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Grammatische Untersuchungen

2006
978-3-8233-7229-5
Gunter Narr Verlag 
Eva Breindl
Lutz Gunkel
Bruno Strecker

Renommierte Sprachwissenschaftler aus dem In- und Ausland würdigen das Schaffen von Gisela Zifonun, ehemals Leiterin der IDS-Arbeitsgruppe zur Grammatik der deutschen Standardsprache und eine der führenden Grammatikexperten hierzulande überhaupt. Die Beiträge spiegeln dabei die ganze Bandbreite von Zifonuns umfangreichem Publikationsspektrum, das neben grammatischen Arbeiten auch Arbeiten zur automatischen Sprachverarbeitung, zur Wortsemantik, Pragmatik, Sprachkultur und Sprachkritik umfasst.

STUDIEN ZUR DEUTSCHEN SPRACHE Studien zur Deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Herausgegeben von Ulrike Haß, Werner Kallmeyer und Ulrich Waßner Band 36 • 2006 Eva Breindl/ Lutz Gunkel/ Bruno Strecker (Hrsg.) Grammatische Untersuchungen Analysen und Reflexionen Gisela Zifonun zum 60. Geburtstag gnw Gunter Narr Verlag Tübingen Bibliografische Information der Deutschen Bibhothek Die Deutsche Bibhothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibkografie; detailherte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. © 2006 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Das Werk einschheßhch aher seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zushmmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Satz: Hohwieler, Mannheim Druck und Bindung: Huberts Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 3-8233-6229-1 Prof. Dr. Gisela Zifonun Inhalt Eva Breindl/ Lutz Gunkel/ Bruno Strecker: Vorwort 11 A. Analysen Nominale Einheiten Bernd Wiese: Zum Problem des Formensynkretismus: Nominalparadigmen des Gegenwartsdeutschen 15 Elke Donalies: Dem Väterchen sein Megahut. Der Charme der deutschen Diminution und Augmentation und wie wir ihm gerecht werden 33 Hardarik Blühdom: Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 53 Lutz Gunkel: Betontes der 79 Jacqueline Kubczak: Kleines Plädoyer für eine Verschiebung der Grenze von „Komplement“ bei der Valenz des Substantivs 97 Peter Bassola: Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 111 Helmut Frosch: Zur Semantik relationaler Nomina 133 Marek Konopka: Zur Stellung der Relativsätze 141 Verbale Einheiten Renate Raffelsiefen: Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 163 Gereon Müller: Subanalyse verbaler Flexionsmarker 183 Oddleif Leirbukt: Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu mit besonderer Berücksichtigung subjektloser Konstruktionen 205 Beatrice Primus/ Jessica Schwamb: Aspekte medialer und nichtmedialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 223 Speranta Stänescu: Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 241 Cathrine Fabricius-Hansen: Wie fügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 259 Angelika Storrer: Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 275 8 Inhalt Peter Eisenberg: Funktionsverbgefuge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 297 Jadranka Gvozdanovic: Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts: Zur Mehrdimensionalität temporaler Kategorien 319 Unflektierbare Eva Breindl: Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik: komplexe Lokalisationsausdrücke im Deutschen 339 Anna Volodina: wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 359 Ulrich Hermann Waßner: Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 381 Renate Pasch: Fokussierende, fokussierte und fokussierbare Vorerstausdrücke: Drei syntaktisch-informationsstrukturelle Klassen adverbialer Ausdrücke 401 Martine Dalmas: Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 417 Bruno Strecker: Ich mein'ja nur. Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 431 Text, Stil und Diskurs Ewa Drewnowska-Vargäne: Metaphern in Reformulierungsausdrücken. Ein interlingualer Vergleich ausgewählter Presse-Interviews 451 Hans-Werner Eroms: Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 473 Werner Kallmeyer: Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? Grammatische, semantische und pragmatische Aspekte des Formulierens komplexer Äußerungen im Gespräch 493 B. Reflexionen Ludwig M. Eichinger: Grammatik als Frucht bringende Ergötzung. Zur Entwicklung der neuhochdeutschen Syntax 513 Beate Henn-Memmesheimer: Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 533 Ursula Brauße: Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 553 Inhalt 9 Klaus Vorderwülbecke: Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 567 Wolf Peter Klein: Vergebens oder vergeblich*? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 581 Roman Schneider: Texttechnologie und Grammatik 601 Horst Schwinn: Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt - Zur Drei-Welten-Theorie von Fritz Mauthner 617 Gisela Harras: Vom Ringen um eine deutsche Grammatik. Eine Valentinade in fünf Aufzügen 633 Schriftenverzeichnis 643 Eva Breindl/ Lutz Gunkel/ Bruno Strecker Vorwort Als man Anfang der achtziger Jahre im Institut für Deutsche Sprache eine Arbeitsgruppe zusammenstellte, die eine Grammatik der deutschen Standardsprache verfassen sollte, von der man erst einmal nicht viel mehr wusste, als dass sie richtig groß auszufallen hatte, brachte man Forscher zusammen, mit ausgesprochen kontroversen Vorstellungen davon, was eine solche Grammatik zu leisten haben könnte. Gisela Zifonun fiel als Leiterin die Aufgabe zu, mit diesem streitbaren Autorenteam zunächst ein brauchbares Gesamtkonzept, dann, in einem überschaubaren Zeitraum, tatsächlich eine Grammatik zu erarbeiten. Sie hat diese Aufgabe, die manchmal den Charakter einer Quadratur des Kreises anzunehmen drohte, mit der ihr eigenen Willens- und Schaffenskraft in überzeugender Weise gelöst und dabei selbst den Löwenanteil geleistet. Die Liste der von ihr verfassten Einheiten: Kommunikative Minimaleinheit und Satz - Der Modus kommunikativer Minimaleinheiten - Bestimmung von Komplementen und Abgrenzung gegenüber Supplementen - Realisierung primärer Komponenten - Verbmodus - Das Passiv (und die Familie der grammatischen Konversen) - Grammatik der Ereignisperspektivierung - Bedeutung der Modalverben - Appositive Erweiterungen von NP, Appositionen und Erweiterungsnomina - Präpositionen und Präpositionalphrasen - Infinitiv- und Partizipialkonstruktionen - Subordination: Nebensätze Darüber hinaus hat sie unermüdlich jede Textzeile ihrer Ko-Autoren kritisch begleitet. Wenn es dabei trotz manchmal heftig geführter Auseinandersetzungen nie zum Bruch kam, dann lag dies in erster Linie daran, wie sie die Diskussionen führte: jederzeit ganz der Sache verpflichtet, ganz im Sinn eines Habermas'schen herrschaftsfreien Diskurses, in dem allein die Kraft von Argumenten zur Wirkung kommt. Über den Arbeiten zur Grammatik der deutschen Sprache ist Gisela Zifonun endgültig zu einer Grammatikexpertin von höchsten Graden geworden. Alles in allem fiele es leichter aufzuzählen, mit welchen Bereichen der Grammatik sich Gisela Zifonun nicht befasst hat. In den letzten Jahren hat sie mit dem Projekt „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ ihr Interesse auf die sprachvergleichende Grammatikschreibung ausgeweitet. Doch auch wenn ihr Augenmerk sicher stets vor allem der Grammatik galt, wird man ihr nicht gerecht, wenn man sie nur als Grammatikerin sieht. Für ihren aka- 12 Vorwort demischen Werdegang war die frühe Auseinandersetzung mit sprachphilosophischen und allgemein wissenschaftstheoretischen Fragen kaum weniger bedeutend als der Aufbau grammatischen Wissens. Schon ein Blick auf das Spektrum ihrer Publikationen zeigt die Vielfalt ihrer Interessen: Neben grammatischen Studien finden sich dort Arbeiten zur automatischen Sprachverarbeitung, zur Wortsemantik, zur Pragmatik, zur Sprachkultur und Sprachkritik. Als ihre Adressaten sah und sieht Gisela Zifonun naturgemäß vor allem fachkundige Experten, bei denen sie durchaus zu Recht die Bereitschaft erwartet, auch komplexeren Überlegungen zu folgen. In den letzten Jahren greift sie in Sprachglossen und sprachdidaktisch ausgerichteten Untersuchungen zunehmend auch Themen auf, die für ein weiteres sprachbewusstes Publikum von Interesse sind, so etwa in Der meiste Mensch ist die Fraw, Zur Grammatik von Subsumtion und Identität: Jlerr Schulze als erfahrener Lehrer ...“; Eigennamen in der Narrenschlacht. Oder: wie man Walther von der Vogelweide in den Genitiv setzt; Überfremdung des Deutschen: Panikmache oder echte Gefahr? Schon heute kann Gisela Zifonun auf ein beachtliches Opus zurückblicken, doch jedes Resümee käme fraglos zu früh bei dieser leidenschaftlichen Forscherin, die sich wieder und wieder neuen Aufgaben stellt. Ad multos annos, Gisela Mannheim, im Juli 2005 Eva Breindl, Lutz Gunkel, Bruno Strecker A. Analysen Nominale Einheiten Bernd Wiese Zum Problem des Formensynkretismus: Nominalparadigmen des Gegenwartsdeutschen* 1. Einleitung 1.1 Synkretismen in Verbparadigmen In gängigen Grammatiken findet man oft im Abschnitt über die Verbflexion Tafeln, die die Verbparadigmen zeigen. Die Darstellung des Präteritums der schwachen Verben bietet gewöhnlich ein Kästchen für die Indikativformen wie (ich) arbeitete usw. und ebenso ein Kästchen für die Konjunktivformen; die Formen in diesem Kästchen sind freilich dieselben wie die zuvor gefundenen: Bei den schwachen Verben fallen im Präteritum Indikativ- und Konjunktiv-Formen zusammen. Ist es dann überhaupt sinnvoll, zu sagen, die schwachen Verben besäßen Konjunktiv-Präteritum-Formen? Gisela Zifonun hat diese Frage in der Grammatik der deutschen Sprache (GDS) unter der Überschrift „Das Problem des Formensynkretismus zwischen Konjunktiv und Indikativ“ erörtert, drei (hier knapp zusammengefasste) Antworten zur Diskussion gestellt und mittels Tabellen, ähnlich denen in Abb. 1, veranschaulicht (Zifonun et al. 1997, S. 1739-1743): Ind. Prät. Konj. Prät. arbeitete Ind. Prät. Konj. Prät. arbeitete arbeitete B Ind. Prät. j Konj. Prät. arbeitete D Prät, arbeitete Abb. 1: Synkretismusproblem bei schwachen Verben: Lösungstypen A. Die schwachen Verben besitzen nur die Indikativ-Formen des Präteritums, die Konjunktivformen fehlen. Es liegt ‘Modusreduktion’ vor. B. Die fraglichen Formen sind ‘polysem’: je eine Ausdrucksform besitzt zwei verschiedene grammatische Lesarten. C. Im Präteritum sind (wie bei den starken Verben) zwei getrennte Formensätze zu unterscheiden. Es liegt jeweils Homonymie zwischen Formen unterschiedlicher Paradigmenstellen vor. Für Anregungen und Hinweise zum Manuskript dieses Beitrags danke ich Lutz Gunkel. 16 Bernd Wiese In der GDS wird Lösung C angenommen. Lösung B wird nicht ausführlich erörtert; Lösung A wird verworfen. Lösung D stammt nicht aus der GDS. Der Grund für die Favorisierung der dritten Lösung ergibt sich aus syntaktisch-semantischen Erwägungen, wie anhand der Beispielsätze in (1) und (2) erläutert wird. (1) Wenn er arbeitete, erntete er viel Lob. (2) a. Wenn er kam, ließ man ihn ein. b. Wenn er käme, ließe man ihn ein. (1) ist doppeldeutig, wobei die Unterscheidung der beiden Lesarten der Bedeutungsdifferenz von (2a) und (2b) entspricht. Der Einfachheit halber nenne ich die beiden Lesarten die temporale und die modale. Die Doppeldeutigkeit von (1) lässt sich leicht herleiten, wenn man (gemäß Antwort C) auch bei schwachen Verben die Existenz von Indikativ- und Konjunktiv-Präteritum-Formen und daher für (1) zwei verschiedene syntaktische Strukturen annimmt, die sich in den Kategorienspezifikationen der Verbformen unterscheiden; vgl. (3).' (3) a. Wenn er arbeitete, erntete er viel Lob. 3. Ps. Sg. Ind. Prät. b. Wenn er arbeitete, erntete er viel Lob. 3. Ps. Sg. Konj. Prät. Vom syntaktisch-semantischen Standpunkt können die beiden Varianten von (1) dann ganz genauso wie die beiden Sätze in (2) behandelt werden. Antwort A fuhrt dagegen zu Schwierigkeiten: Die modale Lesart von Satz (1) ergibt sich, wenn die auftretenden Verbformen als Konjunktiv-Formen gelesen werden. Dies aber wäre, so scheint es wenigstens, nicht möglich, wenn die schwachen Verben solche Formen gar nicht besitzen. Obwohl bei Lösung A nur die mit (3a) angedeutete Struktur für den ambigen Beispielsatz zur Verfügung stehen würde, wäre sicherzustellen, dass (1) sowohl eine temporale als auch eine modale Lesart zulässt, (2a), das ebenfalls Indikativ- Formen zeigt, jedoch nicht. Offenbar müsste man in der Syntax oder in der 1 Bei einer Konzeption syntaktischer Strukturen, wie sie in Eisenberg (2004, S. 19-21) zugrunde gelegt wird, gehen die Kategorienspezifikationen in die als Markierungsstruktur bezeichnete Komponente ein. Kategorien werden als Mengen von sprachlichen Einheiten (Ausdrücken) aufgefasst (Eisenberg 2004, S. 15; Zifonun et al. 1997, S. 962, 994f.). (Dementsprechend sind mengenbezogene Operationen anwendbar.) Zum Problem des Formensynkretismus 17 Satzsemantik in irgendeiner Weise auf die Tatsache Bezug nehmen, dass ARBEITEN ein schwaches Verb ist. Würde Lösung A angenommen, wäre die modale Lesart von (1) anders nicht herzuleiten. Damit würde aber eine rein morphologische Klassifikation die Unterscheidung zwischen starker und schwacher Konjugation in die Syntax integriert; der Syntax, und in der Folge eventuell auch der Semantik, würden Komplikationen aufgeladen, die ihre Quelle offenbar außerhalb der Syntax, in der Formenbildung, haben und nicht in die Syntax gehören. Nach dieser Überlegung muss die, wie in der GDS herausgestellt wird, ‘an sich attraktive’ Lösung A verworfen werden. Natürlich ist das von Gisela Zifonun aufgeworfene Problem nicht auf den Synkretismus bei den schwachen Verben beschränkt, sondern kann generell bei der Behandlung von Synkretismen auftreten. Beispielsweise würde man in Hinblick auf Sätze wie (4a) und (4b) in einer traditionellen Syntax Feststellungen treffen wie: das Verb HELFEN regiert den Dativ. (4) a. Sie helfen Männern. b. Sie helfen Frauen. Während maskuline Substantive des Typs MANN eine besondere Dativ- Plural-Form besitzen, fallen bei femininen Substantiven des Typs FRAU einerseits alle Singular-Formen und andererseits alle Plural-Formen zusammen: es gibt keine im Ausdruck unterschiedenen Kasusformen. Ich gehe davon aus, dass es sich hier um einen Synkretismus handelt, der in der grammatischen Systematik erfasst werden sollte (vgl. Wiese 1991/ 1999, Blevins 2000). Wollte man aber daraufhin annehmen, dass feminine Substantive des Typs FRAU im Singular und im Plural (mit einem Terminus von Sütterlin 1923, S. 190) je einen ‘Gemeinschaftskasus’ aufweisen, also insbesondere keine als solche ausgewiesenen Dativformen besitzen, so wäre die angeführte Feststellung zur Rektion im Rahmen einer traditionell konzipierten Syntax nicht mehr zu halten. Sollte man etwa sagen, dass HELFEN bei Feminina nicht den Dativ, sondern den Gemeinschaftskasus regiert, bei anderen Substantiven dagegen den Dativ? Dann wären aber wohl weitere Substantivklassen entsprechend zu berücksichtigen, die andere Synkretismen aufweisen. Die Angaben zur Rektion müssten in Unterfalle aufgespalten werden, die auf die verschiedenen Deklinationsklassen zugeschnitten wären. Letztlich wären vielfältige formale Besonderheiten einzelner Lexemklassen (oder Lexeme) in die Rektions- und Kongruenzregeln einzubauen. Zweifellos würden sich massive Komplikation ergeben: der Ansatz führt nicht weiter wenn er denn überhaupt durchführbar sein sollte (vgl. Zwicky 1991). 18 Bernd Wiese 1.2 Die Morphologie-Syntax-Schnittstelle Feststellungen wie ‘HELFEN regiert den Dativ’ kann man anscheinend nur aufrecht erhalten, wenn grundsätzlich für alle Substantive das einheitliche Klassifikationsschema mit seinen acht Kasus-Numerus-Kombinationen vorausgesetzt werden kann. Muss man also die Synkretismen sozusagen ignorieren, wenn man sich nicht untragbare Komplikationen in der Syntax einhandeln will? Worauf es vom syntaktischen Standpunkt ankommt, ist, dass die in Sätzen wie (4a) und (4b) als Objekt auftretenden Konstituenten die Spezifikation Dativ-Plural tragen. Wie die fraglichen Formen lauten, ist nicht mehr Gegenstand der syntaktischen Analyse, sondern Gegenstand der Formenlehre. Nach dem traditionellen Modell stellen die entsprechenden Paradigmen die Formen bereit. Ist eine syntaktische Konstituente gegeben, die als Dativ-Plural ausgewiesen ist, so sucht man das passende Paradigma für das fragliche Lexem (im Beispielsfall für das lexikalische Wort MANN oder FRAU) und findet die ‘richtige’ Form dort an der Dativ-Plural-Position. Ein derartiges Paradigma ist in Abb. 2a wiedergegeben. a. traditionell b. vereinfacht Abb. 2: Paradigma FRAU Legt man nun aber ein vereinfachtes (oder ‘unterspezifiziertes’) Paradigma wie in Abb. 2b zugrunde, das den beobachteten Synkretismen Rechnung trägt, so zeigt sich, dass das vereinfachte Paradigma die Aufgabe, die richtigen Formen für gegebene syntaktische Positionen zu liefern, ebenfalls erfüllt. 2 Das vereinfachte Paradigma enthält nun gar keine Dativ-Plural-Form; es enthält zum einen eine für Kasus nicht spezifizierte Singular-Form, die als solche für die zu besetzende syntaktische Position nicht in Frage kommt, und zum anderen eine ebenfalls nicht weiter subspezifizierte Plural-Form; nur diese ist 2 Zur Konzeption unterspezifizierter Paradigmen vgl. u.a. Williams (1981), Wiese (1991/ 1999) und Blevins (1995); zu unterspezifizierten Substantivparadigmen im Deutschen s. u.a. Blevins (2000), Thieroff (2000) und Eisenberg (2004). Zum Problem des Formensynkretismus 19 mit der vorgegebenen, d.h. syntaktisch geforderten, Spezifikation Dativ-Plural in einem offensichtlichen Sinn kompatibel. 3 Da die fragliche Form zugleich die einzige kompatible Form ist, die sich im Paradigma findet, ist der Auswahlprozess abgeschlossen: die für die syntaktische Position mit ihren kategorialen Anforderungen passende Ausdrucksform ist identifiziert. Der ambige Beispielsatz (1) kann ganz entsprechend behandelt werden, wenn die relevanten syntaktischen Strukturen, wie in (3a) und (3b) angegeben, unterschieden werden. Der Formenzusammenfall ist dagegen Sache der Morphologie: auch im Falle der schwachen Verben können problemlos vereinfachte Paradigmen angenommen werden, die im Präteritum schlicht keine Modusunterscheidung aufweisen. Analog zu den Paradigmentafeln aus der GDS ergibt sich Lösung D in Abb. 1. Dem Synkretismus wird in der Morphologie Rechnung getragen; dennoch wird die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Verben in der Syntax nicht sichtbar, so dass auch die Semantik in beiden Fällen analog laufen kann. Der scheinbare Widerspruch zwischen funktionsbezogenen, syntaxorientierten und formbezogenen, morphologieorientierten Anforderungen an Paradigmen verschwindet, wenn Syntax und Morphologie in geeigneter Weise getrennt werden. Die vollständigen kategorialen Spezifikationen der Konstituenten werden nur bei der Analyse syntaktischer Konstruktionen und in Hinblick auf die Semantik benötigt; von den konkreten Formen den Ausdrucksformen kann dabei abgesehen werden. In der Morphologie kommt es dagegen darauf an, die Ausdrucksformen gerade soweit zu spezifizieren, dass ihre Anwendungsspielräume eindeutig festgelegt sind. Offensichtlich ist diese Forderung auch bei vereinfachten Paradigmen erfüllbar. Für die Untersuchung des Baus der Paradigmen eröffnet sich damit eine neue Perspektive. Sind die Paradigmen einmal von den egalisierenden Schemata der Syntax gelöst, so können sie nun auf die inhärenten Regularitäten ihres Baus befragt werden. Im Folgenden geschieht dies mit Blick auf die nominalen Paradigmen des Gegenwartsdeutschen. Die Erörterung zielt in gänzlich informeller Weise auf die Faktoren, die den Paradigmenbau bestimmen. (Eine bestimmte formale Konzeption unterspezifizierter Paradigmen wird nicht vorausgesetzt.) 3 ‘Kompatibel’ kann im vorliegenden Zusammenhang in erster Annäherung heißen: die Spezifikation der Form im Paradigma ist eine Teilmenge der relevanten Kategorienmenge, die der syntaktischen Konstituente in der Markierungsstruktur zugeordnet ist, im Beispielsfall: {Plural} c {Dativ, Plural}. Vgl. aber die Erörterung von Kompatibilität und Spezifizität in Wiese (2004, Sec. 2.4). 20 Bernd Wiese 2. Nominalparadigmen 2.1 Paradigmenpositionen Das übliche Schema der Substantivdeklination (Abb. 3a) bietet ein Ordnungssystem mit acht Positionen, die in einem durch die Dimensionen von Numerus und Kasus bestimmten kategorialen Raum lokalisiert werden. Derartige Schemata erfassen aber die inhärenten Asymmetrien des Paradigmenbaus nur ungenügend, insofern unausgedrückt bleibt, dass die verschiedenen Paradigmenpositionen nicht als gleichrangig angesehen werden können: Die Numerusunterscheidung kann als grundlegend gelten; innerhalb der Numeri wird weiter nach Kasus unterschieden. Der Plural stellt gegenüber dem Singular den markierten Numerus dar; auch die Kasus unterscheiden sich hinsichtlich Markiertheit. Derartige Feststellungen erweisen sich als wesentlich, wenn man einem Verständnis der Verteilung formaler Kategorienkennzeichen in Paradigmen und der internen Struktur der Paradigmen näher kommen möchte. Aus markiertheitstheoretischer Sicht wird man erwarten, dass spezielle morphologische Kennzeichnungen bei numerusmarkierten bzw. kasusmarkierten Formen - und daher insbesondere bei zugleich numerus- und kasusmarkierten Formen auftreten werden. Die Grundstruktur der entsprechenden Paradigmen sollte aus formbezogener Sicht daher dem Schema in Abb. 3b entsprechen. a. Kasus-Numerus-Schema b. Markierungsschema kasusmarkiert numerusmarkiert IPPlIgP Abb. 3: Schemata für die nominale Flexion Traditionell wird der Nominativ den übrigen Kasus, den so genannten obliquen Kasus, gegenübergestellt. In der neueren Literatur ist dagegen eine Gruppierung der Kasus besonders herausgestellt worden, bei der Nominativ Zum Problem des Formensynkretismus 21 und Akkusativ einerseits der Gruppe aus Genitiv und Dativ andererseits gegenüberstehen. Typologisch-sprachvergleichende wie auch einzelsprachliche Beobachtungen sowohl funktionaler als auch formaler Art verweisen auf die Wichtigkeit dieser Gegenüberstellung. In der Tradition wird sie weniger deutlich: entsprechend fehlt auch eine eingefuhrte Bezeichnung. Man hat daher schon seit längerem die Termini Oblique, oblique Kasus, Obliquus auch in einem verengten Sinne als Oberbegriff für die ‘peripheren Kasus’ (im Deutschen: Dativ und Genitiv) verwendet, die den ‘Kemkasus’ (im Deutschen: Nominativ und Akkusativ) gegenüberstehen. 4 Nimmt man die so bestimmte Unterscheidung von Non-Obliquus und Obliquus als erste, d.h., übergeordnete, Kasusklassifikation an, die durch eine zweite, untergeordnete Gegenüberstellung der Objektskasus Dativ und Akkusativ und der übrigen Kasus, der Non-Objektskasus, ergänzt wird, so kann man die acht Positionen des traditionellen Paradigmas als Endpunkte eines dreistufigen Klassifikationssystems gewinnen (Abb. 4, mit Angabe nur der markierten Kategorien). Durch die Stufung des Systems und die Unterscheidung markierter und unmarkierter Kategorien werden die acht Positionen in eine Ordnung gebracht, die von den unmarkierten Nominativ-Singular- Formen bis zu den dreifachmarkierten Dativ-Plural-Formen reicht; letzte sind durch die gleichzeitige Zugehörigkeit zu den drei Kategorien Oblique, Objektiv und Plural (mit Oblique = Genitiv u Dativ und Objektiv = Akkusativ u Dativ) charakterisiert. Abb. 4: Markiertheitsordnung der Paradigmenpositionen 4 Vgl. u.a. Bierwisch (1967), Zwicky (1978), Zifonun (2001, S. 40); ferner Blake (1994, S. 32, 203f., zu ‘core cases’ vs. ‘peripheral cases’). 22 Bernd Wiese 2.2 Form-Funktions-Beziehung Die morphologische Markierung erfolgt bei den Substantiven durch Endungen, teils verbunden mit Stammvariation, nämlich Umlaut. Endungen können in Abhängigkeit von der Form des Stamms als schwahaltige oder schwalose Varianten auftreten (eine entsprechend explizite Lautung vorausgesetzt), die in der Schrift durch Setzung oder Auslassung von <e> unterschieden werden können (wie beispielsweise bei den Dativ-Plural-Formen Hunden und Adlern). Genauso alterniert die <e> geschriebene Endung in der Nominativ-Plural-Form Hunde mit Endungslosigkeit in der Nominativ- Plural-Form Adler, im Folgenden wird diese Variation nicht weiter erörtert. Die Notationen ‘-(e)’, ‘-(e)«’ und ‘-(e)s’ sind in dieser Hinsicht indifferent: sie decken ‘lange’ und/ oder ‘kurze’ Varianten ab (vgl. Bech 1963). Als die eigentlichen charakteristischen morphologischen Kennzeichen treten dann in den Endungen die konsonantischen Bestandteile (r, n und .v) hervor. Die Beziehung zwischen formalen Kennzeichen und den durch sie signalisierten Spezifikationen entsprechen teilweise Verhältnissen, wie man sie in einem morphembasierten morphologischen Modell erwarten könnte. Bei einer Dativ-Plural-Form wie Kindern bietet sich eine Zerlegung in Stamm, Pluralmorphem und Kasusmorphem an: Die -er-Endung kann als Pluralexponent angesehen werden. Sieht man vom eher peripheren Plural-.v ab, so hat auch -(e)s als Genitivexponent eine eindeutige Funktion. Bei der Betrachtung des dritten Endungskonsonanten, des Nasals, stößt man allerdings auf einen ganz anders gearteten Form-Funktions-Zusammenhang. Abb. 5 zeigt Anwendungsspielräume des nasalen Ausgangs in der nominalen Flexion, d.h. in der Substantivflexion und der schwachen Adjektivflexion. (Die pronominale Deklination bleibt hier außer Betracht.) Zugrunde gelegt ist die zuvor erläuterte Markiertheitsordnung. Abb. 5: Verteilung von Formen mit Nasalausgang Zum Problem des Formensynkretismus 23 Extremfalle bilden Paradigmen wie WAGEN, in denen alle Formen einen nhaltigen Ausgang aufweisen (ggf. gefolgt vom Genitiv-Kennzeichen wie in Wagens). Das andere Extrem stellen Paradigmen dar, in denen ein «-haltiger Ausgang nicht auftritt (wie etwa SOFA). Dazwischen steht eine Staffel von Fällen, angefangen von schwachen Maskulina (die betreffenden Adjektivformen eingeschlossen), wo der Nasal nur im Nominativ Singular fehlt, bis zu starken Maskulina, wo der Nasal nur im Dativ Plural steht; dazwischen liegen ferner die schwache Deklination bei Adjektiven im Femininum und Neutrum und der besprochene Typ der femininen Substantive. Zum Vergleich ist in Abb. 5 auch der im Frühneuhochdeutschen noch vorhandene Typ der Feminina, die die Nasalendung nur im Genitiv und Dativ Plural aufweisen, aufgeführt (wie etwa GEBE ‘Gabe’). Vom morphemischen Standpunkt stellt der Nasal-Marker den denkbar schlechtesten Fall dar. Bei einer Analyse der Substantivflexion, die von Morphemen Gebrauch macht, ergibt sich, dass alle Kasus- und Numerusmorpheme die Nasalendung als Allomorph besitzen, und daher auch umgekehrt, dass die Nasalendung als Marker für jede beliebige funktionale Kategorie, also jeden Kasus und Numerus, ja sogar jede beliebige Kasus-Numerus- Kombination, auftreten kann, aber auch jede derartige Kombination ohne diese Endung vorkommt. Auszunehmen wäre nur der Nominativ Singular, insoweit bei den betreffenden Substantiven der Nasal als Stammbestandteil gewertet werden muss. Eine morphemische Analyse trägt in diesem Fall zum Verständnis des Form- Funktions-Zusammenhangs nichts bei. Auf der anderen Seite kann man aus Abb. 5 ohne weiteres eine übergreifende Regularität für die Verwendung des Nasal-Markers entnehmen: Die betrachteten Paradigmen zerfallen jeweils in zwei zusammenhängende Teilbereiche, einen nach der Kategorienordnung geringer markierten und einen höher markierten. Der höher markierte hat das Nasalkennzeichen, der geringer markierte nicht. Im Grenzfall kann einer der beiden Bereiche leer sein. Die Funktion des Nasalmarkers liegt in der nominalen Deklination danach darin, bei einer vorgegeben Teilung eines Substantivparadigmas in einen unmarkierten und einen markierten Bereich diejenige Form zu kennzeichnen, die den markierten Bereich abdeckt. Legt man die Anwendungsbereiche der Nasalmarkierung wie in Abb. 6 quasi übereinander, so wird deutlich, dass die Verwendung dieses Kennzeichens dem oben in Abb. 3b dargestellten allgemeinen Markierungsschema genügt. 24 Bernd Wiese Aus Abb. 6 kann abgelesen werden, wie sich der Anwendungsspielraum für nasalmarkierte Formen zum einen an der Kennzeichnung des markierten Numerus, zum anderen an der Kennzeichnung höher markierter Kasus orientiert. Anders als beim Numerus kann beim Kasus die Grenze des formal markierten Bereichs unterschiedlich weit gezogen werden: Eine Unterscheidung von Kasusformen kann ganz fehlen, bevorzugt gekennzeichnet werden aber oblique Kasus (Dativ und Genitiv). Der Markierungsbereich kann darüber hinaus auf die Vereinigung der Kategorien Oblique und Objektiv ausgedehnt werden; umgekehrt können gerade die Formen in der Schnittmenge beider Kategorien besonders ausgezeichnet werden. Diese vier Optionen der Kasusmarkierung begründen vier Haupttypen nominaler Paradigmen, die in den folgenden Abbildungen zum Vergleich gestellt werden. (Der Aufbau der Abbildungen folgt dem Muster der vorhergehenden.) Obi. u . Obj. PI. u : vereinigt mit, n : geschnitten mit Abb. 6: Kennzeichnungsleistung von -(e)«-Formen 2.3 Paradigmentypen Beim minimal entwickelten Typ femininer Substantive (Abb. 7) fehlt eine Unterscheidung nach Kasus ganz; morphologische Markierung ist hier auf die Auszeichnung von Pluralformen beschränkt. Zum Problem des Formensynkretismus 25 PI. -(e)n Abb. 7: Paradigmentyp 1: Feminine Normaldeklination Abb. 8 zeigt die so genannte schwache (oder ‘adjektivische’) Deklination. Beim maskulinen Typ 2 (Abb. 8a) werden alle Kasus mit Ausnahme des Nominativs mit konsonantischen Endungen gekennzeichnet. Typ 3 (Abb. 8b), der für das Femininum und Neutrum gilt, unterscheidet sich vom vorhergehenden nur durch die Beschränkung der Kasusmarkierung auf die obliquen Kasus (Genitiv und Dativ). a. Maskulinum b. Neutrum/ Femininum PI. Obi. Abb. 8: Paradigmentypen 2 und 3: Schwache Deklination Abb. 9 zeigt den zentralen Paradigmentyp 4 das vollentwickelte Modell für die Deklination der unmarkierten Substantivklasse. Im Vergleich zu den übrigen Typen ist Typ 4 formal und funktional stärker ausdifferenziert. Bei Paradigmen aller Typen kommen neben Formen mit Nasalendung endungslose Formen oder Formen auf einfache Schwa-Endung vor. Bei den Typen 1, 2 und 3 wird aber die Unterscheidung von endungslosen Formen und Formen auf einfache Schwa-Endung innerhalb der Paradigmen nicht funktional. Erst beim stark gegliederten Paradigmentyp 4 kommt die Unterscheidung der beiden letzteren Formentypen zum Tragen: das dreielementige Grundrepertoire (endungslos, auf -(e), auf -(e)n) wird nur hier zur formalen 26 Bernd Wiese Kennzeichnung einer Dreigliederung des kategorialen Raums genutzt: unmarkiert markiert hochmarkiert. Die beiden betreffenden Endungen sind dabei auf den Plural sowie auf den Durchschnitt der Kategorien Oblique und Objektiv beschränkt, wobei die schwerere Endung -(e)n die Formen in der Durchschnittsmenge aller drei Kategorien auszeichnet. Der derart eng gezogene Bereich der Formenmarkierung deckt aber den besonders ‘kennzeichnungsbedürftigen’ obliquen Kasus Genitiv im Singular noch nicht ab. 5 Diese Lücke füllt das Genitiv-s. PI. Obi. Abb. 9: Paradigmentyp 4: Non-feminine Normaldeklination Während in Paradigmen, die überhaupt Kasuskennzeichen aufweisen, im Allgemeinen die Formen obliquer Kasus bevorzugt gekennzeichnet werden, ist beim Typ 4 im Dativ Singular die Endung -(e) in der Gegenwartssprache weitgehend geschwunden. (Darauf verweisen die eckigen Klammem in Abb. 9.) Dieser Abbau kann mit der Beobachtung in Beziehung gesetzt werden, dass sich die vorgestellten Paradigmentypen nicht nur durch die unterschiedliche Ausdifferenzierung hinsichtlich der Kasusmarkierung unterscheiden, sondern ebenso in charakteristischer Weise mit Bezug auf die Numemsmarkierung. Die Entwicklung der Substantivparadigmen ist bekanntlich durch die so genannte Numerusprofilierung geprägt: vielfach ist morphologisches Material (aus disparaten Quellen) im Plural bewahrt oder verallgemeinert worden, 5 Zur ‘Kennzeichnungsbedürftigkeit’ des Genitivs vgl. Steches ‘Grundsatz der Unterfallsonderung’, d.h., Prinzip der Genitivdifferenzierung (Steche 1927, S. 89). Zum Problem des Formensynkretismus 27 während dieselben Elemente in den betroffenen Paradigmen im Singular gegebenenfalls beseitigt worden sind (Hotzenköcherle 1962). Im Ergebnis sind insbesondere die Singular- und Pluralformen desselben Kasus bei den Typen 1 und 4 immer formal unterschieden. Es kann dann als weiterer Schritt zur Numerusprofdierung gedeutet werden, wenn auch die im Singular teils noch verbliebene Schwa-Endung, die beim Typ 4 gerade für die (kasusunspezifischen) Pluralformen charakteristisch ist, abgebaut und die Verwendung dieser Endung im Dativ-Singular im Gegenwartsdeutschen sehr stark eingeschränkt worden ist. 2.4 Verteilung der Paradigmentypen Die unterschiedliche und insbesondere unterschiedlich feine Aufgliederung des morphologischen Raums bei den verschiedenen Paradigmentypen korreliert mit ihren jeweiligen ‘Einsatzgebieten’. Die bezüglich Numems weniger differenzierenden Paradigmentypen der so genannten schwachen Deklination ‘passen’ zur Verwendung bei Adjektiven, wo Numerusunterscheidungen am ehesten entbehrlich scheinen. Von den Substantiven folgt diesem Typ nur die Sondergruppe der schwachen Maskulina (mit der Abweichung, dass schwahaltiger Ausgang im Nominativ Singular Stammbestandteil ist, wo er auftritt). Die schwachen Maskulina bezeichnen gewöhnlich belebte Wesen. Nominativ-Akkusativ- Differenzierung ist aber (nicht nur im Deutschen) gerade bei Bezeichnungen für Lebewesen besonders erwünscht. Ihr Vorliegen im Singular mag einen funktionalen Vorteil dieses Paradigmentyps darstellen, der hier die fehlende Numerusprofilierung aufwiegt. Einige wenige Substantive wie HERZ und FUNKE zeigen noch einen besonderen Mischtyp zwischen schwacher und starker Flexion. Die Typen 1 und 4 mit guter Numerusprofdierung bilden die eigentlichen substantivischen Deklinationen. Die Verteilung der Substantive auf diese beiden Typen ist durch das Genus gesteuert. Sie stellen die Normaldeklinationen für Feminina (Typ 1) bzw. Non-Feminina (Typ 4) dar. Die Zuweisung der Feminina zum vergleichsweise wenig ausgebauten Paradigmentyp 1 mit seiner fehlenden Kasusflexion entspricht dem markierten Status des Femininums in der Flaupteinteilung nach dem Genus, d.h. in der Unterscheidung Non-Femininum - Femininum. Für das Non-Femininum, also für Maskulina und Neutra, findet regelmäßig Typ 4 Anwendung. 