Sehnsucht bis zum höchsten Grade steigert. […] Ergreift euch nicht wieder jene unruhevolle, unnennbare Sehnsucht, jene Ahndung des wunderbaren Geisterreiches, in welchem der Meister herrscht? […] Welche wunderbare kontrapunktische Verschlingungen verknüpfen sich hier wieder zum Ganzen. 43 Wie wird nun das Ideal der „romantischten aller Künste“ strukturell in die Textkomposition überführt? Hier führt eine Charakteristik der Gesamtanlage des Textes weiter. Bei E. T. A. Hoffmanns Zyklus Kreisleriana handelt es sich um eine Sammlung von Erzählungen, Essays, Aphorismen und Briefen, die ursprünglich gesondert in Zeitschriften erschienen sind und 1814 als eine in sich geschlossene Textkomposition in die Phantasiestücke in Callots Manier integriert wurden. 44 Hauptfigur und zugleich Verfasser der Aufzeichnungen ist der Kapellmeister Johannes Kreisler, Dichter und Komponist in Personalunion, der auch später durch E. T. A. Hoffmanns Texte geistert: etwa im Roman Kater Murr oder in den Nachrichten von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza . Insgesamt handelt es sich bei den Kreisleriana um einen Text, in dem die um 1800 aufkommende bürgerliche Musikkultur (die schon bei Brentano / Görres persifliert wurde) einerseits und das romantische Kunstideal andererseits einander drastisch gegenübergestellt werden - wenn man so will: in einer Form „kontrapunktischer Verschlingungen“. 45 Die Methode der Kontrastierung lässt sich an der Gliederung ablesen: 41 Hoffmann, „Kreisleriana“, S. 57. 42 Ebd., S. 55. 43 Ebd., S. 56 f. 44 Vgl. Gess, Nicola: „Kreisleriana Nro 1-6“ und „Kreisleriana“. E. T. A. Hoffmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015. 16-20, 35-39. 45 E. T. A. Hoffmann, „Kreisleriana“, S. 57. Symphonien 69 III . Kreisleriana 1. Johannes Kreisler’s, des Kapellmeisters musikalische Leiden 2. Ombra adorata! 3. Gedanken über den hohen Wert der Musik 4. Beethovens Instrumental-Musik 5. Höchst zerstreute Gedanken 6. Der vollkommene Maschinist IX . Kreisleriana I. Brief des Baron Wallborn an den Kapellmeister Kreisler II . Brief des Kapellmeisters Kreisler an den Baron Wallborn - Kreislers musikalisch-poetischer Clubb - Nachricht von einem gebildeten jungen Mann - Der Musikfeind - Über einen Ausspruch Sacchini’s, und über den sogenannten Effekt in der Musik - Johannes Kreislers Lehrbrief Mit jedem Textstück wird die Perspektive gewechselt, so dass sich die Texte durch diese alternierende Struktur wechselseitig spiegeln und relativieren. Besonders krasse Beispiele für diesen Wechsel sind die Textstücke „Johannes Kreislers musikalische Leiden“, wo erst ein „hundsvöttischer, verlungerter“ Hausmusikabend und dann Kreislers eigene, hoch differenzierte Musikpraxis beschrieben wird; 46 oder die „Gedanken über den hohen Wert der Musik“ 47 , in denen erst ein oberflächlicher Schwärmer zu Wort kommt und dann auf Kreislers romantisches Musikideal angespielt wird (das dann im folgenden Textstück über Beethovens Instrumentalmusik ganz zur Entfaltung kommt). Das Raffinierte an dieser polyphonen Struktur ist, dass sie einerseits das romantische Ästhetik-Ideal, das im Text wie eine Intarsie erscheint, permanent unterläuft und in Frage stellt (indem in den anderen Erzählungen der Musikdilettantismus, aber auch der Wahnsinn des Künstlers bizarr ausgestellt werden); andererseits aber repräsentiert gerade diese ‚kontrapunktische Struktur‘ das im Text verfochtene Ästhetik-Ideal als Ganzes. Bis hierher dürfte deutlich geworden sein, dass der literarische Symphonie-Diskurs um 1800 durch zwei Tendenzen bestimmt ist. Einerseits wird - im Zuge der empfindsamen Ausdrucksästhetik - die symphonische Komposition mit ihren (oft rauschhaft wahrgenommenen) Orchesterklängen als Repräsentant, vor allem aber als Auslöser diverser Gefühle und Vorstellungen, als eine ‚Phantasie-Erzeugungsmaschine‘ gesehen. Sie wird in ihrer facettenreichen und vielschichtigen Ausdrucksform als ein der Sprache (und der Dichtung) überlegenes Medium betrachtet, es wird aber zugleich durchaus das subjektgefährdende Potential eines phantasmatischen Musikgenusses beschrieben. Andererseits erscheint die Symphonie auch als ein poetologisches Strukturmodell: aufgrund ihrer polyphonen Kompositionsweise, der ‚kontrapunktischen Verschlingungen‘ sowie der losgelösten Zeichensprache (Stichwort: Absolute Musik) wird sie zum Ideal der romantischen Universalpoesie erhoben. Betrachtet man die weitere Verlaufsgeschichte der literarischen Symphonie-Rezeption bis ins 20. Jahrhundert, dann lässt sich eine doppelte Tendenz feststellen: Einerseits spielt die Idee der Komplexität und polyphonen Raffinesse weiterhin eine Rolle, wenn auch, wie 46 Ebd., S. 34-41, hier S. 34. 47 Ebd., S. 45-52. 70 Christine Lubkoll zu sehen sein wird, in der Moderne unter anderen Vorzeichen; andererseits erfährt das Modell vor allem der klassischen Symphonie eine ideologische Umdeutung; insbesondere das Dreigestirn Haydn - Mozart - Beethoven wird einem nationalistischen Klassikbegriff oder einem ästhetischen Humanitätsideal unterstellt. Spätestens seit der Jahrhundertwende suchen insbesondere Komponisten neue Wege und wenden sich von den überlieferten Vorgaben der Symphonie ab. Diese Entwicklung - die Tendenz zur Negation bzw. Transformation der Symphonie als Kompositionsmodell - manifestiert sich auch in Thomas Manns Umgangsweise mit der Symphonie in seinem Roman Doktor Faustus aus dem Jahr 1947. 48 Der Roman ist insgesamt als eine Kulturdiagnose konzipiert: 49 Es geht um die Frage, wie in einer hochentwickelten Kultur wie der deutschen, die den Humanitätsgedanken und eine enorme Hochblüte mit Meistern wie Goethe, Schiller, Mozart und Beethoven hervorgebracht hat, wie eine solch reiche Kultur in die Barbarei des Faschismus umschlagen kann. Diese Diskussion wird im Roman auf vielfältige Weise geführt. Eines der Themen, mithilfe derer die Kulturdiagnose entfaltet wird, ist dabei die Symphonie - und hier insbesondere: Beethovens 9. Symphonie, die ja, verbunden mit der Vertonung von Schillers Ode An die Freude , einen Inbegriff des klassizistischen Humanitätsgedankens darstellt. Diese Fokussierung auf ein musikalisches Modell ist naheliegend, konzipiert doch Thomas Mann seinen Titelhelden, den ‚Doktor Faustus‘, als einen modernen Komponisten - er erscheint als der Erfinder der 12-Ton-Technik und als Akteur einer modernen Ästhetik der Negation. Adrian Leverkühn, der Tonkünstler, wird im Roman nicht persönlich, auch nicht aufgrund seiner Kompositionsweise, für die Barbarei des Faschismus verantwortlich gemacht. Sein durch den Teufelspakt vorbestimmter Niedergang und sein Tod werden vielmehr im Kontext einer schädlichen Kulturentwicklung betrachtet; es wird ein ‚Ende der Kulturepoche‘ diagnostiziert, das Strukturparallelen aufweist zu Entwicklungen der modernen Kunst. Was Leverkühn und die Konstellation, die er repräsentiert, besonders ausmacht, ist ein gefährliches Zusammenwirken von Irrationalismus und einer geradezu technokratischen Kälte. Hier spielt nun Beethovens 9. Symphonie eine zentrale Rolle. Adrian Leverkühn fordert gegen Ende des Romans programmatisch deren „Zurücknahme“. Auslöser ist der Tod seines geliebten Neffen, eines graziösen, unschuldigen, ‚göttlichen‘ Kindes (Nepomuk Schneidewein), das infolge einer Hirnhautentzündung stirbt. Für Leverkühn bricht damit eine ganze Wertewelt zusammen: Es ist die Idee der Humanität und damit eine ganze Kulturtradition (Nepomuk Schneidewein trägt bezeichnenderweise den Kosenamen ‚Echo‘; er steht in diesem Sinne für das Nachwirken des klassizistischen Ideals der ‚Anmut‘ und der ‚schönen Seele‘). So fordert der Komponist und Teufelsbündner die Zurücknahme: „Ich habe gefunden“, sagte er, „ es soll nicht sein .“ 48 Mann, Thomas: „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ [1947]. Werke - Briefe - Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 10.1. Hg. Ruprecht Wimmer. Frankfurt a. M. 2007. 49 Die Musik ist im Roman „nur Vordergrund und Repräsentation, nur Paradigma für etwas Allgemeineres, nur Mittel, die Situation der Kunst überhaupt, der Kultur, ja des Menschen, des Geistes selbst in unserer durch und durch kritischen Epoche auszudrücken. Ein Musik-Roman? Ja. Aber er war als Kultur- und Epochenroman gedacht.“ Mann, Thomas: „Die Entstehung des Doktor Faustus“. Werke - Briefe - Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 19.1. Essays VI 1945-1950. Hg. Herbert Lehnert. Frankfurt a. M. 2007. 409-581, hier S. 437 f. Symphonien 71 „Was, Adrian, soll nicht sein? “ „Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündet haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“ „Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen? “ „Die Neunte Symphonie“, erwiderte er. Und dann kam nichts mehr, wie ich auch wartete.“ 50 Die Symphonie mit ihrer extrem ausdifferenzierten Harmonie wird also als nicht mehr tragfähig angesehen; es ist zugleich die klassizistische Verbindung von Ethik und Ästhetik, wie sie das Lied An die Freude in der 9. Symphonie verkörpert, die in der Moderne - so Leverkühn - keine Gültigkeit mehr besitzen kann. Allerdings ist es interessant und signifikant, dass Leverkühn als sein Hauptvermächtnis wiederum ein symphonisches Werk komponiert - und zwar eine ‚symphonische Kantate‘ 51 , die ein Gegenmodell zu Beethovens ‚Neunter‘ darstellt. 52 Diese symphonische Kantate repräsentiert die ‚Zurücknahme‘ nicht nur, sondern sie vollzieht diese gewissermaßen auch performativ. Als ein „Monstre-Werk der Klage“ 53 wird diese Komposition bezeichnet - im Gegensatz zu ‚Freude, schöner Götterfunken‘; und wo Beethoven alle Register der Harmonie zieht und den vollen Klang der Instrumente und Gesangsstimmen zum Einsatz bringt, herrscht in der Leverkühnschen Komposition Dissonanz und äußerste Knappheit - eine radikale Ästhetik der Negation (wobei diese Bezeichnung explizit im Sinne Adornos gemeint ist, der bei der Niederschrift des Doktor Faustus als Berater und Ideengeber zur Seite stand 54 ). „Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ“ 55 - diese zwölf Silben werden auf 12 Töne verteilt, die symphonische Kantate Doktor Fausti Weheklag folgt konsequent den Regeln der 12-Ton-Technik. Besonders interessant scheint mir an dieser Ästhetik der Negation, an der ‚Zurücknahme‘ der 9. Symphonie, jedoch, dass das Zurückgenommene doch im Akt der Negation noch aufscheint, im buchstäblichen Sinne: Hört nur den Schluss, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr - Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht wie ein Licht in der Nacht. 56 Während die Symphonie (sowohl mit Blick auf die Zurücknahme des klassizistischen Humanitätsideals als auch auf die moderne Ästhetik der Negation) bei Thomas Mann im Zeichen der Kulturkritik steht, entwickelt sich im 20. Jahrhundert zugleich im Medium des Films eine Art affirmative Anverwandlung des ästhetischen Modells. Die Symphonie 50 Mann, Doktor Faustus , S. 692 f. 51 Siehe zum symphonischen Charakter der Faust-Kantate ebd., S. 709. 52 Vgl. ebd., S. 705. („negativ verwandt als solches dem Finale der Neunten Symphonie […]“) 53 Ebd., S. 704. 54 Vgl. dazu: Dahlhaus, Carl: „Fiktive Zwölftonmusik. Thomas Mann und Theodor W. Adorno.“ Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1982): 33-49; Dörr, Volker: „Thomas Mann und Adorno. Ein Beitrag zur Entstehung des ‚Doktor Faustus‘“. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, N. F. 11 (1970): 285-322. 55 Mann, Doktor Faustus, S. 706. 56 Ebd., S. 711. 72 Christine Lubkoll mit ihrer polyphonen Vielfalt und ausdifferenzierten Raffinesse wird im Film wiederholt mit dem zivilisatorischen, nicht zuletzt auch mit dem technischen Fortschritt der Moderne analogisiert bzw. für deren Darstellung instrumentalisiert. Dies wird evident mit Walter Ruttmanns Film Berlin - Die Sinfonie der Großstadt 57 , der 1927 in die Kinos kam und der für die Frage nach der ästhetischen Modellfunktion der Symphonie von großer Relevanz ist: Der Film wirft noch einmal ein anderes Licht auf die Symphonie-Rezeption bzw. das ‚Symphonie-Symbol‘ in der Moderne. Dabei geht es um das Faszinosum, dass der Regisseur für das pulsierende Großstadtleben (auf der Inhaltsebene) und für die vielen meist unzusammenhängenden, augenblickshaften Kamera-Einstellungen (auf der Darstellungsebene) die Bezeichnung ‚Sinfonie‘ wählt. Der Film beginnt - wie viele Filme der Moderne - mit einer Bahnfahrt. Zunächst gleiten Vorstadt-Bilder vorbei, Schrebergärten, kleine Siedlungen, wobei der Kamerablick durch den Rhythmus der Eisenbahnfahrt bestimmt ist. Die Fahrt führt dann ins Zentrum der Berliner Großstadt - zum ‚Anhalterbahnhof ‘ - und es folgen Bilder, die insgesamt einen Tag in der Stadt dokumentieren, vom frühen Morgen bis zum Abend. Eine Vielfalt an Szenen gleitet am Auge vorüber - die arbeitende Bevölkerung, Menschen aus allen sozialen Schichten, Schulkinder auf dem Weg zur Schule, Häuserzeilen, ein durch den Wind aufgetriebenes Stück Papier am Straßenrand, später Freizeitaktivitäten, das Lichtermeer der Großstadt und das kreisende Licht des (kurz zuvor erbauten) Berliner Funkturms am Nachthimmel - auch ein ‚Licht in der Nacht‘, wenn man so will. Der Rhythmus des Tages ist wechselnd, mal schnell, mal verlangsamt, mal wieder beschleunigt. Ist es diese Vielfalt an Bildern, aber auch das Dynamische und das wechselnde Tempo, die diesen Film zu einer ‚Sinfonie aus Bildern und Geräuschen‘ machen? Ist es möglicherweise auch das Dissonantische, das hier in eine moderne Sinfonie-Auffassung mit hineinspielt? Wenn dem so wäre, dann hätten wir einerseits das romantische Polyphonie- und Polyperspektivitätsmodell in einem alternativen Medium (nicht der Musik, sondern dem Film) realisiert; und wir hätten aber - und dies würde sich mit Thomas Mann berühren - eine Abkehr von einem harmonischen Universalismus hin zu einer dissonantischen Vielfalt. Offenbar wirkt die Faszinationskraft der Symphonie als Modell der Moderne weiter bis ins spätere 20 Jahrhundert und bis in die Gegenwart. 2002 kann eine neue Version des Films in die Kinos: Thomas Schadts Berlin - Symphonie einer Großstadt 58 - ein Film, der, begleitet von einer modernen symphonischen Komposition, mit einem Feuerwerk beginnt (wiederum mit ‚Lichtern in der Nacht‘) und dann auf eine unüberschaubare Menschenmenge schwenkt. Auch die Literatur nahm und nimmt sich des Themas im 20. Jahrhundert und bis heute an: Stellvertretend sei ein Erzählband der von den Nazis ermordeten Jüdin Irene Némirovsky genannt, dessen Titelgeschichte ( Pariser Symphonie ) diese, inspiriert vom sie begeisternden Medium des Films, bereits 1931 bei der französischen Akademie der Filmautoren einreichte. Erst 2009 wurde das Manuskript im Archiv der Akademie entdeckt; zuvor waren seit den 1980er Jahren andere „filmische Novellen“ 59 der Autorin von ihren Töchtern gefunden worden Bei der Erzählsammlung der Pariser Symphonie handelt sich um die Zusammenstellung von Texten, die offensichtlich von den Montagetechniken des Films, von seinen Möglichkeiten der komplexen Themen-Überlagerung, von kameratechnisch bedingten Perspektivierungen und der Methode des Schnitts angeregt wurde. Ihre 57 Berlin - Die Sinfonie der Großstadt. Regie: Walter Ruttmann. Deutschland 1927. 58 Berlin - Symphonie einer Großstadt. Regie: Thomas Schadt. Deutschland 2002. 59 http: / / www.mdr.de/ kultur/ empfehlungen/ buch-der-woche-irene-nemirofsky-pariser-symphonie100. html (Letzter Aufruf am 25. 1. 2017). Symphonien 73 Veröffentlichung als Buch - zunächst in französischer Sprache, anschließend 2016 in deutscher Übersetzung 60 - zeugt von dem bleibenden Interesse nicht nur an filmischen Erzählstrategien, sondern auch an der Struktur der Symphonie als einem poetologischem Modell, das Polyphonie, Multiperspektivität und Simultaneitäten bzw. komplexe Gegenläufigkeiten zum narrativen Prinzip erheben. Oder, um es mit den Worten Tiecks zu wiederholen: „Diese Symphonien können ein so buntes, mannigfaltiges, verworrenes und schön entwickeltes Drama darstellen wie es uns der Dichter nimmermehr geben kann“ - und wie es dennoch Dichter immer wieder als Ideal der poetischen Textproduktion umzusetzen versucht haben. Literaturverzeichnis Filme Berlin - Die Sinfonie der Großstadt. Regie: Walter Ruttmann . Deutschland 1927. Berlin - Symphonie einer Großstadt. Regie: Thomas Schadt. Deutschland 2002. Primärliteratur Brentano, Clemens und Joseph Görres: „ BOGS der Uhrmacher“. Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe . Hg. Anne Bohnenkamp u. a. Bd.: 21,1: Satiren und kleine Prosa. Hg. Maximilian Bergengruen u. a. Stuttgart 2013. 9-53. Bürger, Gottfried August: „Wunderbare Reisen zu Wasser und zu Lande und einstige Abenteuer des Freyherrn von Münchausen, wie er derselben bey der Flasche im Cirkel seiner Freude selbst zu erzählen pflegt.“ Sämtliche Werke . Hgg. Günter u. Hiltrud Häntzschel. München, Wien 1987. 495-592. Hoffmann, E. T. A.: „Beethovens Instrumentalmusik“. Ders.: „Kreisleriana“. Ders.: Phantasiestücke in Callots Manier [1814-1815] . Sämtliche Werke. Bd. 2.1: Werke 1814 . Hgg. Wulf Segebrecht, Hartmut Steinecke et al. Frankfurt a. M. 1993. 52-61. Heinse, Wilhelm: „Hildegard von Hohenthal“. Hildegard von Hohenthal. Musikalische Dialogen. Hg. und kommentiert v. Werner Keil unter Mitarbeit von Bettina Petersen. Hildesheim, Zürich, New York 2002. 7-376. Jean Paul: „Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung“. Werke . Abt. 1, Bd. 1. Hg. Norbert Miller. München 1960. 471-1236. Mann, Thomas: „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“ [1947]. Werke - Briefe - Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 10.1. Hg. Ruprecht Wimmer. Frankfurt a. M. 2007. -: „Die Entstehung des Doktor Faustus“. Werke - Briefe - Tagebücher. Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Hg. Heinrich Detering u. a. Bd. 19.1. Essays VI 1945-1950. Hg. Herbert Lehnert. Frankfurt a. M. 2007. 409-581. Miller, Johann Martin: Siegwart. Eine Klostergeschichte . Faksimiledruck der Ausgabe von 1776. Stuttgart 1971. Moritz, Karl Philipp: „Andreas Hartknopf, Eine Allegorie. Predigerjahre“. Werke . Bd. 1: Autobiographische und poetische Schriften. Hg. Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981. 401-525. Némirovsky, Irène: Pariser Symphonie . Zürich 2016. Reuter, Christian: Schelmuffskys Curiose und Sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land . Hg. Ilse-Marie Barth. Stuttgart 2002. 60 Némirovsky, Irène: Pariser Symphonie. Erzählungen. Zürich 2016 (Franz. Original: La symphonie de Paris et autres histoires . Paris 2012). 74 Christine Lubkoll Tieck, Ludwig: „Symphonien“. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe . Bd. I. Hgg. Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 240-246. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: „Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger“. Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I: Werke . Hgg. Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 130-145. -: „Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik“. Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, 1799 . Hg. Ludwig Tieck. Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I: Werke. Hgg. Silvio Vietta, Richard Littlejohns. Heidelberg 1991. 216-223. Forschungsliteratur Dahlhaus, Carl: „Fiktive Zwölftonmusik. Thomas Mann und Theodor W. Adorno.“ Jahrbuch der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1982): 33-49. -: Die Idee der absoluten Musik . Kassel, München 1984. -: „Thomas Mann und Adorno. Ein Beitrag zur Entstehung des ‚Doktor Faustus‘“. Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, N. F. 11 (1970): 285-322. Finscher, Ludwig: „Symphonie“. Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik . 21 Bände in zwei Teilen. 2. neu bearb. Auflage. Bd. 9. Sachteil. Hg. Ludwig Finscher. Kassel u. a. 1998. 16-153. Gess, Nicola: „Kreisleriana Nro 1-6“. E. T. A. Hoffmann-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung . Hgg. Christine Lubkoll und Harald Neumeyer. Stuttgart 2015. 16-20. -: „Kreisleriana“. E. T. A. Hoffmann-Handbuch. 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Wolf, Werner: „Musicalized Fiction and Intermediality. Theoretical Aspects of Word and Music Studies”. Word and Music Studies . Hg. Bernhard Walter. Amsterdam 1999. 37-58. Internetquellen http: / / www.mdr.de/ kultur/ empfehlungen/ buch-der-woche-irene-nemirofsky-pariser-symphonie100. html> (Letzter Aufruf am 25. 01. 2017). Erzählte Bilder Aporie der Kunst und ästhetische Innovation Hans Vilmar Geppert „Erzählte Bilder“ - der Titel meines Vortrags könnte genauso gut beginnen, aber nur beginnen, mit: „Zerstörte Bilder“. Denn er bezieht sich auf eine Gruppe von Künstler-Novellen und -Romanen des 19. Jahrhunderts, von E. Th. A. Hoffmann über Honoré de Balzac, Gottfried Keller, Henry James und andere bis zu Émile Zola, die alle genau dies gemeinsam haben: Ein Künstler, ein Maler, gerät mit seinem Bild in eine ausweglose Situation. Und dann wird das Bild zerstört. Dies sind alles Geschichten künstlerischen Scheiterns. Sie erzählen immer wieder eine Aporie der Kunst. Aber, und daran hat sich mein Interesse festgemacht, die Ergebnisse dieses Scheiterns, das, was dann schließlich, als irgendwie ja doch wohl durchdachte Fiktion, auf der jeweiligen (erzählten) Leinwand zu sehen ist, diese dann, wie rudimentär immer, doch „neuen Bilder“, oder vielleicht lediglich „Bildimpulse“, könnten von Autor zu Autor unterschiedlicher kaum ausgefallen sein. Aus den „zerstörten Bildern“ entsteht immer wieder etwas bizarr vielfältig Neues. Und das ist dann meine heutige Frage: Könnte man diese Gemeinsamkeiten und Differenzen strukturell lesen? Wird hier vielleicht so etwas wie ein mehrfaches Experiment erzählt, das um ein gemeinsames Prinzip kreist? Es geht sicher zunächst, was nahe liegt und was ich gleich eine wenig belegen werde, um eine kritische Abrechnung mit dem vielfach behaupteten Modell eines Real-Idealismus für die Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts. Es ist dessen Aporie, die Aporie modellhafter Gegenständlichkeit, die hier erzählt wird. 1 Aber, und das ist die eigentliche Frage dieses Vortrags, werden dabei eventuell, vielleicht mehr oder weniger bewusst, auch Möglichkeiten bildnerischer Ästhetik entworfen, die weit über die Traditionen des 19. Jahrhunderts hinausweisen? Führen diese Erzählungen von Aporien der Kunst zu Erprobungen ästhetischer Innovation? Geht es dann doch auf längere Sicht um so etwas wie erzählte „Bild-Impulse“, um Imaginations-Fragmente, die die Entwicklung vorbereiten hin zu einer im weitesten und sicher auch hier noch ganz vagen Sinne „ungegenständlichen Kunst“ und - obwohl das ein unglücklicher Name ist - hin zu einer „abstrakten Malerei“? Und wird dann schließlich vielleicht auch einmal mehr, und sei es nur in ersten Spuren, einer der vielen Wege sichtbar, die aus dem literarischen Realismus heraus weiter in die Zukunft führen; zeichnet sich sozusagen ein „realistischer Pfad zur Moderne“ ab? 1 Vgl. ausführlicher Verf., „‚Morgens im Spielkasino‘. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert“. Theorien der Literatur V . Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2011. 117-139, hier v. a. S. 128 (Eine „Proto-Moderne“ als Voraussetzung des Realismus), S. 130 f. (Die Krise der Bilder - Bilder der Krise) und S. 136 f. (Der literarische Realismus des 19. Jahrhunderts ist fähig, seine eigene Aporie zu erzählen). 76 Hans Vilmar Geppert Zerstörungen Es war Honoré de Balzacs Erzählung Le chef d’oeuvre inconnu / Das unbekannte Meisterwerk (1831-1837), 2 die mich zuerst auf diese Frage brachte. Da diese Erzählung sich für die hier ins Auge gefasste Tradition von Künstlernovellen als eine Art Multiplikator erwiesen hat, denn sie war selbst beeinflusst von E. Th. A. Hoffmann und wurde ihrerseits produktiv aufgenommen und variiert von Gottfried Keller, Henry James, Émile Zola und anderen, wegen dieser zentralen Bedeutung Balzacs möchte ich damit beginnen, Ihnen sein Unbekanntes Meisterwerk kurz vorzustellen: Der Held ist natürlich ein Deutscher, ein genialer und verrückter Maler mit einem nicht nur im Französischen sprechenden Namen: „Fren-, wie in „frénétique / frenetisch“, „Frenhofer“, ein hoch geachteter, erfolgreicher Künstler, auf aggressive Weise arrogant und von diabolischer Hässlichkeit. Man erkennt sofort den Einfluss E. Th. A. Hoffmanns. Die Novelle spielt im Jahr 1612, also in einer für die französische Geschichte krisenhaften Zeit, 3 was ebenfalls bezeichnend ist. Sie beginnt mit langen Kunstgesprächen und einer von tragischen Vorzeichen umgebenen Liebesgeschichte. Aber uns geht es um den zweiten Teil: Frenhofer arbeitet seit zehn Jahren an einem „Meisterwerk“, das er bisher noch niemandem gezeigt hat. Endlich dürfen zwei befreundete Maler ihn in seinem Atelier besuchen: zu ihrer totalen Überraschung, die in unermessliche Enttäuschung übergeht. Was bekommen sie zu sehen? Erlauben Sie, dass das, genauso wie das „unbekannte Meisterwerk“ selbst, noch eine Weile verhüllt bleibt. Aber so viel sei schon jetzt preisgegeben: Noch in der folgenden Nacht hat Frenhofer sich und seine Bilder verbrannt. Und das hat, wie gesagt, etwas Exemplarisches: Zwei „Funktionen“, 4 zwei markante Handlungselemente kehren, wie man leicht sehen kann, spätestens seit Balzac immer wieder: die lange Arbeit im Verborgenen am Anfang, und am Ende die Enttäuschung bei den Freunden sowie die Zerstörung des Bildes und der Absturz des Malers. Bei E. Th. A. Hoffmann beschreibt der alte Künstler lebhaft und voll Begeisterung sein Bild -, aber vor einer leeren Leinwand. Sein letztes und größtes Werk existierte nur in seiner Phantasie. Bei Keller wird mit der Faust ein Loch in das Bild geschlagen, einer der „Meister“, die alle Stellvertreter des Romanhelden sind, kommt ums Leben, ein anderer hatte bereits unheilbar depressiv im Asyl geendet. Adalbert Stifters Maler hat lange Zeit methodisch und stetig, aber durchaus „frenetisch“ besessen gearbeitet; doch dann vernichtet er alle seine Bilder und hat sein „Meisterwerk“ überhaupt nie jemandem gezeigt. Er selbst allerdings wendet sich von da an einem gediegenen bürgerlichen Leben zu, was freilich auch als eine leise, unspektakuläre, aber auch alltägliche und so vielleicht erst recht „tödliche“ Aporie der Kunst gelesen werden kann. Bei Henry James sitzt das angeblich wunderschöne Modell für die jungfräuliche Madonna schließlich entschieden gealtert, vulgär und grobschlächtig da, statt des „Meisterwerks“ sieht man nur eingetrocknete Farben auf einer rissigen Leinwand, der „Meister“ stirbt kurz darauf im Fieber-Delirium, und - erneut ein alltäglicher Tod der Kunst - seinen Platz nimmt ein zynischer Produzent billiger Massenware ein. Zolas Maler, 2 de Balzac, Honoré: „Le chef d’oeuvre inconnu“. La Comédie humaine . Bd. 10. Hg. Pierre-Georges Castex. Paris 1979. 391-438; zur Entstehung vgl. ebd., 1401-1409. 3 1610 war König Heinrich IV ermordet worden, was viele Wirren der Machtverteilung und der Ordnungspolitik nach sich zog. Das Datum ist jedem Franzosen geläufig. 4 Der Begriff geht zurück auf Vladimir Propp; vgl. etwa Bauer, Matthias: Romantheorie. Stuttgart / Weimar 1997, S. 164 ff., oder eine andere Einführung in die Erzähltheorie und -analyse. Erzählte Bilder 77 für seinen Autor „das Genie“ schlechthin der ganzen großen Familie, 5 erhängt sich von der Leiter, auf der er sein Riesengemälde gemalt hatte: ein weiteres „unbekanntes Meisterwerk“, das niemand versteht, so wie schon lange niemand mehr etwas von diesem Maler kaufen wollte. Der Kunst-Markt hat sein Leben noch unerbittlicher aufgezehrt als die Kunst selbst. 6 Wenn wir diese Geschichten zusammen sehen, sind das nicht, bei aller Verschiedenheit, letztlich doch jeweils Variationen ein und desselben Handlungs-Kerns? Geht es nicht immer wieder um Zerstörung und Selbstzerstörung, also um eine Aporie der Kunst? Experimente Umso bemerkenswerter ist es, dass die Resultate dieser Zerstörungen in immer neue und andere Alternativen sichtbarer Malerei übergehen, auch wenn diese fiktional entworfen bleiben und allenfalls als „Bild-Impulse“ gelesen werden können. Erzählt werden Variationen künstlerischer Aporie, die zu Alternativen ästhetischer Innovation führen. Schon diese Gemeinsamkeit, so scheint mir, ist ein erstes Argument dafür, und es werden sich noch weitere ergeben, diese Erzählungen literaturtheoretisch ganz einfach ernst zu nehmen. Es geht um narrativ entwickelte und erprobte Theorie, um fiktional durchgespielte Versuche ästhetischer Innovation, und so auf lange Sicht um Erzählexperimente mit Möglichkeiten moderner Kunst. Und was sie zusammen gesehen darstellen, wenn man also die ganze Serie von Erzählungen als einen einzigen Text betrachtet, so wie etwa die Großschrift auf einer Karte, dieses Gesamtmuster entspricht recht genau bereits selbst einer inzwischen klassischen Theorie moderner Kunst: der Theorie des „offenen Kunstwerks“. Denn sowohl die ganze Serie konfrontiert uns ganz wörtlich der „multiplen Welt einer seriellen Komposition“, einem „éclatement multidirectionel de structures“ (einem Aufbrechen von Strukturen in viele Richtungen), als auch jedes einzelne dieser „erzählten Bilder“ inszeniert geradezu dramatisch das Umschlagen einer Krise, bzw. eben einer Aporie der Kunst in eine Signatur ästhetischer Innovation: Dem Ding und der Welt ist es […] wesentlich als „offen“ zu erscheinen, uns immer zu versprechen, „etwas anderes zu sehen“. Sehr nahe liegt es hier, diese Flucht vor der sicheren und festen Notwendigkeit und diese Tendenz zu Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit als Spiegelung einer Krise […] aufzufassen; ebenso nahe aber [liegt] auch die gegensätzliche Deutung, daß nämlich diese [Formen einer Krise] die positiven Möglichkeiten einer [Welt] ausdrücken, die offen ist für eine ständige Erneuerung ihrer Lebens- und Erkenntnisschemata, die produktiv an der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und der Erweiterung ihrer Horizonte arbeitet. 7 Werden hier nicht diese theoretischen Überlegungen aus Umberto Ecos Buch Opera aperta ( Das offene Kunstwerk , 1962) erzählerisch experimentell vorweggenommen? Kann, ja muss 5 Vgl. den Stammbaum in: Zola, Émile: Une page d’amour / Ein Blatt Liebe . Hg. Colette Becker. Paris 1973, S. 364 f., wo zu dem Maler Claude Lantier die „Prägung“ vorgesehen ist: „Genie“ . 6 Die genannten Werke im Einzelnen: Hoffmann, E. Th. A.: Der Artushof (1817); Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich (1849-1855 und 1878-1880); Stifter, Adalbert: Nachkommenschaften (1864); James, Henry: The Madonna of the Future / Die Madonna der Zukunft (1879); Zola, Émile: L’Oeuvre / Das Werk (1886). 7 Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk ( Opera aperta, 1962). Dt. von Günter Memmert. Frankfurt 1973, S. 52 f. 78 Hans Vilmar Geppert man nicht in der Retrospektive, also von der relativen Zukunft des Zwanzigsten Jahrhunderts her betrachtet, muss man nicht diese Versuchsanordnung „erzählter Bilder“ aus dem Neunzehnten Jahrhundert, deren jedes uns immer „etwas anderes zu sehen“ gibt als wir erwarten, und deren Zusammenhang die strukturelle „Offenheit“ ihres Sujets, eben des „unbekannten Meisterwerks“ erweist - „Soll das Objekt bestimmt werden, so muß man es transzendieren auf die totale Reihe, deren Glied es als eine der möglichen Erscheinungsformen ist“ 8 -, muss man sie nicht als immer neue Inszenierung eines solchen Umschlagens von Krise, ja Aporie, in offene, multiple Innovation lesen? Reflexionen Denn es geht hier ja wieder und wieder nicht bloß um irgendein Bild; es geht, so möchte ich behaupten, immer und erst recht dann eben im Ganzen der Serie, um die Krise und Aporie einer eben an der „sicheren und festen Notwendigkeit“ des Gegenständlichen orientierten Kunst, um das Scheitern eines idealisierenden Realismus. 9 Das wird nirgends deutlicher als in der eigentümlichen Konvergenz der „Kunstgespräche“, die etwa bei Balzac und Keller jeweils der anschaulich erzählten Krise und Aporie dieser Kunst vorhergehen. Und dabei zeigt sich eben, wie ernst und wichtig die Autoren den jeweiligen Ausgangspunkt ihrer Experimente nehmen. Denn immer ja ist es ein verbindliches künstlerisches Ideal, um das diese Kunstgespräche kreisen. Ja, noch aufschlussreicher als die Gemeinsamkeit, zumindest die Überschneidungen solcher Programmatik bei Balzac und Keller ist deren Übereinstimmung mit zentralen Thesen in G. W. F. Hegels Vorlesungen über Ästhetik (gehalten ab 1816, hrsg. 1835-1838) . Hegels Zuspitzungen und Verallgemeinerungen erheben diese „erzählten Bilder“ zu Krisen-Signaturen jenes Ideal-Realismus, der die Diskussion im 19. Jahrhundert so weitgehend beherrscht: Das Ideale aber besteht darin, daß die Idee wirklich ist, und zu dieser Wirklichkeit gehört der Mensch […]. Der Mensch, dieser volle Mittelpunkt des Ideals lebt, er ist wesentlich jetzt und hier, Gegenwart, individuelle Unendlichkeit[: ] mit ihrer Erscheinung identische Idee des Schönen. 10 Das hätten der Sache nach auch Balzac oder Keller sagen können. Jedes dieser Stichworte lässt sich, freilich umgänglicher und „urbaner“ und im Gesprächs-Ton formuliert, bei ihnen wieder finden. Die anschauliche, individuelle, „lebendige“ Gegenwart des schönen Menschen in ihren Gemälden, das ist es, was die erzählten „Meister“ wollen und fordern. Was bei Keller „Kraft und Tiefe in der Empfindung des Lebens und des Menschlichen“ heißt, „Kultus der Persönlichkeit“ und lebendige „Sinnlichkeit“, 11 das wird bei Balzac, womöglich noch mehr in Hegels Sinn, immer wieder einfach „la vie / das Leben“ genannt: „L’Esprit, l’âme, la physiognomie des choses et des êtres“, „l’homme […] divin“, „la nature divine complète, l’idéal enfin“ / „Geist, Seele und Antlitz der Dinge und Menschen, der göttliche 8 Ebd., S. 51. 9 Der selbst, das kann nicht laut genug betont werden, immer nur ein Programm dieser Literatur war, sie aber keinesfalls einfach charakterisiert. 10 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik . Mit einer Einführung von Georg Lukács. Bd. 1. Hg. Friedrich Bassenge. Frankfurt o. J., S. 295. 11 Keller, Gottfried: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Bd. 1. Hg. Clemens Heselhaus. München 1969, S. 469 f. Erzählte Bilder 79 Mensch, die ganze göttliche Natur, das Ideal letztendlich.“ 12 Für beide, wie auch für Hegel, stellt der ganz individuelle und zugleich eben der schöne Mensch die Verkörperung dieses Ideals dar. Balzacs wie Kellers Kunstgespräche orientieren sich ja auch beide, und in bemerkenswerter Übereinstimmung, an der Malerei der Renaissance, die eben auch für Hegel, worin sie zurücksteht nur gegenüber dem nicht mehr erreichbaren Ideal der griechischen Plastik, „die ganze Totalität des Schönen noch einmal“, und überhaupt eine künstlerische „Versöhnung des Wahren und der Realität“ hervor gebracht hat. 13 Und Hegels berühmte These vom „Vergangenheitscharakter“ einer Kunst idealer Subjekt-Totalität - das meint nicht die Überholtheit von Kunst überhaupt! -, 14 die Vergangenheit eines Ideals, das philosophisch „aufgehoben“ ist: Das Kunstschöne [ist] eine Form, die dem Gedanken ausdrücklich gegenübersteht und die er, um sich in seiner Weise zu betätigen, zu zerstören genötigt ist, 15 wird nahezu wörtlich wiederholt, wenn Kellers „Meister“ seine eigene Zeit für „Übergangsgeschiebe“ hält, und wenn er letztendlich „zu sehr Philosoph [ist] und zu wenig Maler“. 16 Fast wörtlich analog hat Balzacs Frenhofer „profondément médité sur […] la vérité absolue de [son] art […]; mais à force de recherches, il est arrivé à douter de l’objet même de ses recherches / er hat tief nachgedacht über die absolute Wahrheit seiner Kunst, aber je mehr er nach ihr suchte, um so mehr zweifelte er am Gegenstand seiner Suche als solchem“. 17 Und schließlich und vor allem findet sich dieser Gedanke einer „Aufhebung“ des Kunstschönen ja dann auch geradezu strukturell in den Romanen verwirklicht, wenn für Balzac wie für Keller die Kontinuität ihres literarischen Oeuvre selbst, also das schiere Gelingen ihres Erzählens als solches befähigt ist, auf die Krise und Aporie der jeweils in ihm erzählten Kunst zu antworten. So wie für Hegel die Philosophie, so ist hier eben ganz folgerichtig die Literatur die Metasprache und das Meta-Medium der Malerei. Sie erzählt ein theoretisches Modell von deren Krise und Innovation. Sie experimentiert weiter, indem sie die Kunst „aufhebt“. Innovationen Damit aber endet ganz entschieden die Konvergenz dieser drei Stimmen. Die ästhetische Innovation, in die hier die Aporie der Kunst immer wieder umschlägt, die sich zumindest als Entwurf und Impuls abzeichnet, weist ziemlich genau in die Gegenrichtung einer philosophisch-begrifflichen Synthese konkreter Wirklichkeits-Totalität im Sinne Hegels und seiner vor allem deutschen Schüler: Entworfen wird nicht eine Synthese, sondern offene Divergenz, nicht die Anstrengung des Begriffs, 18 sondern ein Spiel, eine offene Logik von 12 Balzac, „Le chef d’oeuvre inconnu“, S. 416 f. und S. 426; alle Übersetzungen stammen, sofern nichts anderes angemerkt ist, von mir. 13 Hegel, Ästhetik , Bd. 2, S. 330 und S. 343. 14 Es wäre abstrus, Hegel die Behauptung eines „Vergangenheitscharakters der Kunst“ schlechthin zu unterstellen. Seine Vorlesungen über Ästhetik enthalten viele Thesen, die aus späterer Sicht gerade auf die „Moderne“ zu passen scheinen. Aber diese selbst, auch nicht ihre romantisch-idealistischen Vorwegnahmen, wäre nicht Hegels Ideal gewesen. 15 Hegel, Ästhetik , Bd. 1, S. 23. 16 Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 470. 17 Balzac, „Le chef d’oeuvre inconnu“, S. 427. 18 Das „offene Kunstwerk […] stellt so mit seinen Mitteln die Kategorien der Kausalität, die zweiwertigen Logiken, die Eindeutigkeitsbeziehungen, das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten in Frage“ (Umberto 80 Hans Vilmar Geppert Zeichen, keine Totalität, sondern eine Serie jeweils neu gebündelter Impulse, nicht die Vollendung einer sich verwirklichenden Idee, sondern das Freilegen von Nullpunkten möglicher Entwicklung, nicht ein anschauliches Wirklich-Wahres, sondern ein immer neuer Aufbruch ins Unbekannte. Bevor ich diese jeweiligen Entwürfe, oder besser „Impulse ästhetischer Innovation“ einzeln vorstelle, gilt es vielleicht einem Einwand zu begegnen und eine Frage zu beantworten, die beide die Vergleichbarkeit von Balzac und Keller betreffen. Einmal mehr zeigt sich, wie sehr Komparatistik und Literaturtheorie aufeinander angewiesen sind. Erst die Abstraktion, die Frage nach den ästhetischen Voraussetzungen von Kunst - wie sie diesmal aussieht, dazu gleich - , erst die theoretische Abstraktion also macht die widersprüchliche Gemeinsamkeit der verschiedenen Impuls-Modelle sichtbar, so wie man, wenn ein methodischer Vergleich erlaubt ist, erst wenn man ihre jeweiligen Kontexte ausblendet, die Großschrift auf einer Karte lesen kann. Wie auch immer, 19 Kellers Romanheld, um dessen unvollendetes und zerstörtes Bild im Vierten Band des Romans Der grüne Heinrich es hier geht (ich habe immer die Erstfassung , 1854 / 1855, für die interessantere gehalten), dieser „grüne“ Heinrich ist alles andere als ein „Meister“. Aber so wie Balzac seine wichtigen Roman-Figuren mit ganzen „Galerien“ von „Doppelgängern“ umgeben hat, 20 die deren Lebensentwürfe und Schicksale variieren, vor allem aber, was erst eigentlich spannend ist, diese kontrastierend-komplementär ergänzen: also die „ehrgeizigen jungen Leute“ beispielsweise, von denen die einen scheitern, anderer sich durchsetzen, so gibt es nicht nur in Kellers Oeuvre viele tragische und komische „Grüne Heinriche“, auch die Künstler-Figuren im Zentral-Roman selbst ergänzen und vervollständigen einander. Heinrichs Maler-Freunde, der reiche, verführerisch schöne und hochbegabte Niederländer und der hünenhafte, lebenstüchtige Däne, beide „Meister“ ihrer Kunst und erfolgreich bei den Damen, sind so klar Tagtraum-Projektionen des armen, zwergenhaft kleinen, bis dahin rundum erfolglosen und sich nach Liebe sehnenden Schweizers, wie der dritte „Meister“, der in den Wahnsinn verfallen war, ein stellvertretend tragisches Schicksal erleidet. Und umgekehrt, so lese zumindest ich den Roman, ist Heinrichs Aporie auch die der andern. Besäße Heinrich ihr Talent und Können, er würde ihre Bilder malen, und so ist sein Abschied von der Malerei auch der ihre, in der Zweitfassung (1878-1880) übrigens und bezeichnenderweise noch deutlicher 21 als in der ersten. Der Ernst der Kunstgespräche und der Kunstaporie bei Keller ist mindestens so groß wie bei Balzac. Wie sehen dem gegenüber die „Innovationen“ aus und inwiefern sind sie vergleichbar? Es wird Zeit, die ersten beiden unfreiwilligen „Meisterwerke“ zu enthüllen: Je ne vois là que des couleurs confusément amassées et contenues par une multitude de lignes bizarres qui forment une muraille de peinture[, un] chaos de couleurs, de tons et de nuances indécises, espèce de brouillard sans forme. / Ich sehe hier nur wirr gehäufte Farben, die eine Vielzahl Eco, Das offene Kunstwerk , S. 160). 19 Vgl. zum Folgenden ausführlich Verf.: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19 . Jahrhunderts. Tübingen 1994, S. 388-398. 20 Vgl. dazu ausführlicher Verf.: „Honoré de Balzac ‚La comédie humaine / Die menschliche Komödie‘“. Große Werke der Literatur. Bd. 12. Hg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2012. 61-87, hier v. a. S. 71 ff. 21 Dort sagt der geniale „Doppelgänger“, er „werde nie mehr malen, weil man die Augen dazu brauche“ (Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 910), weil er also, ganz im Sinne etwa Hegels, sein Ideal nicht wirklich zu sehen vermag. Erzählte Bilder 81 bizarrer Linien zusammenhält, eine Wand aus Malerei, ein Chaos der Farben, Abtönungen und unbestimmten Nuancen, eine Art Nebel ohne Form. 22 So äußert sich der eine der beiden Freunde, die Frenhofers Bild schließlich zu Gesicht bekommen. Der „Meister“ hatte sein Bild, das man sich nur als großes Gemälde in Öl auf Leinwand vorstellen kann, offensichtlich so lange immer wieder übermalt, bis nichts Gegenständliches mehr zu erkennen ist, nur ein „Chaos von Nuancen“, ein „Nebel von Farben“ und vor allem eben „eine Wand aus Malerei“. Kellers Heinrich ist zu arm, sich eine große Leinwand zu leisten, aber auch er will Großes. Er füllt einen großen Karton, „acht Fuß“, also mehr als 2 Meter lang und „entsprechend hoch“; aber im genauen, und gerade so eminent sprechenden Gegensatz zu Balzacs „frenetisch“ maßlosem Künstler liefert der „grüne“, also noch unerfahrene Heinrich nicht zu viel, sondern zu wenig Malerei: Unter den großen Schildereien ragte besonders ein wenigstens acht Fuß langer und entsprechend hoher Rahmen hervor, mit grauem Papier bespannt, der auf einer mächtigen Staffelei im vollen Lichte stand. [Darauf] schien ein ungeheures graues Spinnennetz zu hangen, welches sich aber bei näherer Untersuchung als die sonderbarste Arbeit von der Welt auswies. An eine gedankenlose Kritzelei, welche Heinrich in einer Ecke angebracht, um die Feder zu proben [sic], hatte sich nach und nach ein unendliches Gewebe von Federstrichen angesetzt, [das] nun den größten Teil des Rahmens bedeckte.[Immer wieder] zeigte sich eine neue Manier, gewissermaßen eine neue Epoche der Arbeit, neue Muster und Motive, oft sehr zart und anmutig, tauchten auf, und wenn die Summe der Aufmerksamkeit, Zweckmäßigkeit und Beharrlichkeit, welche zu dieser unsinnigen Mosaik erforderlich war, verbunden mit Heinrichs gesammeltem Talente, auf eine wirkliche Arbeit verwendet worden wäre, so hätte er ein Meisterwerk liefern müssen. 23 „So hätte er ein Meisterwerk liefern müssen“: Das scheint mir ein Stichwort, das aufhorchen lässt. Sind wir nicht in der Tat berechtigt, es kontrastierend-komplementär gegen Balzacs „chef d’oeuvre“ zu halten? Es ist, als habe auch Keller Umberto Ecos Thesen zur Krisen- und Innovations-Bedeutung des „offenen Kunstwerks“ vorweg durchspielen wollen. Zwar ist für den Roman die näher liegende und wohl auch wichtigere Lesart sicherlich die, dass Heinrich hier ein riesiges „Labyrinth“ gezeichnet hat, „das vom Anfangspunkte bis zum Ende zu verfolgen war“. Dies ist, genauso wie das „Spinnennetz“, als das man Heinrichs „Meisterwerk“ auch sehen kann, sicherlich zunächst Ausdruck für die „Patsche“, 24 also die Krise, in der er sich befindet. Weitergedacht tritt es allerdings auch für den Gedanken ein, dass jedes Leben, auch eines, das noch so verworren aussieht, seine Würde hat und - das ist ein wichtiger Gedanke für Keller - es wert ist, kontinuierlich verfolgt zu werden. 25 Heinrich wendet sich ja bezeichnender Weise genau von da an von der Kunst ab und der Literatur zu; und in der Zweitfassung schreibt er schließlich nichts anderes als seinen eigenen autobiographischen Roman, also genau das Stück Literatur, das von eben dieser Aporie seiner Kunst erzählt. Aber so wie die ersten Betrachter des übermalten Bildes bei 22 Balzac, „Le chef d’oeuvre inconnu“, S. 436. 23 Keller, Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe, Bd. 1, S. 560 f. 24 Ebd. 25 In diesem Sinne fordern z. B. die so genannten „Goethe-Reflexionen“ (3. Band, 1. Kapitel) dazu auf, dass man „das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt [erst recht die menschlicher „Dinge“] und den Zusammenhang […] der Welt“ erkennt (ebd. S. 391), und natürlich muss man beim Stichwort „Spinnennetz“ auch an die spätere „Spinnen-Parabel“ denken, die auch im bloßen Überlebenskampf des Tieres zweckvolles Handeln entdeckt. 82 Hans Vilmar Geppert Balzac in dem „Chaos“ sogleich mögliche, noch nie gesehen Entwürfe einer noch unbekannten Kunst entdecken, etwa eine „Wand von gemalten Farben“ oder einen „Nebel von Nuancen“, so sieht auch der Erzähler des Grünen Heinrich , wie aus den zufälligen, wie es heißt, „probenden“, bloßen Strichen immer wieder eine „neue Manier“, „neue Muster und Motive“ und letztlich ein „Mosaik“ von Formen entstehen. Wenn dies, wie eingangs behauptet, Erzähl-Experimente mit dem Medium Kunst sind, können wir darin „Impulse“ der Innovation erkennen, wohlgemerkt lediglich Impulse, also halb bewusste, halb zufällige Entwürfe: einen, wie eingangs behauptet, theoretisch lesbaren „variantenreichen Wechsel generativer Signaturen“, 26 also erste Vorstufen neuer ungegenständlicher, bzw. „abstrakter“ Malerei, ja vielleicht sogar Ansätze malerischer „Modellierungsoperationen“, die dann freilich erst voll bewusst deren eigentliche „moderne“ Ästhetik konstituieren? Denn „in dieser gegenläufigen Modellierungsoperation von Defigurieren und Konfigurieren gewinnt das Ästhetische seine gegenwärtige generative Signatur.“ 27 3.1 2.2 1.3 Natürlich braucht es, um solche Bezüge herzustellen, die Retrospektive, also den methodischen Blick zurück: eben eine Sicht, die sich an damals noch ganz zukünftigen, inzwischen aber vielfach erfolgreichen Formen moderner Kunst selbst orientiert. Vorschläge dazu gleich. Doch auch dann noch wäre der ganze Zusammenhang nicht eigentlich sichtbar - mir jedenfalls erging es so -, ohne den Anstoß ästhetischer Theorie. Die Theorie hilft dabei, Fragen zu stellen, die dann historische Zusammenhänge und Veränderungen sichtbar machen können. Und es war im Falle meiner Frage nach „Aporien der Kunst und ästhetischen Innovationen“ Max Benses Definition des ästhetischen Zeichens, genauer, der spezifisch ästhetischen Zeichen- Funktion - es gibt, das sei gleich festgestellt, kein ästhetisches „Sonder-Zeichen“ -, es war die für Bense-Schüler fast mythische Formel: „3.1 2.2 1.3“, die für mich die wesentliche Anregung gab, hier genauer hin zu sehen. Da diese Theorie sich in einer mathematisch geklärten Formulierung präsentiert - ohne natürlich mathematisch hergeleitet oder begründbar zu sein -, wurde und wird sie oft missverstanden als eine Theorie, die sich selbst bestätige, die in ihrer Systematik immer richtig sei, also nie, die formal eine Ordnung vertäusche, die sie inhaltlich gerade ausschlösse, und so fort. Aber es geht natürlich um eine systematisch geklärte Analyse, nicht um ein System-Postulat für eine Realität der Kunst, die vielmehr gerade so, also systematisch analysiert, nicht irgendwie zum System erklärt, erst recht in ihrer immer neu überraschenden Vielfalt sichtbar wird. Bense geht aus von der dreistelligen Semiotik, 28 also von der konsequent in Triaden entworfenen Zeichentheorie des Mathematiker-Philosophen Charles S. Peirce, die eine Theorie zeichenhafter Erkenntnis ist. Erkenntnis durch Zeichen: Was könnte das heißen? 26 Iser, Wolfgang: „Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“. Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven . Bd. 1. Hg. Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2003. 9-28, hier S. 14. 27 Iser, ebd. S. 39. 