28 Bernd Wiese Eine weitere Auffächerung, wie sie für unmarkierte bzw. relativ geringer markierte Systembereiche typisch ist, ergibt sich aus der Existenz zweier Varianten zu Typ 4, die besondere Formenbildungen zeigen. Die erste Variante zeichnet sich durch die zusätzliche Markierung der Pluralformen durch Umlaut, die zweite durch die Verwendung erweiterter Endungen (-er/ -ern statt -e/ -eri) aus, wiederum in Verbindung mit Umlaut, soweit die Stämme umlautfähig sind. Diese Varianten können als Fälle ‘verstärkter Pluralbildung’ charakterisiert werden (im Unterschied zur ‘einfachen Pluralbildung’ ohne Umlaut bzw. r-Erweiterung). Im unmarkierten Fall findet sich die erste dieser beiden Varianten bei Maskulina (wie BAUM), die zweite bei Neutra (wie KALB). Eine kleinere Gruppe Feminina schließt sich im Plural dem maskulinen Typ an. Wenn man die schwachen Maskulina und die Substantive mit .s-Plural als Sondergruppen betrachtet, so verbleibt der Hauptbereich der Substantive, in dem nun zwei Gruppen bezüglich der Pluralbildung unterschieden werden können: (5) a. Substantive der Normaldeklinationen mit einfachem Plural, nämlich mit (Nominativ-)Plural-Formen auf -{e)n bei Feminina und auf -{e) bei den übrigen, b. Substantive der Deklinationen mit verstärktem Plural, nämlich mit (Nominativ-)Plural-Formen auf -er mit Umlaut (soweit umlautfähig) bei Neutra und auf -(e) mit Umlaut bei den übrigen. Für den Singular gilt, dass im Regelfall alle Substantive, ausgenommen nur die schwach deklinierenden, den genusgebundenen Mustern der Normaldeklinationen (Typ 1 und 4) folgen. Ist das Genus gegeben, so ist im Hauptbereich der Substantive nur bei denjenigen mit ‘verstärkter Pluralbildung’ eine zusätzliche Angabe erforderlich, um die Deklinationsklasse herzuleiten. Nun besteht zwar offensichtlich durchaus nicht nur im Deutschen eine Tendenz, Deklinationsklassen und Genera in Deckung zu bringen, typischerweise ist diese Deckung aber in aller Regel nicht vollständig. Meist gibt es einige Substantive, bei denen Genus und Deklinationsklasse nicht so zusammenpassen, wie es nach den vorherrschenden Mustern zu erwarten wäre. Im Gegenwartsdeutschen handelt es sich um kleinere und kleinste Gruppen von Substantiven, die unerwartete Pluralbildungen zeigen d.h. Substantive, deren Pluralbildung gerade nicht dem Typ folgt, dem sie bei gegebenem Genus gemäß den angegebenen allgemeinen Verteilungsregularitäten folgen sollte. Zum Problem des Formensynkretismus 29 Einschlägige Fälle liegen vor, wenn unter den Substantiven mit einfachem Plural Non-Feminina (wie z.ß. STRAHL, M., oder AUGE, N.) dem femininen Muster (mit -(e)«-Plural) oder umgekehrt Feminina (wie z.B. KENNTNIS, DRANGSAL) dem non-femininen Muster (mit -(e)-Plural) folgen; und ebenso, wenn bei den Substantiven mit ‘verstärktem’ Plural Maskulina wie z.B. MANN oder GEIST dem Neutrum-typischen Muster (-er-Plural, ggf. mit Umlaut) oder umgekehrt Neutra (FLOSS, KLOSTER) dem Maskulinum-typischen Muster (-(e)-Plural mit Umlaut) folgen. Zur Herleitung der Deklinationsklassenzugehörigkeit der Substantive wird daher neben dem Merkmal ‘verstärkte Pluralbildung’ ein weiteres Merkmal ‘abweichende Pluralbildung’ benötigt (vgl. Wiese 2000). Sieht man von den Sondergruppen der schwachen Flexion und der Substantive mit .s-Plural ab, so sind diese beiden Merkmale für die Deklinationsklassenkennzeichnung zugleich hinreichend (vgl. die Beispiele in Abb. 10). HUND, M. BAUM, M.,* STRAHL, M., ! ! MANN,M.,*, ! ! SCHAF, N. KALB, N.,* AUGE,N., ! ! FLOSS, N., *, ! ! ZUNGE, F. MAUS, F., * DRANGSAL, F., ! ! (MARK), F., *, ! ! M.: Maskulinum, N.: Neutrum, F.: Femininum, *: verstärkte Pluralbildung,! ! : abweichende Pluralbildung Abb. 10: Genus- und Deklinationsklassenkennzeichnung: Beispiele HUND, SCHAF und ZUNGE benötigen wie die Mehrheit der Substantive lexikalisch kein Flexionsklassenmerkmal, die Genusangabe ist hinreichend: sie folgen den genusspezifischen Normaldeklinationen; vgl. (5a). Die übrigen haben eines der beiden Pluralbildungsmerkmale, nur eine Handvoll hat beide. BAUM, KALB und MAUS sind Substantive mit verstärkter Pluralbildung (in Abb. 10 durch gekennzeichnet), wiederum mit genusgesteuerter Variation; vgl. (5b). STRAHL, AUGE und DRANGSAL sind Substantive mit einfacher Pluralbildung und müssen als solche nicht besonders gekennzeichnet werden; sie sind aber durch ein geeignetes Merkmal als Substantive mit abweichender Pluralbildung auszuweisen (in Abb. 10 durch MF gekennzeichnet). MANN und FLOSS sind Substantive mit verstärkter Pluralbildung {-er bzw. -(e) mit Umlaut), die zudem gerade jeweils dem ihrem Genus nach nicht erwarteten Muster folgen (abweichende Pluralbildung). Feminina dieses doppelt markierten Typus existieren in der Standardsprache nicht (vgl. aber ugs. scherzhaft Märker zu MARK, F., ‘Münze’). 30 Bernd Wiese 3. Schluss Ausgehend vom Problem des Formensynkretismus hat die vorangehende Betrachtung zu einer formorientierten Analyse des Baus der nominalen Paradigmen des Gegenwartsdeutschen geführt. Traditionelle Darstellungen halten sich gewöhnlich mehr oder minder strikt an ein für alle Deklinationen einheitliches Acht-Felder-Schema. Unterschiede zwischen den Deklinationen stellen sich vorrangig als Divergenzen in der Formenbildung dar, also als unterschiedliche Füllungen des Acht-Felder-Schemas; Formelemente, die in verschiedenen Paradigmen unterschiedliche Anwendungsbereiche zeigen, müssen danach als mehrdeutig eingestuft werden. Insbesondere die oben beobachtete Verteilung des Nasalmarkers weist dagegen auf die Möglichkeit einer komplementären Betrachtungsweise: die scheinbare Vieldeutigkeit eines morphologischen Markers ergibt sich als Reflex unterschiedlicher Zerlegungen des morphologischen Raums; zu den verantwortlichen, den Paradigmenbau steuernden Faktoren gehören insbesondere Genus (Non- Femininum — Femininum) und Wortart (Substantiv — Adjektiv). Die sich ergebenden Paradigmentypen stellen sich dann als unterschiedlich ausgebaute Ausprägungen des allgemeinen Markierungsschemas dar, die für unterschiedliche Anwendungszwecke zur Verfügung stehen. Ihre Verschiedenheit ist kein ‘Mangel’, sie dient der Systemökonomie. 4. Literatur Bech, Gunnar (1963): Zur Morphologie der deutschen Substantive. In: Lingua 12, S. 177-189. Bierwisch, Manfred (1967): Syntactic Features in Morphology: General Problems of so-called Pronominal Inflection in German. In: To Honor Roman Jakobson. Essays on the Occasion of his seventieth Birthday. 11 October 1966. Vol. I. The Hague/ Paris: Mouton. (= Janua linguarum. Series maior 31). S. 239-270. Blake, Barry J. (1994): Case. Cambridge etc.: Cambridge University Press. (= Cambridge Textbooks in Linguistics 73). Blevins, James P. (1995): Syncretism and Paradigmatic Opposition. In: Linguistics & Philosophy 18, S. 113-152. Blevins, James P. (2000): Markedness and Blocking in German Declensional Paradigms. In: Stiebels, Barbara/ Wunderlich, Dieter (Hg.): Lexicon in Focus. Berlin: Akademie-Verlag. (= studia grammatica 45). S. 83-103. Eisenberg, Peter (2004): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 1. Das Wort. 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Mein roter Faden im roten Teppich für Gisela Zifonun ist dabei ihr Ansatz zum Projekt Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich} In diesem Projekt versuchen wir grammatischen Phänomenen des Deutschen dadurch gerecht zu werden, dass wir sie mit parallelen Phänomenen europäischer Sprachen kontrastieren. Als systematisch zu berücksichtigende Kemkontrastsprachen haben wir das Englische, das Französische, das Polnische und das Ungarische bestimmt; darüber hinaus kontrastieren wir nach Möglichkeit und Bedarf mit weiteren europäischen und außereuropäischen Sprachen. Dass eine solche Kontrastierung auch das Profil der deutschen Diminution und Augmentation konturieren hilft, hoffe ich in diesem Beitrag zumindest andeuten zu können. 2 Ich kontrastiere 1) die Nutzung der Wortbildungsmodelle Diminution und Augmentation 2) die Verwendung bestimmter Arten von Affixen 3) die Verwendung bestimmter Arten von Basen 4) die Semantik der Diminution und Augmentation 1. Diminution und Augmentation - Nutzung der Wortbildungsmodelle Möglichkeiten zur affixalen Diminution und Augmentation bestehen vom System her in allen von mir berücksichtigten Sprachen, sie werden aber keineswegs immer genutzt. Die unterschiedliche Nutzung macht sich natürlich 1 Ausfiihrlich beschrieben u.a. in Zifonun (2003a) und in http: / / www/ gra/ eurostudien. html. 2 Mein Beitrag basiert auf Donalies (2005a). 34 Elke Donalies bemerkbar bei allem, was ich im Folgenden über Diminution und Augmentation sagen kann. Deshalb will ich zuerst kurz darauf eingehen, inwieweit die beiden Modelle in den jeweiligen Sprachen überhaupt ausgebaut sind. Nach Mutz (2000, S. 141) ist die Diminution „sehr weit verbreitet“; die Augmentation ist universal zwar nicht unbedingt an eine vitale Diminution, aber immer „an die Präsenz von Diminutivmarkem gebunden“. Dem widersprechen auch meine Beobachtungen nicht: Die von mir berücksichtigten augmentierenden Sprachen haben, selbst wenn in ihnen nicht (mehr) vital diminuiert wird, zumindest einen gewissen Vorrat an Diminutivaffixen. Eine solche Sprache ist das Französische: Dort wird neuerdings zwar schwach vital augmentiert, aber trotz eines Vorrats an Diminutivaffixen wie -eau, -ette, -ine, -illon, -ot, -ard nicht vital diminuiert. „Bereits Meyer-Lübke stellt fest, dass das Französische bei weitem die ärmste romanische Sprache in bezug auf die Verwendung von Diminutiva sei“ (Würstle 1992, S. 70). Obwohl das Französische „relativ reich an Diminutivsuffixen ist“, ist „das Programm [...] kein offenes, keines der Suffixe kann frei zu Neubildungen verwendet werden“ (Bollee 2002, S. 64f.). 3 So u.a. auch Holzschuh-Neumann (1998, S. 83 lf.). „Die Handbücher des modernen Französisch erwähnen folgerichtig das Wortbildungsmuster der Diminution nicht“ (Würstle 1992, S. 67). 4 Mit seiner Abneigung gegen affixale Diminution stehen Französischsprecher isoliert in ihrer romanischen Sprachgruppe, vergleichbar allen Englischsprechem, die mit ihrer Diminutionsabneigung wiederum in ihrer germanischen Sprachgruppe isoliert dastehen. Offenbar hat die affixale Diminution im Englischen noch „nie eine große Rolle gespielt“ (Hansen et al. 1985, S. 109), heute jedenfalls ist sie trotz Präsenz einiger Diminutivaffixe wie -ie, -y, -let „de facto nicht mehr produktiv“ (Würstle 1992, S. 135). Augmentiert dagegen wird auch im Englischen heute schwach vital. In manchen Sprecherkreisen ist die Augmentation ja allgemein hip. 3 Ausnahmen sind Propria, bei denen „der Kreativität des Sprechers keine Grenzen gesetzt sind“ (Würstle 1992, S. 69), z.B. Jeanot <— Jean oder Jeannette <— Jeanne. Überhaupt sind Eigennamen am zugänglichsten für Diminution, so u.a. festgestellt für das Ungarische: „Perhaps the most common use of diminutives is with people's names“, z.B. ungar. Jdnoska, Jancsika, Jancsö, Jancsöka <— Janos (Rounds 2001, S. 233). Das hat natürlich mit dem vertraulichen, hypokoristisch zärtlichen Gebrauch besonders von Vornamen zu tun. 4 Allerdings beobachtet Mutz (2000, S. 113), dass die Diminutivsuffixe „nicht nur im Argot, sondern auch in der Sprache der Werbung neu belebt werden (vor allem -ette). [...] Man könnte von einem Recycling der Modifikationssuffixe in bestimmten Varietäten des Französischen reden“. Dem Väterchen sein Megahut 35 Sprachen, in denen so schwach vital wie im Französischen und Englischen affixaugmentiert wird, dagegen relativ vital diminuiert, sind die von mir berücksichtigten fmno-ugrischen und, abgesehen vom Englischen, die germanischen Sprachen: So wird im Deutschen schwach vital mittels Affix augmentiert und relativ vital mittels Affix diminuiert. Allerdings wirken affixale Diminutiva im Deutschen „dort, wo sie gehäuft auftreten, ausgesprochen manieriert. Selbst bei der direkten Anrede von Kindern scheint es eine gewisse Grenze der Erträglichkeit zu geben“ (Harden 1997, S. 137). Insofern verwundert es nicht, wenn meine kleine statistische Auswertung zweier Korpora, genauer: meine Auswertung einer Zufallsliste mit 1260 Nomina actionis, Nomina agentis, Motiva (also Movierungen) und Diminutiva aus dem Cosmas- Archiv geschriebener Texte sowie einer Zufallsliste mit 1816 Nomina actionis, Nomina agentis, Motiva und Diminutiva aus dem Duden in acht Bänden 5 einen prozentual geringen Anteil an Diminutiva ergab, nämlich für die Texte rund 64% Nomina actionis wie Lesung, rund 28% Nomina agentis wie Leser, rund 6% Motiva wie Leserin und nur 2% Diminutiva. Im Wörterbuch waren sogar weniger als 1% Diminutiva aufgenommen worden gegenüber rund 22% Motiva, rund 55% Nomina actionis und 22% Nomina agentis. 6 Unter den germanischen Sprechern sind übrigens die Niederländer als besonders diminutionsbegeistert bekannt; Klimaszewska (1983, S. 121) listet zahlreiche Diminutiva auf, die im Deutschen höchstens okkasionelle Entsprechungen haben, z.B. avondje *— avond ‘Abend’, tijdje <— tijd ‘Zeit’ oder wintertje <— winter ‘Winter’. „Es gibt kaum eine Kultursprache, in der Diminutiva so beliebt sind wie im Niederländischen, meint Brachin“ vielleicht ein wenig zu euphorisch (Braun/ Nieuweboer 2001, S. 170). Ebenso Daelemans et al. (1997). Vermutlich würden hier also die Häufigkeitsverhältnisse anders aussehen als im Deutschen. Die Möglichkeiten affixaler Augmentation dagegen scheinen ähnlich zurückhaltend wie im Deutschen genutzt zu werden. 5 Zufallserfasst wurden 1703 komplexe Substantive aus den IDS-Korpora geschriebener Sprache, von denen 1260 insofern relevant waren, als sie Nomina actionis, Nomina agentis, Motiva und Diminutiva waren bzw. enthielten, z.B. dt. Amateurspielerin, Kassaprüfungsaktion, Taucherwelt, und 2407 komplexe Substantive aus dem Duden, von denen 1816 in dieser Hinsicht relevant waren. 6 Für die kompetente Unterstützung in allen statistischen Fragen danke ich meinen IDS-Kollegen Cyril Belica und Franck Bodmer sehr! ! 36 Elke Donalies Auch im Ungarischen und Finnischen sind affixale Diminutiva „very common“ (Rounds 2001, S. 231); die affixale Augmentation ist ein auch dort eher schwach und erst neuerdings ausgebautes Modell. Am diminutions- und augmentationsbegeistertsten dürften slawische Sprecher sein. Schlechte Übersetzungen vom Polnischen oder Russischen ins Deutsche erkennt man daher an einer Überzahl von deutschen Väterchen, Mütterchen und Täubchen. Wie etwa Koeckes Korpusauswertung des Polnischen zeigt (Koecke 1994, S. 147), halten sprachbewusste Übersetzer dagegen zu fast 50% deutsche Nichtdiminutiva für adäquate Entsprechungen affixaler polnischer Diminutiva, z.B. poln. skörka und dt. Haut, nicht Häutchen, zu 3% auch phrasale Diminutiva, z.B. poln. salonik und dt. kleiner Sahn, nicht Salönchen. Schließlich wird, mit Ausnahme des Französischen, in den von mir berücksichtigten romanischen Sprachen, etwa im Spanischen und Italienischen, hoch vital diminuiert und augmentiert. In Bezug auf die Nutzung der Diminution (Dim.) und Augmentation (Aug.) ergibt sich also für das Deutsche im Vergleich zu den vier Kemkontrastsprachen Englisch, Französisch, Polnisch und Ungarisch (in der Tabelle hellgrau schattiert) sowie zu jeweils einem weiteren Vertreter der vier großen europäischen Sprachgruppen folgende Verteilung der Werte hoch vital, relativ vital, schwach vital und nicht vital: germanische Sprachen romanische Sprachen slawische Sprachen finno-ugrische Sprachen dt. en gk nl. span. jmln^ russ. .»"garfinn. Dirn. rel. vital nicht vital hoch vital nicht vital hoch vital hoch vital hoch vital rel. vital rel. vital Aug. schw. vital schw. vital schw. vital schw. vital hoch vital hoch vital hoch vital schw. schw. vital 2. Diminution und Augmentation die Affixe Affixale Diminution und Augmentation wird in den von mir berücksichtigten Sprachen durch Präfigierung und Suffigierung realisiert; Zirkumfigierung oder Infigierung spielen dabei keine Rolle. Präfixe sind vorangestellte Affixe, z.B. megain dt. Megahuf, Suffixe sind nachgestellte Affixe, z.B. -eben in dt. Väterchen. Dem Väterchen sein Megahut 37 Bei der Diminution und Augmentation fungiert ein Präfix oder Suffix ausschließlich als Determinans, d.h., es determiniert, bestimmt seine Basis semantisch näher.' So determiniert in Megahut das Präfix megadie Basis Huf. Ein Megahut ist ein Hut, und zwar ein besonders großer, ein besonders eindrucksvoller oder ein besonders überdimensionierter. In Väterchen determiniert das Suffix -chen die Basis Vater. Ein Väterchen ist ein Vater, und zwar ein besonders kleiner, ein besonders Hebens- oder auch besonders hassenswerter. „Spätestens seit Sapir ist bekannt, daß Suffixe in den Sprachen der Welt wesentlich häufiger sind als Präfixe. An psycholinguistischen, lemtheoretischen, informationstheoretischen und diachronen Erklärungsversuchen herrscht kein Mangel“ (Rainer 1993, S. 69). Vgl. dazu mit einem Kurzreferat der verschiedenen Hypothesen auch Stump (2001, S. 709ff.). Es gibt nach Naumann/ Vogel (2000, S. 941) viele Sprachen wie das Türkische, in denen vor allem mit Suffixen deriviert wird, aber nur sehr wenige Sprachen wie das Thai, in denen vor allem mit Präfixen deriviert wird. Der Zusammenhang zwischen allgemeiner Köpfigkeit einer Sprache und den von Sprechern bevorzugten Wortbildungsaffixen liegt nahe; allerdings bevorzugen Sprecher auch dann mitunter Suffixe, wenn ihre Sprachen systematisch Linksköpfigkeit anbieten, etwa bei Nominalphrasen, z.B. ital. handiera rossa ‘rote Fahne’, oder Komposita, z.B. frz. cigarette-filtre ‘Filterzigarette’. Suffixe dominieren also die meisten semantischen Modelle der großen europäischen Sprachgruppen; auch in der Diminution und Augmentation sind sie stark vertreten. Dies stelle ich nun jeweils für die Diminution und für die Augmentation getrennt dar, denn Präfixe und Suffixe sind interessanterweise an den beiden Modellen ganz unterschiedlich beteiligt. 7 In anderen Modellen haben substantivbildende Suffixe in den überwiegend rechtsköpfig ausgerichteten europäischen Sprachen wortkategorienverändemde Potenz. Ein typisches Modell der Wortkategorienveränderung ist die Bildung von Nomina qualitatis. So kann das Suffix -heit Adjektive wie schön, klug, sanft in die Kategorie Substantiv zu Schönheit, Klugheit, Sanftheit verschieben. Das haben substantivbildende Suffixe den substantivbildenden Präfixen voraus und übrigens auch allen anderen Konstituenten der Wortbildung eigentlich ein guter Grund, die Suffigierung (und nicht die Präfigierung) als etwas Spezielles zu behandeln. 38 Elke Donalies 2.1 Diminution die Affixe Bekannt ist die „bunte Vielfalt“ (Koecke 1994, S. 41) der etwa im Polnischen zur Diminution herangezogenen hoch vitalen Suffixe, die zudem a gusto immer weiter ableiten können, z.B. poln. babcia, babula, babunia, babusia, babusiunieczka ‘geliebte Großmutter, Großmütterchen’ <— baba ‘altes Weib’. Vgl. u.a. Engel/ Rytel-Kuc et al. (1999), Koecke (1994), Konopka (2003), Kurtzyk (2004). Hier besteht im Kontrast zum Deutschen eine „frappierende Disproportion in der Quantität der morphologischen Mittel, auch wenn beide Sprachen über ein lebendiges Modifikationsprogramm verfügen“ (Koecke 1994, S. 130). Eine der Besonderheiten romanischer und slawischer Diminutivsuffixe ist übrigens, dass die Basen die Suffixe hinsichtlich des Genus dominieren, z.B. ital. ragazzo m. ‘Junge’ —> ragazzetto m., gamba f. ‘Bein’ —» gambetta f., ora f. ‘Stunde’ —> oretta f, Romani raklo m. ‘Junge’ —> raklofo m. und rakli f. ‘Mädchen’ —> ■ raklori f. (Matras 2002, S. 75), poln. dom m. ‘Haus’ —» domek m„ kwiat m. ‘Blume’ — ► kwiatuszek m. und lampa f. ‘Lampe’ —> lampka f. Am ehesten gilt diese Dominanzregel wohl für sexusexplizierende Substantive. Nichtsexusexplizierende Substantive dagegen variieren jedenfalls in den romanischen Sprachen stark; Ausnahmen von der Dominanzregel sind hier so zahlreich, dass sie eigentlich schon keine Ausnahmen mehr sind, z.B. ital. manina f. <— mono m. ‘Hand’, villino m. <— villa f. ‘Haus’, orecchietta f. <— orecchio m. ‘Ohr’, travetto m. <— Irave f. ‘Balken’. Auch im Neugriechischen entsprechen Diminutivsuffix und Basis einander vor allem bei Substantiven, die den Sexus explizieren, z.B. pateräkos m. <— pateras m. ‘Vater’ oder pedäki n. <— pedi n. ‘Kind’ (Thomadaki 1988, S. 51). Dagegen bilden deutsche Diminutivsuffixe grundsätzlich Neutra, z.B. dt. Mann m. — ► Männchen n., Frau f. —> Frauchen, Fräulein n. Eine Ausnahme ist das inzwischen recht vitale Diminutivsuffix -/ (vgl. Mutz 2000, S. 137), z.B. dt. der Berti, der Studi, die Hedi, die Omi. Dazu schon Plank (1981, S. 255). Vgl. zum Genus in den europäischen Sprachen vor allem Hoberg (2004). Eine weitere Besonderheit ist, dass Diminutivsuffixe in einigen romanischen Sprachen wortkategorienvage sind: So kann etwa im Italienischen ein Diminutivsuffix wie -ino sowohl zur Diminuierung von Substantiven, z.B ragazzino ‘kleiner Junge’ <— ragazzo ‘Junge’, als auch zur Diminuierung von Adjektiven verwendet werden, z.B. bellino ‘hübsch’ <— bello ‘schön’ (Mutz Dem Väterchen sein Megahut 39 2000, S. 80ff.). So auch span, casita ‘Häuschen’ <— casa ‘Haus’ und feita ‘ein bisschen hässlich’ <— feo ‘hässlich’ (mit weiteren Beispielen Cartagena/ Gauger 1989, S. 258 und Harden 1997, S. 136), rumän. buchutel ‘kleiner Blumenstrauß’ <— buchet ‘Blumenstrauß, Bouquet’ und frumu$el ‘hübsch’ <— frumos ‘schön’ (Iliescu 2003, S. 549). Dagegen erzeugt im Deutschen ein Diminutivsuffix wie -chen ausschließlich Substantive, ganz gleich, welche Basen es ableitet, z.B. Kindchen, Naivehen. Zur Diminuierung von Adjektiven werden im Deutschen ausschließlich adjektivische Suffixe verwendet, z.B. -lieh in bläulich. Im Deutschen gilt also relativ eisern die Regel der Wortkategorienkonstanz von Suffixen; in einigen romanischen Sprachen wird diese ansonsten dort ebenfalls geltende Grundregel im Fall der Diminution zugunsten einer Konstanz der semantischen Funktion der Diminutivsuffixe hintangestellt. Auch im Ungarischen und Finnischen dominiert bei der Diminution die Suffigierung, z.B. ungar. kezeeske <— kez ‘Hand’, asztalka *— asztal ‘Tisch’, fmn. kalanen <— kala ‘Fisch’, kirjanen <— kirja ‘Buch’. Es konkurrieren eine Reihe Suffixe miteinander, die auch bereits diminuierte Basen weiter diminuieren können, z.B. ungar. kutyu, kutyus, kutyuska <— kutya ‘Hund’ (Rounds 2001,S. 232f.). Im Deutschen werden im Wesentlichen nur zwei diminutive Suffixe verwendet, nämlich -chen und -lein, allerdings anders als bei anderen deutschen Suffixen mit etlichen dialektalen Varianten wie in Spässken, Spässle, Spässli, Spasserl. Peripher ist die Diminution mit -ling, z.B. Dichterling, oder -el, z.B. Bändel, sowie die Diminution mit Lehnsuffixen wie -ette oder -eile. Offenbar zunehmend in Gebrauch kommt die Diminuierung mit dem Suffix -/ , die sich leider gegen jede leichte Linguistenanalyse sperrt, denn die Basen sind hier Kraut und Rüben, z.B. in Sponti, Vati, Sozi, Brummi, Ami, Ersti ‘Erstsemester’, Hedi, Klinsi, Schlaffi, Grufti. So übrigens auch im Ungarischen offenbar vermehrt miki <— mikrofon, esoki <— csokoläde, Feri <— Ferenc (Kenesei et al. 1998, S. 353). Hübsch ordentliche Basen, wie per definitionem für substantivische Diminutiva verlangt, nämlich intakte Substantive, die durch das Suffix determiniert werden, haben -/ -Derivate kaum; Ausnahmen sind z.B. dt. Kurti, Mausi und Schatzi. Soweit zu den diminutiven Suffixen. Schauen wir uns nun die diminutiven Präfixe an: Indigene Diminutivpräfixe sind mir aus keiner der von mir berücksichtigten Sprachen bekannt. Gemeinsam ist aber allen von mir berück- 40 Elke Donalies sichtigten europäischen Sprachen die offenbar zunehmende Nutzung des klassischsprachigen Lehnpräfixes mini-, z.B. dt. Minisender, engl, minicab ‘Kleintaxi’, frz. mini-greve ‘kleiner Streik’, ungar. minibdr ‘Minibar’, türk. minibüs ‘Kleinbus’. Vermutlich wollen damit vor allem die nicht vital affixdiminuierenden Englisch- und Französischsprecher systematische bzw. normatische Lücken in der Diminution füllen; ob sich dieser Trend ausbreitet und durchsetzt, ist noch nicht absehbar. 2.2 Augmentation die Affixe Auch bei der Augmentation dominieren in vielen Sprachen die Suffixe, so in den romanischen und slawischen Sprachen und im Neugriechischen, z.B. ital. tipaccio ‘großer Kerl, Hüne’ <— tipo ‘Kerl’, span, cochazo ‘Wahnsinnsauto’ <— coche ‘Auto’, port, animalago ‘großes, ungeschlachtes Tier’ <— animal ‘Tier’, rumän. cäsoaie ‘Riesenhaus’ <— cäsa ‘Haus’, poln. szafsko ‘großer, geräumiger Schrank’ <— szafa ‘Schrank’, sorb, pazorak ‘große Wolke’ <— pazor ‘Wolke’, russ. gorodisca ‘große Stadt’ <— gorod ‘Stadt’, neugriech. andrüklas ‘großer Mann, Hüne’ <— andros ‘Mann’. Hier korreliert die Hochvitalität des Modells mit einer Hochvitalität der Suffixnutzung. Im deutlich weniger vital augmentierenden Deutschen dagegen wird wie in anderen germanischen Sprachen generell nicht mittels Suffix augmentiert; hier finden sich aber einige augmentative Präfixe, zum einen wiederum klassischsprachige Lehnpräfixe wie mega-, hyper-, ultra-, die das Deutsche mit den meisten anderen europäischen Sprachen gemeinsam hat, zum anderen aber auch indigene Präfixe, 8 und zwar sowohl solche, die ausschließlich augmentieren, z.B. erzin Erzschurke, Erzdummheit, als auch solche, die überwiegend andere Modelle realisieren und nur sporadisch auch zur Augmentation herangezogen werden, etwa das vor allem als Negationspräfix An dieser Stelle wäre ein Zahlenvergleich der in den einzelnen Sprachen vorhandenen Affixe aufschlussreich. Was allerdings Mollidor (1998, S. 7) für französische Präfixe feststellt, gilt allenthalben: „Der Mangel an präzisen und allgemein akzeptierten Kriterien für die Definition von Präfixen kommt auf den ersten Blick sehr gut in den quantitativ recht unterschiedlichen Inventarlisten von Präfixen zum Ausdruck: Während Nyrop 50 Wortbildungselemente als Präfixe klassifiziert, beläuft sich die Anzahl [...] bei Togeby auf 13; Hall spricht wiederum von 95 und im Petit Larousse von 1961 findet sich eine Tafel mit 260 Präfixen“. Vgl. dazu auch Bollee (2002, S. 48). Man müsste also erst mal gemeinsame Kriterien entwickeln, aus denen sich vergleichbare Anzahlen ergeben könnten. Solche Kriterien stehen noch aus. Dem Väterchen sein Megahut 41 gebräuchliche un-, z.B. in Ungnade, Unmensch, Unwort, das nur vereinzelt Augmentativa wie Unsumme ‘besonders große Summe’ bildet, oder das vor allem Chronologie ausdrückende Präfix ur-, z.B. in Urgroßvater, Urmensch, Urschrift, das nur vereinzelt Augmentativa wie Urgauner bildet. Mitunter etablieren sich hier sogar Doppeldeutungen, z.B. Untiefe als Negativum ‘keine Tiefe, flache Stelle’ und Untiefe als Augmentativum ‘große Tiefe, besonders tiefe Tiefe’. Alle drei Präfixe leiten übrigens auch Adjektive ab, wobei die Präfixe ur- und erzausschließlich augmentieren, z.B. urgemütlich, erzkonservativ, während das Präfix un- Adjektive nicht augmentieren kann, sondern nur negieren, z.B. unschön. In Konkurrenz zu den affixalen Augmentativa stehen im Deutschen die in manchen Kontexten recht vital gebildeten Komposita des Typs Riesensache, Mordsfreude, Wahnsinnsauto. Hierin zeigt sich übrigens recht anschaulich, dass im Deutschen die kompositorische mit der derivatorischen Begriffsbildung stark konkurriert; nicht selten gewinnt die Komposition. Bei der Diminution allerdings hat die Derivation gewonnen; hier konkurrieren lediglich einige Komposita mit klein wie Kleinwagen oder mit auffälligem winzig wie in Platz für ein Winzig-Woodstock, ein Festival von Schulbands aus dem Kanton Zürich (Züricher Tagesanzeiger, 30.06.1997, S. 14, IDS- Korpora), die Wildbader Winzig-Bühne (Mannheimer Morgen, 19.07.2001, o.S., IDS-Korpora), einen Winzighund, einen Chihuahua (http: / / www. nachrichten. at vom 8.12.2004). Solche Komposita können zudem meist nicht das ganze Spektrum diminutiver Semantik ausdrücken, sind also nur teilweise konkurrent. Vgl. mit weiterfuhrender Literatur zur Komposition des Deutschen im europäischen Vergleich Donalies (2004). 3. Diminution und Augmentation die Basen Die Basen substantivischer Diminutiva und Augmentativa sind naturgemäß selbst Substantive, denn die Wortbildungsmodelle der Determination sehen per defmitionem keine Umkategorisierung, d.h. keine Verschiebung der Wortkategorie vor; bei derlei Modellen wird ausschließlich determiniert, z.B. Vater —* Väterchen? Deverbalia des Typs frz. sucette ‘Lutscher’ <— sucer ‘lutschen’ oder Deadjektiva wie dt. Blondchen, nl. blondje rechne ich nicht zur Diminution, auch wenn sie der Suffixe wegen wie Diminutiva des Typs frz. chevrette ‘kleine Ziege’, dt. Kindchen, nl. kindje aussehen, aber Diminution wird ja als ein Modell der Determination definiert und bei Blondchen ist 42 Elke Donalies Basen können die verschiedensten Typen von Substantiven sein, etwa simplizische Substantive wie Vater in dt. Väterchen oder komplexe Substantive wie Hüpfer in dt. Hüpferchen. In den diminutions- und augmentationsbegeisterten Kontrastsprachen werden häufiger auch Diminutiva bzw. Augmentativa weiter diminuiert bzw. augmentiert, z.B. afrikaans huis ‘Haus’ —> huisie —> huisietjie (Booij 2002, S. 93), span, chico ‘Junge’ —>• chiquito —>• chiquitillo, hombre ‘Mann’ —> hombracho —> hombrachön, ital. tavolo ‘Tisch’ —>• tavolino —> tavolinetto, poln. kot ‘Katze’ —> kotek —> kotecek, türk, anne ‘Mutter’ —«• annecik —> annecegim. Die Diminuierung einer bereits diminuierten Basis ist im Deutschen zwar möglich, aber auffällig, z.B. dt. Muttileinchen (Frankfurter Rundschau, 17.04.1999, S. 1, IDS-Korpora), Ein Protestzügeleinchen, zum letzten Mal, gegen die Zerstörung der Elbuferlandschaft von Altenwerder durch den Hafenausbau. Rührend! (Zeit, 13.06.1997,8. 47). Ungewöhnlich ist die Diminuierung von Pluralen, z.B. im vielzitierten dt. Kinderchen. So auch port, amigozinhos, walis. bechgynnos ‘kleine Jungen’ (Mutz 2000, S. 79). Im Deutschen gilt diese Diminuierungsoption nur für -er-Plurale, z.B. Bilderchen, Blätterchen, Bretterchen, Eierchen, Engelskleiderchen, Hühnerchen, Liederchen, Viecherchen (taz 1986-1998, IDS-Korpora), aber * Tierechen, *Nasenchen, *Parkschen. Basen von Diminutiva und Augmentativa können allenthalben Konkreta, aber auch Abstrakta sein wie dt. kein Aufschreilein nirgends (Zeit, 22.08.1997, S. 41, IDS-Korpora), Alltagskümmerchen (FAZ 1995, o.A., IDS- Korpora), Hoffnüngchen, Freiheitchen, Zweifelchen, Visiönchen (alle taz 1986-1998, IDS-Korpora). So auch span, revueltita ‘Revolutiönchen’ <— revuelta, poln. ambicyjka ‘kleinliche Ambition’ <— ambicja, tschech. bebedlo ‘Wehwehchen’ <— bebe, russ. skandalisce ‘Riesenskandal’. Als Basis herangezogen werden häufig auch Zeitangaben wie in dt. Stündchen, nl. jaartje ‘Jährchen’, ital. oretta ‘Stündchen’, span, minutito ‘Minütchen’, poln. roczek ‘Jährchen’, ungar. ördcska ‘Stündchen’. das Affix eindeutig kein Determinans, die Basis eindeutig kein Determinatum: Blondchen ist keine in ihrem semantischen Umfang eingegrenzte Eigenschaft blond, sondern eine Personenbezeichnung. Im Gegensatz dazu liegt Diminution vor bei Adjektiven wie dt. bläulich, span, dificilillo ‘ein bisschen schwierig’ <— dißcil oder bei Verben wie dt. lächeln und ital. salterellare ‘hüpfen’ <— saltare ‘springen’. Deverbalia des Typs ital. beone ‘Trinker’ <— bere ‘trinken’ oder Deadjektva des Typs ital. intelligentone ‘sehr intelligenter Mensch’ <— intelligente rechne ich aus den gleichen Gründen nicht zur Augmentation. Dem Väterchen sein Megahut 43 Eine Besonderheit deutscher Diminutiva ist die relativ regelmäßige Umlautung diminuierter Basen, z.B. dt. Bändchen, Händchen, Hündchen, Stündchen, Möndchen. Umgelautet wird auch in Okkasionalismen wie Pathöschen (taz 17.11.1995, S. 10, IDS-Korpora) oder Alltagskümmerchen. Daneben aber auch Tantchen, Malerchen, Luderchen, Dackelchen, Hotelchen. Die umgelauteten Basisvarianten finden sich mal im Flexionsparadigma, z.B. bei Bänd-, Händ-, Bünd-, mal nicht, z.B. bei Hund-, Stünd-, Mond-. Immer sind sie aber übliche Varianten der affixalen Derivation: So wird z.B. Hündauch zur Derivation von hündisch oder Hündin verwendet. Bei der Augmentation, die ja im Deutschen ausschließlich mit Präfixen realisiert wird, wird dagegen nicht umgelautet. Umlautung ist in der deutschen Substantivbildung generell an Suffixe gebunden; basisumlautende Substantivpräfixe gibt es im Deutschen nicht. 10 4. Diminution und Augmentation die Semantik Diminution und Augmentation sind verschwisterte Gegenmodelle. Semantisch geht es um Verkleinerung bzw. Vergrößerung und um Affekt: Bei der Diminution (zu lat. diminuere ‘verkleinern, verringern’) soll ausgedrückt werden, dass etwas kleiner ist als erwartet, z.B. ungar. madärka ‘Vögelchen’ <— madär ‘Vogel’; bei der Augmentation (zu lat. augmentare ‘vergrößern, vermehren’) soll ausgedrückt werden, dass etwas größer ist als erwartet, z.B. poln. domisko ‘auffallend großes Haus’ <— dom ‘Haus’. Verbunden damit ist bei affixalen Diminutiva bzw. Augmentativa meist eine positive oder negative Wertung," also einerseits ein verniedlichendes, liebevolles Kleinmachen, z.B. russ. matuska ‘liebes, verehrtes Mütterchen’, bzw. ein bewunderndes Großmachen, z.B. poln. byczysko ‘großer, starker Stier’ <— byk ‘Stier’, span. cochazo ‘Wahnsinnsauto’ <— coche ‘Auto’ (Rainer 1993, S. 199), andererseits ein spöttisches, gehässiges Kleinmachen, z.B. nl. het is maar een leraartje ‘er ist nur ein einfaches Lehrerlein’ (Braun/ Nieuweboor 2001, 5. 170), rumän. bro§uricä ‘unbedeutende Broschüre’ (nach Iliescu 2003, S. 549), russ. gorodisko ‘Kaff <— gorod ‘Stadt’, bzw. ein spöttisches, gehässiges Übergroßmachen, z.B. ^o\n. ptaszysko ‘abstoßend großer Vogel’ <— ptak ‘Vogel’. 10 Vgl. dagegen Verbderivate wie dt. bewähren <— wahr, verbünden <— Bund. 11 Die Einschätzung in der älteren Forschungsliteratur, dass spanische Diminutivsuffixe Ausnahmen bilden, indem sie generell erst gar nichts über Größe aussagen, sondern ausschließlich Affektivität anzeigen, ist offenbar heute widerlegt. Vgl. dazu Mutz (2000, S. 99). 44 Elke Donalies Mit Mutz (2000, S. 38) gehe ich davon aus, dass „die qualifizierenden Merkmale {gut} und {schlecht} als Teil der Semantik der Modifikationssuffixe anzusehen sind und nicht bloß als sogenannte Konnotationen“. Ähnlich schon Gooch (1970) und Plank (1981, S. 94). Die relativ seltenen Bezeichnungen des Typs dt. Blutkörperchen, Moostierchen beinhalten als wissenschaftliche Termini eventuell keine Wertung; unterminologisch haben aber auch sie durchaus etwas Affektiges: Man möchte ihm doch gern mal durchs Haar wuscheln, dem Moostierchen, oder? Diminution und Augmentation stelle ich im Folgenden getrennt dar, denn auch hier sind die Ausprägungen in den einzelnen Sprachen variant. 4.1 Diminution die Semantik In der ganzen Welt „scheint der Diminutivgebrauch begünstigt zu werden, wenn der Gesprächspartner ein Kleinkind ist oder zwischen den Gesprächspartnern eine familiäre Vertrautheit herrscht“ (Rainer 1993, S. 125). „Diminutives are frequently used when speaking to pets, or as pet-name markers“ (Jurawsky 1996, S. 563). Jurawsky (ebd., S. 564) formuliert als universale Tendenz, dass „‘child’ gives rise to ‘diminutive’: Diminutives arise from semantic or pragmatic links with children“. Vgl. zu weiteren soziologischen Aspekten u.a. Rainer (1993, S. 578ff.) und Mutz (2000, S. 38ff). In der Forschungsliteratur als exotisch eingestuft wird die in ländlichen Gegenden Lateinamerikas übliche Sitte, Respektspersonen mit Diminutiva anzureden, z.B. patroncito. Ähnliche Sitten beobachtet aber auch Jurawsky (1996, S. 571) u.a. für das Chinesische und Japanische: „The diminutive in Chinese is also connected with respect. The Mandarin diminutive suffix -zi ‘child’, also has the sense ‘Count, Earl’, which later marked names of scholars, whence, presumably it entered Japanese as a suffix -ko on aristocratic women's names“. Auch in anderen Sprachen, etwa dem Polnischen, „besteht die Usance, im persönlichen Austausch, im alltäglichen Umgang [...] Höflichkeit durch Diminutive zu bekräftigen“ (Koecke 1994, S. 266). Dagegen ist es im Deutschen „grundsätzlich unüblich, Respektspersonen gegenüber in welcher Situation auch immer - Diminutive zu gebrauchen“ (Schmitt 1997, S. 419). In einigen Sprachen haben sich zwischen den beiden Skalenpolen positiver und negativer Wertung systematische Nuancen entwickelt. So können nach Kahramantürk (1999, S. 114) im Türkischen Diminutiva mit speziellen Suf- Dem Väterchen sein Megahut 45 fixen hauptsächlich Empathie ausdrücken, z.B. yavrucagiz ‘armes, mitleiderregendes Kind’ versus yavrucug ‘Kindchen’. „Durch das emotional-wertende Bedeutungselement erfährt man eher etwas über die Gefühlshaltung des Sprechers als über besondere Charakteristika des bezeichneten Objekts. Diesem nicht unwesentlichen Umstand ist vor allem im Hinblick auf den Übersetzungsvergleich Rechnung zu tragen“ (Koecke 1994, S. 80). In hypokoristischen Kontexten, etwa beim Sprechen mit Kindern und Haustieren, können affixale Diminutiva sogar vorrangig affektiv sein. So kann etwa im Polnischen beim hypokoristischen Sprechen ein Diminutivum wie mleczko <— mleko ‘Milch’ verwendet werden, das hauptsächlich das Hypokoristische der Ansprache markiert und ins Deutsche nur undiminutiv mit Milch übersetzbar ist. 4.2 Augmentation die Semantik Das spöttische, gehässige Übergroßmachen wie in poln. ptaszysko ‘abstoßend großer Vogel’ <— ptak ‘Vogel’ wird in der Forschungsliteratur mitunter als eigenes Modell Pejoration separiert. In einigen Fällen ist eine Separierung nicht unabdingbar, denn die negative Wertung ist ja im Modell Augmentation per se enthalten. So würde ich etwa poln. ptaszysko augmentativ lesen als ‘besonders großer und deshalb ungelenker, abstoßender, hässlicher Vogel’. Eine Separierung ist aber auf jeden Fall dort erhellend, wo es eindeutig nicht um Größe geht und die negative Wertung auch nicht bereits von der Basis vorgegeben wird, z.B. span, libraco ‘schlechtes Buch, Schundroman’, comistrajo ‘vergammeltes Essen’, ital. parolaccia ‘Schimpfwort’, ragazzaccio ‘Lausejunge’. Vgl. dazu u.a. Rainer (1993), Schpak-Dolt (1999). Mitunter haben sich Suffixe sogar auf Pejoration spezialisiert: „Das ist z.B. mit dem Suffix -accio passiert, das im Italienischen von einem Augmentativsuffix (vollspezialisiert für {groß}) zu einem Pejorativsuffix (vollspezialisiert für {schlecht}) geworden ist“ (Mutz 2000, S. 64). So auch span. mujeruca ‘liederliche Weibsperson’ versus mujerona ‘große, stattliche Frau’ (Schpak-Dolt 1999, S. 96f). Eigene Wortbildungsaffixe zur Bildung rein pejorativer Begriffe wie span. libraco ‘schlechtes Buch’ <— span, libro ‘Buch’ gibt es im Deutschen nicht. „Ansätze zur Bildung einer solchen Inhaltsgruppe finden wir bei -ling“ (Cartagena/ Gauger 1989, S. 319), z.B. dt. Dichterling, Schreiberling. Auch das Lehnpräfix hyper- (zu lat. hyper ‘über’) neigt zur negativen Abwertung, z.B. die pathologische Bewegungsvermehrung {Hypermobilität) (Die Presse, 46 Elke Donalies 28.04.1995, o.S., IDS-Korpora). Vgl. aber augmentierend positiv in wie sich unsere Welt durch einen wirksameren und sparsameren Einsatz von Rohstoffen und Energien umkrempeln und retten läßt vom Hyperauto, das nicht einmal zwei Liter auf 100 Kilometer verbraucht, über Haushaltsgeräte, die mit drei Viertel weniger Strom laufen (Neue Kronen Zeitung, 01.09.1995, o.S., IDS-Korpora). 5. Resümee Während einige semantische Modelle der affixalen Substantivbildung im Deutschen und in den von mir berücksichtigten Kontrastsprachen gleichermaßen vital genutzt werden (u.a. die Bildung von Nomina agentis des Typs dt. Schreiber, engl, writer, nl. schrijver, afrikaans skrywer, frz. ecrivain, ital. scrittore, poln. pisarz, tschech. spisovatel, lit. rakstnieks, ungar. irö, fmn. kirjailija, estn. kirjanik, türk, yazar, kurd. niviskar), ist die Varianz bei den einander ergänzenden Modellen Diminution und Augmentation relativ hoch: Was die Diminution betrifft, steht das Deutsche inmitten; seine Sprecher sind deutlich diminutionsfreudiger als die exzentrisch diminutionsabholden Sprecher der beiden Ausreißersprachen Englisch und Französisch, aber im Vergleich zu den Sprechern nah verwandter Sprachen wie dem Niederländischen oder ferner verwandter Sprachen wie dem Italienischen, Spanischen, Polnischen oder Russischen als eher zurückhaltend einzustufen. In Donalies (2001) habe ich bereits meine Freundin mit der tiefen, unausredbaren Abneigung gegen Diminutiva erwähnt; sie ist typische Sprecherin eines bewusst gepflegten Deutsch. Was die Augmentation betrifft, augmentieren Sprecher des Deutschen genauso wie Sprecher des Englischen, Französischen, Ungarischen und Finnischen äußerst spröde, vor allem im Kontrast zu den meist abundant augmentierenden Sprechern romanischer und slawischer Sprachen. Zur Diminution werden im Deutschen wie in allen von mir berücksichtigten Sprachen überwiegend Suffixe verwendet; präfigiert wird nur mit dem entlehnten mini-, das neuerdings auch in den bislang diminutionsinvitalen Sprachen genutzt wird; ob sich deren Diminution dadurch wiederbelebt, ist noch nicht absehbar. Das Deutsche nutzt im Wesentlichen zwei seiner Diminutivsuffixe, nämlich -eben und -leim, hoch vital diminuierende Sprachen haben meist wesentlich mehr vielgenutzte Diminutivsuffixe. Die Diminutivsuffixe sind im Deutschen überwiegend genusinvariant Neutrum; in romanischen und slawischen Sprachen dagegen dominiert mitunter die Basis das Genus des gesamten Derivats. Das widerspricht dem Kopfstatus von Suffixen und Dem Väterchen sein Megahut 47 kommt interessanterweise nur in der Diminution vor, warum auch immer. Im Deutschen sind Diminutivsuffixe außerdem wortkategorienkonstant Substantive; in romanischen und slawischen Sprachen sowie im Neugriechischen dagegen können mit ein und demselben Diminutivsuffix nicht nur Substantive, sondern auch Adjektive gebildet werden. Zur Augmentation werden im Deutschen im Gegensatz zu den meisten romanischen und slawischen Sprachen keine Suffixe, sondern nur Präfixe verwendet; das hat das Deutsche gemeinsam mit den anderen germanischen Sprachen und mit dem Ungarischen und Finnischen. Das Repertoire der Präfixe ist hier aber breiter als das der Diminution, das sich auf das entlehnte Präfix minibeschränkt; Augmentation wird im Deutschen sowohl mit einigen klassischsprachigen Lehn-, als auch mit indigenen Präfixen realisiert. Vor allem zur Bildung augmentativer Begriffe nutzen deutsche Sprecher aber eher die Komposition. Als Basen substantivischer Diminutiva und Augmentativa kommen in den von mir berücksichtigten Sprachen grundsätzlich alle Substantive in Frage; die grundsätzliche Möglichkeit wird je nach Vitalität der Modelle in den einzelnen Sprachen genutzt: Hohe Vitalität auf der einen Seite, schwache Vitalität auf der anderen Seite wirkt sich naturgemäß auch auf die Höhe der Frequenz und die Freiheit der Kreativität aus. Das Deutsche erlaubt hier von der Norm her weitaus weniger als das Niederländische oder die meisten slawischen und romanischen Sprachen, aber weitaus mehr als das Englische und Französische. Dass auch die Auffächerung oder Spezialisierung der Semantik von der Vitalität eines Modells abhängig ist, kann dagegen nicht in allen Fällen behauptet werden. So wurden etwa im wohl weniger diminutionsvitalen Türkischen spezielle Suffixe zum reinen Ausdruck freundlicher Empathie entwickelt, die es im vergleichsweise diminutionsvitaleren Deutschen nicht gibt. In gewisser Hinsicht korreliert aber die Vitalität der Modelle affixaler Diminution und Augmentation merklich mit der Ausprägung mancher eigener Semantiken. So gibt es im nur schwach augmentationsvitalen Deutschen Pejoration nur marginal, in den romanischen und slawischen Sprachen, in denen hoch vital augmentiert wird, ist dagegen die Pejoration ein klar separierbares eigenes Modell. 48 Elke Donalies 6. Literatur Adamzik, Kirsten ( 2 2004): Sprache - Wege zum Verstehen. Tübingen/ Basel: Francke. (= UTB für Wissenschaft 2172). Barz, Irmhild/ Schröder, Marianne (2001): Grundzüge der Wortbildung. 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Der vorliegende Beitrag 1 greift diesen Gedanken auf und erweitert ihn zum Modell einer über die Nominalgruppe und ihren Kontext verteilten Numerus- und Zählbarkeitssemantik. 1. Zur semantischen Struktur der Nominalgruppe 1.1 Substantive Die konzeptuell-semantische Basis der Nominalgruppe ist zweifellos das Substantiv. Substantive sind Prädikatsausdrücke (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1952), denen in der Nominalgruppe die Aufgabe zukommt, zu beschreiben, von was für einer Art von Entität die Rede ist. Sie ordnen eine besprochene Entität einer Kategorie zu. 2 Substantive können allein eine Nominalgruppe bilden. Solche „minimalen Nominalgruppen“ (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1927) können prädikativ, aber auch referentiell verwendet werden (vgl. Lyons 1977, S. 177f.): 1 Für wertvolle Hinweise danke ich Lutz Gunkel. 2 In der formalen Semantik wird die Bedeutung von Substantiven oft extensional als die Menge detjenigen Objekte bestimmt, über die das Substantiv wahr prädiziert werden kann (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1952ff., Eisenberg 1999, S. 157f). Ich folge dieser Entscheidung hier nicht, sondern verstehe Substantivbedeutungen grundsätzlich nicht-extensional. Meiner Auffassung nach haben Substantive für sich genommen rein beschreibende Bedeutung. Erst durch referentielle Verwendung in bestimmten Kontexten werden sie auf Objekte bezogen. Mengen von Objekten sind nicht Bestandteil von Substantivbedeutungen, sondern die Zuordnung von Referenten zu Klassen ist eines der Ergebnisse der referentiellen Verwendung von Substantiven. Dieser wichtige Punkt muss hier vorausgeschickt werden, ohne dass ich ihn an dieser Stelle im einzelnen ausbuchstabieren und begründen kann. 54 Hardarik Blühdorn (1) Was da aufdem Boden verschmiert ist, ist Brot. (2) Schau doch mal nach, im Kühlschrank liegt Brot. In (1) ist Brot Prädikatsnomen. Es bezeichnet eine Eigenschaft, die dem Referenten des Subjekt-Ausdrucks was da aufdem Boden verschmiert ist zugesprochen wird. Der Ausdruck Brot selbst hat hier keinen Referenten. In (2) dagegen ist Brot ein referentieller Ausdruck. Es wird festgestellt, dass im Kühlschrank etwas liegt, und dieses Etwas, der Referent, wird gleichzeitig als Brot kategorisiert. Im vorliegenden Aufsatz werden nur referentiell verwendete Nominalgruppen untersucht, also solche Nominalgruppen, denen unmittelbar ein Diskursreferent zugeordnet ist. Für solche Nominalgruppen gilt die Anforderung, dass sie außer der Kategorie des Referenten noch weitere Informationen liefern müssen, die für die Konzeptualisierung des Referenten wichtig sind, insbesondere Quantitäts-Information. 3 Für prädikativ verwendete Nominalgruppen gilt diese Anforderung nicht im gleichen Maße. Substantive sind für sich allein schon Prädikatsausdrücke und können auch ohne zusätzliche Quantitäts-Information prädikativ verwendet werden. Deshalb sind prädikative Substantive und Nominalgruppen für die Untersuchung der Semantik von Numerus und Zählbarkeit ungeeignet. Substantive wie Brot in den Beispielen (1) und (2) werden traditionell als Kontinuativa oder Masse-Substantive bezeichnet. Mit dieser Sprechweise wird der Intuition Rechnung getragen, dass der Referent in solchen Fällen als eine mehr oder weniger homogene Substanz vorgestellt wird, die in der relevanten konzeptuellen Domäne, zum Beispiel im Raum oder in der Zeit, keine klaren äußeren Grenzen haben muss (vgl. Langacker 1987, S. 63ff.). Im Einzelfall kann dies sehr Unterschiedliches bedeuten. In Beispiel (2) etwa spricht nicht viel dagegen, sich im Kühlschrank einen oder mehrere Brotlaibe vorzustellen. Trotzdem sagt uns die Intuition, dass Brot hier ein Masse- Substantiv ist. Wie lässt sich diese Intuition präzisieren? Masse-Referenten können in Teile zerlegt werden, und diese können in ihrer Anordnung zueinander verschoben werden, ohne dass sich die Kategorie des Referenten ändert (vgl. Wierzbicka 1985, S. 315ff.). So kann Brot in Portionen zerlegt werden, und jede Portion bleibt Brot. Wenn Brotportionen in 3 Ich spreche hier nur von indefiniten Nominalgruppen. Zu definiten Nominalgruppen s. Abschnitt 1.3. Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 55 einem Korb an- oder umgeordnet werden, so befindet sich in dem Korb stets Brot. Ja sogar wenn auf dem Fußboden Brot lag und jemand darauf ausgerutscht ist, so bleibt die entstandene Krümelspur Brot. Man kann einem Masse-Substantiv ein zweites Substantiv voran- oder nachstellen, das die Information der Heterogenität hinzufügt: (3) Scheibe Brot gefällig? Eine Scheibe Brot hat Eigenschaften, die über die von Brot hinausgehen. Die Substanz, aus der sie besteht, ist Brot. Außerdem aber hat sie eine bestimmte Form und Begrenzung im Raum und eine bestimmte Größe, die zu ihrer Bestimmung passt, während einer einzigen Mahlzeit aufgegessen zu werden (vgl. Wierzbicka 1985, S. 317f.). Wenn man sie in Teile zerlegt und die Anordnung der Teile zueinander verändert, dann bleibt das Ergebnis zwar Brot, aber nicht unbedingt eine Scheibe Brot. Substantive wie Scheibe, die zusammen mit Masse-Substantiven komplexere substantivische Einheiten bilden und zu diesen die Informationskomponente „Heterogenität“ beitragen, nenne ich Auxiliar-Substantive (ähnlich auch Duden 2005, S. 172), in Analogie zu Auxiliar-Verben, die zusammen mit Vollverben komplexere verbale Einheiten bilden. Auxiliar-Substantive können dem Vollsubstantiv im Deutschen auch nachgestellt werden. Sie bilden dann das Grundwort von Komposita wie Brotscheibe. Die sich dabei zuweilen ergebenden Bedeutungsunterschiede (vgl. Flasche Milch vs. Milchflasche) betreffen nur marginal die Zählbarkeit der komplexen substantivischen Ausdrücke und können deshalb hier unberücksichtigt bleiben. Substantivische Einheiten wie Scheibe Brot oder Brotscheibe bezeichne ich, im Einklang mit der Tradition, als (komplexe) Individuativa oder Zähl-Substantive. Im Deutschen gibt es auch monolexematische Zähl-Substantive wie Auto, die die semantische Komponente „Heterogenität“ in ihrer Bedeutung inkorporiert haben. Zähl-Substantive wie Scheibe Brot, Brotscheibe und Auto unterscheiden sich im Deutschen in einem sehr wichtigen Punkt von Masse- Substantiven wie Brot. Sie können in nicht-elliptischen Kontexten nicht ohne Erweiterungen referentiell verwendet werden: 4 4 Die Verwendung in (3) ist attributiv im Sinne von Donnellan (1966), was für die Zählbarkeitssemantik schon als nicht-referentiell zählt. In Presseschlagzeilen vom Typ Kind in Fahrstuhl eingeschlossen findet man manchmal referentiellen Gebrauch von nicht-erwei- 56 Hardarik Blühdorn (4) Im Kühlschrank liegt Brot. (5) Im Kühlschrank liegt Scheibe Brot / Brotscheibe. (6) In der Garage steht Auto. Während Beispiel (4) völlig wohlgeformt ist, sind (5) und (6) ungrammatisch. Testumgebungen vom Typ (4)-(6) erweisen, dass die Menge der Zähl- Substantive im Deutschen kleiner ist, als man spontan glauben könnte. Alle Substantive, die in solchen Umgebungen allein referentiell verwendet werden können, gehören nicht zu dieser Klasse: (7) Zum Mittagessen gab es Fisch. 5 (8) Er trug Bart und hatte helles Haar. Zähl-Substantive können referenzfähig gemacht werden, indem sie in den Plural gesetzt werden: (9) Im Kühlschrank liegen Brotscheiben. (10) Aufdem Parkplatz stehen Autos. Ausgenommen hiervon sind allerdings komplexe Zähl-Substantive aus Masse-Substantiv und vorangestelltem Auxiliar-Substantiv. Diese werden durch Pluralisierung allein noch nicht referenzfahig: (11) Im Kühlschrank liegen Scheiben Brot. Einfache Masse-Substantive können ebenfalls pluralisiert werden. An ihrer Referenzfahigkeit ändert sich dadurch nichts: (12) Im Kühlschrank liegen Brote. Aufdem Teller liegen Fische. terten Zähl-Substantiven. Solche Gebrauchsweisen sind aber eindeutig als elliptisch zu erkennen und nur in ganz bestimmten medial-situativen Kontexten zulässig. 5 ln der Literatur werden Gebrauchsweisen wie in (7) häufig unter Berufung auf Pelletier (1975, S. 5f.) als so genannte gr/ Wer-Effekte abgehandelt. Viele Autoren unterscheiden dabei nicht zwischen referentiellem und prädikativem Gebrauch der betreffenden Nominalgruppen und nehmen dadurch eine Menge Verwirrung in Kauf. In Beispielen wie das Schlafzimmer war aus Eiche, es riecht nach Hund, am liebsten trägt sie Kaninchen u.Ä. sind die markierten Substantive nicht-referentiell und deshalb für die Untersuchung der Semantik von Numerus und Zählbarkeit nicht geeignet. Substantive, die in Umgebungen wie (7) und (8) referentiell verwendet werden können, sind Masse-Substantive. Um ihren Gebrauch zu erklären, wird kein gr/ Wer-Effekt benötigt. Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 57 Allerdings wird durch die Pluralisierung die Masse-Referenz aufgehoben. In Beispiel (12) verlangt der Plural die Vorstellung mehrerer Brotbzw. Fisch- Individuen. Der Plural bringt eine semantische Komponente in die Nominalgruppe ein, die Langacker (1987, S. 66) als „Inkrementierung“ bezeichnet hat (vgl. auch Frawley 1992, S. 88). Ein inkrementierter Referent ist aus gleichartigen Atomen zusammengesetzt, aber die einzelnen Atome werden nicht individuell in den Blick genommen. Wichtig ist nur ihre Gleichartigkeit. Auch ihre Anzahl wird durch den Plural nicht festgelegt. Sie muss lediglich größer als eins sein. Bis hierher haben wir drei Typen von Substantiven unterschieden (vgl. Eschenbach 1995, S. 155ff.): 51 Masse-Substantive wie Brot. 52 Zähl-Substantive wie Scheibe Brot, Brotscheibe und Auto. 53 Plural-Substantive wie Brote, Scheiben Brot, Brotscheiben und Autos. Masse-Substantive sind der merkmalärmste dieser drei Typen. Sie sind bezüglich Zählbarkeit unspezifiziert. Ihre Referenten können homogene Substanzen, aber auch Individuen sein. Sie sind diesbezüglich semantisch nicht festgelegt. Zähl-Substantive besitzen demgegenüber das semantische Merkmal [+heterogen]. Dieses Merkmal hat im Deutschen zunächst einmal nur die Auswirkung, sie für den referentiellen Gebrauch untauglich zu machen. Es hebt die Unspezifiziertheit des Substantivs bezüglich Zählbarkeit auf, ist aber für sich genommen zu wenig aussagekräftig, um das Substantiv auf Individuen-Referenz festzulegen. Es verlangt danach, durch weitere semantische Merkmale präzisiert zu werden, damit eine referentielle Interpretation wieder möglich wird, und zwar dann nur noch mit Individuen-Referenz. Ein solches weiteres Merkmal ist [Tinkrementiert], das durch den Plural in die Nominalgruppe eingebracht wird. Zusammen legen die Merkmale [+heterogen] und [+inkrementiert] die Quantitäts-Information in der Nominalgruppe hinreichend fest, um eine referentielle Interpretation zu ermöglichen. Werden Masse-Substantive, die ja das Merkmal [Theterogen] von Haus aus nicht besitzen, pluralisiert, so verlangt das Plural-Merkmal [+inkrementiert] deren Reinterpretation als Zähl-Substantive. Das Merkmal [+inkrementiert] scheint demnach [+heterogen] zu implizieren und kann in diesem Sinne als ein stärkeres semantisches Merkmal angesehen werden. 58 Hardarik Blühdorn 1.2 Quantifikatorphrasen Die nächste Ausbaustufe der Nominalgruppe wenn wir von Adjektivattributen und sonstigen voran- und nachgestellten Erweiterungen des Substantivs einmal absehen bringt Quantifikatoren ins Spiel. Hier lassen sich zwei semantisch deutlich verschiedene Typen auseinanderhalten: Zähl- Quantifikatoren und Maß-Quantifikatoren (vgl. Vater 1984, Eschenbach 1995). Zu den Zähl-Quantifikatoren gehören die Kardinalia einschließlich ein-, alle pluralischen Quantifikatoren wie ein paar, einige, wenige, mehrere, etliche, viele, zahlreiche usw. sowie die distributiven Quantifikatoren wie manch-. Zu den Maß-Quantifikatoren gehören Elemente wie wenig, etwas, ein bisschen, einig-, etlich-, reichlich, viel, massenhaft usw. Sie sind durchweg nicht-pluralisch. Zähl-Quantifikatoren werden typischerweise mit Substantiven der Typen S2 und S3 kombiniert, und zwar die nicht-pluralischen Zähl-Quantifikatoren mit Zähl-Substantiven (wie in (13) und (14)) und die pluralischen Zähl-Quantifikatoren mit Plural-Substantiven (wie in (15) und (16)): (13) Im Kühlschrank liegt manche Scheibe Brot! manche Brotscheibe. (14) In der Garage steht ein A uto. (15) Im Kühlschrank liegen drei Brote! etliche Scheiben Brot! mehrere Brotscheiben. (16) Aufdem Parkplatz stehen zahlreiche A utos. Maß-Quantifikatoren werden typischerweise mit Masse-Substantiven kombiniert: (17) Im Kühlschrank liegt etwas Brot. Aber auch andere Kombinationen zwischen den Quantifikator- und Substantivklassen sind möglich. So können pluralische Zähl-Quantifikatoren auch mit nicht-pluralischen Zähl-Substantiven verbunden werden: (18) Aufdem Tisch lagen mehrere Stück Brot. (19) Martin hatte schon ein paar Glas getrunken. Sowohl nicht-pluralische als auch pluralische Zähl-Quantifikatoren können mit Masse-Substantiven kombiniert werden: (20) Im Kühlschrank liegt ein Brot. (21) Aufdem Tisch standen ein paar Bier. Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 59 Solche Kombinationen fuhren allerdings zum gleichen Reinterpretationseffekt wie die Pluralisierung von Masse-Substantiven: Die Masse-Referenz wird aufgehoben, und an ihre Stelle tritt Individuen-Referenz. In Beispiel (20) wird man sich bevorzugt einen Brotlaib vorstellen, in Beispiel (21) ein paar Gläser oder Flaschen Bier. Maß-Quantifikatoren können mit Plural-Substantiven kombiniert werden: (22) Im Kühlschrank liegen reichlich Brote! reichlich Brotscheiben. (23) Aufdem Parkplatz stehen massenhaft A utos. (24) Möchtest du noch etwas Kartoffeln? - Bitte nicht so viel Erbsen. Solche Nominalgruppen sind vor allem in der gesprochenen Umgangssprache frequent. Bei Masse-Substantiven mit vorangestelltem Auxiliar-Substantiv stoßen sie allerdings an eine Grammatikalitäts-Grenze: (25) Im Kühlschrank liegen reichlich Scheiben Brot. (26) *Danach tranken sie noch etwas Gläser Bier. ln bestimmten Fällen ist auch die Kombination von Maß-Quantifikatoren mit Zähl-Substantiven möglich: (27) Viel Auto für wenig Geld, [http: / / www. Stuttgarterzei i—i tung.de/ stz/ page/ detail .php/ 17210 — 20.05.2005 6 ] (28) Lass mir auch noch ein bisschen Tisch, bitte! [http: / / wwwr-i 2 . rz . hu-berlin. de / lingarbeit/ Semantik/ lessmoer-i llmannAnnettel. doc — 25.05.2005] In solchen Fällen wird im Sinne von Pelletiers (1975, S. 5f.) universal grinder das maß-quantifizierte Zähl-Substantiv als Masse-Substantiv reinterpretiert. Dieses Sprachmittel ist im Deutschen aber starken Gebrauchsbeschränkungen unterworfen. Ohne erkennbare stilistische Absicht muss es als ungrammatisch gelten: (29) *A ufdem Parkplatz steht massenhaft A uto. 6 Bei der Wiedergabe von Intemetadressen kennzeichnet das Trennzeichen i-> am Zeilenende einen layoutbedingten Umbruch, der nicht Bestandteil der Adresse ist. Bindestriche, die Bestandteil der Intemetadresse sind, sind als „normale“ Minuszeichen („-“) angegeben. 