28 Erste Erklärungen dieser Theorie gibt jede Einführung in die Semiotik, z. B. Eco, Umberto: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt 1977, v. a. S. 57 ff.; oder etwa Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik . Stuttgart 2003, S. 59 ff. und S. 425 ff.; als knappe, zur Ergänzung dieses Vortrags völlig ausreichende Einführung vgl. Verf., „Bedeutung als unendlicher Prozess: Carles S. Peirces Semiotik und ihre literatur- und medienwissenschaftlichen Perspektiven“. Theorien der Literatur . Grundlagen und Perspektiven . Bd. 1. Hg. Hubert Zapf. 141-164, hier v. a. S. 151 ff.; derselbe Aufsatz in Erzählte Bilder 83 Es heißt, vereinfacht, aber nicht falsch gesagt: Wir können unsere Erkenntnis der Welt, eine Erkenntnis durch Zeichen, verbessern, wenn wir (erstens) Zeichen als solche als formbar und kohärent veränderbar sehen, als einen generativen Prozess („signs grow“, auch in ihren „Defigurierungen“ und Negationen), wenn wir (zweitens) immer ihren Realitätsbezug, ihren Bezug auf etwas anderes als sie selbst (ihr Objekt) zu beachten und zu prüfen suchen, und wenn wir (drittens) ihre Bedeutung (ihr „Interpretans“), man kann auch sagen, ihre Wirkung, insbesondere ihre Wirkung auf andere Zeichen (die interessanteste Bedeutung eines Zeichens ist ein anderes Zeichen) als kritisierbar und verbesserbar betrachten. Zeichen können wahr sein oder falsch oder lügen oder unverstanden bleiben und so fort, aber ihr Gesamtzusammenhang ist grundsätzlich wahrheits fähig . Wenn ihre Wahrheit für uns nicht zumindest möglich wäre (das berühmte„could be“), könnten wir keine Zeichen gebrauchen. Unter dieser prinzipiell dreistelligen Prämisse hat Peirce - neben vielen anderen Entwürfen - eine Reihe kategorialer Unterscheidungen vorgeschlagen (übrigens sehr oft in der Tradition von Kant; germanistische Berührungsängste sind also nicht zulässig), von denen die bekannteste inzwischen wohl die Unterscheidung von „Icon“, „Index“ und „Symbol“ geworden ist. Die „drei mal drei“ wichtigsten dieser kategorialen Differenzierungen: Quale- (1.1) Sin- (1.2) Legi-Zeichen (1.3) Icon (2.1) Index (2.2) Symbol (2.3) Rhema (3.1) Dicent (3.2) Argument (3.3), hat Peirce 1904 (in einem Briefentwurf und späteren Brief an Lady Welby) 29 als jeweils „geordnete Triaden“ in „Cartesianischer“, bzw. „gleitender“ Potenz verbunden. Das ergab mathematisch die berühmt-berüchtigten „Zehn Zeichenklassen“. Und in diesem „erweiterten triadischen Zeichenmodell“ schlägt dann Max Bense 30 die Zeichenklasse: „3.1 2.2 1.3“, das heißt ausformuliert: das „Rhematisch-Indexikalische-Legizeichen“ (eine Diagonale von links oben der Matrix nach rechts unten), als die spezifisch ästhetische Zeichenfunktion vor, die natürlich, man kann es nicht oft genug sagen, immer im prozessualen, generativen Zusammenhang aller Zeichenfunktionen gesehen werden muss: als die spielerisch-dynamische Achse in dieser unendlichen Spirale zeichenhafter Erkenntnis. Impulse kreativer Signaturen Gerade weil es sich bei alledem um eine systematisch geklärte Hypothese handelt, anders gesagt, um eine fruchtbar kohärente Heuristik (eine „Kunst des Fragens und Findens“), so arbeite zumindest ich damit, in diesem Sinne kann das Modell der „Zehn Zeichenklassen“ uns vielleicht helfen, zu verstehen, was da in diesen erzählten, „zerstörten“ und „erneuerten“, den „defigurierten“ und „konfigurierten“ Bildern vorgeht. Denn offensichtlich geht die Zerstörung und Erneuerung ja von gegensätzlichen „Polen“, wenn ich so sagen darf, erweiterter Fassung auch in Verf., Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006. 9-35. 29 Zu finden in wohl jeder Ausgabe seiner Schriften zur Zeichentheorie, zu Nachweisen vgl. z. B. Verf., Bedeutung als unendlicher Prozess , S. 151 ff. 30 Bense, Max: Zeichen und Design. Semiotische Prozesse. Baden-Baden 1971, S. 56 ff., und andere Schriften. Auf Peirce selbst geht diese These nicht zurück. 84 Hans Vilmar Geppert aus, also von gegenläufigen generativ-prozessualen Signaturen. Balzac erzählt von zu viel, Keller von zu wenig Malerei. Entsprechend wird bei Keller, um uns zunächst auf ihn zu konzentrieren, und für E. Th. A. Hoffmann und Henry James wird das noch radikaler gelten, es wird ja genau genommen nur eine Bild-Erwartung zerstört. Der halb bewusste, halb zufällige künstlerisch kreative Prozess - der Autor hat ihn aber auf alle Fälle für erzählenswert gehalten - geht von ein paar „probenden“ Strichen aus. Das erzählte Bild-Experiment hat begonnen mit ersten, ganz „singulären“ zeichnerischen Setzungen („Sin-Zeichen“), die aber, einmal auf dem Karton platziert („Indices“ ihrer selbst, Zeichen, die auf etwas verweisen, in dieser Funktion also auf sich selbst), die in eben dieser ästhetischen Funktion sogleich nicht nur in ihrer Form definiert werden, man kann auch sagen, sie werden „codiert“ („legi-Zeichen“, von „lex“: „Gesetz“, geregelt). Und in der Tat werden sie ja auch als erkennbare Formen auf dem Karton vervielfältigt. Und so entfalten sie, wie es wörtlich heißt, eine eigene „Gesetzmäßigkeit“. Man sieht, wie das heuristische Modell den Text zu analysieren hilft. Und was diese neuen Zeichen zusammen bedeuten, bleibt ausdrücklich zunächst völlig rätselhaft. Es ist also nur „rhematisch“ (lediglich „gesagt“) zu interpretieren: „offen“ in seiner Bedeutung und weder als wahr noch als falsch zu beurteilen. In Kantischer Begrifflichkeit, dessen Kategorie der „Modalität“ Peirce hier aufgreift, stellt dies eine „problematische“ Aussage dar, im Gegensatz zu „assertorischen“, wahren oder falschen, z. B. sich auf Gegenstände beziehenden „Urteilen“ (aus denen sich prinzipielle auch gegenständliche Malerei aufbaut). Erst in einem weiteren Schritt der Genese von Zeichen, die aus Zeichen entstehen, werden bei Keller dann Aussagen wie „Spinnennetz“ oder „Labyrinth“ vorgeschlagen, die aber immer wieder, wenn neue „Manier[en]“ und „Muster“ auftauchen, korrigiert und in „offene“ Interpretationen überführt werden. Das freie Spiel der Zeichen setzt sich gegen jede gegenständliche Aussage durch. Haben wir hier nicht in der Tat eine „rhematisch-indexikalische-legi-Semiose“ vor uns, eine ästhetische Funktion in actu ? Man muss so abstrakt herangehen, um den Ausblick auf die Kunst des 20. Jahrhunderts plausibel zu finden. Denn es braucht ja nun nicht lediglich bei Kompositionen aus Strichen zu bleiben. Der Impuls der Innovation, den Keller hier erzählt, führt, sorgfältig betrachtet, zunächst zu fundamentalen, künstlerisch konfigurierenden Möglichkeits-Entscheidungen. Und erst von da aus kann man verfolgen, wie solche Impulse ausgearbeitet wurden zu bewusster Kunst. In diesem Sinne, eröffnet sich da nicht doch ein Bezug etwa zu den vielen Formen moderner Malerei, die mit graphisch oder malerisch typisierten Elementen arbeiten („type“, im Gegensatz zum singularen „token“, war für Peirce ein anderes Wort für „legi-signs“), zu einer Kunst also, die bestimmte einfache bis komplexe „Module“ vervielfältigt, so wie Kellers Heinrich seine Striche, und zu größeren „Mustern“ oder Serien oder Rastern oder eben Kompositionen anordnet, bzw. eben „konfiguriert“? Als klassische Beispiele 31 wären vielleicht zu nennen: 31 Alle Beispiele (mit Ausnahme von Niki de Saint Phalle und Michelangelo Pistoletto) sind entnommen dem Katalog: The Museum of Modern Art , New York . The History and the Collection. New York o.J. Erzählte Bilder 85 Abb. 1: Piet Mondrian, C omposition 1 (1914) Ist das nicht tatsächlich ein Bild, in dem die vielen „Striche“ des grünen Heinrich zu einer bewussten malerischen Komposition „konfiguriert“ worden sind, jetzt natürlich ergänzt durch Farben und geometrische Muster? Aber die Striche dominieren. Wird nicht auch der für Keller offensichtlich so bedeutsame „Rahmen“ hier gleich doppelt betont ins Bild gebracht? Und wenn man will, kann man hier durchaus auch den Entwurf eines „Labyrinths“ erkennen. Sehr klar dem Prinzip einer Komposition aus malerischen „Types” folgt dann etwa: Abb. 2.: Piet Mondrian, Composition and Color Planes V (1917) 86 Hans Vilmar Geppert Man kann hier ganz anschaulich sehen, wie solche Typisierungen bzw. „legi-signs“ in der Tat nur als abstrakte Formen zu begreifen sind (wie Elemente der „langue“ nach de Saussure, oder die „struttura assente“ nach Eco): Die farbigen Quadrate sind nicht alle gleich groß, und auch die Abstände variieren. Doch ist die Typisierung groß genug, dass man sie bemerken muss. Und zugleich wird die Dialektik zwischen „Legi-“ und „Sin-Zeichen“ (bzw. „Code“ und „Message“ nach Jakobsen), die man im Alltag meist übersieht, künstlerisch ins Spiel gebracht. Ein sehr schönes Beispiel für diese Richtung „ungegenständlicher“ Kunst scheint mir das Bild mit dem sprechenden Titel: Abb. 3.: Theo von Doesburg (C. E. M. Küpper), Rhythm of a Russian Danse (1918) Die „Striche“ des Grünen Heinrich scheinen sich erst jetzt als farbige Balken künstlerisch zu behaupten und sich erst jetzt in „anmutigen Mustern“ zu einem spielerischen „Mosaik“ zu ordnen. Aber diese Ordnung hat nichts Festes: Die Balken sind zwar typisiert bzw. „codiert“, und sie bewegen sich zueinender nur parallel oder im rechten Winkel, aber ihre Länge und, wenn man genau hinschaut, auch ihre Breite variieren, natürlich auch die Farben und Abstände und die in der Tat „mosaikartig“ eingegrenzten Zwischen-Räume. Das Bild setzt viel Geometrie voraus, aber eben gerade als „abwesende“ Struktur. Alle künstlerischen „Zeichen“ sind an ihrem genauen Platz (indexikalisch) das, was sie bedeuten, und die ganze Komposition kann nur völlig offen interpretiert werden: eine freie Verbindung von System und Spiel, die jeder Norm widerspricht. Nun zu einem zweiten „zerstörten Bild“. Auch die „Versuchsanordnung“ bei Henry James kann man als innovativen Impuls verstehen. Wenn hier das „unbekannte Meisterwerk“ enthüllt wird, erblickt man, ähnlich wie beim Gemälde des Grünen Heinrich , nicht zu viel, sondern zu wenig, ja eigentlich gar keine Malerei: Erzählte Bilder 87 A jumble of dead paint [on a] large canvas […] cracked and discoloured by time. / Ein Durcheinander vertrockneter Farbe auf einer großen Leinwand, alles vor Alter rissig und verfärbt. 32 Dieses Bild ist über die bloßen Materialien der Malerei nicht hinausgekommen, aber es hält genau diese auch fest. Im fiktionalen Experimentier-Raum des Erzählens können auch noch diese bloßen Materialien, ja können ganz einfach „Dinge“ neue zeichenhafte Qualität gewinnen und zu „kreativen Signaturen“ werden: „Material for a hundred masterpieces / Material für hundert Meisterwerke“, wie der „Meister“ selbst anmerkt. 33 Die vertrockneten Farben weisen einerseits zurück auf malerische Paradigmen wie Stärke des Pinsels, Druck und Umfang des Farbauftrags, Dichte und Feinheit der Farbgebung und natürlich auf die Auswahl und Mischung der Farben selbst, bis hin zu deren materieller Textur. Und andererseits handelt es sich ja eben um malerische „Setzungen“, die auf einer Leinwand „definiert“ wurden, die sich jeweils von eventuell anderen Spuren des Pinsels und ebenso von Leerstellen abgrenzen, die durch einen Rahmen hervorgehoben und von anderen Dingen distanziert werden, und so fort. Auch dies sind ganz bestimmte, definierte (1.3.: legi-), auf sich selbst verweisende (2.2: indexikalische), und immer nur ganz „offen“ zu deutende (3.1: rhematische) Zeichen ihrer selbst. Auch jetzt generiert die „Zerstörung“ des Bildes, so wie dieses dann erzählt wird, aus sich heraus eine ästhetische Funktion, vielleicht nicht in actu , aber sicher ihrer grundsätzlichen Möglichkeit nach. Und lässt sich nicht auch dieser Innovations-Impuls verfolgen hin etwa zu jenen vielfältigen Formen moderner Kunst, die bewusst die Materialität, die Eigenbedeutung oder die Textur ihrer künstlerischen „Mittel“ nutzen, bis hin zu „Dingen“, die zu künstlerischen „Installationen“ verdichtet werden? Abb. 4: Niki de Saint Phalle Old Master (1961) 32 James, Henry: „The Madonna of the Future“ . Complete Stories 1864 - 1874 . Literary Classics of the United States. New York 1999. 730-766, hier S. 745 und S. 761. 33 Ebd., S. 762; schon früh war ja auch auf „the picture in that tale of Balzac“ hingewiesen worden (ebd. S. 745). Auch James sah offensichtlich den Zusammenhang zwischen zu viel und zu wenig Malerei. 88 Hans Vilmar Geppert Wird hier nicht in der Tat die Erzählung von Henry James produktiv fortgesetzt? Zu einem Werk eines „Old Master / Alten Meisters“ scheint es hier wie dort ja gar nicht gekommen zu sein. Vor unseren Augen entsteht sofort etwas Neues. Der reliefartig sich verwerfende grau-weiße Untergrund betont de Materialität künstlerischer Mittel ebenso, wie das Fließen der schwarz und rosa darauf aufgetragenen Farben dies fortsetzt. Sie halten fest und bezeichnen (Indices ihrer selbst), ja, sie sind der Übergang zwischen dem Vorgang des Malens (ein genuines „sin-sign“) und seinem seitdem gültigen Resultat, das auf seine Weise definiert (zum „legi-sign“ codiert), etwa in Museen ausgestellt, in Katalogen abgebildet, teuer gehandelt wird, und so fort. Und der Eindruck, dass die Farben über gleich drei Rahmen hinaus zu fließen scheinen, unterstreicht die Lebendigkeit dieser Kunst aus „defigurienden“ und „konfigurierenden“ Übergängen, und betont nun den Rahmen erst recht. Er grenzt diese ästhetische Funktion in actu ab gegen andere Kontexte und andere Funktionen. Auch das folgende Bild, besser die Installation, 34 wirkt wie ein witziger Kommentar zur Erzählung von Henry James: Abb. 5: Michelangelo Pistoletto Venere degli stacci (1967 / 1974) Dass an die Stelle eines Madonnen-Bildes eine Venus-Statue tritt, macht den Neuansatz der Ästhetik nur noch markanter. Die Kunst-Reflexionen, in denen die Stimmen der „Meister“ bei Balzac und Keller sich mit der Stimme Hegels trafen, orientierten sich ja an der Malerei der Renaissance und der antiken Plastik. Und dieses vergangene Ideal, die „mit ihrer Erscheinung identische Idee des Schönen“, „la nature divine complète“, 35 wird hier ironisch - 34 Dieses und das vorhergehende Beispiel verdanke ich Eva-Maria Mahr. Das Beispiel von Saint Phalle ist einer Rezension zur Ausstellung „Purer Zufall“ auf kultur.typepad.com entnommen; die Statue von Pistoletto dem Internet-Blog Epigraph . 35 Vgl. oben Anm. 10 und 12. Erzählte Bilder 89 die Ironie ist eine negative Gedanken-Figur, also eine Form der „Zerstörung“ -, die Erinnerung an den „schönen Menschen“ als Ideal der Kunst wird einer Installation von „Dingen“ konfrontiert, deren mögliche ästhetische Funktion - der Haufen von Kleidern ist ja z. B. so bunt, wie die Palette eines Malers - sich prinzipiell bei Henry James bereits abzeichnet. Ein drittes erzähltes Experiment: „Mein Bild soll nicht bedeuten sondern sein“, sagt der „Meister“, der berühmte Maler, in E. Th. A. Hoffmanns Erzählung Der Artushof (1817). 36 Und das hat etwas Zukunftweisendes. Denn eigentlich ist damit das Experiment der „Zerstörung“ und „Erneuerung“ der Kunst von Anfang an sowohl recht genau angesprochen als auch in eins damit sogleich theoretisch-ästhetisch „aufgehoben“. Die Negation aller gegenständlichen Bedeutung schlägt hier sofort um in die „Eigenrealität“, also die auf sie selbst bezogene Zeichendichte, ästhetischer Zeichenfunktion. So wie semiotisch gesehen die ästhetischen „Zeichen ihrer selbst“ ein nur ganz offen zu interpretierendes, also ein „freies Spiel der Zeichen“ eröffnen, so soll auch die Situation, dass man den Maler bei Hoffmann, wie es heißt, „in exaltiertem Zustand […] vor einer großen aufgespannten grau grundierten Leinwand sitzend“ 37 antrifft -, die einfarbig leere Leinwand und überhaupt das Schweigen realisierender Kunst-Praxis sollen anzeigen, dass die bloße und unbeschränkte Möglichkeit von Kunst zur Sprache kommt, dass die Kunst letztlich und sozusagen ganz „rein“ im freien Spiel der Phantasie lebt. Und so wie der Zusammenhang zwischen der idealistisch-romantischen Ästhetik eines „freien Spiels der Einbildungskraft“, bzw. der Phantasie, und der semiotisch-ästhetischen Funktion eines „freien Spiels der Zeichen“ auf der Hand liegt, 38 so kann wohl auch die Spur von diesem fiktionalen Kunst-Experiment E. Th. A. Hoffmanns - eine „groß aufgespannte“ einfarbige Leinwand - zur modernen, allerdings jetzt voll bewussten Kunst „monochromer“ Malerei führen, zu der ja eben auch gerade das „große“ Format gehört. Auch dieser erzählte Impuls ungegenständlicher Kunst kann auffallend klar weiter verfolgt werden. Nahezu 2x2 Meter groß ist etwa das Bild: Abb. 6: Robert Ryman, Twin (1966). 36 Hoffmann, E. Th. A.: „Der Artushof “. Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel. Hg. Wulf Segebrecht. Darmstadt 1968. 145-169, hier S. 156. 37 Ebd., S. 157. 38 Vgl. Verf., Bedeutung als unendlicher Prozess , S. 156 f. 90 Hans Vilmar Geppert Lädt dieser große grau-weiße Farbraum, der ja auch den Eindruck von Tiefe vermittelt, nicht das Auge ein, sich in ihm zu verlieren und die „geschäftige Welt“ draußen zu vergessen? Und ein auf den ersten Blick noch suggestiver „romantisches“ monochromes Gemälde wäre für mich dann das nahezu 2 auf 1,5 Meter große Bild von Yves Klein: Abb. 7: Yves Klein, Blue Monochrome , 1961 „Mein Bild soll nicht bedeuten, sondern sein“, hatte E. Th. A. Hoffmanns „Meister“ gesagt. Ist es nun nicht in der Tat so, denn die präsente, angeschaute Farbe ist niemals Fiktion, dass dieses Bild „Unendlichkeit“ nicht „bedeutet“, sondern „ ist“ ? Nach allem bisher gesagten ist auch der Bezug, also die Spur der Impulse, von Balzacs „unbekanntem Meisterwerk“ zur Kunst des 20. Jahrhunderts nicht mehr schwer zu finden. Damit komme ich zum Schluss meines Vortrags 39 und kehre an den Ausgangspunkt zurück. Das immer wieder übermalte Bild bei Balzac spielt sichtbar eine „narrative“, auf die Kunst des Erzählens bezogene Folgerung ästhetischer Sprach- und Zeichen-Funktion aus. Es spricht aus diesem Bild eine der vielen möglichen Formen ästhetischen Umgangs mit Sprache und Vorstellung, nämlich die widersprüchliche („kontrafaktische“) Logik („la logique à rebours“ nach Brémond) des Erzählens selbst, dass man hier eben nicht von Voraussetzungen auf Folgen schließen kann: Alles kann aus allem folgen, jede Voraussetzung kann 39 Ursprünglich sollte auch Émile Zolas von Balzac beeinflusster Roman L’Oeuvre (1886) hier einbezogen werden. Aber dieser Künstler-Roman, teilweise ein Schlüssel-Roman - Zola war mit vielen Malern seiner Zeit befreundet, nicht zuletzt mit Cézanne, der ihm nach Erscheinen dieses Romans die Freundschaft aufkündigte -, erzählt zwar die Zerstörung eines Künstler-Lebens und einer Künstler-Liebe durch die Kunst, aber er erzählt in eins damit zugleich damit auch, wie eine ganz neue Kunstrichtung entsteht und sich durchsetzt: der französische Impressionismus. Dies ist eine fertige Geschichte, nicht ein Experiment ins Unbekannte hinein. Erzählte Bilder 91 immer korrigiert werden. 40 So entsteht in der Tat ein „offenes Kunstwerk“. Und natürlich spielt das immer neue Übermalen auch ganz direkt mit Balzacs eigenem Arbeitsprinzip, man kann es auch seine Arbeits-Obsession nennen, seine Texte während der Drucklegung und in den verschiedenen Stufen ihrer Entstehung und mehrfachen Publikation, oft auch gleich auf mehreren Druckfahnen, immer wieder neu zu be- und überarbeiten. Balzac „überschrieb“ immer wieder seine Texte, er überschrieb manchmal über zwanzig Druckfahnen, genau so, und die Parallele ist fast unübersehbar, wie sein „Meister“ sein Bild immer wieder übermalt. Aber das fiktionale Experiment des „erzählten Bildes“ verläuft viel radikaler; und genau das macht es theoretisch interessant. Balzac erzählt eine „ästhetische Funktion in actu “ ausgehend von der intellektuellen Dimension dreistellig begriffener Zeichen (ihrer „Drittheit“), fokussiert also auf die Entwicklung und Veränderung der „Modalität“ malerischer „Aussagen“, sofern man gegenständliche Darstellungen eben als falsifizierbare „Assertionen“, bzw. „dicentische“ Interpretationen lesen kann. Des heißt in der Radikalität Balzacs: Jede neue Übermalung korrigiert nicht nur den Realitätsbezug der vorhergehenden, es entsteht auch eine Folge von Negationen, die fortschreitend jeden überhaupt möglichen Bezug auf irgendeine Gegenständlichkeit tilgen. Auch Balzacs Bild ist letztlich nur ganz „offen“ („problematisch“, weder wahr noch falsch, als „Rhema“, 3.1) zu interpretieren, als „nicht eingeschränkte Vielfalt der möglichen Bedeutungen“. 41 Damit werden alle malerischen Zeichen: Linien, Farben, Nuancen usw., die gleichwohl, und jetzt ja erst recht, auf der Leinwand „definiert“ bleiben (legi-Zeichen), zu (indexikalischen) Zeichen ihrer selbst. Gerade Balzacs erzähltes Bild, wie das E. Th. A. Hoffmanns, aber auf ganz neue Weise, „bedeutet nicht, sondern ist“. Was für Kunst lässt sich von hier aus ansprechen? 40 Vgl. ausführlicher Verf.: „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung“ . Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Bd. IV. Hg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2009. 305-337, hier v. a. S. 307ff . 41 Eco, Das offene Kunstwerk , S. 168. 92 Hans Vilmar Geppert Abb. 8: Jackson Pollock, Full Fathom Five (1947) Dieses Bild, in dem man in der Tat und auf den ersten Blick eine faszinierende, künstlerisch lebendige „Wand von Farbe” erkennen kann, ist zugleich fast so etwas wie ein rückblickender Kommentar zu meiner ästhetisch-theoretischen Lektüre der Balzac-Erzählung. Manche sehen hier ein übermaltes Portrait, was der Titel Full Fathom Five ja auch nahe legt. Denn er spielt an auf eine der bekanntesten Stellen der englischen Literatur, Ariel’s Song aus dem 1. Akt, 2. Szene von Shakespeares The Tempest / Der Sturm (1611 erstmals aufgeführt, 1623 gedruckt): Full fathom five thy father lies; Of his bones are coral made; Those are pearls that were his eyes; Nothing of him that doth fade, But doth suffer a sea-change Into something rich and strange. Fünf Faden tief dein Vater ruht; Korallen wird nun sein Gebein, Aus seinen Augen wird Perlmutt: Was vergänglich und gemein, Ward gewandelt durch das Meer Zu Kostbarkeiten, reich und schwer. 42 42 Shakespeare, William: The Tempest / Der Sturm. Englisch / Deutsch. Dt. u. hg. v. Gerd Stratmann. Stuttgart 1982, S. 38 f. Erzählte Bilder 93 Ein „sea-change“, eine „Verwandlung durch das Meer“, wie Tod und Wiedergeburt, Zerstörung und Erneuerung, ist seitdem im Englischen ein Wort für eine totale Metamorphose. Und der Umstand, dass Ariel hier eine Lüge vorträgt, Ferdinands Vater ist ja keineswegs ertrunken, eine Phantasmagorie in der großen Phantasmagorie dieses Stückes, macht die Bedeutung dieses „Gesangs“ allgemein und grundsätzlich: „Nichts vergeht, aus allem entsteht etwas interessant und wertvoll Neues - strange and rich“. Ein kühnes Programm der Renaissance und ein Bekenntnis zum generativ Neuen und Unbekannten in der Kunst! So muss zumindest Jackson Pollock seinen Bildtitel Full Fathom Five verstanden haben; und - in aller Bescheidenheit - um die „Zerstörung“ gegenständlicher Kunst und ihren „seachange“ zu Formen des „offenen Kunstwerk“, um eine „Metamorphose der Ästhetik“ war es mir in meinem Vortrag gegangen. Wie auch immer, jetzt kommt mein letztes Beispiel: Abb. 9: Jackson Pollock, One. Number 31 (1950) Dieses Bild lässt vielleicht noch deutlicher an Balzacs Erzählung denken: künstlerisch durchkomponierte „gehäufte Farben“, die „eine Vielzahl bizarrer Linien“ durchzieht. Auf alle Fälle bedeutete seinerzeit die Verbindung solcher Kunst mit Balzacs Unbekanntem Meisterwerk den entscheidenden „Click“ in meinem Kopf und den Anstoß zu diesem Projekt. Auch wenn man, wie ich damals, nicht wüsste, dass Jackson Pollocks Bilder tatsächlich aus mehreren technisch variierenden „Übermalungen“ entstanden sind, auf deutsch: ein „polyfokales all-over“, 43 ist das nicht jedes Mal wieder aufs Neue eine „antikompositionelle […] Bedeutungsstruktur“, die in der Tat, so ein kompetenter Kunsthistoriker, wie „eine unübersichtliche Wand“ wirkt? 44 Hat Pollock nicht letztlich technisch und im Resultat als voll bewusste Kunst das gemalt, was Balzac entworfen hat, eine immer wieder neu faszinierende „muraille de peinture / eine Wand gemalter Farbe“? Literaturverzeichnis Balzac, Honoré de: „Le chef d’oeuvre inconnu“. La comédie humaine . Bd. 10. Hg. Pierre-Georges Castex, 12 Bde. Paris 1976-1981. Bauer, Matthias: Romantheorie. Stuttgart / Weimar 1997. Bense, Max: Zeichen und Design. Semiotische Prozesse. Baden-Baden 1971. Eco, Umberto: Das offene Kunstwerk. Dt. von Günter Memmert. Frankfurt 1973. 43 Iser, Wolfgang, Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen , S. 26. 44 Max Imdahl, Die Kunst der Moderne (zitiert nach Iser), S. 27. 94 Hans Vilmar Geppert -: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Dt. von Günter Memmert. Frankfurt 1977. Epigraph bei Wordpress (https: / / epigraphlac: wordpress.com/ 2014/ 09/ 09/ ). Geppert, Hans Vilmar: „Bedeutung als unendlicher Prozess: Charles S. Peirces Semiotik und ihre literatur- und medienwissenschaftlichen Perspektiven“. Theorien der Literatur I. Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2003. 141-164. -: Der realistische Weg. Formen pragmatischen Erzählens bei Balzac, Dickens, Hardy, Keller, Raabe und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1994. -: „Dreistellig-semiotische Erzähltheorie. Entwurf einer Orientierung“. Theorien der Literatur IV . Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2009. 305-337. -: „Honoré de Balzac ‚La comédie humaine / Die menschliche Komödie‘“. Große Werke der Literatur XII . Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen 2012. 61-87. -: Literatur im Mediendialog. Semiotik, Rhetorik, Narrativik: Roman, Film, Hörspiel, Lyrik und Werbung. München 2006. -: „‚Morgens im Spielkasino‘. Theorie eines literarischen Realismus im 19. Jahrhundert“. Theorien der Literatur V. Hgg. Günter Butzer und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2011. 117-139. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukács. Hg. Friedrich Bassenge. 2 Bde. Frankfurt o. J. Hoffmann, E. Th. A.: „Der Artushof “. Die Serapions-Brüder. Gesammelte Erzählungen und Märchen. Mit einem Nachwort von Walter Müller-Seidel. Hg. Wulf Segebrecht. Darmstadt 1968. 145-169. Iser, Wolfgang: „Von der Gegenwärtigkeit des Ästhetischen“. Theorien der Literatur . Hgg. Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen und Basel 2003. 9-28. James, Henry: „The Madonna of the Future“. Complete Stories 1864-1874. Literary Classics of the United States. New York 1999. 730-766. Keller, Gottfried: Sämtliche Werke und ausgewählte Briefe. Hg. Clemens Heselhaus, 3 Bde. München 1969. Nöth, Winfried: Handbuch der Semiotik. Stuttgart 2003. Rezension zur Ausstellung „Purer Zufall“ auf kultur.typepad .com (http: / / kultur.typepad.com/ kultur/ 2013/ 06/ der-zufall-als-k%C3%BCnstlerin-spannende-themenausstellung-sprengelmuseumhannover-purer-zufall.html). Shakespeare, William: The Tempest / Der Sturm. Englisch / Deutsch. Dt. und hg. von Gert Strattmann (Hg.). Stuttgart 1982. The Museum of Modern Art. New York. The History and the Collection. New York o. J. Zola, Émile: Une page d’amour. Hg. Colette Becker. Paris 1973. Drama als intermediales Genre 95 Drama als intermediales Genre Johanna Hartmann Die Intermedialität des dramatischen Textes kann nicht als isoliertes Phänomen beschrieben werden, da der dramatische Text in einem ständigen Wechselspiel mit anderen Künsten und Medien innerhalb des kulturellen Feldes steht. Das intermediale Potenzial des dramatischen Textes kann weiterhin nur in der Interrelation mit dem Theater gedacht werden, da sich Drama und (potenzielle) Inszenierungspraxen gegenseitig bedingen. D.h. die Ästhetik des dramatischen Texts ist ganz grundsätzlich mit den Rahmenbedingungen und Möglichkeiten der Inszenierung verbunden. Hier sind v. a. die Bühnen- und Theaterarchitektur gemeint, die das Verhältnis von Bühne und Zuschauerraum steuert, Schauspielkonventionen und -theorien, Bühnendesign und -technik, Kostümbildnerei u. a. 1 Das Verhältnis zwischen Drama, Theater und den Theaterkünsten kann somit als komplexer Prozess gegenseitiger Hervorbringung konzeptionalisiert werden. Für die Bestimmung von dramatischer Intermedialität ist aber auch die sinnliche Dimension der verschiedenen Erscheinungsformen, in dem ein Text erfahren, gelesen, imaginiert oder in dem konkreten Setting des Theaters angeschaut werden kann, von Bedeutung. Wenn es um die Frage nach dem Drama als intermediales Genre geht, lassen sich also mindestens drei zusammenhängende und teilweise aufeinander beruhende Untersuchungsebenen unterscheiden: eine ästhetische, eine transformatorische und eine rezeptionsästhetische. 2 Der intermediale Charakter des dramatischen Texts ergibt sich also als Konsequenz aus seiner Bezogenheit auf das Theater und der Tatsache, dass auf der Theaterbühne jede beliebige Medien- und Kunstform zum Einsatz kommen kann. 3 Bei jeder Neuentstehung von Medien- und Kunstformen findet eine Neujustierung und Neuausrichtung innerhalb des Medienspektrums, inklusive der zugehörigen Funktionen, statt, 4 die sowohl als Medien- 1 Vgl. Höfele, Andreas: „Drama und Theater: Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses“. Forum Modernes Theater 6 (1991): 10-16. Insbesondere Höfeles Gedanken zum Konzept der Werktreue, zum Textbegriff in der Theatersemiotik und zur Aufführung als Form der Übersetzung. 2 Vgl. Balme, Christoph: „Intermediality: Rethinking the Relationship between Theatre and Media”. THEWIS, THEWIS. Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 1 (2004): 1-18, hier S. 2. Balme merkt an, dass die mediale Sozialisation der Zuschauer die Erwartungshaltung an das Theater nachhaltig prägt. Die rezeptionsästhetische Ebene kann also nicht nur aus den im dramatischen Text angelegten Strukturen für potenzielle Rezeptionserfahrungen abgeleitet werden, sondern muss auch die sich verändernde mediale Bildung der Zuschauer im Blick haben. 3 Zu verschiedenen Konzeptionalisierungen von Medien im kulturellen Feld aus medienwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive siehe den Band von Jäger, Ludwig, Linz, Erika u. Irmela Schneider (Hgg.): Media, Culture, and Mediality . Bielefeld 2014. 4 Dies kann man z. B. bei der Entstehung der Fotografie oder des Films beobachten. Münsterberg beschreibt den Kunstcharakter des Films und seine medialen Spezifika in Abgrenzung zum Theater, aber auch schon der Titel seiner frühen Filmtheorie zeigt den genetischen Zusammenhang zwischen Film und Fotografie an. Münsterberg, Hugo: The Photoplay: A Psychological Study . New York und 96 Johanna Hartmann konkurrenz als auch als gegenseitig befruchtendes Verhältnis beschrieben werden kann. Das Theater bzw. das Drama befindet sich also in einem Abgrenzungsbzw. Inkorporationsprozess zu und gegenüber anderen Medien bzw. Künsten. Sontag beruft sich z. B. auf Wagner, Marinetti, Artaud oder auch John Cage, für die das Theater „a total art“ - also ein Gesamtkunstwerk - darstellt und das „potenziell alle anderen Künste in seine Dienste nimmt“. 5 Diese auf das Theater bezogene Aussage verbindet sie gleich darauf mit rezeptionsästhetischen Überlegungen: „And as the ideas of synaesthesia continue to proliferate among painters, sculptors, architects, and composers, theatre remains the favored candidate for the role of summative art“. 6 Die Frage, die sich hier anschließt, ist die nach dem Verhältnis der Künste auf der Bühne zueinander - ist hier von einer Synthese bzw. Hybridität, einer Konvergenz, oder, wie Sontag es beschreibt, einem Nebeneinander zu sprechen, das sich in Pfisters Konzept der Plurimedialität abzuzeichnen scheint? 7 Georgi bezeichnet das Theater als ein „multi- oder plurimediales Medium“, das sich jedes andere Medium einverleiben könne. 8 Der dramatische Text hingegen sei „monomedial“ und könne andere Medien nicht in ihrer ursprünglichen Materialität „enthalten“, sondern diese anderen Medien nur „evozieren“. 9 Diese ersten Überlegungen werfen verschiedene Fragekomplexe auf: Was bedeutet ,Intermedialität‘ in Bezug auf den dramatischen Text und dessen spannungsreiche Beziehung zum Theater als Ort der Inszenierung? Wie kann der Begriff ,Medium‘ sinnvoll definiert werden, wenn es um so verschiedene Dinge wie den literarischen Text und eine durch Schauspieler verkörperte Inszenierung geht? Inwiefern ist hierfür ein bestimmtes Verständnis des Kunstbegriffes relevant? Und von welchen Künsten sprechen wir, wenn wir von dem dramatischen Text als Literaturform und den ,anderen Künsten‘ sprechen? Was ist der Unterschied zwischen Inter-, Multi- und Plurimedialität und inwiefern kann man diese Konzepte hinsichtlich des dramatischen Texts und seiner Inszenierungen im Theater anwenden? Wenn wir an dieser Stelle Wolf folgen und Intermedialität als „jedes Überschreiten von Grenzen“ 10 zwischen Medien bzw. Kunstformen definieren, welcher Gestalt sind diese im Drama und im Theater? Obwohl das Drama durch seine Beziehung zum Theater prädestiniert für die Inkorporation anderer Medien ist und weiterhin das Forschungsfeld der (Inter-)Medialität seit den 1980er Jahren zu einem dominanten Forschungs- London 1917. Siehe zu diesem Aspekt auch Sontag, Susan: „Film and Theatre“. The Tulane Drama Review 11 (1966): 24-37. In diesem Artikel stellt Sontag folgende, einleitende Frage: „The big question is whether there is an unbridgeable division, even opposition, between the two arts. Is there something genuinely ‘theatrical,’ different in kind from what is genuinely ‘cinematic’? “ und entlarvt im folgenden essenzialistische Definitionen von Kinematizität und daraus folgende normative Kriterien als politisch-ideologisch motiviert (S. 24). Zu der Behandlung des Zusammenhangs zwischen Kunst und Medialität siehe weiterhin die folgenden Bände: Schade, Sigrid u. Georg C. Tholen (Hgg.): Konfigurationen: Zwischen Kunst und Medien . München 1999; Balme, Christopher u. Markus Moninger: Crossing Media: Theater - Film - Fotografie - Neue Medien . München 2004. (Insbes. den Beitrag „Vom ‚media-match‘ zum ‚media-crossing‘“ von Moninger). 5 Sontag, „Film and Theatre“, S. 36 (meine Übersetzung). 6 Sontag, „Film and Theatre“, S. 36 f. 7 Vgl. Sontag, „Film and Theatre“, S. 36; Pfister, Manfred: Das Drama: Theorie und Analyse. München 2001. 8 Georgi, Claudia: „Contemporary British Theatre and Intermediality“. Handbook of Intermediality: Literature - Image - Sound - Music . Hg. Gabriele Rippl. Berlin / Boston 2015. 530-546, hier S. 530. 9 Georgi, „Theatre and Intermediality“, S. 531. 10 Wolf, Werner: „Intermedialität“. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe . Hg. Ansgar Nünning. Stuttgart 2008, S. 327 f. Drama als intermediales Genre 97 paradigma in den Literaturwissenschaften avanciert ist, überrascht es, dass die in den Analysen von Prosatexten und Lyrik entwickelten Intermedialitätskonzepte erst punktuell auf den dramatischen Text angewandt wurden. Die theoretisch-systematische Perspektive von dramatischer Intermedialität wurde bisher eher vernachlässigt. 11 Im Bereich der Theaterwissenschaften ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier ist bereits eine größere Anzahl an Publikationen erschienen, die sich besonders in jüngerer Zeit speziell dem Thema der Intermedialität von Theateraufführungen widmet. 12 Für die Untersuchung der Intermedialität dramatischer Texte, die an der Schnittstelle zwischen Theater-, Literatur- und Medienwissenschaft zu situieren ist, ist es also aussichtsreich, verschiedene Forschungstraditionen und deren Erkenntnisse aufeinander zu beziehen. Dieser Aufsatz hat zum Ziel, Fragestelllungen der Intermedialität auf den dramatischen Text zu übertragen bzw. zu eruieren, inwiefern Fragestellungen und Konzepte aus der Intermedialitätsforschung auf dramatische Texte angewandt werden können. Im Folgenden werden dazu erstens die Spezifika des Genres Drama als Textgattung und das Verhältnis von Drama und Theater Thema sein. Im Anschluss daran sollen Intermedialitätskonzepte und konkurrierende Konzepte - Intermedialität, Multimedialität, Plurimedialität und Transmedialität - kontrastiert und kritisiert bzw. ihr Anwendungspotenzial für die Analyse von dramatischen Texten und Theaterinszenierungen herausgestellt werden. Schließlich werde ich auf ein Beispiel des amerikanischen Gegenwartsdramas - Anne Washburns Stück Mr. Burns: a Post-Electric Play - eingehen, um die intermedialen Dimensionen dieses Stücks zu analysieren, die vorgestellte Theoretisierung zu erproben und Stärken wie auch Schwächen des Ansatzes aufzuzeigen. Wie Pfister einleuchtend darlegt, definiert sich das Drama als Genre über seine Bezogenheit auf mögliche Inszenierungen im Theater, 13 was laut Marx „eine Eindeutigkeit der Gattung zu verhindern scheint.“ 14 Was das Drama von anderen Gattungen unterscheidet, ist sein „liminaler Charakter“, da es [das Drama, JH ] „nicht ‚nur‘ eine literarische Gattung [ist], sondern […] in seiner Bezogenheit auf die theatrale Darstellung über das literarische Gefüge hinaus[weist]. 15 Was den dramatischen Text also gattungstheoretisch von z. B. Lyrik oder Prosa unterscheidet, ist das in ihm angelegte Potenzial, ihn zur Anschauung zu bringen - d. h. ihn tatsächlich einem leiblich präsenten Publikum in durch Schauspieler 11 Das Thema der Intermedialität des Dramas ist bisher in Einzelstudien bearbeitet worden. Besonders hervorzuheben sind die Studien von Winkelmann, Hauthal und Merten. 12 Hier sei auf die Bände von Schoenmakers et al. und Chapple und Kattenbelt verwiesen, in denen Theaterwissenschaftler auf die Intermedialität v. a. des ,performance texts‘ eingehen. In Schoenmakers Band steht die Frage, ob man Theater als Medium beschreiben könne, im Mittelpunkt, Chapple und Kattenbelt bezeichnen hingegen das Theater als „stage of intermediality“. Theoretisch sind die Beiträge in Schoemakers Band theater- und medienwissenschaftlich ausgerichtet, wohingegen Chapple und Kattenbelt stark von Grusin und Bolters Konzept der „Remediation“ ausgehen und sich v. a. auf den Einfluss der digitalen Medien auf das Gegenwartstheater beziehen: Schoenmakers, Henri (Hg.): Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven; eine Bestandsaufnahme . Bielefeld 2008; Chapple, Freda und Chiel Kattenbelt (Hgg.): Intermediality in Theatre and Performance . Amsterdam 2007. 13 Vgl. Pfister, Manfred: Das Drama: Theorie und Analyse . München 2001. 14 Marx, Peter W: „Vorwort“. Handbuch Drama: Theorie, Analyse, Geschichte . Hg. Peter W. Marx. Stuttgart 2012. vii-viii, hier S. vii. Zum historischen Verhältnis von Drama und Theater, sowohl in praktischer als auch theoretischer Hinsicht, siehe auch Höfele, „Drama und Theater“. 15 Marx, Peter W.: „Dramentheorie“. Handbuch Drama: Theorie, Analyse, Geschichte . Hg. Peter W. Marx. Stuttgart 2012. 1-11, hier S. 1. 98 Johanna Hartmann verkörperte Handlung vor Augen (und Ohren) zu führen. 16 Da der dramatische Text die Theateraufführung präfiguriert, ist er auf eine zukünftige Wahrnehmbarkeit hin formuliert und strukturiert. Doch auch wenn die kulturelle Rezeption von dramatischen Texten hauptsächlich über Theaterinszenierungen organisiert ist, bleibt der dramatische Text immer auch ein Lesetext, 17 der sich im Gegensatz zur Performativität der Aufführung durch seine Textualität auszeichnet. Für ,Textualität‘ konstitutiv ist die Manifestation in einem ,Speichermedium‘ sowie die Möglichkeit, Inhalte aufgrund von Kohäsion und Kohärenz zu entziffern. 18 Performativität hingegen kann als der tatsächlich situative (Sprach-)Handlungsvollzug verstanden werden. 19 Das Drama steht nun zwischen diesen beiden Polen und seine jeweiligen historischen Formen sind in je unterschiedlichem Maße von einem dieser beiden Pole geprägt. 20 Birkenhauer fasst die Diskussion um das Verhältnis zwischen Drama und Theater mit folgenden Thesen zusammen: Erstens, „[d]as Theater realisiert die Literatur“, womit die Auffassung einhergeht, dass dramatische Texte in erster Linie für die Realisierung auf der Bühne gedacht sind; zweitens, „[d]as Theater verhindert die Literatur“, womit der Glaube verbunden ist, dass der dramatische Text durch die Interpretationsleistung des Theaterpersonals seine Bedeutungsoffenheit und Komplexität verliere; drittens, „[d]ie Literatur verhindert das Theater“, wobei gemeint ist, dass das Theater gar nicht in Bezug zum dramatischen Text gedacht werden kann, sondern als eigenständige Kunstform anerkannt werden muss. 21 Diese Thesen betreffen Ermöglichungsbzw. Verhinderungsstrukturen, die letztendlich die Hierarchisierung von dramatischem Text und Theateraufführung betreffen und die auch schon in Aristoteles‘ Poetik entdeckt werden können: „[D]ie Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter.“ 22 Aristoteles’ Verständnis ist also vom Primat des Textes geleitet. Wenn denn aber eine Aufführung erfolgen, bzw. der dramatische Text in Szene gesetzt und zur Anschauung gebracht werden sollte, wird von diesem Primat abgerückt und den anderen Theaterelementen, bzw. -künsten größere Bedeutung zugewiesen, da die Qualität der Aufführung und nicht allein die Qualität des Textes maßgeblich für den Effekt der Tragödie sei. Im Leseprozess ist also die Imaginationsleistung ausreichend, um die Wirkung der Tragödie hervorzubringen, in der konkreten Inszenierung hingegen wird die Wirkung der Tragödie durch Elemente der Inszenierung ermöglicht, kann durch diese aber auch gefährdet werden. Auch in jüngeren Ausprägungen des Theaters, wie z. B. dem postdramatischen Theater oder auch „Theater 16 Das griechische Wort theasthai bedeutet „anschauen“, das Theater ist also ein Ort des Sehens. 17 Vgl. Merten, Kai: Intermediales Texttheater . Berlin 2014. 18 Vgl. Baßler, Moritz und Wolfgang Thiele: „Textualität“. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe . Hg. Ansgar Nünning. Stuttgart 2008, S. 711 f. 19 Hempfer trifft in seinem Artikel die Unterscheidung zwischen Performance, die Untersuchungsgegenstand v. a. der Theaterwissenschaften ist, dem Konzept der Performanz, das in der generativen Grammatik dem Begriff der Kompetenz gegenübergestellt ist und dem sprachphilosophischen Konzept der Performativität, das dem von Austin und Searle begründeten Sprechakttheorie entstammt. Vgl. Hempfer, Klaus W: „ Performance , Performanz, Performativität: Einige Unterscheidungen zur Ausdifferenzierung eines Theoriefeldes“. Theorien des Performativen: Sprache - Wissen - Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme . Hg. Klaus W. Hempfer. Bielefeld 2011. 13-41. 20 Marx, „Begriffe“, S. 1. 21 Birkenhauer, Theresia: Schauplatz der Sprache - das Theater als Ort der Literatur: Maeterlinck, Čechov, Genet, Beckett, Müller . Berlin 2005. 22 Aristoteles: Poetik : Griechisch / deutsch. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2017, S. 25. Drama als intermediales Genre 99 jenseits des Dramas“ 23 resultiert die „Loslösung der Aufführung vom Primat des Textes“ 24 und die Fokussierung auf die „Materialität der Zeichen“ darin, dass die „aesthetische Erfahrung und Erfahrbarkeit von Raum und Zeit“ in den Vordergrund gestellt wird. Diesem Primat der Aufführung stellen andere, z. B. Tigges, ein dialogisches Verhältnis zwischen Drama und Theater gegenüber. 25 Für die Beschreibung von dramatischer Intermedialität ist es zielführend davon auszugehen, dass auch Entwicklungsprozesse in ihrer Diachronität beschrieben werden können. Für die theoretische Konzeptionalisierung von dramatischer Intermedialität erweist sich die Unterscheidung von drei Analyseebenen der Aufführungsanalyse des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann als hilfreich: „Ihr [die Inszenierungsanalyse, JH ] Ausgangspunkt ist eine verschränkte Dreiheit von Ebenen in ihrer wechselseitigen Beziehung“, „linguistischer Text; Inszenierungstext; performance text.“ 26 Es wird also von einem Neben- und Nacheinander verschiedener dramatischer ,Texte‘ ausgegangen. Nach Lehmann ist dies auf der ersten Stufe der „dramatische Text“ (bei Pfister das „Textsubstrat“), der aus der gedruckten Form eines Textes besteht. Davon zu unterscheiden ist der „Inszenierungstext“, 27 der als Potenzialstruktur für eine zukünftige Inszenierung aufgefasst werden kann und Transformationsanweisungen für das Theaterpersonal bereit hält. Diese Potenzialstruktur wird in den „Performance Text“ (was bei Pfister der „dramatische Text“ ist) transformiert. Der Performance Text entspricht also der ephemeren, nicht in derselben Form wiederholbaren und durch den Zuschauer synästhetisch erfahr- und anschaubaren Aufführung. 28 Das Drama kann also zum einen als literarischer Text angesehen werden, der sich klassischen literaturwissenschaftlichen Interpretationsmethoden und -theorien anbietet, aber auch auf einer zweiten Ebene, als „die konzeptionelle Anlage der Theateraufführung.“ 29 Unter Performance Text wird nun eine konkrete Aufführung verstanden, die mit theatersemiotischen, soziologischen oder auch phänomenologischen Methoden beschrieben werden kann. Der Charakter bzw. das Verhältnis dieser ,Texte‘ - dramatischer Text, Inszenierungstext und Performance Text - hängt entscheidend von den einzelnen (literarischen) Texten, aber auch der jeweiligen Theaterkultur ab, in der ein Text zur Aufführung gebracht wird. Für alle drei Ebenen ist das besondere Verhältnis von doppelter Textualität der Gattung Drama entscheidend: Der konventionelle dramatische Text be- 23 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M. 1999, S. 30. 24 Marx, „Dramentheorie“, S. 7. 25 Vgl. Tigges, Stefan: „Dramatische Transformationen. Zur Einführung“. Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Hg. Stefan Tigges. Bielefeld 2008. 9-27. 26 Lehmann, Hans Thies: „Die Inszenierung. Probleme ihrer Analyse“. Zeitschrift für Semiotik 11 (1989): 29-49, hier S. 34. 27 Hierzu siehe auch Elam, der die Frage nach der Beziehung zwischen dramatischem Text und performance Text untersucht. Elam, Keir: The Semiotics of Theatre and Drama . London, New York 1980, S. 209. 28 Im Zuge der Entstehung der Performance Studies und durch den sog. „performative turn“ erfuhr die Stellung der Aufführung und ihrer wissenschaftlichen Untersuchung eine Aufwertung. Siehe hierzu Hempfer, Klaus W. und Jörg Volbers: „Vorwort“. Theorien des Performativen: Sprache - Wissen - Praxis; eine kritische Bestandsaufnahme . Hgg. Klaus W. Hempfer und Jörg Volbers. Bielefeld 2011. 7-12, hier S. 7. Siehe auch Fischer-Lichte, Erika: Theater als Modell für eine performative Kultur: Zum performative turn in der europäischen Kultur des 20 . Jahrhunderts . Saarbrücken 2000. 29 Esch-van Kan, Anneka: „Dramen- und Aufführungsanalyse: Zum Verhältnis von Text- und Aufführung im amerikanischen Gegenwartstheater“. Schlüsselthemen der Anglistik und Amerikanistik: Key topics in English and American studies . Hg. Sonja Altnöder. Trier 2010. 71-92, hier S. 74. 100 Johanna Hartmann steht aus sowohl Haupt- und Nebentext, aus Dialog und Bühnenanweisungen, die in ihrer Gesamtheit den literarischen Text und gleichzeitig die Anleitung zur Realisierung auf der Bühne darstellen. Eingeschrieben sind diesen drei Zugängen unterschiedliche Formen der Rezeption, die aus unterschiedlichen Kommunikationssituationen zwischen Text, Aufführung und Leser bzw. Zuschauer resultieren und bei der Analyse von Intermedialität Berücksichtigung finden müssen. 30 Die konkrete Aufführung, der „Performance Text,“ zeichnet sich z. B. im Gegensatz zur Lektüre eines Dramas durch audiovisuelle Wahrnehmbarkeit, Performativität, Ereignishaftigkeit und Ephemeralität aus und weiterhin durch die Dimension der Theatralität, die die mimetische Imitation auf der Theaterbühne betrifft. 31 Der literarische Text hingegen manifestiert sich im Medium der Schrift, also seiner textuellen Konkretheit, die wiederum als Imaginationsgrundlage für den Leseprozess dient. Die Inszenierung zeichnet sich durch ihren Medienpluralismus aus: z. B. - u. a. gesprochene oder geschriebene Sprache, die Physiognomie der Körper der Schauspieler oder auch die Materialität der Gegenstände auf der Bühne. 32 Diese drei Ebenen können nur für Analysezwecke als isolierte Dimensionen betrachtet werden, deren Interdependenz immer mitgedacht werden muss, womit auch die Forderung nach Theorien- und Methodenpluralismus verdeutlicht wird. Um Wechselbeziehungen im kulturellen Feld zu beschreiben ist Fischer-Lichtes Konzept der Interartphänomene und -prozesse nützlich, da es ermöglicht, Verschiebungen im kulturellen Feld zu beschreiben. Als „Interart“ werden „Kunstwerke, -ereignisse und -prozesse bezeichnet, die aus der Überschreitung der Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten sowie zwischen Kunst und Nicht-Kunst hervorgehen“. 33 Interart kommt also ohne den Medienbegriff aus und bezieht sich nicht nur auf Kunst im traditionellen Sinne, sondern bezieht die materielle Umwelt bzw. Kultur mit ein: [w]ährend die traditionellen Kunstwissenschaften wie Literatur- und Musikwissenschaft oder Kunstgeschichte von einer prinzipiellen Unabhängigkeit der Künste voneinander ausgehen, setzen Interart-Studies ein dynamisches Kunstfeld voraus, das sich im Austausch mit anderen kulturellen Feldern befindet. 