60 Hardarik Blühdorn Masse-Substantive mit vorangestelltem Auxiliar-Substantiv sind generell nicht mit Maß-Quantifikatoren kombinierbar: (30) *Im Kühlschrank liegt reichlich Scheibe Brot. Ausgeschlossen ist im Deutschen auch die Kombination von nicht-pluralischen Zähl-Quantifikatoren mit Plural-Substantiven: (31) Im Kühlschrank liegt ein Broteleine Scheiben Brotleine Brotscheiben. (32) *Aufdem Parkplatz steht manches Autos. Wenn wir Kombinationen aus Quantifikator und Substantiv als Quantifikatorphrasen (QP) bezeichnen (vgl. Löbel 1990), so können wir insgesamt neun QP-Typen unterscheiden, von denen acht im Deutschen zumindest unter bestimmten Umständen grammatisch sind und nur einer unter allen Umständen ungrammatisch ist: QP 1 Maß-Quantifikator plus Masse-Substantiv wie reichlich Brot. QP2 1 * ’Maß-Quanti fi kator plus Zähl-Substantiv wie viel Auto (aber: *reichlich Scheibe Brot, reichlich Brotscheibe, massenhaft Auto). QP3 Maß-Quantifikator plus Plural-Substantiv wie reichlich Brote, reichlich Brotscheiben, massenhaft Autos (aber: reichlich Scheiben Brot). QP4 Nicht-pluralischer Zähl-Quantifikator plus Masse-Substantiv wie ein Brot. QP5 Nicht-pluralischer Zähl-Quantifikator plus Zähl-Substantiv wie eine Scheibe Brot, eine Brotscheibe, ein Auto. QP6 Nicht-pluralischer Zähl-Quantifikator plus Plural-Substantiv wie ein Brote, eine Scheiben Brot, eine Brotscheiben, ein Autos. QP7 Pluralischer Zähl-Quantifikator plus Masse-Substantiv wie ein paar Bier. QP8 Pluralischer Zähl-Quantifikator plus Zähl-Substantiv wie ein paar Stück Brot, ein paar Glas. QP9 Pluralischer Zähl-Quantifikator plus Plural-Substantiv wie etliche Brote, einige Scheiben Brot, mehrere Brotscheiben, zahlreiche Autos. Wie wir sehen, sind pluralische Zähl-Quantifikatoren mit allen drei Substantivklassen und Masse-Substantive mit allen drei Quantifikatorklassen kompatibel. Inkompatibel sind Plural-Substantive mit nicht-pluralischen Zähl-Quantifikatoren und weithin auch Zähl-Substantive mit Maß-Quantifikatoren. Die Kombination von Maß-Quantifikatoren mit Plural-Substantiven unterliegt Beschränkungen. Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 61 Die grammatisch zugelassenen QP-Typen können im Deutschen ausnahmslos referentiell verwendet werden. In Bezug auf Zähl-Substantive bedeutet das, dass ihr semantisches Merkmal [+heterogen] außer durch das Plural-Merkmal [+inkrementiert] auch durch Zähl-Quantifikatoren präzisiert und dadurch eine referentielle Interpretation der Nominalgruppe ermöglicht werden kann. Dies gilt auch für Masse-Substantive mit vorangestelltem Auxiliär-Substantiv, die durch das Plural-Merkmal allein noch nicht referentiell interpretierbar werden. Ich nenne das semantische Merkmal, das durch Zähl-Quantifikatoren in die QP eingebracht wird, [+individuiert]. Ist ein Zähl-Quantifikator vorhanden, so übernimmt er in der QP gleichsam die Regie. Pluralische Zähl-Quantifikatoren führen außer dem Merkmal [+individuiert] auch das Merkmal [+inkrementiert] mit ein, auch wenn das nachfolgende Substantiv nicht im Plural steht wie in mehrere Stück Brot, drei Bier usw. ln solchen Fällen ist der Referent obligatorisch als Mehrzahl von Individuen zu lesen. Nicht-pluralische Zähl-Quantifikatoren schließen umgekehrt das Merkmal [+inkrementiert] aus. Deshalb sind sie mit Plural- Substantiven inkompatibel. Sie führen aber das Merkmal [+heterogen] ein, wenn dieses noch nicht vorhanden ist, also in Kombinationen mit Masse- Substantiven wie in ein Brot oder ein Fisch. Das „Individuierungs“-Merkmal ist in diesem Sinne semantisch stärker als das „Inkrementierungs“- und das „Heterogenitäts“-Merkmal. Auch Maß-Quantifikatoren übernehmen das Kommando in der QP. Sie bringen das Merkmal [^kontinuierlich] ein, das das Merkmal [+heterogen] (wie in viel Auto) aufhebt und dadurch ebenfalls Zähl-Substantive referenzfahig macht, indem es sie zu Masse-Substantiven zurückstuft. Mit dem Merkmal [+inkrementiert] (bzw. mit dem, was nach der Neutralisierung der Komponente [+heterogen] davon übrigbleibt) ist [+kontinuierlich] kompatibel. Inkrementierung lenkt ja den Blick auf die zusammengesetzte Gesamtheit, nicht auf die einzelnen Atome. Diese Eigenschaft wird durch Maß-Quantifikatoren verstärkt. 1.3 Determinansphrasen In der nächsten Ausbaustufe kann die Nominalgmppe um Determinantien erweitert werden. Sie wird dadurch zur Determinansphrase (DP) (vgl. Vater 1991, Olsen 1991). Determinantien zeigen Defmitheit an, also die präsuppo- 62 Hardarik Blühdom nierte Identifizierbarkeit des Referenten durch den Adressaten. 7 Determinantien können zu allen Substantiv- und QP-Typen des Deutschen hinzutreten. Dabei kommt es teilweise zu Änderungen in der Deklination der Quantifikatoren (Wechsel von starker zu schwacher Deklination), die aber semantisch folgenlos bleiben und deshalb im vorliegenden Kontext nicht relevant sind. Es entstehen Ausdrücke wie: das Brot, die Scheibe Brot, die Brotscheibe, das Auto, die Brote, die Autos, das viele Brot, das eine Brot, die eine Scheibe Brot, die paar Bier, die zahlreichen Autos usw. (vgl. Vater 1996). 8 Grammatisch wohlgeformte DPn sind durchweg referenzfahig. Allerdings macht ihre Definitheit sie für die Untersuchung der Semantik von Numerus und Zählbarkeit ungeeignet. Die Defmitmarkierung zeigt an, dass der Sprecher voraussetzt, dass dem Adressaten in der äußeren Situation oder im Gedächtnis schon genügend Information für die Identifikation des Referenten zur Verfügung steht, dass er also nicht erst eine neue Vorstellung vom Referenten aufbauen muss. Ein Referent aber, den der Adressat schon identifizieren kann, muss viel weniger genau beschrieben werden, als ein Referent, von dem er sich allererst eine Vorstellung bilden soll. Deshalb sind definit-referentielle Nominalgruppen semantisch (und syntaktisch) oft viel unvollständiger als indefinite. Der Extremfall sind definite Wiederaufnahme-Pronomina vom Typ: (33) Sie kennen doch meinen Bruder. Der hat bis vor zwei Jahren hier gewohnt. Solche referentiellen Ausdrücke geben überhaupt keine beschreibende Information über den Referenten, sondern signalisieren bloß, dass der Adressat schon wissen sollte, wer oder was gemeint ist. Sehr häufig wird bei definiter Referenz nur und gerade die Quantitäts- Information weggelassen (vgl. Allan 1980, S. 542f), also diejenige Information, die bei indefiniter Referenz niemals fehlen darf und auf die es bei der Untersuchung von Numerus und Zählbarkeit insbesondere ankommt: (34) Das Wasser steht im Keller. 1 Indefinita werden hier mit Vater (1984, 1996) aus der Klasse der Determinantien ausgeschlossen. Sie wurden in Abschnitt 1.2 als Quantifikatoren behandelt. 8 Die Kombination von Determinantien mit Quantifikatoren unterliegt vereinzelten morphologisch motivierten Distributionsbeschränkungen (z.B. 'das etwas Wasser), die hier nicht weiter behandelt werden können (vgl. Vater 1979, 1984). Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 63 Wie man sich den Referenten der definiten Nominalgruppe das Wasser hier vorstellt, hängt wesentlich davon ab, in welcher Form er vorher in den Diskurs eingeführt wurde oder in welcher Form er in der Situation identifizierbar ist. Lautet der Vorgängersatz beispielsweise: Der Rhein ist über die Ufer getreten, so stellt man sich Wasser als Masse-Referenten vor, etwa als ob gesagt würde: Im Keller steht Wasser. Lautet der Vorgängersatz dagegen: Hast du noch eine Flasche Wasser? , so stellt man sich Wasser als Individuen-Referenten vor, als in Flaschen abgefüllte Wasserportionen. Solche Beispiele machen deutlich, dass die Semantik von Numerus und Zählbarkeit nur an indefinit-referentiellen Nominalgruppen sachgerecht untersucht werden kann ein Umstand, der in der einschlägigen Fachliteratur allzu oft unbemerkt geblieben ist und dessen Nicht-Beachtung schon zu viel Verwirrung geführt hat. Im Folgenden werden Determinansphrasen deshalb aus der Betrachtung ausgeschlossen. 2. Masse-Referenz und Individuen-Referenz In der Grammatikschreibung des Englischen hat es sich eingebürgert, Masse- und Zähl-Substantive als distinkte lexikalische Klassen zu behandeln, zwischen denen unter bestimmten Umständen Konversionen möglich sind (vgl. Jespersen 1936, S. 114ff, Quirk et al. 1985, S. 245ff, 1564, Gillon 1992). Ähnlich verfahren neuere Grammatiken des Deutschen (Eisenberg 1999, S. 157ff, Duden 2005, S. 171 ff). Diese Annahme ist zwar bei oberflächlicher Betrachtung durchaus einleuchtend, bleibt aber insofern unbefriedigend, als sie keine Erklärung dafür liefert, warum gerade diese beiden und nicht mehr oder andere Klassen gebildet werden und welche Substantive aus welchen Gründen welcher Klasse zugeordnet werden. 9 Außerdem steht sie in gewissem Gegensatz zu dem empirischen Befund, dass die meisten Substantive leicht zwischen Masse- und Individuen-Referenz wechseln können. Es ist deshalb vorgeschlagen worden, nicht das Substantiv, sondern die Nominalgruppe als ganze als den Sitz der Zählbarkeitsunterscheidung zu betrachten, so dass Numerus und Quantifikatoren in die Analyse einbezogen und für die Referenzeigenschaften der Nominalgruppe mitverantwortlich gemacht werden können (vgl. z.B. Allan 1980, S. 545ff). Auch eine solche Herangehensweise erklärt aber den systematischen Zusammenhang von Masse- und Individuen-Referenz letztlich nicht. 9 Allan (1980) unterteilt die Substantive des Englischen in insgesamt acht Zählbarkeitsklassen. Wierzbicka (1985) gelangt gar zu 14 Zählbarkeitsklassen. Bei entsprechend verfeinerten Kriterien sind auch viel mehr Klassen ohne weiteres denkbar. 64 Hardarik Blühdorn In gewisser Weise ähnelt die Unterscheidung zwischen Masse- und Individuen-Referenz von Nominalgruppen der Aspektualität in der Beschreibung von Sachverhalten durch Verbgruppen (vgl. Krifka 1989, S. 96ff., 158ff.): (35) Clara schrieb unermüdlich an ihrem Roman. (36) Clara hat einen Roman geschrieben. Ohne auf die Einzelheiten der semantischen Komposition einzugehen (vgl. Krifka 1989, S. lOVff), können wir feststellen, dass in Beispiel (35) der Vorgang des Schreibens so dargestellt wird, dass seine zeitlichen Grenzen nicht in den Blick kommen. Das Schreiben erscheint als homogenes Geschehen, das beliebig portioniert werden kann und doch immer ein Schreiben bleibt. In Beispiel (36) dagegen wird der Vorgang so dargeboten, dass der Blick auf seine zeitlichen Grenzen fällt. Indem das Ergebnis erwähnt wird, wird die Vorstellung nahegelegt, dass der Vorgang in ungleiche Etappen gegliedert war. Diese sind unterschiedlich zu kategorisieren, etwa als Konzipieren, Vorschreiben, Ins-Reine-Schreiben und Korrigieren. Darstellungen wie in (35) werden üblicherweise als imperfektiv (oder atelisch), solche wie in (36) als perfektiv (oder telisch) bezeichnet. Von Wolfgang Klein (2000, S. 364f.) stammt eine Erklärung, die die Aspekt-Unterscheidung auf einen Referenz-Unterschied zurückführt. Dieser Erklärung zufolge muss man unterscheiden zwischen dem Zeitintervall, das von dem besprochenen Geschehen ausgefüllt wird (Klein nennt es T-SIT time of situation) und dem Zeitintervall, über das der Sprecher eine Aussage machen möchte (Klein nennt es TT topic lime). Sagt man beispielsweise im Präteritum: (37) Ich lernte Maria im August 1980 kennen. Sie war blond und sehr hübsch., so wird damit nicht impliziert, dass Maria etwa zum Sprechzeitpunkt nicht mehr blond und hübsch wäre, sondern es wird lediglich eine Aussage in Bezug auf die Topikzeit gemacht. Diese aber ist nur ein Teilintervall von T-SIT, also von dem Intervall, während dessen Maria blond und hübsch ist. Über den Teil von T-SIT, der über TT hinausgeht, etwa über den Sprechzeitpunkt, wird keine Information gegeben. Imperfektiver Aspekt liegt nach Klein dann vor, wenn TT ein Teilintervall von T-SIT ist, perfektiver Aspekt, wenn T-SIT ein Teilintervall von TT ist. Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 65 Wir können diese Unterscheidung auf die Referenz von Nominalgruppen übertragen und zugleich verallgemeinern, indem wir zwischen I-OBJ {interval of object), der Ausdehnung des besprochenen Objekts in der relevanten konzeptuellen Domäne, einerseits und TI {topic interval) unterscheiden, dem Intervall, über das der Sprecher eine Aussage macht. 10 Vergleichen wir dazu die folgenden Beispiele: (38) In der Flasche ist Wasser. (39) In der Flasche ist ein Segelschiff. TI ist in beiden Beispielen ein räumliches Intervall, nämlich der Raum in der erwähnten Flasche. Das besprochene Objekt in Beispiel (38) ist Wasser. Mit der gemachten Aussage wird keinerlei Anspruch erhoben, dass sich das diesem Objekt zugeordnete Raumintervall I-OBJ auf TI beschränkt. Es wird offen gelassen, ob außerhalb der Flasche auch Wasser ist oder nicht, ob die Flasche z.B. im Ozean schwimmt oder in der Wüste liegt. Ferner wird offen gelassen, in welcher Menge und Form Wasser innerhalb der Flasche vorhanden ist, insbesondere ob es portioniert oder anderweitig gegliedert oder ob es ungegliedert ist. Die in (38) gegebene Beschreibung enthält hierüber keine Information. Diese Art von Referenz, bei der TI einen Ausschnitt aus I-OBJ bildet, wird als Masse-Referenz bezeichnet. Sie entspricht dem imperfektiven Aspekt des Verbs. In Beispiel (39) dagegen wird ausgesagt, dass das vom besprochenen Objekt, dem Segelschiff, eingenommene Raumintervall I-OBJ einen Ausschnitt von TI bildet. Kein Teil von I-OBJ liegt außerhalb von TI. Diese Konstellation wird als Individuen-Referenz bezeichnet und entspricht dem perfektiven Aspekt des Verbs. 11 Ebenso wie es Verben gibt, die für sich genommen ein Geschehen imperfektiv darbieten, etwa schreiben und spielen, und andere, die auf perfektive 10 Als relevante konzeptuelle Domänen für I-OBJ und TI kommen Raum, Zeit, Alethik/ Episteme und Deontik in Frage (vgl. Lyons 1977, S. 442ff, 791ff., 823ff., Blühdom 2003, S. 16ff.). 11 In Abschnitt 1 wurde eine an Lyons (1977) orientierte informelle Definition von referentiellem Gebrauch gegeben, die Referenz als Bezug auf ein Etwas, einen Diskursreferenten versteht. Will man genauer sein, so ist Referenz als relationale Bestimmung zu definieren, als Verortung von Diskursentitäten in einer konzeptuellen Domäne relativ zu anderen Diskursentitäten (vgl. Blühdom 2002, 2003, S. 13ff.). Sie steht damit im Gegensatz zu Prädikation als nicht-relationaler Beschreibung von Referenten. Die aspektuelle Explikation der Zählbarkeitsunterscheidung lässt sich lückenlos in den relationalen Referenzbegriff integrieren. Auf die Einzelheiten kann im vorliegenden Rahmen nicht eingegangen werden. 66 Hardarik Blühdorn Darbietung spezialisiert sind, etwa anspitzen und aufessen, so gibt es Substantive wie Wasser und Brot, die sich für Masse-Referenz eignen, und solche wie Hand und Fuß, die auf Individuen-Referenz spezialisiert sind. Ebenso wie es Sprachmittel gibt, die geeignet sind, imperfektive Verben so zu erweitern, dass die Verbgruppe perfektiven Aspekt annimmt, so gibt es auch Sprachmittel, die geeignet sind, Masse-Substantive so zu erweitern, dass die Nominalgruppe Individuen-Referenz annimmt. Und ebenso wie es Sprachmittel gibt, die umgekehrt die Perfektivität von Verben wieder neutralisieren können, so gibt es auch Sprachmittel, die die Individuen-Referenz von Substantiven neutralisieren können. Hierbei wird angenommen, dass Imperfektivität bzw. Masse-Referenz den unmarkierten, merkmallosen Pol der Opposition bilden und Perfektivität bzw. Individuen-Referenz den markierten, merkmalhaltigen (vgl. Allan 1980, S. 545, 554). Imperfektive Verben und Masse-Substantive schließen nämlich perfektive und Individuen-Deutungen nicht aus: (40) Gestern nachmittag spielte Maria Klavier. (41) Im Kühlschrank liegt Brot. Beispiel (40) erlaubt es dem Interpreten durchaus, sich den Vorgang des Klavierspielens so vorzustellen, dass er von Anfang bis Ende in der durch gestern nachmittag gegebenen Topikzeit enthalten ist, und Beispiel (41) schließt die Deutung nicht aus, dass einer oder mehrere Brotlaibe im Kühlschrank liegen und dass außerhalb des Kühlschranks kein Brot in Sichtweite ist. Solche Deutungen werden durch die Formulierung weder nahegelegt noch unmöglich gemacht. Imperfektive Verbgruppen und Nominalgruppen mit Masse-Referenz sind diesbezüglich unspezifiziert. Perfektive Verbgruppen und Nominalgruppen mit Individuen-Referenz dagegen schließen imperfektive und Masse-Lesarten aus, wie man an den folgenden Beispielen überprüfen kann: (42) Gestern nachmittag hat Maria ein Klavier zerschlagen. (43) Aufdem Tisch steht ein Blumenstrauß. Beispiel (42) kann nicht so interpretiert werden, dass TT nur ein Teilintervall von T-SIT ist, dass also die zeitlichen Grenzen des Zerschlagens nicht in den Blick kommen. Die Perfekt-Form erzwingt eine Deutung, in der TT die Grenzen von T-SIT einschließt. Ebenso kann Beispiel (43) nicht so gelesen Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 67 werden, dass TI ein Teilintervall aus I-OBJ herausschneidet, dass also nur ein Teil des Blumenstraußes betrachtet wird. Der Quantifikator ein verlangt, dass der Blumenstrauß als ganzer vorgestellt wird. Deshalb muss der Interpret das durch auf dem Tisch beschriebene Topik-Intervall TI so vervollständigen, dass es I-OBJ einschließt. Wie man sieht, lässt sich der Unterschied zwischen Masse-Referenz und Individuen-Referenz nicht ausschließlich am Substantiv und nicht einmal an der Nominalgruppe festmachen, sondern es handelt sich um eine Unterscheidung, auf die auch der Kontext Einfluss hat. Entscheidend ist die Wahl von TI in Relation zu I-OBJ. 12 TI wird außerhalb der Nominalgruppe festgelegt, entweder sprachlich im textuellen Umfeld, zum Beispiel durch adverbiale Angaben wie auf dem Tisch oder gestern nachmittag, oder nicht-sprachlich im situativen Kontext, etwa gestisch, oder durch kontext- oder weltwissensbasierte Inferenzen. I-OBJ wird hinsichtlich seiner internen Gliederung und seiner äußeren Grenzen durch die Nominalgruppe beschrieben, und zwar durch die semantischen Merkmale [+heterogen], [+inkrementiert], [+individuiert] und ^kontinuierlich]. Vor diesem Hintergrund wird nun klarer, warum nicht-erweiterte Zähl- Substantive, anders als Masse-Substantive nicht referenzfähig sind. Das Merkmal [+heterogen] allein ist nicht präzise genug als Beschreibung des Objekt-Intervalls, um dessen Relationierung zum Topik-Intervall zu ermöglichen. Heterogenität ist mit zu unterschiedlichen Weiterspezifizierungen verträglich, von einfacher Inkrementierung über Einzahl bis hin zu unterschiedlichsten Varianten der Mehrzahl. Ist das Merkmal [+heterogen] nicht weiter spezifiziert, so bleibt es deshalb bei der Relationierung zum Topik- Intervall uninterpretiert: (44) Aufdem Teller liegt Fisch. (45) Aufdem Tisch liegt Blume. Das Zähl-Substantiv Blume in Beispiel (45) kann allenfalls mit Masse- Referenz gelesen werden, analog zu dem Masse-Substantiv Fisch in Beispiel (44). 12 Ähnlich Langacker (1987, S. 63), der für TI den Terminus scope ofpredication (ebd., S. 56) verwendet. 68 Hardarik Blühdorn 3. Auxiliar-Substantive Werfen wir nun einen Blick auf die Auxiliar-Substantive. Sie haben Ähnlichkeit mit Nominalklassifikatoren bzw. Numerativen, wie wir sie etwa im Chinesischen finden (vgl. Krifka 1989, S. 8ff, Sackmann 2000, Aikhenvald 2000, S. 98ff). Die Auxiliar-Substantive des Deutschen sind durchweg Zähl- Substantive (vgl. Eisenberg 1999, S. 253). Wie diese sind sie pluralisierbar: eine Scheibe Brot vs. mehrere Scheiben Brot. Anders als gewöhnliche Zähl- Substantive können sie aber nicht mit Maß-Quantifikatoren kombiniert werden, und zwar weder im Singular noch im Plural: (46) Im Kühlschrank liegen drei / mehrere / viele Scheiben Brot. (47) Im Kühlschrank liegt etwas / viel / reichlich Scheibe Brot. (25) *Im Kühlschrank liegen reichlich Scheiben Brot. (26) Danach tranken sie noch etwas Gläser Bier. Das vom Auxiliar-Substantiv kodierte semantische Merkmal [+heterogen] kann also nicht neutralisiert werden. Das ist ganz im Sinne der Sprachökonomie, denn die entscheidende Funktion der Auxiliar-Substantive besteht gerade in der Einführung dieses Merkmals. Wenn es nicht erwünscht ist, muss auf die Verwendung eines Auxiliar-Substantivs verzichtet werden. Auxiliar-Substantive verwandeln durch die Einführung des Merkmals [+heterogen] Massein Zähl-Substantive. Werden sie jedoch mit einem Zähl-Substantiv kombiniert, so verwandeln sie dieses überraschenderweise gerade umgekehrt in ein Masse-Substantiv: (48) Im Straßengraben lag ein Stück Auto. Ausdrücke wie ein Stück Auto verhalten sich semantisch genauso wie Ausdrücke vom Typ eine Scheibe Brot. Wie lässt sich das erklären? Zähl-Substantive wie Auto enthalten das Merkmal [+heterogen] als Bestandteil ihrer lexikalischen Bedeutung. Sie können nicht unerweitert referentiell verwendet werden. Das Merkmal [+heterogen] kann aber durch die Kombination mit Maß-Quantifikatoren außer Kraft gesetzt werden {viel Auto). Es ist also in der Bedeutung von Zähl-Substantiven nur schwach ausgeprägt. Wird einem Zähl-Substantiv ein Auxiliar-Substantiv hinzugefügt, so übernimmt dieses semantisch das Kommando, ebenso wie Zähl- und Maß- Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 69 Quantifikatoren in der QP. 13 Beim Auxiliar-Substantiv ist das Merkmal [+heterogen] stark ausgeprägt und nicht neutralisierbar. Dadurch wird das schwach ausgeprägte Merkmal im Vollsubstantiv entbehrlich und kann bei der Interpretation unberücksichtigt bleiben, ln solchen Konstruktionen wird das Vollsubstantiv wie ein Masse-Substantiv referentiell verwendbar: (49) Letzte Woche hatte er mit seinem Wagen einen schweren Unfall. Er prallte auf einen vor ihm fahrenden LKW. Ein Stück Auto wurde herausgerissen und auf die Gegenfahrbahn geschleudert. Hier kann ein Stück Auto interpretiert werden wie ein Stück von seinem Auto, wobei das Possessivum deutlich macht, dass Auto referentiell verstanden wird. Außer mit Masse- und Zähl-Substantiven sind Auxiliar-Substantive auch mit Plural-Substantiven kombinierbar: ein Strauß Blumen, eine Tüte Bonbons. Plural-Substantive besitzen das Merkmal [+inkrementiert] und damit auch das Merkmal [+heterogen]. Sie sind ohne Erweiterung referenzfahig. Tritt jedoch ein Auxiliar-Substantiv hinzu, so wird die Verbindung wieder zu einem nicht-pluralischen Zähl-Substantiv ohne Referenzfähigkeit. Ausdrücke wie Strauß Blumen oder Tüte Bonbons sind nicht referentiell interpretierbar. Das Merkmal [+inkrementiert] wird zwar durch das Auxiliar-Substantiv nicht außer Kraft gesetzt, aber es wird im Vollsubstantiv eingeschlossen und kann nicht als Merkmal auf die ganze Nominalgruppe übergehen (Krifka 1989, S. 20 spricht von „semantischem Plural“). Soll die ganze Nominalgruppe das Merkmal [+inkrementiert] erhalten, so muss der Plural erneut eingefuhrt werden: Sträuße Blumen, Tüten Bonbons. Auch dadurch aber werden solche Verbindungen noch nicht wieder referenzfähig. Auxiliar-Substantive verlangen höheren Aufwand als gewöhnliche Zähl-Substantive, um referentiell interpretiert werden zu können: (11) Im Kühlschrank liegen Scheiben Brot. (50) Aufdem Tisch stehen Sträuße Blumen. 13 Ich führe dieses Verhalten auf ihre Eigenschaft als funktionale Köpfe zurück. Ohne hier eine explizite These über die syntaktische Struktur der Nominalgruppe entwickeln zu wollen, sympathisiere ich mit der Annahme, dass Vollsubstantive Komplemente zu Auxiliar- Substantiven sind (ähnlich Eisenberg 1999, S. 255). Auf den nächsthöheren Ebenen wären das Pluralmorphem Kopf der Numerusphrase und der Quantifikator Kopf der QP (vgl. Bhatt 1990, S. 56f£, 76ff, Löbel 1990). 70 Hardarik Blühdorn Erst durch Hinzufügung von Zähl-Quantifikatoren wird bei ihnen das Merkmal [+heterogen] so weit präzisiert, dass eine referentielle Interpretation der Nominalgruppe wieder möglich wird, dass also I-OBJ innerhalb von TI hinreichend beschrieben ist. Überhaupt ist die Funktion des Plurals und damit die Wirksamkeit des Merkmals [+inkrementiert] bei den Auxiliar-Substantiven eingeschränkt. Es sind nämlich durchweg Auxiliar-Substantive - und zwar metrische Auxiliar-Substantive, also Bezeichnungen für Maßeinheiten oder Portionen 14 -, deren nicht-pluralische Formen sich mit pluralischen Zähl-Quantifikatoren kombinieren lassen (Phrasentyp QP8, s.o. Abschnitt 1.2): (18) Aufdem Tisch lagen mehrere Stück Brot. In Wiederaufnahmekontexten oder wenn es anderweitig inferierbar ist, kann das Vollsubstantiv ausgespart bleiben: (51) Sie saßen zu fünft in der Kneipe und tranken Bier. Martin hatte schon ein paar Glas getrunken, als er von einem Unbekannten angepöbelt wurde. Auch bei Zähl-Substantiven ist dies (in der Umgangssprache) möglich: (52) Wie viele Autos hatte er? - Ich glaube, er hatte drei Stück. Flier wird bei der referentiellen Wiederaufnahme anstelle des Zähl-Substantivs Auto das Auxiliar-Substantiv Stück eingeführt, so wie Verben bei der Wiederaufnahme durch das Auxiliar-Verb tun ersetzt werden können. Offenbar sind einige der metrischen Auxiliar-Substantive des Deutschen im Begriff, sich zu reinen Heterogenitäts-Markem, also zu echten Numerativen, zu entwickeln und ihre dafür nicht relevanten Substantiveigenschaften, darunter die Pluralbildung, abzulegen (vgl. Krifka 1989, S. 15ff.). Man muss allerdings sagen, dass dieser Prozess noch am Anfang steht. Bei manchen Auxiliar-Substantiven ist die Nicht-Pluralisierung fakultativ: drei Stück(e) Kuchen, zwei Fass/ Fässer Bier, einige Glas/ Gläser Wein. Bei Auxiliar- Substantiven mit «-Plural ist sie generell ungrammatisch: drei Scheibe Brot, 'zwei Flasche Wasser, 'vier Elle Tuch, 'einige Buchstabe Kursivschrift. Nur bei wenigen ist Nicht-Pluralisierung obligatorisch, insbesondere bei Bezeichnungen für normierte Maßeinheiten ohne «-Plural wie Pfund, Kilo oder 14 Daneben gibt es generische Auxiliar-Substantive wie Art oder Typ in eine Art Kartoffel, ein Typ Textw.A. (vgl. Aikhenvald 2000, S. 114f.). Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 71 Dutzend: *drei Pfunde Fleisch, *drei Kilos Kartoffeln, *sechs Dutzende Eier. Auch bei Bezeichnungen für Währungseinheiten (außer solchen mit «-Plural wie Krone) wird zur Angabe von Geldbeträgen nur der Singular benutzt: drei Euro. Dies ist deshalb erstaunlich, weil solche Auxiliar-Substantive gar nicht ohne weiteres durch ein Vollsubstantiv ergänzt werden können. Die Weglassung des jederzeit inferierbaren Masse-Substantivs Geld ist hier obligatorisch geworden. Sagt man dagegen im Plural drei Euros, so bezieht man sich auf drei Ein-Euro-Münzen. Hier wäre die Ergänzung durch Geld konzeptuell unmöglich. Euro ist daher in solchen Fällen kein Auxiliar- Substantiv (vgl. insgesamt Duden 2005, S. 177ff.). 4. Reinterpretationseffekte Die Pluralisierung von Masse-Substantiven und ihre Kombination mit Zähl- Quantifikatoren führt zu einem Reinterpretationseffekt: An die Stelle von Masse-Referenz tritt Individuen-Referenz, d.h. zusammen mit dem Merkmal [+inkrementiert] bzw. [+individuiert] wird das Merkmal [+heterogen] eingeführt. Die Reinterpretation erfolgt immer auf einem von vier Wegen, die ich als metrische, metonymische, metaphorische und generische Lesart bezeichnen möchte. Sie können hier nicht mehr im einzelnen diskutiert werden, sollen aber zumindest durch Beispiele kurz vorgestellt werden. Nominalgruppen wie: (21) Aufdem Tisch standen ein paar Bier. werden metrisch gedeutet. Als Referent werden ein paar Glas oder Flaschen Bier angenommen. Diese Lesart wird durch das nicht-pluralische Substantiv nach einem pluralischen Zähl-Quantifikator ausgelöst. Da diese Kombination nur für metrische Auxiliar-Substantive zugelassen ist (QP8), Bier aber offensichtlich kein Auxiliar-Substantiv ist, wird in solchen Fällen aufgrund kontextuell verfügbarer Informationen ein passendes metrisches Auxiliar- Substantiv inferiert (vgl. Duden 2005, S. 174f.). Entsprechendes gilt für Nominalgruppen wie drei Kaffee, vier Aspirin usw. Metonymische Deutungen setzen an die Stelle eines Masse-Referenten ein Individuum, das aus der betreffenden Substanz besteht bzw. zu ihr in einer Angrenzungs-(Kontiguitäts-)Beziehung steht: einen Laib Brot als Referenten für ein Brot, eine Eisenstange als Referenten für ein Eisen, einen Ball aus Leder für ein Leder, eine schöne Frau für eine Schönheit, eine Menge wahre Aussagen für eine Menge Wahrheiten usw. Metrische und metonymische 72 Hardarik Blühdom Deutungen sind nicht immer scharf auseinander zu halten. Ob ein Brot eine Portion Brot oder ein aus Brot bestehendes Individuum ist, kann im konkreten Fall irrelevant sein. Deshalb sind bei Kombinationen aus pluralischen Zähl-Quantifikatoren und nicht-pluralischen Substantiven wie drei Gold und vier Silber auch metonymische Deutungen (Gold- und Silbermedaillen) möglich. Metaphorische Deutungen ersetzen Masse-Referenten durch Individuen- Referenten nach dem Prinzip der Ähnlichkeit (Similarität). Das Deutsche macht im Bereich der Nominalreferenz nicht viel konventionellen Gebrauch von diesem Reinterpretationsweg. Eines der seltenen Beispiele ist die idiomatische Bezeichnung ein stilles Wasser für eine stille, nachdenkliche Person. In anderen Sprachen sind sie häufiger, etwa im brasilianischen Portugiesisch um fogo (‘ein Feuer’) für eine temperamentvolle Person, uma manteiga (‘eine Butter’) für eine weinerliche Person, um ferro (‘ein Eisen’) für ein Ärgernis, eine Niederlage u.v.m. Generische Deutungen schließlich setzen Kategorien-Referenten an die Stelle von Masse-Referenten: (53) In den Gewölben unserer Sandsteinkeller lagern hervorragende Weine. Kategorien sind nach Carlson (1980) logisch-konzeptuell Individuen gleichgestellt. Mit Ausnahme maß-quantifizierter Nominalgruppen kann jede referentielle Nominalgruppe des Deutschen mit generischer Referenz, also mit Referenz auf Kategorien gelesen werden (vgl. Blühdom 2001). Ob eine generische oder eine partikuläre Lesart gewählt wird, hängt einzig und allein von der Plausibilität im Kontext ab: (54) Knusper-Müsli mit neun Früchten. Wer diese Aufschrift auf einer Müsli-Verpackung liest, wird aufgrund seines Weltwissens kaum glauben, dass er in der Tüte neun Frucht-Individuen finden wird, sondern dass das Müsli Stückchen von insgesamt neun Frucht- Sorten enthält. In dieser Annahme wird er durch die aufgedruckte Liste der Zutaten bestätigt: Rosinen, Bananenchips, Apfel-, Aprikosen-, Birnen-, Dattel-, Feigen-, Pfirsich-, Pflaumenstücke. Wegen ihrer universalen Verfügbarkeit sind generische Deutungen eine gute Reinterpretationsstrategie für pluralische und/ oder zähl-quantifizierte Masse- Substantive. Eben wegen ihrer universalen Verfügbarkeit sind sie aber nur Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 73 möglich, wenn das Substantiv im Numerus mit dem Quantifikator übereinstimmt, wenn es also nach einem pluralischen Quantifikator ebenfalls pluralisiert ist (vgl. Duden 2005, S. 175). Nicht immer ist klar, welcher Reinterpretationsweg im Einzelfall zu wählen ist. Im folgenden Beispiel kann man zwischen einer metonymischen und einer generischen Deutung schwanken, also Gebäcke entweder als Gebäckstücke oder als Gebäcksorten lesen: (55) Es gab Gebäcke aus verschiedenen Ländern und dazu einen guten Wein. Bei Nominalgruppen aus Masse-Substantiv und singularischem Zähl-Quantifikator sind im Extremfall alle vier Reinterpretationswege möglich: (56) a. Ein stilles Wasser bitte, Herr Ober! (metrisch: ein Glas stilles Wasser) b. Dann kamen wir an ein stilles Wasser und packten unser Picknick aus. (metonymisch: ein stilles Gewässer) c. Da saß so ein stilles Wasser in der ersten Reihe und schaute mich versonnen an. (metaphorisch: eine schweigsame Person) d. Im Kurhaus schenken sie ein stilles Wasser aus, das muss man einfach probiert haben, (generisch: eine Wassersorte) Welche Deutung in solchen Fällen zu wählen ist, muss aufgrund kontextueller Plausibilität entschieden werden. 5. Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Aufsatz wurde die These vertreten, dass die Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen auf das Substantiv, die Nominalgruppe und den sprachlichen und außersprachlichen Referenz-Kontext verteilt ist. Es wurde gezeigt, dass Numerus und Zählbarkeit nur sachgerecht an indefiniten referentiellen Nominalgruppen untersucht werden können, weil definite und nicht-referentielle Nominalgruppen weniger strengen Explizitheitsanforderungen unterliegen. Die Unterscheidung zwischen Masse- und Individuen-Referenz wurde in Anlehnung an die Aspekt-Theorie Wolfgang Kleins aus der Relationierung eines kontextuell festgelegten Topik-Intervalls TI zu dem in der Nominal- 74 Hardarik Blühdorn gruppe beschriebenen Objekt-Intervall I-OBJ erklärt. Die Beschreibung von I-OBJ in der Nominalgruppe erfolgt durch vier semantische Merkmale: [+heterogen], [+inkrementiert], [+individuiert] und [^-kontinuierlich]. Das Merkmal [+heterogen] ist das semantisch schwächste. Es gehört zur lexikalischen Bedeutung von Zähl-Substantiven, kann aber in der Nominalgruppe und/ oder im Kontext unwirksam gemacht werden. Grammatikalisiert ist es in der Bedeutung der Auxiliar-Substantive. Substantive, zu deren lexikalischer Bedeutung das Merkmal [+heterogen] nicht gehört, heißen Masse- Substantive. Sie sind bezüglich Zählbarkeit unspezifiziert und können ohne Erweiterungen referentiell verwendet werden. Damit Zähl-Substantive referentiell interpretierbar werden, muss das Merkmal [+heterogen] durch mindestens ein weiteres Merkmal präzisiert werden. Das Merkmal [+inkrementiert] ist der semantische Beitrag des Plurals. Es impliziert das Merkmal [+heterogen], spezifiziert dieses aber weiter und macht dadurch Zähl-Substantive referenzfahig. Auxiliar-Substantive werden allein durch Pluralisierung noch nicht referenzfähig. Masse-Substantive nehmen bei Pluralisierung Individuen-Referenz an. Ähnlichkeiten von Masse- und Plural-Substantiven, die in der Literatur verschiedentlich beobachtet wurden, erklären sich aus der beiden gemeinsamen Nicht-Festlegung des Merkmals [+individuiert]. Dieses wird durch Zähl-Quantifikatoren in die Nominalgruppe eingebracht und liefert die Stärkstmögliche Präzisierung des Merkmals [+heterogen]. Auch Auxiliar- Substantive werden durch Zähl-Quantifikatoren referenzfähig gemacht. Das Merkmal [+kontinuierlich] wird durch Maß-Quantifikatoren eingeführt. Es setzt das Merkmal [+heterogen] außer Kraft und macht damit ebenfalls die Nominalgruppe referenzfähig. Eine Nominalgruppe kann nicht gleichzeitig die Merkmale [-Hndividuiert] und [+kontinuierlich] aufweisen: Maß- und Zähl-Quantifikatoren sind nicht miteinander kombinierbar. Der unmarkierte Referenztyp im Deutschen ist anders als üblicherweise angenommen (vgl. Eisenberg 1999, S. 157, Duden 2005, S. 172) - Masse- Referenz. Diese erlaubt auch Individuen-Lesarten, ohne sie aber zu erzwingen. Explizite Individuen-Referenz kommt nur durch zusätzliche Sprachmittel zustande, die Masse-Referenz ausschließen, insbesondere durch die Einführung der semantischen Merkmale [+inkrementiert] und/ oder [+individuiert]. Masse-Substantive werden in Nominalgruppen oder größeren Zur Semantik von Numerus und Zählbarkeit im Deutschen 75 Kontexten, die Masse-Referenz ausschließen, als Zähl-Substantive reinterpretiert. Dabei ist zwischen metrischer, metonymischer, metaphorischer und generischer Reinterpretation zu unterscheiden. Dieses Modell erweitert und präzisiert die gängige, aber deskriptiv und theoretisch noch unbefriedigende Erklärung der Zählbarkeitsunterscheidung in der deutschen Nominalgruppe. Indem es von deren statischer Zuordnung zum Substantiv abrückt, vermeidet es theoretisch-konzeptionelle Umständlichkeiten und Aporien. Stattdessen bettet es die Zählbarkeitsunterscheidung und mit ihr die Numerus-Semantik in den größeren Kontext der Referenz- und Aspekt-Semantik ein, die aus unabhängigen Gründen ohnedies benötigt wird. Dieser Ansatz versteht sich somit auch als ein Beitrag zur Ökonomie in der Grammatikschreibung des Deutschen. 6. Literatur Aikhenvald, Alexandra Y. (2000): Classifiers. A Typology of Noun Categorization Devices. Oxford: Oxford University Press. Allan, Keith (1980): Nouns and Countability. In: Language 56, S. 541-567. 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Da ein adnominales Demonstrativum der den gleichen Formenbestand wie der bestimmte Artikel hätte, ist die Annahme eines solchen vom bestimmten Artikel unterschiedenen Demonstrativums in der Literatur umstritten (vgl. Thieroff 2000, S. 194). Der bestimmte Artikel ist in den meisten Sprachen aus einem distalen oder nicht-proximalen Demonstrativum hervorgegangen (vgl. Greenberg 1978, S. 61; 1985, S. 279; Givon 1984, S. 418f). Es ist daher nicht überraschend, .dass sich homonyme Formen für Demonstrativum und Artikel auch in anderen Sprachen finden. Im adnominalen Bereich führt diese Homonymie aber nicht zwangsläufig zu struktureller Ambiguität. Artikel und Demonstrativum können sich vielfach durch spezielle (morpho)syntaktische Eigenschaften voneinander unterscheiden. So steht im Ungarischen das Demonstrativum az (‘jener’) adnominal immer zusammen mit dem Artikel a{z) und kann im Gegensatz zu diesem für Numerus und Kasus flektiert sein, vgl. (I). 1 (1) a. az az alma b. azt az almat jener der Apfel jener.AKK der Apfel.AKK ‘jener Apfel ’ ‘j enen Apfel ’ Im Ute (Uto-Aztekisch) werden Artikel und Demonstrativum positioned unterschieden, wobei der Artikel dem Substantiv folgt, das Demonstrativum ihm hingegen vorangeht (vgl. Dryer 2004, S. 4). Darüber hinaus soll das Demonstrativum immer, der Artikel dagegen nie betont sein, vgl. (2). Für hilfreiche Kommentare danke ich Eva Breindl. 1 Analoges gilt für das proximale Demonstrativum ez (‘dieser"). 80 Lutz Gunkel (2) a. 'ü ta'wäci b. ta'wäci 'u that man ‘that man’ man DEF ‘the man’ Eine dem Deutschen vergleichbarere Situation findet sich in den festlandsskandinavischen Sprachen. Im Schwedischen sind die Formen des sog. Adjektivartikels homonym mit denen des nicht-proximalen Demonstrativums den (Utrum Singular den, Neutrum Singular det, Plural de 2 ). Der Adjektivartikel tritt in der Nominalgruppe genau dann auf, wenn die definite Form des Substantivs durch ein Adjektiv modifiziert wird. 3 In Nominalgruppen wie det huset, die kein Adjektivattribut enthalten, wird det daher als Demonstrativum betrachtet (vgl. (3a)). Entsprechend kann es in Nominalgruppen wie det gamle huset entweder als Demonstrativum oder als Artikel analysiert werden (vgl. (3b)). 4 (3) a. det huset b. det gamle huset Eine relevante Rolle kommt auch hier der Betonung zu: Als Demonstrativum sei den in der Regel 5 betont bzw. stärker betont als der Artikel, so die Grammatiken (vgl. Holmes/ Hinchcliffe 1998, S. 162; SAG 1999 II, S. 322). Im Deutschen lässt sich ein etwaiges adnominales Demonstrativum der weder morphologisch noch distributioneil von dem bestimmten Artikel unterscheiden. Zur formalen Unterscheidung verweisen Grammatiken und Wörterbücher daher ausschließlich darauf, dass das Demonstrativum der in adnominaler Funktion betont sei (vgl. DWB II, Sp. 955-960; Curme 1922, S. 154, 157; GDS 1997, S. 324, 1934; Hentschel/ Weydt 2003, S. 245; Engel 2004, S. 364, 369). 6 Dies wird bisweilen auch graphisch kenntlich gemacht, 2 Bei der pronominalen Verwendung unterscheidet sich die Pluralform des Subjektkasus de graphematisch von der des Objektkasus dem. Phonologisch sind jedoch beide Formen gleich und werden [dom: ] ausgesprochen. 3 ln einfachen Nominalen wird Defmitheit nur flexivisch markiert, vgl. huset (‘das Haus’). 4 Akzenttragende (betonte) Wortformen werden durch Großbuchstaben gekennzeichnet. 5 Zu den Ausnahmen vgl. SAG (1999 II, S. 324, 326). 6 Gelegentlich wird diese Annahme zwar nicht explizit formuliert, aber in den betreffenden Beispielsätzen wird der stets typographisch als betont gekennzeichnet (so im Duden 2005, S. 289). das Haus.DEF ‘DAS Haus’ das alte Haus.DEF ‘DAS/ das alte Haus’ Betontes der 81 indem das Demonstrativum mit Akut {der, Brugmann 1904, S. 10) 7 oder Unterstreichung (der, GDS 1997, S. 1934) geschrieben wird (vgl. auch Curme 1922, S. 154). Andere grammatische Untersuchungen setzen dagegen überhaupt kein adnominales Demonstrativum der an (Helbig/ Buscha 1986, S. 357f.; Duden 1998, S. 338; Eisenberg 2004, S. 182), sondern betrachten betontes der einfach als den betonten bestimmten Artikel (implizit Schanen/ Confais 1986, S. 333; explizit Schanen 1996, S. 150f., 154; Bisle-Müller 1991, S. 62ff.; Eroms 2000, S. 257). 8 Ich werde im Folgenden für diese zweite Position argumentieren und zu zeigen versuchen, dass die Annahme eines adnominalen Demonstrativums der nicht haltbar ist. Adnominales der ist stets der bestimmte Artikel, der in betonter, aber auch in unbetonter Form demonstrativ verwendet werden kann. Die spezielle Bedeutung des betonten gegenüber dem unbetonten der erweist sich als ein pragmatischer Effekt der Akzentuierung bzw. Fokussierung. Trotz partieller funktionaler Übereinstimmungen zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen betontem der und dem Demonstrativum dieser. Die Arbeit ist wie folgt aufgebaut: ln Abschnitt 2.1 wird die Frage diskutiert, welcher Status dem Merkmal der Betontheit zukommt. Abschnitt 2.2 befasst sich mit den defmitheitsspezifischen semantisch-pragmatischen Eigenschaften von betontem der vor dem Hintergrund der Bedeutung von unbetontem der, d.h. der Bedeutung des bestimmten Artikels. Anschließend werden die pragmatischen Effekte von Akzentuierung bzw. Fokussierung vorgestellt, und es wird gezeigt, welche Auswirkungen die Akzentuierung auf die pragmatischen Verwendungsmöglichkeiten von mit der eingeleiteten Nominalgruppen hat (2.3). Abschnitt 3. widmet sich kurz dem Verhältnis zwischen adnominalem dieser und betontem der. Ein kurzes Schlusswort findet sich in Abschnitt 4. 2. Zum Status von adnominalem der 2.1 Das Merkmal der Betontheit Offensichtlich ist Betontheit ein übereinzelsprachlich relevantes Merkmal, wenn es um die Unterscheidung von homonymen Artikeln und Demonstrati- 7 Bei Brugmann (1904) bezieht sich der auch auf das pronominale Demonstrativum (ebenso Himmelmann 1997, S. 49f.). 8 Zur Übersicht über die verschiedenen Positionen in den neueren Grammatiken vgl. Thieroff (2000, S. 194). 82 Lutz Gunkel va 9 geht; für das Deutsche wäre es wie wir gesehen haben sogar das einzige formale Merkmal. ‘Betontheit’ meint in diesem Zusammenhang immer die Eigenschaft, einen Satzakzent zu tragen. Nun sind Satzakzente aber keine lexikalischen Merkmale von Wörtern oder Wortformen; vielmehr können Wortformen als syntaktische Einheiten in Sätzen nach Maßgabe der jeweiligen semantisch-pragmatischen Gegebenheiten oder auch einfach aufgrund von rhythmischen Bedingungen 10 einen Satzakzent tragen oder nicht. Auch gibt es keine lexikalischen Merkmale, die die Akzentuierung einer Wortform im Satz erzwingen würden. Somit mag die Redeweise von einem betonten der zwar angemessen sein, um die intendierte Unterscheidung deskriptiv zu erfassen. Da aber Betontheit kein lexikalisches Merkmal ist, kann es die anvisierte Wortartenunterscheidung nicht fundieren. Im Deutschen wären daher ein Artikel der und ein adnominales Demonstrativum der nur semantisch voneinander abgrenzbar. Damit stellt sich die Frage, worin sich betontes und unbetontes der semantisch voneinander unterscheiden; insbesondere ist der Zusammenhang zwischen Betontheit und Demonstrativität, d.h. der semantischen Charakteristik von Demonstrativa, zu klären. 2.2 Semantisch-pragmatische Charakteristik von betontem der Zwischen betontem und unbetontem der gibt es einen relevanten pragmatischen Unterschied, denn betontes der ist auf Kontexte beschränkt, in denen das Referenzobjekt für den Hörer entweder wahrnehmbar oder textuell zugänglich ist. Es handelt sich m.a.W. um deiktische (vgl. (4a)) und anaphorische (vgl. (4b)) Verwendungen." (4) a. (Kontext: Der Sprecher zeigt auf einen Ring: ) DER Ring gefällt mir am besten. b. Einer der Ringe war aus Gold. DER Ring gefiel mir am besten. 9 Im Folgenden spreche ich der Einfachheit halber schlicht von „Demonstrativa“, auch wenn ausschließlich die adnominalen Demonstrativa gemeint sind. 10 Vgl. Büring (2003, S. 11). 11 Ausgenommen von dieser Beschränkung ist eine Variante von betontem der, die im Folgenden nicht weiter berücksichtigt wird, und die sich in Sätzen wie Ich habe endlich DIE Lösung gefunden, findet. Gemeint ist hier, dass von allen potentiell alternativen Lösungen die gefundene den höchsten Wert auf einer Bewertungsskala einnimmt. Diese Variante unterscheidet sich vor allem durch den Bewertungsaspekt von den ‘regulären’ Fällen von betontem der. Betontes der 83 Ausgeschlossen ist betontes der damit mindestens in zwei 12 der in Hawkins (1978, S. 106ff.) anhand des Englischen herausgearbeiteten Verwendungsarten für bestimmte Artikel: den situativen Verwendungen, in denen das Referenzobjekt für den Hörer nicht wahrnehmbar ist. Dazu gehören die sog. unmittelbar-situative (vgl. (5a)) und die abstrakt-situative Verwendungsart (vgl. (5b)). 13 Da sich beide Verwendungen dadurch auszeichnen, dass der (nicht-wahrnehmbare) Referent mithilfe von situativen Indikatoren erschlossen werden muss, werden sie im Folgenden zusammenfassend als inferentiell-situativ bezeichnet. (5) a. (Bei einer Wohnungsbesichtigung: ) # Wo ist denn hier DIE Küche? u b. Hast du die Nachrichten gehört? # DER Ministerpräsident ist zurückgetreten! Es lässt sich nun zeigen, dass die semantisch-pragmatische Charakteristik von betontem der mit diesen Verwendungssituationen nicht vereinbar ist, und zwar wesentlich aufgrund der durch die Akzentuierung induzierten pragmatischen Bedeutungskomponente. Betrachten wir zunächst die Semantik des bestimmten Artikels. Für alle Verwendungen gilt hier neben der sog. Existenzbedingung die für das Folgende keine Rolle spielt die sog. Einzigkeitsbedingung (Russell 1905; Hawkins 1978; 1991, S. 414): Die erfolgreiche Verwendung einer definiten Nominalgruppe der V' 15 setzt voraus, dass das Referenzobjekt in dem von der Äußerungssituation vorgegebenen relevanten Kontext der einzige Gegenstand vom Typ N 1 ist. Bei einer Äußerung wie Ich möchte den roten Hut! gelingt die Referenz der Nominalgruppe den roten Hut nur dann, wenn in dem fraglichen Kontext nicht mehr als ein roter Hut vorhanden ist. Ansonsten könnte der Hörer nicht verstehen, wel- 12 Vernachlässigt werden hier die sog. „‘unfamiliar’ uses“ (Hawkins 1978, S. 130ff.), für die aber betontes der ebenfalls ausgeschlossen ist. 1 Hawkins (1978, S. 115, 123) spricht von „immediate situation use“ bzw. „larger situation use“ in Bezug auf die deiktische Verwendung von „visible situation use“. Ich übernehme die Übersetzungen aus Vater (1984, S. 35ff). Zu beachten ist, dass bei Hawkins die unmittelbar-situative Verwendung die deiktische als Spezialfall einschließt. Ich verfahre im Folgenden terminologisch so, dass mit unmittelbar-situativ nur solche Verwendungsarten gemeint sind, in denen das Referenzobjekt nicht wahrnehmbar ist. 14 „#“ kennzeichnet hier und im Folgenden pragmatisch abweichende Äußerungen. 15 „N'„ bezeichnet hier und im Folgenden den zum Artikel komplementären Ausdrucksteil einer Nominalgruppe, also entweder eine Substantivform oder eine Substantivform zusammen mit ihren Attributen. 84 Lutz Gunkel eher von mehreren roten Hüten gemeint ist. Gibt es (im Kontext) mehr als einen roten Hut oder allgemeiner: mehr als einen Gegenstand vom Typ Ni', dann hat der Sprecher prinzipiell zwei Möglichkeiten, die Referenz eindeutig zu machen: erstens, mithilfe von sprachlichen Mitteln, indem er den Ausdruck Ni' durch einen eindeutigeren Ausdruck N 2 ' ersetzt (z.B. der rote Hut links von dem blauen) und damit der Einzigkeitsbedingung Genüge leistet, oder durch zusätzliche außersprachliche Mittel, nämlich Zeigegesten: Indem der Sprecher auf einen Gegenstand zeigt, greift er einen Raumausschnitt der Äußerungssituation heraus, in dem das Referenzobjekt wiederum der einzige Gegenstand seiner Art ist und in dem andere potentielle Referenzobjekte der gleichen Art nicht verkommen. M.a.W.: Er passt den Kontext an die Vorgaben des sprachlichen Ausdrucks an, während er im ersten Fall den sprachlichen Ausdruck an die Vorgaben des Kontexts anpasst. 2.2 Der pragmatische Effekt der Akzentuierung Nun zur Akzentuierung: Der pragmatische Effekt von Satzakzenten besteht darin, dass der durch einen oder mehrere Akzente gekennzeichnete fokussierte 16 Ausdruck in Beziehung zu potentiellen Alternativen gesetzt wird. 17 Betrachten wir dazu das folgende Beispiel: (6) a. Ich möchte den roten HUT. b. Ich möchte den ROTEN Hut. c. Ich möchte DEN roten Hut. In (6a) sind zwei Alternativenmengen möglich, je nachdem, ob durch den Akzent die gesamte Nominalgruppe oder nur das Substantiv als Fokus markiert wird. Im ersten Fall ist (6a) eine pragmatisch angemessene Antwort auf die Frage Welchen Gegenstand möchtest du? ; die Altemativenmenge umfasst hier Gegenstände, die im Kontext als Alternativen zum Referenzobjekt von der rote Hut in Frage kommen. Im zweiten Fall ist die Äußerung als Antwort auf die Frage Welchen roten Gegenstand möchtest du? angemessen, wobei die Altemativenmenge kontextuell gegebene rote Gegenstände umfasst. (6b) wiedemm, wo das Adjektiv fokussiert ist, wäre als Antwort auf die Frage Welchen Hut möchtest du? angemessen; die Alternativen wären 16 Ich beschränke mich hier auf fokusmarkierende Akzente. Das ist insofern unproblematisch, als auch für topikmarkierende Akzente gilt, dass der als (kontrastives) Topik ausgezeichnete Ausdruck in Beziehung zu Alternativen gesetzt wird, vgl. Büring (1997, S. 65ff.). 17 Vgl. Rooth (1985, S. lOff.). Betontes der 85 hier kontextuell gegebene Hüte, die nicht rot sind. Wie sieht es nun mit (6c) aus? Offensichtlich wäre eine Äußerung dieses Satzes eine pragmatisch angemessene Antwort auf die Frage Welchen roten Hut möchtest du? . Alternativen wären in diesem Fall andere rote Hüte. Man erkennt hieran zunächst, dass der pragmatische Effekt der durch die Akzentsetzung markierten Fokussierung in allen drei Fällen einheitlich ist. Unterschiede ergeben sich nur aufgrund der jeweiligen Bedeutungsarten der fokussierten Einheiten. Werden Inhaltswörter wie Substantive (außer Eigennamen) und Adjektive fokussiert, so ergibt sich die Altemativenmenge durch Bezug auf Gegenstände anderer Art. Wird dagegen der Artikel fokussiert, so ergibt sich die Alternativenmenge durch Bezug auf Gegenstände der gleichen Art. Der durch die Fokussierung ausgelöste Altemativenbezug steht nun aber in potentiellem Konflikt zu der durch die Bedeutung des bestimmten Artikels induzierten Einzigkeitsbedingung. In Fällen wie (6a) und (6b), also bei der Fokussierung von Inhaltswörtem, geschieht die Abgrenzung gegenüber Alternativen aufgrund der begrifflichen Bedeutung der Nominal gruppe: ein roter Hut steht (roten) Gegenständen anderer Art (vgl. (6a)) bzw. Hüten anderer Farbe gegenüber (vgl. (6b)). In Fällen wie (6c) dagegen wird das intendierte Referenzobjekt überhaupt nicht begrifflich von alternativen Objekten abgegrenzt: Gemeint ist ja ein bestimmter roter Hut gegenüber anderen roten Hüten. Bei der deiktischen Verwendungsweise, in der das Referenzobjekt in der Äußerungssituation für Sprecher und Hörer wahrnehmbar ist, kann Einzigkeit wie wir gesehen haben durch Zeigegesten hergestellt werden, die für diese Verwendungsweise geradezu charakteristisch sind. Bei der anaphorischen Verwendungsweise kann das Referenzobjekt ebenso wie seine Alternativen insofern als kontextuell präsent gelten, als sie vorerwähnt sind, d.h. ihre Benennung in zeitlicher Nähe zur Äußerungssituation steht. Mit einer Äußerung wie DER rote Hut gefiel mir bezieht sich der Sprecher auf einen von mehreren in den Diskurs eingefuhrten roten Hüten und zwar auf den, von dem unmittelbar zuvor die Rede war, vgl. etwa: (7) Am Ende zeigte sie mir NOCH einen roten Hut. DER rote Hut gefiel mir besser als der erste. Festzuhalten bleibt, dass sowohl bei der deiktischen, als auch bei der anaphorischen Verwendung die Abgrenzung gegenüber potentiellen Alternativen nicht aufgrund der begrifflichen Bedeutung der Nominalgruppe erfolgen 86 Lutz Gunkel kann. Der Sprecher muss daher auf zusätzliche deiktische bzw. im Fall der anaphorischen Verwendung - ‘quasi-deiktische’ Strategien 18 zurückgreifen. Diese setzen jedoch gerade die situative bzw. textuelle Präsenz des Referenzobjekts und seiner potentiellen Alternativen voraus. Es lässt sich nun leicht erklären, warum betontes der in den inferentiellsituativen Verwendungsweisen des Artikels ausgeschlossen ist: Die Fokussierung drückt aus, dass Alternativen zu dem Referenzobjekt des fokussierten Ausdrucks zur Debatte stehen. Ist dies durch den Kontext nicht gegeben, so ist die entsprechende Äußerung generell pragmatisch abweichend. Das gilt z.B. auch für eine Äußerung wie (6b) in einem Kontext, in dem überhaupt nur ein einziger Hut gegeben ist. Das gilt aber auch für die in (5) angeführten Äußerungen mit ihren jeweiligen Kontexten: Beide Beispiele favorisieren Lesarten, in denen Alternativen zum Referenzobjekt der jeweiligen definiten Nominalgruppe überhaupt nicht zur Debatte stehen, in denen der vorangehende Kontext also keinerlei Hinweise auf Küchen oder Ministerpräsidenten enthält. Nimmt man an, dass das so ist, sind die Beispiele pragmatisch abweichend. Das hat aber nichts mit einer speziellen Bedeutung von betontem der zu tun, denn die analogen Beispiele in (8), in denen nicht der Artikel, sondern jeweils ein attributives Adjektiv akzentuiert (und damit auch fokussiert) ist, sind unter den gleichen kontextuellen Bedingungen ebenfalls pragmatisch abweichend: (8) a. (Kontext: Sprecher betritt eine Wohnung zu einer Wohnungsbesichtigung: ) Wo ist denn hier die ZWEITE Küche. b. Hast Du die Nachrichten gehört? # Der BAYERISCHE Ministerpräsident ist zurückgetreten! Die entscheidende Frage ist nun, weshalb betontes der in den inferentiellsituativen Verwendungen auch dann nicht auftreten kann, wenn die durch die Fokussierung geforderten pragmatischen Bedingungen erfüllt sind, d.h. wenn entsprechende Alternativen kontextuell gegeben sind. Die Antwort ist, dass gerade in diesem Fall dem Sprecher keine Mittel zur Verfügung stünden, das intendierte Referenzobjekt von den Alternativen abzugrenzen und damit die Referenz eindeutig zu machen: Der Sprecher kann wie wir gesehen haben das Referenzobjekt nicht begrifflich abgrenzen; er kann aber auch nicht auf (quasi-)deiktische Strategien zurückgreifen, weil diese wie- 18 Manche Theorien zu Deixis und Anaphorik sprechen denn auch in Bezug auf Beispiele wie (7) von ‘anadeiktischen’ Verwendungen (vgl. z.B. Duden 2005, S. 289). Betontes der 87 derum mit den inferentiell-situativen Verwendungsarten inkompatibel sind: Der Einsatz von Zeigegesten setzt die wahrnehmbare Präsenz des Referenzobjekts voraus, was aber bei diesen Verwendungen per defmitionem nicht der Fall ist. Umgekehrt heißt das, dass diese Verwendungen die Präsenz von Alternativen zum Referenzobjekt ausschließen, weil sie wesentlich voraussetzen, dass das Referenzobjekt das einzige Objekt seiner Art im entsprechenden Kontext ist. Der Sprecher setzt bei den inferentiell-situativen Verwendungen voraus, dass der Hörer den Kontext so akkommodieren kann, dass gerade diese Einzigkeitsbedingung erfüllt ist. Werden aber Alternativen eingeführt, dann ist eine solche Akkommodation nicht mehr möglich, es sei denn, es würden begriffliche oder deiktische Spezifikationen hinzugefugt, die aber in diesen Verwendungen gerade ausgeschlossen sind. Zwei Beispiele zur Illustration: (9) a. A: Welcher Raum gefüllt dir am besten? B: Die KÜCHE. b. A: Welches ist dein Lieblingsgebäude? B: Das RATHAUS. (10) a. A: Welche Küche gefällt dir am besten? B: # DIE Küche. (Ohne Zeigegeste.) b. A: Welches Rathaus gefällt dir am besten? B: # DASRathaus. (Ohne Zeigegeste.) Die Antworten in (9) sind Beispiele für die erfolgreiche Referenz in der unmittelbar-situativen (vgl. (9a)) bzw. abstrakt-situativen (vgl. (9b)) Verwendungsart. Die Altemativenmengen, die durch die Fragen etabliert werden, umfassen Räume bzw. Gebäude. Der Hörer akkommodiert den Interpretationskontext jeweils soweit, dass die Einzigkeitsbedingung erfüllt ist, im ersten Fall auf den Bereich der Wohnung, im zweiten auf den der Stadt, in der sich Sprecher und Hörer aufhalten. In (10) beinhalten die Altemativenmengen Küchen bzw. Rathäuser. Da damit bereits jeweils mehrere Objekte der gleichen Art als potentielle Referenzobjekte in den Kontext eingefuhrt worden sind, kann der Hörer den Interpretationsspielraum nicht auf einen Kontext beschränken, in dem nur ein einziges Objekt der fraglichen Art vorhanden ist. Er wäre daher auf zusätzliche sprachliche oder außersprachliche Indikatoren vonseiten des Sprechers angewiesen, die aber nicht gegeben werden können. 88 Lutz Gunkel Jetzt kann man auch verstehen, weshalb eine generische Interpretation von mit betontem der eingeleiteten Nominalgruppen in einigen Fällen möglich ist, in anderen dagegen nicht: Sie ist genau dann möglich, wenn im Kontext alternative Arten gegeben sind, die zur gleichen Gattung gehören wie die von der Nominalgruppe bezeichnete Art. Im folgenden Beispiel sind das unterschiedliche Arten von Säure: (11) Wir probieren es jetzt mal mit Schwefelsäure. DIE Säure haben wir noch nicht ausprobiert. Dass generische Interpretationen von Nominalgruppen mit betontem der nur bei anaphori sehen Verwendungen möglich sind, hat unterschiedliche Gründe: Da Gattungen abstrakte Entitäten sind, sind sie nicht wahrnehmbar und daher auch nicht deiktisch benennbar. (Auf Gattungen lässt sich auch nicht zeigen.) Die deiktische Verwendung ist damit ausgeschlossen, es sei denn, man rechnet auch solche Verwendungen zu den deiktischen, in denen ein Sprecher sich zwar deiktisch auf ein Exemplar einer Gattung bezieht, aber nicht dieses, sondern die Gattung meint, vgl. (12). (12) (Kontext: Der Sprecher zeigt auf eine Mango: ) DIE Frucht kenne ich noch nicht. 19 Was die situativ-inferentiellen Verwendungen angeht, so lässt sich dafür argumentieren, die Referenz auf Gattungen als eine Instanz der abstraktsituativen Verwendung definiter Nominalgruppen zu betrachten. 20 Gattungen sind als abstrakte Entitäten ‘global präsent’ und als Unikate situationsunabhängig definit benennbar. Als Unikate schließen sie aber auch die Existenz von alternativen Entitäten der gleichen Art aus, so dass abstrakt-situative Verwendungen definiter Nominalgruppen mit betontem im Gegensatz zu solchen mit unbetontem der, sprich mit dem bestimmten Artikel, keine generische Interpretation haben können, vgl. (13): (13) DielDIE Mango enthält viel Vitamin C. Ausnahmen sind Verwendungen wie in (11) (und ggf. (12)), in denen der Sprecher mit einem Ausdruck X auf eine Unterart von X referiert und weitere Unterarten von X kontextuell gegeben sind; die letzte Voraussetzung ist aber gerade bei der abstrakt-situativen Verwendung nicht erfüllt (s. dazu die obige Diskussion). 21 19 Vgl. Bisle-Müller (1991, S. 145) zu analogen Beispielen mit öl/ eser. 20 Vgl. bereits Wackemagel (1926, S. 134) sowie Himmelmann (1997, S. 37). 21 Für Thieroff (2000, S. 201f.) sind Datenkontraste wie in (13) der Beweis dafür, dass betontes der nicht der betonte bestimmte Artikel, sondern ein anderes Wort, eben ein Demon- Betontes der 89 Betrachten wir abschließend noch den Fall der sog. assoziativ-anaphorisehen Verwendung definiter Nominalgruppen. Ein typisches Beispiel mit unbetontem der ist (14a), dessen Entsprechung mit betontem der (14b) in dem gegebenen Kontext offensichtlich pragmatisch abweichend ist. (14) a. Ein Auto fuhr vorbei. Die Bremsen quietschten. b. Ein Auto fuhr vorbei. # DIE Bremsen quietschten. In (14a) ist die Verwendung der definiten Nominalgruppe die Bremsen unproblematisch, obwohl im Vortext noch gar nicht von Bremsen die Rede war. Das Referenzobjekt wird hier assoziativ über einen im Vortext genannten Ausdruck erschlossen, in diesem Fall ein Auto. Man könnte vermuten, dass (14b) deshalb unangemessen ist, weil der Kontext keinen Hinweis auf Alternativen, also andere Bremsen enthält. Dass dies nicht die ganze Erklärung sein kann, zeigt (15), wo im Vortext von den Bremsen eines anderen Autos die Rede ist: (15) Ein Auto fuhr vorbei. Die Bremsen quietschten. Dann fuhr ein weiteres Auto vorbei. "DIE Bremsen quietschten nicht. Das Problem mit diesen Beispielen besteht generell darin, dass das Referenzobjekt einerseits erst assoziativ etabliert werden muss, anderseits aber durch die Fokussierung bereits mit anderen Objekten der gleichen Art kontrastiert wird. Ebenso wie echte deiktische setzen solche quasi-deiktischen (oder ‘anadeiktischen’, vgl. Anm. 18) Verwendungen kontextuell ‘aktivierte’ Diskursreferenten voraus. 22 Dies ist in Beispielen wie (15) umso weniger gegeben, als die vorangehende Erwähnung von Entitäten des gleichen Typs kaum dazu geeignet ist, diese als alternative Diskursreferenten zu etablieren. Mit dem zweiten Satz in (15) wird weniger eine Aussage über bestimmte Bremsen gemacht, als über das zuvor erwähnte Auto bzw. die gesamte Situastrativum sei. Thieroff argumentiert, dass Satzakzente nicht die Bedeutung von Sätzen „in einem satzsemantischen Sinne“ (ebd., S. 21) beeinflussen, sondern lediglich dessen pragmatische Verwendungsmöglichkeiten. Da Sätze wie (13) mit betontem der keine generische Interpretation zulassen, liege hier ein Unterschied in der Satzbedeutung vor, der nach Voraussetzung nicht auf den Einfluss des Satzakzents zurückgefuhrt werden kann. Diese Argumentation ist nicht haltbar. Erstens können Satzakzente durchaus Lesarten von Sätzen blockieren und in diesem Sinn die Satzbedeutung beeinflussen. So können etwa Topikakzente bestimmte Skopuslesarten blockieren (vgl. Büring 1997, S. 119ff.). Zweitens hatten wir gesehen, dass die Akzentuierung von der einen regulären pragmatischen Effekt hat, und drittens, dass generische Lesarten bei betontem der nicht generell ausgeschlossen sind. 22 Zum Konzept der Aktivierung vgl. Gundel/ Hedberg/ Zacharski (1993, S. 278f.). 90 Lutz Gunkel tion. Umgekehrt gilt dann allerdings, dass Fälle der assoziativ-anaphorischen Aufnahme mit betontem der umso besser werden, je deutlicher potentiell alternative Objekte der gleichen Art N' in den Kontext eingefuhrt worden sind und je deutlicher ist, dass eben von solchen Objekten im Kontext die Rede ist, m.a.W., dass Objekte der fraglichen Art ‘Diskurstopik’ sind. Vgl. z.B. (16) und als weiteres Beispiel (17): 23 (16) A: Gibt es eigentlich noch Bremsen, die quietschen? B: Ja, bei meinem Auto: DIE Bremsen quietschen vielleicht! (17) Wir warteten auf einen Fahrer mit einer roten Mütze. Ein Auto hielt gegenüber. DER Fahrer trug eine BLA UE Mütze ... 3. Dieser und betontes der In diesem abschließenden Abschnitt werden wir uns kurz mit der Frage befassen, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen betontem der und dem Demonstrativum dieser bestehen. Die Frage ist relevant, weil in der Literatur gelegentlich die Gemeinsamkeiten hervorgehoben werden, um zu zeigen, dass betontes der, da es sich semantisch-pragmatisch wie ein Demonstrativum verhalte, auch ein Demonstrativum sein müsse (vgl. z.B. Thieroff 2000, S. 199ff.). Zunächst eine begriffliche Klarstellung: Dass Nominalgruppen vom Typ DER N' (teilweise) den gleichen semantisch-pragmatischen Beschränkungen unterliegen wie Nominalgruppen vom Typ dieser N' (bzw. DIESER N'), zeigt noch nicht, dass betontes der ein Demonstrativum ist, sondern ist mit der Annahme vereinbar, dass die Beschränkungen, die im Fall von DER N' durch die Akzentuierung (Fokussierung) induziert werden, im Fall von dieser N' auf einer lexikalischen Bedeutungskomponente des Demonstrativums beruhen. (Im Fall von DIESER N’ können sie natürlich ebenfalls durch die Akzentuierung induziert sein.) Betrachten wir nun einige Gemeinsamkeiten zwischen dieser und betontem der. Dieser findet sich in deiktischen und anaphorischen Kontexten (vgl. (18)) und ist in inferentiell-situativen 24 ausgeschlossen (vgl. (19)). 