34 Fischer-Lichte führt die Interart Studies genetisch auf antike Kunstdiskurse (z. B. Aristoteles oder Simon von Keos) zurück, die das Verhältnis zwischen den Künsten zu bestimmen versuchten und unterscheidet zwischen Ansätzen, die die Künste kontrastieren, um deren Grenzen und Leistungsfähigkeit zu bestimmen (z. B. Horaz oder Lessing) und Ansätzen, die „das Zusammen- und Wechselspiel zwischen verschiedenen Künsten [fokussieren]“ (z. B. Goethe oder Wagner). 35 Die Überlappungsfelder dieser beiden Ansätze - zum einen der kontrastive und zum anderen der interaktive - werden in drei Dimensionen erkenn- 30 Vgl. Winkelmann, Intermedialität , S. 28 ff. 31 Siehe hierzu Barish, Jonas: The Antitheatrical Prejudice . Berkeley 1985. Barish macht den mimetischen Charakter der Theateraufführung für die Antitheatralität des Westens verantwortlich. 32 Siehe auch Schoenmakers, bes. die Beiträge von Huschka, Nibbelink und Klöck. Im singenden bzw. tanzenden Körper auf der Bühne können verschiedene Codes zusammenfallen. Boenisch schlägt für Tanzperformances die Konzepte „ coporeal , spatial , and sonic intermediality “ vor (in Chapple und Kattenbelt S. 152) oder vgl. Chapple „Digital Opera“. 33 Fischer-Lichte, Erika: „Interart“. Metzler Lexikon Theatertheorie . Hg. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart 2013. 161-164, hier 162 f. 34 Fischer-Lichte, „Interart“, S. 163. 35 Fischer-Lichte, „Interart“, S. 163. Drama als intermediales Genre 101 bar: Erstens in der Auffassung, dass in der „ paragone der Künste die Möglichkeit [erkannt wird, JH ], jede Kunst bzw. ‚die Kunst‘ schlechthin zur vollen Entfaltung ihres Potentials zu steigern oder sie sogar zur Selbstüberschreitung herauszufordern“; zweitens in der Überzeugung, dass „[i]n der Begegnung mit anderen Künsten, in Figurationen von Übergängen, Zwischenräumen und Grenzen“ Metareflexionen über die der jeweiligen Kunst eigenen Bedingungen möglich werden und drittens in der „Verwischung der Grenzen zwischen ‚Kunst‘ und ‚Leben.‘“ 36 Für Fischer-Lichte ist Intermedialität also nur eine Zugangsweise, um Interart zu verstehen. Einmal davon abgesehen, dass die Interrelation von Literatur und anderen Künsten und anderen kulturellen Feldern von keinem Literatur- oder Musikwissenschaftler ernsthaft infrage gestellt wird, ist doch die Annahme eines dynamischen Kunstfeldes, das sich ständig neu ordnet und arrangiert, sinnvoll, um über Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Kunst- und Kulturphänomenen zu sprechen. Gleichzeitig läuft ein so weit gefasstes Konzept Gefahr, Beschreibungskraft von Einzelphänomenen zu verlieren. In Intermedialitätsstudien der Literaturwissenschaft haben sich für die Genres Prosaliteratur und Lyrik starke Forschungstraditionen entwickelt, die grenzüberschreitende Phänomene untersuchen. Zu nennen wären hier z. B. Studien zur Ekphrasis, also der literarischen Beschreibung von Werken der bildenden Kunst in Prosa und Lyrik, 37 Studien zur Funktion von Photographie oder filmischen Techniken im Roman 38 oder der „Musicalization of Fiction“, wie Wolf die intermedialen Beziehungen zwischen Literatur und Musik bezeichnet. 39 Dass eine breite Forschung für das Genre Drama in Bezug auf Intermedialität weitgehend fehlt, ist meines Erachtens auf die zentrale Veranlagung des Dramas auf das Theater hin zurückzuführen. Erstens scheinen methodische Probleme - z. B. die doch hinsichtlich der Zugänglichkeit und Nachprüfbarkeit schwierige Analyse konkreter Aufführungen - ein Hindernis darzustellen. Weiterhin haben sich im vergangenen Jahrhundert sowohl an deutschen Universitäten wie auch an Universitäten im anglophonen Raum neben den Literaturwissenschaften die Theaterwissenschaften bzw. Theatre Studies institutionalisiert, was z. T. sowohl in einem Konkurrenzverhältnis bzgl. des Untersuchungsgegenstands als auch der anzuwendenden Methoden einherging. Der literarische Text wurde zum primären Untersuchungsgegenstand für Literaturwissenschaftler, die konkrete Aufführungspraxen Fokus theaterwissenschaftlicher Untersuchungen. Bezüglich der jüngeren wissenschaftlichen Konzeptionalisierungen von Intermedialität kann zwischen zwei Traditionen unterschieden werden, die beide in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts beginnen. In den USA der 1960er Jahre etabliert Dick Higgins das Konzept „Intermedia“, eine Herangehensweise an die Performancephänomene Fluxus und 36 Fischer-Lichte, „Interart“, S. 164. 37 Für einen Forschungsüberblick zum Thema literarische Beschreibung in englischsprachigen Texten inklusive Forschungsüberblicke zum Thema Ekphrasis siehe z. B. Rippl, Gabriele: Beschreibungs-Kunst: Zur intermedialen Poetik angloamerikanischer Ikontexte ( 1880 - 2000 ) . München 2005; Rippl, Gabriele (Hg.): Handbook of Intermediality: Literature - Image - Sound - Music . Berlin 2015; Drügh, Heinz J.: Ästhetik der Beschreibung: Poetische und kulturelle Energie deskriptiver Texte ( 1700 - 2000 ) . Tübingen 2006. 38 Vgl. Poppe, Sandra: Visualität in Literatur und Film: Eine medienkomparatistische Untersuchung moderner Erzähltexte und ihrer Verfilmungen . Göttingen 2007. 39 Wolf, Werner: The Musicalization of Fiction: A Study in the Theory and History of Intermediality . Amsterdam 1999. 102 Johanna Hartmann Happening, die auf ein Überlappen verschiedener Kunstformen abzielt. 40 Davon zu unterscheiden ist die Intermedialitätsforschung im deutschsprachigen Raum, die Anfang der 1980er Jahre von Aage Hansen-Löve geprägt wurde. 41 Hier sind insbesondere die Studien und Publikationen von Wolf, Rajewski und Paech einschlägig und wie die Studien von Winkelmann, Merten, Hauthal, Chapple gezeigt haben, anschlussfähig für eine Konzeptionalisierung dramatischer Intermedialität. Die Frage nach dramatischer Intermedialität kann zum einen durch die „literarisch-ästhetische[] Bestimmung“ des Textes und weiterhin durch „den Bezug zum Theater“ geschehen. 42 Die Definition von Intermedialität hängt dabei entscheidend von der Definition des Medienbegriffs ab. Literaturtheoretische Bestimmungen setzen den Medienbegriff oft mit „Kunstformen“ gleich, wie dies z. B. bei Rajewsky oder Wolf der Fall ist. Rippl bemängelt zu Recht, dass der Medienbegriff als Synonym für ,Kunst‘ zu kurz greift, um z. B. literarische Ekphrasen zu beschreiben und schlägt stattdessen vor, den Medienbegriff im Bezug auf verschiedene Kontexte zu definieren. 43 Obwohl Intermedialität in den Theaterwissenschaften als fruchtbarer Forschungsansatz angesehen wird, ist die Frage nach Medialität, und spezifischer, ob das Theater selbst als Medium anzusehen ist, nicht konsensual geklärt. 44 Balme z. B. fordert, dass sich die Theaterwissenschaften von dem Konzept der Medienspezifizität ab- und einem Ausgehen von Intermedialität zuwenden, um der Fülle der sich ständig verändernden Medienlandschaft gerecht zu werden. 45 Die Konzepte „Multimedialität“ und „Plurimedialität“ konkurrieren mit dem Begriff der Intermedialität und suggerieren ein additives Verhältnis bzw. ein Nebeneinander der Künste. Dieses Nebeneinander ist allerdings von Konzepten zu unterscheiden, die eine Synthese verschiedener Künste in der Aufführung fordern, wie dies z. B. bei Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks der Fall ist. Auch Mitchell geht davon aus, dass Medienreinheit eine Illusion ist bzw. nur für analytische Zwecke angenommen werden kann, wenn er behauptet „there are only mixed media“ und „all media are mixed media.“ 46 Weiterhin zu nennen ist das Konzept der Transmedialität, das sich auf medienübergreifende, bzw. -unabhängige Phänomene bezieht, z. B. als Parodie, Ironie oder Narrativität. Der Begriff „Intermedialität“, der 1983 von Aagen Hansen-Löve definiert wurde, entwickelte sich zu einer eigenen Forschungsrichtung, innerhalb derer die Konzepte Interme- 40 Vgl. Higgins, Dick: „Intermedia“. Leonardo 34 (2001): 49-54. 41 Vgl. Hansen-Löve: „Intermedialität und Intertextualität: Probleme der Korrelation von Wort- und Bildkunst“. Dialog der Texte: Hamburger Kolloquium zur Intertextualität . Hgg. Wolf Schmid und Wolf- Dieter Stempel. Wien 1983. 291-360. 42 Marx, „Dramentheorie“, S. 1. 43 Rippl, Beschreibungskunst , S. 42-45. 44 Vgl. Kotte, der argumentiert, dass das Theater als Medium zu bezeichnen keinen epistemologischen Gewinn bedeutet und sogar noch die Spezifika und besondere gesellschaftliche Bedeutung des Theaters verschleiere. Er schlägt stattdessen vor, sich die „Medialität des Theaters“ als einen Aspekt des Theaters anzusehen, nicht das Theater als Medium selbst zu definieren. Kotte, Andreas: „Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat. Über Fortschritte der Medien und Wandlungen von Theater“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven . Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008, S. 31-41. 45 Balme, „Intermediality“, S. 2. Siehe auch Balme, Christopher: „Theater zwischen den Medien: Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung“. Crossing Media: Theater - Film - Fotografie - Neue Medien . Hgg. Christopher Balme und Markus Moninger. München 2004. 13-31. 46 Mitchell, W. J. T.: Picture Theory: Essays on Verbal and Visual Representation . Chicago 1995, S. 5. Drama als intermediales Genre 103 dialität und Medium unterschiedlich definiert werden. 47 Das Präfix „inter“ wird im Duden Fremdwörterbuch definiert als „Präfix mit der Bedeutung ,zwischen‘ (lokal, temporal u. übertragen)“. 48 Ausgehend von der reinen Wortbedeutung beschreibt Intermedialität einen Zwischenbereich zwischen verschiedenen Medien. 49 Allgemein kann man zwischen drei Formen der Intermedialität unterteilen: Medienkombination, Medienwechsel und intermediale Bezüge 50 , die in weitere Kategorien unterschieden werden können. Die fehlende Spezifizität des Medienbegriffs bringt Caduff folgendermaßen auf den Punkt: „der Begriff des Mediums bzw. der Medialität [reicht] in seiner ganzen Spannbreite vom naturwissenschaftlichen ‚Transmitter‘ (in der Chemie und der Physik) bis hin zum Esoterischen, wo das ‚Medium‘ als Schaltstelle zwischen dem Dies- und Jenseits fungiert. Intermedialiät ist also kein selbstsprechender Terminus“. 51 Wolf schlägt vor, die Konzepte Intermedialität und Medium zu definieren als in einem weiten Sinn jedes Überschreiten von Grenzen zwischen konventionell als distinkt angesehenen Ausdrucks- oder Kommunikationsmedien ; in einem engeren […] Sinn […] die eine in einem Text nachweisliche Einbeziehung mindestens eines weiteren (verbalen) Textes bezeichnet, eine in einem Artefakt nachweisliche Verwendung oder (referentielle) Einbeziehung wenigstens zweier Medien. […] Die Möglichkeit, ‘Medium’ im engeren, technischen Sinn aufzufassen, wird heute in der Intermedialitätsforschung oft zugunsten eines weiten Mediumsbegriffs unter Einschluss der traditionellen Künste aufgegeben […]. 52 Er unterscheidet verschiedene Typen von Intermedialität nach der „Art der beteiligten Medien“, deren „Dominanzbildung“, nach der „Quantität der intermedialen Bezugnahmen“, der „Genese“ und besonders nach der „Qualität des intermedialen Bezuges“. Wolf unterscheidet hier weiterhin zwischen „manifeste[r] Intermedialität“, bei der „die beteiligten Medien als solche an der Werkoberfläche unabhängig von einer möglichen Dominanzbildung erhalten und unmittelbar erkennbar [bleiben]“. Hierzu zählt er auch den „dramatischen Text“, womit er die Aufführung meint. Für die manifeste Intermedialität ist weiterhin wichtig, inwiefern die beteiligten Medien zusammenwirken bzw. nebeneinander besten. Er unterscheidet hier zwischen „Kontiguität“ auf der einen und „Synthese“ auf der anderen Seite. In Opposition zur manifesten Intermedialität steht die „verdeckte Intermedialität“, bei der stets eine bestimmte Dominanzbildung stattfindet, so dass ein nicht-dominantes Medium als Folge eines Medienwechsels im dominanten Medium eines Werkes aufgeht, von diesem quasi verdeckt 47 An dieser Stelle sei exemplarisch auf die Veröffentlichungen von Helbig, Rajewsky, Wolf, Jürgen E. Müller, Mathias Mertens, Bernd Herzogenrath, Gabriele Rippl oder Peter Wagner verwiesen. 48 Duden: Das Fremdwörterbuch . Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich 2001, S. 449. 49 Vgl. Herzogenrath, Bernd: „Travels in Intermdia[lity]: An Introduction“. Travels in intermedia[lity]: Reblurring the Boundaries . Hg. Bernd Herzogenrath. Hanover 2012. 1-14. 50 Siehe Hockenjos zur Gegenüberstellung von Rajewskys und Wolfs Konzepten. Hockenjos, Vreni, und Nicole Schröder: „Historisierung und Funktionalisierung. Zur Intermedialität, auch in den skandinavischen Literaturen um 1900“. Historisierung und Funktionalisierung: Intermedialität in den skandinavischen Literaturen um 1900 . Hgg. Stephan M. Schröder und Vreni Hockenjos. Berlin 2005. 7-35, hier S. 14. Hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Medien haben sich unterschiedlichste Terminologien herausgebildet, z. B. bezeichnet Kattenbelt diese Beziehungen als Multi-, Transbzw. Intermedialität. Kattenbelt, Chiel: „Multi-, Trans- und Intermedialität: Drei unterschiedliche Perspektiven auf die Beziehungen zwischen den Medien“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven . Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 125-132. Moninger hingegen schlägt die Begriffe „media-match“ bzw. „media-crossing“ vor. 51 Caduff, Corina: Die Literarisierung von Musik und bildender Kunst um 1800 . München 2003, S. 91. 52 Wolf, „Intermedialität“, S. 327. 104 Johanna Hartmann wird und deshalb an der Werkoberfläche nicht mehr in jedem Fall erkennbar ist. Ein Beispiel wäre die literarische Darstellung von bildender Kunst oder auch die Referenz auf ein Werk der bildenden Kunst im Haupt- oder Nebentext eines dramatischen Texts. Rajewski wiederum bezeichnet intermediale Bezüge als „Phänomene, denen die Frage nach den grundsätzlichen Möglichkeiten der literarischen Bezugnahme auf andere Medien und damit nach den Formen und Funktionen intermedialer Verfahren der Bedeutungskonstitution zugrunde liegt“. 53 Sie definiert den intermedialen Bezug als einen „(fakultativen) Bezug, den ein mediales Produkt zu einem Produkt eines anderen Mediums oder zum anderen Medium qua System herstellen kann“. 54 Das Konzept von Medium, das Rajewski vertritt ist an eine frühere Definition von Wolf angelehnt und erlaubt es, sowohl z. B. Literatur, die nur ein semiotisches System verwendet, als auch den Film, der mehrere semiotische Systeme verwendet, die ihrerseits wiederum anderen Medien zuzuordnen sind, jeweils als ‚(Einzel-)Medien‘ zu definieren. Angelehnt an o. g. Definitionen können sowohl Drama als auch Theater als sowohl Kulturformen und Medien konzeptualisiert werden. Wenn es allerdings um den Komplex Drama - Theater - Inszenierung geht, was kann dann als Medium definiert werden? Der literarische Text als verbal kodiertes Artefakt? Das Theater als Kulturinstitution, das den literarischen Text vermittelt? Die Requisiten, die Materialität der Bühne bzw. das Bühnendesign oder die Schauspieler, die durch ihre Verkörperung dem Text eine Stimme, eine Betonung und einen körperlichen Ausdruck geben? Die Kostümbildnerei, die diese Körper kleidet, ihnen eine kulturell kodierte Form gibt? Es soll hier ein System von Medialitäten verschiedener Ordnungen vorgeschlagen werden, das sich auf die oben skizzierten Analyseebenen von dramatischem Text stützen. Auf der ersten Analyseebene, dem dramatischen Text als literarischem Artefakt, ist v. a. die Textästhetik und das komplexe Wechselverhältnis bzw. Aufeinanderbezogensein von Haupt- und Nebentext von Bedeutung. Beide Textformen weisen unterschiedliches Potenzial zu intermedialen Bezugnahmen zu anderen Medien oder Kunstformen auf, z. B. Bezüge zur bildenden Kunst oder Musik - eine Figur beschreibt ein Bild (George Cram Cook, Change Your Style ), in der Bühnenanweisung wird eine Skulptur beschrieben (Eugene O’Neills, The Hairy Ape ), im Nebentext wird der Titel eines Liedes genannt, das im Hintergrund gespielt wird oder eine Figur singt ein Lied (Tennessee Williams, A Streetcar Named Desire ). In manchen Fällen gibt es auf der paratextuellen Ebene des dramatischen Texts Abbildungen oder Skizzen zur Bühnengestaltung oder auch Fotos vergangener Inszenierungen. Diese Anlagen im Text konstituieren Dimensionen der Inszenierung, die vom Text ,gefordert‘ werden. 55 Die Elemente des Texts sind auf die Evokation im Leser angelegt, beziehen sich aber auch auf die zweite Ebene, die 53 Rajewsky, Irina: Intermedialität . Tübingen 2002, S. 3. 54 Rajewksy, Intermedialität , S. 17. 55 Manfred Pfister definiert in Das Drama als Kennzeichen des Dramas seine „Plurimedialität der Textpräsentation“. Er unterscheidet zwischen „Textsubstrat“ (konstant), der „sprachlich manifestiert“ ist, und dem szenisch realisierten Text, der für ihn den eigentlichen „dramatischen Text“ darstellt. Dieser „dramatische Text“ ist durch seine Kombination „sprachlicher, […] außersprachlich-akustischer und optischer Codes [ein] synästhetischer Text.“ Aufführungen von Dramen sind dabei zugleich konstant und variabel, da sie sich zwar auf das Textsubstrat (konstant) beziehen, aber nicht um das „Einbringen eines Informationsüberschusses umhinkommen“. Bei Pfister kommt die Beziehung zwischen „dramatischem Text“, der bei ihm ein szenisch realisierter ist, und den Sinneswahrnehmungen besondere Bedeutung zu. Der „dramatische Text“ ist also ein „strukturierter Komplex visueller Einzelcodes“. S. 24-25. Drama als intermediales Genre 105 des Inszenierungstextes. Hier ist nicht nur die Imagination des Lesers, sondern auch die des dramaturgischen Personals angesprochen. Hiermit sind alle Phänomene gemeint, die den Medienwechsel betreffen, also die Transformationsleistung von dramatischem Text in eine konkrete Aufführung. Auf dieser zweiten Ebene ist Intermedialität als Potenzial vorhanden, das noch nicht materiell konkretisiert ist, aber eine Fülle von Quellen, die für die Intermedialitätsforschung wichtig sind, hervorbringt. Im Gegensatz zum Bezug auf schon existierende Werke der bildenden Kunst, sind im dramatischen Text in der Beschreibung der Bühne die Theaterkünste - z. B. Bühnendesign, Lichteffekte, oder auch Musik bzw. die Geräuschkulisse - als Potenzial angelegt und werden in ihm entworfen und in Vorbereitung auf die einzelnen Inszenierungen erst geschaffen. Auf dieser Ebene entstehen eine Reihe von ,Texten‘ und Materialien, die diese Transformationsstufe kennzeichnen, z. B. ein Lichtplot, Anmerkungen des Dramaturgen, des Regisseurs, der Schauspieler, Entwürfe zu Kostümen, Zeichnungen zum Bühnendesign, Requisiten etc. Auf dieser Ebene ist dadurch ein Informationsüberschuss im Vergleich zum literarischen Text angelegt, der dadurch zustande kommt, dass der Text notwendigerweise Leerstellen enthält, die durch zum einen den Leser, zum anderen das Theaterpersonal gefüllt werden. Die Inszenierung ist ganz grundsätzlich auf diese Texte angewiesen. Wie der Stellenwert der Bühnenkünste eingeschätzt wird - ob zentral zur Bedeutungsstiftung einer Aufführung beitragend oder nur dekorativ oder ornamental - ist von der jeweiligen Theaterkultur abhängig. Als neue, transitorische Kunstform und gleichzeitige (Bild-)Quellen müssen also Zeichnungen und Bühnenentwürfe in den Blick genommen werden. Gerade die Beziehung zwischen Nebentext und Bühnenentwurf als Form der visuellen bzw. bildenden Kunst als intermediales Verfahren ist bisher kaum untersucht worden. Hierfür ist die problematische Quellenlage verantwortlich, handelt es sich bei diesen Entwürfen doch um transitorische Phänomene, die nur für namhafte Bühnendesigner oder wichtige Aufführungen erhalten, archiviert und somit für die Forschung zugänglich gemacht worden sind. Im Performance Text findet dieses Potenzial nun auch eine materiell konkrete Ausgestaltung, die sinnlich wahrgenommen werden kann. Auf dieser dritten Analyseebene kann man von Medienkombination, der plurimedialen Erscheinung der durch den Schauspieler verkörperten Performance, dem Nebeneinander aber auch Zusammenwirken bzw. der Synthese der verschiedenen materiellen Erscheinungsformen auf der Bühne sprechen. Mit diesen drei Ebenen sind verschiedene Rezeptionsformen bzw. Formen des Sich-vor-Augen-Stellens verbunden: Die Imagination des Lesers auf der ersten Stufe, die imaginative Transformation durch das Theaterpersonal auf der zweiten Stufe und die sinnliche und synästhetische Anschauung durch das Publikum auf der dritten Stufe. Wenn wir Wolfs Analyseinstrumentarium anwenden, liegt im Fall des dramatischen Texts eine verdeckte Intermedialität vor. Die Nennung des Titels einer Skulptur oder deren Beschreibung im Nebentext wird dann in der Aufführung zu einem Fall manifester Intermedialität. Beim Drama wirken diese Intermedialitätsformen also komplex ineinander, sind doch im dramatischen Text intermediale Bezüge angelegt, die zum Medienwechsel, also der - wie Röttger aufzeigt - dynamischen 56 Transformation in eine Inszenierungspraxis führen. In der konkreten Aufführung kann man von Medienkombination sprechen, wobei 56 Vgl. Röttger, Kati: „Intermedialität als Bedingung von Theater: methodische Überlegungen“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven; eine Bestandsaufnahme. Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 117-124. 106 Johanna Hartmann geklärt werden muss, wie stark und auf welche Weise die Medien zusammenwirken. Wie für die Genres Prosa und Lyrik gilt auch für die Gattung Drama, dass intermediale Bezüge auf verschiedenste Weise funktionalisiert werden können - zur Illusionsbildung, zur Zerstörung derselben, zur symbolischen Aufladung oder zur Schaffung metaästhetischer Reflexionsräume, die sich auf die hypostasierte Medialität auf den jeweiligen Analysestufen beziehen. Eine Konzeptualisierung von Intermedialität in Bezug auf Drama und Theater muss also immer in einem konkreten historischen Kontext verankert sein, da die Formen der Textgestaltung in Bezug zur technologischen Entwicklung und der gesellschaftlichen Nutzung von Medien einem ständigen Wandel unterworfen sind. Eine umfassende, literaturwissenschaftliche Beschreibung intermedialer Bezüge im amerikanischen Drama muss erst noch geschrieben werden. Grundsätzlich kann aber festgestellt werden, dass das Drama immer schon dazu genutzt wurde, neu entstandene Medien zu reflektieren bzw. dass das Theater neue Medien nutzt, um seine eigene Leistungsfähigkeit zu reflektieren. So wird z. B. bei Dion Boucicaults Melodrama The Octoroon 57 aus dem Jahr 1859 eine Fotografie zum entscheidenden Beweisstück in einem Mordfall. Besonders in der Moderne flossen verschiedene avantgardistische Stilrichtungen wie der Expressionismus, der Futurismus oder der Surrealismus in die Bühnenpraxis ein und wurden von Dramatikern der Moderne aufgenommen. 58 Gleichzeitig wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts die Rolle der Theaterkünste grundsätzlich neu reflektiert. 59 Kunstformen, die heute im Theater dargestellt werden, sind z. B. die bildenden Künste, Fotografie, Film, 60 Fernsehen oder auch digitale Medien bzw. das Internet. 61 In Anne Washburns Stück Mr Burns: A Postelectric Play ist die Bevölkerung der USA zu 90 % einem weltweiten nuklearen Super- GAU zum Opfer gefallen. Die Überlebenden versuchen weiter zu überleben, ihre Liebsten wiederzufinden und die nuklear verseuchten Gebiete zu vermeiden. Alle elektrischen Stromquellen sind versiegt. Die Infrastruktur, große Teile der materiellen Kultur und die meisten Kulturgüter sind zerstört bzw. nicht mehr zugänglich. Der erste Akt dieses postapokalyptischen Stücks stellt nun den Versuch der Protagonisten dar, die Folge „Cape Feare“ der TV -Serie The Simpsons zu rekonstruieren. Diese rekonstruierte Textversion ist die Keimzelle einer sich im zweiten Akt entwickelten Performance- und Theaterkultur. Der dritte Akt besteht aus einer opernhaften Auffüh- 57 Zum Thema Fotografie im Theater siehe Ruchatz, Jens: „Zeit des Theaters / Zeit der Fotografie“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven. Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 109-116. 58 Nur exemplarisch kann hier auf die Studie von Winkelmann zur Rolle des Expressionismus im Werk Eugene O’Neills oder die Aufsätze von Gruber und Berghaus zur Rolle des Futurismus im Theater verwiesen werden. Siehe auch den Band von Schoenmakers, der sowohl theoretische Aufsätze als auch Einzelstudien umfasst. Gruber, Klemes: „Das intermediale Jahrhundert: Die Saison 1922 / 1923“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven . Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 141-159; Berghaus, Günter: „The Use of Audio-Visual Media in Italian Futurist Theatre“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven . Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 133-139. 59 Einschlägig sind hier die Theorien von Richard Wagner, Adolphe Appia, Gordon Craig, Robert Edmond Jones oder Lee Simonson. 60 Vgl. Eke, Norbert O.: „Intermedialität und Theatralisierung: Peter Greenaways Film-Theater“. Crossing Media: Theater - Film - Fotografie - Neue Medien . Hgg. Christopher Balme and Markus Moninger. München 2004. 121-146. 61 Siehe z. B. Glesner, Julia: „Theater und Internet: Eine medientheoretische Annäherung“. Crossing Media: Theater - Film - Fotografie - Neue Medien . Hgg. Christopher Balme und Markus Moninger. München 2004. 205-216. Drama als intermediales Genre 107 rung, die auch auf dieser Folge der Simpsons beruht, aber auch die griechische Tragödie oder amerikanische Popmusik zitiert. In diesem Stück ringen die Figuren sowohl um ihr Überleben als auch um den Wiederaufbau bzw. die Rekonstruktion einer Gesellschaft aber auch einer Kulturlandschaft ohne elektrische Energie, die durch die Aktivierung von verkörperter Erinnerung Spuren der erloschenen Kultur verzeichnet, reaktiviert und deren Weiterentwicklung inszeniert - Vorgänge, die im Stück als Formen der Intermedialität gekennzeichnet sind. Anne Washburns Stück fragt also nach der Zukunft von Gesellschaft und Gemeinschaft, Zivilisation und Kultur und vor allem nach dem Wesen von Kunst und Kultur nachdem elektrische Energiequellen zerstört bzw. versiegt sind. Auf diese Weise thematisiert das Stück die Fragilität unserer gesellschaftlichen Konstitution, die aus riskanten Energiequellen aber auch durch die zunehmende Digitalisierung und Mediatisierung unserer Lebenswelt herrührt. Impliziert ist auch die Unsicherheit unserer Zugänglichkeit zu Kulturgütern bzw. die Tatsache, dass der Zugang zu medial vermittelter Kunst von unserem Zugang zu Strom abhängt. Das Theater wird im Stück zum ästhetischen Reflexionsraum, der zudem einen öffentlichen Ort für performative Praktiken darstellt, der auch ohne Strom auskommt. Bereits zu Beginn des Stücks wird deutlich, dass Möglichkeiten der Produktion und Erfahrbarkeit von Kunst und Kulturprodukten von ihrer medialen Konstitution abhängt. Im ersten Akt, der in der nahen Zukunft und eineinhalb Monate nach einem nuklearen Super- GAU in den USA verortet ist, sehen wir eine Gruppe von fünf Menschen, die versuchen in dem zum Großteil aus nuklearen Todeszonen bestehenden Kontinent zu überleben. Die zentrale Quelle intermedialer Bezüge, wie dies schon durch den Titel deutlich wird, ist die US -amerikanische Serie The Simpsons . Auch in dieser Fernsehserie wird die Gefahr durch nukleare Energie gleich in der einführenden Introsequenz dargestellt: Eine inszenierte Kamerafahrt zeigt gleich zu Anfang den Atommeiler von Springfield, wir sehen wie Homer Simpson leichtfertig mit Nuklearmaterial umgeht und wir sehen die Figur Mr. Burns, den ruchlosen und auch rücksichtslosen Industriekapitalisten, dem das Atomkraftwerk von Springfield gehört. In diesem ersten Akt versuchen die Protagonisten in Washburns Stück die Folge „Cape Feare“, die Dialoge und deren chronologische Anordnung zu erinnern. In dieser ersten Phase der reinen Rekonstruktion bzw. Suche nach der ,richtigen‘ Fassung greifen die Figuren auf ursprüngliche und archaische Formen des Oral Story Telling und Formen des kollaborativen Erzählens zurück. Diese Passage findet signifikanterweise um ein Lagerfeuer herum statt, und ruft den amerikanischen Frontiertopos auf. Für die Figuren ist es ein grundlegendes Bedürfnis, einen zentralen Text der verlorenen Kultur zu rekonstruieren. Dass dieser Text der TV -Serie The Simpsons entstammt, wurde in der Forschung kontrovers bewertet: Auf der einen Seite als Armutszeugnis unserer jetzigen Gesellschaft, in der ein traditioneller Literaturkanon nicht mehr notwendigerweise zum Allgemeinwissen gehört, sind es doch nicht die Texte von Shakespeare, Dickinson, Whitman oder O‘Neill, die im Zentrum stehen; andererseits ist The Simpsons eine zentrale Quelle für Referenzen, Adaptationen oder auch Parodien der amerikanischen und auch europäischen Hoch- und Populärkultur, v. a. der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Unter den intertextuellen und intermedialen Dimensionen, die das Stück durch den Bezug auf „Cape Feare“ aufruft, sind zentrale Text- und Interpretationstraditionen der westlichen Zivilisation - u. a. die westliche Theatertradition, die Literatur- und Filmgenres Horrorfilm, Psychothriller, Gerichtsdrama, Romanverfilmung, Operette, Musical, mündliche Erzählkultur und Fernsehen. 108 Johanna Hartmann Schon im ersten Akt wird Literaturrekonstruktion mit Literaturinterpretation verbunden und dient so zur Kommunikation ethischer Werte in dieser neuen Gesellschaft, die durch Anarchie und den Kampf um die noch verbleibenden Ressourcen und Konsumgüter gekennzeichnet ist. Z. B. im folgenden Austausch über die äußerst gewalttätige TV -Serie Itchy and Scratchy , die sich Bart und Maggie ansehen und die als zum Extrem gesteigerte Adaptation der TV -Serie Tom and Jerry interpretiert werden kann. Jenny: It‘s incredibly violent. Matt: It‘s shockingly violent. And they think it’s hilarious. Maria: Because they always die, right? They always die - […] Matt: Itchy is the cunning mouse who always kills Scratchy who is the cat. And Bart and Lisa always think it‘s completely hilarious, it’s disturbin, it’s awesome 62 Die Folge „Cape Feare“ der TV -Serie The Simpsons ist wiederum eine Parodie zweier Filme, zum einen des Films Cape Fear von J. Lee Thompson aus dem Jahr 1962 und zum anderen des Films Cape Fear von Martin Scorsese aus dem Jahr 1991. Beide Filme sind Adaptationen des Romans The Executioners von John D. MacDonald aus dem Jahr 1957. In all diesen Texten geht es um die versuchte Zerstörung einer ,nuclear family‘, die als Grundbaustein der amerikanischen Gesellschaft angesehen werden kann. In sowohl dem Roman als auch den Verfilmungen geht es um eine Familie, die von einem aus dem Gefängnis entlassenen Vergewaltiger tyrannisiert wird, da er den Vater der Familie für die Höhe seiner Strafe bzw. seine Verurteilung verantwortlich macht. Das Stück ist also das Resultat vielfacher und komplexer Formen der Adaptation, von intermedialen und intertextuellen Transformationen, die in Aktualisierungen verschiedener Medialitäten resultieren. Im Film von 1991, der vielleicht bekanntesten Version, wird der Stalker von Robert de Niro gespielt, der durch seine dominante Körperlichkeit auffällt. Seine Zeit im Gefängnis hat er mit dem intensiven Studium von Texten unserer Zivilisation und der amerikanischen Gesellschaft - die King James Bible und verschiedene Gesetzestexte - verbracht, die er nun für seine eigenen Racheanliegen auslegt. Diese Form der dogmatischen Textinterpretation manifestiert sich in den Tätowierungen von Textstellen aus der King James Bible 63 , die in seinen Körper eingeschrieben sind und für die sein Körper bzw. seine Haut zum Medium geworden ist. In The Simpsons werden diese Tätowierungen parodiert und in Washburns Stück Grundlage des Gesprächs zwischen den Figuren. 64 62 Washburn, Mr. Burns , S. 126. 63 Seine Rückentätowierung zeigt die symbolische Darstellung der Konstellation verschiedener Texttraditionen (Religion, Staatsphilosophie), die auf hierarchisierende Weise dargestellt sind: am Kreuz als Symbol für den christlichen Glauben sind Waagschalen angebracht. Das Kreuz ist also überlagert mit der Figur der Justizia. Sie selbst ist nicht dargestellt, ebensowenig sind die Waagschalen beweglich, sondern fest am Kreuz montiert. In der linken Waagschale sehen wir die Bibel, in der rechten ein Schwert, darunter die Worte „Truth“ und „Justice“. Diese Tätowierung kann interpretiert werden als Symbol einer dogmatischen Interpretation von Textkulturen, die aber erst in ihrer ambigen und mehrdeutigen Aneignung und Interpretation regenerative Quellen für kulturelle Prozesse bilden können. 64 Washburn, Mr. Burns , S. 130 f. Drama als intermediales Genre 109 Abb. 1: Robert De Niro als Max Cady in Cape Fear (1991) Abb. 2: Sideshow Bob im Gefängnis. Seine Tätowierungen beziehen sich auf Cape Fear (1991) und The Night of the Hunter (1955) Matt: Well there’s a brief montage of him working out I remember there’s a montage of him doing—all these menacing shots of him lifting weights and then …aerobic calisthenics: ( Mincing sprightly voice ) “one and two and three and …” and that’s that’s when we see the tattoos 65 In dieser Passage beschreibt die Figur Matt, wie die Simpson-Figur Sideshow Bob im Gefängnis Kraftübungen macht. Das verwendete Vokabular („montage“, „shots“) bezieht sich auf Filmtechniken, da diese Episode zwar einer Comicserie entstammt, aber die Handlung und Schnitttechnik des Films Cape Fear (1991) imitiert. 65 Washburn, Mr. Burns , S. 129. 110 Johanna Hartmann Im zweiten Akt, der sieben Jahre später angesiedelt ist, haben sich wandernde Theatergruppen konstituiert, die ihr Repertoire aus Adaptionen der populären Fernsehkultur des 20. Jahrhunderts beziehen. Zentraler Bestandteil dieser Aufführungen sind Werbespots, die die vergangene Konsumkultur inszenieren und dabei zwischen nostalgischer Reflexion und der Neudefinition einer kontemporären Konsumkultur oszillieren. Die Figuren fragen sich z. B. ob die Aufführung einer Werbung für Syrahwein beim Publikum ankommen oder die Zuschauer nur verunsichern würde. Auf dieser zweiten Stufe, die der Rekonstruktion folgt, ist weiterhin die Entwicklung eines kulturellen Distributionssystems zu erkennen, das durchaus an die amerikanische Theaterlandschaft im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erinnert, die z. T. aus reisenden Theatergruppen bestand, die zumeist populäre Melodramen aufführten. Gleichzeitig zeigt dieser zweite Akt die Entstehung einer Form des Kapitalismus, in dem original getreu erinnerte Zeilen zwischen den konkurrierenden Theatergruppen gehandelt werden. Im dritten Akt, der noch einmal 75 Jahre später angesiedelt ist, ist aus der Rekonstruktion dieser einen Folge ein opernhaftes Musiktheater geworden, das sich nicht nur aus der Serie The Simpsons , sondern aus unterschiedlichsten Texten der Populärkultur des 20. Jahrhundert speist, sich u. a. auf die Liedtexte von Britney Spears oder Eminem bezieht und zudem mit Masken und einem Chor die antike Theatertradition zitiert. In diesem letzten Akt inszeniert ein Ensemble den Showdown zwischen Bart Simpson und Mr. Burns auf dem Hausboot, das auch in allen Cape Fear-Texten (Roman, Filmadaptationen, TV -Serie) Ort der letzten klimaktischen Szene ist. Ursprung der Entwicklung des Narrativs über die drei Akte hinweg ist allerdings die Erinnerung einzelner Individuen an die Erfahrung kultureller Artefakte. Für die intermediale Dimension des Textes in Bezug auf die Aufführung sind weiterhin die Anmerkungen zum Text und die Bühnenanweisungen entscheidend. Diese Anmerkungen können zusammen mit dem Haupttext als ,Inszenierungstext‘ verstanden werden. Dabei macht Washburn klar, dass sie ihr Stück auch als Lesedrama verstanden wissen will. In den „Notes on Notation“ gibt sie folgende Instruktionen: „Words or phrases in square brackets are thought / implied, but not said” oder auch „Sentences which don’t end in periods are thoughts which have come to a close but not been entirely concluded or dropped”. Washburn gibt zum einen sehr präskriptive Vorgaben einerseits und fordert auf der anderen Seite eine gewisse Imaginationsleistung von sowohl ihren Lesern als auch dem dramaturgischen Theaterpersonal und den Schauspielern. Besonders die Wirkung von Lichteffekten wird im Text hervorgehoben, z. B. zum dritten Akt: „The Third Act finale does use a motley assortment of electrical instruments, a few traditional theatrical lighting instruments, but maybe also other old jerry-rigged pieces of electrical lighting: Christmas tree lights, practicals, etc., adapted with care and cunning. It should be impressive”. Es kommt Washburn also v. a. auf die erzielte Wirkung der Bühnenkünste an. Dies verhält sich ähnlich mit der auf der Bühne verwendeten Musik und Choreographie. Teil des zweiten Akts, in dem die Schauspieler für ihre Aufführungen von Werbeclips proben und über ihre Inszenierungen verschiedener Folgen der Serie The Simpsons sprechen, ist eine Songeinlage, die folgendermaßen beschrieben wird: What follows is a medley of popular hits from the last ten years—generally these are not sung in solo, but arranged for best group singing effect. There is bravura dancing during this, and costume changes—ladies, in particular, should be changing into a variety of perhaps worrisomely sexy Drama als intermediales Genre 111 outfits—overall effect should be highly choreographed, polished, entertaining, and without irony. The really characteristic instrumentations of these songs should be rendered as well, but vocally. 66 Diese Anweisung ist bezüglich der beschriebenen Effekte sehr spezifisch, bezüglich der genauen Ausgestaltung lässt sie dem kreativen Theaterpersonal viele Freiräume. Dass die verwendeten Lieder frei gewählt werden können, erlaubt es dem Stück und seinen Aufführungen, sich auf die jüngste Populärkultur zu beziehen. Dies hat zur Folge, dass der dem ersten Akt vorausgehende atomare Super- GAU auch bei zukünftigen Aufführungen immer in der nahen Zukunft angesiedelt bleibt. Durch die Ausgestaltung des Textes - sei dies durch genau Vorgaben oder auch Leerstellen - wird die Transformation von dramatischem Text zur Aufführung, der Medienwechsel, ständig thematisiert. Auch ist anzumerken, dass der dritte Akt eine gesungene Inszenierung darstellt, für die für vergangene Aufführungen Michael Friedman die Partitur komponiert hat. Diese Notationen sind weder Bestandteil des Textes, noch wird auf die Verwendung einer bestimmten Partitur bestanden. In den Anmerkungen, die dem Stück vorangestellt sind, erfahren die Leser weiterhin, dass die Dialoge des ersten Akts hauptsächlich auf einem Workshop beruhen, bei dem Schauspieler aufgefordert waren, eine Folge der Simpsons zu rekonstruieren. Das Stück bezieht sich also zumindest in Teilen auf eine performative Leistung von Schauspielern, die an einem Workshop teilgenommen haben. Weiterhin ist das Stück vor allem hinsichtlich der Bühnenausstattung interessant, da Konsum- und Kulturgüter, die nur mit Strom funktionieren, auf der Bühne als solche inszeniert werden. Z. B. wird im zweiten Akt das Flackern eines vom Publikum abgewandten Fernsehers durch Kerzenlicht simuliert. Im dritten Akt ist es den Schauspielern gelungen, eine Anlage zu bauen, mit der ein durch ein Fahrrad angetriebener Dynamo eine Form der Bühnenbeleuchtung betrieben werden kann. Washburns Stück inszeniert also auch die Geschichte der Theater- und Bühnentechnik, die zuerst nur über die Interaktion zwischen Individuen entstand und aber v. a. mit dem Einsatz von Elektrizität neue Licht- und Raumeffekte hervorrufen konnte. Mr. Burns wurde 2012 am Woolly Mammoth Theatre Company in Washington D. C. und 2015 in New York aufgeführt. Von diesen Aufführungen gibt es keine öffentlich zugänglichen Videoaufzeichnungen, die eine Analyse intermedialer Beziehungen in der Theateraufführung ermöglichen. Auf YouTube sind kurze Trailer zugänglich, in denen Ausschnitte gezeigt werden, die einen Eindruck hinsichtlich der Bühnengestaltung ermöglichen. Der plurimediale Charakter kann also nur punktuell beschrieben werden. Hier zeigen sich methodologische Probleme, die grundsätzlich mit dem Zugang zu den Primärquellen zusammenhängen und die nur durch die vereinfachte Zugänglichkeit zu Videoaufnahmen behoben werden können, um das in den Theaterwissenschaften entwickelte Instrumentarium der Aufführungsanalyse in die Erforschung des intermedialen Charakters des dramatischen Texts in Beziehung zum Theater anwenden zu können. 66 Washburn, Mr. Burns , S. 184. 112 Johanna Hartmann Abb. 3: Erster Akt in der Aufführung der Woolly Mammoth Theatre Company 2013 Abb. 4: Zweiter Akt in der Aufführung der Woolly Mammoth Theatre Company 2013 Drama als intermediales Genre 113 Abb. 5: Zweiter Akt in der Aufführung von Playwrights Horizon 2013 Abb. 6: Dritter Akt in der Aufführung von Playwrights Horizon 2013 114 Johanna Hartmann Bei der Analyse des Stücks wird deutlich, dass Kunst und ihre kulturelle Vermittlung immer auf eine wie auch immer geartete mediale Vermittlung angewiesen sind. Bücher lesen wir in ihrer gedruckten Form aber auch auf elektronischen Geräten wie dem Computer oder unseren Smartphones. Gespeichert sind unsere Kulturgüter auf bzw. in ihren Medien z. B. auf Papier, Filmrollen oder auf Speichermedien wie z. B. Festplatten, Memorysticks oder Cloudservern, die weiterhin Hard- und Software brauchen, um die Inhalte lesbar zu machen. Wenn diese „Medien zur Erfahrung“ die das Perzeptionsmedium bzw. die Perzeptionsoberfläche bereitstellen (z. B. ein Bildschirm) nicht mehr existieren, erlöscht auch der Zugang zu dieser Kunst. 67 Washburns Stück stellt die Frage nach dem Umgang mit diesen Formen von Kulturverlust. In den Anmerkungen zum Stück fragt Washburn: „What would happen to a pop culture narrative pushed past the fall of civilization? “ bzw. „was bleibt, wenn alles verloren scheint“ („what is left when all seems to be lost“). In ihrem Stück wird der Körper wieder zur primären Speicher- und Vermittlungsinstanz für kulturelle Praktiken und Erfahrungen. Der menschliche Körper fungiert so als Erinnerungsort, Speicherstätte und Aufführungsmedium für diese im Stück neu entstehende Zivilisation. Die verkörperte Erinnerung der Figuren wird zur kreativen Quelle für die im Stück inszenierte Entwicklung einer neuen Kulturlandschaft über die Stationen Rekonstruktion, Etablierung und kreative Innovation, die der Abfolge der drei Akte entspricht. Dabei ist es bedeutsam, dass eine TV - Serie, die notwendigerweise auf elektrische Energie angewiesen ist in eine verkörperte Aufführung transformiert, remediatisiert, performiert und so wieder zugänglich gemacht wird. Das Drama ist von seiner Grundanlage her immer schon ein intermediales Genre gewesen. Je nachdem wie der Terminus Medium definiert wird, ändert sich der jeweilige Phänomenbereich und mit der Entstehung neuer Medien, Formen kultureller Kommunikation und neuer Kunstformen müssen bestehende Konzepte überdacht und neu definiert werden. Das Drama als literarische Textgattung und das Theater als kulturelle Aufführunspraxis können in einem sich dynamisch verschiebbaren kulturellen Feld verortet werden, wobei auch das Verhältnis zwischen Drama und anderen Kunstformen bzw. den anderen Theaterkünsten stetigen Verschiebungen und Veränderungen unterworfen ist. Die Dynamik dieser Prozesse erfordert jedoch komplementär zu den theoretischen Refokussierungen eine historisierte Perspektive, die letztendlich auch eine Metareflexion und Kritik der verwendeten Analysekonzepte ermöglicht. Die Theoretisierung bzw. Historisierung der intermedialen Dimension des Dramas steht allerdings noch am Anfang. Kotte z. B. behauptet, dass sich das Theater nicht entwickelt, sondern nur seine Form wandelt. 68 Es ist die Aufgabe der Intermedialitätsforschung, diesen Formwandel zu beschreiben, um das spezielle Potenzial des Theaters in seiner gesellschaftlichen Umgebung zu beschreiben und zu bewerten. Gleichzeitig wird die Ephemeralität der Aufführung immer ein Quellenproblem darstellen, das insbesondere die historisierende Untersuchung von v. a. älteren Texten erschwert. 67 Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die nur noch äußerst schwer zugängliche digitale Literatur aus den 1990er Jahren, die nur noch auf der durch andere Medien ersetzte Floppy-Disk erhältlich ist. 68 Vgl. Kotte, Andreas: „Definierbar ist nur, was keine Geschichte hat. Über Fortschritte der Medien und Wandlungen von Theater“. Theater und Medien: Grundlagen - Analysen - Perspektiven Hg. Henri Schoenmakers. Bielefeld 2008. 31-41. Drama als intermediales Genre 115 Literaturverzeichnis Aristoteles: Poetik : Griechisch / deutsch. Hg. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2017. Balme, Christoph: „Intermediality: Rethinking the Relationship between Theatre and Media“. THEWIS . Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft 1 (2004): 1-18. 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Vorüberlegungen Blickt man auf das Verhältnis der Künste zueinander, d. h. auf die vielfältigen Prozesse des Transfers zwischen den verschiedenen Künsten und die damit unweigerlich verbundenen intermedialen Transformationen des Ästhetischen, und denkt man dabei an den Film als Kunst, so ist dies - im Vergleich zur Malerei und der Plastik, zur Musik und der Oper - eine noch nicht so lange Selbstverständlichkeit. 1 In den 120 Jahren, seit denen es den Film als Medium überhaupt gibt, zeigen sich Phasen der Etablierung der Kunstwürdigkeit des Films und seiner ästhetischen Differenzierung. 2 Zu denken ist zuerst an die Kino-Debatte der 1910er Jahre, in der die Bedingungen der Möglichkeit eines Kunstcharakters des Mediums Film überhaupt kritisch und kontrovers diskutiert wurden. 3 Beginnend in den 1920er Jahren, mit der Reflexion der Möglichkeiten des Films durch die Regisseure des Sowjetfilms oder in den bedeutenden Arbeiten von Siegfried Kracauer, Béla Balász oder Rudolf Arnheim sowie nicht zuletzt von Walter Benjamin, 4 etablierten sich eine Filmkunst und eine Filmtheorie, die dieser Filmkunst und ihrer sozialen, politischen und ökonomischen Bedingtheiten und Konsequenzen gerecht werden wollte. Die frühe Filmtheorie betonte vor allem die Eigenständigkeit des Mediums Film, während die vormalige Kino-Debatte den Film noch in Relation zu den anderen Medien setzte und dadurch aufwerten wollte. 5 In der Phase der kommerziellen Etablierung des Films kehrte der Gegensatz von Ernst und Unterhaltung, der am Beginn des Mediums Film um 1900 stand, in anderer Form wieder. Der Film zeigte sich in den Jahrzehnten um die Mitte des 20. Jahrhunderts als das zentrale und einflussreichste Unterhaltungsmedium, bevor dann der Siegeszug von Fernsehen und 1 Siehe zu einem Überblick über die intermedialen Beziehungen zwischen den Künsten: Robert, Jörg: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014. Gegenüber den älteren Künsten und deren Verhältnissen zur Literatur weist der Film interessante Besonderheiten auf, die allein schon rechtfertigen und nötig machen, ihn ins Verhältnis zur Literatur zu setzen. 2 Vgl. den Überblick bei Albersmeier, Franz-Josef: „Einleitung. Filmtheorien im historischen Wandel“. Texte zur Theorie des Films . Hg. Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 4 2001. 3-29. Siehe auch: Diederichs, Helmut H.: Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt / Main 2004. 3 Vgl. hierzu Kaes, Anton: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909 - 1929 . Tübingen 1978. 4 Vgl. hierzu ausführlicher: van Laak, Lothar: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20 . Jahrhunderts: Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier. München 2009, S. 150-179. 5 Das Theater Piscators - in der Praxis - und das Theater Brechts - auch in der Reflexion der Möglichkeiten des Theaters überhaupt - in den 1920er Jahren sind eher Ausnahmen, wenn sie das Verhältnis von Film und Theater produktiv machen wollen. S. dazu auch weiter unten. 