25 23 (17) ist mit einer ‘Brückenkontur’ zu lesen, d.h. mit einem steigenden Topikakzent auf der und einem fallenden Fokusakzent auf blaue. 24 Die von Bisle-Müller (1991, S. 74f.) als Gegenbeispiele aufgefiihrten Beispiele scheinen mir alle Instanzen des sog. ‘anamnestischen’ Gebrauchs (s.u.) von dieser zu sein. Betontes der 91 (18) a. (Kontext: Der Sprecher zeigt auf einen Ring: ) Dieser Ring gefällt mir am besten. b. Einer der Ringe war aus Gold. Dieser Ring gefiel mir am besten. (19) a. (Bei einer Wohnungsbesichtigung: ) Wo ist denn hier diese Küche? b. Hast du die Nachrichten gehört? Dieser Ministerpräsident ist zurückgetreten! Die Beispiele in (19) scheinen nur bei einer speziellen Verwendung des Demonstrativums akzeptabel zu sein, die in der Literatur als „anamnestisch“ (Himmelmann 1997, S. 61) bzw. „recognitional“ (Diessel 1999, S. 105) bezeichnet wird. Kennzeichnend für diese Verwendungsweise ist, dass die Identität des Referenzobjekts für den Hörer nicht mithilfe von globalem Wissen erschließbar ist, sondern unter Rekurs auf bestimmte Erfahrungen, die der Hörer mit dem Sprecher teilt. Anders als die inferentiell-situativen Verwendungen des bestimmten Artikels ist der anamnestische Gebrauch von dieser nicht möglich, wenn der Hörer dem Sprecher völlig unbekannt ist. Sieht man von dieser Verwendungsmöglichkeit ab, verhalten sich dieser und betontes der mit Blick auf die Beispiele in (18) und (19) (bzw. (4) und (5)) parallel. Das lässt zunächst zwei verschiedene Annahmen zur Bedeutung der beiden Ausdrücke zu: (i) Dieser und betontes der sind beide lexikalisch indexikalisch, d.h. betontes der ist ein Demonstrativum. (ii) Dieser ist lexikalisch indexikalisch, betontes der dagegen nicht (d.h. es ist der bestimmte Artikel), aber die Akzentuierung (Fokussierung) von der hat in den genannten Beispielen den gleichen Effekt wie lexikalisch induzierte Indexikalität, nämlich die Fixierung des Referenten auf die Äußerungssituation. Ich setze für das Folgende voraus, dass die (lexikalische) Indexikalität von dieser außer Frage steht; wie genau die anamnestischen Verwendungen einzuordnen sind, bliebe zu klären. 26 Der Ausschluss aus den inferentiellsituativen Verwendungen lässt sich damit erklären, dass das Referenzobjekt aufgrund der indexikalischen Bedeutungskomponente wahrnehmbar sein 25 In den folgenden Beispielen werden nicht immer Akzente verzeichnet, da sie nicht auf ein bestimmtes Akzentmuster festgelegt werden sollen. 26 Man könnte argumentieren, dass das Demonstrativum auch in diesen Verwendungen insofern indexikalisch ist, als der deiktische Raum hier das gemeinsame Erfahrungswissen von Sprecher und Hörer ist, in dem der Referent zu lokalisieren ist. 92 Lutz Gunkel muss (vgl. Hawkins 1978, S. 152; 1991, S. 414). Was betontes der angeht, so sollten die Überlegungen der vorangehenden Abschnitte gezeigt haben, dass dessen spezielle pragmatische Eigenschaften nicht die Annahme einer solchen Bedeutungskomponente voraussetzen und dass für betontes und unbetontes der damit nicht zwei verschiedene lexikalische Wörter angenommen werden müssen. Die hier favorisierte zweite o.g. Annahme lässt sich weiter durch Beispiele stützen, in denen betontes der nicht mit dieser austauschbar ist: (20) a. Wir werden auf DER/ DIESER PRESSEKONFERENZ keine Namen nennen. b. Wenn Sie in DER! DIESER STADT Auto fahren, halten Sie sich bitte an die Verkehrsregeln. ln Beispielen wie (20a, b) wird das Demonstrativum ‘symbolisch’ im Sinne von Fillmore (1997, S. 62f.) verwendet. Das Referenzobjekt ist hier kein in der Sprechsituation salienter Gegenstand, sondern durch die allgemeinen Koordinaten der Sprechsituation mitgegeben. Der Sprecher kann sich mit dieser genau auf die Pressekonferenz beziehen, auf der er sich gerade befindet bzw. auf die Stadt, in der er sich gerade aufhält. Das ist mit betontem der nicht ohne weiteres möglich: Um die intendierte Lesart zu erzeugen, muss der Sprecher entweder eine Zeigegeste verwenden oder er muss die Nominalgruppe um ein deiktisches Adverb erweitern (vgl. (21a, b)). Andernfalls kann betontes der wie in (20a, b) nur anaphorisch gelesen werden. (21) a. Wir werden auf DER PRESSEKONFERENZ hier keine Namen nennen. b. Wenn Sie in DER STADT hier Auto fahren, halten Sie sich bitte an die Verkehrsregeln. Diesen Unterschied zwischen betontem der und dieser könnte man auch mit dem Hinweis darauf zu erklären versuchen, dass dieser Proximität ausdrücke, während der mit Blick auf den Distanzparameter neutral sei. Dazu würde passen, dass das deiktische Adverb in (21a, b) gerade das proximale hier ist. Es ist allerdings fraglich, ob sich der relevante Unterschied zwischen dieser und der tatsächlich in Bezug auf den Distanzparameter erklären lässt. Die o.g. Auffassung, derzufolge dieser proximal, der dagegen distanzneutral sei, Betontes der 93 wird von Grimm (1898, IV, S. 519) vertreten; aber bereits Behaghel (1923,1, S. 293) argumentiert gegen Grimm, dass zwischen der und dieser kein Distanzkontrast bestehe. Später weist dann Eisenberg (1986, S. 191) daraufhin, dass Distanzkontraste „in der Umgangssprache“ durch Kombinationen von dieser mit einem geeigneten deiktischen Adverb ausgedrückt werden (vgl. (22)), eine Einsicht, die Himmelmann (1997, S. 50) und Thieroff (2000, S. 208f.) veranlassen, mit Blick auf die gesprochne Sprache ebenfalls die Behagheische Auffassung zu vertreten. (22) a. dieser hier, dieser dort b. dieser Hut hier, dieser Hut dort Wir lassen das Problem hier offen und halten fest: Falls (adnominales) 27 dieser distanzneutral ist, wäre der Datenkontrast in (20a, b) am ehesten damit zu erklären, dass betontes der im Unterschied zu dieser überhaupt nicht indexikalisch ist. Ein weiterer signifikanter Unterschied zwischen dieser und betontem der zeigt sich schließlich bei restriktiven Relativsätzen, deren Bezugsnominal von betontem der, nicht aber von dieser eingeleitet werden kann: 28 (23) a. DER Mann, der das Rennen gewinnt, bekommt einen Preis. b. Dieser Mann, der das Rennen gewinnt, bekommt einen Preis. (24) DER! Der Mann hier! dort, der das Rennen gewinnt, bekommt einen Preis. In (23a) kann der Relativsatz restriktiv und nichtrestriktiv gelesen werden, in (23b) dagegen nur nichtrestriktiv. Bei der restriktiven Lesart steht der Referent zum Äußerungszeitpunkt noch nicht fest; dies ist mit der Indexikalität von dieser nicht vereinbar: Bei dieser muss der Referent im unmittelbaren Äußerungskontext gegeben und identifizierbar sein. Im Übrigen hätte ein Satz wie (23a) auch bei unbetontem der beide Lesarten; hier verhält sich also betontes der wie unbetontes der und anders als dieser. Ferner zeigt (24), dass 27 Problematisch ist diese Auffassung möglicherweise in Bezug auf die pronominalen Verwendungen von dieser und der, denn bei Wegfall eines Distanzunterschieds stellt sich die Frage, worin sich beide Prononima überhaupt semantisch unterscheiden; im Gegensatz zu adnominalem der ist pronominales der aufjeden Fall ein Demonstrativum. - Himmelmann (1997, S. 50) hat auf diese Frage jedenfalls keine Antwort. 28 Vgl. Bisle-Müller (1991). 94 Lutz Gunkel bei Hinzufügung eines deiktischen Lokaladverbs die restriktive Lesart ausgeschlossen wird, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein proximales {hier) oder distales {dort) Adverb handelt. Das deutet darauf hin, dass in diesem Fall die Distanzkomponente für den Unterschied zwischen betontem der und dieser irrelevant ist. 4. Schluss In etlichen Grammatiken und grammatischen Untersuchungen zum Deutschen wird neben dem bestimmten Artikel im adnominalen Bereich ein sog. betontes der angesetzt, dem der Status eines adnominalen Demonstrativums zugeschrieben wird. Beide ders sind morphologisch ununterscheidbar und formal nur durch die Abbzw. Anwesenheit eines Satzakzents geschieden. Die formale Unterscheidung von Lexemen unter Rekurs auf Satzakzente ist jedoch theoretisch unhaltbar. Funktional erweisen sich die Verwendungskontexte von betontem der als eine (echte) Teilmenge der Verwendungskontexte des Artikels. Das deutet darauf hin, dass sich die pragmatischen Beschränkungen von betontem der gegenüber denen des bestimmten Artikels als eine Funktion der durch die Akzentsetzung markierten Fokussierung bestimmen lassen. Genau das wurde in diesem Beitrag versucht zu zeigen. Im Deutschen kann der bestimmte Artikel akzentuiert werden; in diesem Fall unterliegt sein Gebrauch pragmatischen Beschränkungen, die (teilweise) auch für Demonstrativa gelten. 5. Literatur Behaghel, Otto (1923): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 1. Die Wortklassen und Wortformen. A. Nomen. Pronomen. Heidelberg: Carl Winter. Bisle-Müller, Hansjörg (1991): Artikelwörter im Deutschen. Semantische und pragmatische Aspekte ihrer Verwendung. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 267). Brugmann, Karl (1904): Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen. Eine bedeutungsgeschichtliche Untersuchung. Leipzig: Teubner. (= Abh. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. Phil.-Hist. Klasse 22.6). 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Gewöhnlich wird damit der Bereich der Verbvalenz angesprochen, aber auch die Valenz des Substantivs bietet einige Stolpersteine, die leider auch demjenigen im Weg liegen, der die Valenzen der Verben beherrscht, denn wie Teubert (2003, S. 820) kurz und treffend sagt: „vielfach (aber leider nicht immer) 1 lässt sich die Valenz der Substantive aus der Valenz der Stammwörter regelmäßig herleiten“, ein Grund mehr, sich aus didaktischen Gründen der Valenz der Substantive zu widmen. Als Beispiele für die Eigenständigkeit der Substantivvalenz werden häufig Fälle herangezogen wie (1) Sie bedankte sich bei ihm. —> ihr Dank an ihn in denen das Substantiv eine andere feste Präpositionalphrase bindet als das dazugehörende Verb. Es werden auch die verschiedenen - und kaum vorhersagbaren - Umsetzungen von verbalen Kasuskomplementen angeführt, wie z.B. die Umsetzung des Akkusativkomplements von Gefühlsverben: 2 (2) a. Diese Frau liebt ihn. —> die Liebe dieser Frau zu ihm b. Diese Frau hasst ihn. —> der Hass dieser Frau aufgegen ihn Fälle dieser Art mit nicht oder sehr begrenzt austauschbarer Präposition sind auswendig zu lernen und werden in Wörterbüchern zur Valenz, gelegentlich auch in allgemeinen Wörterbüchern, verzeichnet. Sie sind anerkanntermaßen Komplemente (oder Ergänzungen) zum jeweiligen Substantiv. 3 Sie erfüllen Eigene Hervorhebung. 2 Teubert (1979, S. 79) plädierte schon damals aus diesem Grund dafür, die Valenz des Substantivs als ein „System sui generis“ zu beschreiben. 3 Es sei denn, es wird, wie bei Eisenberg (1994 und 1999), den Substantiven die Fähigkeit einer Valenzbindung prinzipiell abgesprochen. 98 Jacqueline Kubczak vollständig die Bedingungen, die z.B. in der Grammatik der deutschen Sprache (GDS) angegeben werden. „Die entscheidende Grenze zwischen Supplementen und Komplementen bildet das Kriterium der starken Argumentselektion. Unter den Komplementen sind die mit zusätzlich starker Formselektion zentral, die mit abgeschwächter Formselektion halbzentral, die ohne Formselektion peripher.“ (GDS 1997, S. 1977) Valenzwörterbücher geben im Allgemeinen nur Auskunft zu den Komplementen des Valenzträgers, nicht zu den Supplementen. Aus diesem Grund ist die Entscheidung, welche Phrasen den Status eines Komplements bekommen, für die Valenz der Substantive genau so wichtig wie für die Valenz der Verben. Während der Arbeit an einem Valenzwörterbuch, für das ein großes Korpus als Basis dient, 4 kommen einem zuweilen aber Zweifel an der Praktikabilität der Unterscheidungskriterien. 2. Komplement oder Supplement? 2.1 Darstellung des Problems aus der Sicht des Praktikers Was für die Beispiele der Grammatiken so sehr einleuchtet, ist in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen, denn es scheint häufig sehr viele Möglichkeiten zu geben, ein Argument, das in einer bestimmten Form bei einem Verb erscheint, im Rahmen einer Nominalphrase als Attribut zu einem Substantiv auszudrücken. Nehmen wir z.B. das Substantiv Verachtung. Dieses Substantiv eröffnet u.a. eine Argumentstelle zur Darstellung ‘desjenigen, der bzw. das verachtet wird’ (als Pendant zum Akkusativkomplement des Verbs verachten: jemanden verachten). Folgende Möglichkeiten, dieses Argument auszudrücken, wurden in den maschinenlesbaren Korpora des IDS gefunden. Sie sind unterschiedlich häufig belegt, aber auch die am wenigsten belegte Form ist kein Einzelfall. Bei der Illustration sind die Anschlussmöglichkeiten nach abnehmender Häufigkeit geordnet. (3) Jemand verachtet jemanden bzw. etwas, a. —> jemandes Verachtung des/ der/ ... [...] seiner offenen Verachtung der Obrigkeit (taz, 1.2.2001, S. 13) 4 Das Deutsch-ungarische Wörterbuch zur Substantivvalenz (Bassola 2003) z.B. basiert auf den mit COSMAS recherchierbaren Korpora des IDS. Kleines Plädoyerfür eine Verschiebung der Grenze von „Komplement“ 99 b. —> jemandes Verachtung für +A [...] wo er seine Verachtung für das britische Establishment mit einer Lenin-Büste aufdem Kaminsims illustrierte. (taz, 10.3.2001, S. 18) c. —> jemandes Verachtung gegenüber +D/ NP im D + gegenüber Doch Bev tut dies nicht aus Verachtung gegenüber der tierischen Rasse, (taz, 10.2.2001, S. 13) d. —> jemandes Verachtung von +D Es führt zur Geringschätzung, ja Verachtung von Politik, Parteien, Parlament, (taz, 27.11.2002, S. 5) e. —> jemandes Verachtung gegen +A Hass und Verachtung gegen als störend empfundene Umstände, nennt er [...]. (Berliner Zeitung, 17.5 2001, S. 15) f. —> jemandes Verachtung über +A Zu deutlich spricht aus ihr die Verachtung über diejenigen, die als ,flinke“ gelten. (Berliner Zeitung, 2.3.2001, S. 3) g. —> jemandes Verachtung vor +D In den siebziger und achtziger Jahren gehörte er zeitweise zum Umfeld des antiwestlichen Ethno-Philosophen Constantin Noica, der sich aus Verachtung vor den Niederungen der Ceausescu-Diktatur in ein Karpatendorf zurückgezogen hatte, (taz, 30.12.1997, S. 11) Man ist weit entfernt von den häufig zitierten Beispielen mit einer festen bzw. begrenzt austauschbaren Präposition. Der Valenzlexikograf, der sich einem solchen Befund gegenübersieht, fragt sich, ob alle diese Anschlüsse denselben Status haben, und wenn nicht, nach welchen Kriterien man sie unterscheiden müsste. Diese Frage stellt sich, weil in der Literatur unter den möglichen morpho-syntaktischen Realisierungen der Argumente zwischen Komplementen und Supplementen unterschieden wird. 5 Ich möchte die Kriterien zur Unterscheidung von Komplementen und Supplementen am Bei- 5 Vgl. z.B. Teubert (2003, S. 825); GDS (1997, S. 1969ff.). Schierholz (2001, S. 11-60) bietet eine Übersicht der Literatur bezüglich der Unterscheidung von Präpositionalphrasen in Komplemente und Supplemente. 100 Jacqueline Kubczak spiel von Teubert (vgl. 2.2) und der GDS (vgl. 2.3) auf ihre Praktikabilität und die Folgen für den Bereich untersuchen, in dem die Resultate der Valenzforschung am meisten verwendet werden, dem Fremdsprachenunterricht. Nehmen wir ein auf den ersten Blick einfacheres Beispiel, das häufig in der Literatur zur Substantivvalenz, z.B. auch bei Teubert oder in der GDS, behandelt wird: das Substantiv Einladung und seine möglichen Komplemente. Das entsprechende Verb einladen [mit dem Struktursatz jemand lädtjemanden ein\ eröffnet eine Argumentstelle zur Darstellung ‘desjenigen, der eingeladen wird’. (Weitere Argumentstellen, die eröffnet werden, wie z.B. zur Darstellung ‘desjenigen, der einlädt’, ‘des Zwecks der Einladung’, werden hier außer Acht gelassen.) Diese Argumentstelle wird realisiert in Form einer NP im Akkusativ. Der Argumentstatus von jemanden ist (relativ) unbestritten. Auch wenn ein Satz, ohne dass diese Argumentstelle gefüllt ist, grammatisch möglich ist, (4) Der König lud ein, und alle kamen. so ist doch nicht daran zu zweifeln, dass diese Aussage unvollständig wirkt, genauso wie Peter isst verglichen mit Peter isst einen Apfel. In beiden Fällen wird mindestens ein indefinites ‘jemanden’, ‘alle’ (für einladen) bzw. ‘etwas’ (für essen) mitgedacht. Auch das Substantiv Einladung eröffnet eine Argumentstelle zur Darstellung ‘desjenigen, der eingeladen wird’. Realisiert wird dieses Argument (5) a. durch eine NP im Genitiv: Die Einladung des jordanischen Königs Hussein durch den israelischen Außenminister hat die Spekulation über einen möglichen Fortschritt beim Friedensprozeß im Nahen Osten wieder aufleben lassen, (taz, 05.06.91, S. 10) b. durch eine PP an +NP im Akkusativ: Einladung des polnischen Präsidenten an Arafat löst Empörung in Israel aus. (taz, 03.11.94, S. 2) c. durch eine PP für +NP im Akkusativ Daß seine Einladung für Thomas Prinzhorn in Wahlkampfzeiten Aufmerksamkeit erregt hat, sieht er als selektive Beleidigtheit“. (Die Presse, 30.09.99) Kleines Plädoyerfür eine Verschiebung der Grenze von ,JComplemenf 101 d. durch eine PP von +NP im Dativ Bei Veranstaltungen, an denen mehrere Klassen teilnehmen, entscheidet der Schulleiter über die Einladung von Politikern. (taz, 11.08.1998, S. 17) 2.2 Die Unterscheidung von Komplementen und Supplementen bei Teubert Für Teubert (2003, S. 824) „liegt es zwar nahe, viele Ergänzungsklassen mit entsprechenden Argumenten gleichzusetzen; doch ist der Umkehrschluss kaum möglich: nicht jedes Argument wird durch eine Ergänzung realisiert“ und „Attributive Angaben können also auf der semantischen Ebene durchaus als Argumente eines Prädikators gelten“. Teubert braucht also ein zusätzliches Kriterium als Unterscheidungsmerkmal zwischen Komplementen und Supplementen: die ‘Subklassenspezifizität’. An Hand von Einladung ergibt dies: - Die Realisierung des Arguments in Form einer NP im Genitiv wird von ihm als Komplement eingestuft. Einladung der Engländer kommutiert mit die Engländer laden ein (Agentivergänzung) und mit die Einladung, die den Engländern ausgesprochen worden ist (Benefaktivergänzung)“ (Teubert 2003, S. 824), denn wenn auch jedes Substantiv mit einer Genitiv-NP als Attribut versehen werden kann, so gilt dieses nicht mehr, wenn die Genitive nach ihrer Bedeutung unterschieden werden, z.B. nach genitivus subiectivus bzw. genitivus obiectivus, der jeweils nicht bei jedem Substantiv Vorkommen kann, im Gegensatz zum genitivus possessivus, der nicht subklassenspezifisch ist und aus diesem Grund als Angabe (Supplement) gewertet wird (vgl. Teubert 1979, S. 38f., lOOff.). - Die Realisierung des Arguments in Form der PP an jemanden wird als Komplement gewertet, weil diese PP nicht an alle Substantive angeschlossen werden kann *der Hass anjemanden. - Der Realisierung in Form der PP für jemanden wird mit dem Argument einer nicht vorhandenen ‘Subklassenspezifizität’ der Status eines Komplements abgesprochen (vgl. Teubert 2003, S. 824). - Über die Einstufung der Realisierung in Form der PP von jemandem wird nichts gesagt. Eine PP von +D kann zu jedem Substantiv hinzutreten, allerdings nicht, wenn es zur Bezeichnung einer affizierten Person verwendet wird. Der Argumentation folgend, die für das Genitivattribut entwickelt wurde, kann die PP von jemandem wohl als Komplement eingestuft werden. 102 Jacqueline Kubczak Von den ermittelten Möglichkeiten, denjenigen, dem die Einladung gilt, zu bezeichnen, wird also die Realisierungsform für +A nicht als Komplement eingestuft. Diese Unterscheidung führt zu einer Konsequenz, die Teubert für ein anderes Beispiel allerdings bedauert: „Dagegen ist eine NP wie ein gemeinsamer Auftrag für uns alle zwar recht häufig belegt und eine nicht unübliche Variante zu ein gemeinsamer Auftrag an uns alle, wird aber vielleicht deshalb nicht [in Valenzwörterbüchem] 6 verzeichnet, weilfür uns alle den Status einer Angabe, nicht den einer Ergänzung hat. Das ist zwar prinzipientreu aber unbefriedigend“ (Teubert 2003, S. 832). Es ist aber die Frage, ob die Prinzipien selbst so ‘prinzipientreu’ sind. Teubert (2003, S. 824) vertritt also die Meinung, dass „nicht jedes Argument von einer Ergänzung realisiert wird. Vgl. z.B.: Sein Einwand ist keine überzeugende Erklärung des Rückstands und: Sein Einwand ist keine überzeugende Erklärung für den Rückstand. Während die NP im Genitiv offensichtlich Ergänzung zu Erklärung ist (weil eine solche Genitiv-NP nicht von jedem Substantiv abhängen kann), spricht vieles dafür, die in diesem Kontext fast gleichbedeutende PP mitfür als Angabe zu beschreiben. Denn es ist der Kontext, der hier die Kommutierbarkeit bewirkt und die generelle semantische Vagheit der PP mitfür konkretisiert.“ Darauf könnte man erwidern, dass auch für die Genitiv-NP eine generelle semantische Vagheit gilt, die je nach Kontext z.B. als genitivus subiectivus oder genitivus obiectivus aufgelöst wird: Die Einladung des Königs wird erst disambiguiert durch den weiteren Kontext, z.B. (6) a. Die Einladung des belgischen Königs an seinen Minister vs. b. Die Einladung des belgischen Königs durch die Königin der Niederlande. Es ist nicht so klar, worin die semantische Vagheit eines Genitivattributs sich von der semantischen Vagheit der PP für +NP im Akk. unterscheidet. Das Argument, die Genitiv-NP könne nicht bei jedem Substantiv stehen, die für-? ? schon, gilt ja nur, wenn von vornherein die Genitiv-NPs nach ihrer Bedeutung (subiectivus/ obiectivus/ ...) unterschieden werden und deren Sinn je nach Argument realisiert wird. Wenn die / wr-PPs ebenfalls nach ihren Bedeutungen unterschieden würden, gäbe es auch unterschiedliche Verteilungen: 6 Einschub von mir. Kleines Plädoyerfür eine Verschiebung der Grenze von Komplement 103 Die für-? ? kann beim Substantiv Auftrag unter anderem die Funktion der Bezeichnung des ‘Adressaten des Auftrags’ übernehmen: 7 (7) Gestern hat die Nato den Auftrag für die internationale Schutztruppe ,timber Fox“ um drei Monate bis Ende März 2002 verlängert, (taz, 08.12.2001, S. 10) Sie kann aber auch die Funktion übernehmen, das, was ‘ausgeführt werden soll’, also den ‘Inhalt des Auftrags’, zu bezeichnen: (8) Der Mediziner hat den Auftrag für die weltweit ersten Tests mit diesem Wirkstoff von einem japanischen Pharmaunternehmen erhalten, (taz, 18.01.2002, S. 16) Beim Substantiv Bericht hingegen gibt es zwar eine mögliche Erweiterung durch eine für-? ? (ein Berichtfür die Regierung), mit der auf den Adressaten Bezug genommen wird, nicht aber auf ‘dasjenige, das dargestellt wird’, auf den ‘Inhalt des Berichts’: *ein Bericht für den Zustand des Straßennetzes (aber: ein Bericht über den Zustand! vom! zum Zustand des Straßennetzes). Es ist auch nicht immer der Fall, dass auf einen Adressaten mit einer für-? ? Bezug genommen werden kann, auch dann nicht, wenn auf den Adressaten mit einer an-? ? referiert werden kann, wie es bei der Dublette Einladung an! Einladung für möglich ist: der Dank an jemanden kann nicht immer ersetzt werden durch der Dank für jemanden. Mit einer für-? ? sind nur Sätze belegt - und das nur sehr schwach in denen ausgedrückt wird, dass etwas als Dank getan, geschenkt o.Ä. wird, und in denen die / w>-Phrase den Nutznießer dieser Handlung bezeichnet: (9) a. Sondern erstmal tosenden Applaus als Dank für die Veranstalterinnen. (taz, 07.03.1998, S. 27) b. Ein Dank für die Sponsoren und die Öffentlichkeit sollte die Performance sein [...]. (St. Galler Tagblatt, 19.10.1998) c. Der Dank für die Camorra war eine Flut öffentlicher Aufträge für halbseidene Unternehmen, (taz, 22.09.1993, S. 9) 7 Weitere Bedeutungen derfür-? ? illustrieren die Beispiele: (i) Koch selbst sagt in Wiesbaden, er habe einen Auftrag für fünf Jahre „und ich gehe daran, ihn zu erfüllen". Ob er ihn in Wiesbaden zu beenden gedenkt oder in Berlin, lässt er offen, (taz, 03.02.2003, S. 3) (ii) Der Auftragfür Montag, (taz, 08.02.2003, S. 18). 104 Jacqueline Kubczak In unseren Korpora gab es keine Sätze mit einer für-? ? , in denen nur ausgesagt wird, dass eine Danksagung an jemanden gerichtet ist, wie z.B. in dem Satz mit einer an-? ? \ [...] heißt es Dank auszusprechen: Dank an alle, die uns mit Abos [...] unterstützt haben, (taz, 18.12.1999, S. 4). Bei näherer Betrachtung vieler Belege scheint die Aussage, die für-? ? (wenn man sie nach ihren Bedeutungen unterscheidet) „könne überall stehen“ doch zu relativieren zu sein. Auch die Nichtklassenspezifizität der vom Valenzträger geforderten Argumentfüllungen ist kaum klar nachzuweisen. 2.3 Die Unterscheidung zwischen Komplementen und Supplementen in der GDS Nach der GDS müssen zwei Bedingungen erfüllt sein, damit ein Ausdruck als Komplement eingestuft werden kann. Erstens muss der Valenzträger, ausgehend von seiner Bedeutung, Argumentstellen bereitstellen (erkennbar durch den Implikationstest 8 ) und der Ausdruck muss von seiner Bedeutung her geeignet sein, diese Argumentstellen zu füllen. „Wenn aber nicht die Form von Ausdrücken, deren Argumenttauglichkeit bewirkt, dann kann es nur deren Bedeutung sein“ (GDS 1997, S. 733). Darüber hinaus wird eine „starke Argumentselektion“ gefordert, d.h., dass der fragliche Ausdruck in Verbindung mit dem Valenzträger, in welchem Kontext auch immer, nur diese eine Bedeutung haben darf. Zur Unterscheidung von Komplementen und Supplementen wird diese Argumentselektion („Die entscheidende Grenze zwischen Supplementen und Komplementen bildet das Kriterium der starken Argumentselektion.“ (GDS 1997, S. 1977)) eng ausgelegt. Dadurch werden unter den Komplementkandidaten eines Substantivs die Attribute in Form einer NP im Genitiv wegen „schwacher Argumentselektion“ prinzipiell nicht als Komplemente gewertet (vgl. GDS 1997, S. 1972ff.). 9 Besprochen in der GDS wird das Beispiel: (10) der Besuch der alten Dame „Dem Genitivsupplement entspricht eine Relation zwischen Besuchereignissen und x, für die Folgendes gilt: Je nach Kontext spezifiziert diese Relation x entweder als Besucher (AGENS) oder als etwas Besuchtes (PATIENS) oder u.U. als noch etwas anderes“ (GDS 1997, S. 1974). Die Mehrdeutigkeit der NP wird ihr zum Verhängnis. 9 Vgl. GDS (1997, S. 1970). Ähnlich Schumacher/ Kubczak/ Schmidt/ de Ruiter (2004, S. 26f.). Vergleichbar Eichinger (2004, S. 37). Kleines Plädoyerfür eine Verschiebung der Grenze von Complement“ 105 Auf das Beispiel Einladung angewandt: (11) die Einladung der Engländer Auch die Genitivphrase der Engländer wäre ja nicht zwingend als genitivus obiectivus zu interpretieren und würde also nicht als Komplement eingestuft. (12) die Einladung von den Engländern Nach der gleichen Argumentation müsste auch die PP von +D, das Attribut von Einladung, herausgefiltert werden. Sie wird sogar aus zwei Gründen nicht als Komplement eingestuft: sie kann mit dem Genitivattribut kommutieren und sowohl zur Bezeichnung des Einladenden als auch des Eingeladenen verwendet werden. Zur Unterscheidung vonfür und an steht in der GDS (13) die Einladungfür! an Tanja für +A „hat neben der obiectivus-Lesart noch freie Lesarten, etwa eine Einladung an Erik, um Tanja zu erfreuen. Auch gemischte Lesarten sind möglich. Dagegen haben Präpositionalphrasen mit der konstanten Präposition an +Akk nur eine obiectivus-Lesart, auch wenn sie mit Genitivphrasen kommutieren, sind also stark argumentselegiert und folglich periphere Komplemente“ (GDS 1997, S. 1975). Für Präpositionalphrasen, die nicht mit Genitivattributen kommutieren, gilt in der GDS, dass sie als Komplemente eingestuft werden, wenn die Präposition (ohne Bedeutungsänderung) nicht austauschbar ist und eine Anaphorisierung mit einem Präpositionaladverb oder mit solchmöglich ist oder die Präposition ist begrenzt austauschbar, aber bei gleicher Formselektion, und eine Anaphorisierung mit einem Präpositionaladverb bzw. lokal-direktionalem Adverb ist möglich (vgl. GDS 1997, S. 1975-1976). 10 Die ganze Argumentation soll hier angewendet werden auf das Substantiv Abhängigkeit, das in unserem Korpus nur in seltenen Fällen ohne Füllung seiner Argumentstellen (1. Argument: ‘derjenige, der von jemandem/ etwas abhängt’ und 2. Argument: ‘derjenige/ dasjenige, von dem jemand abhängt’) vorkommt. 10 Vgl. auch Schierholz (2001, S. 155ff.), für den die Ersetzung durch ein Pronominaladverb (außer bei Personenbezeichnungen) in Zweifelsfällen entscheidend ist. Allerdings sind für ihn Realisierungen mit der Anaphorisierung solchkeine Komplemente. 106 Jacqueline Kubczak (14) die Abhängigkeit von Frauen hat zwei Lesarten, denn von Frauen kann sowohl als Realisierung des ersten Arguments als auch des zweiten Arguments verstanden werden. Darüber hinaus kommutiert die Lesart subiectivus mit dem Genitivattribut, und wird also zu den Supplementen gerechnet. Die PP von +D erfüllt zwar die Bedingungen ‘feste Präposition’ und ‘Anaphorisierung durch ein Präpositionaladverb’ davon (wenn Frau ersetzt würde durch z.B. Drogen) (15) „Ventrikuläre Rhythmusstörungen'' 1 ’ haben laut Kardiologen verschiedene Ursachen, unter anderem auch Überdosen von Drogen. Die Abhängigkeit davon überschattete die Karriere Maradonas mehrfach und beendete sie vorzeitig. (Salzburger Nachrichten, 08.01.2000) und wäre dadurch Komplement. Wenn sie nicht mehrdeutig wäre und wenn es nicht Belege gäbe, wenige, aber immerhin, in denen das zweite Argument durch ein Genitivattribut statt durch die PP von +D realisiert wird: (16) Deshalb mußten die Bauern ihr Saatgut Jahr um Jahr neu kaufen und gerieten so in die Abhängigkeit des Konzerns, (taz, 13.07.1988, S. 18) (17) Dass William Holden als erfolgloser Drehbuchautor am Schluss von „Sunset Boulevard"' (Boulevard der Dämmerung"', 1950) den Absprung aus der Abhängigkeit des alternden Stummfilmstars Norma „/ am big“ Desmond {Gloria Swanson) nicht schaffen wird, weiß man allerdings schon zu Beginn: Da treibt Holden nämlich als Leiche im Swimming-Pool und beginnt, seine Geschichte zu erzählen, (taz, 20.03.2003, S. 25) (18) Nun, da die „Frau vom Meer" frei entscheiden kann, löst sie sich aus der Abhängigkeit des geheimnisvollen Fremden. (Mannheimer Morgen, 12.03.2001) Wenn die Argumente ‘Mehrdeutigkeit’ (d.h. keine starke Argumentselektion) oder ‘Ersetzbarkeit durch einen Genitiv’ strikt angewendet würden, hätte dies als letzte Konsequenz, dass das Substantiv Abhängigkeit zwei Argumentstellen eröffnet, die zwar sehr häufig gefüllt sind, aber immer nur mit Supplementen. Die Konsequenz für unser eingangs gewähltes Beispiel (3) Verachtung wäre, dass drei der häufigsten, gebräuchlichsten Realisierungen des Arguments Kleines Plädoyerfür eine Verschiebung der Grenze von „Komplement* 107 ‘dasjenige, das verachtet wird’ nicht als Komplemente eingestuft werden (NP im G/ für +A/ von +D) und dass zumindest in diesem Fall die Komplementfähigkeit der Attribute eigentlich zunimmt, wo deren Verwendungshäufigkeit abnimmt. 11 3. Ein Vorschlag zur Lösung des Dilemmas In der GDS wurde erwogen, das Argument der starken Selektion abzuschwächen. 