120 Lothar van Laak Computer dem (Kino-)Film bis in unsere Gegenwart zwar nicht den Rang abliefen, aber starke Alternativen hervorbrachten. Parallel entwickelte sich aber auch die Filmtheorie als Kunst- und Medientheorie weiter. Zunächst führten die Wertschätzung des Autorenkinos der 1960er Jahre und schließlich die Öffnung der textbezogenen Wissenschaften hin zum Film - vorsichtig in einem ersten Schritt mit dem der Germanistik legitimer erscheinenden Genre der Literaturverfilmung seit den 1970er Jahren - dazu, das intermediale Verhältnis von Literatur und Film genauer in den Bick zu nehmen und dabei auch als ein ästhetisch produktives Verhältnis zu bestimmen. Waren zu Beginn ‚Werktreue‘ und die Klassiker-Vermittlung ins Populäre auch kritisch ins Untersuchungsfeld geführte Parameter, ist das Verhältnis von Literatur und Film heute, sowohl von der Eigenständigkeit und eigenen Wertschätzung der beiden Medien, als auch von ihrem je konkreten Zusammenspiel bestimmt. Für das ist die Tatsache konstitutiv, dass beide in einen vielfältig gestalteten Medienverbund eingelassen sind, der mehr und mehr von den digitalen Ressourcen her organisiert und distribuiert wird. 6 Es stellt sich die Frage, wie sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten dieses Verhältnis von Literatur und Film entwickelt, angereichert und differenziert und nicht zuletzt in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch selbstreferenziell reflektiert hat, d. h. im filmischen Nachdenken über das Zusammenspiel vorheriger filmisch-literarischer Formen. Heute stehen Literaturverfilmungen bereits in einer Transformationsgeschichte der Beispiele älterer Verfilmungen, wie man z. B. an Effi Briest sehen kann, deren jüngste Verfilmung durch Hermine Huntgeburth überaus kontrovers diskutiert worden ist. 7 Mit dem Blick auf drei Verfilmungen von Dürrenmatts ganz spezieller ‚tragischer Komödie‘ Der Besuch der alten Dame von 1955 begebe ich mich an den Anfang und den aktuellen Endpunkt der Ausdifferenzierung des Verhältnisses von Literatur und Film, das man als ein ästhetisch produktives Wechselverhältnis sehen kann. Film und Literatur werden hierbei nicht, wie das in der früheren Beschäftigung mit dem Genre der Literaturverfilmung zu oft geschah, als illustrierend in den Blick genommen, nach dem der Film, als ‚Verfilmung‘, einen literarischen Text bebildern würde. Vielmehr soll an den drei Beispielen der Theater- Film-Fassung Ludwig Cremers von 1959, die der ARD damals eine Einschaltquote von über 80 % bescherte, dem Kino-Spielfilm Bernhard Wickis The Visit nur vier Jahre später, mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn in den Hauptrollen, und der ARD - ORF 2-Fernsehfassung von Nikolaus Leytner von 2008 auch immer die Grenze zu anderen visuellen Medien in den Blick genommen werden, um das ästhetische Verhältnis von Literatur und Film präziser zu bestimmen. 8 6 Vgl. zum Genre der Literaturverfilmung und zum Umgang damit: Bohnenkamp, Anne: Literaturverfilmungen . Stuttgart 2012, insbesondere das Vorwort (S. 9-39); Staiger, Michael: Literaturverfilmungen im Unterricht . München 2010. Zuletzt auch: Maiwald, Klaus: Vom Film zur Literatur. Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich. Stuttgart 2015. 7 Vgl. kritisch u. a.: Greiner, Ulrich: „Effis erster Orgasmus. Was Hermine Huntgeburth mit Fontanes Roman filmisch angestellt hat, ist ein Missverständnis“. Die Zeit Nr. 8 / 2009, 12. 02. 2009. 8 Nicht eingehen werde ich auf den ebenfalls sehr interessanten Film Mambétys von 1992, dessen Hyènes die Handlung in den Senegal verlegt. Hieran ließen sich neben den medialen Aspekten des Kinospielfilms, die ich an Wickis Film herausarbeiten will, auch Fragen an den spezifisch kulturellen Ort bzw. die interkulturellen Aspekte von Literaturverfilmungen bzw. dem Verhältnis von Literatur und Film anschließen, was aber über den Raum dieses Aufsatzes hinausgehen würde. Vgl. dazu auch: Huntemann, Willi: Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame . Erläuterungen und Dokumente . Stuttgart 2010, S. 92-115; zu Mambéty insbes. S. 107-113; für weitere Verfilmungen S. 115. Literatur und Film: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame 121 2. Film unter dem Paradigma des Theaters: Ludwig Cremers Adaptation für das Fernsehen Ludwig Cremers Film-Fassung von 1959 ist die erste deutschsprachige von Dürrenmatts Stück aus dem Jahr 1956. Sie ist nicht nur zeitlich nah an Dürrenmatts Drameninszenierung. Auch ästhetisch stellt sich die Verfilmung des Besuchs der alten Dame als Fernsehspiel stark unter das Paradigma des Theaters. Am Schluss des Films, der den chorisch stilisierten und sich an das 1. Stasimon von Sophokles’ Antigone 9 anlehnenden Schluss von Dürrenmatts Stück zeigt, wird noch einmal der Blick auf die ökonomische Substanz des Stücks geschärft. Die Übergabe des Schecks, nachdem Claire ihr Opfer dargebracht worden ist, führt zu einem sardonischen Gelächter des Bürgermeisters. Mit dem Geld beginnt die neue Wirtschaftswunderwelt, die in schnelleren Schnitten gezeigt wird. Versinnbildlicht wird sie durch die Unterhaltungs- und Konsumwelt von Kino, Bars, Tanz und gutem Essen, das in der Präsentation eines angerichteten Schweinekopfs für das Festmahl kulminiert. Das Fernsehen, das sich dem Theater unterordnet, distanziert sich damit implizit von der Welt des Kino-Films, der auf die Welt der Unterhaltung verwiesen und beschränkt wird: Das Kino ist selbst Teil der schuldig werdenden und vom Stück kritisierten Welt. Das Fernseh- Spiel als Film wird insofern zu einem partiellen performativen Selbstwiderspruch. Die Güllener deuten in den Festreden ihr Schicksal („Geschick“) in ihr Glück um. Die für das Fernsehspiel komponierte Musik Johannes Aschenbrenners unterstreicht das Groteske der tragischen Komödie noch, wenn sie in den Gläserklang der aneinander anstoßenden Champagnergläser übergeht. Als besonderes filmisches Mittel in der sehr statischen und ritualisiert wirkenden Szene wird die Überblendung auf Claire eingesetzt, die damit als über allem waltender spiritus rector deutlich gemacht wird. Die projektive Kraft des Mediums Film wird aufgegriffen, aber vor allem zur Verdeutlichung der theatralen Inszenierung eingesetzt. Dieser Film-Schluss spitzt somit das Theatrale, das vornehmlich aus der Stilisierung resultiert, noch einmal zu. Man kann daraus schließen, dass deshalb, weil das Fernsehen als Bildungsmedium zur Publizitätssteigerung der Theaterkunst eingesetzt wird, die Orientierung am vorbildlichen Werk auch die Wirkungsmechanismen des bei der Adaptation eingesetzten neueren Mediums Film selbst für das Theater funktionalisiert. Ein Seitenblick auf Bertolt Brecht verdeutlicht Cremers Selbst-Zurücknahme des Films gegenüber dem Theater. Wenn Brecht bei der Konzeption seines epischen Theaters den Einsatz von Filmen auf der Bühne als ‚chorisch‘ auffasste, d. h. Filme auf der Bühne als Möglichkeit einer distanzierenden, verfremdenden Sicht auf das gezeigte Handlungsgeschehen, analog dem Chor in der antiken Tragödie, sah, eröffnet der Film eine das Drama erweiternde Struktur. 10 Cremers Film hingegen ‚bildet‘ den Chor, den Dürrenmatt aus der Theatertradition zitiert, hier nur ‚ab‘. Die Möglichkeit, mit einer genuin filmischen Qualität den Chor zu ersetzen und in medial eigener Spezifik zu realisieren, kommt augenscheinlich nicht in Betracht. Die Überblendung verdeutlicht nur, was der Chor selbst zu sagen hat, führt aber keinen Gegendiskurs oder weitere Verfremdung bzw. Distanzierung ein und der Film als Medium tritt so hinter das Theater zurück. 9 Vgl. Sophokles: Antigone . Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Norbert Zink. Stuttgart 1981, S. 31-35. 10 Vgl. Brecht, Bertolt: „Das Abc des epischen Theaters “ . Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden und einem Registerband . Bd. 21: Schriften 1. Hgg. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. S. 210-212. 122 Lothar van Laak 3. Aufbruch des Films ins Imaginäre: Bernhard Wickis The Visit Bernhard Wickis Spielfilm, nur vier Jahres später als Cremers Fernsehspiel-Fassung, nimmt sich gegenüber dem Drama weit weniger zurück. Wickis Film realisiert den Film als Medium eigener Dignität und eigener Bedingtheiten. Zuerst einmal fällt die Änderung des Titels ins Auge. Aus Der Besuch der alten Dame wird schlicht Der Besuch ( The Visit ). Es liegt auch auf der Hand, dass die erst 48-jährige Ingrid Bergman, Jahrgang 1915, nicht als eine „alte Dame“ durchgegangen wäre, geschweige denn bei ihren Fans als solche hätte durchgehen wollen. Die filmindustriellen Gesetzmäßigkeiten in der Manufaktur des Startums und des Diven-Images 11 fordern hier ihren Tribut. Die Modellierung als Kinofilm führt auch zu einer deutlichen Verstärkung des Melodramatischen in der Beziehung des Film-Paars Klara Zachanassian und Serge Miller. Besonders bedeutsam ist hierfür die Sequenz des Gerichtsurteils gegen Serge Miller. Wicki, der hier das Melodramatische mit dem Genre des Gerichtsfilms kombiniert, konstruiert einen völlig anderen Schluss. Gnade für Serge Miller wird von Klara schließlich doch noch gewährt und plausibilisiert als täglich anschaubares, abschreckendes Lehrmittel für die Güllener. Ihr Gewissen sollen sie vom lebendigen Serge verkörpert sehen und ihm wiederum soll alles Heldische eines Opfertodes genommen werden, das Dürrenmatt selbst gar nicht ganz aufgehoben wissen wollte. Ingrid Bergmans Klara ist eine filmspezifische Figur der Heroisierung: Halb Diva, halb Rachegöttin, gibt sie Dürrenmatts Figur eine eigene Prägung. Sie löst sich insbesondere vom Grotesken der Figur des Dramas und erhält in ihrem Gnadenakt Züge einer dea ex machina . Als Göttin macht die Bergman-Zachanassian selbst Götter und Menschen. Insofern ist die Aussage Serges’ mehr als doppelbödig, wenn er in der Gerichtsverhandlung sagt: „Ich bin nur ein Mensch.“ Man kann darin ein Schuldeingeständnis sehen, man kann aber auch eine Perspektive der Verallgemeinerung heraushören, die, zwei Jahre nach dem Mauerbau und ein Jahr nach der Kubakrise, eine Aussage für alle Menschen ist. Die Stilisierung des Szenerie, die einerseits amerikanisiert ist, andererseits immer wieder auch kyrillische Schrift zeigt und in einem fiktiven Ostblock angesiedelt ist, scheint an eine ebenso fiktive wie archaisierende Welt jenseits der Ost-West-Spaltung denken lassen zu wollen. Aber noch eine dritte Dimension von Millers Aussage ist zu sehen; denn sie lässt das Ecce homo Jesu vor Pilatus anklingen. Insofern erscheint die Begnadigung ambivalent, als der Göttin des Geldes selbst der christliche Mythos botmäßig zu sein scheint. Aber vielleicht liegt hier sogar die Sprengkraft eines anthropologisch gesehenen, säkular transponierten Christentums vor, die aus der Güllener Welt herausführen kann, so wie es Anja am Schluss angeraten wird, weil sie Klara an ihre Judith erinnert. So wird Anja zur möglichen Botschafterin einer zukünftig besseren Welt. Ob es aber ein besseres oder schuldloseres Leben im Falschen gibt, bleibt offen. Denn die Warenwunderwelt, die in Cremers Schluss-Kaleidoskop nur aufblitzt, erhält in Wickis Film eine eigene längere Sequenz, in der der Film zum einen die Waren auch in ihrer Inszenierung vorführt, zum anderen Anja mit dem auf Kredit erworbenen neuen Kleid auch in die Welt der Figuren auf der Bühne hineinrücken lässt, so dass sie von einer der Schaufensterpuppen nicht mehr zu unterscheiden ist und vollständig ins Kommerzielle eintaucht. 11 Vgl. Bronfen, Elisabeth u. Barbara Straumann: Die Diva. Geschichte einer Bewunderung. München 2002. Literatur und Film: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame 123 Dies ist auch jenseits des Thematischen aufschlussreich: Denn das Kino und das Darstellungsmittel des Films werden anders als bei Cremer nicht funktionalisiert, um Drama bzw. Literatur zu verdeutlichen. Ein solcher intermedialer Verweis bzw. eine solche intermediale Bezugnahme 12 zeugt letztlich eher von einem medialen Gefälle. Vielmehr reflektiert Wickis Film damit auch die visuellen Inszenierungsstrategien im Film. Der Schlusssatz von Klaras Begnadigung, Serge möge mit den Güllenern leben und „spielen“, weist damit auch eine zusätzliche Ambivalenz auf, insofern der Film das Geschehen selbst, das zukünftige Geschehen im Güllener Weiterleben auf die Ebene des Spiels 13 hebt und damit einer filmisch nur dargestellten Realität enthebt. Was bei Dürrenmatt und Cremer als Stilisierung der theatralen Handlung erscheint, transformiert Wickis Film in die Stilisierung des medialen Vollzugs selbst, wofür das Eintauchen in die Wunderwarenwelt exemplarisch ist. Der Film Wickis funktioniert primär nach den Gesetzmäßigkeiten des (Kino-)Films, die autonom gesehen sein sollen und autonom zu sehen sind. Gerade in dieser Autonomie liegt die Ernsthaftigkeit des Mediums und zugleich seine Leistungsfähigkeit, das Verhältnis von Literatur bzw. Drama und Film frei und doch verbindlich und legitim mit zur Darstellung zu bringen. So wie Anja aufbrechen soll in ein neues Leben, so führt der Film in eine andere, seine andere, neue Wirklichkeit hinein: in die Wirklichkeit des Imaginären. 14 4. Die Notwendigkeit der Selbstreflexion der visuellen Medien heute: Leytners Fernsehfilm-Fassung des Besuchs der alten Dame Diese Linie einer medialen Befreiung des Films durch den Film und zum Film sowie der Hoffnung mit dem Film zu einer Welt jenseits des Kommerzes zu gelangen und so die groteske Sozialkritik Dürrenmatts ins positiv Utopische ‚umzumünzen‘, nimmt das dritte und letzte Beispiel wieder zurück bzw., vorsichtiger. Es dokumentiert, dass sich heute, über vierzig Jahre nach Wickis Besuch und in der gegenwärtigen Fernsehlandschaft, der Zusammenhang zwischen Literatur und audiovisuellen Medien anders zeigt. Zwischen ethischer Botschaft der Literatur und ästhetischer Praxis des Fernseh-Films liegt die Selbstreflexion des Mediums. Die Selbstreflexion der visuellen Medien ist dabei sinnvoller Weise und um der ästhetischen Qualität willen nötig, was der Fernsehfilm aus dem Jahr 2008 durchaus zu bieten versucht. Mit dem Fernsehfilm haben wir mit der 70-jährigen Christiane Hörbiger tatsächlich wieder eine ‚alte Dame‘ vor uns - und das sehr kompatibel zur Fernsehabendstimmung. Diese Fassung modernisiert das Stück Dürrenmatts recht behutsam. Mit der TV-Journalisitin Mia Mohr, Ills Tochter, wird eine Parallelfigur und Parallelgeschichte eingeführt. Sie spiegelt die Handlung von Claires Jugend. Darüber hinaus reflektiert sie die mediale Situation des Fernsehens. Die Medien, so wird deutlich, verstärken die Umtriebe der Güllener. In Mia Mohrs Engagement aber kann die Präsenz von Medien auch Leben retten: so beim ersten Mal, als die Güllener versuchen, Ill auf den Gleisen der Bahnstation zu töten, und dann am 12 Zu dieser Bestimmung intermedialer Beziehungen vgl.: Rajewski, Irina O.: Intermedialität . Tübingen und Basel 2002. 13 Siehe zur kulturgeschichtlichen und neueren anthropologischen Diskussion des Spiels: Anz, Thomas und Heinrich Kaulen (Hgg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte . Berlin und New York 2009. 14 Siehe zu dessen Kontur u. a. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Perspektiven kulturanthropologischer Medienanthropologie . Frankfurt / Main 1999. 124 Lothar van Laak Schluss, wenn Mia es erneut versucht, dann jedoch zu spät kommt, um ihrem Vater noch zu helfen. Während in Wickis Der Besuch Anja nur einfach aus der Güllen-Welt hinausführt, tritt Mia Mohr als potenzielle Retterin ihres Vaters in das Geschehen ein. So wird dem Medium Fernsehen eine utopische Signatur eingeschrieben, die sich aber letztlich nicht verwirklichen kann. In der Mitte des Films kommt es zum Gespräch der beiden Frauen. Aufschlussreich für die Figur der Claire ist es, wie sie sich im Gespräch mit der jungen Frau darstellt. Mia lässt die ‚alte Dame‘ hier so alt aussehen, wie sie ist. In einer Anmerkung zu seinem Stück hatte Dürrenmatt Claire so charakterisiert: Die Dame hat Humor, das ist nicht zu übersehen, da sie Distanz zu den Menschen besitzt als zu einer käuflichen Ware, Distanz auch zu sich selber, eine seltsame Grazie ferner, einen bösartigen Charme. Doch, da sie sich außerhalb der menschlichen Ordnung bewegt, ist sie etwas Unabänderliches, Starres geworden, ohne Entwicklung mehr, es sei denn die, zu versteinern, ein Götzenbild zu werden. 15 Statt einer Heroine präsentiert der neuere Fernsehfilm eine gealterte, starr gewordene Frau, wobei auch die Reminiszenz an die Romanze sehr deutlich sentimentale Züge annimmt. Die groteske Götter-Statue wird humanisiert. Von der Handlung her nähert sich dieser Film dem von Dürrenmatt vorgesehenen Schluss wieder an. Der Plot von Wickis Film wird zwar an dem Punkt in gewisser Weise variierend aufgegriffen, als auch Hörbigers ‚alte Dame‘ am Ende Gnade walten lassen will. Aber die mörderischen Güllener sind schon so weit gegangen, dass eine Begnadigung Ills nicht mehr möglich ist. Die ambivalente Gnade der Zachanassian Wickis weicht dem Scheitern der Begnadigung und einem Verzeihen, wie es Mia zeigen kann. Beide Filme schließen nicht nur insofern filmischer, als sie auf Dürrenmatts Schlusschor verzichten. Auch die Wende zu einer möglichen Gnade scheint aus der vom Film organisierten Handlungsenergie zu resultieren. Dabei ist aufschlussreich, dass in den beiden filmischen Varianten Bergmans Claire aktiver und stärker ist und ihre Gnade als existenzialistisches Menetekel der Güllener inszeniert. Hörbigers Claire ist zaudernder und erleidet so ein zweites Scheitern, nun an der kollektiven Gewalt der Güllener. Dieses Scheitern ist dem Zuspätkommen von Ills Tochter analog. Beide Varianten lassen sich aus den nicht-theatral geprägten Sehkonventionen des Films verstehen. Sie sind mit einer das Melodramatische sprengenden Nemesis, wie sie das Drama kennt, nicht vereinbar. Dass der Fernsehfilm dabei einen gewalttätigeren Schluss zulässt als der Kinofilm der 1960er Jahre, ist darüber hinaus bezeichnend für die mediale Einbettung des Films im Fernsehen, dessen Zuschauer in der Nach-Tagesschau-Sendezeit wohl derart an die alltägliche Gewalt der Realität gewöhnt sind, dass sie soviel Happy-End gar nicht mehr zu erwarten scheinen. 5. Schluss Die drei diskutierten Beispiele sind in einem Spannungsfeld der ästhetischen Möglichkeiten im Verhältnis von Literatur und Film zu sehen. Die beiden frühen Beispiele sehen Film und Literatur ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen und entscheiden sich je für 15 Dürrenmatt, Friedrich: „Anmerkung I zu ‚Der Besuch der alten Dame’ [1956]“ . Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Neufassung 1980 . Zürich 1980. S. 141-144, hier S. 142 f. Literatur und Film: Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame 125 das eine Medium. Das Fernseh-Spiel Cremers ordnet sich dem Drama, der Literatur, unter. Wickis Film zeigt und erzählt das, was als Spielfilm unter diesen Bedingungen, in dieser Besetzung möglich ist, nach den Gesetzmäßigkeiten des Hollywoodkinos, seines Startums, seiner auch kommerziell ausgerichteten Professionalität. Die aktuelle Fernsehverfilmung wiederum kann man als Angebot sehen, Dürrenmatts Stück einem breiteren, anderen, auch weniger theateraffinen Publikum nahe zu bringen. Eigene Spielformen und Varianten des Plots werden genutzt, um sich unter den Bedingungen der Fernseh-Abendunterhaltung dem Material, das Dürrenmatts Stück bietet, wieder anzunähern. Aber auch sie ist primär ihren eigenen Gesetzen verpflichtet, ohne sich allerdings noch mit der Debatte um den Kunstcharakter des Mediums Film zu belasten. Literaturverzeichnis Filme Der Besuch der alten Dame . Eine tragische Komödie in drei Akten von Friedrich Dürrenmatt. Uraufführung 29. Januar 1956 in Zürich. Verfilmung für das Deutsche Fernsehen 1959 ( SWF ). Regie: Ludwig Cremer (117 Minuten). Der Besuch ( The Visit ). Nach Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame . USA , Deutschland, Frankreich, Italien. 1963 / 64. Regie: Bernhard Wicki (96 Minuten). Der Besuch der alten Dame . Eine „tragische Komödie“ von Friedrich Dürrenmatt. Deutschland / Österreich. Regie: Nikolaus Leytner (88 Minuten). Primärliteratur Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe in 30 Bänden und einem Registerband . Hgg. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller. Frankfurt / Main und Berlin 1988-2000. Dürrenmatt, Friedrich: „Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie“. Gesammelte Werke. Stücke Bd. 1 . Zürich 1985, 1996. 571-696. -: „Anmerkung I zu ‚Der Besuch der alten Dame‘ [1956]“ . Der Besuch der alten Dame. Eine tragische Komödie. Neufassung 1980 . Zürich 1980. 141-144. Sophokles: Antigone. Griechisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Norbert Zink. Stuttgart 1981. Sekundärliteratur Albersmeier, Franz-Josef: „Einleitung. Filmtheorien im historischen Wandel.“ Texte zur Theorie des Films . Hg. Franz-Josef Albersmeier. Stuttgart 4 2001. 3-29. Anz, Thomas und Heinrich Kaulen (Hgg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte . Berlin und New York 2009. Bohnenkamp, Anne: Literaturverfilmungen . Stuttgart 2012. Bronfen, Elisabeth und Barbara Straumann: Die Diva. Geschichte einer Bewunderung. München 2002. Diederichs, Helmut H.: Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Frankfurt / Main 2004. Greiner, Ulrich: „Effis erster Orgasmus. Was Hermine Huntgeburth mit Fontanes Roman filmisch angestellt hat, ist ein Missverständnis“. Die Zeit Nr. 8 / 2009, 12. 02. 2009. Huntemann, Willi: . Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame . Erläuterungen und Dokumente . Stuttgart 2010. Kaes, Anton: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909-1929. Tübingen 1978. 126 Lothar van Laak van Laak, Lothar: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts: Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier. München 2009. Maiwald, Klaus: Vom Film zur Literatur. Moderne Klassiker der Literaturverfilmung im Medienvergleich. Stuttgart 2015. Pfeiffer, K. Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Perspektiven kulturanthropologischer Medienanthropologie . Frankfurt / Main 1999. Rajewski, Irina O.: Intermedialität . Tübingen und Basel 2002. Robert, Jörg: Einführung in die Intermedialität. Darmstadt 2014. Staiger, Michael: Literaturverfilmungen im Unterricht . München 2010. Hip-Hop und Literatur 127 Hip-Hop und Literatur Timo Müller Von den „anderen Künsten“, denen die Literatur im vorliegenden Band gegenübergestellt wird, fallen gleich vier unter den Sammelbegriff „Hip-Hop“: Rap, DJ ing, Breakdance und Graffiti. Bei Rap handelt es sich primär um eine sprachliche Kunstform, bei DJ ing um eine musikalische, bei Breakdance um eine tänzerische und bei Graffiti um eine malerische. Der Literatur steht naturgemäß der rhythmische Sprechgesang des Rap am nächsten. Dieser Verwandtschaft ist sich in den letzten Jahren auch die akademische Forschung bewusst geworden. 1 Als Meilenstein der Annäherung von Literaturwissenschaft und Rap können drei kurz nacheinander erschienene Bücher aus dem amerikanischen Raum gelten. Mit The Anthology of Rap (2010), publiziert vom renommierten Universitätsverlag der Yale University, liegt erstmals eine kanonische Auswahl und definitive Edition bedeutender Rap-Songs vor. Flankiert wird sie von der literaturwissenschaftlichen Studie eines der Herausgeber, Adam Bradleys Book of Rhymes: The Poetics of Hip Hop (2009). In Kapiteln wie „Rhythmus“, „Reim“ und „Stil“ zeigt Bradley kenntnisreich die Ähnlichkeiten, aber auch die Unterschiede zwischen Gedichten und Rapsongs auf. Ihre praktische Bestätigung finden diese akademischen Arbeiten in Decoded (2010), den Memoiren des einflussreichen Rappers Jay Z. Aus ihnen wird deutlich, dass sich viele Rapper ganz selbstverständlich als Dichter sehen, was Jay Z nicht nur wiederholt erwähnt, sondern auch untermauert, indem er zahlreiche seiner eigenen Rapsongs kommentiert und annotiert. Der Hip-Hop im Allgemeinen und die Rapmusik im Besonderen weisen also zahlreiche Bezüge zur Literatur und vor allem zur Lyrik auf. Der vorliegende Aufsatz geht diesen Bezügen in vier Schritten nach. Er weist zunächst aus historischer Perspektive die zentrale Bedeutung mündlich vorgetragener Lyrik in der Entstehung der Rapmusik nach. Anschließend untersucht er auf systematischer Ebene die sprachliche Verfasstheit von Rap im Vergleich zu Lyrik. Die Ergebnisse dieser Untersuchung werden in einem dritten Schritt am Beispiel des Songs „Nicht jetzt“ der deutschen Rapper Fatoni und Edgar Wasser erprobt. Schließlich wendet der Aufsatz sich der hybriden Gattung der hip hop poetry zu, die in den letzten Jahren im englischen Sprachraum entstanden ist, und zeigt damit die Wiederannäherung und produktive Verschmelzung der verwandten Gattungen auf. Ausgeklammert bleiben Texte, die sich vorwiegend auf inhaltlicher Ebene mit Hip-Hop beschäftigen, wie beispielsweise die zahlreichen Hip-Hop-Romane der letzten Jahre. Diese bunt gemischte Gattung umfasst Bestseller wie Yolanda Joes My Fine Lady (2005), Geistergeschichten wie Bertice Berrys The Haunting of Hip Hop (2001) und Kriminalromane wie Nelson Georges 1 Siehe auch Costello, Mark u. David Foster Wallace: Signifying Rappers: Rap and Race in the Urban Present . New York 1997, S. 30; Taylor, Yuval u. Jake Austen: Darkest America: Black Minstrelsy From Slavery to Hip-Hop . New York 2012, S. 225; Shusterman, Richard: „The Fine Art of Rap“. New Literary History 22.3 (1991): 613-32, hier S. 614, die Hip-Hop bzw. Rapmusik jeweils als Spielart der Lyrik beschreiben. 128 Timo Müller The Plot Against Hip Hop (2011), aber auch ambitioniertere Werke wie A. D. Carsons Cold (2011) und T. M. Wolfs Sound (2012). Für die Frage nach dem Verhältnis von Rap und Lyrik sind sie jedoch von untergeordneter Bedeutung, da eine formale Beeinflussung teils überhaupt nicht, teils lediglich im Prosatext aufweisbar ist. Hip-Hop ist eines der verbreitetsten Kulturphänomene unserer Zeit. Sein gängigstes Element, die Rapmusik, dominiert in vielen Ländern die Charts, und Rapper wie P. Diddy, Jay Z und Nicki Minaj sind weltbekannt. Auch in Deutschland ist sie inzwischen weit verbreitet; so wurden die deutschen Singlecharts fast die Hälfte des Jahres 2015 von Rapsongs angeführt. 2 Der Lyrik war einst ähnlicher Publikumserfolg beschieden. Im 19. Jahrhundert fanden besonders im englischen Sprachraum zahlreiche Lyrikbände den Weg in die Bestsellerlisten, und Dichter wie Alfred Lord Tennyson und Henry Wadsworth Longfellow wurden derart verehrt, dass ihr Tod zu landesweiter Massentrauer führte. Im frühen 21. Jahrhundert ist die Lyrik allerdings zur marginalen Form geworden. Während die beliebtesten Romane unserer Zeit millionenfach aufgelegt werden, bewegen sich die Verkaufszahlen selbst preisgekrönter Dichter im dreistelligen Bereich. Auch im Schulunterricht und in der akademischen Forschung liegt der Fokus zunehmend auf Erzählliteratur, während Lyrik abgesehen von einigen Klassikern nur noch selten besprochen wird. Zahlreiche Wissenschaftler haben allerdings darauf hingewiesen, dass dieses düstere Bild nur dann entsteht, wenn man den Begriff „Lyrik“ auf konventionelle schriftliche Veröffentlichungen engführt. Dem gegenüber steht ein erstaunliches Interesse an mündlicher Dichtung, die ihr wichtigstes Forum in den Poetry Slams gefunden hat. Diese kurzweiligen Dichterwettbewerbe entstanden Mitte der 1980er Jahre in den USA und haben sich seitdem international verbreitet. Heute ziehen sie jährlich hunderttausende Besucher an und werden teilweise sogar im Fernsehen übertragen. 3 Die Tradition mündlicher Dichtung lässt sich natürlich deutlich weiter zurückverfolgen, nämlich bis zu den Anfängen der westlichen Literatur. Die homerischen Epen wurden vor ihrer Verschriftlichung bekanntlich von reisenden Sängern weitergetragen, und der Literaturhistoriker Walter J. Ong weist darauf hin, dass bis ins 18. Jahrhundert hinein viele literarische Texte für den mündlichen Vortrag geschrieben wurden. 4 Die Poetry Slams sind für den vorliegenden Aufsatz jedoch von besonderem Interesse, da sie demselben kulturellen Kontext entstammen wie die Rapmusik, nämlich öffentlichen Lesungen politischer Lyrik in den ethnischen Minderheitenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Der afroamerikanische Lyriker und Improvisationskünstler Bob Kaufman nimmt in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle ein. Er gehörte der experimentellen Bewegung der Beat poets an, die ihre Lesungen in dadaistische, von Jazzmusik begleitete happenings verwandelten. 5 Ab den 1960ern konsolidierte sich der öffentliche, von Musik begleitete Gedichtvortrag in der Gattung der spoken word poetry , die besonders von dem afroamerikanischen Künstler 2 Vgl. „Offizielle Deutsche Charts: Top 100 Single-Charts.“ Offizielle Deutsche Charts. GfK Entertainment, 2016. (https: / / www.offiziellecharts.de/ charts). 3 Vgl. Chasar, Mike: Everyday Reading: Poetry and Popular Culture in Modern America . New York 2012; Gioia, Dana: „Disappearing Ink: Poetry at the End of Print Culture“. The Hudson Review 56.1 (2003): 21-49. 4 Vgl. Ong, Walter: Orality and Literacy: The Technologizing of the Word . Cornwall 1982, S. 137. 5 Vgl. Charters, Ann: „Beat Poetry and the San Francisco Poetry Renaissance“. The Columbia History of American Poetry . Hg. Jay Parini. New York 1993. 581-604.; Rice, Herbert William: „Bob Kaufman and the Limits of Jazz“. African American Review 47.2-3 (2014): S. 403-15. Hip-Hop und Literatur 129 Gil Scott-Heron geprägt wurde. Er verband anspruchsvolle, meist politische Texte mit einer rhythmischen Hintergrundmusik, die er mit anderen Musikern entwickelte und so orchestrierte, dass Text und Musik eine organische Verbindung eingingen, aber dennoch Freiraum für Improvisation ließen. In seinem wohl bekanntsten Stück, „The Revolution Will Not Be Televised“ (1970), verstärkt die Hintergrundmusik den revolutionären Gestus des Songs durch ihren sprunghaften, irregulären Rhythmus und durch strategisch zur Unterstützung der aktivistischen Appellstruktur eingesetzte Klangeffekte. Die Nähe solcher Stücke zur Rapmusik erschließt sich auch heutigen Hörern, und es überrascht nicht, dass Jay Z und zahlreiche andere Rapper Scott-Heron als Vorläufer bezeichnet haben. 6 Das literarische und soziale Umfeld, in dem sich die spoken word poetry durchsetzen konnte, waren die politisierten Jugend- und Minderheitenbewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Viele afroamerikanische Künstler der Zeit fanden sich in der Black-Arts-Bewegung zusammen, die eine eigenständige schwarze Ästhetik entwickelte. Als Grundlagen dieser Ästhetik dienten spezifisch afroamerikanische Ausdrucksformen, darunter Musikstile wie Jazz und Blues, die Rhetorik schwarzer Prediger, aber auch alltagssprachliche Phänomene wie „playing the dozens“, der spielerische Austausch wortgewandter Beleidigungen. 7 Auch der Rap gehörte zu diesen alltagssprachlichen Phänomenen. Das Wort „rap“ stand damals noch nicht für rhythmischen Sprechgesang, sondern für einen „langen, beeindruckenden Monolog“, der mündlich vorgetragen wurde, wie der Black-Arts-Dichter Clarence Major in seinem Dictionary of Afro-American Slang (1970) schrieb. 8 In dieser Bedeutung wird das Wort beispielsweise von Don L. Lee verwendet, dem populärsten afroamerikanischen Dichter der Zeit, der 1970 ein Album unter dem Titel Rappin’ and Readin’ veröffentlichte. Der Titel bezieht sich auf die beiden Seiten des Albums: Die zweite enthält eine Lesung (engl. reading ) seines im selben Jahr erschienenen Gedichtbandes We Walk the Way of the New World ; die erste Seite enthält das Vorwort zu diesem Band, eine Art Manifest der Black-Arts- und Black-Power-Bewegungen. Um Rap handelt es sich gemäß der damaligen Wortbedeutung insofern, als Lee das Vorwort im Stil einer spontanen mündlichen Äußerung vorträgt und dabei den Wortwitz des Textes in den Vordergrund stellt. Die Aufnahme erinnert aus heutiger Sicht an einen Poetry Slam, was wiederum auf den gemeinsamen Entstehungskontext von Rapmusik und Slam-Lyrik verweist. Der Übergang vom sprachlichen zum musikalischen Rap vollzog sich Ende der 1970er Jahre, als in den Schwarzenvierteln New Yorks einige DJ s begannen, die Instrumentalpassagen bekannter Songs neu abzumischen und über diese Passagen hinweg zum Publikum zu sprechen. Innerhalb weniger Jahre entwickelte sich eine Arbeitsteilung zwischen dem DJ und spezialisierten Sprechern (Rappern), die sich darauf verstanden, im vorgegebenen 6 Vgl. Toop, David: The Rap Attack: African Jive to New York Hip Hop . Boston 1984, S. 119. Auch das Künstlerkollektiv The Last Poets übte starken Einfluss auf frühe Rapmusiker aus, siehe Miller, Ivor, „Notes from the Underground: Hip-Hop’s Increasing Relevance“. Black Renaissance 6.1 (2004): 146-54, hier S. 152; Simmons, Daniel: „His Revolution Is Continued: Gil Scott-Heron’s Relationship to Rap Music“. The Griot 26.1 (2007): 55-64. 7 Vgl. Henderson, Stephen: Understanding the New Black Poetry: Black Speech and Black Music as Poetic References . New York 1973; Smitherman, Geneva: Talkin and Testifyin: The Language of Black America. Boston 1977; Taylor, Yuval u. Jake Austen: Darkest America: Black Minstrelsy From Slavery to Hip-Hop . New York 2012. 8 Major, Clarence: Dictionary of Afro-American Slang . New York 1970; Safire, William: „The Rap on Hip- Hop“. Rap on Rap: Straight-Up Talk on Hip-Hop Culture. Hg. Adam Sexton. New York 1995. 39-42, hier S. 40-41. 130 Timo Müller Rhythmus spontan und einfallsreich das Publikum zu animieren. Bei der frühen Rapmusik handelte es sich also nicht um Songs im herkömmlichen Sinne, sondern ähnlich der spoken word poetry um Liveunterhaltung. 9 Der erste radiotaugliche Song, der die neue Musikrichtung landesweit bekannt machte, war „Rapper’s Delight“ (1979) von der Gruppe The Sugarhill Gang. Diese wurde zwar von Produzenten zusammengestellt, doch die Herkunft des Songs aus der Liveunterhaltung ist von Beginn an spürbar. I said a hip hop the hippie the hippie To the hip hip hop and you don’t stop The rock it to the bang bang boogie Say up jump the boogie to the rhythm of the boogie, the beat. Now, what you hear is not a test, I’m rapping to the beat And me, the groove, and my friends are gonna try to move your feet See I am Wonder Mike and I’d like to say “hello” To the black, to the white, the red and the brown, the purple and yellow But first, I gotta bang bang the boogie to the boogie Say up jump the boogie to the bang bang boogie Let’s rock, you don’t stop Rock the rhythm that'll make your body rock. 10 Die einer breiteren Hörerschaft unverständlichen Begriffe „hip hop“ und „rapping“ werden erklärend veranschaulicht. Das Kunstwort „hip hop“ weist auf die spontanen rhythmischen Bewegungen hin, zu denen ursprünglich das Livepublikum animiert werden sollte; „rapping“ wird in der herkömmlichen afroamerikanischen Bedeutung eines längeren Sprechparts verwendet und als intentionaler Bestandteil des neuen Musikstils erklärt: „Was ihr hier hört, ist kein Test; vielmehr spreche ich im Rhythmus der Musik“. Auch die Vorstellung des Sprechers („I am Wonder Mike“), die Interaktion mit dem Publikum in seiner ethnischen Vielfalt und der damals verbreitete Animationsruf „Let’s rock, you don’t stop“ deuten auf den Livecharakter der ersten Rapauftritte hin. Die frühen Rapper verbanden ähnlich den spoken word poets eingeübte mit improvisierten Passagen, was in studioproduzierten Songs wie diesem allerdings nur noch simuliert wird. Selbst eher simple Zeilen wie diejenigen der Sugarhill Gang greifen auf lyrische Kompositionsprinzipien zurück. Der Reim hat strukturierende Funktion und wird vielfältig verwendet; zudem werden Wörter spielerisch abgewandelt und zu humorvollen, auch hintergründigen Bildern und Metaphern verbunden. Dieses Spannungsverhältnis von strukturierter und zugleich origineller Sprache ist der Rapmusik und der tradionellen Lyrik gemein und soll im Folgenden näher betrachtet werden. Die ersten akademischen Arbeiten über Hip-Hop entstanden einige Jahre nach der Veröffentlichung von „Rapper’s Delight“ und bezogen sich meist auf Aufnahmen vorproduzierter Songs, in denen der Sprechgesang dominierte, während die Rolle des DJ s auf die Bereitstellung eines simplen Takts reduziert war. Dementsprechend stand in der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Hip-Hop von Beginn an der Rap in seiner sprachlichen Verfasstheit im Vordergrund. Cheryl Keyes konstatiert in dem frühen Essay „Verbal Art Performance in Rap Music“ (1984), dass Rap sich von anderen Spielarten afroamerikanischer 9 Vgl. Chang, Jeff: Can’t Stop Won’t Stop: A History of the Hip-Hop Generation . London 2005, S. 67-187; Toop, The Rap Attack , S. 56-100. 10 Die Rapsongs werden von der einschlägigen Website Rapgenius zitiert (https: / / rap.genius.com/ ). Hip-Hop und Literatur 131 Musik insofern unterscheide, als nicht die Melodie, sondern „das Sprechen oder Rappen zum Highlight der Aufführung wird“. 11 Adam Bradley hebt in seiner bereits genannten Studie Book of Rhymes: The Poetics of Hip Hop die besondere rhythmische Komplexität von Rapmusik hervor: Sprache und Musik folgen nicht demselben Rhythmus, sondern bringen jeweils ihren eigenen ein. 12 Insbesondere in vorproduzierten Rapsongs, wie sie heute Standard sind, kann zudem die sprachliche Komplexität enorm gesteigert werden, da Auswahl und Anordnung der Wörter sorgfältig reflektiert und Querverbindungen zwischen verschiedenen Textstellen hergestellt werden können. Mittlerweile greifen Rapper auf eine Vielzahl an Stilmitteln zurück, zu deren beliebtesten einerseits klangliche Elemente wie Alliteration und Homophonie, andererseits Vergleiche und Metaphern gehören. 13 Diese Stilmittel werden fortlaufend auf aktuelle Themen und Entwicklungen bezogen, so dass der Rap zahlreiche neue Bilder, Metaphern und Wortbedeutungen in die Alltagssprache eingebracht hat. 14 Auch im Deutschen sind Neuzuschreibungen wie homie für „Kumpel“ oder dissen für „beleidigen“ inzwischen allgemein geläufig. Bei der jährlichen Kür dessen, was der Langenscheidt-Verlag für das „Jugendwort des Jahres“ hält, erhöhte sich in den letzten Jahren die Trefferwahrscheinlichkeit deutlich, wenn Begriffe aus der Hip-Hop-Szene gewählt wurden, etwa swag (lässiges Auftreten) oder babo (Chef). Die Rapmusik beteiligt sich hier an einer gesellschaftlichen Funktion, die traditionell Dichter übernommen haben: der Überprüfung, Modifikation und Erweiterung unserer sprachlichen Ausdrucksformen. Zahlreiche Websites, auf denen Rapsongs diskutiert und annotiert werden, belegen, dass diese sprachliche Komplexität auch von Hörern nachvollzogen wird. Die erfolgreichste dieser Websites, Rapgenius , bietet mittlerweile auch die Möglichkeit, traditionelle Lyrik zu annotieren. 15 Rapmusik und Lyrik haben sich also im Produktionswie im Rezeptionsprozess einander angenähert, und das zu beiderseitigem Nutzen, wie ein Exkurs in die amerikanische Gegenwartsdichtung zeigt. Von den 1960er Jahren an war eine formale Homogenisierung der amerikanischen Lyrik zu beobachten. Hatten sich der Modernismus und die kleineren „Schulen“ der Nachkriegszeit vor allem durch distinktive Auffassungen lyrischer Form definiert, so rückten in den 1960er Jahren inhaltliche Aspekte in den Vordergrund, was vor allem auf die Politisierung der Literatur und die Popularität der sogenannten Geständnisdichtung ( confessional poetry ) zurückzuführen war, in der Dichter ihre seelischen Abgründe offenbarten. 16 In dieser Zeit stieg das narrativ-meditative Erlebnisgedicht im freien Vers zur bevorzugten Form amerikanischer Dichter auf. 17 Auch wegen der zunehmenden Anbindung der Dichterszene 11 Keyes, Cheryl: „Verbal Art Performance in Rap Music: The Conversation of the 80’s“. Folklore Forum 17.2 (1984): 143-52, hier S. 143. Ü. d. V. 12 Vgl. Bradley, Adam: Book of Rhymes: The Poetics of Hip Hop . New York 2009, S. xv, 7, 14. 13 Vgl. Potter, Russell A.: Spectacular Vernaculars: Hip-Hop and the Politics of Postmodernism . Albany 1995, S. 81. 14 Vgl. Crossley, Scott: „Metaphorical Conceptions in Hip-Hop Music“. African American Review 39.4 (2005): 501-512, hier S. 501-505; vgl. Bradley, Book of Rhymes , S. 94. 15 Rap Genius . Genius Media Group, 2016 (https: / / rap.genius.com/ ). 16 Die wegweisende Anthologie der Nachkriegszeit war Allen, Donald: The New American Poetry 1945 - 1960 . New York 1960.; literaturgeschichtliche Überblicke bieten Bendixen, Alfred u. Stephen Burt (Hgg.): The Cambridge History of American Poetry . New York 2015, S. 823-93.; Link, Franz: Das moderne amerikanische Sonett . Heidelberg 1997, S. 481-601; Scheiding, Oliver, René Dietrich u. a. (Hgg): A History of American Poetry: Contexts - Developments - Readings . Trier 2015, S. 273-326. 17 Vgl. Silberg, Richard: Reading the Sphere: A Geography of Contemporary American Poetry . Berkeley 2002, S. 153-54. 132 Timo Müller an die Universitäten entstand so eine inhaltliche wie formale Orthodoxie, die nach dem Ende der Black-Arts-Bewegung auch die afroamerikanische Lyrik erfasste. 18 Außerhalb der Universitäten stieß solche Dichtung nicht mehr auf Resonanz, was zur bereits erwähnten gesellschaftlichen Marginalisierung der amerikanischen Lyrik beitrug. Die bekannteste Widerstandsbewegung gegen die Vorherrschaft des meditativen Erlebnisgedichts war der Neue Formalismus ( New Formalism ) der 1980er und 1990er Jahre, der eine Rückkehr zu Metrum und Reim forderte, um wieder eine breitere Leserschaft für Lyrik zu begeistern. 19 Der Neue Formalismus erregte zwar einige Aufmerksamkeit, konnte sich aber nicht durchsetzen, weil ihn viele Dichter und Kritiker als reaktionär empfanden. In dieser Auseinandersetzung entging beiden Seiten, dass formalistische Dichtung außerhalb der Universitäten zeitgleich zu ungeahnter Popularität gelangte, und zwar durch den Aufstieg des Hip-Hop. Raptexte folgen einem strengen rhythmischen Muster, nämlich dem 4 / 4-Takt der zugrundeliegenden Musik. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht könnte man von einem akzentualen Tetrameter sprechen, wobei der Rhythmus im Unterschied zur Lyrik nicht aus der Sprache erzeugt, sondern von der Musik vorgegeben wrid. Auch Reime spielen im Rap eine tragende, vielleicht sogar konstitutive Rolle. Sie treten in höherer Dichte auf als in den meisten herkömmlichen Gedichten, weil neben Endreimen auch Binnenreime in großer Zahl verwendet werden. Zudem ermöglicht der mündliche Vortrag des Rap das Spiel mit Assonanzen, Halbreimen und Apokopen. 20 Kanye West hat dieses Spiel zu einiger Meisterschaft gebracht. Er bringt beispielsweise in den folgenden Zeilen drei Reime unter: I don’t need writers, I might bounce ideas But only I could come up with some shit like this Während der unreine Reim „ideas / like this“ auch in der Schriftform nachvollziehbar sein mag, wird beim Hören deutlich, dass dieser Reim schon bei „writers“ in der Mitte der ersten Zeile beginnt, da West die Aussprache des Wortes entsprechend verzerrt. Während die Hinwendung zum freien Vers in der Lyrik nicht zuletzt von dem Gedanken getragen war, die Reimkunst habe sich erschöpft, 21 experimentieren Rapper unverdrossen mit immer gewagteren unreinen und mehrsilbigen Reimen und widerlegen damit die These von der Konventionalität gereimter Sprache. So können sie auch konventionelle Reimwörter mit neuen Bedeutungen aufladen und dichterisch wieder ergiebig machen. Zwar profitieren Rapper dabei von den erweiterten Möglichkeiten des gesprochenen Worts, wie das Beispiel von Kanye West zeigt, doch selbst in der Schriftform fallen immer wieder originelle Konstellationen ins Auge. 18 Vgl. Dooley, David: „The Contemporary Workshop Aesthetic“. Hudson Review 43.2 (1990): 259-80; Logan, William: The Undiscovered Country: Poetry in the Age of Tin . New York 2005; Silberg, Reading the Sphere . 19 Vgl. Gioia, Dana: „The Dilemma of the Long Poem“. Expansive Poetry: Essays on the New Narrative and the New Formalism . Hg. Frederick Feirstein. Santa Cruz 1989. 3-8.; McPhillips, Robert, The New Formalism: A Critical Introduction . Charlotte 2003. 20 Vgl. Bradley, Book of Rhymes , S. 52-54; Pate, Alexs: In the Heart of the Beat: The Poetry of Rap . Lanham 2010, S. 113. 21 Vgl. Caplan, David: Rhyme’s Challenge: Hip Hop, Poetry, and Contemporary Rhyming Culture . Oxford 2014, S. 29-30; Hejinian, Lyn: The Language of Inquiry , Berkeley 2000, S. 307. Hip-Hop und Literatur 133 Die Neuen Formalisten können sich durch den spektakulären Erfolg der Rapmusik also in ihrer Ansicht bestätigt fühlen, dass durch Metrum und Reim ein breiteres Publikum erreicht werden kann. Diese Ansicht wird auch von Wissenschaftlern außerhalb der Dichterszene geteilt. So analysieren Hip-Hop-Experten wie Adam Bradley und Aleks Pate verschriftlichte Raptexte nach klassischen formalistischen Kriterien, führen genaue Textanalysen in der Tradition des literaturwissenschaftlichen close reading durch und weisen Defamiliarisierungseffekte nach, die schon der Ästhetik des Russischen Formalismus im frühen 20. Jahrhundert zugrunde lagen. 22 Zudem argumentiert Bradley ebenso wie die Neuen Formalisten, dass die Ablehnung von Metrum und Reim in der Lyrik zu „ihrem Rückgang als beliebtes Medium“ beigetragen hat, und dass die Rapmusik in dieser Hinsicht „dort erfolgreich war, wo ein großer Teil der Gegenwartslyrik es nicht war“. 23 Freilich kann dieser Erfolg auch auf zahlreiche andere Faktoren zurückgeführt werden, darunter die musikalische Komponente und die teils politischen, teils unterhaltenden Botschaften von Rapsongs. Auch der inhaltliche Aspekt bestätigt jedoch ein Argument der Neuen Formalisten, dass nämlich die Verwendung von Metrum und Reim nicht unbedingt auf eine reaktionäre Einstellung hindeutet. Während manche Rapsongs durchaus reaktionäre Elemente aufweisen, etwa in der Darstellung von Geschlechterrollen, herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit, dass Rapmusik politisch eine starke progressive Wirkung entfaltet hat. Sie verhandelt die Herausforderungen ethnischer Vielfalt, artikuliert soziale Probleme, prangert rassistische Diskriminierung an und kommentiert aktuelle politische Ereignisse aus Sicht derjenigen, die ansonsten kaum Gehör finden. 24 Ihre soziokulturelle Relevanz insbesondere im afroamerikanischen Kontext veranschaulicht eine vielzitierte Aussage von Chuck D, dem Frontmann der einflussreichen Rapgruppe Public Enemy: „Rap ist das CNN , das Schwarze nie hatten“. 25 Literaturgeschichtlich steht Rap damit in der Tradition der Black-Arts-Bewegung, deren Dichter sich politisch klar positionierten, das Bewusstsein für ethnische Diskriminierung schärften und damit ein breites Publikum erreichten. In deutlichem Kontrast hierzu steht die afroamerikanische Gegenwartslyrik, die sich ab den 1980er Jahren von den politischen Grundsätzen der Black-Arts-Bewegung löste und sich an der akademischen Orthodoxie des meditativen Erlebnisgedichts orientierte. Damit einher ging ein kultureller Bedeutungsverlust, der sich sowohl an den rapide gesunkenen Verkaufszahlen ablesen lässt als auch an der marginalen Rolle, die Dichter heute in den sozialen und kulturellen Debatten der Afroamerikaner spielen. Orthodoxe Gegenwartslyriker würden dagegen wohl argumentieren, dass ihrer Arbeit diese Intention auch gar nicht zugrunde liegt; dass sie Lyrik weder als sozialen Kommentar begreifen noch als massentaugliche Ausdrucksform. Der afroamerikanische spoken word poet Saul Williams hat sich vor diesem Hintergrund skeptisch über die poetische Qualität von Rapsongs geäußert. Die überdeutlichen Botschaften und die prahlerische Haltung vieler Rapper, so argumentiert er, machten es unmöglich, ein Gespür für die Abgründe und Ambivalenzen menschlicher Existenz zu entwickeln; es sei jedoch gerade diese Tiefenschicht menschlichen Denkens und Fühlens, der das zeitgenössische Erlebnisgedicht Aus- 22 Vgl. Bradley, Book of Rhymes , S. xiii; vgl. Pate, In the Heart of the Beat , S. 80-32. 23 Bradley, Book of Rhymes , S. 10; 12; 70. 24 Vgl. Dowdy, Michael: American Political Poetry in the 21 st Century . New York 2007, S. 16-18; Rose, Tricia: Black Noise: Rap Music and Black Culture in Contemporary America . Middletown 1994. 25 Gold, Jonathan: „Enemy of the People“, LA Weekly 6. Jan. 1989: 14-20, hier S. 16. 134 Timo Müller druck verleihen wolle. 26 Auch die Ausführungen des vorliegenden Aufsatzes sollen nicht zu dem Schluss verleiten, dass Rap herkömmlicher Lyrik überlegen sei oder sie gar ersetzen könne. Vielmehr profitieren die Gattungen voneinander, indem sie einander beeinflussen und inspirieren. Dieses Zusammenspiel soll nun am konkreten Beispiel aufgezeigt werden. Der Aufschwung der digitalen Musikverbreitung ermöglicht es mittlerweile einer großen Zahl von Rappern, ein überregionales Publikum zu erreichen. Gerade im deutschen Sprachraum hat sich die Rapszene spürbar diversifiziert und ermöglicht auch anspruchsvollen Künstlern einen gewissen Publikumserfolg. Zu diesen gehören die Münchner Fatoni und Edgar Wasser, deren Song „Nicht jetzt“ (2013) die sprachliche Komplexität und politische Relevanz von Rapsongs veranschaulicht. 