12 Die Mehrdeutigkeit der Genitiv-NP in der Besuch der alten Dame kann in der kategorialen Grammatik „auf zwei Weisen behandelt werden: (A) Man macht für jede der drei Lesarten eine eigene syntaktische Analyse und einen entsprechenden Lexikoneintrag. (B) Man beschränkt sich auf eine syntaktische Analyse mit dem Genitiv als Supplement“ (GDS 1997, S. 1972). Die Lösung (B) wurde letztendlich aus syntaktischen Gründen bevorzugt. Die eher semantisch-lexikalische Lösung (A) hätte für den Einsatz der Valenz in den Bereichen des Fremdsprachenunterrichts und der kontrastiven Grammatik Vorteile gebracht. Teubert bräuchte nicht mehr zu bedauern, dass Ausdrücke, die häufig anstelle bedeutungsgleicher, nach strengen Kriterien ermittelten Komplementen verkommen, von der Valenzlexikografie nicht erfasst würden. Da diese für den Sprachunterricht (nicht nur für Ausländer) interessanten Phänomene auch sonst nirgends systematisch erfasst werden weder in allgemeinen Wörterbüchern noch in Grammatiken könnte, wenn sie Komplementstatus bekämen, z.B. die Valenzlexikografie einen Ort bereitstellen, an dem Untersuchungen zu den Verwendungsbedingungen von bedeutungsgleichen bzw. bedeutungsähnlichen Füllungen von Argumenten angebunden werden könnten. Für das Beispiel Einladung hätte dies zur Folge: - Was ein Argument ist, wird durch die Bedeutung des Valenzträgers bestimmt: Einladung eröffnet eine Argumentstelle für ein Syntagma mit der semantischen Rolle: ‘derjenige, der eingeladen wird’. (Weitere Argumentstellen werden hier unterschlagen.) 11 Häufigkeit ist ja kein Kriterium für die Komplementfahigkeit eines Ausdrucks, dennoch ist der Befund merkwürdig. 12 Das wurde eigentlich schon praktiziert, sonst könnte man die Aufnahme von z.B. Angebot an/ von, Meldung an/ für in die Liste der Substantive mit PP-Komplementen nicht erklären (vgl. GDS 1997, S. 1978). 108 Jacqueline Kubczak - NP im Genitiv oder die PPs an jemanden, von jemandem und für jemanden können von ihrer Bedeutung her an dieser Stelle stehen. Sie erfüllen an dieser Stelle die semantische Rolle ‘desjenigen, für den die Einladung gilt’ und sind in den Korpora des Instituts gut belegte Füllungen für die eröffnete Argumentstelle von Einladung. (Sie sind argumentselegiert, wenn auch nicht unbedingt „stark“.) Wobei man dann weiter untersuchen kann, in welchen Kontexten und unter welchen Bedingungen eher die eine oder die andere Form bevorzugt wird: Warum gibt es z.B. in unserem Korpus nur Belege für herzliche Einladung an und nicht für und andererseits nur Belege für ehrenvolle Einladung für und nicht an? Die weiteren in der GDS ausführlich beschriebenen wichtigen syntaktischen Unterscheidungen (nicht autonomes vs. halbautonomes Komplement; schwache bis konstante Formrelation) (GDS 1997, S. 758ff. und 1976f.) können auch hier angesiedelt werden. Die Gefahr einer Ausdehnung des Begriffs Valenz bis zur völligen Deckung mit Dependenz ist nicht gegeben. Valenz bleibt auch so eine besondere Art der Dependenz. Unerwartet in der unerwartete Besuch der alten Dame ist auch von Besuch dependent, aber füllt keine Argumentstelle. 4. Literatur Bassola, Peter (Hg.) (2003): Nemet-magyar fönevi valenciaszötär/ Deutschungarisches Wörterbuch zur Substantivvalenz. Szeged: Grimm. Eichinger, Ludwig M. (2004): Dependenz in der Nominalgruppe. In: Stänescu, Speranta (Hg.): Die Valenztheorie - Bestandsaufnahme und Perspektiven. Frankfurt a.M. u.a.: Lang. S. 31-47. Eisenberg, Peter (1994): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart/ Weimar: Metzler. (3., überarb. Aufl.). Eisenberg, Peter (1999): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Schierholz, Stefan J. (2001): Präpositionalattribute - Syntaktische und semantische Analysen. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 447). Schumacher, Helmut/ Kubczak, Jacqueline/ Schmidt, Renate/ de Ruiter, Vera (2004): VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 31). Teubert, Wolfgang (1979): Valenz des Substantivs. Düsseldorf: Schwann. (= Sprache der Gegenwart 49). Kleines Plädoyerfiir eine Verschiebung der Grenze von „Komplement 109 Teubert, Wolfgang (2003): Die Valenz nichtverbaler Wortarten: das Substantiv. In: Ägel, Vilmos/ Eichinger, Ludwig M./ Eroms, Hans-Wemer/ Hellwig, Peter/ Heringer, Hans Jürgen/ Lobin, Henning (Hg.): Dependenz und Valenz - Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 1. Halbbd. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 25.1). S. 820-835. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7). Peter Bassola Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die Prädikationen nicht abgeleiteter valenter Nomina zu untersuchen. Dazu wollen wir das erste zweisprachige Substantivvalenzlexikon (vgl. Bassola 2003) zu Hilfe rufen, wo von den 50 Substantiven etwa 14 als solche betrachtet werden können und diese damit etwa ein Drittel des Wörterbuchbestandes ausmachen. Bei der Erstellung dieses Wörterbuches hat uns Gisela Zifonun ständig fachlichen Beistand geleistet und als Fachlektorin für eine hohe Qualität gesorgt. Mit diesem Beitrag wollen wir sie ehren und ihr zum runden Geburtstag noch viele schaffensreiche und glückliche Jahre und gute Gesundheit wünschen. Prädikation wurde lange Zeit nur der Wortklasse Verb zugeschrieben. In der deutschen grammatischen Tradition muss zu dieser These auch der Umstand beigetragen haben, dass es im Deutschen, aber auch im Lateinischen keine verblosen Sätze gibt. Wenn also Nomina oder ein Nomen und ein Adjektiv zueinander in Beziehung gesetzt werden, muss diese Beziehung durch ein Kopulaverb wie sein, werden, bleiben etc. ausgedrückt werden (Id, 2d). Es gibt Sprachen wie z.B. das Ungarische und das Russische, wo dies nicht immer notwendig ist (lu, 2u), im Ungarischen in der 3. Person im Singular und Plural, im Russischen aber in allen Personen in der Gegenwart. In neueren ungarischen Grammatiken herrscht die Auffassung vor, dass auch in verblosen ungarischen Sätzen mit „verstecktem Sem-Verb“ zu rechnen ist (vgl. E. Kiss 1998, S. 38; Keszler 2000, S. 396). (Id) Die Nachbarin ist die Kindergärtnerin. (lu) A szomszedasszony d) az övönö. [Die Nachbarin 0 die Kindergärtnerin.] (2d) Sie ist aufReisen, (aus v. Polenz 1988, S. 109) (2u) Ö/ a nö üton van. [Er-sie/ die Frau Reisen-auf jst.] (2.Id) Sie ist verreist, (ebd.) (2.1u) Elutazott. [Verreiste-er/ sie.] 112 Peter Bassola (3d) Er hat Schuld daran, (ebd.) (3u) ? ? ? (3.1 d) Er ist daran schuldig, (ebd.) (3.1 u) Bünös 0 benne. [Schuldig 0 darin.] Während (Id) mit die Kindergärtnerin ein Referenzobjekt enthält, d.h. das Prädikatsnomen ist ein Gleichsetzungsnominativ, sind (2d) und (3d) nominale Prädikatsausdrücke und auf verbale (2. Id) bzw. adjektivische (3.Id) Prädikatsausdrücke zurückzuführen (v. Polenz 1988, S. 109f.). 1 Im Ungarischen kann man nur die adjektivische Prädikatskonstruktion (3.1u) verwenden, wo das Kopulaverb ebenfalls fehlt, die nominale Prädikation in (3) ist nicht möglich. v. Polenz führt die Valenztheorie und die Dependenzgrammatik, die der Zweiteilung des Satzes in Subjekt und Prädikat gegenüber stehen und in denen mit zwei- und mehrstelligen Prädikationen gearbeitet wird, auf die Prädikatenlogik (und dabei auf Gottlob Frege) zurück (1988, S. 53ff). Hier kann das die Prädikation enthaltende Verb außer dem Subjekt noch weitere Ergänzungen haben, oder das Adjektiv bzw. das Substantiv mit Hilfe eines Kopulaverbs über das Subjekt hinaus weitere Ergänzungen regieren. „Damit erweist sich die Valenztheorie als konsequente grammatikalische Entsprechung der mehrstelligen Prädikatenlogik“ (ebd., S. 56). In Anlehnung an Heringer gibt v. Polenz die Satzstruktur vom Prädikatsausdruck ausgehend mit 1-4 Ergänzungen und fakultativen Angaben an. Der Prädikatsausdruck kann aus Verb, VerbVerknüpfung oder Nominalprädikat bestehen. Da uns jetzt die Nominalvalenz interessiert, geben wir hier die weitere Strukturierung des Nominalprädikats an: es besteht aus Nominalverb und Prädikativ, wobei das letztere wiederum entweder Nominalgruppe oder Adjektiv(gruppe) sein kann (ebd., S. 8Iff.). v. Polenz (ebd., S. 11 Of.) unterscheidet zwischen ‘Identifikation’ einerseits, wo es nur um einen verbalen Prädikatsausdruck geht: Das Bahr-Papier ist der Vertrag, und nominaler ‘Prädikation’ andererseits, wo der Prädikatsausdruck ein Nominalprädikat bestehend aus Nominalgruppe und Nominalverb ist: Das Bahr-Papier ist ein Vertrag. ln lokaler Bedeutung muss das Sein-Verb im Ungarischen auch in der 3. Person in der Gegenwart gesetzt werden. Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 1 13 Auf der Satzebene verbindet sich also das Nomen mit einem Nominalverb. Nominalverben können die folgenden sein: - Kopulaverben, - Funktionsverben, - Wendungsverb bei fester Verb-Substantiv-Verbindung (v. Polenz 1988, S. 85f, vgl. auch Zifonun/ Hoffmann/ Strecker et al. 1997, S. 702ff). Auf der syntagmatischen Ebene ist es einzig das valente Nomen, welches die Prädikation sichert und von dem ein oder mehrere Komplemente/ Ergänzungen abhängen. Beim Nomen geht es um semantische Erweiterungsmöglichkeit und nicht um strukturelle Notwendigkeit wie beim Verb (vgl. Bassola/ Bemäth 1998). Die deverbalen und deadjektivischen Substantive bekommen die Realisierungsformen ihrer Komplemente häufig vererbt, wobei gewisse Ausdrucksformen der Komplemente des Verbs vorhersagbare andere Realisierungsformen erhalten (Nominativ und Akkusativ —> Genitiv). Gleiche oder ähnliche Strukturformen sind auch bei Funktionsverbgefügen (im Weiteren: FVG) oder ähnlichen Konstruktionen mit Nominalverben und Nominalphrasen gleichen übergeordneten Elements als Kopf zu beobachten (vgl. u.a. Bassola 1990). In Anlehnung an die Forschungsgruppe PROCOPE (zu den Personen und Zielsetzungen vgl. Kubczak/ Costantino 1998, S. 11) bezeichnen wir dieses Verb als verbe support (ebd., S. 13). In unserem Substantivvalenzwörterbuch (Bassola 2003) finden sich unter den 50 Substantiven 14 nicht abgeleitete (vgl. Anhang 1). Zwei bis vier dieser deutschen Substantive haben bei nahezu gleichbleibender Bedeutung auch verbale Formen: Schuld —* schulden, Urteil —> urteilen, Zweifel — ► zweifeln, Angst —» sich ängstigen. Manche ungarischen Äquivalente der genannten deutschen Substantive sind ebenfalls nicht abgeleitete Substantive. Es gibt jedoch einige unter ihnen, die als deverbal und eines, das als deadjektivisch zu betrachten ist: Angst 1 Angst 2 fei ([‘sich ängstigen’] Verb) — ► felelem (Substantiv) aggödik ([‘sich sorgen’] Verb) —> aggödäs (Substantiv) Schuld 1 Schuld 2 adds ([‘schuldig’] Adjektiv) —» adössäg (Substantiv) Sinn 1 Sinn 2 erez ([‘fühlen’] Verb) —> erzek (Substantiv) ert ([‘verstehen’] Verb) —> ertelem (Substantiv) Urteil 1 Urteil 2 itel ([‘urteilen’] Verb) vel ([‘meinen’] Verb) - > itelet (Substantiv) velemeny (Substantiv) 114 Peter Bassola Diese Verben spielen bei der Bestimmung der Substantivvalenz im Deutschen sowie im Ungarischen als verbes supports eine Rolle (vgl. Anhang 2). Zehn der nicht abgeleiteten deutschen Substantive haben zwei, eines sogar drei Bedeutungen und viele von ihnen mehr als eine Struktur. Damit erhalten wir bei den 14 Substantiven insgesamt 35 Strukturformen auf der Satzebene, die von unterschiedlichen verbes supports oder FVG o.ä. Konstruktionen abzuleiten sind. Auf der Basis der 14 nicht abgeleiteten Substantive habe ich eine Statistik darüber zusammengestellt, welche verbale Konstruktion der Konstruktion mit dem valenten Nomen entspricht (vgl. Anhang 2). Verb gleicher Wortfamilie wie Substantiv haben + Substantiv- Konstrunktion sein + Substantiv- Konstruktion anderes Verb + Substantiv- Konstruktion Bild la, 1b; Macht la, 1b, 2; Recht la, 1b, 2; Sinn 1,2; Zweifel Krieg 1,2\ führen Chance la Chance 1b: sein Gefahr 2: bestehen Gefahr 1: bergen Angst 1: sich ängstigen Angst 1,2; Grenze la: grenzen Grenze la, 1b, 2; Grund 2 Grund 1: sein Schuld 2: schulden Schuld la, 1b Urteil 2: urteilen Urteil 1: sprechen Urteil 2: sich bilden Verhältnis 2a, 3 Verhältnis 2b: bestehen Verhältnis stehen Zeit 1 Zeit 2: sein ingesamt: 4 insgesamt: 23 (12) ingesamt: 5 ingesamt: 4 Tab. 1: Nominalverben der nicht abgeleiteten deutschen Substantive (vgl. Bassola 2003) Die Tabelle zeigt ein auffallend häufiges Vorkommen (23-mal) der Konstruktionen mit dem Verb haben. Betrachten wir die Nominalphrasenstrukturen, die ausschließlich auf / laöen-Konstruktionen zurückzuführen sind, bil- Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 115 den sie ebenfalls die größte Gruppe, denn sie kommen 11-mal vor (vgl. die 1. Zeile in Tabelle 1). Alle anderen Konstruktionen finden sich etwa je 4-5mal. Die ungarischen Äquivalente zeigen ein ähnliches Bild (vgl. auch Anhang 2): ungarisches Verb gleicher Wortfamilie wie Substantiv van (ykinek! vminek) [= haben + Substantiv-Konstruktion im Dt.] (= Possessivkonstruktion) van [sein, bestehen + Subst.- Konstruktion] (= Existenz) anderes Verb + Substantiv- Konstruktion (denominales) Adjektiv fei [‘sich ängstigen’] {Angst 1); aggödik [‘sich sorgen’] (Angst 2) (Chance la); (Macht 1 a, 1 b, 2); (Recht la, 1b, 2); (Sinn 1, 2); (Zeit 1,2); (Zweifel) van (Chance lb) alkot [‘machen, schaffen’] (Bild 1,2); folytat, visel [‘fuhren’] Krieg 1,2 tartozik [‘schuldet’] (Schuld 2) bünös [‘schuldig’] (Schuld 1 a, lb); adds [‘etw schuldig sein’] (Schuld 2) 116 Peter Bassola ungarisches Verb gleicher Wortfamilie wie Substantiv van (vkinek/ vminek) [= haben + Substantiv-Konstruktion im Dt.] (= Possessivkonstruktion) van [sein, bestehen + Subst.- Konstruktion] (= Existenz) anderes Verb + Substantiv- Konstruktion (denominales) Adjektiv {Grenze 1) hatäros [‘grenzlich’] {Grenze 1) fennäll [‘bestehen’] {Gefahr 2) rejt [‘bergen’] {Gefahr 1) {Grund 2) van [‘sein’ {Grund 1) üel [‘urteilen’] {Urteil 1); vel [‘meinen’] Urteil 2 mond [‘sprechen’] {Urteil 1); alkot [‘bilden’] {Urteil 2) {Verhältnis 2a) {Verhältnis 3) fennäll [‘bestehen’] (Verhältnis 2b) all [‘stehen’] {Verhältnis 1) gesamt: 4 gesamt: 16(12) gesamt: 4 gesamt: 6 gesamt: 4 Tab. 2: Nominalverben der ungarischen Äquivalente der nicht abgeleiteten deutschen Substantive (Bassola 2003) Ein auffallender Zusammenfall ist bei den / «ct/ x? «-Konstruktionen zu beobachten; wie im Deutschen kommen bei den ungarischen Äquivalenten diese Konstruktionen am häufigsten vor. Possessivkonstruktion findet sich 16-mal, und allein 12-mal ohne Altemativlösungen. Auch die anderen Konstruktionen erscheinen hier etwa mit der gleichen Häufigkeit wie im Deutschen. Anders sieht es mit den denominalen Adjektiven aus, die nur im Ungarischen Vorkommen. Nicht abgeleitete deutsche Substantive in unserem Wörterbuch (Bassola 2003) sind überwiegend zweiwertig (vgl. Anhang 3). Bei insgesamt 35 Strukturvarianten werden beide Argumente 25-mal realisiert. Vier Strukturvarianten weisen drei Argumente auf {Krieg 1 a und 1 b, Urteil 1 und 2) und bei fünf Strukturen tritt nur je ein Argument in Erscheinung {Grenze 2, Grund 1, Macht 1b, Sinn 2 und Zeit 2). Stnikturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 11 7 Weil Al auf der Satzebene als Subjekt erscheint (vgl. Anhang 2), wird es auf der Syntagmaebene 31-mal durch genitivisches Substantiv realisiert, wobei 9-mal daneben auch eine andere Erscheinungsform möglich ist. Darunter finden sich die Präpositionen für + Akk und zwischen + Dat sowie in personifizierter Bedeutung der Lokalausdruck {Angst 1 und Bild 1b). Interessant ist, dass Al bei einigen Substantiven wie Gefahr 2, Grund 1 und Zeit 2 auch satzförmig, meistens durch IS, aber auch durch NS, einmal sogar durch HS realisiert werden kann. Semantisch gesehen ist es interessant, dass Al weit überwiegend eine Person ist und nur 9-mal als Sache o.Ä. erscheint. Im Ungarischen wird Al auf gleiche Weise ausgedrückt wie im Deutschen: dem genitivischen Substantiv entspricht hier eine Possessivkonstruktion, die aber dem Bezugssubstantiv immer vorangeht: (4d) die Grenzen der Länder 1 (4u) az orszägok(nak a) hatarai [den Länder(n die) Grenzen-ihre] Auch die anderen Ausdrucksformen haben im Ungarischen ihre Entsprechungen (vgl. Anhang 4): den deutschen präpositionalen Substantiven entspricht im Ungarischen das Substantiv mit Suffix oder Postposition; z.B.: (5d) die Grenze einer Sache mit etw 1 der Krieg zwischen zwei Ländern (5u) vminek a hatära vmivel [jmdm die Grenze-seine jmdm-mit] a häborü ket orszäg között [der Krieg zwei Land zwischen] Sie können aber auch unterschiedlich sein: (6d) jmds Ansst vor jmdm (6u) vkinek ajeleime vkitol [jmdm die Angst-seine jmdm-yon] Die weitere deutsche satzförmige Erscheinungsform, wie der NS, wird auch im Ungarischen meistens durch NS ausgedrückt. Der IS findet sich aber in ungarischen Nominalphrasen nicht, für ihn steht hier wieder der NS (vgl. Tamässy Biro 2004). 2 Das übergeordnete Substantiv ist einfach unterstrichen. 3 Die Realisierungsform der Ergänzung (Präposition, NS, IS + Korrelat im Deutschen; Suffix, Postposition, NS + Korrelat im Ungarischen) ist fett gesetzt und unterstrichen. 118 Peter Bassola In früheren Analysen und Beiträgen (Bassola/ Läszlo 1996, S. 4ff., passim) haben wir bereits gezeigt, dass dem ungarischen Substantiv als Regens ein Substantiv mit Suffix oder Postposition nur unter bestimmten formalen Umständen folgen kann. Nachstellung der nominalen Ergänzung findet sich meistens, wenn das übergeordnete Substantiv im Nominativ (vgl. 7u), evtl, im Akkusativ (vgl. 7.1u) steht. Zwar kommt die Nachstellung in der letzten Zeit immer häufiger vor, und zwar auch dann, wenn das regierende Substantiv ein anderes Suffix hat (vgl. 7.2u): (7d) das Recht der Bürger aufeinen Arbeitsplatz (7u) a polgärok(nak a)joga munkahelyhez [den Bürger(n das) Recht-ihr Arbeitsplatz-zu] (7.1 d) Man betont das Recht der Bürger auf einen Arbeitsplatz. (7.1 u) Hangsülyozzäk a polgärok(nak a) iosät a munkahelyhez [Betont-man den Bürger(n das) Recht-ihr(Akk) dem Arbeitsplatz-zu.l (7.2d) Wir haben über das Recht der Bürger auf einen Arbeitsplatz viel gesprochen. (7.2u) (l)Sokat beszeltünk a polgdroMjiak a) ioeäröl a munkahelyheiV) [Viel sprachen-wir den Bürger(n das) Recht-ihr-über dem Arbeitsplatz-zu.f Das Ungarische setzt in solchen Fällen die Ergänzung vor das Regens, was aber unbedingt ein Verbindungselement benötigt. Dies kann entweder das Partizip eines Nominal- oder Kopulaverbs oder aber ein depostpositionales Adjektiv sein: (7.3u) apolgdrok(nak a) munkahelyhez yqfp josdröl 4 [den Bürger(n dem) Arbeitsplatz-zu seiendes Recht-ihr-über.] Diese Verbindungsfunktion ist aber nur bei einem Teil der Postpositionen durch das Suffix -i möglich: (8u) eilen (‘gegen’) —> elleni; felett (‘über’) —> felettv, felöl (‘von ... her’) —»felöli; Das ungarische Partizip ist gepunktet unterstrichen. Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 119 iränt (‘für’) —» iränti; között (‘zwischen’) —> közötti; mellett (‘neben’) —> melletti; miatt (‘wegen’) —+ miattr, szemben (‘gegen(über)’) —>• szembeni; (9d) der Krieg zwischen den beiden Ländern (9u) a ket orszäg közötti häborü [der den beiden Ländern zwischenliche Krieg] Es gibt auch solche Postpositionen, die adjektivisch nicht erscheinen können, z.B.: szämära (‘für’). Manche von ihnen sind zwar adjektivbildungsfahig, trotzdem tritt häufig ein Partizip dazu, das die Verbindungsfunktion erfüllt: (10u) miatt (‘wegen’) —> rniatti; iränt —> iräntv, felett (‘über’) —* ■ feletth felöl — ► felöli; (11 d) ihre Macht über die Medien (11 u) a media felett gyakorolt hatalmuk [die Medien über .ausgeübte Macht-ihre] Ziemlich häufig findet sich im Ungarischen das Partizip valö (‘seiend’), was in der deutschen Nominalphrase nicht möglich ist. Neben valö existiert im Ungarischen auch noch levö, die beide mit dem .vem-Verb verwandt sind. valö geht aber wahrscheinlich auf das das Besitzverhältnis ausdrückende van (= ist, i.e. haben) 5 zurück (vgl. Tabelle 2): (11 u) a media felett valö hatalmuk [die Medien über seiende Macht-ihre] 5 Der deutschen Konstruktion jmd hat etw entspricht die ungarische Konstruktion vkinek van valamije [jmdm (Dat) ist etwas-sein]. Somit drückt das Ungarische das Besitzverhältnis satzförmig und phrasenformig auf gleiche Weise aus, wobei das Satzformige durch das Sein-Verb gesichert ist. Dieses Sein-Verb muss immer gesetzt sein, es kann auch in der 3. Person in der Gegenwart nicht fehlen: a bardtom(nak az) üj könyve (‘das neue Buch meines Freundes’) [dem Freund-mein(em/ Dat/ das) neue Buch-sein] vs. A barätomnak üj könyve van. (‘Mein Freund hat ein neues Buch.’) [Dem Freund-meinem neues Buch-sein 120 Peter Bassola Die Zahl der Verben, von denen zum jeweiligen ungarischen Substantiv das Partizip gebildet wird, ist je nach Substantiv unterschiedlich. Welches Partizip letzten Endes verwendet wird, hängt oft von den Ergänzungen ab (vgl. Bassola 2003): (12d) die militärische Gefahr von der Sowjetunion (12u) a Szovjetüniö reszerdl jövö/ erkezö veszely [der Sowjetunion dem Teil-seinem-von kommendc/ ankommende Gefahr] (13d) die größte Gefahr für die Partei (13u) a part szämära fenndllö legnagyobb veszely [die Partei für bestehende größte Gefahr] Der Zwang im Ungarischen, das/ die Argument/ e unter bestimmten Umständen (s.o.) pränominal erscheinen zu lassen, ist strukturellen Charakters. Die Ergänzung in pränominaler Stellung muss, unabhängig davon, ob sie als Substantiv mit Suffix oder Postposition oder eben als Korrelat eines NS erscheint, mit einem Verbindungselement zum übergeordneten Substantiv verbunden sein. Vgl. dazu auch (12d) und (12u). (14d) die militärische Gefahr von der Sowjetunion (14u) a Szovjetüniö reszeröl jövö/ erkezö' veszely [der Sowjetunion dem Teil-seinem-von kommende/ ankommende Gefahr] (14d) In seinem Urteil darüber, wie dieses Problem gelöst werden kann, hat er viele wichtige Faktoren außer Acht gelassen. (14u) Arröl alkotott iteleteben, hosv ezt a problemät hosvan lehet megoldani, sokfontos tenyezötfigyelmen kivül hagyott. [Darüber gemachtem Urteil-seinem-in, dass ... wie ...] Damit verlässt das Ungarische die Sphäre der Substantivvalenz und geht auf ein anderes Terrain über, wo nämlich die Abhängigkeitsstruktur anders aussieht; weniger semantisch, eher strukturell. Die denominalen und depostpositionalen Adjektive bringen im Ungarischen keine zusätzliche Bedeutung mit sich: (9.1 u) a ket orszäg kjjzötti häboru [der (den) beiden Ländern zwischenbche Krieg] Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 12 1 Bei den Partizipien kann das Verb variieren und damit ändert sich ein wenig die Bedeutung oder noch mehr die Stilebene. Bei Grenze kann man levö (‘seiend’), fennällö (‘bestehend’), hüzödö (‘sich ziehend’) etc. sagen. Bei Gefahr 2 sind ebenfalls mehrere Varianten möglich: in der Ableitungsstruktur haben wir fennäll (‘bestehen’) angegeben. Man kann aber bei diesem Substantiv über dieses Verb hinaus auch noch andere als Partizipien verwenden wie levö (‘seiend’), leselkedö (‘lauernd’). Das letztere verleiht dem Ausdruck einen höheren Stilwert. Das Partizip, welches auch bei depostpositionalem Adjektiv möglich ist, kann im Ungarischen eine zusätzliche Tempusinformation haben, insofern manchmal zwischen Partizip Präsens und Partizip Perfekt variiert werden kann. (9.2u) a ket orszäg között folvö hctborü [der (den) beiden Ländern zwischen fließender Krieg! (9.3u) a ket orszäg között (1991-ben) folytatott häboru [der (den) beiden Ländern zwischen (1991-in) geführte Kriegl Das pränominale Attribut kann auch in Form eines denominalen Adjektivs erscheinen, welches von der Ergänzung abgeleitet wird. Adjektivisch pränominale Ausdrucksweise ist jedoch nicht immer möglich; wenn auch das Regens es erlaubt, entscheidet letzten Endes die Ergänzung, ob die adjektivische Konstruktion wirklich möglich ist: (15d) die Chance für eine Wiedervereinigung (15u) esely az üjraegyesitesre [Chance die Wiedervereinigung-auf\ (15.1 u) az üjraegyesitesre valö esely [die Wiedervereinigung-^^ seiende Chance] (15.2u) az üjraegyesitesi esely [die Wiedervereinigung^^^ Chance] Manche Substantive, wie in (16u), lassen diese Adjektivbildung nicht zu, vielleicht auch deshalb nicht, weil der Bedeutungsbereich eines solchen Substantivs zu weit ist und die Zuordnung, die durch das Suffix gesichert wird, unbedingt notwendig ist. In diesem Fall kommt ein Partizip zu den Elementen in pränominaler Stellung hinzu: 122 Peter Bassola (16d) die Chance aufeinen sicheren Arbeitsplatz (16u) esely a biztos munkahelyre_ [Chance den sicheren Arbeitsplatz-auf] (16. lu) a biztos munkahelytx valö esely [den sicheren Arbeitsplatz-auf seiende Chance] Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: bei den valenten nicht abgeleiteten Substantiven entsteht eine semantische Leerstelle wie bei anderen relationalen Substantiven. Sie muss aber nicht besetzt werden, jedenfalls nicht unbedingt in der jeweiligen Phrase. Je nach Kontext wird auf die einzelnen Ergänzungen Bezug genommen oder nicht. Die nicht abgeleiteten deutschen Substantive weisen ähnliche Phrasenstrukturen auf, wie sie auch im Ungarischen erscheinen; und auch ihre Verwandtschaft mit verbalen Konstruktionen zeigt in beiden Sprachen ein ähnliches Bild, sowohl was die Struktur als auch die Frequenz der Verben anbelangt. Am häufigsten ist unter den Verben haben vorgekommen. Die Argumente werden etwa durch gleiche Formen realisiert (wenn wir die deutschen Präpositionen und die ungarischen Suffixe und Postpositionen als Äquivalente betrachten). Einzig der IS war im Ungarischen als Realisierungsform nicht abgeleiteter Substantive nicht aufzufmden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Sprachen ist von struktureller Art: durch die strukturelle Notwendigkeit lässt das Ungarische das abhängige Element oft pränominal erscheinen, was ein Verbindungselement notwendig macht. Dies kann ein adjektivbildendes (denominales oder depostpositionales) Suffix oder häufiger ein Partizip sein. Dadurch ist ein interessantes Wechselspiel zwischen dem Deutschen und dem Ungarischen zu erkennen: während im Ungarischen auf der Satzebene verblose Sätze Vorkommen können, was im Deutschen nicht möglich ist, erscheinen auf der Ebene der Phrase zusätzliche Informationen wie Tempus, die mit dem Partizip, d.h. verbal, ausgedrückt werden, was aber im Deutschen nur vereinzelt aufzufmden ist. Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 123 Literatur Bassola, Peter (1990): Substantivvalenz im Deutschen und im Ungarischen. Vorstudie zu einem kontrastiven Substantivvalenzlexikon. In: Sprachwissenschaft 15, 3/ 4, S. 384-403. Bassola, Peter/ Bemäth, Csilla (1998): Realisierung der Valenzstruktur von deutschen und ungarischen deverbalen Substantiven. In: Bassola, Peter (Hg.): Beiträge zur Nominalphrasensyntax. Szeged: JÄTE. (= Acta Germanica 6). S. 173-196. Bassola, Peter/ Läszlö, Sarolta (1996): Konzeption eines Substantivvalenzlexikons Deutsch-Ungarisch. 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Bassola 2003) Angst 1 Angst 2 1 «bedrückendes Gefuhl>felelem, szorongäs 2 «Angst vor dem Eintreten einer Gefahr> aggodalom, aggödäs, feites Bild kep Chance esely Gefahr 1 Gefahr 2 1 «mögliche negative oder schädliche Auswirkung> veszely 2 «Möglichkeit des Eintretens eines Unglücks> veszely Grenze 1 Grenze 2 1 «Rand eines Gebiets, Trennlinie, Landesgrenze> hatär 2 «das Ende von etw in Raum und Zeit> hatär, korlät Grund 1 Grund 2 1 «Ursache für etw> ok 2 «Motiv für etw> ok, indok Krieg häborii Macht 1 Macht 2 1 «Herrschaft über jmdn oder etw> hatalom 2 «Möglichkeit, etw zu tun> hatalom Recht 1 Recht 2 1 «im Gesetz gesicherte Möglichkeitjog 2 «Eigentumsrecht, Besitzrecht / og Schuld 1 Schuld 2 1 «Verletzung des Gesetzes, nicht richtige Handlung, jmds Schuldhaftigkeit biin, hiba, bünösseg 2 «materielle oder moralische> adössäg, tartozäs Sinn 1 Sinn 2 1 «Begabung zu etw> erzek 2 «logischer Zusammenhang> ertelem Urteil 1 Urteil 2 1 «Gerichtsurteil itelet 2 <Meinung> velemeny, Uelet 1 «zueinandet aräny 2 «zwischen Personen> viszony 3 <Liebes-> viszony Verhältnis 1 Verhältnis 2 Verhältnis 3 Zeit 1 Zeit 2 1 «zur Verfügung stehende> idö 2 <geeignete> idö Zweifel ketseg, ketely Anhang 2: Nicht abgeleitete deutsche Substantive und ihre Ableitbarkeit von Satzstrukturen (vgl. Bassola 2003) Angst \ 1 jmd (A\) ängstigt sich vorjmdm/ etw (A2) «ung.: fei vkitöllvmitöl> jmd (Al) hat Angst vorjmdm (A2) «ung.: kein FVG> Angst 2 2 jmd (A 1) hat Angst um jmdn (A2) «ung.: aggödik vkiert/ vmiert oder vki/ vmi miatt [sich sorgen um jmdn oder wegen jmds], kein FVG> Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 125 Bild 1 a Bild 1 b 1 a jmd (A 1) hat ein bestimmtes Bild von jmdmletw (A2) <ung.: kepet alkot vkiröl/ vmiröl [Bild macht jmdm-von/ etwvon]> lb jmd (Al) hat ein Bild einer Person! Sache (A2) <ung.: kepet alkot vkiröl/ vmiröl [Bild macht jmdm-von/ etwvonl> Chance la Chance lb la jmd (Al) hat eine Chance aufetw (A2) <ung.: eselye van vmire [(ihm) Chance-seine ist ctvv-auf]> lb es besteht die Chance einer Sache (A2) fitrjmdn (Al) <ung.: megvanlfennäll vminek az eselye vki szämära> Gefahr 1 Gefahr 2 1 etw (Al) birgtfürjmdn! etw (A2) die Gefahr einer Sache (A3) <ung.: vminek a veszelyet rejti magäban [einer Sache Gefahrihre birgt sich-in]> 2 es bestehtfürjmdn! etw (A2) die Gefahr einer Sache (A3) <ung.: fennäll [‘besteht’] vminek a veszelye> Grenze la Grenze lb Grenze 2 la etw / AX) grenzt an etw (A2) <ung.: hatäros [grenzlich etwmit]> oder etw (Al) hat eine gemeinsame Grenze mit etw (A2) <ung.: közös hatära van [(ihm) gemeinsame Grenze-seine ist]> lb etw (Al) und etw (A2) haben eine gemeinsame Grenze <ung.: közös hatäruk van [(ihnen) gemeinsame Grenze-ihre ist]> 2 etw (Al) hat (seine) Grenze(n) <ung.: megvan a hatära [(ihm) ist die Grenze-seine]> Grund 1 Grund 2 1 etw (A1) ist der Grund einer Sache! für etw (A2) <ung.: vmi vminek az oka [etw einer Sache der Grund-ihre] 2 jmd (Al) hat einen Grund! Gründe zu! für etw (A2) <ung.: megvan az oka/ megvannak az okai vmire [ist (ihm) der Grund-sein/ sind die Gründe-seine etw-auf]> Krieg la Krieg lb la jmd (Al)führt einen Krieg gegen jmdn! etw (A2)für etw (A3) <ung.: häborüt visel, folytat [‘fuhrt’] vki/ vmi eilen vmierf> lb zwei oder mehrere Personen (Al + A2)führen einen Krieg umfür etw (A3) <ung.: häborütfolytatnak [‘führen’] vmiert> Macht la Macht 1 b Macht 2 la jmd (Al) hat Macht überjmdn! etw (A2) <ung.: hatalma van vki! vmifelett oder hatalmat gyakorol vki! vmifelett [Macht übt jmdn über/ etw über]> lb jmd! etw (Al) hat die Macht <ung.: hatalma van [(ihm) ist Macht-seine] oder hatalmat gyakorol [Macht übt]> 2 jmd (A 1) hat die Macht, etw zu tun (A2) <ung.: megvan a hatalma ahhoz, hogy ... [ist ihm die Machtseine dazu, dass ...]