27 Mit charakteristischer Ironie geben Fatoni und Edgar Wasser die Gedankengänge zielloser Altersgenossen wieder, die laut Refrain „gerne etwas ändern“, aber ungerne sofort damit beginnen würden. Ich hätte an sich die Welt an sich plus meine Weltansicht Schon lang verbessert, würde mein neues Smartphone mich nicht an sich fesseln, aber es kann halt sprechen: „Was wollen Sie tun? “, und hat so viele Tasten, Ich bin nur einer von so vielen Spasten, und um das zu Vergessen, schreib ich kritische Texte, und fühl’ mich anschließend Besser als ihr, es ist wichtig Sich abzugrenzen von andern Menschen, ah yeah Bisschen Bildungsbürger, bisschen Proletariat ’N bisschen auf der Street, bisschen Volontariat Informiert: Tabs aufmachen bei Spiegel Online Kreativ, doch Hauptsache die Miete kommt rein Strikt ambivalent konsequent inkonsequent Ich mach’ alles richtig mit ner Prise Inkompetenz Ich mag die Attitude vom Widerstand, aber auch Apple-Produkte ziehn mich an Dieses Leben ist ein Stillleben, an meinen beiden Beinen kleben Spinnweben; ich würde mich So gerne etwas hingeben, doch werde mich Wohl erstmal etwas hinlegen Indem sie zahlreiche Gegensatzpaare aufruft, persifliert diese Passage sowohl die Unentschlossenheit vieler Jugendlicher als auch die unerfüllbaren Erwartungen, denen sie sich ausgesetzt sehen. Schon die einführende Gegenüberstellung der grandiosen Weltverbesserungswünsche des Sprechers mit den simplen Angeboten des neuen Smartphones verleiht der Passage eine parodistische Note. Die Gegenüberstellung von Bildungsbürgertum und Proletariat, street credibility und Lebenslaufmanagement, politischem Widerstand und Hochglanzprodukt satirisiert nicht nur die Weltsicht des Sprechers, sondern stellt auch die Authentizität und Abgrenzbarkeit der aufgerufenen Leitbilder in Frage. Diese Doppelbödigkeit wird durch die Handhabung der Sprecherinstanz verstärkt. Einerseits grenzt sich Fatoni deutlich vom lyrischen Ich ab, indem er dessen Antriebslosigkeit und mangelnde Intelligenz mit der drängenden Energie und den souverän formulierten Beobachtungen 26 Vgl. Bradley, Book of Rhymes , S. 196-197. 27 Fatoni u. Edgar Wasser: „Nicht jetzt“. Nocebo . München 2013. Hip-Hop und Literatur 135 seines Raps kontrastiert. Andererseits verstärkt er die Konventionen lyrischen Sprechens, die eine Identifikation des lyrischen Ichs mit dem Dichter nahelegen, indem er „kritische Texte“ - und damit sich selbst als Autor des vorliegenden Textes - explizit in die Satire einbezieht. Auch die subversive Gegenüberstellung von kreativem Schaffen und materiellem Sicherheitsdenken („Kreativ, doch Hauptsache die Miete kommt rein“) legt eine autobiographische Deutung nahe, da Fatoni als Rapper selbst einer kreativen Tätigkeit nachgeht. Das einfallsreiche Oxymoron vom Leben als Stillleben, das ebenfalls dem Bereich der Kunst entnommen ist, fasst die verschiedenen Ebenen der Satire prägnant zusammen. Auch in formaler Hinsicht handelt es sich bei der Passage um ein sorgfältig durchkomponiertes Sprachkunstwerk. Die für Rapsongs charakteristische Häufung und Komplexität der Reime ist augenfällig. Der erste Vers enthält gleich drei Binnenreime („an sich / an sich / -ansicht“), darunter zwei identische und ein unreiner Reim. Ähnliche Häufungen treten in den Formulierungen „ambivalent konsequent inkonsequent“ und „Leben / Stillleben“ auf. Der versübergreifende Binnenreim dient als zentrales Strukturprinzip des Textes und tritt häufiger auf als der Endreim. Oft werden solche Reime über mehrere Zeilen hinweg geführt und subtil abgewandelt, etwa „verbessert / fesseln / Vergessen / Besser“ oder „Stillleben / Spinnweben / hingeben / hinlegen“. Der mündliche Vortrag erlaubt zudem das Spiel mit Assonanzen und Halbreimen wie „Tasten / Spasten / das zu“ oder „abzugrenzen / andern Menschen“. Wie in vielen Rapsongs, und im Unterschied zur Lyrik, umfassen die Reime oft mehr als zwei Silben. Die komplexe Verteilung von Binnen- und Endreimen ergibt sich nicht zuletzt aus dem souveränen Zusammenspiel der beiden rhythmischen Ebenen des Songs, der musikalischen und der sprachlichen. Da Sätze und semantische Einheiten oft über den 4 / 4-Takt der Musik hinweggeführt werden, unterläuft der Song die übliche Markierung von Versenden durch Reime. Es entsteht ein fließender und doch gelegentlich stockender Sprechrhythmus, der die entschlossen-unentschlossene Haltung des Sprechers spürbar macht. Auch in anderer Hinsicht werden, den ästhetischen Erwartungen an traditionelle Lyrik entsprechend, formale Mittel zur Unterstützung des Inhalts herangezogen. Die Ziellosigkeit des Sprechers wird durch längere Aufzählungen zum Ausdruck gebracht: neben „ambivalent konsequent inkonsequent“ ist hier besonders die mehrmalige Wiederholung von „bisschen“ auffallend. Diese Aufzählungen rufen das literarische Stilmittel des Asyndetons auf, wandeln es allerdings parodistisch ab, da im Gegensatz zur konventionellen Verwendung keine Steigerung oder sonstige Entwicklung stattfindet; vielmehr widersprechen sich die Aufzählungselemente gegenseitig. Ein ähnliches Prinzip liegt der Bedeutungsverschiebung des Begriffs „an sich“ zu Beginn der Passage zugrunde. Hier wird die oben festgestellte parodistische Note eingeführt, indem der gleiche Begriff in zwei völlig verschiedenen gedanklichen Kontexten gebraucht wird: einerseits als fundamentale philosophische Erkenntniskategorie („die Welt an sich“), andererseits als banale Alltagsphrase, die dem Sprecher als Ausrede zum Handlungsaufschub dient und damit seine passive Haltung unterstreicht. In ihrer sprachlichen Dichte und Mehrdeutigkeit nähert sich die Passage an herkömmliche Lyrik an, steht jedoch insofern in der Tradition des Hip Hop, als die verschiedenen sprachlichen Mittel dazu dienen, soziale und politische Anliegen zu artikulieren. Die lyrische und kulturelle Produktivität des Hip-Hop steht wie gesehen im Gegensatz zur fortschreitenden gesellschaftlichen Marginalisierung der Gegenwartsdichtung. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass in den letzten Jahren zahlreiche, insbesondere 136 Timo Müller afroamerikanische Dichter den Hip-Hop als Inspirationsquelle entdeckt haben, etwa John Murillo, Major Jackson, Kevin Young, Terrance Hayes und Erica Dawson. All diesen Dichtern ist gemein, dass sie in den 1970er Jahren geboren und in der klassischen Phase des Hip-Hop aufgewachsen sind. 28 Wie breit der Einfluss von Hip-Hop auf die amerikanische Lyrik mittlerweile ist, zeigt die von den Dichtern Kevin Coval, Quraysh Lansana und Nate Marshall herausgegebene Anthologie The BreakBeat Poets: New American Poetry in the Age of Hip-Hop (2015). Sie versammelt Gedichte von über 70 Autoren, darunter dem Poetry- Slam-Veteranen Roger Bonair-Agard, dem hochgehandelten Jungliteraten Adrian Matejka (ein in Nürnberg geborener Afroamerikaner), aber auch von Studenten und anderen bislang unveröffentlichten Dichtern. Bei hip hop poetry handelt es sich also um eine ernstzunehmende Tendenz in der Gegenwartsdichtung, die sich derzeit zu koordinieren beginnt und zu einer einflussreichen Bewegung werden könnte. Der Begriff hip hop poetry ist älter als manche Beiträger der Anthologie, war er doch schon Mitte der 1990er Jahre im Umlauf, damals allerdings eher im abwertenden Sinne. So verwirft 1997 der Dichter und Literaturkritiker Robert Phillips, der den Geständnisdichtern nahesteht, in einer Rezension der neoformalistischen Anthologie Rebel Angels einige der enthaltenen Gedichte mit der Bemerkung, sie läsen sich „wie hip hop poetry , voller Straßensprache und Markennamen“. 29 Der hispanoamerikanische Dichter Rafael Campo führt in seinem Band Landscape With Human Figure (2002) den „Lärm von Hip-Hop, als einige Teenager vorbeifahren“ („blast / of hip-hop as some teenagers drive past“) als eines der störenden Hintergrundgeräusche des Großstadtlebens auf. 30 Die oben genannten Dichter der jüngeren Generation positionieren sich dagegen explizit in der schöpferischen Tradition klassischer Rapmusik. John Murillo nennt in einem Gedicht zwei Rapper der 1980er Jahre, die sich durch besonders wagemutige Reimexperimente hervortaten, als Inspirationsquellen, und grenzt sie explizit von der Tradition subjektiver Erlebnisdichtung ab: „Kane, not Keats; / Rakim, not Rilke“. 31 Der ältere Kollege D. A. Powell gibt an, The Sugarhill Gang und andere frühe Rapgruppen seien für ihn „ebenso wichtig“ gewesen wie Keats und Gertrude Stein. 32 Kevin Coval führt in seinem Vorwort zu The BreakBeat Poets zahlreiche Schriftsteller als Vorläuferfiguren der hip hop poetry an, insbesondere die Dichter der Black-Arts-Bewegung, aber auch Gil Scott-Heron und andere repräsentative Figuren der afroamerikanischen Literaturgeschichte. Darüber hinaus verortet er die neue Strömung allgemein in der Tradition amerikanischer Avantgardedichtung seit dem Zweiten Weltkrieg und weist auch auf den prägenden Einfluss der Poetry-Slams hin. 33 Seiner weit ausgreifenden Positionierung liegt das Bemühen zugrunde, die hip hop poetry als dritte große Phase in der Geschichte der afroamerikanischen Lyrik zu etablieren, nach der Harlem Renaissance der Zwischenkriegszeit, die vor allem durch den Blues beeinflusst sei, und der vom Jazz inspirierten 28 Vgl. Caplan, Rhyme’s Challenge, S. 104-105. 29 Phillips, Robert: „Assessing the New Formalism (So-Called)“. Rez. Rebel Angels: 25 Poets of the New Formalism . Hgg. Mark Jarman u. David Mason. The Hudson Review 50.1 (1997): 147-153. 30 Campo, Rafael: Landscape with Human Figure. Durham 2002, S. 55. 31 Murillo, John: Up Jump the Boogie . New York 2010, S. 23. 32 Hoffman, Jasha: „,Cocktails‘ for Two: Interview with D. A. Powell“. The Harvard Crimson, 9. Nov. 2001. Web. 7 Nov. 2016. (http: / / www.thecrimson.com/ article/ 2001/ 11/ 9/ cocktails-for-two-interview-withda/ ). 33 Vgl. Coval, Kevin: „Introduction.” The BreakBeat Poets: New American Poetry in the Age of Hip-Hop . Hgg. Kevin Coval, Quraysh Ali Lansana u. a. Chicago 2015. xv-xxii. Hip-Hop und Literatur 137 Black-Arts-Dichtung. 34 Diese Traditionslinie ist insofern bemerkenswert, als sie eine ganze Generation afroamerikanischer Lyriker auslässt, nämlich diejenige, die sich ab den 1980er Jahren von der Black-Arts-Bewegung distanzierte und der meditativen Erlebnisdichtung zuwandte. Die Ansicht, dass es der zeitgenössischen amerikanischen Lyrik im Unterschied zur Rapmusik an inhaltlicher und sprachlicher Relevanz mangele, scheint hier bereits auf und wird gegen Ende des Vorworts polemisch ausformuliert: „Hip-hop saved American poetry. Made it new, fresh, made it something anybody gave a fuck about. Hip-hop did this. Black and Brown and Asian writers made poetry a tool to communicate with an intentionally large audience and also went out in the streets and clubs and community centers to organize and build and find that audience.“ 35 Neu, frisch und relevant ist diese Lyrik für Coval also insofern, als sie gesellschaftlich unterrepräsentierte Schichten und ihre Alltagserfahrungen in zugänglicher, packender Form öffentlich macht. Die erste ausführlichere literaturwissenschaftliche Diskussion der hip hop poetry stützt diese Einschätzung. Im seiner Studie Ryhme’s Challenge: Hip Hop, Poetry, and Contemporary Rhyming Culture (2014) hebt David Caplan „das Tempo und die Antriebskraft“ solcher Lyrik hervor und betont ebenfalls ihre Lebensnähe. Er führt diese Vorzüge unter anderem auf die originelle Handhabung von Reimen zurück, die in der konventionellen Gegenwartsdichtung meist gar nicht oder lediglich als distanzierender Effekt verwendet würden, durch den Einfluss des Hip-Hop aber wieder an Wirkmächtigkeit gewonnen hätten. 36 In Caplans Studie finden sich auch erste typologische Unterscheidungen, mit denen sich der Einfluss des Hip-Hop genauer bestimmen lässt. Demnach kann der Bezug auf Hip-Hop inhaltlich oder stilistisch erfolgen, ersteres beispielsweise durch die Nennung von Künstlern und die Beschreibung typischer Praktiken, letzteres durch die Wortwahl und den Rhythmus des Gedichts. Caplan geht vor allem auf die stilistischen Bezüge ein, die Hip-Hop als einen „Modus“ lyrischen Schreibens fruchtbar machen. 37 Er unterscheidet prinzipiell zwischen imitativer und synthetischer Aneignung: Während manche Gedichte sich so stark an Rapmusik orientieren, dass sie an verschriftlichte Songtexte erinnern, nehmen andere Gedichte Impulse aus beiden Gattungen auf und überführen sie in eine neue, synthetische Formensprache. 38 Als Beispiel für den imitativen Modus nennt Caplan ausgerechnet Kevin Coval, den Herausgeber von The BreakBeat Poets . In der Tat finden sich in Covals Vorwort Passagen, in denen die konzeptuelle Unterscheidung zwischen Hip Hop und Lyrik aufgegeben wird. „Die Gedichte in unserer Anthologie machen nicht in Hip-Hop und sind nicht über Hip- Hop,“ schreibt er an einer Stelle. „Diese Gedichte sind Hip-Hop.“ 39 Tatsächlich weisen die anthologisierten Gedichte allerdings eine deutlich größere Bandbreite auf. Manche lesen sich wie Rapsongs, andere beschäftigen sich auf der thematischen Ebene mit Hip-Hop, ohne dass ein stilistischer Einfluss spürbar wäre. In ihrer überwiegenden Mehrzahl verfahren die Gedichte aber synthetisch, greifen also auf traditionelle lyrische Mittel ebenso zurück wie auf inhaltliche und formale Eigenheiten des Hip-Hop. Diese Vorgehensweise 34 Vgl. Coval, „Introduction“, S. xix. 35 Coval, „Introduction“, S. xx. 36 Vgl. Caplan, Rhyme’s Challenge , S. 111; 131 f. 37 Caplan, Rhyme’s Challenge , S. 108. 38 Vgl. Caplan, Rhyme’s Challenge , S. 126-127. 39 Coval, „Introduction“, S. xix. 138 Timo Müller lässt sich an „Break“ (2011) veranschaulichen, einem Gedicht der bisher kaum bekannten afroamerikanischen Autorin Aracelis Girmay: 40 When the boys are carnivals we gather round them in the dark room & they make their noise while drums ricochet against their bodies & thin air below the white ceiling hung up like a moon & it is California, the desert. I am driving in a car, clapping my hands for the beautiful windmills, one of whom is my brother, spinning, on a hillside in the garage with other boys he’ll grow old with, throw back. How they throw back their bodies on the cardboard floor, then spring-to, flying like the heads of hammers hitting strings inside of a piano. Again, again. This is how they fall & get back up. One who was thrown out by his father. One who carries death with him like a balloon tied to his wrist. One whose heart will break. One whose grandmother will forget his name. One whose eye will close. One who stood beside his mother in a green hospital. One kick up against the air to touch the earth. See him. Fall. Then get back up. Der vieldeutige Titel des Gedichts könnte unter anderem mit „Pause“ oder „Bruch“ übersetzt werden, konnotiert aber im Kontext der afroamerikanischen Jugendkultur auch den Breakdance. Diese Konnotation wird durch das Wort „boys“ verstärkt (im Englischen werden Breakdancer häufig als „b-boys“ bezeichnet); auch die im Kreis stehenden Zuschauer und die Trommelgeräusche deuten auf eine Breakdance-Aufführung hin. Dass die Jungen selbst Geräusche von sich geben („they make their noise“), erinnert wiederum eher an Rap, während eine dritte Komponente des Hip-Hop, DJ ing, einige Zeilen später durch das Wort „spinning“ angedeutet wird. Erst gegen Ende des Abschnitts erfolgt eine ausführlichere Beschreibung der Situation: es handelt sich tatsächlich um eine Breakdance-Aufführung, an welcher der Bruder des lyrischen Ichs beteiligt ist. Dass dies lange im Unklaren bleibt, ist dem assoziativen Stil des Gedichts geschuldet, der sich deutlich vom direkten, beschreibenden Zugang vieler Rapsongs unterscheidet. Duch seine bildhafte Sprache („the boys are carnivals“) und die nicht begründeten Szenenwechsel („& it is California, the desert“) entzieht sich das Gedicht eindeutigen Sinnzuschreibungen und stellt die Realität des Beschriebenen in Frage. Die Sprünge von der Eingangsszene zur nächtlichen Fahrt durch Kalifornien und dann wieder zurück zu den Tänzern, die wohl im Bewusstsein des lyrischen Ichs stattfinden, machen das Gedicht zu einer Art Kippfigur, da nicht geklärt wird, welche der Szenen sich in der Erzählgegenwart abspielt und welche in 40 Girmay, Aracelis: Kingdom Animalia . Rochester 2011, S. 82. Hip-Hop und Literatur 139 der Erinnerung - oder gar in der Imagination. Im Kleinen findet diese Kippbewegung in den Übergangsbildern des Mondes und der Windmühlen statt: Auch hier bleibt die Frage offen, ob die weiße Decke der Garage das lyrische Ich an den Mond über Kalifornien erinnert oder umgekehrt. Die Kippbewegung zwischen Windmühlen und Tänzern ruft die sprichwörtlich gewordene Geschichte von Don Quixote auf, der Windmühlen als menschliche Gestalten wahrnahm, und verstärkt damit noch einmal die Frage, ob die Tänzer lediglich der Imagination des lyrischen Ichs entspringen. Solche Fragen sind der Rapmusik eher fremd. Sie entstammen der Gedankenwelt der postmodernen Lyrik, insbesondere der bereits angesprochenen meditativen Erlebnislyrik. Auch der assoziative Stil, der autobiographischen Gestus und die Aufhebung der beschriebenen Erlebnisse in das subjektive Empfinden des Dichters, die durch die Wiederholung von „They get back up“ am Ende des Gedichts angedeutet wird, sind charakteristisch für die meditative Erlebnislyrik. In anderer Hinsicht weist das Gedicht allerdings deutliche Einflüsse des Hip-Hop auf. Das martialische Bild von den Trommelgeräuschen als „Querschläger“, die an den Körpern der Tänzer „abprallen“, wird im Englischen durch das Wort „ricochet“ lautmalerisch verstärkt und macht die Härte und die Schnelligkeit der tänzerischen Bewegung spürbar. Die Wiederholung des rhythmisch-prononcierten „throw back“ und das Bild von den Tänzern als Klavierhämmer verstärken diesen Eindruck. Der synkopische Rhythmus des Breakdance (und des Rap) wird im zweiten Teil des Gedichts durch abrupte Zeilensprünge vermittelt. Das Wort „One“ wird synkopisch herausgehoben und etabliert dadurch einen Rhythmus innerhalb der Verse, der durch die ständige Wiederholung mal fließend, mal brechend weitergeführt wird. Gemäß David Caplans Definition handelt es sich also um ein synthethisches Hip-Hop-Gedicht, das meditative Züge aufweist, formal aber straffer organisiert und energischer durchgeführt ist. Im Unterschied zur konventionellen Erlebnislyrik stehen zudem nicht die Reflexionen des Dichters im Vordergrund, sondern die Kreativität einer Jugendkultur, die vom lyrischen Ich, und tendenziell auch vom Leser, als revitalisierender Impuls erfahren wird. Das Zusammenspiel von Hip-Hop und Literatur, um auf den Titel des Aufsatzes zurückzukommen, kann also ganz verschiedene Formen annehmen. Alle vier Elemente des Hip- Hop - Rap, DJ ing, Breakdance, Graffiti - können der Literatur als Thema dienen, aber auch ihre Formensprache beeinflussen. Die deutlichsten Einflüsse lassen sich zwischen Rap und Lyrik aufweisen, bei denen es sich um historisch und sprachlich verwandte Gattungen handelt. Die zunehmende sprachliche Komplexität der Rapmusik lässt vermuten, dass diese wechselseitigen Impulse künftig zunehmen und die Gattungen sich einander weiter annähern werden. Literaturverzeichnis Allen, Donald: The New American Poetry 1945-1960 . New York 1960. 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Jahrhundert. 2 Beide Ansätze haben ihre Berechtigung und im Folgenden wird es weniger darum gehen, sie gegeneinander auszuspielen, als vielmehr auch ihre Verknüpfungen deutlich zu machen. Denn insbesondere die Beschäftigung mit dem Literatur-Comic zeigt, dass der Comic als Gattung häufig auf frühe Text-Bild-Relationen zurückgreift, diese zitiert, sich in deren Tradition einschreibt, aber sich auch davon abzugrenzen sucht. 3 Inzwischen hat die Literaturwissenschaft längst den Comic entdeckt, wie u. a. an den einschlägigen Schriften von Monika Schmitz-Emans ersichtlich ist. 4 Doch bereits A. C. Artmann hat in den 1960er Jahren festgestellt, dass der Comic wichtige Impulse für die Literatur liefert und damit nicht nur einen neuen Zugang zur Literatur ermöglicht, sondern vor allem auch Anregungen für eine zukünftige Literatur bereitstellt. Das heißt: Die Begegnung von Text und Bild trägt letztlich dazu bei, neue Schreibweisen zu erproben und kann zu einem veränderten Blick auf den literarischen Text führen - und zwar jenseits von Illustration oder pädagogischen Vermittlungsversuchen die Weltliteratur betreffend. 5 Die Bezugnahmen von Text und Bild im Bereich des Literatur-Comics sind ausgesprochen vielfältig und reichen von bloßen Transformationsprozessen, in denen etwa Klassiker der 1 So z. B. Knigge in seinem Buch: Alles über Comics , in dem er sogar ein ganzes Kapitel der Traditionslinie Höhlenmalerei widmet. Knigge, Andreas: „Von der Höhlenmalerei zum Comic“. Alles über Comics . Hg. Andreas Knigge. Hamburg 2004. 89-134; dazu auch: Comic Welten. Eine Ausstellung . Hg. Gerhard Habarta. Texte von Harald Havas. Wien 1992 oder Platthaus, Andreas: Im Comic vereint. Eine Geschichte der Bildgeschichte . Frankfurt a. M. 2000 (zuerst Berlin 1998). 2 Dazu: Balzer, Jens und Lambert Wiesing: Outcault. Die Erfindung des Comics . Bochum / Essen 2010. 3 Vgl. zur Begriffsgeschichte auch die einschlägigen Lexikonartikel, etwa: Dolle-Weinkauff, Bernd: „Comic“. Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft . Bd. 1. Hgg. Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin 1997. 312-314; Packard, Stephan: „Comic“. Handbuch der literarischen Gattungen . Hg. Dieter Lamping. Stuttgart 2009. 113-120. 4 Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Comic und Literatur: Konstellationen . Berlin 2012; -: Literatur-Comics. Adaptionen und Transformationen der Weltliteratur . Berlin 2012. 5 Artmann, A. C.: Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heissen brotwecken. eintragungen eines bizzaren liebhabers . Olten, Freiburg i. B. 1964. 144 Stephanie Waldow Weltliteratur in Form eines Comics aufbereitet werden, bis hin zu parodistischen Anspielungen auf kanonisierte Texte. 6 Darüber hinaus gibt es literarische Texte, die Comics in ihren Text integrieren, wie etwa Thomas v. Steinäckers Geister 7 oder so frühe Beispiele wie Rolf Dieter Brinkmanns Standphotos 8 . Schließlich kann der Comic aber auch als eine neue Gattung verstanden werden, nicht umsonst ist er inzwischen in das Handbuch der literarischen (! ) Gattungen aufgenommen worden 9 und so avanciert der Comic zu einer hybriden Kunstform im Spannungsfeld von Bild und Schrift, wobei nicht unbedingt eine Kombination beider Elemente vorliegen muss, wie u. a. anhand von Partenheimers Projekt one hundred poets 10 zu zeigen ist. Auch Hans Magnus Enzensberger beschäftigt sich unter dem Synonym Andreas Thalmayr in seinem Buch Das Wasserzeichen der Poesie 11 mit der Gattung. In seinem Text, in dem er 140 Spielarten des Gedichts vorstellt und sich hier vor allem auf die visuellen Darstellungen poetischer Texte konzentriert, findet auch der Comic Berücksichtigung. Durch seine Aufnahme in die Anthologie wird der Comic explizit als eine Spielart des Poetischen eingeführt. 12 Der Text des Comics, der im Band vorgestellt wird, entstammt der Sammlung des Knaben Wunderhorn von Achim v. Arnim und Clemens Brentano und die dazugehörigen Zeichnungen im Stil von Leuchtreklamen sind eine Erstveröffentlichung von Bernd Brummbär. In Form von vier Zeichnungen mit Sprechblasen wird die Ballade „Großmutter Schlangenköchin“ umgesetzt, wobei die Textbestandteile ungekürzt vorliegen. 13 Der Text wird in den Kontext des Pornografischen gestellt und die Schlange erhält auf diese Weise eine polyvalente Bedeutung. Doch nicht nur die Schlange selbst steht im Fokus, wiederaufgegriffen wird das Motiv in Form der Schriftzeichen, die wie Schlangenlinien angeordnet sind. Auf diese Weise entsteht eine wechselseitige Bespiegelung von Schrift und Bild, um letztlich darauf hinzuweisen, dass die Werkstatt des Zeichners selbst als Schlangenküche gelesen werden kann. Der Gehalt dieses Comics, wie Thalmayer ihn einordnet, ist hier ein zutiefst bild- und textreflexiver. 14 Nicht mehr entscheidbar ist, ob der Zeichner vom Text in Versuchung geführt wurde oder ob die Bilderzählung selbst die Verführerin ist. 6 Dazu: Schmitz-Emans, Comic und Literatur , S. 1. 7 Steinäcker, Thomas v.: Geister. Frankfurt a. M. 2008. 8 Brinkmann, Rolf Dieter: Standphotos. Gedichte 1962 - 1970 . Reinbek bei Hamburg 1980. 9 Vgl. Packard, Stephan: „Comic“. Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. Dieter Lamping. Stuttgart 2009. 113-120. 10 Partenheimer, Jürgen: One Hundred Poets . München 2016. 11 Thalmayr, Andreas (d. i. Hans-Magnus Enzensberger): Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Frankfurt a. M. 1997. 12 Vgl. dazu auch: Schmitz-Emans, Literatur-Comics , S. 7. 13 „Großmutter Schlangenköchin“. Das Wasserzeichen der Poesie, S. 336. 14 Vgl. dazu auch: Schmitz-Emans, Literatur-Comics , S. 7. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 145 Andreas Thalmayr (d.i. Hans-Magnus Enzensberger): Großmutter Schlangenkönigin (Andreas Thalmayr (d. i. Hans-Magnus Enzensberger): Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Frankfurt a. M. 1997.) Die Relation zwischen Text und Bild eröffnet also einen vielschichtigen Bedeutungshorizont. Wie Schmitz-Emans nachgewiesen hat, liegt beim Comic, insbesondere beim Literatur-Comic, ein besonders mehrschichtiger Fall von Intermedialität vor. Zum einen geht es um die Transformation des Poetischen ins Visuelle - und hier gibt es eine Reihe von verschiedenen Möglichkeiten der Transformation - und zum anderen findet immer eine Kombination verbaler und visueller Ausdrucksmöglichkeiten statt. Die Text-Bild-Relation im Bereich des Literatur-Comics kann also als eine wechselseitige Erhellung und mehr noch, sogar als wechselseitige Erfindung der Kunstformen verstanden werden. Durch die Auseinandersetzung mit der Literatur wird erstens eine Bildreflexion vorangetrieben, weil die Möglichkeiten und Grenzen des Bildraumes hier ausgelotet werden. Zweitens wird aber auch der Sprachraum reflektiert und diese Reflexion geht weit über die expliziten und impliziten Bezugnahmen auf den Text hinaus. Es geht also nicht um den Vergleich sprachlicher und bildlicher Elemente, auch nicht nur um bloße Transformationsprozesse, sondern um die Entdeckung gemeinsamer Spielformen, die sich sowohl in Spannungen als auch Formen des Zusammenwirkens äußern können. Gemäß Martin Seels Definition von Kunst, nach der Kunst nicht nur einen Gehalt habe, sondern sich auch zu seinem Gehalt verhalte, weil Kunst immer auch die Form, in der der Gehalt 146 Stephanie Waldow präsent ist, präsentiert, kann der Literatur-Comic eindeutig zur Kunst gerechnet werden. 15 Der Literatur-Comic ist also immer auch Resultat interner Spiegelungen und zeichnet sich mehr oder weniger durch ein gewisses Maß an Auto-Reflexivität und Auto-Referenz aus. Schmitz-Emans bezieht sich hier auf die sog. ‚neunte Kunst’, da es inzwischen eine Reihe von Meta-Comics gibt, die die Eigenschaften, Besonderheiten und Spielformen des Text- und Bildraumes ausleuchten. 16 Auf diese Weise wird die Konstellation von Sprache und Bild stets mitreflektiert. Vorläufer gibt es hier freilich genug, man denke nur an Andy Warhol, Rolf Dieter Brinkmann oder Italo Calvinos Cosmicomiche . Dementsprechend bezeichnet Helmut Heißenbüttel den Comic auch als Impulsgeber für neue literarische Schreibweisen und für Eco ist der Comic wichtiger Träger des kollektiven und individuellen Gedächtnisses. Das Aufeinandertreffen von Text und Bild führt also, und darauf liegt der Fokus meiner Untersuchung, zu einem eigenständigen ästhetischen Erlebnis, das nicht selten aus einem sog. ,choc‘-Moment, wie es Walter Benjamin in seiner Bildtheorie beschrieben hat, hervorgeht. Erzeugt wird eine eigene Spannung zwischen sprachlichem, schriftlichem und bildlichem Ausdruck. Auf diese Weise stellt der Literatur-Comic die Abgrenzung zwischen Text und Bild radikal in Frage und entwickelt neue Wahrnehmungsmöglichkeiten. Er probiert eine Vielzahl von sprachlichen Präsentationsformen aus, wie etwa die Montage oder die Collage. Als solcher ist er eine Art Meta-Schrift, weil er die verschiedensten Formen der Text-Bild-Relation durchspielt. Auch wenn Literatur-Comics vielfach als Dokumente literarischer Rezeption gelesen werden und teilweise auch zu Recht gelesen werden können, soll im Folgenden gezeigt werden, dass auch ein eigener, neuartiger ästhetischer Moment durch die Text-Bild-Beziehung entstehen kann. 17 2. Die Wechselseitige Erfindung der Künste Walter Benjamins Bild-Theorien weisen die vielfältigsten Perspektiven auf, doch seine Vorstellungen vom ‚Denkbild’, vom ‚Traumbild’, den Bildern der Geschichte oder der Erinnerung haben alle einen Fluchtpunkt: Sie beziehen sich auf die Bildlichkeit im ursprünglichen und buchstäblichen Sinne. Bild wird als Konstellation in einem System verschiedener Ähnlichkeiten verstanden. Der wörtliche Sinn des Wortes ‚Bild’ rekurriert nicht auf eine materielle bildliche Darstellung, sondern bezeichnet eine abstrakte seelische Ähnlichkeit, wie dies die Übersetzung der Worte ‚zelem’ (hebr.), ‚eikon’ (griech.) und ‚imago’ (lat.) bestätigen. Für die Talmudisten beispielsweise bezieht sich ‚zelem’ auf das ursprüngliche Sein, d. h. Bild ist dasjenige, was das Wesen eines Dings ausmacht. Die Beziehung zwischen dem Bild und seinem Ähnlichen ist dabei von geistiger Natur. Das Bild ist ein sich augenblicklich herstellendes Resultat einer unendlichen Reflexion, die sich letztlich auf den Gedanken der Übersetzung gründet. Benjamins Bildbegriff geht also vor die Repräsentation zurück. 15 Vgl. Seel, Martin: Eine Ästhetik der Natur . Frankfurt a. M. 1991, S. 148. 16 Dementsprechend liefert Schmitz-Emans auch eine sinnvolle Definition des Literatur-Comics, auf die hier zurückgegriffen werden kann: „Der Comic ist eine Kunst, die durch ein reiches Repertoire von Selbstbespiegelungsstrategien charakterisiert ist - und diese finden vor allem in solchen Comics vielfältigen Einsatz, die auf literarischen Texten beruhen, diese nacherzählen oder anderweitig auf diese Bezug nehmen.“ Schmitz-Emans, Literatur-Comics , S. 30. 17 Schmitz-Emans spricht hier von einem Rezeptionsprozess, bei dem ein neues Werk entsteht. Schmitz- Emans, Literatur-Comics , S. 11. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 147 Bild meint hier im ursprünglichen Sinne die ‚sinnliche Ähnlichkeit’ zwischen Idee und Ausdruck, zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Das Erzeugen von Ähnlichkeiten steht dabei nicht länger im Dienst von wie auch immer gearteten Nachahmungskonzepten, die alle an den Repräsentationsgedanken gebunden sind, sondern ‚sinnliche Ähnlichkeit’ wird als eine Form der prämagischen Mimesis verstanden, als eine Synthese von Subjekt und Objekt, von Natur und Kultur oder hier, wie ich zeigen möchte, von Text- und Bildraum. Indem die Bilder auf die Sprache Bezug nehmen, eröffnet sich im Prozess der unendlichen Reflexion ein neuer Raum, jenseits von materiellem Bild oder geschriebener Sprache. Ein Raum allerdings, der an das Zeitmoment des ‚Nu’ gebunden ist. Der Augenblick der Geburt, der hier entscheiden soll, ist aber ein Nu. Das lenkt den Blick auf eine andere Eigentümlichkeit im Bereiche der Ähnlichkeit. Ihre Wahrnehmung ist in jedem Falle an ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahrnehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie eine Gestirnkonstellation. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeiten scheint also an ein Zeitmoment gebunden. 18 Benjamin, der den Bildbegriff in seiner ursprünglichen Bedeutung als geistige Ähnlichkeitsbeziehung liest, enthebt er ihn seiner rein materiellen Bedeutung und eröffnet damit einen dritten Raum. Durch das Aufeinandertreffen von Sprache und Bild entsteht, ähnlich wie im folgenden Zitat, aus Hülle und Verhülltem ein neuer geistiger Raum, der beide Ebenen, die der Schrift und die der Zeichnung, nicht auslöscht, sondern in eine dritte Ebene überführt. Kinder kennen ein Wahrzeichen dieser Welt, den Strumpf, der die Struktur der Traumwelt hat, wenn er im Wäschekasten eingerollt, ‚Tasche‘ und ‚Mitgebrachtes‘ zugleich ist. Und wie sie sich selbst nicht ersättigen können, dies beides: Tasche und was drin ist in einem Griff in etwas Drittes zu verwandeln: in den Strumpf, so war Proust unersättlich, die Attrappe, das Ich, mit einem Griffe zu entleeren, um immer wieder jenes Dritte: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, einzubringen. Zerfetzt vom Heimweh lag er auf dem Bett, Heimweh nach dem Stand der Ähnlichkeit entstellten Welt, in der das wahre sürrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch kommt. Ihr gehört an, was bei Proust geschieht, und wie behutsam und vornehm es auftaucht. Nämlich nie isoliert pathetisch und visionär, sondern angekündigt und vielfach gestützt eine gebrechliche kostbare Wirklichkeit tragend: das Bild. 19 Benjamins Bildgedanke kulminiert hier in der Idee des Strumpfes, der sowohl Verpackung und Geschenk, Innen und Außen, Verhülltes und Verhüllendes ist. In dieser Eigenschaft markiert er also eine Schwelle, da er zugleich Form und Inhalt präsentiert. Das Bild dementiert damit seine eigene Konsistenz als Bild, denn jede Geschlossenheit des Bildes zu einer Bedeutung oder instrumentellen Lesbarkeit wird zerstört und in der Korrespondenz mit der Schrift stets fortentwickelt. ‚Bild’ bezeichnet also immer nur eine kurzzeitige Zäsur in der Denkbewegung. Beide Künste, so könnte man im Anschluss an Benjamin überlegen, verweigern ihren Anspruch auf Abgeschlossenheit, tragen die gebrechliche Wirklichkeit in sich und erfinden sich im Moment des Aufeinandertreffens permanent neu. So verstandene Bildlichkeit ist ein Ereignis, nicht Verbildlichung. Dieses Ereignis macht allerdings, 18 Benjamin, Walter: „Lehre vom Ähnlichen“. Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 204-210, hier S. 206 f. 19 Benjamin, Walter: „Zum Bilde Prousts“. Gesammelte Schriften, Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 310-324, hier S. 314. 148 Stephanie Waldow so Benjamin weiter, eine neue Art des Lesens erforderlich: Während das profane Lesen auf die Linearität der Sinnzusammenhänge ausgerichtet ist, kann der magische Leser jenes Bild lesen, welches sich ihm aus dem Zusammenspiel von Schrift und Bild ergibt. Knüpft man an diese Überlegungen an, stellt der Literatur-Comic die Lesegewohnheiten radikal in Frage und fordert von seinen Rezipienten eine neue Art des Wahrnehmens. Eines Wahrnehmens, welches die sinnlichen Ähnlichkeiten, das geistige Prinzip, welches sich aus dem Zusammenspiel von Schrift und Bild ergibt, erkennt. Dies ist allerdings nur durch eine geistige Durchdringung der verschiedenen Ebenen, durch eine unendliche Reflexion und letztlich durch ein Bewusstsein, dass diese Prozesse nicht zum Abschluss kommen können, möglich. So gesehen, bietet der Literatur-Comic keine Lesart der Texte an, ist keine Übersetzung des einen in das andere Medium, sondern eröffnet eine Suchbewegung, die an den Rezipienten weitergegeben wird und die sich als Epiphanie ereignet. 3. Präsentationsformen des Literaturcomics: Linie und Lyrik Im Folgenden werden einige Beispiele gezeigt, die auf je unterschiedliche Weise Bild und Text in eine Ähnlichkeitskonstellation bringen und damit auch auf ganz verschiedene Weise jenen Reflexionsprozess anstoßen. Allen gemeinsam ist jedoch die Eröffnung eines neuen Bild- und Textraumes, der das Ereignis der Begegnung widerspiegelt. Warren Craghead III und Lydia Daher: Kleine Satelliten Lydia Daher ist eine deutschsprachige Lyrikerin und Musikern, die in Berlin als Kind deutsch-libanesischer Eltern geboren wurde. Daher, die für ihre Arbeiten bereits mehrfach ausgezeichnet wurde, u. a. mit dem Bayrischen Kunstförderpreis (2012) erprobt mit ihren Projekten häufig eine inter- und transkulturelle Zugangsweise. Nicht nur die Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern ist ihr wichtig, auch das Überschreiten von Gattungs- und Kunstformen spielt eine zentrale Rolle in ihren Arbeiten. Nachdem sie bereits einige Gedichtbände vorgelegt hat, in denen sie ihre Gedichte auch selbst vertont, 20 präsentiert sie 2014 einen Band mit Pop-Up Collagen, dem eine Ausstellung im Kunstmuseum Augsburg voranging. Und auch nun, gegenüber dem Ganzen - dies 21 umfasst 101 Collagen, die Lydia Daher aus Zeitungsausschnitten zusammengetragen hat. Die ausgeschnittenen Wortfetzen werden zu Collagen arrangiert. Auf diese Weise wird der Blick auf das Sprachmaterial gelenkt, das - herausgehoben aus dem ursprünglichen Kontext und nun in einen neuen Bedeutungszusammenhang gestellt - als (Sprach-)Bild in Erscheinung tritt. Gemäß Benjamins Diktum: „Nach Ihnen, liebste Sprache, die hat den Vortritt. Nicht nur vor dem Sinn, auch vor dem Ich“ 22 steht nun statt dem Sinnzusammenhang der Worte die Typographie im Vordergrund, die die herkömmlichen Lesegewohnheiten radikal in Frage stellt. Bereits hier fordert Daher zu einem magischen Lesen im Sinne Benjamins auf. Die Kontinuität des Wortsinnes wird aufgebrochen zugunsten eines Sprachbildes, das die sinnliche Ähnlichkeit zwischen Idee und Ausdruck erahnen lässt. Im Anschluss an Jacques Derridas Überlegungen zur Dekonstruktion tritt Daher hier als Bastlerin auf, die das vorhandene 20 U.a. Daher, Lydia: Kein TamTam für diesen Tag. Leipzig 2008; Insgesamt so, diese Welt . Leipzig 2012. 21 Daher, Lydia: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen - dies. Dresden 2014. 22 Walter Benjamin, „Der Sürrealismus“. Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 295-310, hier S. 296. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 149 Sprachmaterial arrangiert, dem Zufall eine eigene ästhetische Qualität zuspricht und die grundsätzliche Frage nach der Originalität aufwirft. 23 Zudem reflektieren zahlreiche der Collagen über die Beschaffenheit der Sprache an sich und über die Wechselwirkung von Text und Bild. 24 Ihnen ist daher ein genuin sprach- und bildreflexives Moment inne, das die Möglichkeiten des Bild- und Textraumes auslotet und dem Repräsentationsgedanken eine Absage erteilt. Lydia Daher: Ich nun weitgehend, Abb. 008 (Lydia Daher: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen - dies. 101 Collagen. Hg. Lydia Daher. Dresden/ Leipzig 2014, S. 13.) 23 Vgl. Derrida, Jacques: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen“. Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart . Hgg. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner und Bernd Stiegler. Stuttgart 2008. 304-317. 24 Vgl. auch die Einführung in den Band von Ulrike Almut Sandig: „Der Verwandlung der Welt. Zu den Collagen von Lydia Daher“. Und auch nun gegenüber dem Ganzen - dies. 101 Collagen . Hg. Lydia Daher. Leipzig und Dresden 2014. 3-5. 150 Stephanie Waldow Lydia Daher: Auf kleinstem Raum, Abb. 043 (Lydia Daher: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen - dies. 101 Collagen. Hg. Lydia Daher. Dresden/ Leipzig 2014, S. 48.) Das erst im Herbst 2016 erschienene Projekt Kleine Satelliten 25 von Lydia Daher und dem amerikanischen Comiczeichner Warren Craghead III wurde ursprünglich als Ausstellung konzipiert und zunächst in einer schmalen Heftform publiziert, bevor es nun in ein gemeinsames Buch mündete. Das Projekt steht, so könnte man vermuten, in einer direkten Folge zu den Collagen und führt die dort aufgemachten Gedanken und Fragestellungen produktiv weiter. Craghead III gilt als experimenteller Comiczeichner und hat bereits Gedichtzeilen von Guillaume Apollinaire umgesetzt. 26 Beide hatten zu Beginn ihrer Arbeit nur eine vage Vorstellung, was aus der Kollaboration entstehen könnte und betonen jeweils die Prozesshaftigkeit und den Ereignischarakter der Kommunikation. In einem Interview macht Daher aber ihr grundsätzliches Interesse am Comic deutlich, indem sie hervorhebt, dass die Lyrik und der Comic aufgrund ihrer jeweils sehr spezifischen Herangehensweisen viele Gemeinsamkeiten aufweisen würden. So legen etwa beide Kunstformen sehr viel Wert auf Reduktion und Rhythmus. Comickunst und Lyrik haben viele Gemeinsamkeiten, das ist vielleicht nicht offensichtlich, aber es ist so. Stichworte: Reduktion, Rhythmus, Komposition und Leerstellen. Bilder, die sich gegenseitig beschwören und gegenüberstehen, um etwas Neues zu evozieren, oder etwas schwer zu Fassendem näher zu kommen. 27 25 Daher, Lydia und Warren Craghead III: Kleine Satelliten. Graphic Poetry . Augsburg 2016. 26 Vgl. Craghead III, Warren: Apollinaire. Stereoscomic. Paris 2002. 27 „How words and images slip in and out of each other. Warren Craghead III und Lydia Daher im Gespräch“. www.schauinsblau.de. Ein Magazin für Literatur, Kunst und Wissenschaft , Ausgabe 6: Trans- „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 151 Aufgrund seiner Auseinandersetzung mit Apollinaire, in der Craghead III sehr stark mit der Reduktion und der Komposition von Leerstellen gearbeitet hat, wurde Daher auf den Comiczeichner aufmerksam und nahm den Kontakt auf. Es entstand sofort eine gegenseitige Begeisterung für ein gemeinsames Projekt. Daher schickte ihm schließlich fünf Gedichte in deutscher Sprache, beigelegt waren ebenfalls jeweils zwei Übersetzungen ins Englische, einmal von Paul-Henry Campell und das andere Mal von Lukas Wahden. Obwohl die Übersetzungen vorlagen und auch Wert darauf gelegt wurde, dass eine gegenseitige Verständigung über das Wort möglich ist, konnte mit dem Sprachmaterial frei umgegangen werden. Auch Daher betont, dass sie zwar beim Prozess des Schreibens immer wieder die Zeichnungen mitgedacht, aber sich nicht auf das durchkomponierte Gedicht konzentriert habe, sondern vielmehr Einzelsequenzen, Zeilen und Halbsätze produziert habe, im Bewusstsein des Aufeinandertreffens von Text und Bild. 28 So schreibt Daher in einem Brief an Craghead III : Hi Warren, Here are some lines, snapshots and fragments that I wrote for our collaboration. The German originals are in most cases available in two different translations. Feel free to use this all as a collection of material. You can take whatever you want and need for your work; the German and / or English versions, verses, single words or phrases or pictures you like. And please do not hesitate to cut, arrange or rearrange them. I am excited about our project and looking forward to see your graphic interpretations. Best, Lydia 29 Gerade jene Zweisprachigkeit der Texte und die zweifachen Übersetzungen fließen mit in den zeichnerischen Prozess ein. Auf diese Weise wird nicht nur die Arbeit der Übersetzung zwischen Text und Text und zwischen Text und Bild reflektiert, sondern auch ein Raum der Vieldeutigkeit aufgemacht, der Möglichkeiten für bildliche und sprachliche Variationen bereithält und multiple Deutungen zulässt. So lautet Cragheads Antwort auf Dahers Brief: 30 kulturalität und Ethik. Zuletzt aufgerufen am 18. Oktober 2016. 28 Vgl. ebd. 29 Lydia Daher, Warren Craghead III: Kleine Satelliten. Graphic Poetry , Übersetzung: Lukas Wahden, Paul-Henri Campbell, Augsburg 2016. 30 Ebd. 152 Stephanie Waldow Entstanden sind schließlich 100 Zeichnungen, die zunächst in einer Ausstellung im Nürnberger Institut für Moderne Kunst zu sehen waren und nun in einem gemeinsamen Band versammelt sind. Bereits der Titel der Ausstellung bzw. des Bandes Kleine Satelliten gibt wichtige Aufschlüsse über die Komposition und das Zusammenwirken von Text und Bild. Satellit, lat. auch der ‚Begleiter’, ist ein künstlicher Raumflugkörper, der einen Himmelskörper umkreist. Betrachtet man die Text-Bild-Kompositionen, entsteht der Eindruck, dass es sich hier um ein gegenseitiges Umkreisen handelt. Sprache und Bild werden zu wechselseitigen Begleitern und ringen gemeinsam um die Stellung im Kosmos bzw. mehr noch, erschaffen sich allererst einen eigenen Text / Bild-Kosmos. Immer wieder werden die Grenzen zwischen Bild und Text verflüchtigt, Buchstaben werden in die Zeichnungen integriert, ähnlich den Cut-Up Collagen auch fragmentiert und in neue Zusammenhänge gebracht. Sprache wird ihrem Sinnzusammenhang entrissen, um zu ikonografischen Zeichen zu werden. Erst bei genauerem Hinschauen sind einzelne Worte und sogar Verse erkennbar. Text und Bild gehen also eine Allianz ein, die beide Künste untrennbar miteinander verbindet. Craghead III hebt Sprache hier in ihrer Materialität hervor und entbindet sie zunächst von ihrer Sinnhaftigkeit. Auf diese Weise wird Sprache nicht nur selbst zum Bild, sondern der Lektüreprozess dieser Text-Bild-Beziehungen verändert sich. Im Sinne Walter Benjamins Idee des magischen Lesens entschleunigt sich das Lesen und führt zu einer Lektüre des durch die Text-Bild Relation entstandenen dritten Raumes. Durch die Entschleunigung kann die von Benjamin geforderte unendliche Reflexion in Gang gesetzt werden, die notwendig ist, um die sinnlichen Ähnlichkeiten zwischen Text und Bild und das dahinterstehende geistige Prinzip zu erahnen. Auf die Frage hin, warum er den Text nicht eindeutiger oder unmissverständlicher in den Mittelpunkt seiner Zeichnungen gerückt hat, beschreibt Craghead III dies als einen Prozess der Entschleunigung. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 153 I do that to try to slow down the reading process and force the viewer or reader to really look, not merely read. Many works that combine text and images are read so fast, I try to get people to slow down and look. I also like adding some of the confusion that I love. 31 Gefordert wird vom Betrachter also eine andere Art der Wahrnehmung, gefordert wird eine andere Art der Lektüre, die insbesondere den dritten Raum, der sich im Zusammenspiel von Text und Bild ergibt, im Blick hat. Dementsprechend spielen die ersten Text-Bild-Kompositionen auch ganz bewusst mit den Begriffen ‚impression’ und ‚picture’. Es entsteht der Eindruck, dass über das ‚picture’, welches aus Text und Bildelementen arrangiert wird, allererst der Raum des geistigen Bildes, der sinnlichen Ähnlichkeit oder hier der ‚impression’ eröffnet wird. So sind die Text-Bild-Korrespondenzen im hohem Maße ereignishaft und stets an einen flüchtigen Moment des Betrachtens gebunden, ausgelöst durch die hohe bild- und textreflexive Komponente. Jürgen Partenheimer: one hundred poets Jürgen Partenheimer ist ein deutscher Künstler, dessen Arbeiten schon längst internationale Anerkennung gefunden haben, u. a. durch seine Teilnahmen an den Biennalen in Venedig, Paris und S-o Paulo. Seine Arbeiten wurden bereits in vielen internationalen Kunsthallen ausgestellt, darunter im Museum of Modern Art (New York), der Kunsthalle Berlin oder dem Nationalmuseum in Peking. Charakteristisch für Partenheimer ist vor allem seine Vielseitigkeit und auch seine Grenzüberschreitung zwischen den Künsten. Neben Zeichnungen, Malerei, Skulpturen und Installationen fertigt Partenheimer auch Künstlerbücher an, in denen nicht selten auch eigene Texte zu lesen sind. So könnte man sein Werk als eine groß angelegte Suchbewegung, als eine philosophische Experimentalanordnung, die Grenzen und Möglichkeiten des Wahrnehmens auslotend, bezeichnen: „Worauf es ankommt, ist das äußerste Sehen im Denken“ 32 , so Partenheimer. 31 „How words and images slip in and out of each other. Warren Craghead III und Lydia Daher im Gespräch“. www.schauinsblau.de. Ein Magazin für Literatur, Kunst und Wissenschaft , Ausgabe 6: Transkulturalität und Ethik. Zuletzt aufgerufen am 18. Oktober 2016. 32 Partenheimer, Jürgen: „Poesis, das Tun in der Kunst 6. Flug der Steine“. Intuition . Hg. Petra Maria Meyer. München 2012. 486-499, hier S. 486 f. 154 Stephanie Waldow „Einmal in einem Traum nicht weit von hier verschwand meine Sprache in Bildern.“, aus dem Gedicht: „Kleine Satelliten“ von Lydia Daher. (Lydia Daher, Warren Craghead III: Kleine Satelliten. Graphic Poetry, Übersetzung: Lukas Wahden, Paul-Henri Campbell, MaroVerlag, Augsburg 2016.) „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 155 „Once I dreamed not far from here that my words vanished in impressions.“, aus dem Gedicht „Minuscule Satellites“, übersetzt von Lukas Wahden (Lydia Daher, Warren Craghead III: Kleine Satelliten. Graphic Poetry, Übersetzung: Lukas Wahden, Paul-Henri Campbell, MaroVerlag, Augsburg 2016.) 156 Stephanie Waldow „Once in a dream not far from here my language vanished in pictures.“, aus dem Gedicht „Little Satellites“, übersetzt von Paul-Henri Campbell. (Lydia Daher, Warren Craghead III: Kleine Satelliten. Graphic Poetry, Übersetzung: Lukas Wahden, Paul-Henri Campbell, MaroVerlag, Augsburg 2016.) „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 157 Sein aktuelles Projekt one hundred poets befindet sich derzeit noch im Entstehungsprozess. Einige Zeichnungen wurden bereits in Form einer Ausstellung in der Galerie Häusler in München im Sommer 2016 gezeigt. Daraus hervorgegangen sind jüngst zehn Künstlerbücher, die elf Original-Farblinolschnitte enthalten. Die Bücher wurden vom Künstler signiert und nummeriert. Inspiriert zu der Idee, zu hundert Gedichten jeweils eine Zeichnung anzufertigen, wurde Partenheimer von dem japanischen Künstler Hokusai, der auch der Comic-Kunst zentrale Impulse geliefert hat. Der Holzschnittkünstler gilt aufgrund seiner teilweise auch erst posthum veröffentlichten Hefte Hokusai Manga , die Skizzen und Malvorlagen von 1814 bis 1878 in 15 Heften vereinen, als zentraler Impulsgeber des japanischen Mangas. 33 Die Bezeichnung ‚manga’ ist zusammengesetzt aus dem sinojapanischen Zeichen ‚man’, was so viel heißt wie ‚zufällig’, ‚flüchtig’, ‚spontan’ und dem Zeichen ‚ga’ für ‚Bild’ oder ‚zeichnen’. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts taucht dieser in Japan geprägte Neologismus zum ersten Mal auf, bekannt wurde er allerdings erst durch Hokusais Hefte. Hokusais flüchtige Bilder sind spontane Reaktionen auf gesellschaftliche Ereignisse, Landschaftsbetrachtungen oder auch Gedichte. Liest man jene Flüchtigkeit der Bilder, auf die der Begriff ‚Manga’ bereits verweist mit Benjamins Bild-Theorie, können Hokusais Zeichnungen auch als ‚chok’ bezeichnet werden, die den von Benjamin beschriebenen dritten Raum aufmachen, der Sprache und Bild untrennbar werden lässt. Partenheimer reagiert mit seinem Projekt one hundred poets unmittelbar auf Hokusai, da auch Hokusai zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein ähnliches Projekt, basierend auf einer japanischen Gedichtanthologie, in Angriff genommen hatte. Die Auswahl der Gedichte, mit denen sich Partenheimer auseinandersetzt, ist scheinbar intuitiv, folgt aber dennoch einem inneren Prinzip: Nicht die Kanonisierung steht im Vordergrund, nicht der Wunsch nach Tradierung des jeweiligen Textes, sondern alle Gedichte scheinen von einer Grenzüberschreitung, ausgelöst durch eine fundamentale Suchbewegung, zu erzählen. Präsentiert werden Grenzen zwischen Text und Bild, zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Realität bis hin zur Grenze zwischen Leben und Tod. Dabei wird immer wieder deutlich, dass diese Grenze nicht eindeutig ist, beständig neu ausgehandelt werden muss und in ihrer Grundeigenschaft sich als besonders fragil erweist. Diese Fragilität greift Partenheimer in seinen Zeichnungen auf und führt sie weiter. In gewisser Weise ist das Projekt als Fortführung einer bereits lang andauernden Beschäftigung mit der Grenze aus zeichnerischer und philosophischer Perspektive heraus zu verstehen. Immer wieder wird die Linie, die Partenheimer zeichnet, zu einer Grenzlinie, wie John Yau in seinem Vorwort zu Borderlines / Grenzlinien 34 es formuliert, zu einer Grenzlinie zwischen Innen und Außen und damit zu einem entscheidenden Reflexionsort zwischen Selbst und Anderem, zwischen Imaginativem und Analytischem. Partenheimer hat die Kluft zwischen Schreiben, Zeichnen, Verzeichnen und Kritzeln bewusst überwunden, er arbeitet nicht nur in einem dieser Medien, sondern in allen Ausdrucksformen gleichzeitig. (…) Partenheimes Zeichnungen rufen geheimnisvolle Orte hervor, schwer bestimmbare Gegenstände (…) . Dennoch liefern sie kein Bild von der Welt (oder eines Teiles der Welt) 33 Dazu: Köhn, Stephan: Traditionen visuellen Erzählens in Japan. Eine paradigmatische Untersuchung der Entwicklungslinien vom Faltschirmbild zum narrativen Manga . Wiesbaden 2005, S. 199-205. 34 Yau, John: „Zeichnerisches Denken. Grenzlinien“. Borderlines / Grenzlinien . Hg. Jürgen Partenheimer. Düsseldorf 1997, S. 36. 158 Stephanie Waldow als starre Abbildung oder als Ding. Vielmehr sind sie präzise, ohne auf das zu verweisen, was sie präzisieren. 35 Jene Grenze, die schon 1997 beschrieben wurde und der sich Partenheimer so intensiv widmet, scheint auch in dem Projekt one hundred poets eine entscheidende Rolle zu spielen. Die Zeichnungen sind Reflexionsorte über die Grenzen und Grenzaufhebungen zwischen Text und Bild und lassen die Grenze selbst zu einem epiphanen Ort werden. Beide, Text und Bild, werden in dem Projekt zu ,Imagos‘ und thematisieren die sinnliche Ähnlichkeit zwischen Idee und Gestalt. Als solche ist jede Zeichnung ein Ereignis und dem Zeitmoment des ‚Nu’ geschuldet. Durch das flüchtige Zusammentreffen zwischen Idee und zeichnerischem Ausdruck wird ein Text-Bildraum entfaltet, der sich jenseits von geschriebener Sprache und materiellem Bild befindet. Mehr noch: Diese Grenzorte sind als Aufforderungen zu verstehen, sich mit dem jeweils Anderen auseinanderzusetzen, die Grenzen des eigenen Selbst explizit zu überschreiten und in der Begegnung mit dem Anderen neue Wahrnehmungsformen zu erproben, die schließlich zu einem veränderten Blick auf das eigene Selbst führen. Ein Gedicht und sein inneres Bild als Spiegelung und gleichzeitige Eröffnung einer Bildvorstellung. Es ist die Empfindung des Anderen und ihre besondere Transformation im Eigenen, die einen Neubeginn bewirkt, sodass die so formulierte Wiederholung als zweite Schöpfung im Bild das Ausgesprochene und das Verschwiegene hinter dem Geschriebenen sichtbar werden lassen. (…) So zeigt die Analogie von Sprachbild und Bildsprache das Unabgeschlossene als deren immerwährende Eröffnung. (…) So verwandelt sich Sprache als Partitur von Innerlichkeit und Psyche in Bilder. Alle Zweifel werden durch die Akzeptanz der Illusion aufgehoben. 36 Jene Text-Bild-Konstellationen tragen eine gebrechliche und kostbare Wirklichkeit in sich, die zu entdecken immer wieder eine neue Herausforderung ist. Jede Geschlossenheit zu einer instrumentellen Lesbarkeit oder zu einer Bedeutung wird verweigert. Stattdessen entstehen Orte des Sehens, des Schauens, die sich in permanenter Bewegung befinden, abhängig vom jeweils Sehenden, von dem eine neue Art des Lesens gemäß Benjamins magischen Lektüreprozess gefordert wird. Anders als in dem Projekt von Daher und Craghead III sind die Gedichtzeilen häufig gar nicht mehr als lesbare Lettern im Bild vorhanden, sondern werden im Zeichnerischen widergespiegelt. Insofern sind die Zeichnungen mehr als Reaktion auf ein Gedicht zu verstehen, sie schulen die Wahrnehmung des Betrachters und lassen ihn „kleine Welten“ erkunden; „Kleine Welten“, die als Reflexionsorte zu verstehen sind, die durch die Dynamisierung von Linie und Lyrik auch das Denken und Wahrnehmen in Bewegung setzen. Kleine Welten überall. Jedes Blatt ist eine Welt, jede Zeichnung ein Text jenseits der euklidischen Vektoren, jeder Text ein metaphorisches Instrument, jedes Instrument eine Zeichnung. 37 35 Ebd., S. 39. 36 Partenheimer, One Hundred Poets . 37 Partenheimer, „Der Flug der Steine“. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 159 There “and t e are th to see t hings / w hem / is we live a s to knoamong ow ourse elves” There are things / we live among “and to see them / is to know ourselves” Jürgen Partenheimer: George Oppen ( Jürgen Partenheimer: One Hundred Poets. Edition Ennui. München 2016) 160 Stephanie Waldow Eugenio Montale 1896-1981 Auf der bekritzelten Wand, die wenigen Sitzenden Schatten spendet, erscheint der Bogen des Himmels wie beendet. Wer weiß von dem Feuerbrand, wie er noch aufwallte in den Adern der Welt - eine kalte Ruhe bedeckt die verdunkelten Formen. Bald seh ich wieder den Strand Und die Mauer und den vertrauten Weg. In neuem Aufbruch sind die Morgenfrühen Verankert gleich wie die Boote am Steg. Euge Auf de die we ersch beend Wer w wie er in den Ruhe Bald s Und d In neu Veran nio Monta er bekritzel enigen Sitz eint der Bo det. weiß von de r noch aufw n Adern der bedeckt di seh ich wie die Mauer u uem Aufbru nkert gleich le 1896 - 19 ten Wand, zenden Sch ogen des Hi em Feuerbr wallte r Welt - ein e verdunke der den Str und den ver uch sind die wie die Bo 981 hatten spen immels wie rand, ne kalte elten Forme rand rtrauten We e Morgenfrü oote am Ste det, en. eg. ühen eg. Jürgen Partenheimer: Eugenio Montale ( Jürgen Partenheimer: One Hundred Poets. Edition Ennui. München 2016) „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 161 Tomas Tranströmer 1931 Vom Berge Ich stehe auf dem Berg und blicke über die Förde. Die Boote ruhn auf der Oberfläche des Sommers. „Wir sind Schlafwandler. Treibende Monde.“ So sagen die weißen Segel. „Wir schleichen durch ein schlafendes Haus. Wir schieben leise die Türen auf. Wir lehnen uns an die Freiheit.“ So sagen die weißen Segel. Einmal sah ich die Willen der Welt segeln. Sie hielten denselben Kurs - eine eizige Flotte. „Wir sind Vertriebene jetzt. Niemandes Gefolge.“ So sagen die weißen Segel. Toma Vom B Ich ste Die Bo „Wir sin So sag „Wir sc Wir sch Wir leh So sag Einmal Sie hie „Wir sin So sag as Tranströ Berge he auf dem B oote ruhn auf nd Schlafwan gen die weiße chleichen durc hieben leise d hnen uns an d gen die weiße l sah ich die W elten denselbe nd Vertrieben gen die weiße ömer 1931 Berg und blick der Oberfläch ndler. Treiben en Segel. ch ein schlafe die Türen auf die Freiheit.“ en Segel. Willen der We en Kurs - ein ne jetzt. Niem en Segel. ke über die Fö he des Somm nde Monde.“ endes Haus. . elt segeln. e eizige Flotte andes Gefolg örde. mers. e. ge.“ Jürgen Partenheimer: Tomas Tranströmer ( Jürgen Partenheimer: One Hundred Poets. Edition Ennui. München 2016) 162 Stephanie Waldow Octavio Paz 1914-1998 La hora es transparente: vemos, si es invisibile el pájaro, el color de su canto. Klar wie Glas ist die Stunde: bleibt der Vogel unsichtbar, sehen wir die Farbe seines Liedes. Octav La ho vemo el colo Klar w bleibt die Fa vio Paz 191 ora es trans s, si es invi or de su ca wie Glas ist der Vogel arbe seines 14 - 1998 parente: isibile el pá anto. die Stunde unsichtbar, s Liedes. ájaro, e: , sehen wir Jürgen Partenheimer: Octavio Paz ( Jürgen Partenheimer: One Hundred Poets. Edition Ennui. München 2016) „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 163 Anna Achmatova 1889-1966 Musik Ein wundertätig Brennen ist in ihr, Und außen sieht man Edelsteine sprühen. Sie führt alleine ein Gespräch mit mir, Wenn andre furchtsam meine Nähe fliehen. Und als der Freunde letzter fortgeblickt, Da ist sie in mein Grab herabgekommen Und sang - da hat Gewitter mich erquickt, Zu sprechen haben Blumen da begonnen. Anna Musik Ein wu Und au Sie füh Wenn Und al Da ist s Und sa Zu spre a Achmatov undertätig Bre ußen sieht ma hrt alleine ein andre furchts s der Freunde sie in mein G ang - da hat G echen haben va 1889 - 19 ennen ist in ih an Edelsteine Gespräch mi sam meine Nä e letzter fortg rab herabgek Gewitter mich Blumen da b 966 r, e sprühen. it mir, ähe fliehen. eblickt, kommen h erquickt, begonnen. Jürgen Partenheimer: Anna Achmatova ( Jürgen Partenheimer: One Hundred Poets. Edition Ennui. München 2016) 164 Stephanie Waldow 4. Zusammenführung Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass die Gattungsbezeichnung Literatur-Comic durchaus seine Berechtigung hat, auch wenn es mehr als fragwürdig erscheint, wenn diese Gattung unter die literarischen Gattungen gezählt wird. Es handelt sich eher, wie auch Schmitz-Emans deutlich gemacht hat und wie vor allem die vorgestellten Projekte zeigen, um eine Text-Bild-Konstellation, die eine wechselseitige Erfindung der Künste zum Ausgangspunkt und auch zur Folge hat. Dabei ist der Literatur-Comic, anders als die Forschung vielfach suggeriert, nicht als reiner Transformationsprozess zu verstehen, sondern als ein Zusammenspiel von Text und Bild, bei dem sowohl die Möglichkeiten des Schreibens und auch des Zeichnens ausgelotet werden. Gerade durch das Aufeinandertreffen von Text und Bild werden sowohl sprachreflexive als auch bildreflexive Prozesse angeregt und teilweise - wie bei Daher und Partenheimer - sogar ausgestellt. Es entsteht ein neuer Text / Bild- Raum, der nicht nur eine veränderte Wahrnehmung vom Leser und Betrachter fordert, im Sinne Benjamins also eine neue Art des Lesens, sondern der auch ein eigenes ästhetisches Erlebnis ermöglicht. Dieses ist in hohem Maße vergänglich und an einen kurzen flüchtigen Zeitmoment gebunden, aber gerade jene Vergänglichkeit schafft auch Raum für neue Wahrnehmungshorizonte. So überschreitet der Literatur-Comic nicht nur die Grenzen von Text und Bild, sondern auch die der herkömmlichen Wahrnehmungsgewohnheiten. In dieser Funktion schickt er den lesenden Betrachter oder den betrachtenden Leser selbst auf die Suche und fordert ihn auf, die Grenzen der eigenen Wahrnehmung und die Grenzen des Selbst in Auseinandersetzung mit dem Anderen zu reflektieren und zu hinterfragen. Literaturverzeichnis Primärliteratur Artmann, A. C.: Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heissen brotwecken. eintragungen eines bizzaren liebhabers . Olten, Freiburg i. B. 1964. Brinkmann, Rolf Dieter: Standphotos. Gedichte 1962-1970 . Reinbek bei Hamburg 1980. Craghead III , Warren: Apollinaire. Stereoscomic. Paris 2002. Daher, Lydia: Kein TamTam für diesen Tag. Leipzig 2008. -: Insgesamt so, diese Welt . Leipzig 2012. -: Und auch nun, gegenüber dem Ganzen - dies. 101 Collagen. Leipzig und Dresden 2014. Daher, Lydia und Warren Craghead III : Kleine Satelliten. Graphic Poetry . Übersetzung: Lukas Wahden, Paul-Henri Campbell. Augsburg 2016. Habarta, Gerhard (Hg.): Comic Welten. Eine Ausstellung. Texte von Harald Havas , Wien 1992. Partenheimer, Jürgen: „Poesis, das Tun in der Kunst 6. Flug der Steine“. Intuition . Hg. Petra Maria Meyer. München 2012. 486-499. -: One Hundred Poets . Edition Ennui. München 2016. Steinäcker, Thomas v.: Geister. Frankfurt a. M. 2008. Thalmayr, Andreas (d. i. Hans-Magnus Enzensberger): „Großmutters Schlangenköchin“. Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, in hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Hg. Andreas Thalmayr. Frankfurt a. M. 1997. 336. Yau, John: „Zeichnerisches Denken. Grenzlinien“. Borderlines / Grenzlinien . Hg. Jürgen Partenheimer. Düsseldorf 1997. „Kleine Welten“ - Der Literatur-Comic 165 Forschungsliteratur Balzer, Jens und Lambert Wiesing: Outcault. Die Erfindung des Comics . Bochum / Essen 2010. Benjamin, Walter: „Lehre vom Ähnlichen“. Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 204-210. -: „Der Sürrealismus“. Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 295-310. -: „Zum Bilde Prousts“. Gesammelte Schriften. Bd. II / 1. Hgg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991. 310-324. 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Während er vielen als der ‚französische Freud‘ gilt, der den Rückbezug zu Freud suchte, um diesen dort weiterzuentwickeln, wo er hinter den eigenen Ergebnissen zurückgeblieben war, ist Lacan der Literaturwissenschaft vor allem als einer der Väter des Poststrukturalismus bekannt, der die klassische, auf Freud zurückgehende psychoanalytische Literaturwissenschaft zwar für verschiedene neue Ansätze geöffnet hatte, in der praktischen Konsequenz, also der Anwendbarkeit in der Interpretation von Texten, aber scheinbar seltsam wirkungslos gewesen ist. Im von Ansgar Nünning im Jahr 2004 herausgegebenen Metzler-Band Grundbegriffe der Literaturtheorie lesen wir: Den größten Einfluss auf die neuere psychoanalytische Literaturwissenschaft hatte […] J. Lacan. Seine strukturale Psychoanalyse basiert auf den linguistischen Modellen von F. de Saussure und R. Jakobson. Lacans zentrale These lautet, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist und selbst eine Folge des Eintritts in sprachliche Strukturen ist. Das vorgegebene sprachliche System, der Ort des „Anderen“, repräsentiert gesellschaftliche Vorschriften, insbesondere das „Gesetz des Vaters“, und stellt insofern eine symbolische, d. h. sprachlich-kulturelle Ordnung dar, die durch patriarchale Strukturen gekennzeichnet ist. Das Symbolische ist mit Hilfe von rhetorischen Mitteln, v. a. durch Metapher und Metonymie, beschreibbar. Dabei wird die bei Saussure bereits angelegte Trennung zwischen der sprachlichen Repräsentation bzw. dem Signifikanten und der gedanklichen Vorstellung bzw. dem Signifikaten zu einer stets aufgehobenen Bedeutung erweitert. Aufgrund der fehlenden festen Beziehungen zu Signifikaten unterliegt das Subjekt einem sprachlich-symbolisch vermittelten Begehren, das nie sein Ziel erreicht. Da auch der Interpret dem (stets verfehlten) unbewussten Begehren unterliegt und Bedeutung nicht fixierbar ist, kann Textdeutung nicht mehr als ein Gleiten an einer Signifikantenkette sein. 1 Aus dieser in der Literaturwissenschaft durchaus geläufigen poststrukturalistischen Definition Lacanscher Theorie schlussfolgert Nünning: „Insofern hat Lacans Ansatz für die Literaturwissenschaft eher theoretische Implikationsals Applikationsmöglichkeiten“. 2 Dieser Behauptung möchte ich in diesem Beitrag widersprechen und zeigen, dass Lacans Ansatz für die Literaturwissenschaft ebenso produktiv sein kann, wie er es für die Filmwissenschaft immer gewesen ist, auf die Lacans Theorie, so oft sie auch angefochten und neuinterpretiert wurde, einen prägenden Einfluss ausgeübt hat. Von den frühen psychoanalytischen Filmtheorien, die sich explizit oder implizit auf Lacan beriefen, um die Narrativik und Codes von Filmen sowie die stets einer festen Ideologie unterliegende Beziehung des 1 Nünning, Ansgar: Grundbegriffe der Literaturtheorie . Stuttgart, Weimar 2004, S. 225 f. 2 Nünning, Grundbegriffe , S. 226. 168 Adina Sorian Zuschauers zur Leinwand zu verstehen, 3 bis zu neueren lacanianischen Filmtheorien, die Lacans Konzepte nutzen, um gerade das ideologisch subversive Potential von Film und Kino herauszustellen, 4 ist Lacans Theorie immer ein unhintergehbarer Bezugspunkt, wenn nicht der theoretische Kern, der psychoanalytisch orientierten Filmanalyse gewesen. Diese Relevanz Lacanscher Theorie ist in besonderem Maße auch für die Literatur des 21. Jahrhunderts zutreffend, wie ich in diesem Beitrag erläutern werde. Anhand ausgewählter literarischer, aber auch eines filmischen Beispiels des 21. Jahrhunderts werde ich im Folgenden die These vertreten, dass in der literarischen sowie filmischen Imagination nach der Jahrtausendwende eine vermehrte Beschäftigung mit einer der zentralen Kategorien des Lacanschen Denkens zu beobachten ist, eine Kategorie, die in Nünnings Ausführungen zur Lacanschen Psychoanalyse allerdings, bezeichnenderweise, keine Erwähnung findet - die des Realen. Der erste Teil des Beitrags stellt zunächst das Lacansche Reale in seinem Verhältnis zu den anderen beiden von Lacan beschriebenen Registern der menschlichen Erfahrungswelt vor, dem Imaginären und dem Symbolischen, bevor im zweiten Teil eine Situierung des Realen in der aktuellen Debatte um das ‚Danach‘ der Postmoderne erfolgt. Schließlich komme ich im dritten Teil auf zwei Romane und einen Film der vergangenen 15 Jahre zu sprechen, die eine ‚Begegnung‘ mit dem Realen inszenieren und die Anwendbarkeit Lacanscher Psychoanalyse in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis somit veranschaulichen mögen. I. I-S-R Um die Bedeutung des Realen zu verstehen, ist ein Blick auf das triadische Modell I-S-R vonnöten, das grundlegend für Lacans theoretische Arbeit ist. Bestehend aus den drei Ordnungen des Imaginären, Symbolischen und Realen konstituiert die Trias I-S-R eine Art Topologie des psychischen Seins, die zugleich, wie Frank Wörler herausgearbeitet hat, als Paradigma menschlichen Weltzugangs epistemologisch relevant ist. 5 Das Imaginäre ist die Ordnung, die Lacan aus seinen Überlegungen zum Spiegelstadium, einer seiner Haupterrungenschaften, entwickelt hat. Die Theorie des Spiegelstadiums basiert auf der Tatsache, dass der Mensch als Ausnahme unter den Säugetieren in einem biologisch ungereiften 3 Vgl. u. a. Metz, Christian: „The Imaginary Signifier”. Film and Theory. An Anthology . Hg. Robert Stam. Oxford 2000. 408-436; Baudry, Jean-Louis: „Basic Effects of the Cinematographic Apparatus”. Movies and Methods, Vol. 2 . An Anthology . Hg. Bill Nichols. Berkeley 1985. 531-542; Comolli, Jean-Luc und Jean Narboni: „Cinema / Ideology / Criticism”. Übers. v. Susan Bennett. Screen Reader I. Cinema / Ideology / Politics . Hg. John Ellis. London 1977. 2-11; Mulvey, Laura: „Visual Pleasure and Narrative Cinema”. Film and Theory. An Anthology . Hg. Robert Stam. Oxford 2000. 483-494; Miller, Jacques-Alain: „Suture (Elements of the Logic of the Signifier)”. Concept and Form, Vol. 1 . Key Texts from the Cahiers pour l’Analyse . Hg. Peter Hallward und Knox Peden. London, New York 2012. 91-101; Heath, Stephen: „From Narrative Space ”. Contemporary Film Theory . Hg. Anthony Easthope. London, New York 1993. 68-94. 4 Vgl. vor allem Copjec, Joan: Read My Desire. Lacan Against the Historicists . Cambridge (MA), London 1994; -: Imagine There’s No Woman. Ethics and Sublimation . Cambridge (MA), London 2004; McGowan, Todd und Sheila Kunkle: Lacan and Contemporary Film . New York 2004; McGowan, Todd: The Real Gaze. Film Theory after Lacan . Albany 2007; Žižek, Slavoj: The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s ‘Lost Highway’ . Washington 2000; -: The Fright of Real Tears. Krzysztof Kieślowski Between Theory and Post-Theory . London 2001. 5 Vgl. Wörler, Frank: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale. Lacans drei Ordnungen als erkenntnistheoretisches Modell . Bielefeld 2015. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 169 Zustand geboren wird: Im Unterschied zu anderen Säugetieren kann ein menschlicher Säugling ohne die Pflege und den Schutz der Eltern nicht überleben. Die körperliche Unvollkommenheit des Babys muss erst in einem mühsamen Prozess der Reifung überwunden werden, an deren Ende das Kind schließlich Herr über seinen eigenen Körper ist. Dieser Prozess vollzieht sich nach Lacan auf der Entwicklungsstufe des Spiegelstadiums, das dem Zeitraum vom 6. bis 18. Lebensmonat entspricht. Spiegelstadium deshalb, da das Kind in diesem Lebensabschnitt beginnt, sich selbst im Spiegel zu betrachten und mit dem Bild, das ihm dort begegnet, zu identifizieren. Laut Lacan ist diese Identifikation allerdings eine narzisstische Fehldeutung, die in keiner Weise der Realität des Kindes entspricht. Denn während der Blick in den Spiegel dem Kind das Bild eines vollständigen, kohärenten Wesens bietet, ist es selbst in dieser Lebensphase weder imstande, seinen Körper als Ganzes zu erfassen, noch diesen vollständig zu kontrollieren. Lacan betont darum stets den fiktiven Charakter der Identifikation mit dem Spiegelbild - sie kann immer nur eine Identifikation mit einem Idealbild von sich selbst sein, einem vollständigen und kohärenten Bild anstatt dem ‚zerstückelten‘, welches das Kind aus der Leibesperspektive bisher erfahren hat, aus der das eigene Gesicht nie sichtbar war und die Gliedmaßen nur als unzusammenhängende ‚Partialobjekte‘ wahrgenommen wurden. So fiktiv die Identifikation mit dem Spiegelbild auch sein mag, so konstitutiv ist sie jedoch für die Entwicklung des Subjekts. Lacan zufolge markiert die Identifikation mit dem Spiegelbild nichts weniger als den Beginn der Subjektwerdung, die Geburt des „Ich“. Sie ist der Punkt, an dem sich das Kind zum ersten Mal als autonomes, vollständiges Lebewesen erkennt und damit den symbiotisch mit der Mutter verbundenen Zustand seiner frühkindlichen Erfahrung verlässt. Da dieser Vorgang der Ichwerdung auf einem Bild beruht, nennt Lacan den Bereich, in dem er sich vollzieht, das Imaginäre - ein Begriff, der in seiner Lehre die Sphäre des Bildhaften, des Eingebildeten, der Verkennung insgesamt umschreibt, in der das Selbstbewusstsein, aber auch bestimmte Relationen mit der Außenwelt, etwa die Liebe in der Zweierbeziehung, angesiedelt sind. 6 Mit dem Begriff des Symbolischen, den Lacan besonders in seiner mittleren Schaffensphase betont, bezeichnet er das zeichenhaft verfasste soziale oder sprachliche System, das dem Individuum vorausgeht und dieses lebenslang begleitet. Es ist die Ordnung, die das Subjekt mit dem Eintritt in die Sprache unterwirft und sein Unbewusstes sowie seine gesellschaftliche Identität konstruiert. Lacan nimmt auf das Symbolische auch als den Bereich des Gesetzes (des Vaters), der Signifikanten, oder des Anderen mit großem A Bezug, das konstituiert ist in Begriffen von Oppositionen wie der zwischen Anwesenheit und Abwesenheit und dessen Existenz unseren Zugang zur Welt erst etabliert: „Es ist […] die Welt der Worte, die die Welt der Dinge schafft“. 7 Er zeigt sich in dieser mittleren Phase klar als Poststrukturalist, dessen Augenmerk auf die sprachlich-symbolische Verfasstheit der menschlichen Lebenswelt gerichtet ist. In Abwendung von seinem frühen Fokus auf die menschliche Identifikation mit Bildern, wird er nun darauf aufmerksam, dass in der Entwicklung des Subjekts auch eine Identifikation mit sprachlichen Elementen stattfindet, eine Identifikation, die genau wie die imaginäre Identifikation mit seinem Objekt jedoch nie zur Deckung kommt, sondern vielmehr einem ständigen Gleiten unterworfen ist. Dieses 6 Der maßgebliche Text ist hier Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“ [1948]. Schriften I . Hgg. Norbert Haas und Hans- Joachim Metzger. Weinheim, Berlin 1991. 61-70. 7 Lacan, Jacques: Schriften I . Dt. v. Norbert Haas, Rodolphe Gasché, Klaus Laermann und Peter Stehlin. Hg. Norbert Haas. Weinheim, Berlin 1991, S. 117. 170 Adina Sorian ständige Gleiten, diese ständige Nicht-Identität der Signifikanten zu ihren Signifikaten ist jedoch essentiell für das Fortbestehen der symbolischen Ökonomie, denn es produziert den konstitutiven Mangel, dessen Beseitigung einem Stillstand der Signifikation und damit dem Ende der symbolisch erfahrbaren Wirklichkeit gleichkäme. Während es bis zu den frühen 50er Jahren für Lacan die beiden Ordnungen des Imaginären und Symbolischen sind, in denen sich das Sein des Menschen konstituiert und die Lacan in der Tat als Poststrukturalisten ausweisen, ist das Jahr 1953 deutlich als Zäsur zu erkennen. In diesem Jahr führt Lacan mit der Trias des „Symbolischen, Imaginären und Realen“ eine dritte Ordnung neben dem Imaginären und Symbolischen ein. 8 Das Lacansche Reale benennt von Anfang an in Lacans Werk etwas, das sich der Imagination und Symbolisierung entzieht, das von den Ordnungen der Bilder und der Sprache ausgeschlossen ist: „das Reale oder das, was als solches wahrgenommen wird, ist das, was der Symbolisierung absolut widersteht“. 9 So viele Bedeutungsverschiebungen das Reale in Lacans Werk auch durchläuft, nie versteht der Psychoanalytiker es als die Realität. Im Gegenteil ist das Reale ausdrücklich als das Nicht-Darstellbare, Nicht-Sagbare, Nicht-Kommensurable in der Struktur menschlicher Psyche und Wirklichkeit konzipiert, dem oft der Charakter des Verstörenden anhaftet. In der Tat findet sich unter den mehreren Formeln, die Lacan für das Reale entwickelt hat, das Reale als traumatische Begegnung, auf die sich Lacan mit Aristoteles’ Begriff der Tyche bezieht. In seinem Seminar über Die Vier Grundbegriffe der Psychoanalyse heißt es: Schon die erste Form, in der die Funktion der Tyche , des Realen als Begegnung, in der Geschichte der Psychoanalyse auftrat - ich meine die Begegnung, die verfehlt, mankiert werden kann, die wesentlich eine verfehlte Begegnung ist - reicht aus, unsere Aufmerksamkeit zu wecken - ich meine das Trauma. […] Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, daß das Reale am Ursprung der analytischen Erfahrung sich als ein nicht Assimilierbares zeigt - in der Form des Traumas, das für den weiteren Verlauf bestimmend wird […]. 10 Wie sich in diesem Zitat bereits andeutet, handelt es sich beim Realen um eine paradoxe Kategorie, denn obwohl es jenseits des sprachlich und bildlich Fassbaren liegt - eine inhärent ‚verfehlte‘ Begegnung ist -, hört es nicht auf, sich innerhalb des Symbolischen mitzuteilen. Obwohl oder gerade weil es vom Symbolischen nicht assimiliert werden kann, zeigt es sich im Symbolischen als das, was es ins Stocken bringt, seinen Fortlauf behindert. Beispiele aus dem analytischen Alltag (einem Schauplatz des Symbolischen par excellence ) sind der Widerstand oder die Wiederholung, die vom Patienten in den analytischen Prozess hereingetragen werden und diesen blockieren. Lacan stützt sich hier auf Freuds Überlegungen zu Wiederholung und Erinnerung und nennt das Reale, im Anschluss an Freuds These vom 8 Als Trias betiteln die drei Ordnungen den Inauguralvortrag, den Lacan am 8. Juli 1953 vor der neugegründeten Psychoanalytiker-Gesellschaft Société française de psychoanalyse (SFP) hält. Der Vortrag ist in deutscher Übersetzung abgedruckt in Lacan, Jacques: Namen-des-Vaters . Dt. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 2006, S. 11-63. Vgl. zur Theoriegeschichte der Trias Wörler: Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale . Bielefeld 2015. 9 Lacan, Jacques: Das Seminar Buch 1 ( 1954 - 1955 ). Freuds technische Schriften . Dt. v. Werner Hamacher nach dem von Jacques-Alain-Miller hergestellten französischen Text. Hgg. Norbert Haas und Hans- Joachim Metzger. 2. unveränderte Auflage. Weinheim, Berlin 1990, S. 89. 10 Lacan, Jacques: Das Seminar Buch XI ( 1964 ). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse . Dt. v. Norbert Haas nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten Text. Hgg. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. 3. unveränderte Auflage. Weinheim, Berlin 1987, S. 61. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 171 Zwang, traumatische Erfahrungen, die nicht erinnert werden können, zu wiederholen, 11 „das, was stets an derselben Stelle wiederkehrt - an der Stelle, wo das Subjekt als denkendes oder besser die res cogitans ihm nicht begegnet“. 12 Noch in einem weiteren Sinn hat das Reale bei Lacan eine paradoxe Struktur. Es ist einerseits das, was sich dem Imaginären und Symbolischen widersetzt, andererseits aber das, was die Existenz dieser Ordnungen erst ermöglicht, wenn auch per Ausschluss: Das Reale ist zwar von der Symbolisierung ausgeschlossen, schafft aber dadurch gleichzeitig den Raum, in dem Symbolisierung entstehen kann. Wie Lacan in einer Sitzung zur Ethik der Psychoanalyse ausführt, ist die Bedingung jeglicher (symbolisch konstituierten) Realität der Ausschluss des Realen; erst der leere Platz, den das Reale im Symbolischen einnimmt, schafft den Mangel, der das Prozessieren der Signifikanten in Gang bringt. Lacan spricht davon, dass das Reale ein Loch ins Symbolische reißt 13 - es ist jenes Loch, jener leere Platz im Symbolischen, um welchen das Symbolische, die Ordnung der Differenzen, per se strukturiert ist und durch welchen unsere symbolisch erfahrbare Wirklichkeit mitsamt dem Begehren, das uns ausmacht, zustande kommt. Das Reale bildet somit einen Rest, der sich in die symbolische Ordnung nicht einfügt: Es geht ihr voraus (als ihre Möglichkeitsbedingung) und ist zugleich ein Teil von ihr; es widersteht dem Symbolischen, befindet sich aber zugleich im Herzen des Symbolischen, als die eingeschlossene Leere, den zentralen Mangel, um den herum sich das Symbolische strukturiert. 14 Das Reale und die Negative Theologie Aus dieser knappen Darstellung des Lacanschen Realen lassen sich nun Zusammenhänge erkennen, nicht nur zwischen dem Realen und dem von Lacan selbst bemühten Konzept des Traumas, sondern auch zwischen dem Realen und einer Reihe von weiteren zeitgenössischen philosophischen, kunst- und literaturtheoretischen Diskursen zum Problem der Darstellbarkeit von etwas, das jenseits von jeglicher Darstellung steht (aber zugleich zu imaginären und symbolischen Produktionen antreibt). Man denke etwa an die Debatte um die Darstellbarkeit des Holocaust, an Lyotards Überlegungen zu einer Ästhetik des Erhabenen, an Levinas’ Darlegungen zum Unendlichen, oder an Derridas Auseinandersetzung 11 Zum Wiederholungszwang bei Freud vgl. Freud, Sigmund: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. X . Frankfurt / Main 1991. 126-136, und Freud, Sigmund: „Jenseits des Lustprinzips“. Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. XIII . Frankfurt / Main 1969. 3-73. 12 Vgl. Lacan, Seminar Buch XI , S. 56. 13 Lacan, Jaques: Das Seminar Buch VII ( 1959 - 60 ). Die Ethik der Psychoanalyse . Dt. v. Norbert Haas. Hg. Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger. Weinheim, Berlin 1996, S. 151. 14 Die Idee der Basis der Realität als ein abgründiger, nie aufgehender Rest findet sich schon bei Schelling: „[I]mmer liegt noch im Grunde das Regellose, als könnte es einmal wieder durchbrechen, und nirgends scheint es, als wären Ordnung und Form das Ursprüngliche, sondern als wäre ein anfänglich Regelloses zur Ordnung gebracht worden. Dieses ist an den Dingen die unergreifliche Basis der Realität, der nie aufgehende Rest, das, was sich mit der größten Anstrengung nicht in Verstand auflösen lässt, sondern ewig im Grunde bleibt. Aus diesem Verstandlosen ist im eigentlichen Sinne der Verstand geboren“ (Vgl. Schelling, F. W.J: „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände“ [1809]. Sämmtliche Werke , Bd. VII [1805-1807]. Hg. K. F. A. Schelling. Stuttgart, Augsburg 1860. 331-448, hier S. 359-360.). Auch Žižek verknüpft bekanntlich Schellings Begriff vom unergründlichen Urgrund mit Lacans Realem, vor allem in dessen Erscheinungsform der jouissance , ein Lacansches Konzept, das in diesem Aufsatz nicht behandelt werden kann. Vgl. Žižek, Slavoj: The Indivisible Remainder. On Schelling and Related Matters . London 1996, S. 75. 172 Adina Sorian mit der Frage des Unsagbarkeitstopos in seinem Vortrag Wie nicht sprechen. Verneinungen . Ich möchte auf letzteres Beispiel kurz näher eingehen, da es auf anschauliche Weise einen Generalvorwurf behandelt, der Diskursen zum Unsagbaren regelmäßig gemacht wird - der Einwand der Obskurität, des Esoterischen, des Mystisch-Theologischen, der alle Versuche des Denkens des Undenkbaren schließlich als theologischer und nicht philosophischer Natur zu dekuvrieren sucht. Derrida nimmt in Wie nicht sprechen Stellung zur gegen ihn vorgebrachten Kritik, er praktiziere letztendlich nichts anderes als die Vorgehensweisen der negativen Theologie, wonach alle positiven Aussagen (über Gott) als unangemessen verworfen werden müssen und nur negative Bestimmungen, Verneinungen positiver Aussagen, legitim sind. Dort heißt es: Einmal unterstellt […], die negative Theologie bestehe darin anzunehmen, jedes Prädikat, ja alle prädikative Sprache, bleibe dem Wesen, in Wahrheit der Überwesentlichkeit G ottes, inadäquat, und infolgedessen könne allein eine negative („apophatische“) Attribution den Anspruch erheben, sich G ott anzunähern, […], so wird man alsdann - über eine mehr oder weniger haltbare Analogie - bestimmte Züge, die Familienähnlichkeit der Theologie wiedererkennen in jedem Diskurs, der in beharrlicher und regelmäßiger Weise bei dieser Rhetorik der negativen Bestimmung Zuflucht zu nehmen scheint und dabei endlos / ziellos ( sans fin ) die apophatischen Warnungen und Mahnungen vervielfältigt: dies, was X geheißen wird (zum Beispiel der Text, die Schrift, die Spur, die différance , das Hymen, das Supplement, das Pharmakon, das Parergon, und so weiter), dies „ist nicht“ dieses noch jenes, nicht sinnlich noch intelligibel, nicht positiv noch negativ, nicht drinnen noch draußen, nicht übergeordnet noch untergeordnet, nicht aktiv noch passiv, nicht anwesend noch abwesend, nicht einmal neutral, nicht einmal dialektisierbar in einem Dritten, ohne mögliche Aufhebung und so weiter. 15 Alle diese Beispiele scheinen zu beglaubigen, wie Derrida, indem er immer wieder auf die Unabschließbarkeit der Differenz verweist, auf deren permanentes, prozesshaftes Differerieren von sich selbst, damit beschäftigt ist, „ständig die Vorgehensweisen der negativen Theologie zu wiederholen“. 16 Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, Derridas komplexe Antwort auf diese Kritik hier weiter zu verfolgen. Stattdessen möchte ich etwas näher auf die ‚Familienähnlichkeit‘ der sogenannten negativen Theologie Derridas, die sich hinter Begriffen wie différance , Schrift, Spur, Supplement usw. verbirgt, mit den Diskursen des Erhabenen, des Unendlichen, des Traumas und schließlich des Realen im Lacanschen Sinne eingehen. Ein kurzer Blick auf die Rhetorik dieser Diskurse genügt, um zu erkennen, dass ihre Gegenstände eine Annäherung in der Tat nur negativ zulassen. Trauma ist definiert als ein Ereignis, das so schrecklich oder lebensbedrohlich ist, dass es im Gehirn nicht dort abgespeichert wird, wo Erlebnisse in Worte gefasst werden können, es verweist auf eine Leerstelle in unserem sprachlich konstituierten Bewusstsein, einen unzugänglichen, eingeschlossenen Kern, der, obwohl er zu einer Reihe von indirekten Veräußerungen nach einiger Zeit des Erlebens des Traumas führt, nicht bewusst abgerufen werden kann. 17 Zum Vergleich, ist das Erhabene bei Lyotard in Anlehnung an Kant etwas, das auftritt, „wenn die Einbildungskraft nicht vermag, einen Gegenstand darzustellen, der mit einem Begriff, und sei es auch 15 Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen . Dt. v. Hans-Dieter Gondek. Hg. Peter Engelmann. Wien 1989, S. 14-15. 16 Derrida, Wie nicht sprechen , S . 15. 17 Vgl. zum Traumabegriff der jüngeren Zeit Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History . Baltimore, London 1996. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 173 nur im Prinzip, zur Übereinstimmung gelangen könnte.“ 18 Ähnlich gelagert ist das Problem des Unendlichen, einer Größe, die nach Levinas, der sich auf Descartes beruft, „does not enter the idea of infinity, is not grasped; […] is not a concept“. 19 Und wie oben skizziert, ist das Lacansche Reale definiert als das, was sich jeglicher positiven Bestimmung widersetzt; an etlichen Stellen spricht Lacan sogar vom Realen als dem „Unmöglichen“. 20 Um Derridas Idee einer Familienähnlichkeit zwischen sämtlichen Diskursen, die sich ihrem Objekt nur negativ annähern, aufzugreifen, kann man in der Tat davon sprechen, dass Lacans Ausführungen zum Realen, wie auch die Diskurse zum Trauma, zum Erhabenen, zum Unendlichen, einer theologischen Verneinung zumindest ähneln. Mit Lacans Rede vom Realen als Nicht-Symbolisierbarem, Nicht-Assimilierbarem oder gar Unmöglichem wird letztlich eine rein negative Bestimmung von etwas Relationslosem postuliert; das Negative wird zum zentralen, unhintergehbaren Thema des Realen erhoben. Ohne diese grundsätzliche Negativität des Lacanschen Realen nun bestreiten zu wollen, möchte ich die dennoch sehr produktive Relevanz des Lacanschen Realen gerade für die zeitgenössische literatur- und filmwissenschaftliche Praxis herausstellen. Wie ich zu zeigen hoffe, kann Lacansche Interpretation mit einem Fokus auf das Reale eine Methode der Film- und Literaturwissenschaft sein, die sich nicht nur in der Benennung des Negativen oder in mystisch-theologischer Metaphorik erschöpft. Meine These ist, dass Lacansche Theorie, insbesondere in ihrer Neuinterpretation durch Theoretiker wie Slavoj Žižek, Joan Copjec und Todd McGowan, ein zentrales und produktives Paradigma zur Erhellung verschiedener Aspekte des Romans und Films des frühen 21. Jahrhunderts ist, von der Problematik der Wirklichkeits- und Subjektivitätskonzeption bis hin zur Darstellung von Trauma. Dies lässt sich anhand von verschiedenen Text- und Filmbeispielen der vergangenen 15 Jahre dingfest machen. Bevor ich im Folgenden ein paar dieser Werke beleuchten werde, die eine ‚Begegnung‘ mit dem Realen inszenieren, möchte ich die Relevanz Lacanscher Psychoanalyse in der aktuellen Theoriebildung skizzieren, indem ich den Begriff des Realen in der kulturwissenschaftlich brisant gewordenen Diskussion um den Status der Postmoderne verorte. 18 Lyotard, Jean-François: „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? Postmoderne für Kinder . Briefe aus den Jahren 1982 - 1985 . Hg. Peter Engelmann. Wien 1987. 11-31, hier S. 27. In „Kants Kritik der Urtheilskraft“ finden wir folgende Bestimmung des Erhabenen: „Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüths beweiset, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“. Kants Werke . Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 5. Hg. Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1968, S. 250. 19 Levinas, Emmanuel: „Philosophy and the Idea of Infinity“. Collected Philosophical Papers . Übers. v. Alfonso Lingis. Dordrecht 1987. 47-59, hier S. 54. Zu René Descartes’ Begriff des Unendlichen, mithilfe dessen Descartes die Existenz Gottes zu beweisen sucht, siehe die „dritte Meditation“ in Descartes, René: Meditationen . Dt. v. Christian Wohlers. Hg. Christian Wohlers. Hamburg 2009, S. 39-58. Obwohl Descartes eine rationalistische Gotteslehre durchzusetzen versucht, nach der Gottes Existenz positiv und auf reiner Vernunft begründet werden kann, sieht Jean-Luc Marion in Descartes’ Rede vom ‚unendlichen‘, ‚unbegreiflichen‘, ‚unabhängigen‘ Gott, zu Recht, wie ich meine, Ansätze von theologischen Verneinungen. Vgl. Marion, Jean-Luc: On Descartes’ Metaphysical Prism. The Constitution and the Limits of Onto-theo-logy in Cartesian Thought . Übers. v. Jeffrey L. Kosky. Chicago, London 1999, S. 206-276. 20 Vgl. z. B. Lacan, Das Seminar Buch XI , S. 175. 174 Adina Sorian II. Das Reale nach der Postmoderne Rund 50 Jahre nach ihren Anfängen hat uns die Postmoderne in den vergangenen Jahren immer wieder Gründe gegeben, nach neuen Denkmodellen für die Verhältnisse von Sprache, soziopolitischer Ordnung und den materiellen Gegebenheiten unserer Lebenswelt zu suchen. Die Anschläge vom 11. September, der Zusammenbruch des Finanzmarktes, die biogenetische Revolution, die ökologische Krise, Debatten um den Verlust nationaler Souveränität im Zuge der Globalisierung, die weltweiten politischen Krisen und die anhaltende Flüchtlingsproblematik können allesamt als Entwicklungen gesehen werden, die dem postmodernen Paradigma, insofern es auf den Prinzipien von ideologischem Relativismus, narzisstischer Selbstbezüglichkeit und dem Spiel mit der postulierten Zeichenhaftigkeit und Subjektivität der Wirklichkeit basierte, den Garaus gemacht haben. Indikatoren für die Abkehr von der Postmoderne als unserer kulturellen Dominante 21 sind nicht nur die zahlreichen neuen Labels, die in den vergangen Jahren entstanden sind, etwa Alan Kirbys Rede vom „digimodernism“, der die Postmoderne abgelöst habe, Nicolas Bourriards Begriff des „metamodernism“, Gilles Lipovetskys „hypermodernity“ oder Timotheus Vermeulen and Robin van der Akkers „metamodernism“, 22 sondern auch die neuen Denkrichtungen, die die Spätwerke ehemals führender poststrukturalistisch-postmoderner Denker wie Derrida und Judith Butler eingeschlagen haben. Wo Derridas Frühwerk, 23 oft zur vermeintlich apolitisch, ja realitätsleugnenden Formel, dass es ‚ein Text-Äußeres nicht gebe‘ reduziert, 24 noch von der Vorherrschaft des Signifikanten über das Signifikat her gedacht hatte, weisen seine Texte ab den 1980er Jahren eine deutlich ethisch-politische Wende auf, in dessen Zuge Fragen wie Gerechtigkeit, Verantwortung und Gastfreundschaft zentral werden, 25 und in Judith Butlers Werk macht sich ab Bodies That Matter eine neue Betonung von Ethik und Materialität bemerkbar, die insbesondere in ihrem 2004 erschienenen Buch Precarious Life zum Tragen kommt, wo sie in Auseinandersetzung mit den Anschlägen vom 11. September eine Welt zu denken versucht, in der unsere existenzielle Verletzlichkeit und unhintergehbare gegenseitige Abhängigkeit als Basis für eine neue globale Gemeinschaft fungieren 21 Vgl. zu diesem Begriff Fredric Jamesons wegweisenden Aufsatz „Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism”. New Left Review 146 (1984): 53-92. 22 Vgl. für einen Überblick über diese neuen Ansätze Adiseshia, Siân und Rupert Hildyard: Twenty-First Century Fiction. What Happens Now . New York, Basingstoke 2013, S. 4; sowie Boxall, Peter: Twenty - First-Century Fiction. A Critical Introduction. Cambridge 2013, S. 16; 59. 23 Einschlägig ist hier z. B. Derrida, Jacques: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls . Dt. v. Hans-Dieter Gondek . Frankfurt / Main 2003; -: Grammatologie . Dt. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt / Main 1974; -: Die Schrift und die Differenz . Dt. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt / Main 1976. 24 Dass kein Text-Äußeres denkbar ist, heißt für Derrida nicht, dass es hinter dem Text keine Welt gäbe, sondern nur, dass es nichts gibt, was nicht vermittelt, verstellt wäre, dadurch, dass wir es vor unseren immer schon textuellen Horizont wahrnehmen. Zum Vorwurf der Realitätsverleugnung der dekonstruktiven Methode hatte Derrida bereits in einem 1990 geführten Interview Stellung genommen (vgl. Derrida, Jacques: „Philosophie und Literatur. Ein Gespräch mit Jacques Derrida“. Rückkehr aus Moskau . Dt. v. Monika Noll und Dirk Uffelmann. Hg. Peter Engelmann. Wien 2005. 87-137, hier S. 92-94). Das berühmte Postulat vom nichtexistierenden Außen des Textes stammt aus einem eingeschobenen Abschnitt seiner Rousseau-Lektüre in der Grammatologie , in dem Derrida die philosophische Methode seiner Lektüre erklärt (vgl. Derrida, Grammatologie , S. 274). 25 Vgl. Bischof, Sascha: Gerechtigkeit - Verantwortung - Gastfreundschaft. Ethik-Ansätze nach Jacques Derrida . Freiburg, Wien 2004. Zur politischen Wende bei Derrida siehe auch Chea, Pheng und Suzanne Guerlac: Derrida and the Time of the Political . Durham 2009. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 175 können. Beide Denker, die ihren Ruhm ihren poststrukturalistischen Frühwerken verdanken, haben in ihrem späten Werk das semiotische, rein textbasierte Verständnis von Wirklichkeit augenscheinlich verlassen. Sie können als Teil einer Tendenz gesehen werden, die Peter Boxall in seiner Studie Twenty-First-Century Fiction als „a far-reaching attempt to pass beyond the impasse of postmodern politics” 26 beschrieben hat, als Teil des Unterfangens, eine Politik zu überwinden, die ausgehend von der poststrukturalistischen Delegitimisierung des überlieferten Subjektbegriffs sowie der scharfen Trennung von Wirklichkeit und Fiktion nicht nur die Möglichkeit objektiver Wahrheit negiert hatte, sondern, zusammen mit dem Subjekt, auch die Möglichkeit der subjektgesteuerten Handlung. In einem Versuch, die neuen Tendenzen des beginnenden 21. Jahrhunderts auf den Begriff zu bringen, spricht der italienische Philosoph Maurizio Ferraris neuerdings von einem „Zeitenwechsel“, den die philosophische und politische Kultur seit der Jahrtausendwende erfahre. So ziehe sich die Postmoderne mit ihren Dogmen der sozialen Konstruiertheit von Wirklichkeit und der Notwendigkeit der Überwindung des Mythos der Objektivität „philosophisch und ideologisch zurück“ und mache einem „neuen Realismus“ Platz, in dem nicht mehr das ironische Spiel mit verschiedener Wirklichkeiten vorherrscht und nicht mehr das von der Kulturindustrie des Medienpopulismus verkörperte Nietzscheanische Prinzip, dass es „keine Fakten“ gäbe, „nur Interpretationen“. 27 Als weitere Beispiele für die Abkehrbewegung von der Politik der Postmoderne können in der aktuellen philosophischen Kultur auch Georgio Agambens Überlegungen zum ‚Nackten Leben‘, 28 die Theorie des Ecocriticism, wie von Hubert Zapf vertreten, 29 oder Bruno Latours Akteur-Netzwerk- Theorie (ANT), die maßgeblich zum material turn in den Kulturwissenschaften beigetragen hat, 30 gelten. All diese neuen Ansätze zeigen das Interesse daran, überzeugendere Modelle für die Diagnose der Beziehungen zwischen Sprache, Politik und den materiellen Gegebenheiten unserer Lebenswelt zu finden als jene, die die Postmoderne zu bieten hatte. Verknappt formuliert, ließe sich sagen, dass wo die Postmoderne sich primär auf Sprache und die Möglichkeiten des ironischen Spiels mit dieser konzentriert hatte, das Augenmerk in dieser von Ferrraris und anderen ausgerufenen neuen Epoche nun verstärkt auf die Aspekte Ethik und Materialität gelenkt wird. Wie kommt in dieser kulturellen Transformationsbewegung ‚nach‘ der Postmoderne nun das Lacansche Reale ins Spiel, das ja dezidiert nicht die materielle Realität meint? Vorausgesetzt, dass einer der Indikatoren der Abkehr von der Postmoderne die von Ferraris diagnostizierte neue Suche nach einer Art Tatsachenrealität ist, einschließlich der einem solchen Unterfangen immer inhärenten Problematik, wie diese Tatsachen denn zu bestimmen sind, so kommen wir dem Realen insofern näher, als es im Anschluss an Frank 26 Boxall, Twenty-First , S. 16. 27 Ferraris, Maurizio: „Politik und Philosophie von der Postmoderne zum Neuen Realismus“. Nach der Postmoderne. Aktuelle Debatten zu Kunst, Philosophie und Gesellschaft . Hg. Christoph Riedweg. Basel 2014. 61-82, hier S. 61-63. Vgl. zur Diskussion um den ‚Neuen Realismus‘ auch Ferraris, Maurizio: Manifest des Neuen Realismus . Dt. v. Malte Osterloh. Frankfurt / Main 2014 und Gabriel, Markus: Der Neue Realismus . Berlin 2014. 28 Agamben, Giorgio: Homo sacer . Die souveräne Macht und das nackte Leben . Dt. v. Hubert Thüring. Frankfurt / Main 2002. 29 Vgl. z. B. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte am Beispiel des amerikanischen Romans . Tübingen 2002. 30 Vgl. Latour, Bruno: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit in den Wissenschaften . Dt. v. Gustav Roßler. Frankfurt / Main 2002. 176 Adina Sorian Wörler nicht als ontologische Form gesehen werden kann, sondern als epistemologische Form, als „Register menschlichen Weltzugangs“. 31 Die Suche nach einer Tatsachenrealität stellt sich gerade in unserer digitalisierten, hypermedialisierten, beschleunigten Welt als besonders diffiziles Problem dar, denn wie Boxall bemerkt, produziert [h]yper-communication […] the kind of oddly passing time, and oddly made space […] in which time and space hang together in ways that are so new and so strange that we have to relearn our most basic orienteering to get from here to there, from one second to the next. 32 Das heißt, nicht nur unsere soziale Wirklichkeit, sondern auch die basalen Koordinaten, in denen wir Wirklichkeit erleben, Zeit und Raum, scheinen durch die neuen Kommunikationstechnologien modifiziert worden zu sein. Nicht so sehr die Wirklichkeit selbst (oder das, was wir dafür halten), als vielmehr die Art und Weise, in der wir Wirklichkeit erleben können, scheint sich im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung und Beschleunigung unserer Lebenswelt geändert zu haben und wirft unsere Erfahrung des In-der-Welt-Seins mehr und mehr auf Fragen der eigenen Bedingungen zurück, auf das, was es heißt, Wirklichkeit erleben zu können. - Diese neue Reflexion der Möglichkeitsbedingungen dessen, was wir als Realität wahrnehmen, diese neue epistemologische Suche nach den (nie auf den Begriff zu bringenden) ersten Prinzipien unserer Wirklichkeitserfahrung ist der Ort, an dem ein Schein des Realen aufblitzt. Wie oben angedeutet, begegnen wir dem Realen typischerweise in der Konfrontation mit dem, was unzulänglich aber zugleich maßgebend für alle Wirklichkeitserfahrung ist, als Negativität, die sich allen Darstellungsversuchen und Bedeutungszuschreibungen entzieht, und zugleich die im Kant’schen Sinne transzendentale Dimension aller Bedeutung, ihre Möglichkeitsbedingung bildet. 33 Es ist diese Begegnung mit den Bedingungen der Erkenntnis, mit dem Grund, auf dem Erkenntnis sich vollzieht, die sich in der verstärkten Beschäftigung mit der Realität am Übergang von der Postmoderne zu einem neuen Denkparadigma, wie ich meine, abzeichnet und die in zahlreichen fiktionalen Werken der vergangenen Jahre thematisch wird. Natürlich ‚verfehlt‘ uns diese Begegnung eigentlich, denn das Reale als der Ort, von dem aus die Wahrnehmung von Wirklichkeit ermöglicht wird, kann sich nur im Modus seiner Verweigerung, als blinder Fleck präsentieren (wie im Beispiel des Auges, das sich nie selbst beim Sehen sehen kann). Das Reale zeigt hier einmal mehr seinen verstörenden trauma-ähnlichen Charakter, enthüllt sich als das, was Lacan ein „Angstobjekt par excellence“ 34 nennt. Zum einen bringt die erhöhte Reflexion über die epistemischen Bedingungen der Wirklichkeit, die wir die Begegnung mit dem Realen nennen, den Fluss dieser Wirklichkeit ins Stocken, droht die Narrativität der symbolischen Wirklichkeit zu fragmentieren. Zum anderen, nämlich indem es seinen paradoxen Status der Inklusion durch Exklusion aus der Realität erkennen lässt (obwohl das Reale sich niemals als es selbst zeigt oder für uns direkt zugänglich ist, ist 31 Wörler, Das Symbolische, das Imaginäre und das Reale , S. 11. 32 Boxall, Twenty-First , S. 21. 33 Zu den transzendentalen Kategorien als Möglichkeitsbedingen von Erkenntnis vgl. Kant, Immanuel: „Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl. 1787)“. Kants Werke . Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Abdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. 3. Hg. Preußische Akademie der Wissenschaften. Berlin 1968. 1-552, hier S. 25; 80; 81. 34 Lacan, Jacques: Das Seminar Buch II ( 1954 - 1955 ). Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse . Dt. v. Hans-Joachim Metzger nach dem von Jacques-Alain-Miller hergestellten französischen Text. 2. unveränderte Auflage. Weinheim, Berlin 1991, S. 210. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 177 es doch erlebbarer Teil unserer Wirklichkeit, als „das, was stets an derselben Stelle wiederkehrt - an der Stelle, wo das Subjekt […] ihm nicht begegnet“), erscheint das Reale als „das Bild selbst der Verlagerung, der wesentlichen Zerrissenheit des Subjekts“. 35 Dieser traumatische, realitätsdestabilisierende Aspekt der Begegnung mit dem Realen ist der Hintergrund vor dem Žižek im Anschluss an Lacan seinen Begriff von Phantasie entwickelt. Für Žižek wie für Lacan hat die Phantasie, oder auch ‚das Phantasma‘, nichts mit dem herkömmlichen Verständnis zu tun, nach dem Phantasien ein Modus sind, Wünsche zu befriedigen und der Realität zu entfliehen. Vielmehr bildet die Phantasie laut Žižek und Lacan den Rahmen, in dem wir Realität als konsistent erleben. Žižek spricht vom Phantasma als dem Schild, das uns vor der Überwältigung durch die Begegnung mit dem rohen Realen schützt. Wie er an unzähligen Stellen seines Werkes betont, ‚gibt es‘ nichts hinter der Phantasie, denn die Phantasie ist eine Konstruktion, deren Funktion es ist, die traumatische Leere, die sich an der Stelle des Realen im Symbolischen befindet, zu verbergen. Sie hat die Aufgabe, den ‚Realen Grund‘ der Wirklichkeit auszublenden, der die symbolische Ordnung als im Herzen perforiert und inkonsistent bloßlegen und die Koordinaten unserer gemeinsamen Alltagsrealität sprengen würde. Es ist Žižeks erklärte Überzeugung, dass das, was wir als Wirklichkeit erleben, wesentlich durch Phantasie strukturiert ist: the function of fantasy is to serve as as a screen concealing th[e] inconsistency [of the symbolic order] […] fantasy functions as ‘absolute signification’ (Lacan); it constitutes the frame through which we experience the world as consistent and meaningful - the a priori space within which the particular effects of signification take place. 36 III. Das Reale in David Mitchell’s number 9 dream, Tom McCarthy’s Remainder und Gaspar Noés Enter the Void Ich möchte nun auf ein paar Beispiele aus der Gegenwartsliteratur und dem Gegenwartskino eingehen, deren Formen und Inhalte sich diese Funktionsweise des Realen und seiner Beziehung zur Realität und Phantasie zum Thema genommen haben und sich somit in der oben beschriebenen Tendenz zu einer neuen Beschäftigung mit der Wirklichkeit einbetten lassen. Wie ich hoffe zu zeigen, eignen sich alle drei Beispiele hervorragend dazu, die Anwendbarkeit Lacanscher Theorie für die Analyse der Gegenwartskunst zu demonstrieren. David Mitchells 2001 erschienener Bildungsroman number 9 dream liest sich fast als eine Hommage an Lacan, insofern er durch seine zentrale Metapher des neunten Traums zeigt, dass Wirklichkeit immer um eine zentrale Leerstelle des Realen zirkuliert und von Phantasien gestützt werden muss, um konsistent zu bleiben. Der Roman erzählt von dem siebzehnjährigen japanischen Jungen Eiji Miyake, der auf der Suche nach seinem unbekannten Vater in der hypermedialisierten Welt Tokyos landet, wo er sich zunächst Videospielen und Tagträumen hingibt. Diese Phantasien gilt es für den Protagonisten im Rahmen seiner ‚Bildungsreise‘ jedoch nicht hinter sich zu lassen, sondern er lernt vielmehr, wie er diese reflektieren und als Bestandteil der Wirklichkeit erkennen kann. Denn das Reale jenseits der Phantasie und Fiktion, auf das der Protagonist und Ich-Erzähler an verschiedenen Stellen des Romans immer wieder stößt (allen voran in der antiklimaktischen Begegnung mit seinem Vater), ist nicht mehr als ein semantischer Nullpunkt, an dem Eiji jedes Mal aufs Neue mit dem 35 Lacan, Das Seminar Buch II , S. 237. 36 Žižek, Slavoj: The Sublime Object of Ideology . London, New York 2008, S. 137-138. 178 Adina Sorian Scheitern aller Symbolisierung konfrontiert wird. Verbildlicht in der Figur des titelgebenden neunten Traums, dessen Bedeutung im Roman schließlich als das „Ende aller Träume“ entschlüsselt wird, steht das Reale in number 9 dream zugleich für das Ende und den Ursprung der Fiktionen und Erzählungen, welche unsere symbolische Wirklichkeit konstituieren. Tom McCarthys 2005 erschienener Roman Remainder bewegt sich ebenfalls im Spannungsfeld zwischen dem traumatischen undarstellbaren Realen und dem Prozess des Erzählens, der aus einer semantischen Leerstelle seinen wesentlichen Antrieb gewinnt. Der Roman beginnt im Nachgang eines nicht näher bestimmten Unfalls, in dem einem namenlosen Ich-Erzähler Gedächtnis und Motorik abhandengekommen sind. Während der Erzähler im Zuge einer Physiotherapie seine motorischen Fähigkeiten und Teile seiner Erinnerung wiedererlangt, hat der Unfall ihn scheinbar um eine Sache für immer gebracht: das Gefühl der Authentizität, jene natürliche Flüssigkeit, mit der wir alltägliche Handlungen ausführen, wie zu laufen oder eine Kühlschranktür zu öffnen, ohne über sie nachzudenken. Das Wiedererlernen seiner motorischen Fähigkeiten verlangt dem Erzähler ab, über jede kleinste Handlung zuerst nachzudenken, sie in ihren Bestandteilen zu analysieren, um sie ausführen zu können - „No Doing without Understanding: the accident bequeathed me that for ever, an eternal detour“. 37 Bei dem post-traumatischen Erleben des Protagonisten geht es jedoch nicht nur um die Folgen seines Unfalls; je weiter wir im Roman lesen, desto mehr wird sein Zustand zur Metonymie für einen unserer Alltagskultur generell abhanden gekommenen Realitätssinn. Wie der Erzähler erkennt, hat ihn die im Zuge seines Genesungsprozesses entstandene Entfremdung von der Realität nur noch mehr zu dem gemacht, was er sowieso schon immer gewesen war - er und alle anderen: Recovering from the accident, learning to move and walk, understanding before I could act - all this just made me become even more what I’d always been anyway, added another layer of distance between me and things I did […] I wasn’t unusual, I was more usual than most. 38 Die zwanghafte Überreflexion, die den Erzähler seit der Physiotherapie plagt, führt dazu, dass ihm im Alltag immer wieder sogenannte ‚Reste‘ oder ‚Überbleibsel‘ unterschiedlichster Form und Provenienz auffallen, etwa das Stück abgesplitterter Kniescheibe, das nach dem Unfall in seinem Kniegelenk verblieben ist, der seiner Meinung nach ‚unschöne‘ überzählige Bruchteil der 8 ½ Millionen Pfund Entschädigung, die er erhält, die schwarze Schmiere auf dem Handlauf der Rolltreppe, in die er eines Tages greift. Auf der Erzählebene funktioniert dieser leitmotivisch auftretende, titelgebende remainder dabei in mehrfacher Hinsicht als Chiffre für etwas Uneinholbares und sich doch immer wieder Aufdrängendes, zu dessen Interpretation Lacans Konzept des Realen sich ausgezeichnet eignet. In einem ersten Sinn steht der remainder für den logischen Rest, den jeder Versuch des Erzählers, eine vollständige ‚Präsenz‘ zu erlangen, unweigerlich produziert. Das Streben danach, die nach seinem Unfall umso akuter empfundene Trennung zwischen ihm und den ‚Dingen, die er tut‘, aufzuheben, muss in einem Lacanschen Verständnis zwangsläufig scheitern, da diese Subjekt-Objekt-Spaltung, die Trennung von Sein und Bewusstsein (die psychoanalytisch gewendet mit der Trennung aus dem ‚paradiesischen‘ Zustand der Symbiose mit der Mutter homolog ist), erst die Voraussetzung des denkenden Subjekts bildet, seine ‚Reale‘ Möglichkeitsbedingung. In einem weiteren Sinn korrespondiert der hartnäckig auftauchende Rest 37 McCarthy, Tom: Remainder . New York 2007, S. 22-23. 38 McCarthy, Remainder , S. 25. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 179 in Remainder mit dem traumatischen Realen als „das, was stets an derselben Stelle wiederkehrt“. Der Rest steht in dieser Lesart für die posttraumatische Rückkehr des (verfehlten) Moments des Unfalls, verbildlicht vor allem im Geruch von Kordit, den der Erzähler auf unerklärliche Weise immer wieder in der Nase hat, aber auch in seiner pathologischen Obsession, bestimmte Handlungen und Situationen, die ihm kurzfristig ein Gefühl von Authentizität verschaffen, immer wieder zu re-inszenieren. Schließlich verweist der Rest metonymisch auf den ominösen Unfall selbst, der als der Ursprung und die Triebfeder des Textes Remainder , als in gewissem Sinne der abgründige ‚Reale Grund‘ der Erzählung, die wir lesen, sowohl dem Erzähler als auch uns bis zuletzt verborgen bleibt. Als interpretatorischer Schlüssel fungiert das Konzept des Lacanschen Realen auch für den 2009 erschienenen Film Enter the Void des argentinischen Regisseurs Gaspar Noé. Insbesondere kann es dort dazu dienen, die Funktion der viel beachteten Kameraführung zu erhellen. Zentrales Mittel der Kameraführung in Enter the Void ist der systematische Point-of-View-Shot, der uns die Wahrnehmung der fiktionalen Welt über den gesamten Film hinweg durch die Augen der Hauptfigur Oscar ermöglicht. Ausgeklügelter als in anderen Filmen, 39 da er sogar er das Blinzeln der Augen des Protagonisten durch sporadische schwarze frames imitiert, zeigt der Point-of-View-Shot in Enter the Void , dass der Betrachter das Gesehene nie nur beobachtet, sondern an dessen Konstitution auch maßgeblich beteiligt ist. Indem die Leinwand, in Nachahmung des Schließens der Augen des Protagonisten beim Blinzeln, in regelmäßigen Abständen schwarz wird, spielt der Film darauf an, dass die Aktivität des Schauens des Betrachters erst dafür sorgt, dass das Sichtfeld als solches entsteht. Was uns durch die schwarzen frames , die das Filmbild immer wieder unterbrechen und die das Blinzeln unserer und Oscars Augen zugleich imitieren, veranschaulicht wird, ist, dass der Film als Bildträger nur infolge der Betrachtung durch ein Subjekt anfängt, als solcher zu funktionieren. Erst, wenn er von jemandem gesehen wird, wird der Film zum Film, ansonsten hört er, zumindest auf der visuellen Ebene, auf zu sein, wie durch die eingefügten schwarzen Bilder suggeriert wird, die nichts darstellen. Mit Lacan gewendet, verweist der Film damit auf die Subjektivität des Betrachters als die ‚Reale‘ Dimension des Films, als die Möglichkeitsbedingung jeglichen visuellen Effekts. Während diese normalerweise vom Subjekt nicht wahrgenommen werden kann (‚das Auge kann sich nicht selbst beim Sehen sehen‘), liegt das Verstörende an Enter the Void darin, dass der Film diese verborgene, transzendentale Dimension des Sehens eben doch in gewisser Weise ins Feld des Sichtbaren einführt. Anders als beim alltäglichen Sehen, wo die Aktivität des schauenden Auges für uns ‚unsichtbar‘ bleibt, weil das Schauen hinter dem Seheffekt vollständig zurücktritt, ist das Schauen des Auges hier quasi materialisiert und sichtbar. Durch die schwarzen Bilder, die in Enter the Void immer wieder auf das Schließen der Augen beim Blinzeln verweisen, das beim normalen Sehen den Sehfluss nicht stört und anders als in Enter the Void normalerweise nicht als Unterbrechung erlebt wird, wird das Sehen (bzw. momentane Nichtsehen) des Auges vom Zuschauer hier optisch erfassbar - das eigene Auge bzw. das eigene Schauen wird in den Filmtext eingeschrieben und für den Zuschauer als Produkteur des Filmbildes sichtbar (wenn auch nur als schwarzes Bild). Im Anschluss an Lacan nennen Joan Copjec und Todd McGowan eine solche Situation, in der dem Betrachter seine Anwesenheit im Sehfeld plötzlich bewusst wird, die „Begegnung 39 Klassische Beispiele für den Point-of-View Shot sind Der Florentiner Hut , 1939, von Wolfgang Liebeneier und Lady in the Lake , 1947, von Robert Montgomery. 180 Adina Sorian mit dem Blick“, den sie im Bereich des Realen verorten. In Auseinandersetzung mit Lacans Sitzung „Vom Blick als Objekt klein a“ in Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse , sind Copjec und McGowan in der Lage zu zeigen, dass der Lacansche Blick eben nicht mit dem Schauen des Auges korrespondiert, das sich auf der Seite des Subjekts ‚vor‘ der Leinwand befindet, sondern mit einen Punkt im Sehfeld ‚auf ‘ der Leinwand, auf der Seite des Objekts, an dem das Schauen selbstreflexiv wird. 40 Lacan beschrieb diese Reflexivität des Schauens, die sich im Feld des Sichtbaren manifestiert, mit Verweis auf Merleau-Ponty als das Gefühl, vom gesehenen Objekt beobachtet zu werden. Der Betrachter eines Bildes etwa werde von diesem immer angeschaut, „photo-graphiert“, wie Lacan bemerkte. 41 Für McGowan ist dieses Objekt, das uns auf unheimliche Weise anzusehen scheint, nichts anderes als die Begegnung mit uns selbst, insofern wir immer schon in das Sehfeld, das wir betrachten, eingetreten sind. Der Lacansche Blick ist für ihn unsere unhintergehbare Involviertheit in dem dem, was wir betrachten, die plötzlich auf uns selbst zurückreflektiert, der Moment, in dem wir unsere eigene Tätigkeit im Akt des Betrachtens erkennen. Der Lacansche Blick ist somit auch der Moment einer Begegnung mit dem Realen als der transzendentalen Bedingung des Gesehenen, die jedoch nur negativ, als Leerstelle erfahren werden kann. McGowan führt zur Beschreibung dieses Phänomens treffend den Begriff der ‚Real Gaze‘, oder auch ‚impossible Gaze’, ein, „which allows spectators to look at themselves […] from the perspective of a void“. 42 Es ist diese Begegnung mit dem Realen, in der der Zuschauer sich selbst als der ‚blinde Fleck‘ im Filmbild begegnet, an dem das Filmbild sich konstituiert, die in Enter the Void durch die schwarzen Einzelbilder manifest wird. Ein ähnlicher Effekt der Selbstreflexivität der Möglichkeitsbedingungen des Filmbilds wird ferner durch den rasanten Vorspann des Films erzeugt. In unzähligen Schrifttypen und harten Elektrobeats über die Leinwand gejagt, haben die expressionistischen opening credits nicht nur einen reichlich verstörenden Effekt auf den Zuschauer, sondern sie lassen auch die physiologischen und psychologischen Grundlagen der visuellen Ebene des Films ins Bewusstsein dieses Zuschauers treten: Der Film, jeder Film, ist visuell betrachtet eine Aneinanderreihung von Bildern; dass diese als zusammenhängender Film wahrgenommen werden können, verdankt sich einerseits der sogenannten „Nachbildwirkung“, der Tatsache, dass das menschliche Auge ein verzögertes zeitliches Auflösungsvermögen hat und nicht in der Lage ist, Lichtimpulse, die auf die Netzhaut treffen, sofort wieder zu löschen - wenn ein Lichtreiz auf die Netzhaut trifft, wirkt er noch für kurze Zeit nach seinem Abklingen nach, so dass wenn Einzelbilder schnell genug nacheinander gezeigt werden, diese Bilder im Gehirn zu einer durchgehenden Bewegung verschmelzen -, zum anderen auf dem sogenannten „Stroboskopeffekt“, dem Umstand, dass diese Bilder, um nicht vollständig ineinander zu verschmelzen und den Eindruck von nur einem Bild zu erzeugen, nochmals durch kurze Dunkelphasen getrennt werden müssen, die den Eindruck einer fortlaufenden Bewegung erzeugen. Diese Prinzipien der Nachbildwirkung einerseits und des Stroboskop- 40 Copjec und McGowan grenzen sich damit entschieden von der bisher existierenden Lacan-Rezeption ab, wonach der Blick mit der Betrachterposition bzw. mit dem schauenden Auge in eins gesetzt werden könne. Diese herkömmliche Lacan- Rezeption, die von Theoretikern wie Christian Metz und Laura Mulvey vertreten wurde, basierte sich auf Lacans frühen Aufsatz zum Spiegelstadium, in dem Lacan auf die ‚imaginäre‘ Beziehung durch die das Subjekt sich zur Welt verhält verwies und den Blick zunächst in der Tat nur auf der Seite des Subjekts verortete. Vgl. Lacan, „Das Spiegelstadium“, S. 61-70. 41 Lacan, Das Seminar Buch XI , S. 112. 42 McGowan, Real Gaze , S. 20. Lacansche Theorie in der aktuellen literatur- und filmwissenschaftlichen Praxis 181 effekts andererseits werden in den Anfangscredits von Enter the Void in betonter Weise selbstreflexiv. Mit ihrer schnellen Abfolge von Einzelbildern, wobei die Dunkelphasen noch als Flimmern empfunden werden, verweisen die credits auf die visuellen Prinzipien, die zusammengenommen die Grundlage für Film und Fernsehen bilden. Enter the Void beschäftigt sich somit sowohl durch den speziellen Point-of-View-Shot als auch durch Darstellungsstil der credits mit der ‚Realen‘ Dimension der filmischen Wirklichkeit - den physiologischen und kognitiven Grundlagen des zusammenhängenden Sehens, die dem Sehen in der Regel nicht zugänglich sind, den Filmeffekt und die gesamte auf diesem basierende fiktionale Welt des Films aber konstituieren. Mit diesem kurzen Blick auf drei Beispiele aus der Literatur und dem Kino des 21. Jahrhunderts, die sich in einer umfassenderen Untersuchung definitiv zu einer ganzen Reihe komplettieren ließen, ist zumindest angedeutet, dass sich die Beschäftigung mit den Bedingungen der Wirklichkeitserfahrung, die Lacan das Reale nannte und die die Gegenwartsliteratur und das Gegenwartskino nach einer Phase der narzisstischen Selbstbespiegelung, so könnte man mit Lacan sagen, in jüngerer Zeit wieder unternommen hat, nicht nur zur Beschwörung einer ominösen negativen Größe führt, sondern vielmehr zur Ausbildung interessanter neuer literarischer und filmischer Strategien. Die Zurschaustellung der physiologisch-kognitiven Prinzipien des Sehens in Enter the Void , die vielseitigen Semantisierungen eines nie zu tilgenden Bedeutungsüberbleibsels in McCarthys Roman, die Figur des neunten Traums in Mitchell’s number 9 dream , als jenem Ort, an dem die Wirklichkeitsdeutungen des Protagonisten immer wieder an einen Nullpunkt gelangen, von dem aus sie sich aber auch stets wieder neu entfachen, in all diesen Formen beschäftigen sich die vorgestellten Werke nicht nur mit ihren medialen Voraussetzungen (obwohl sie dies sicherlich auch tun, wie insbesondere das Beispiel von Enter the Void zeigt), sondern auch mit den letztlich unsymbolisierbaren Möglichkeitsbedingungen der Wirklichkeit außerhalb ihrer selbst. So vielseitig die Werke in ihren methodischen und inhaltlichen Orientierungen und natürlich in ihrer medialen Verfasstheit im Einzelnen auch sind, ist das gemeinsame Interesse dieser Werke nicht von der Hand zu weisen, die, mit Schelling gewendet, ‚ewig im Grunde bleibenden‘ Koordinaten zu ergründen, innerhalb derer Wirklichkeit (sei es die des Werkes, sei es die dahinterliegende, auf die die Werke verweisen) entstehen kann, den blinden Fleck zu ertasten, der die Wahrnehmung von empirischen und fiktionalen Realitäten bedingt und ihrer Selbsterfassung gleichzeitig widersteht. Auch wenn diese Dimension per definitionem nur an den Rändern oder Symptomen, die es im jeweiligen Werk produziert, erfahrbar ist, so deutet der Fokus, den diese Werke auf Fragen nach den epistemologischen Bedingungen der Wirklichkeit richten, auf einen deutlichen Perspektivenwechsel in der zeitgenössischen Kunst weg von der selbstbezüglichen Textzentriertheit der poststrukturalistisch geprägten Postmoderne hin zu einem neuen Realitätsbezug, und es ist Lacans Theorie des Realen, die sich als enorm geeignet erweist, eine solide theoretische Basis für die Interpretation der vielgestaltigen künstlerischen Antworten, die diese Tendenz im Bereich der Literatur und des Films hervorgebracht hat, zur Verfügung zu stellen. 182 Adina Sorian Literaturverzeichnis Primärliteratur Agamben, Giorgio: Homo sacer . Die souveräne Macht und das nackte Leben . Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt / Main 2002. Butler, Judith: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of Sex . London, New York 1993. -: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence . London, New York 2004. Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History . Baltimore, London 1996. Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. Übers. v. Rodolphe Gasché. Frankfurt / Main 1976. -: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls . Übers. v. Hans-Dieter Gondek . Frankfurt / Main 2003. -: Grammatologie . Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt / Main 1974. -: „Philosophie und Literatur. Ein Gespräch mit Jacques Derrida“. Rückkehr aus Moskau . Übers. v. Monika Noll und Dirk Uffelmann. Hg. Peter Engelmann. Wien 2005. 87-137. -: Wie nicht sprechen. Verneinungen . Übers. v. Hans-Dieter Gondek. Hg. Peter Engelmann. Wien 1989. Descartes, René: Meditationen . Übers. und hg. v. Christian Wohlers. Hamburg 2009. Ferraris, Maurizio: Manifest des Neuen Realismus . Übers. v. Malte Osterloh. 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Religion und Fiktion 185 Religion und Fiktion Bernd Oberdorfer Religion und Fiktion - das klingt wie die Überschrift zu einem religionskritischen Traktat, der Religion als „Fiktion“, als Einbildung, als Verehrung von etwas (nur) Eingebildetem und daher Nichtexistentem entlarvt. Drastisch hat diese Haltung einmal der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf in seinem Blog „Arbeit und Struktur“ zum Ausdruck gebracht, genervt von den Sicherheitsvorkehrungen anlässlich des Besuchs von Papst Benedikt XVI . in Berlin 2011: „Dass eine Gesellschaft es sich leisten kann, eine Millionenstadt einen Tag lang lahmlegen zu lassen durch den Besuch eines Mannes, der eine dem Glauben an den Osterhasen vergleichbare Ideenkonstruktion als für erwachsene Menschen angemessene Weltanschauung betrachtet, [ist] erstaunlich.“ 1 Dass der Begriff „Fiktion“ hier nicht fällt, ist bei einem Schriftsteller - dem wir großartige fiktionale (oder gar fiktive? ) Texte verdanken - vielleicht wenig verwunderlich. Aber ansonsten ist das klassische religionskritische Instrumentarium vorhanden: Religion erscheint als (bloße) „Ideenkonstruktion“, deren Realitätsgehalt mit dem der Vorstellung von einem allgemein als nichtexistent beurteilten Wesen wie dem Osterhasen „vergleichbar“ ist und die daher einem „erwachsene(n) Menschen“ nicht als „Weltanschauung“ zugemutet werden kann. Wer nicht mehr an den Osterhasen „glauben“ kann, muss konsequenterweise auch Gott verabschieden. Und wer an Gott festhält, kann gleich an den Osterhasen glauben; „erwachsen“ ist er jedenfalls nicht. Interessant ist, dass Herrndorf von „Weltanschauung“ spricht. Er greift damit einen Begriff auf, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts populär wurde zur Bezeichnung umfassender, wertbesetzter Überzeugungen vom Sinn des Lebens und der Bedeutung des Seins überhaupt. 2 Herrndorf leugnet also nicht, dass es derartige basale Lebensdeutungen geben kann (und er ordnet die Religion zu Recht auf dieser Ebene ein). Er bestreitet nur, dass Religion diese Aufgabe in einer „für erwachsene Menschen angemessenen“ Weise erfüllen kann, weil sie sich eben auf unhaltbare, unbeweisbare Wirklichkeitsannahmen stützt. Wenn Gott und Osterhase keinen Unterschied ausmachen, dann ist eine „Religion für Erwachsene“ (um ein schönes Wort Emmanuel Levinas’ aufzugreifen) unmöglich. Seine eigene Weltanschauung spitzt Herrndorf übrigens noch einmal zu: „Ich bin überhaupt kein Atheist. Ich glaube (…) nicht allein nicht an die Existenz eines Gottes in, über oder jenseits dieser Welt, ich glaube oft nicht einmal an diese Welt.“ 3 In bestimmter Hinsicht sind dann alle Existenzbehauptungen Fiktion. Herrndorf nähert sich hier einem Radikalkonstruktivismus Nietzschescher Provenienz. Nicht nur das Jenseits, auch das Diesseits ist „Ideenkonstruktion“. 1 Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur , Berlin 2013, S. 250 (Eintrag vom 22. 9. 2011). Herrndorf fügt übrigens hinzu: „Und herzlichen Dank. In hundert Jahren kennt dich kein Mensch mehr, römischer Irrer. Mich schon.“ 2 Vgl. knapp Herms, Eilert: Art. „Weltanschauung I. Begriffsgeschichtlich“, in: RGG 4 , Bd. 8, 2005, Sp. 1401-1403. 3 Herrndorf, Arbeit und Struktur , S. 312 (Eintrag vom 18. 3. 2012). 186 Bernd Oberdorfer Herrndorfs Zorn gegen die Religion richtet sich dann also nicht gegen ihren Fiktionscharakter als solchen, sondern dagegen, dass sie ihre Fiktionen mit Existenzversicherungen und Wahrheitsannahmen verbindet. Dass sie, mit anderen Worten, ihren Fiktionscharakter verschleiert. Das teilt sie dann freilich - wie man eben bei Nietzsche nachlesen kann - auch mit der Wissenschaft. 4 Sieht man jedoch von dieser Radikalposition ab, impliziert eine Religionskritik, die Religion als Fiktion identifiziert, üblicherweise eine negative Beurteilung von Fiktion als etwas „Eingebildetem“, dem kein oder allenfalls ein abgeleiteter ‚Seins-Wert‘ zukommt. Dieses Urteil muss man nicht teilen. Aber noch in der religionskritischen Negation ist etwas Richtiges gesehen: Religion hat es nicht, genauer: nicht nur mit dem Aufweisbaren, bzw. noch genauer: nicht nur mit dem Aufweisbaren als Aufweisbaren zu tun. Sondern sie weist über das Aufweisbare hinaus. Sie verweist auf etwas in irgendeinem Sinn Transzendentes. Damit aber generiert Religion ein grundlegendes Sprachproblem: Wie redet man über das Nicht-Aufweisbare? Das Nicht-Präsentierbare, Unverfügbare, das Abwesende und nur im Modus der Abwesenheit Anwesende, auch das unverfügbar Zukünftige? Wie spricht man über etwas, wenn man sich dabei nicht auf die Wiedergabe von „Tatsachen“ beschränken kann? Dieses Sprachproblem macht Religion in hohem Maße sprachproduktiv . Erschwerend hinzu kommt ein zweites Problem: Zwar verdankt sich für den Gläubigen die Glaubenserkenntnis der Selbsterschließung der als göttlich verehrten Instanz. Aber eben diese Selbsterschließung muss verständlich sein. Sie muss als Selbsterschließung („Offenbarung“) Gottes so kommuniziert werden, dass die Unverfügbarkeit (und kategoriale ‚Andersheit‘) dieses Gottes zur Geltung kommt, zugleich aber deutlich wird, wie diese Offenbarung die irdisch-menschliche Wirklichkeit berührt, zu deren Deutung beiträgt, deren Verständnis verändert. Religiöse Sprache ist in dieser Hinsicht im hohen Maße wirklichkeitsdeutend , ja sogar wirklichkeitskonstituierend . Sie vergegenwärtigt eine Wirklichkeit, deutet und transformiert die gegebene Wirklichkeit damit zugleich, konstituiert sie neu. Schon aufgrund dieser wenigen Andeutungen ist die Nähe der Religion bzw. der religiösen Sprache zur „schönen“ Literatur mit Händen zu greifen. Auch in der Literatur ist das Verhältnis des Textes zu der in ihm bezeichneten - beschriebenen? gestalteten? erzeugten? - Wirklichkeit problematisch. Literarische Texte sind Produkt der Erfindung, sie sind fiktional, oft sogar im engeren Sinn fiktiv. Aber das bedeutet nicht, dass sie völlig willkürlich wären und überhaupt abgekoppelt wären von der - nennen wir es der Einfachheit halber: vorfindlichen Wirklichkeit. Welchen Wirklichkeitsstatus etwa haben Romanfiguren? Sie sind erfunden; Hans Castorp oder Gesine Cresspahl hat es nie gegeben. Und doch haben ihre Erfinder sich akribisch bemüht, ihnen so etwas wie Existenzwahrscheinlichkeit zu verleihen, d. h. im Wortsinn: den Schein wirklicher Existenz: es könnte sie gegeben haben. Uwe Johnson z. B. hat immer behauptet, ihm sei Gesine Cresspahl, die Protagonistin seines erstveröffentlichten Romans Mutmaßungen über Jakob , eines Tages in New York „auf der Südseite der 42. Strasse“ (wieder)begegnet 5 und er habe daraus den 4 Nietzsche deutete den Wahrheitsindex als Mittel zur Durchsetzung von Machtansprüchen: Was als „wahr“ kommuniziert wird, kann schwerer abgewiesen werden. Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)“. Kritische Studienausgabe . Bd. 1. München 2 1988. 873-890. 5 Vgl. Johnson, Uwe: Begleitumstände . Frankfurter Vorlesungen , Frankfurt a. M. 1980, S. 406: „Am Dienstag der folgenden Woche [sc. im April 1967] sah ich Mrs. Cresspahl auf der Südseite der 42. Strasse auf die Sechste Avenue zugehen.“ Religion und Fiktion 187 (von ihr widerwillig akzeptierten) Auftrag abgeleitet, ihr Leben zu beschreiben. Und er hat mit ingrimmiger Lust darauf hingewiesen, dass ihm dadurch die Gestaltungsfreiheit entzogen sei: Er könne der Biographie ja nicht einfach etwas hinzufügen oder sie nachträglich ändern. 6 Die erfundene Gestalt gewinnt so gleichsam ein Eigenleben ihrem Erfinder gegenüber. 7 Aber warum macht man das: eine Person erfinden? Wenn man den Sinn von Literatur nicht auf bloße Unterhaltung und Zeitvertreib reduzieren will (und selbst dann müsste man fragen, warum so viele sich davon unterhalten lassen und das Gefühl haben, sich die Zeit einigermaßen sinnvoll vertrieben zu haben), dann muss man fragen nach Sinn und Funktion der Erzeugung literarischer Fiktion, paradox zugespitzt: nach der „Wahrheit der Dichtung“. Der naturwissenschaftlich gebildete Schriftsteller Robert Musil ist dieser Frage vor hundert Jahren einmal in einer „Skizze der Erkenntnis des Dichters“ 8 nachgegangen. Biographisch gelesen, gibt Musil in diesem Essay sich selbst Rechenschaft darüber ab, warum ein mit allen Wassern transparenter Methodik gewaschener Naturwissenschaftler wie er sich einer notorisch der Willkür, Phantasterei und Nutzlosigkeit verdächtigen Tätigkeit wie dem Romanschreiben zugewendet hatte. In Musils Worten: In dem Maße wie das […] Ansehen der Professoren im Gemeinschaftsleben gestiegen ist, ist das der Dichter gesunken; heute wo der Professorenverstand die höchste praktische Geltung seit Bestehen der Welt erreicht hat, ist der Dichter bei dem gebräuchlichen Namen Literat angelangt, worunter einer verstanden wird, den unerforschte Gebrechen hindern, ein brauchbarer Journalist zu werden. 9 Musil gibt freilich den Anspruch auf Genauigkeit nicht auf. Er behauptet nur, dass es Bereiche der Wirklichkeit gibt, die mit den Mitteln der Naturwissenschaften nicht angemessen erfasst werden können. Er unterscheidet „ratioïde“ von „nicht-ratioïden“ Bereichen und verwendet zur Illustration das Bild eines Rasters, wo zwischen den klaren Linien des Ratioïden sich das unbeschriebene, unübersichtliche Feld des Nicht-Ratioïden ausbreitet, zu dem Musil im weitesten Sinn das Kontingente, Zufällige, Geschichtliche, die Welt der Gefühle etc. rechnet. Musils Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften ist der von vornherein groß angelegte (und im Verlauf ins Riesenhafte gesteigerte) Versuch, den Roman als die angemessene Form zur ‚Vermessung‘ des Nicht-Vermessbaren, zur Erforschung, Darstellung und Gestaltung des dynamischen, komplexen und vieldeutigen Lebens der Seele und der menschlichen Gesellschaft zu erweisen. Der Roman soll also durchaus Erkenntnis vermitteln (und verabschiedet mithin den Anspruch auf Wahrheit keineswegs), Erkenntnis aber in einem Bereich, für den die Methoden der ‚harten‘ Wissenschaft nicht angemessen sind. Der Roman, mit anderen Worten, ist die adäquate Sprachform für die fluiden Sphären der Seele und des Sozialen. Dass Musil den Roman mit einem den Naturwissenschaften vergleichbaren Wahrheitsanspruch verfasst, geht im Übrigen auch daraus hervor, dass er die 6 Vgl. ebd., S. 450 f. den ironischen Seitenhieb auf einen „interessierten Kollegen, der noch anmerkte, er habe seine Personen in einer indirekten, nichtsdestotrotz einer wirksamen Kontrolle und sei durchaus imstande, etwas ihnen Gegebenes ihnen auch wieder wegzunehmen“, mit dem trockenen Kommentar: „Ja dann.“ 7 Vgl. ebd., S. 443: „Damit steht Gesine Cresspahl dem Verfasser unabhängig gegenüber“. 8 Musil, Robert: „Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918)“. Gesammelte Werke in neun Bänden . Bd. 8: Essays und Reden. Hg. Adolf Frisé. Reinbek 1978. 1025-1030. 9 Ebd., S. 1025 f. 188 Bernd Oberdorfer Handlung gleichsam als eine Versuchsanordnung konzipiert: Der Protagonist Ulrich nimmt ein Jahr „Urlaub vom Leben“, um in betrachtend-unbeteiligter Distanz zu seiner bisherigen Existenz Klarheit über sich selbst zu gewinnen. Dass das Projekt einer ‚Vermessung des Nicht-Vermessbaren‘ Bezüge und Strukturparallelen zum Religiösen besitzt, war Musil wohlbewusst. Ulrich und seine wiederentdeckte Zwillingsschwester Agathe suchen gemeinsame Erfahrungen des seelischen Aus-sich- Hinausgehens und Miteinander-Einswerdens, die man als immanente Transzendenz-Erfahrungen bestimmen kann, und Musil selbst greift dafür auf Sprachformen der mittelalterlichen Mystik, namentlich bei Meister Eckhart, zurück, spricht freilich programmatisch von „tagheller Mystik“, um zu verdeutlichen, dass es hier nicht um eine Verabschiedung des Rationalen zugunsten einer irrationalen Ekstase geht, sondern um so etwas wie die rationale Kartierung eines bisher von der modernen wissenschaftlichen Vernunft als irrational ausgegrenzten Gebiets. 10 Dass Musil gerade in diesem Teil des Romans stecken blieb, das entsprechende Kapitel „Atemzüge eines Sommertags“ 11 mehrmals überarbeitete und nie ganz fertigstellte, spricht im Übrigen weniger gegen ihn als für sein Problembewusstsein, arbeitete er sich doch an jener tendenziell aporetischen Paradoxie der rationalen Erfassung des rational nicht Erfassbaren ab, die auch charakteristisch ist für die religiöse Sprache. Wäre ich Literaturwissenschaftler, so würde (und müsste) ich jetzt noch vertiefende Überlegungen darüber anstellen, warum denn Musil die Form des Fiktionalen oder Fiktiven für das Projekt der Vermessung des Nicht-Vermessbaren wählt. Möglicherweise ist dafür der gerade verwendete, bekanntlich aus der Naturwissenschaft stammende Begriff der „Versuchsanordnung“ hilfreich, der ja besagt, dass für ein Experiment möglichst viele Umweltfaktoren herausgefiltert werden, die die klare Zuordnung von Kausalitäten be- oder verhindern könnten, wobei freilich so viele Faktoren und eine so hohe Komplexität erhalten bleiben müssen, dass das Experiment realitätskompatibel ist. Aber diese Spur müssen andere, Kundigere, weiterverfolgen. Ich selbst kehre nach diesem ‚Warm-up‘ als Theologe auf vertrauteres Gelände zurück und frage im Folgenden unter drei unterschiedlichen Gesichtspunkten nach dem Zusammenhang von Religion und („schöner“, fiktionaler) Literatur. 12 Zuerst will ich unter dem Titel „Religion als Literatur“ den Blick auf den literarischen Charakter elementarer religiöser Texte lenken und nochmals fragen, was dies für die spezifisch religiöse Erkenntnis bedeutet. Zweitens möchte ich dem Zusammenhang von Text und Textauslegung nachgehen und will dabei zum einen zeigen, wie der spezifisch literarische Charakter heiliger Texte zur Entwicklung einer Hermeneutik als Auslegungslehre nötigt („Text und Deutung“), und zum anderen will ich die produktive Spannung erläutern, die zumindest in der christlichen Tradition zwischen der Herausbildung von Theologie als methodisch kontrollierter Wahrheitsreflexion und dem bleibenden literarischen Eigenleben der normativen Ursprungstexte besteht („Text und Begriff“). Drittens schließlich will ich unter der Überschrift „Religion 10 In dieser Hinsicht eine ‚Parallelaktion‘ zu Freuds Psychoanalyse, von der sich Musil freilich (gerade deswegen? ! ) dezidiert und mit sarkastischer Polemik abgrenzt. 11 Musil, Robert: „Der Mann ohne Eigenschaften“. Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 4: Der Mann ohne Eigenschaften; Aus dem Nachlaß . Hg. Adolf Frisé. Reinbek 1978. 1045-1493, hier S. 1232-1239, S. 1240-1249, S. 1306-1337. 12 Dass ich dabei nicht als Religionswissenschaftler, als christlicher, näherhin lutherischer Theologe agiere und von Religion also in einer positionell bestimmten Perspektivierung spreche, sei ausdrücklich erwähnt. Religion und Fiktion 189 und Literatur“ untersuchen, wie Religion - genauer: wie die narrative Tradition normativer religiöser Texte ihrerseits „schöne“ (nicht notwendig selbst religiöse! ) Literatur anregt. 1. Religion als Literatur Die Überschrift ist nicht ganz präzise. Denn natürlich „ist“ die Religion auch in den sog. „Buchreligionen“ nicht selbst Literatur. Gemeint ist vielmehr, dass Religion im Christentum, aber auch im Judentum und im Islam sich vermittels literarisch geformter Texte kommuniziert, gestaltet, normativ orientiert. Der Inhalt der Religion vermittelt sich über bestimmte, als „heilig“ gekennzeichnete Texte. Die Form der Vermittlung ist dabei dem Inhalt nicht äußerlich. Mit anderen Worten: Wenn Gott sich durch das Medium literarischer Texte erschließt und kenntlich macht, dann sagt dieses Medium etwas aus über Gott selbst. Nun habe ich gerade die „heiligen“ Texte etwas leichtsinnig, jedenfalls voreilig als „literarisch geformt“ bezeichnet. Dies klingt nach „literarisch stilisiert“ und erweckt den Eindruck einer menschlich-kulturellen Eigenproduktivität, mithin einer Eigenmächtigkeit, die das göttliche Selbstzeugnis, statt es einfach geschehen zu lassen, dem menschlichen Gestaltungswillen unterwirft. Ein Moslem könnte geltend machen, dass die im Koran gesammelten Offenbarungsworte das wortwörtlich wiedergeben, was der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed mündlich mitgeteilt hat. Wenn man überhaupt von einer literarischen Formung sprechen will, dann müsste man sie in diesem Modell auf Gott selbst als Autor zurückführen. 13 Von Fiktion könnte und dürfte man dann freilich nicht sprechen: Die Texte sind weder fiktional noch fiktiv, sondern sind ungefilterter, unverfälschter Originalton Gottes. Der Islam konstatiert für alle heiligen Texte eine einheitliche Entstehungskonstellation: Der Erzengel spricht zu Mohammed, der sich jedes Wort merkt und später einem Schreiber wortgenau diktiert. Das ist im Christentum anders. Die christliche Bibel (und das gilt natürlich auch für die in sie integrierten - im Christentum Altes Testament genannten - heiligen Schriften des Judentums) ist eine Sammlung von Texten höchst unterschiedlicher Herkunft und Entstehungszeit und höchst vielfältiger literarischer Genres. Diese Texte erwecken nicht einmal selbst den Eindruck, auf einheitliche Weise entstanden zu sein. Gewiss gibt es ganze Textkorpora, für deren Entstehung die ‚klassische‘ Konstellation der Offenbarungsweitergabe angegeben ist: besonders eindrücklich die Sinai-Offenbarung, wo Gott dem Mose auf dem Berg Sinai die Gebote diktiert, die dieser dann auf den steinernen Tafeln festhält, aber auch die großen Schriftpropheten wie Jesaja oder Jeremia, von denen eine Berufung in die Offenbarungsmittlerschaft berichtet wird, die ihre überlieferten Worte als Gottesworte qualifiziert. 14 Jedoch enthält die Bibel auch Geschichtsdarstellungen, Ge- 13 Die Sammlung und Anordnung der Offenbarungen wird allerdings auch im Islam auf menschliche Tätigkeit - nach dem Tod Mohammeds - zurückgeführt. Ein theologisches Problem ist dies wohl deshalb nicht, weil am Textbestand ja nichts geändert wird und weil die Anordnung nicht inhaltlichen, sondern rein formalen Gesichtspunkten (Länge der Suren) folgt. 14 Allerdings spiegeln die Propheten-Bücher in ihrer biblischen „Endgestalt“ eine Fülle von Fortschreibungen, Adaptationen, eingearbeiteten Kommentaren etc. wider, die dazu nötigen, das Bild von Prophetie als Weitergabe der Worte einsamer Weiser zu überdenken. In gewisser Weise gehört dann nämlich die aneignende und weiterbildende Rezeption der Prophetenworte zur prophetischen Botschaft selbst. Dies hat Konsequenzen für das Verständnis von Offenbarung überhaupt. Vgl. dazu Maier, Christl M.: „Jeremia am Ende. Prophetie als Schriftgelehrsamkeit“. Evangelische Theologie 77 (2017): 44-56. 190 Bernd Oberdorfer setzeskodizes, Gebetssammlungen, zusammengestellte Lebensweisheiten, Beispielerzählungen, Briefe und vieles mehr. Auch im Christentum wurde für diese Texte göttliche Autorität beansprucht. Aber dafür mussten je nach Genre unterschiedliche Begründungs- und Autorisierungsformen entwickelt werden. Für die neutestamentlichen Schriften wurde etwa die Annahme apostolischer Verfasserschaft entscheidend: Authentizität und religiöse Verbindlichkeit wurde nur Texten zugesprochen, für die als Autor ein Apostel oder wenigstens Apostelschüler geltend gemacht werden konnte. Damit konnten dann etwa auch die Briefe des Paulus Offenbarungsrang gewinnen, obwohl sie erkennbar von einem Menschen in einer bestimmten Situation an andere Menschen gerichtet waren und also keineswegs selbst den Anspruch unmittelbarer Gottesoffenbarung erhoben. Dass die Bibel Texte explizit literarischen Charakters enthält, konnte auch in der Vormoderne problemlos eingeräumt werden, sofern es Texte waren, die sich selbst als fiktional ausflaggten: Parabeln etwa, Gleichnisse, Beispielerzählungen etc., deren pragmatische Funktion häufig durch die Erzähler selbst (Propheten, Jesus) explizit thematisiert wurde; gelegentlich wurde sogar die Auslegung mitgeliefert. Ansonsten war aber klar, dass an der Faktizität des in der Bibel Dargestellten kein Zweifel möglich war. Mose war der Autor der in der Lutherbibel nach ihm benannten fünf Bücher Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium 15 . Und diese Bücher berichteten über die Geschichte der Welt und mitten darin über die Frühgeschichte des Trägervolkes dieser Texte selbst, des Volks Israel. Entsprechendes galt auch für die Evangelien im Neuen Testament. Noch Schleiermacher - obwohl schon tief eingetaucht in die Fragestellungen der historischen Kritik - lehnte es ab, an den Angaben der Evangelien über die Auferstehung Jesu Zweifel zu hegen, da es ein schlechtes Licht auf Jesu Menschenkenntnis würfe, wenn er Apostel ausgewählt hätte, deren Zeugenaussagen nicht vertrauenswürdig sind. Da er aber im Horizont des modernen, naturwissenschaftlich geprägten Weltbilds eine Totenauferweckung für unmöglich hielt, nahm er lieber an, der nur scheintot vom Kreuz abgenommene Jesus sei „am dritten Tage“ aus dem Koma erwacht, als den Aposteln eine zutreffende Tatsachenaussage abzusprechen. 16 Bei Schleiermacher geht es freilich um die historische Zuverlässigkeit der Jesusdarstellungen der Evangelisten, nicht um ein Festhalten an der unmittelbaren Offenbarungsqualität der biblischen Schriften. Diese unmittelbare Offenbarungsqualität war in der Aufklärung im Zuge der Entdeckung der geschichtlichen Genese sowohl der einzelnen biblischen Schriften als auch ihrer Zusammenstellung zum biblischen „Kanon“ zweifelhaft geworden. Man begann, die biblischen Texte als historische Quellen zu behandeln und nach allen Regeln der methodischen Kunst auf ihren historischen Gehalt zu befragen. Bahnbrechende Ergebnisse dieser mittlerweile 250-jährigen Erforschungsgeschichte sind allgemein bekannt; ich nenne nur wenige Beispiele: Die militärische Inbesitznahme des „gelobten Landes“, wie sie das Buch Josua berichtet, hat es so nie gegeben; Jericho war schon lange zerstört, ehe die Israeliten seine Mauern mit ihren Posaunen hätten zum Einsturz bringen können; Sintflut, Turmbau zu Babel etc. sind keine datierbaren historischen Ereignisse; die Kapitel 40 ff. des Jesajabuches können nicht von Jesaja stammen, da sie nicht die Situation im Jerusalem des 15 Dass darin auch sein Tod berichtet wird, war dann freilich ein Anstoß für ‚historisch-kritische‘ Zweifel. 16 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube (1830), § 99 (bes. 99,2), Berlin 7 1960, Bd. 2, S. 82-89, bes. S. 84 f. Religion und Fiktion 191 8. Jahrhunderts v. Chr., sondern die Lage im babylonischen Exil des 6. Jahrhunderts widerspiegeln; manche Paulus-Briefe stammen nicht von Paulus selbst etc. Hinzu kommt, wie schon angedeutet, dass in der Bibel Ereignisse berichtet werden, die nach Maßgabe der an durchgängiger Gesetzmäßigkeit orientierten Naturwissenschaften nicht geschehen bzw. so nicht geschehen sein können. Nicht zufällig konzentrierte sich im 18. Jahrhundert die diesbezügliche Diskussion auf die Wunder . Dabei wurde nicht nur deren Faktizität in Zweifel gezogen, sondern auch ihre theologische Legitimität: Wieso sollte es für Gott sprechen, wenn er die von ihm selbst geschaffene Naturordnung kompromittierte, indem er regelwidrig in sie eingriff? Für den Umgang mit diesem Problem etablierten sich unterschiedliche Strategien. Eine davon war, das in den biblischen Erzählungen wunderhaft Dargestellte naturwissenschaftlich plausibler zu rekonstruieren. So wurde etwa die Erzählung von Jesu Stillung des Sturmes mit den meteorologischen Verhältnissen auf dem See Genezareth erklärt, wo es häufig zu plötzlichem Abflauen des Windes komme. Im Grunde folgt auch Schleiermachers Rekonstruktion von Jesu Auferstehung diesem Schema. Dieses Vorgehen nimmt den erzählten Vorgängen zwar ihre Anstößigkeit, hat aber einen hohen Preis: Es raubt ihnen auch ihre theologische Pointe. Die Erzählung von der Sturmstillung etwa sollte Jesus nicht als Wetterbeschwörer feiern, sondern die theologische Aussage stützen, dass Jesus den „Schöpfer des Himmels und der Erde“ auf der Erde repräsentiert. Und die theologische Botschaft der Auferstehungserzählungen besteht darin, dass Gottes Schöpfermacht auch im Tod keine Grenze findet. Diese Botschaft geht verloren, wenn Jesus am Ostermorgen nur aus einer tiefen Ohnmacht erwacht. Entsprechend spielt die Auferstehung in Schleiermachers Theologie denn auch keine nennenswerte Rolle. Eine andere Strategie geht daher umgekehrt vor: Sie entkoppelt die biblischen Erzählungen von ihrem historischen Gehalt und literarisiert sie. Nicht mehr die in den Texten gebundene Information steht im Zentrum, sondern die Bedeutung . Damit stehen die Texte dem ganzen Instrumentarium literaturwissenschaftlicher Methodik offen. Es kann nach der Autorenintention gefragt werden, nach der pragmatischen Funktion, nach der sinngenerierenden Rezeption durch die Leser oder Hörer etc. Man kann dann etwa fragen, warum die Ansiedlung der Israeliten in Palästina in der Bibel ganz anders erzählt wird, als sie vermutlich historisch geschehen ist. Welche Aussageabsicht wurde damit verbunden? Und wann konnte eine solche Erzählung entstehen? Wer waren die Trägerkreise? usw. Oder man muss es nicht bei moralischer Entrüstung bewenden lassen, wenn man erfährt, dass der 2. Thessalonicherbrief aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Paulus stammt, obwohl er mit der vollmundigen, sozusagen eidesstattlichen Versicherung endet: „Dieser Gruß mit meiner, des Paulus, eigener Hand. Das ist das Zeichen in allen Briefen, so schreibe ich“ (2 Thess 3,17). Sondern man kann fragen, was mit einer solchen „Pseudepigraphie“ bezweckt wurde, wie hier an Paulus angeknüpft, seine Autorität fortgeschrieben wurde. Oder man erkennt, dass der Sinn der berühmten Erzählung vom österlichen Gang der zwei Jünger nach Emmaus (Lk 24) sich nicht darin erschöpft, dass sie Jesus beim gemeinsamen Abendessen erkennen und er dann wundersam verschwindet; ihre eigentliche Pointe besteht vielmehr darin, dass sie späteren Lesern oder Hörern klar macht, dass sie dem auferstandenen Jesus in der Feier des Abendmahls begegnen, obwohl sie ihn nicht sehen. Auch bei der in der Neuzeit besonders strittigen Frage der „Jungfrauengeburt“ gehen die meisten modernen Interpretationen im Grunde genauso vor: Sie ignorieren die biologisch-medizinische Dimension und fragen nach der theologischen Bedeutung der Erzählung. 192 Bernd Oberdorfer Klassisches Beispiel für diese Strategie der Literarisierung sind im Übrigen die Schöpfungstexte am Anfang der Bibel. Man könnte den Wandel geradezu auf die Formel bringen: von den „Schöpfungsberichten“ zu den „Schöpfungserzählungen“. Die exegetische Diskussion der letzten Jahrhunderte hat den weitgehend unangefochtenen wissenschaftlichen Konsens herbeigeführt, dass am Anfang der Bibel nicht von der Weltentstehung berichtet wird; die sog. „Urgeschichte“, die nicht in Genesis 3 endet, sondern in weitem Bogen bis hin zur Erzählung vom Turmbau zu Babel reicht (manche schließen sogar noch die Erwählung Abrams Genesis 12 ein), soll vielmehr ein menschheitsgeschichtliches Panorama aufspannen, in dem die Leser und Hörer sich selbst erkennen können: So seid ihr, und so ist eure Welt. Die in manchen Regionen und manchen christlichen Gruppen starke Bewegung der „Kreationisten“, die sich dieser Literarisierung dezidiert verweigert und in den USA etwa fordert, dass die biblischen Schöpfungsberichte im Biologieunterricht (also nicht etwa im Religionsunterricht! ) als wissenschaftliches Alternativmodell zur Evolutionstheorie vorgestellt werden, zeigt freilich, dass die Literarisierung durchaus auch eine Anfechtung darstellen kann. Überhaupt ist die Frage, wie weit die Literarisierung getrieben werden kann. Der große Neutestamentler Rudolf Bultmann, der mit seinem sog. Entmythologisierungsprogramm 17 die Spannung zwischen der biblischen Botschaft und der modernen Weltsicht überwinden wollte, hielt immerhin daran fest, dass Jesus selbst nicht nur als mythische, literarische Gestalt aufgefasst werden darf, sondern wirklich gelebt haben muss - wie auch immer „mythisch“ dann die Erzählungen über ihn ausgestaltet worden sind. Eine völlige Reduktion der Texte auf ihre Bedeutung lehnte also auch er ab. Es muss, m. a.W., einen Unterschied geben zwischen Jesus und Hans Castorp. Der religiöse Glaube schließt die Überzeugung ein, dass die Person, auf die er sich bezieht, keine bloße literarische Fiktion ist, obwohl es unstrittig ist, dass das Reden von dieser Person fiktionale Züge trägt. 18 Es stellt sich dann allerdings sofort die Frage, was „fiktionale Züge“ meint und in welchem Verhältnis die „Fiktionalisierung“ oder - wie ich vorhin sagte - Literarisierung zur (behelfsmäßig gesagt) „realen Person“ steht. Im Neuen Testament dienen die „fiktionalen Züge“ weitgehend dazu, die besondere Bedeutung Jesu von Nazareth herauszustreichen. Klar ist, dass die Verfasser überzeugt waren, damit die wahre Bedeutung Jesu, die Wahrheit über Jesus aufzuzeigen. Wenn der Evangelist Johannes oder der Apostel Paulus etwa Jesus als den menschgewordenen „Logos“ oder „Sohn Gottes“ bezeichnen, der auf Erden Gottes Willen bezeugt und verwirklicht und nach Erfüllung seiner Mission wieder „erhöht“ wird und zum Vater zurückkehrt, dann verwenden sie zwar ein mythisch-literarisches Schema, wollten damit aber gerade zeigen, wer Jesus wirklich ist. Auf dieses Schema zu verzichten, wäre ihnen als Verfälschung Jesu erschienen. Sie sahen im Übrigen selber, dass die wahre Bedeutung Jesu sich nicht allen erschloss. Die Evangelien berichten ja, dass es sehr unterschiedliche Deutungen der Gestalt und des Auftretens Jesu gab, ja dass die Jünger selbst erst nach der Auferstehung verstanden, wer Jesus wirklich war. Die Fiktionalisierung oder Literarisierung sollte mithin die Tiefenstruktur des Seins und Wirkens Jesu sichtbar 17 Vgl. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung . Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung. Hg. Eberhard Jüngel, München 1985. 18 Diskussionsbedürftig ist indes, inwieweit dies auch für Mose gilt, den viele Exegeten für eine literarische Fiktion halten. Religion und Fiktion 193 machen. Zugespitzt formuliert: Für die einen ist er ein gescheiterter Wanderrabbi - für uns ist er der menschgewordene Sohn Gottes. Man muss allerdings gleich hinzufügen, dass die Spannung zwischen der geschichtlichen Gestalt Jesus von Nazareth und seiner Verehrung als „Sohn Gottes“ erst unter den Bedingungen des modernen historischen Bewusstseins zu einem gravierenden Problem wurde. Erst jetzt kehrten die Verhältnisse sich um, konnte eben die Literarisierung (und nicht mehr: der Verzicht darauf! ) als Verfälschung wahrgenommen werden, hinter die man „historisch-kritisch“ zum „historischen Jesus“ zurückkehren musste, dem allein - wenn überhaupt noch - religiöse Bedeutung zugeschrieben werden konnte. Genau diese ‚Beweislastumkehrung‘ ist freilich strittig geblieben. Das Verhältnis zwischen dem historisch-kritisch rekonstruierten Jesus von Nazareth und seiner in den biblischen Texten dokumentierten Deutung als Jesus Christus ist bis heute zum theologischen Kampfplatz geworden. 19 Dabei werden sehr grundsätzliche Fragen behandelt (bzw. stehen bei den unterschiedlichen Positionen im Hintergrund), z. B.: In welchem Verhältnis stehen Darstellung und dargestellte „Wirklichkeit“? Oder Deutung und „Wahrheit“? Was ist historisch möglich (z. B. im Blick auf die Wunder oder die Auferstehung)? Ist für den Glauben die (biblische) Deutung verbindlich oder ist diese Deutung nur ein (kritisch zu überwindendes) Epiphänomen der eigentlich authentischen geschichtlichen Wirklichkeit? Wenn ich recht sehe, werden zwei Extrempositionen derzeit in der Theologie kaum mehr vertreten: auf der einen Seite die Überzeugung, dass religiös verbindlich nur das sein kann, was die historische Forschung als genuin jesuanisch herausgearbeitet hat, auf der anderen Seite die Behauptung, dass es religiös völlig gleichgültig sei, ob die biblischen Zeugnisse tatsächlich einen Anhalt haben an der historischen Wirklichkeit des Jesus von Nazareth, da der Glaube sich allein auf diese Zeugnisse zu beziehen habe. Zwischen diesen Extremen hat sich ein breites Spektrum von Positionen etabliert, deren Grundkonsens man - bei allen auch gravierenden Differenzen - auf die Formel bringen kann: Keine Wirklichkeit ohne Deutung - keine Deutung ohne Wirklichkeit . Eine andere Dimension des literarischen Charakters religiöser Texte will ich wenigstens noch knapp anreißen: die Herausforderung, adäquat von Gott zu sprechen. Eine Herausforderung ist das schlicht deshalb, weil Gott sich gewissermaßen per definitionem von der endlichen Wirklichkeit unterscheidet, die menschliche Erkenntniswie auch Versprachlichungsfähigkeit sich aber auf Endliches bezieht und sich aus Endlichem speist. Natürlich ist das Paradox, dass der unzugängliche Gott sich selbst zugänglich macht und dabei dennoch unverfügbar bleibt, in der religiösen Tradition immer präsent gewesen, klassisch etwa, wenn Gott sich dem Mose im brennenden Dornbusch mit einem Namen vorstellt, der zugleich eine Namensverweigerung ist: „Ich bin, der ich bin“ oder „Ich werde sein, der ich sein werde“. Schon die Übersetzung ist schwierig, der Sinn scheint jedenfalls zu sein, eine Festlegung zu vermeiden, fast könnte man paraphrasieren: „Du wirst schon sehen, wer ich sein werde“. In der christlichen Theologie wurden schon im frühen Mittelalter Sprachregeln für das begriffliche Reden von Gott entwickelt, man unterschied die „via eminentiae“ (was von Irdischem eingeschränkt gilt, gilt für Gott all-umfassend: er ist z. B. „all-mächtig“), die „via negationis“ (was von Irdischem gilt, gilt für Gott nicht: er ist z. B. „un-endlich“) und die „via causalitatis“ (von allem Irdischen ist Gott die Ursache, der Grund, die Quelle etc.). 19 Vgl. dazu jüngst etwa: Theißen, Henning: „Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie“. Evangelische Theologie 77 (2017): 228-238. 194 Bernd Oberdorfer Neben und in der ‚Arbeit am Gottesbegriff‘ gab es immer auch die Tradition der „negativen Theologie“, die ungeachtet der Notwendigkeit, von Gott zu reden, die unvermeidliche Unangemessenheit dieses Redens festhielt. Dem Reden von Gott korrespondierte eine Frömmigkeit des Schweigens, die freilich auch sprachlich kommuniziert werden musste. 20 In diesem sehr weiten Problemfeld des angemessenen Redens von Gott ist in den vergangenen Jahrzehnten einem Aspekt verstärkte theologische Beachtung geschenkt worden, der für unser Thema einschlägig ist: dem auffälligen Befund nämlich, dass Jesus ausweislich der Evangelien von Gott bzw. vom „Reich Gottes“ bevorzugt in der literarischen Gestalt von Gleichnissen gesprochen hat. Namentlich der Tübinger Theologe Eberhard Jüngel ist intensiv der Frage nachgegangen, was diese literarische Form offenbar besonders geeignet erscheinen lässt für das Reden von Gott und seinem Heilswirken. 21 Gleichnisse veranschaulichen Unanschauliches, halten aber ein Moment der Differenz fest. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg etwa (Mt 20,1-16) illustriert Gottes Handeln mit dem eines Weinbergbesitzers, der nun aber beim Bezahlen der Arbeiter provozierend anders verfährt, als ein irdischer Weinbergbesitzer verfahren würde. Oder das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) erzählt so etwas wie eine Geschichte vom Bauernhof, die den Hörern und Lesern durchaus vertraut gewesen sein wird und an die sie daher mit ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen konnten; das Verhalten des Vaters bricht aber mit dem alltagsweltlich Erwartbaren, indem er den wiederkehrenden Sohn mit offenen Armen empfängt. Jüngel betont auch, dass die Identifikation Gottes über Gleichnisse dem göttlichen Sein selbst etwas Narrativ-Dynamisches gibt: „Gottes Sein ist im Werden“ (um einen Buchtitel Jüngels 22 zu zitieren, der bewusst die klassische metaphysische Unterscheidung von Sein und Werden nicht zum Verschwinden, wohl aber zum Schwingen, um nicht zu sagen: in Schwung bringt). Die sprachlich-literarische Form des Redens von Gott sagt also etwas aus über Gott selbst. Die Form ist dem Sein nicht äußerlich. Daraus folgt dann freilich auch, dass diese Form nicht einfach übersprungen werden darf. Die Transformation der Erzählung in den Begriff ist eine metabasis eis allo genos , ein Übergang in ein anderes Genre, der nicht ohne weiteres bedeutungsneutral ist. Dies stellt die Theologie als „Wissenschaft von Gott“ im Blick auf ihr Selbstverständnis und ihre Methodik vor enorme Herausforderungen. Genau damit will ich mich im folgenden Abschnitt beschäftigen. 2. Text und Bedeutung In diesem Abschnitt möchte ich das bereits Gesagte unter zwei Gesichtspunkten vertiefen: Zunächst will ich das Faktum beleuchten, dass heilige Texte interpretiert werden (und wohl auch: interpretiert werden müssen ). Dann möchte ich mich dem bereits angesprochenen Übergang vom religiösen Text in den theologischen Begriff zuwenden. 2.1 Text und Deutung Warum müssen Texte eigentlich gedeutet werden? Sprechen sie nicht für sich selbst? Diese Fragen stellen sich für heilige Texte in besonderem Maße. Sie lenken den Blick nämlich auf 20 Vgl. dazu auch: Luhmann, Niklas / Fuchs, Peter: Reden und Schweigen , Frankfurt a. M. 1989. 21 Vgl. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt (1977), Tübingen 5 1986, bes. S. 394-404. 22 Jüngel, Eberhard: Gottes Sein ist im Werden. Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase , Tübingen 4 1986. Religion und Fiktion 195 die paradoxe Unterstellung, dass ein Text, um als er selbst verstanden zu werden, in anderen Worten wiedergegeben werden muss. Dies gilt schon für die Übersetzung in andere Sprachen, die ja immer auch eine Deutung ist. Wir haben die heiligen Texte also in aller Regel in einer bereits gedeuteten Gestalt. Selbst wenn wir die Ursprungssprachen beherrschen (was von angehenden Theologinnen und Theologen mit guten Gründen weiterhin verlangt wird - aber eben nur von ihnen), können wir zwar die vorliegenden Übersetzungen mit dem sog. „Urtext“ abgleichen (wobei dieser „Urtext“, nebenbei gesagt, seinerseits das Resultat hochkomplexer wissenschaftlicher Rekonstruktion ist - die „Originalmanuskripte“ liegen uns ja nicht vor; einen dogmatisch autorisierten „Urtext“ gibt es im Christentum also nicht), aber dann sind es eben unsere eigenen Übersetzungen, die wir herstellen - und damit unsere eigenen Deutungen. Den Reformatoren war im Übrigen beides wichtig: die Orientierung an den Ursprungssprachen und die Verstehbarkeit. Luther produzierte daher eine deutsche Bibel, die er aus den Ursprungssprachen übersetzte - und nicht aus der lateinischen Vulgata, obwohl diese ihm aus seiner liturgischen und akademischen Praxis vertrauter war. Die römisch-katholische Kirche grenzte sich im Konzil von Trient dagegen ab, indem sie eben diese lateinische Vulgata als die dogmatisch verbindliche Gestalt der Bibel definierte und damit einen eindeutigen Referenztext herstellte. In anderer Weise problemsichtig ist auch der Islam, der die arabische Ursprungsgestalt als konstitutives Moment der Heiligkeit des Korans selbst identifizierte und daher seine arabische Rezitation verpflichtend machte. Übersetzungen haben nur katechetische Funktion; die Auslegung wird von der Textkonstitution grundsätzlich abgehoben. Noch einmal: Warum bedürfen (heilige) Texte der Auslegung? Hier kann man zwei elementare Dimensionen benennen, die ich (unter Ausblendung ganzer Regalmeter sprachphilosophischer Literatur) als „Sinn“ und „Bedeutung“ unterscheiden möchte. Zum einen geht es nämlich darum, den semantischen Sinn der Texte selbst herauszuarbeiten; zum anderen soll ihre orientierende Bedeutung für die Rezipienten sichtbar gemacht werden. Zugespitzt geht es um die Fragen: Was sagt der Text? Und was sagt er mir ? Natürlich gehören diese Fragen zusammen: Ich muss wissen, was der Text sagt, um darüber nachdenken zu können, was er mir sagt; und umgekehrt gilt gerade für heilige Texte, dass man sie nicht gleichsam interessefrei liest, sondern in der vorausgehenden Erwartung, aus ihnen Orientierung für das eigene Leben zu erlangen. Gleichwohl impliziert gerade ihre Anerkennung als heilige Texte das Bestreben, sie nicht in ihrer Applikation auf, ihrer Bedeutung für das Einzelschicksal aufgehen zu lassen, sondern ihre Unabhängigkeit und Überschüssigkeit gegenüber jeder Rezeption zu bewahren. Die westliche Christenheit hat im Mittelalter die hermeneutische Methodik des „vierfachen Schriftsinns“ entwickelt, um in der Auslegung der Bibel den differenzierten Zusammenhang von Verstehen und Applikation durchsichtig zu machen. Dem sog. „Literalsinn“ wurde ein dreigestaltiger „geistlicher Schriftsinn“ ( sensus spiritualis ) zur Seite gestellt, der verschiedene Aspekte der christlichen Existenz zur Sprache bringen sollte: Der „allegorische“ Sinn bezieht eine Bibelstelle auf Christus, die Kirche und den Glauben, der „tropologische“ oder „moralische“ Sinn auf die Lebensführung der Christen, der „anagogoische“ schließlich auf die eschatologische Vollendung. Der große katholische Lutherforscher Otto-Hermann Pesch hat den vierfachen Schriftsinn einmal an einem schönes Beispiel durchgespielt: Jerusalem und Babylon sind zwei Städte, die eine in Palästina, die andere in Mesopotamien - und sie sind ‚buchstäblich‘ gemeint, wenn ihre Namen etwa in den Psalmen auftauchen. Im ‚allegori- 196 Bernd Oberdorfer schen‘ Sinn bedeutet ‚Jerusalem‘ die Kirche, die Gläubigen, im ‚anagogischen‘ Sinn ist ‚Jerusalem‘ der Himmel und der Lohn der Gläubigen im Jenseits, im ‚tropologischen‘ Sinn verweist ‚Jerusalem‘ auf die Tugenden der Christen. Entsprechend bedeutet ‚Babylon‘ die Bösewichter, die ewige Verdammnis in der Hölle, die Laster. 23 Dieses Verfahren hat den großen Vorzug, dass es gewissermaßen ein Interpretationsgenerator ist, der die Bibel (und zwar im Prinzip: jede Bibelstelle! ) methodisch reflektiert für das Verständnis elementarer Dimensionen des christlichen Glaubens fruchtbar macht. Dennoch hat Luther sich schon in frühen Jahren davon distanziert. Zu groß schien ihm die Gefahr, dass diese Art der „geistlichen“ Lektüre die Bibel zum Objekt willkürlicher Bedeutungseintragung macht. Demgegenüber sah er sich als Anwalt des ‚Eigensinns‘ der Bibel gegen ihre applikative Verzweckung und betonte die exklusive Geltung des „Literalsinns“. Mit „wörtlichem Sinn“ meinte er freilich keineswegs den historischen Ursprungssinn der Texte. Wörtlich verstanden ist der Sinn einer Bibelstelle vielmehr dann, wenn sie „Christum treibet“, d. h., wenn sie zum Verständnis Christi und zum Glauben an ihn führt und anleitet. Das gilt auch für das Alte Testament. So konnte Luther etwa den Psalter - und zwar im Literalsinn! - als Gebetbuch Christi deuten (wie ja dann auch der menschgewordene Christus am Kreuz den 22. Psalm betet: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? “). Daraus folgt dann natürlich, dass der „Literalsinn“ nicht einfach dasteht; explizit ist im Alten Testament von Jesus Christus ja eben gerade nicht die Rede. Luther war jedoch überzeugt, dass die Bibel diesen ihren eigentlichen Sinn aus sich selbst erschließt. Die Heilige Schrift ist „ihr eigener Interpret“, sui ipsius interpres . Man muss den Sinn nicht erst in sie hineinlesen, sie macht sich selbst verständlich. Es bedarf dafür keiner anderen Instanzen, schon gar keines kirchlichen Lehramts, das über die rechte Deutung der Schrift zu befinden hätte und in strittigen Auslegungsfragen kraft formaler Autorisierung Eindeutigkeit herzustellen befähigt und befugt wäre 24 . Gleichwohl hat die Reformation einem untätigen Warten darauf, dass die Heilige Schrift ihren Sinn und ihre Bedeutung in der Kraft des Heiligen Geistes selbst erschließt, gerade nicht das Wort geredet. Dem Vertrauen darauf, dass Gottes Sein, Gottes Willen, Gottes Wirken sich nur im Medium der Heiligen Schrift zu erkennen gibt, korrespondierte vielmehr eine intensive Zuwendung zu den Texten selbst. Es entwickelte sich so etwas wie ein religiöses „Ethos des Lesens“. Luther formulierte für die angemessene Haltung im auslegend-verstehenden Umgang mit der Bibel eine Trias aus oratio , meditatio und tentatio , frei übersetzt etwa: Gebet, konzentriertes Studium und existentielle Beteiligung (d. h., die inständige Erwartung, dass der gelesene Bibeltext etwas mit mir, mit meiner Existenz zu tun hat). Man könnte das auf die Formel bringen: Gerade wenn ich darauf vertraue, dass der Text von selbst spricht, muss ich mein Gehör schulen und möglichst viele und möglichst intensive Gelegenheiten suchen, den Text zu hören, wenn er spricht. Es geht, kurz gesagt, um die Kultivierung einer Erwartungshaltung. Deshalb ist es kein Zufall, dass sich im Protestantismus eine besondere Kultur der Schriftgelehrtheit etabliert hat. Der hermeneutische Imperativ blieb aber ein paradoxer: Die Auslegung sollte gerade die Unverfügbarkeit der ausgelegten Schrift schützen. Sie sollte den ‚Eigensinn‘ der Schrift den Verwertungsinteressen der Rezipienten entziehen, damit 23 Pesch, Otto-Hermann: Hinführung zu Luther , Mainz 1982, S. 58. 24 Genau dies hatte Erasmus von Rotterdam angesichts der Dunkelheit vieler Bibelstellen und scheinbarer Widersprüche in der Bibel für erforderlich gehalten. Religion und Fiktion 197 eben dieser ‚Eigensinn‘ den Rezipienten gegenüber zur Geltung und ihnen heilvoll zugutekommen könne. Genau dies war dann übrigens in und seit dem 18. Jahrhundert das (in dieser Hinsicht sehr protestantisch-fromme) Hintergrundpathos der historisch-kritischen Bibelexegese: die biblischen Texte zu befreien aus ihrer (kirchlichen! ) Rezeptions- und Verwertungsgeschichte, damit sie wieder aus sich selbst sprechen können. 2.2 Text und Begriff Ich sprach vorhin von der paradoxen Unterstellung, dass ein Text, um als er selbst verstanden zu werden, in anderen Worten wiedergegeben werden muss. Diese Paradoxie, dass Identität durch Differenz zum Ausdruck gebracht werden soll, gilt schon für die Übersetzung und Auslegung der Texte. In verschärftem Maße gilt es aber für das Verhältnis von biblischem Text und theologischem, um nicht zu sagen: dogmatischem Begriff. Um das Problem anschlussfähiger für den literaturwissenschaftlichen Diskurs zu formulieren, könnte man auch sagen: Es geht um das Verhältnis von Narration und Wahrheit, bzw. genauer darum, wie (in welcher Sprachform) sich die Wahrheit der Narration ausdrücken lässt. Dass es Wahrheit gibt, dass Gott seine Wahrheit im Medium der Christus bezeugenden Heiligen Schrift zu erkennen gibt, gehört zu den Grundüberzeugungen des Christentums. „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker“, hat Luther bündig gegenüber Erasmus betont. 25 Das Christentum ist keine grundsätzlich erkenntnisskeptische Religion. Die Wahrheit ist dem Menschen (und zwar prinzipiell jedem Menschen) zugänglich und daher auch, um das schöne Wort Ingeborg Bachmanns aufzugreifen, „zumutbar“ 26 . Schon in einzelnen Texten des Neuen Testaments ist daher das Bemühen zu erkennen, die Wahrheit des christlichen Glaubens auch Menschen zu erschließen, die mit dem ursprünglichen jüdischen religions- und kulturgeschichtlichen Hintergrund und der damit verbundenen Sprach- und Bilderwelt nicht vertraut sind. Klassisch ist die in der Apostelgeschichte (Apg 17) dokumentierte sog. „Areopagrede“, in der Paulus den Athenern auf öffentlichem Platz demonstrieren wollte, dass sich in Christus auch ihre eigenen religiösen Sehnsüchte erfüllt hätten; sehr erfolgreich war er damit übrigens nicht, jedenfalls nicht bei diesem Anlass. Hundert Jahre später vertraten die sog. „Apologeten“ den Anspruch, dass das Christentum im Horizont der hellenistisch-römischen Kultur auch die bessere, die wahre Philosophie verkörpere. Dies war nur der Anfang einer Fülle von Versuchen, die Wahrheit des christlichen Glaubens im Medium und unter Verwendung der Sprache, Rationalitätskriterien und methodischen Standards des spätantiken Denkens zu explizieren. Das Christentum generierte eine spezifische Form religiöser Wahrheitsreflexion, d. h.: Theologie. Die Genese des trinitarischen Gottesbegriffs namentlich im 4. Jahrhundert zeigt freilich, dass die christlichen Glaubensinhalte nicht einfach in ein ihnen äußerliches Begriffskorsett eingepasst wurden. Das jahrzehntelange Ringen belegt vielmehr eindrücklich, dass der Versuch, die biblischen Narrationen von dem in Jesus der Menschheit nahen und im Heiligen Geist die Menschheit mit Jesus vereinenden Vater-Gott in einen begrifflich validen Gottesgedanken zu überführen, nur durch rigide Modifizierung, ja Überdehnung dieses Begriffskorsetts gelingen konnte. 25 Luther, Martin: De servo arbitrio (1525), WA 18, 605: „Spiritus sanctus non est Scepticus.“ 26 Bachmann, Ingeborg: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften , München 2011. 198 Bernd Oberdorfer Für unsere Fragestellung interessant ist ein Detail 27 : Bekanntlich wurde auf dem Konzil von Nicäa 325 das Verhältnis von Vater und Sohn durch den Begriff „homousios“ charakterisiert: Sie sind „eines Wesens“, „wesenseins“. Man verwendete also einen grundlegenden Begriff der antiken Philosophie: griechisch ousia , lateinisch essentia , deutsch „Wesen“. In der folgenden Diskussion erwies sich der Begriff „homousios“ jedoch als mehrdeutig, ja als offen für manifest häretische Fehldeutungen: Er konnte eine Wesensverschmelzung von Vater und Sohn ebenso aussagen wie die sozusagen bitheistische Existenz zweier gleichwertiger göttlicher „Wesen“. Im darüber ausbrechenden heftigen Streit wurde mit kaiserlicher Unterstützung der Befriedungsvorschlag lanciert, auf die philosophische Begrifflichkeit ( ousia ) ganz zu verzichten, da sie ja nicht biblisch sei, und sich auf die Aussage zu beschränken, Vater und Sohn seien „in jeder Hinsicht gleich“ ( homoios kata panta ) bzw. „gleich gemäß den Schriften“ ( homoios kata tas graphas ). 28 Dieser (auf den ersten Blick durchaus sympathische) Vorschlag setzte sich aber nicht durch: weder der prinzipielle Verzicht auf philosophische Begriffe und Denkformen im Namen einer rein biblischen Sprache noch der Verzicht auf den Begriff ousia in der konkreten Bestimmung des göttlichen Seins. Theologie ist mehr als die geraffte Nacherzählung der biblischen Narrationen, sie bedarf ihrer eigenen begrifflichen Form. Allerdings ist die Differenz zwischen biblischer Narration und theologisch-begrifflicher Form eine Dauerherausforderung für das Christentum und die christliche Theologie geblieben, freilich eine produktive Herausforderung. Die Rückbindung an die biblischen Narrationen zwang die Theologie nämlich dazu, die begriffliche Erfassung des Gottesverständnisses immer wieder neu an der Erzählstruktur des biblischen Zeugnisses auszurichten. Ein Dauerbrenner blieb dabei die Spannung zwischen der Annahme der Unveränderlichkeit und Apathie (genauer: Passivitätsunfähigkeit) Gottes und den biblischen Erzählungen vom empathischen (liebenden wie zornigen) Gott. Generell nötigt namentlich die Botschaft vom menschgewordenen Gott zu einer Neujustierung des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeitlichkeit. Auch formal führt die bleibende Präsenz der biblischen Narrationen eine produktive Unruhe und Irritation in die Begriffsbildungen der Theologie ein. Nicht zufällig beriefen sich Reformbewegungen gegen die von ihnen diagnostizierte Erstarrung der Theologie im Formelhaften regelmäßig auf die Bibel. Dies gilt für die humanistische und reformatorische Polemik gegen die Scholastik. Es gilt aber auch für die innerprotestantische Reformbewegung des Pietismus, der im ausgehenden 17. Jahrhundert der herrschenden später sog. „Altprotestantischen Orthodoxie“ eine dogmatische Erstarrung im Kognitiv-Lehrhaften vorwarf und dieser eine an der Bibel orientierte Herzens- und Tatfrömmigkeit entgegensetzte. Das war nicht immer gerecht (dass Thomas von Aquin nicht fromm gewesen wäre, wird man kaum behaupten wollen; und Johann Sebastian Bach war theologisch - ein Orthodoxer). Aber es belegt, dass die narrative Struktur der biblischen Texte die Frömmigkeit und das theologische Denken in Bewegung hielt. Allerdings muss - um eine Verklärung der innovativen Dynamik der Bibel zu verhindern - eingeräumt werden, dass die Berufung auf die Bibel immer wieder auch der Entwicklungsverweigerung dienen konnte. Der Pietismus etwa ist relativ bald, in Abgrenzung 27 Vgl. zum Folgenden Beyschlag, Karlmann: Grundriß der Dogmengeschichte , Bd. 1: Gott und Welt , 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Darmstadt 1987, S. 254-308. 28 Vgl. ebd., S. 286. Religion und Fiktion 199 zur zeitgleich entstandenen Aufklärung, modernisierungskritisch und konservativ geworden (obwohl er unverkennbar moderne Züge trägt, etwa im Blick auf die Subjektivierung des Glaubens). Wie das bereits erwähnte Beispiel der „Kreationisten“ zeigt, ist dies häufig mit der Überzeugung verbunden, man müsse den „wörtlichen“ Sinn der Bibel gegen seine modernistischen Entstellungen verteidigen. Strategien des deutenden Umgangs mit anstößigen Bibelstellen wie die vorhin genannte Literarisierung gelten als zeitgeisthöriges Ausweichen vor den Wahrheitsansprüchen der Texte. Dass auch ein solcher „Biblizismus“ mit hermeneutischen Axiomen arbeitet und also keineswegs voraussetzungslos an die Texte herangeht, wird dabei freilich ausgeblendet. Es gibt also, kurz gesagt, nicht nur die Möglichkeit der Erstarrung gegenüber der Bibel, sondern auch die der Erstarrung durch die Bibel. 3. Religion und Literatur Abschließend möchte ich noch einen Blick werfen auf die literaturproduktive Dimension der Religion. Religion regt Literatur an. Dies gilt natürlich schon für die Entstehung jener frühchristlichen Texte, denen im Verlauf eines komplexen Prozesses der Rang „heiliger Schriften“ zuwuchs. Sie sind ja nicht als „heilige Schriften“ verfasst worden, sondern - wie die paulinischen Briefe - als Gelegenheitsschriften (mit freilich teils durchaus grundsätzlichem Charakter, etwa der Römerbrief) oder um das Bild der Geschichte Jesu festzuhalten (Evangelien) oder den Überschritt des frühen Christentums in die heidnische Welt zu dokumentieren und damit die neu entstandene Kirche ihrer selbst zu vergewissern (Apostelgeschichte). Es gibt im Übrigen auch mehr frühchristliche Texte, als Eingang gefunden haben in die Bibel; manche dieser „apokryphen“ Texte haben eine enorme Wirkungsgeschichte, die Marienfrömmigkeit etwa speist sich mehr daraus als aus biblischen Quellen. Mir geht es in diesem Abschnitt aber namentlich um eine christliche Literatur zweiter Ordnung, d. h., eine Literatur, die die Fixierung eines „Kanons“ heiliger Schriften bereits voraussetzt und sich auf diesen Kanon bezieht. Ich übergehe die Fülle liturgischer Literatur und nenne die Heiligenlegenden nur, die gewissermaßen ein Genre dritter Ordnung bilden, da sie zur Erbauung und Orientierung der Gläubigen Leben und Wirken von Menschen darstellen, in denen sich das Heilswirken Christi in besonderer Weise widerspiegelt. Kurz verweilen möchte ich indes bei Bachs Passionen, weil sich in ihrer Architektonik gleichsam drei Ebenen des literarischen Anschlusses an die kanonischen Texte identifizieren lassen. Zunächst wird der kanonische Text rezitiert, d. h., performativ wiederholt - wortwörtlich, unverändert, nur bei der mündlichen Rede mit verteilten Rollen, die Jesus-Worte musikalisch hervorgehoben. 29 Auf einer zweiten Ebene stehen die Choräle, für die Bach auf einen damals schon klassischen Bestand lutherischen Kirchenliedguts zurückgreifen konnte; sie repräsentieren die kirchliche Rezeption der biblischen Narration, artikulieren die dankbare Antwort auf das in der biblischen Erzählung bezeugte Heilsgeschehen, formulieren die betrübt-freudige Anerkennung, dass der performativ nachvollzogene Leidensweg Jesu im dreifachen Sinn „für uns“ - „um unseretwillen“, „an unserer Stelle“, „zu unseren Gunsten“ - geschehen ist. In den Arien schließlich imaginiert und empfindet sich das einzelne fromme Subjekt gleichsam in die biblische Geschichte hinein, will Christus nach Golgatha begleiten, weint um den, leidet mit dem Leidenden, sorgt sich um seinen 29 Das entspricht im Übrigen genau der Rezitation des Passionsevangeliums in der römisch-katholischen Karfreitagsliturgie. 200 Bernd Oberdorfer Leichnam etc. Dieses Hervortreten des Individuums aus dem Kollektiv der Gemeinde ist gewiss bereits ein Moment des Modernen. Allerdings zeigt sich auch deutlich, dass die literarische Imagination hier primär der affirmativen Vertiefung und der Verdichtung der religiösen Erfahrung dient; die Dimension der Distanzierung fehlt. Dies ändert sich, wenn ich recht sehe, in der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Der Rückgriff auf die biblischen Traditionen lebt jetzt häufig von der Spannung zu den kanonischen Narrationen. Ihnen werden Alternativnarrationen zur Seite gestellt, die teilweise bewusst die kirchlich vertrauten (und normativ eingespurten) Deutungen etwa der Gestalt Jesu konterkarieren, wie in Nikos Kazantzakis’ Roman Die letzte Versuchung 30 . Höchst eigenwillig nimmt - um ein anderes Beispiel herauszugreifen - José Saramago in seinem Roman Kain 31 die alttestamentlichen Traditionen religionskritisch auf, indem er Gott als bösartigen, rachsüchtigen Tyrannen entlarvt, der für seine Schöpfung keine Zuneigung empfindet; am Ende verhindert Kain, dass die Menschheit die Sintflut überlebt. Während Saramago noch explizit mit dem biblischen Erzählmaterial spielt (und dabei auch apokryphes Material wie die Lilith-Legende hineinmischt), ist der Bezug in J. M. Coetzees Romansequenz The Childhood of Jesus 32 und The Schooldays of Jesus 33 nur noch durch den Titel hergestellt. In der düsteren Parabel selbst fällt der Name Jesu nirgends. In einem namenlosen, konturlosen, geschichtslosen Land (nur dass man Spanisch spricht, wird erwähnt) finden ein Mann und ein Junge, die sich bei der Überfahrt auf dem Boot kennengelernt haben, als Flüchtlinge Unterkunft, der Mann zugleich Arbeit im Hafen; sie erhalten dort auch neue Namen (die alten sind verschollen): Simón der Mann, der Junge David 34 . Der Junge hat seine Mutter auf der Flucht verloren und erinnert sich nur noch vage an sie. Eines Tages ‚wählt‘ ihm Simón gleichsam von der Straße weg eine Mutter, die diese Rolle überraschenderweise akzeptiert. Gerade als die seltsame Familie (Nicht-Vater, angenommene Mutter, geschichtsloser Sohn) zusammenfindet, beschließen die Behörden des sozialistisch anmutenden Staates, sich des Jungen fürsorglich anzunehmen und ihn in ein Internat zu geben. Die drei fliehen gemeinsam, um zusammenbleiben zu können. Was das mit der Kindheit Jesu zu tun haben sollte, bleibt völlig unerklärt. Allenfalls Bruchstücke lassen sich identifizieren, die Umrisse der „heiligen Familie“ erahnen, Anklänge vermuten. Alles Heilsgeschichtliche ist freilich verschwunden. Es bleibt nur die beklemmende Ort- und Heimatlosigkeit des Kindes und seiner „Familie“, die von ferne an den Satz Jesu erinnert „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Lk 9,58). Nicht einmal die gemeinsame Flucht schafft freilich eine bleibende Verbundenheit. In der neuen Stadt zerbricht die seltsame „Familie“ nach und nach. Der eigenwillige, ungewöhnlich begabte Davíd besucht währenddessen eine Tanzakademie, in der die Kinder lernen, die gleichsam im Ideenhimmel verorteten, reinen Zahlen tanzend in der Sinnenwelt zu vergegenwärtigen. Der nüchtern-rationale Simón hält das für esoterischen Unsinn. Tatsächlich erweist sich die Schule bald als unseriöses Unternehmen. Gleichwohl kann Simón sich einer gewissen Faszination nicht entziehen, und am Ende ist er es, der unbeholfen zu tanzen beginnt. Nur vom Titel her lässt sich dies als narrativer Diskurs über 30 Kazantzakis, Nikos: Die letzte Versuchung (1951). Dt. v. Werner Kerbs, Berlin 1952. 31 Saramago, José: Kain (2009). Dt. v. Karin von Schweder-Schreiner, Hamburg 2011. 32 Coetzee, J. M.: The Childhood of Jesus , London 2013. 33 Coetzee, J. M.: The Schooldays of Jesus , London 2016. 34 Im zweiten Roman nennt ihn Coetzee „Davíd“, um die spanische Aussprache zu erzwingen, obwohl der Akzent der spanischen Grammatik widerspricht. Religion und Fiktion 201 die existenzielle Relevanz und die soziale Resonanz nichtempirischer, „metaphysischer“, „transzendenter“ und in diesem Sinn dann auch religiöser Vorstellungen, mithin als eine Art skeptisch-idiosynkratischer ‚Versuch über die Religion‘ dechiffrieren. Diese radikal reduzierte Form der Anknüpfung funktioniert - wenn überhaupt - nur, weil die kanonische Narration im kulturellen Gedächtnis noch so stark verankert ist, dass auf ihre explizite Nennung weitgehend verzichtet werden kann. Sie lebt auch von dem bewussten Kontrast zu den in den biblischen Texten artikulierten bzw. mit ihnen in der kirchlich-gläubigen Rezeption verbundenen Wahrheitsansprüchen. Sie negiert diese Wahrheitsansprüche nicht ausdrücklich, lässt sie eher ins Leere laufen. Aber sie ignoriert sie eben auch nicht einfach und bestätigt damit indirekt, dass den biblischen Narrationen weiterhin eine kulturelle Prägekraft als Referenztexte normativer Selbstverständigung innewohnt, die zum Gegenlesen nötigen. Wenn sie Fiktionen sind, dann jedenfalls welche von besonderer Art. Literaturverzeichnis Bachmann, Ingeborg: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Essays, Reden, Kleinere Schriften . München 2011. Beyschlag, Karlmann: Grundriß der Dogmengeschichte . Bd. 1: Gott und Welt . 2., neubearbeitete und erweiterte Auflage. Darmstadt 1987. Bultmann, Rudolf: Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung . Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung. Hg. Eberhard Jüngel. München 1985. Coetzee, J. M.: The Childhood of Jesus . London 2013. -: The Schooldays of Jesus . London 2016. Herms, Eilert: Art. „Weltanschauung I. Begriffsgeschichtlich“, in: RGG 4 , Bd. 8, 2005. Sp. 1401-1403. Herrndorf, Wolfgang: Arbeit und Struktur . Berlin 2013. Johnson, Uwe: Begleitumstände: Frankfurter Vorlesungen . Frankfurt (M) 1980. Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt . Tübingen ( 1 1977) 5 1986. -: Gottes Sein ist im Werden: Verantwortliche Rede vom Sein Gottes bei Karl Barth. Eine Paraphrase . Tübingen 4 1986. Kazantzakis, Nikos: Die letzte Versuchung (1951). Dt. von Werner Kerbs. Berlin 1952. Luhmann, Niklas / Fuchs, Peter: Reden und Schweigen . Frankfurt (M) 1989. Luther, Martin: „De servo arbitrio (1525)“. D. Martin Luthers Werke, Weimarer Ausgabe ( WA ) , Bd. 18, Weimar 1908. 600-787. Deutsche Übersetzung in: Luther Deutsch . Hg. Kurt Aland. Bd. 3: Der neue Glaube , Göttingen 4 1983. 151-334. Maier, Christl M.: „Jeremia am Ende. Prophetie als Schriftgelehrsamkeit“. Evangelische Theologie 77 (2017): 44-56. Musil, Robert: „Der Mann ohne Eigenschaften“. Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 4: Der Mann ohne Eigenschaften; Aus dem Nachlaß . Hg. Adolf Frisé. Reinbek 1978. -: „Skizze der Erkenntnis des Dichters (1918)“. Gesammelte Werke in neun Bänden . Bd. 8: Essays und Reden . Hg. Adolf Frisé. Reinbek 1978. 1025-1030. Nietzsche, Friedrich: „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873)“. Kritische Studienausgabe . Bd. 1. München 2 1988. 873-890. Pesch, Otto-Hermann: Hinführung zu Luther . Mainz 1982. Saramago, José: Caim, Lissabon 2009 ; deutsch : Kain . Dt. von Karin von Schweder-Schreiner. Hamburg 2011. Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube (1830) . Hg. Martin Redeker. Berlin 7 1960. Theißen, Henning: „Der irdische Jesus und die Praxisbedeutung der Christologie“. Evangelische Theologie 77 (2017): 228-238. Die Beiträgerinnen und Beiträger 203 Die Beiträgerinnen und Beiträger Robert Bauernfeind ist seit 2013 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte / Bildwissenschaft der Universität Augsburg. Er studierte dort sowie in München, Eichstätt und Wien Kunstgeschichte, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Geschichte. Von 2010 bis 2012 war er Promotionsstipendiat der Gerda Henkel Stiftung und wurde mit der 2013 eingereichten Dissertation „Die Ordnung der Dinge durch die Malerei. Jan van Kessels Münchner Erdteil-Zyklus“ promoviert. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die niederländische und flämische Malerei des Barock, Visualisierungsverfahren der frühneuzeitlichen Naturgeschichte, Exotismus in den Bildkünsten der Frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts und Popkultur. Hans Vilmar Geppert. Studium, Promotion und Habilitation in Tübingen. Von 1984 bis 2006 war er Inhaber des Lehrstuhls für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft / Vergleichende Literaturwissenschaft in Augsburg. Wichtige Publikationen sind unter anderem: Der „andere“ historische Roman; Achim von Arnims Romanfragment „Die Kronenwächter“; Der realistische Weg; Literatur im Mediendialog; Der historische Roman: Geschichte umerzählt - von Walter Scott bis zur Gegenwart; Hrsg. Große Werke der Literatur Bd. 1ff; Hg. Theorien der Literatur Bd. 1 ff. Johanna Hartmann arbeitet seit 2010 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik an der Universität Augsburg. Sie studierte Amerikanistik, Englische Sprachwissenschaft und Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und schloss ihr Studium 2009 bzw. 2010 mit dem ersten Staatsexamen für das gymnasiale Lehramt und der Magistra Artium ab. Sie promovierte 2014 mit einer Arbeit zu „Literary Visuality in Siri Hustvedt’s Works“. Im akademischen Jahr 2014 / 15 lehrte und forschte sie an der University of Texas at Austin als Assistant Professor am English Department. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Intermedialitäts- und Ekphrasisforschung, der amerikanischen Gegenwartsliteratur, des amerikanischen Dramas des 20. Jahrhunderts und der Interrelation von Politik und Literatur. Wichtige Publikationen sind unter anderem die Sammelbände Censorship & Exile , Göttingen 2015 (Hg. mit Hubert Zapf), ein Buchprojekt, das infolge der gemeinsam mit Hubert Zapf organisierten, gleichnamigen Konferenz entstand, und Zones of Focused Ambiguities in Siri Hustvedt’s Works. Interdisciplinary Essays , Berlin 2016 (Hg. mit Christine Marks und Hubert Zapf) sowie die Monographie Literary Visuality in Siri Hustvedt’s Works: Interdisciplinary Perspectives , Würzburg 2016. Zur Zeit forscht sie an ihrem Habilitationsprojekt zum amerikanischen Drama und Theater des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Lothar van Laak ist seit 2014 Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Gießen, Oxford (St. Hugh’s College) und Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Literaturgeschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Literaturtheorie, Ästhetik, Hermeneutik sowie Literatur und Religion. Wichtige 204 Die Beiträgerinnen und Beiträger Publikationen: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20 . Jahrhunderts: Bertolt Brecht - Uwe Johnson - Lars von Trier , München 2009; Hermeneutik literarischer Sinnlichkeit. Historisch-systematische Studien zur Literatur des 17 . und 18 . Jahrhunderts , Tübingen 2003; (Hg. mit Susanne Kaul): Ethik des Verstehens. Beiträge zur philosophischen und literarischen Hermeneutik , München 2007. Christine Lubkoll studierte Germanistik und Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. und der Universität Bordeaux, promovierte 1985 an der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg und habilitierte sich 1993 im Fach Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der LMU München. 1995-2002 hatte sie eine Professur für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Gießen inne; seit 2002 ist sie Professorin für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seit 2006 leitet sie dort den Elitestudiengang ‚Ethik der Textkulturen' (in Kooperation mit der Universität Augsburg). Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Literatur und Kultur der Sattelzeit (1750-1830), Klassizismus und Romantik im europäischen Kontext, Literatur und Musik, Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur sowie Literatur und Ethik. Neueste Publikationen: (Hg. mit Rudolf Freiburg und Harald Neumeyer): Zwischen Literatur und Naturwissenschaft. Debatten - Probleme - Visionen 1680 - 1820 , Berlin / Boston 2017; (Hg. mit Harald Neumeyer): E. T. A.-Hoffmann-Handbuch. Epoche - Werk - Wirkung , Stuttgart 2015; (Hg. mit Claudia Öhlschläger): Schreibszenen. Kulturpraxis - Poetologie - Theatralität , Freiburg i. Br. 2015. Timo Müller ist Akademischer Rat am Lehrstuhl für Amerikanistik der Universität Augsburg. Er studierte Amerikanistik, Englische Literaturwissenschaft und Alte Geschichte an der Universität Augsburg und an der Brandeis University. 2009 promovierte er im Fach Amerikanistik mit einer Arbeit zu „The Self as Object in Modernist Fiction: James, Joyce, Hemingway“ (summa cum laude). Er habilitierte sich 2014 an der Universität Augsburg mit dem Thema „The African American Sonnet, 1870-2000: Form, Territory, and the Transnational Imagination“. Derzeit vertritt er den Lehrstuhl für Amerikanistik an der Universität Regensburg. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Modernismus, African American Studies, Postkolonialismus und Environmental Studies. Bernd Oberdorfer ist seit 2001 Ordinarius für Systematische Theologie an der Universität Augsburg. Er studierte Evangelische Theologie an den Universitäten Tübingen und München. 1993 promovierte er an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilans-Universität München mit einer Arbeit über das Jugendwerk Friedrich Schleiermachers. Von 1992 bis 2000 war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Evangelische Theologie mit dem Schwerpunkt Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen an der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg tätig. Er habilitierte 1999 für das Fach Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über das Filioque-Problem. Er absolvierte zwei Forschungsaufenthalte in Stellenbosch / Südafrika und wurde 2000 zum Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern ordiniert. Jeweils von 2007 bis 2010 sowie von 2011 bis 2013 war er Dekan der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Seit 2012 ist er geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift „Evangelische Theologie“, seit 2015 geschäftsführender Direktor des Instituts für Euro- Die Beiträgerinnen und Beiträger 205 päische Kulturgeschichte an der Universität Augsburg. Wichtige Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Ökumenische Dialoge sowie Protestantische Friedensethik. Adina Sorian ist Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Sie studierte Englische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Amerikanistik an der Universität Augsburg, der Universität Wien und der Queen Mary University of London. 2015 promovierte sie mit einer Dissertation zum Thema: „Reading the Real: Toward a Reevaluation of Lacanian Theory in the Study of Twenty-First-Century Literature and Film”, die in Kürze als Buch erscheint. Besondere Schwerpunkte ihrer Forschung: Literatur des 21. Jahrhunderts, Psychoanalyse, Literaturtheorie, Viktorianischer Roman und Film. Verschiedene Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden u. a. zu David Mitchell, Charlotte Brontë, Federico Fellini und Forced Entertainment. Stephanie Waldow studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Gießen und Erlangen. Seit 2012 ist sie Professorin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Ethik an der Universität Augsburg. Sie ist zudem Herausgeberin des Online-Magazins www.schauinsblau.de - Eine Zeitschrift für Literatur, Kunst und Wissenschaft der Gegenwart und organisiert neben Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gemeinsam mit bildenden Künstlern Ausstellungsprojekte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Ethik und Narration, Literatur und Mythos, Intertextualität, Literaturvermittlung, Literatur und Theorie der Gegenwart und Moderne, Literatur und Kunst, Gattungsgeschichte der Novelle und der Reportage, Literatur und Wissen (hier insbesondere Literatur und Astronomie / Astrologie). Stephanie Wodianka ist seit 2010 Professorin für Französische und Italienische Literaturwissenschaft der Universität Rostock. Von 1998 bis 2000 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der JLU Gießen bei Prof. Dr. Gerhard Kurz, 2000-2001 Promotionsstipendiatin des Cusanuswerkes. Sie promovierte 2002 an der Universität Gießen und erhielt für ihre Monographie zur europäischen Betrachtungsliteratur der Frühen Neuzeit den sektionsunabhängigen Dissertationspreis der Universität. Von 2002 bis 2008 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanistik bei Prof. Dr. Dietmar Rieger im SFB 4343 „Erinnerungskulturen“ tätig. 2008 habilitierte sie an der Universität Gießen mit einer Arbeit zur Mythostheorie und Mythosgeschichte und erhielt die Venia für Romanische sowie Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Meditative Literatur der frühen Neuzeit (Frankreich, Deutschland, England, Italien), Literatur und individuelle / kollektive Identität, Mythos- und Gedächtnistheorien, Mythosgeschichte ( Jeanne d’Arc, Matière de Bretagne) in Frankreich und Italien, europäisches Theater vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, französische und italienische Novellistik, die Kulturgeschichte des französischen Chanson, italienische und französische Reiseliteratur (insbes. 18./ 19. Jh.) sowie Film und kulturelle Erinnerung. 2011-2014 leitete sie das DFG -Projekt „Kulturwissenschaftliche Konzeptualisierung neuer Mythen“, 2014-2017 war sie Sprecherin des DFG -Graduiertenkollegs „Kulturkontakt und Wissenschaftsdiskurs“, und seit 2014 ist sie Gründungsmitglied des DFG -Graduiertenkollegs „Deutungsmacht und Deutungsmachtkonflikte in Religion und belief systems“. ISBN 978-3-7720-8629-8 www.francke.de Günter Butzer, Hubert Zapf (Hrsg.) Die „Theorien der Literatur” sind eine seit Jahrzehnten etablierte Buchreihe, die auf Ringvorlesungen an der Universität Augsburg zurückgeht. Band VII enthält erstmals einen thematischen Schwerpunkt: Es geht um die Beziehung der Literatur zu anderen Künsten. Im Fokus stehen dabei nicht Künste wie Musik und Bildende Kunst, sondern konkrete Ausformungen wie die Symphonik, die Malerei, der Comic oder der Film. Der Band leistet damit einen Beitrag zur Erforschung der wechselseitigen Einflüsse zwischen einzelnen Kunstformen, die gegenwärtig intensiv unter dem Titel der InterArt Studies untersucht werden. THEORIEN DER LITERATUR Literatur und die anderen Künste VII BAND VII Literatur und die anderen Künste THEORIEN DER LITERATUR GRUNDL AGEN & PERSPEK TIVEN