> 126 Peter Bassola Recht la Recht 1 b Recht 2 Schuld la Schuld lb Schuld 1 1 a jmd (A 1) hat das Recht aufoder zu etw oder etw zu tun (Al) <ung.: megvan a Joga vmihez vagy ahhoz, hogy [ist ihm das Rechtsein etw-zu oder das-zu, dass]> lb jmd (Al) hat das Recht einer Sache (A2) <ung.: vminek ajoga vki szämära [etw(Dat) das recht-sein jmdn für]> 2 jmd (A1) hat ein Recht an etw (A2) <\u\g: . joga van vmihez [(ihm) ist Recht-sein etw-zu]> la jmd (Al) hat Schuld an etw (Al) <ung.: bünös vmiben [schuldig etw-in]> lb jmd (Al) hat Schuld gegenüberjmdm (AI) <ung.: bünös vkivel szemben [schuldig jmdm-mit gegenüber]> 2 jmd (Al) schuldetjmdm (A2) etw (A3) <ung.: adds vkinek vmivel [schuldig jmdm etw-mit]> Sinn 1 Sinn 2 Urteil 1 Urteil 2 Verhältnis 1 Verhältnis 2a 2a Verhältnis 2b 2b Verhältnis 3 jmd (Al) hat Sinn für etw (A2) <ung.: erzeke van vmihez [(ihm) Sinn-sein ist etw-zu]> etw (Al) hat Sinn <ung.: ertelme van [(einer Sache) Sinn-ihr ist]> jmd (A\) spricht das Urteil überjmdn! etw (A2) <ung.: iteletet mond vkiröl/ vmiröl [Urteil(Akk) spricht jmdmvon/ etw-von]> jmd (Al) urteilt überjmdn! etw (Al) <ung. itelkezik vkiröl> oderjmd (A 1) bildet sich ein Urteil überjmdn! etw (Al), dass (A3) <ung.: iteletet alkot vkiröl/ vmiröl, hogy ... [Urteil bildet/ macht jmdm-von/ etw-von]> etw (Al) steht in einem messbaren Verhältnis zu etw (A2) <ung.: merhetö aränyban all vmihez [messbarem Verhältnis-in steht etw-zu]> jmd/ etw (Al) hat ein bestimmtes Verhältnis zujmdm! etw (A2) <ung.: bizonyos viszonyban all vkihez! vmihez [in einem bestimmten Verhältnis steht jmdm-zu/ etw-zu]> es besteht ein Verhältnis zwischen Personen! Sachen(A\ + Al) <ung.: viszony allfenn szemelyek/ dolgok között [Verhältnis besteht Personen/ Sachen zwischen] oder viszonyfüzödik szemelyek! dolgok között [Verhältnis knüpft sich Personen/ Sachen zwischen]> jmd (Al) hat ein Verhältnis mitjmdm (A2) <ung.: viszonya van vkivel [Verhältnis-sein (ihm) ist jmdmmit^ Strwkturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 127 Zeit 1 Zeit 2 jmd (Al) hat Zeitfürjmdn/ etw (A2) <ung.: ideje van vkire/ vmire [Zeit-seine (ihm) ist für jmdn/ etw] oder idö all vkinek a rendelkezesere vmire [Zeit steht jmdm Verfügung-seine-auf etw-auf] oder idöt szän vminek a rendelkezesere [Zeit verwendet einer Sache(Dat) die Verfügung-ihre-auf]> es ist die Zeit einer Person! Sache oderfürjmdnletw (Al) <ung.: ideje vkinek! vminek [Zeit-seine jmdm/ etw(Dat)l> Zweifel jmd (A 1) hat Zweifel an etw (A2) <ung.: ketelkedik vmiben [zweifelt etw-in] oder ketsege van vmi felöl [Zweifel-sein (ihm) ist etw nach]> Anhang 3: Nicht abgeleitete deutsche Substantive und ihre Argumente mit Ausdrucksformen (Bassola 2003) Substantiv mit Grundstruktur Argumente und Ausdrucksformen Angst 1 jmds (Al) Angst vorjmdm! etw (A2) Al: Gen, LOK A2: E pr , (Korr) NS, IS, HS Angst 2 jmds (Al) Angst umjmdn! etw (A2) Al: Gen A2: Enr Bild 1 a jmds (Al) Bild vonjmdm! etw (A2) Al: Gen A2: Epr, Korr + NS Bild 1 b jmds (Al) Bild einer Person! Sache (A2) Al: Gen, LOK A2: Gen Chance la die Chancejmds (Al) aufetw (A2) Al: Gen, Ep r (fij r ) A2: E„ r , (Korr) NS, IS Chance 1b die Chance einer Sache (A2)fürjmdn (Al) Al: Epr (für) A2: Gen Gefahr 1 die Gefahr einer Sache (Al)fürjmdn/ etw (A2) Al: Gen A2: Eprffur) Gefahr 2 die Gefahr einer .Sache (Al) fürjmdn/ etw A2 Al: Gen, NS, IS, HS A2: Eprffur, bei) Grenze la die Grenze einer Sache (Al) mit etw A2 Al: Gen A2: E nr Grenze 1b die Grenze einer Sache (Al) und einer Sache (A2) Al: Gen, E p r( zw ischen) A2: Gen, E p r( zw ischen) Al + A2: Gen(Pl), Ep r ( zw i S ch e n)(Pl) Grenze 2 die Grenze(n) einer Sache (Al) Al: Gen 128 Peter Bassola Grund 1 der Grund/ die Gründe einer Sache (A2) A2. E pr (f ür ), Korr + NS, IS Grund 2 jmds (Al) Grund! Gründe zu etw (A2) Al: Gen A2: E pr , Korr + NS, IS Krieg la jmds (Al) Krieg gegenjmdn (A2) um etw IA3) Al: Gen A2: Enr A3: E„ r Krieg 1b der Krieg zweier (o. mehr) Personen (A1+A2) um etw (A3) Al + A2: Gen, Ep r A3: Epr Macht 1 a jmds (Al) Macht überjmdn! etw (A2) Al: Gen A2: Epr Macht 1b jmds (A 1) Macht oder die Macht einer Sache (Al) Al: Gen Macht 2 jmds (Al) Macht etw zu tun (Al) Al: Gen A2: IS Recht 1a das Recht einer Person (A1) aufetw (A2) Al: Gen, E pr (f[j r i A2: E pr , Korr + IS, NS Recht 1b das Recht einer Sache (Al) fürjmdn (Al) Al: Epr (für) A2: Gen Recht 2 das Recht einer Person (Al) an etw (A2) Al: Gen A2: Enr Schuld la jmds (Al) Schuld an etw (A2) Al: Gen A2: E D r, Korr + NS Schuld 1b jmds (Al) Schuld gegenüberjmdm (A2) Al: Gen A2: F Schuld 2 jmds (Al) Schulden beijmdm (A2) Al: Gen A2: Epr Sinn 1 jmds (A1) Sinn für etw (A2) Al: Gen A2: Epr Sinn 2 der Sinn einer Sache (Al) Al: Gen Urteil 1 jmds (A 1) Urteil überjmdn! etw (A2) gegen! fürjmdn (A3) Al: Gen A2: Epr A3: Epr Urteil 2 jmds (A 1) Urteil überjmdn! etw (A2) gegen! fürjmdn (A3) Al: Gen A2: Epr, Korr + NS A3: NS, HS Verhältnis 1 das Verhältnis einer Sache (A1) zw etw (A2) Al: Gen A2: Epr Verhältnis 2 a jmds (Al) Verhältnis zujmdm/ etw (A2) Al: Gen, Epr( zw jschen) A2: Epr(zwischen) Stmkturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 129 Verhältnis 2b das Verhältnis zweier Personen (A\ + A2) Al +A2: (PI), Eprfzwischen) Verhältnis 3 jmds (Al) Verhältnis mit jmdm (A2) Al: Gen A2: Enr Zeit 1 jmds (A\) Zeit für jmdnletw (A2) Al: Gen A2: Enr Zeit 2 Zeit einer Person! Sache (Al) Al: Gen, E,pr(für)- IS Zweifel jmds (Al) Zweifel an etw (A2) Al: Gen A2: E pr , Korr + NS Anhang 4: Ungarische Äquivalente der Argumente der nicht abgeleiteten deutschen Substantive (Bassola 2003) Substantiv mit Grundstruktur Ausdrucksformen der Argumente Al A2 Adjektivierungsform (Angst 1) -felelem, szorongäs vkinek (Al) a felelme vkitöl/ vmitöl (A2) PossNG, LOK Suff, Postp (szemben) (Korr) NS Part valö, erzett, depostp Adj (-/ ) (Angst 2) aggodalomlaggödäs,feltes vkinek (Al) az aggodalma vkiert/ vmiert (A2) PossNG Suff, Postp (miatt) Part valö, erzett, depostp Adj (-/ ') Bild la kep vkinek (Al) kepe vkiröllvmiröl (A2) PossNG Suff, (Korr) NS Part alkotott, kialakitott Bild 1b kep vkinek (Al) kepe vkiröl/ vmiröl (Alt PossNG, LOK PossNG (alternativ: Al oder A2) Part alkotott, kialakltott Chance la vkinek (Al) az eselye vmire (A2) PossNG, Postp Suff (-vai), (Korr) NS Part valö Chance 1b vminek (A2) az eselye vmi szämära (A 1) Postp (szämära) PossNG (? ) Gefahr 1 vminek (A1) a veszelye vki szämära (A2) PossNG Postp (szämära) Part adödö,fakadö Gefahr 2 vminek (A 1) a veszelye vki szämära (A2) PossNG, (Korr) NS Suff (-näl), NS, Postp (szämära) Part -fennällö 130 Peter Bassola Grenze la vminek (Al) a hatära vmivel (A2) PossNG Suff (-vel), Postp (fele) Adj - (közös) Grenze 1 b vminek (Al) es vminek (A2) hatära Al + A2 : PossNG PossNG, Postp (között) Part - {között) hüzödö, denom Adj (-/ ') Grenze 2 vminek (Al) hatärai PossNG Grund 1 vminek (A2) az okaji) PossNG, (Korr) NS Grund 2 vminek (Al) oka/ indoka vmire (A2) PossNG Suff (-ra), (Korr) NS Part - {vonatkozo) Krieg la vkinek (A1) a haboruja vki ellen(A2) vmiert (A3) PossNG A2 : Suff (-val), Postp {eilen) A3 : Suff {-ert) Part - {viselt, folytatott), depostp Adj (-/ ), Krieg lb ket v. több szemely (A 1+A2) haboruja vmiert (A3) AI + A2 : PossNG, Postp (között) A3 : Postp {eilen) A3 : Suff {-ert) depostp Adj (-/ ), Part - (folyo) Macht la vkinek (Al) a hatalma vki/ vmi felett (A2) PossNG Postp {felett) depostp Adj (-/ ), Part - {gyakorolt) Macht lb vkinek! vminek (Al) a hatalma PossNG Macht 2 vkinek (Al) a hatalma ahhoz, hogy ... (A2) PossNG (Korr) NS (? ) Recht 1 a vkinek (A1) a joga vmihez (A2) PossNG Suff {-hez), (Korr) NS Part - (valo) Recht lb vminek (A2) ajoga vki szämära (All Postp {szämära) PossNG (? ) Recht 2 vkinek (Al) a joga vmihez (A2) PossNG Suff (-hez) Part - {valo) Schuld la vkinek (Al) a büne/ bünössege vmiben (A2) PossNG Suff {-ben) Part - (valo) Strukturtypen nicht abgeleiteter deutscher Substantive im Vergleich zum Ungarischen 131 Schuld Tb vkinek (Al) a büne/ bünössege vkivel szemben (A2) PossNG Postp (szemben) depostp Adj Part - (meglevö, fennällö) Schuld! vkinek (A1) az adössäga vkinel (A2) PossNG Suff (-nel), Postp (szemben) depostp Adj (-/ ), Part (levö, fennällö) Sinn 1 vkinek (A 1) az erzeke vmihez (A2) PossNG Postp (iränt) depostp Adj (-/ ) Sinn 2 vminek (Al) az ertelme PossNG Urteil 1 vkinek (Al) az delete vkiröl/ vmiröl (A2) vki ellenlvmire vonatkozöan PossNG A2: Suff (-rÖl, -ben) A3: -ra vonatkozöIVostp (eilen) Part - (hozott, vonatkozö), depostp Adj (-0 (A3) Urteil! vkinek (Al) a velemenye! delete vkiröl/ vmiröl (A2) vki ellenlvmire vonatkozöan (A3) PossNG A2: Suff (-röl, -ban), (Korr) NS A3: NS Part - (alkotott, vonatkozö) Verhältnis 1 vminek (A 1) az aränya vmihez (A2) PossNG Suff (-hez) Part - (viszonyitott), depostp Adj (-/ ) Verhältnis 2a vkinek (Al) a viszonya vkihez/ vmihez (A2) PossNG Suff (-hez) Al + A2: Posp (között) Part - (valö,füzödo) depostp Adj (-/ ) Verhältnis 2b ket szemely viszonya egymäshoz (Al + A2) Al + A2: PossNG + PossNG, Postp (között) depostp Adj (-/ ), Part - (valö) Verhältnis 3 vkinek (Al) viszonya vkivel (A2) PossNG Suff (-vel) Part - (folytatoti) Zeit 1 vkinek (Al) az ideje vkire/ vmir^ (A2) PossNG Suff (-re), Postp (szämära), (Korr) NS Part - (szänt,forddott) Zeit 2 vkinek! vminek (Al) az ideje PossNG, (Korr) NS Zweifel vkinek (A 1) a ketelye vmi felöl (A21 PossNG Postp (felöl) depostp Adj (-/ ), Part (illetö) 132 Peter Bassola Symbole: Al = Argument 1 Adj = Adjektiv Angst 1,2 = Lemma mit der 1. bzw. 2. Bedeutung Chance la, 1b = Lemma mit der 1. bzw. der 2. Struktur depostp Adj = depostpositionales Adjektiv E pr = Ergänzung mit Präposition Gen = Substantiv im Genitiv im Deutschen Korr = Korrelat HS = Hauptsatz IS = Infinitivsatz (mit oder ohne zu) NS = Nebensatz Part = Partizip PossNG = possessive Nominalgruppe im Ungarischen Postp = Postposition im Ungarischen Suff = Suffix im Ungarischen Helmut Frosch Zur Semantik relationaler Nomina In Logiklehrbüchern werden zweistellige Relationen häufig anhand von natürlichsprachlichen Nomina wie Vater, Bruder und ähnlichen Verwandtschaftstermen eingeführt, während drei- und mehrstellige Relationen durch verbale Ausdrücke erklärt werden, so z.B. Stegmüller (1969, S. 22): „Der offene Satz ‘x ist Vater von y’ hat die zweistellige Vaterrelation zum Inhalt, ‘x gibt dem y den Gegenstand z’ eine dreistellige Relation.“ Für den Logiker spielt der Unterschied zwischen verbal und nominal ausgedrückten Relationen keine Rolle. Er wird höchstens anmerken, dass die natürliche Sprache dazu tendiert, kürzer bestehende Sachverhalte durch Verben auszudrücken, weil bei diesen die zeitliche Dauer durch Tempusformen angegeben wird. Im Übrigen können Verwandtschaftsrelationen auf prototypische Weise dazu dienen, die logischen Eigenschaften von zweistelligen Relationen zu erklären. Beispielsweise ist die Vaterrelation asymmetrisch und intransitiv. Linguistisch fällt darüber hinaus auf, dass die Argumente von verbalen Relationsausdrücken direkt als Komplemente zum Verb treten können, wobei die syntaktischen oder morphologischen Mittel, die für eine grammatisch korrekte Konstruktion benötigt werden, vom Verb zwingend via Rektion bzw. Valenz vorgegeben sind. Relationale Nomina erfordern dagegen spezielle Konstruktionen, die sich nicht aus den Rektions- und Valenzeigenschaften der Nomina ableiten lassen. Lässt man probehalber alle morphologischen und syntaktischen Zusatzinformationen weg, 1 ist es ohne weiteres möglich, x gibt y z zu verstehen, während x Vater y mehr oder weniger unverständlich bleibt. Nomina müssen in solchen Fällen mit einer Genitivkonstruktion, einer Präpositionalphrase oder mit einem Possessivum verkommen: (1) Fritz ist Peters Vater. (2) Fritz ist der Vater von Peter. (3) Sein Vater ist Fritz. Oder auch dialektal: (4) Der Fritz ist dem Peter sein Vater. i Natürlich mit Ausnahme der Wortstellung! 134 Helmut Frosch Interessanterweise sind aber Konstruktionen wie (l)-(4) nicht auf „relationale“ Nomina beschränkt, sie kommen ebenso mit beliebigen einstelligen Nomina vor, z.B. Auto: (5) Peters Auto ist ziemlich neu. (6) Das neue Auto von Peter hat Ledersitze. (I) Peter ist stolz aufsein neues Auto. (8) Dem Peter sein Auto hat Ledersitze. Das Nomen Auto allein denotiert hier keine Relation, aber die Sätze in (5)- (8) drücken jeweils aus, dass zwischen Peter und dem Auto eine bestimmte Relation besteht, wahrscheinlich die Besitzrelation. Dies ist keineswegs zwingend, denn Peter könnte hier z.B. auch der Konstrukteur des Autos sein; trotzdem sollen solche Konstruktionen ebenso wie die in (l)-(4) erscheinenden in Ermangelung eines besseren Ausdrucks hier als „Possessivkonstruktionen“ bezeichnet werden. Es hat demnach den Anschein, als werde die Relation, die zwischen Peter und seinem Vater besteht, schon durch das „relationale“ Nomen Vater ausgedrückt, und als seien die Possessivkonstruktionen nur eine Art syntaktisches Beiwerk, das im Deutschen dazu dient, diese Relation sprachlich darzustellen. Umgekehrt wäre aber im Fall (5)-(8) die jeweilige Possessivkonstruktion die eigentliche Quelle der relationalen Bedeutung. Das ist merkwürdig, denn erstens klaffen hier Syntax und Semantik bei drei grundverschiedenen Konstruktionen auf völlig parallele Weise auseinander und zweitens finden sich auch in anderen Sprachen analoge Fälle: (9) Frederic est le pere de Pierre. (10) Frederic est son pere. (II) La voiture de Pierre est assez neuve. (12) Pierre estfier de sa voiture neuve. (13) Frederic is Peter 's father. (14) Frederic is his father. (15) Peter's car is quite new. (16) Peter is proud ofhis new car. Auch wenn die oben angeführten sprachsystematischen Gründe gegen eine unterschiedliche Analyse der beiden Fälle sprechen, wird diese im Allge- Zur Semantik relationaler Nomina 135 meinen und auch mit guten Gründen vertreten. 2 Der wichtigste Grund, der dafür spricht, ist wohl die semantische - oder auch kognitive - Unmöglichkeit, sich jemanden zu denken, der Vater, aber nicht Vater von mindestens einem Kind ist. Ähnliches gilt für andere relationale Nomen: Mitglieder sind immer Mitglieder in einem Verein oder in einer sonstigen Gruppe, Lehrer haben Schüler usw. Aber: Ist jemand nur dann ein Lehrer, wenn er Schüler hat? Vielleicht ist er ja gerade arbeitslos. Bei solchen Berufsbezeichnungen wie Lehrer, Arzt, Assistent, Trainer scheint es darauf anzukommen, dass die jeweilige Relation nur potentiell in dem Sinn bestehen muss, dass die reguläre Berufsausübung ein geeignetes Relatum erfordert, in der Art etwa, wie jemand schon dann als Raucher bezeichnet wird, wenn er nicht konstant, sondern beispielsweise nur jede Stunde eine Zigarette raucht. Allerdings gibt es Unterschiede. Jemand ist Arzt, wenn er das Studium abgeschlossen und die Approbation erhalten hat, er braucht den Beruf noch gar nicht ausgeübt zu haben. Raucher ist man dagegen nur, wenn man tatsächlich und habituell Tabak raucht. Diese Nomina denotieren tatsächlich keine extensionalen Relationen, sondern sie sind intensional. So ist das Denotat von Raucher grob gesagt eine Funktion, die Zeitpunkten extensionale Relationen zuordnet. Das Denotat \onArzt ist eine Funktion, die geordneten Paaren von möglichen Welten und Zeitpunkten extensionale Relationen zuordnet. Das Mögliche-Welten-Argument wird hier zusätzlich gebraucht, weil eine Arzt-Patient-Beziehung lediglich im Bereich des Möglichen zu liegen braucht. Wieder anders ist ein Nomen wie Bild zu beurteilen. Einerseits sind Bilder konkrete Gegenstände, die man herumtragen, kaufen oder sammeln kann, andererseits sind Bilder Abbildungen von etwas, also relational. Man könnte vielleicht annehmen, dass es sich dabei um Flomonyme handelt, also einmal so etwas wie Gemälde und andererseits Abbild, das eine einstellig und das andere relational. Allerdings gibt es den simultanen Gebrauch von relationaler und nicht-relationaler „Lesart“ wie in (17), der dieser Annahme widerspricht: (17) Dort hängt ein Bild von einem Pferd. 2 Exemplarisch sei hier auf Löhner (1979) verwiesen. Ausführliche Darstellungen der aktuellen Diskussion finden sich in JensenAükner (2002) und Partee/ Borschev (2003). 136 Helmut Frosch Wie ist außerdem folgendes Faktum zu erklären? Vor 1900 konnte man annehmen, dass jedes Gemälde ein Bild von etwas war. Mit Aufkommen der abstrakten Malerei galt dies plötzlich nicht mehr. Hat sich damit aber ein Bedeutungswandel beim Wort Bild vollzogen? Dieses Beispiel zeigt wohl vor allem, dass das „kognitive Argument“, das eingangs im Zusammenhang mit den Verwandtschaftsbezeichnungen angeführt wurde, nicht sehr tragfähig ist: Ob man sich ein Kind ohne Vater vorstellen kann, hängt eher vom faktischen Zustand unserer Welt ab; sprachlich - und erst recht logisch ergibt sich kein Widerspruch, wenn man etwa von Kindern ohne Vater durch Parthenogenese spricht, ohne dass damit Kind irgendwie metaphorisch gebraucht werden müsste. Ein weiteres Indiz für die relative Unabhängigkeit der relationalen Bedeutung von der Bedeutung des Nomens ist, dass bei Genitiven und anderen Possessivkonstruktionen die Art der Beziehung notorisch erst durch den Kontext bestimmt wird. 3 Ob es sich bei ein Bild Picassos um die Urheber-, Abbild- oder eine andere Relation handelt, ist nicht aus dem Ausdruck allein ersichtlich, der etwa durch ein Bild sein und in einer Beziehung zu Picasso stehen paraphrasiert werden kann. Anscheinend ist in der Bedeutung natürlichsprachlicher Ausdrücke weniger an Information über die Welt kodiert als man oft geneigt ist anzunehmen. Speziell sei hier die These vertreten, dass „relationale“ Nomen im Prinzip einstellige Prädikate denotieren und dass Beziehungen erst durch die verschiedenen Possessivkonstruktionen ausgedrückt werden. 4 Wie kommt es dann aber, dass wir (18) Paloma ist eine Tochter Picassos. spontan in dem Sinn verstehen, dass Picasso der Vater Palomas ist und nicht etwa so, dass sie auf einem seiner Bilder vorkommt, die irgendwelche Töchter darstellen. Mit anderen Worten: Inwiefern ist die Erzeugerrelation hier derart dominant, dass es schon eines sehr speziellen Kontextes bedarf, 3 S. z.B. die Grundzüge (1981), Zifonun/ Hoffmann/ Strecker et al. (1997) oder Eisenberg (1999), sowie Frosch (1998) speziell zu diesem Punkt. 4 Ausnahmen sind möglicherweise bestimmte Substantive mit eigener Rektion wie Hoffnung auf. Ich vermute aber, dass auch hier erst die Präposition die relationale Bedeutung erzwingt. Zur Semantik relationaler Nomina 137 um sie „außer Kraft“ zu setzen? Andererseits kann sie auch nicht fest in der Bedeutung von Tochter verankert sein, weil es sonst gar nicht möglich wäre, sie durch bestimmte Kontexte auszuschalten. Tatsächlich scheint es so zu sein, dass die Bedeutung eines relationalen Nomens aus einem einstelligen Kemprädikat, das kontextunabhängig gegeben ist, und einer zusätzlichen relationalen Komponente zusammengesetzt ist, wobei dieser relationale Anteil immer dann zum Tragen kommt, wenn das Nomen in einer Possessivkonstruktion steht. Der entscheidende Punkt dabei ist, dass diese relationale Komponente zwar fester Bestandteil der Bedeutung ist, jedoch nicht in der Valenz und/ oder Rektion des Nomens zum Ausdruck kommt. In einem formalen Rahmen kann dies folgendermaßen rekonstruiert werden: Ein Nomen wie z.B. Tochter wird wie jedes andere Nomen in eine einstellige Prädikatskonstante einer geeigneten Logiksprache übersetzt. Damit kann Tochter Bestandteil einer beliebigen Nominalphrase sein; kommt das Nomen in einer Possessivkonstruktion vor, determiniert diese, dass prinzipiell irgendeine durch den Kontext gegebene Relation ausgedrückt wird, also z.B. eine Tochter von Picasso, genau wie ein Haus von Picasso, ein Bild von Picasso etc. Der Satz (18) erhält nach einigen hier nicht zu berücksichtigenden Umformungen nun folgende Übersetzung: 5 (18a) [Tochter(Paloma) a R K {Paloma,Picasso)] Aus der Formel (18a) folgt erstens, dass Paloma eine Tochter im nichtrelationalen Sinn ist. Das heißt einfach, dass sie bestimmte Eigenschaften hat, die zum Tochtersein gehören, z.B., dass sie weiblich ist. Zweitens folgt aus (18a), dass Paloma in der Relation R K zu Picasso steht. R K ist eine freie Relationsvariable, die durch den Kontext belegt wird, wobei die im Kontext salienteste Relation gewählt wird. 6 Falls dies die spezifische Tochter-Eltem- Relation ist, hat (18a) dieselben Wahrheitsbedingungen wie (18b), das der traditionellen Analyse entspricht: (18b) [Tochter 2 (Paloma,Picasso)\ 5 Folgende Konvention gelte hier: Wenn IVort (kursiv) ein Wort des Deutschen ist, dann sei Wort (kursiv und fett) diejenige Konstante der Logik, in die Wort übersetzt wird. 6 Vgl. hierzu Frosch (1998) sowie Partee/ Borschev (2003) zur Verwendung einer freien Relationsvariablen („free variable approach"). 138 Helmut Frosch Die Tochter-Eltem-Relation muss nun nicht unbedingt die in einem bestimmten Kontext salienteste Relation sein, allerdings sind solche Kontexte kaum zu finden. Vielleicht: „Viele Maler haben Mütter gemalt, einige auch Töchter. Hier in diesem Museum hängt eine von Picassos Töchtern.“ Dass es so schwer ist, solche Kontexte zu finden, kann folgendermaßen erklärt werden. Jede Tochter (im nicht-relationalen Sinn) hat bestimmte Eigenschaften, etwa, dass sie weiblich ist. Dies kann durch ein Bedeutungspostulat wie (19) ausgedrückt werden. □ ist dabei der logische Notwendigkeitsoperator. (19) MxU[Tochter(x) —» weiblich(xj\ Das Postulat (19) besagt, dass, wenn ein Individuum eine Tochter ist, dann ist es weiblich in allen möglichen Welten, die zur Interpretation des Deutschen in Betracht kommen. Diese sehr starke Forderung lässt sich rechtfertigen, wenn man annimmt, dass Weiblichkeit zur Kembedeutung von Tochter gehört. Wenn man weiterhin annimmt, dass zur Kembedeutung von Tochter gehört, dass es eine Relation gibt, in der Töchter notwendigerweise zu mindestens einem anderen Individuum stehen, kann dies durch das Postulat (20) festgehalten werden: (20) x3yL\[Tochter(x) <-> R(x,y)] Man könnte R, so wie diese Relation hier eingeführt wurde, durch eine Tochter von ... sein paraphrasieren. Für die semantische Interpretation der Formel (18a) ergibt sich nun: Die freie Relationsvariable R K wird durch die im Kontext salienteste Relation belegt. Da gemäß (20) die Tochterrelation sogar zur Kembedeutung gehört, ist sie in jedem Kontext erfüllt und deshalb zunächst einmal immer am salientesten. Erst wenn entscheidende Kontextfaktoren dagegen sprechen, kann diese Salienzordnung überschrieben werden. Inwiefern unterscheidet sich nun dieser Ansatz von einer Analyse, die von vornherein eine zweistellige Tochterrelation verwendet? Der Hauptunterschied besteht darin, dass die Tochterrelation hier zwar zur Kembedeutung von Tochter und somit zum Lexikon gehört, dass sie sich aber in den syntaktischen Eigenschaften des Nomens nicht manifestiert. Damit kann Tochter konstruktionell wie jedes andere (einstellige) Nomen behandelt werden. Anders als bei einer zweistelligen Analyse ist es dadurch überhaupt erst möglich, eine Possessivkonstruktion wie Picassos Tochter anders als im Sinn der Tochter-von-Relation zu interpretieren. Zur Semantik relationaler Nomina 139 Bei anderen Nomina wie z.B. Bild oder Auto dürfen keine analogen Bedeutungspostulate aufgestellt werden. Anders als Tochter kann Bild recht einfach auf unterschiedlichste Weise relational verwendet werden: Unter einem Bild Picassos versteht man meistens eines, das er gemalt hat. Das liegt aber nicht daran, dass die Urheberrelation speziell etwas mit der lexikalischen Bedeutung von Bild zu tun hat, sondern daran, dass Picasso als Maler bekannt ist. Und obwohl man geneigt ist, Bild im Sinne von Abbild als relational zu betrachten, scheint das Aufkommen der abstrakten Malerei keine Bedeutungsänderung nach sich gezogen zu haben. Die relationale Bedeutungskomponente entsteht hier allein über die entsprechende Possessivkonstruktion und wird rein kontextuell interpretiert. Selbstverständlich gibt es dabei Präferenzen, die mit dem Weltwissen der Sprachbenutzer und möglicherweise weiteren Faktoren Zusammenhängen. Literatur Eisenberg, Peter (1999): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler. Frosch, Helmut (1998): Attributive Genitive: kategoriale, semantische und pragmatische Aspekte. In: Sprachtheorie und germanistische Linguistik 8/ 1, S. 5-26. Grundzüge (1981): Grundzüge einer deutschen Grammatik. Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Karl Erich Heidolph, Walter Flämig und Wolfgang Mötsch. Berlin: Akademie. Jensen, Per Anker/ Vikner, Carl (2002): A Semantic Analysis of the English Genitive. Interaction of Lexical and Formal Semantics. In: Studia Linguistica 56, S. 191-226. Löbner, Sebastian (1979): Intensionale Verben und Funktionalbegriffe. Untersuchungen zur Syntax und Semantik von „wechseln“ und den vergleichbaren Verben des Deutschen. Tübingen: Narr. (= Ergebnisse und Methoden moderner Sprachwissenschaft 7). Partee, Barbara H./ Borschev, Vladimir (2003): Genitives, Relational Nouns, and Argument-Modifier Ambiguity. In: Lang, Ewald/ Maienbom, Claudia/ Fabricius- Hansen, Cathrine (Hg.): Modifying Adjuncts. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter. (= Interface Explorations 4). S. 67-112. Stegmüller, Wolfgang (1969): Das ABC der modernen Logik und Semantik. Der Begriff der Erklärung und seine Spielarten. Berlin/ Heidelberg/ New York: Springer. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. Bd. 3. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Bd. 7.3). Marek Konopka Zur Stellung der Relativsätze 1. Einführung: Das Phänomen Bekanntlich können adnominale Relativsätze im Deutschen entweder adjazent zur Kopf-Nominalphrase bzw. zum Kopfnomen stehen oder von ihrem Antezedens abgetrennt dem Obersatzrest nachgestellt erscheinen. Der zweite Fall tritt auf, wenn sich das Antezedens des Relativsatzes im Vorfeld oder im Mittelfeld des Obersatzes befindet. Bei diesen Stellungen des Antezedens kann es also zu Alternativen in Bezug auf die Stellung des Relativsatzes kommen, was folgende Beispiele illustrieren sollen: (1) Ich habe Hans das Buch, das Maria bestellt hat, geliehen. (2) Ich habe Hans das Buch geliehen, das Maria bestellt hat. (3) Das Buch, das Maria bestellt hat, habe ich Hans geliehen. (4) Das Buch habe ich Hans geliehen, das Maria bestellt hat. In den Fällen, in denen der Relativsatz dem Obersatzrest nachgestellt ist, wird hier im Einklang mit der Tradition von Extraposition gesprochen, und zwar unabhängig davon, wie die Relativsätze semantisch zu interpretieren sind. Es stellt sich die Frage, was die Adjazenz des Relativsatzes zum Antezedens 1 bzw. seine Extraposition in einem konkreten Fall bedingt. In der vorliegenden Untersuchung bemühe ich mich, einen Beitrag zur Klärung dieser Frage zu leisten, indem ich erstens einige interessante Klärungsansätze der bisherigen Forschung vorstelle und die darin vorgeschlagenen Faktoren der Relativsatzstellung zusammenstelle, zweitens die Relevanz dieser Faktoren kritisch betrachte und schließlich eine Neuordnung der Faktoren vornehme. Was die Literatur angeht, so werden vor allem Spezialarbeiten zum Relativsatz herangezogen. Vorab sind einige Einschränkungen in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand vorzunehmen. Als adnominale Relativsätze werden hier Verbletztsätze betrachtet, die in einer Attributbeziehung zu einem vorangehenden nominalen Ausdruck stehen und durch ein (eventuell von einer Präposition regiertes) Relativpronomen eingeleitet werden, das sie mittels Numerus- und meist I Im Weiteren spreche ich oft einfachheitshalber nur von „Adjazenz des Relativsatzes“. 142 Marek Konopka auch Genuskongruenz mit dem nominalen Ausdruck verknüpft. 2 Nicht betrachtet werden in den folgenden Abschnitten zum einen attributive Konstruktionen mit Relativadverbien oder Subjunktoren, zum anderen so genannte weiterführende Relativsätze, in denen sich der Nebensatz bekanntlich nicht auf einen nominalen Ausdruck bezieht, und schließlich Spaltsätze, in denen das Relativsyntagma eine prädikative und nicht eine attributive Funktion hat (vgl. Zifonun 2001, S. 76ff.). Während im ersten Fall das Stellungsverhalten des Attributsatzes weitgehend dem Stellungsverhalten der zu untersuchenden Relativsätze zu entsprechen scheint, gibt es in den beiden anderen Fällen keine richtige Alternative zur Nachfeldstellung des Nebensatzes. 2. Faktoren der Relativsatzstellung in der Forschung 2.1 Lötscher 1972 Lötscher versucht anhand von Stellungsmöglichkeiten der adnominalen Relativsätze 3 zu zeigen, dass man syntaktisch zwischen restriktiven und nichtrestriktiven Relativsätzen 4 unterscheiden kann. Aus seinen Ausführungen (S. 50-55) ergeben sich folgende Faktoren der Relativsatzstellung: - Position des Satzakzents - Position des Antezedens - Thema-Rhema-Struktur - Restriktivität bzw. Nichtrestriktivität des Relativsatzes Aus Lötschers Überlegungen lässt sich folgende Argumentation ableiten (die in diesem Abschnitt zitierten Beispiele stammen aus Lötscher 1972): Die Extraposition ist zunächst einmal immer nur optional. Steht das Antezedens im Mittelfeld, so ist die Extraposition des Relativsatzes dann möglich, wenn der Hauptakzent des Obersatzes (im Weiteren „Satzakzent“) sich in der um den Relativsatz erweiterten Nominalphrase befindet. Man vergleiche das Beispiel 2 Zu den übereinzelsprachlich möglichen Relativsyntagmen vgl. Zifonun (2001, S. 9-18); zur theoretischen Bestimmung des Relativsatzes im Deutschen vgl. Zifonun (2001, S. 72ff). 3 In den folgenden Abschnitten spreche ich einfachheitshalber nur von „Relativsätzen“. 4 Zu restriktiven und appositiven (nicht-restriktiven) Relativsätzen im Allgemeinen vgl. z.B. Zifonun (2001, S. 62ff„ 96ff). Zur Stellung der Relativsätze 143 (5) Goethe schnitt mit seinem Messer zuerst die Wurst entzwei, die in seinem Teller lag. in dem laut Lötscher jedes der hier fett gedruckten Wörter den Satzakzent tragen kann. Steht die den Satzakzent tragende Konstituente 5 im Obersatzrest nach dem Antezedens des Relativsatzes, ist die Extraposition an der Grenze der Grammatikalität: (6) 1 Die Professoren lehnten den Antrag mit großer Mehrheit ab, den die Studenten eingebracht hatten. Der Träger des Satzakzents kann laut Lötscher auch nicht vor der komplexen Nominalphrase stehen: (7) 7 Die Professoren lehnten mit großer Mehrheit den Antrag ab, den die Studenten eingebracht hatten. Im Weiteren bedingt die Rechtstendenz des Satzakzents im Deutschen die Tatsache, dass die Extraposition umso wahrscheinlicher bzw. zwingender erscheint, je weniger Satzelemente der komplexen Nominalphrase folgen, die mit ihr als potenzielle Satzakzentträger konkurrieren können. Dies geht so weit, dass die Adjazenz des Relativsatzes als stilistisch schlecht gilt, wenn dem Relativsatz nur die „schwache“ Verbpartikel folgt: (8) Die Professoren lehnten den Antrag, den die Studenten eingebracht haben, ab. Steht das Antezedens des Relativsatzes im Vorfeld, so wird die Bedeutung der Rechtstendenz des Satzakzents für die Relativsatzstellung noch deutlicher. Die Extraposition ist hier unproblematisch, solange der Relativsatz akzentuiert ist: (9) Niemand hat eine Vorstellung vom Mars, der nicht dort gewesen ist. Ist der Relativsatz nicht akzentuiert, ist hier laut Lötscher die Extraposition nicht möglich. Folgt man den bisherigen Ausführungen, so sind die Stellungsmöglichkeiten des Relativsatzes eingeschränkt, wenn die Möglichkeit, dass er den Satzakzent trägt, ausgeschlossen ist. In diesem Fall erscheint bei Mittelfeldstellung 5 Die den Satzakzent tragende Konstituente wird in den folgenden Beispielen dieses Abschnitts soweit notwendig durch Fettdruck hervorgehoben. 144 Marek Konopka der Nominalphrase die Extraposition nur dann möglich, wenn das Antezedens akzentuiert wird. Dieses ist dann ein besonders geeigneter Satzakzentträger, wenn es direkt vor dem Verbalkomplex bzw. seinem infiniten Teil steht: (10) Gestern habe ich aufder Bahnhofstraße Elvis Presley angetroffen, derjetzt mit der Baronin von Ochs verheiratet ist. Bei seiner Vorfeldstellung kommt das Antezedens als Satzakzentträger in der Regel nicht in Frage, so dass Sätze wie der folgende problematisch erscheinen (Lötscher lehnt sie sogar als ungrammatisch ab): (11) Jacky Stewart musste aufgeben, der während 20 Runden an der Spitze gelegen hatte. Die Möglichkeit, dass der Relativsatz den Satzakzent trägt, ist grundsätzlich nicht gegeben, wenn er wie in (10) und (11) nicht-restriktiv (im Weiteren „appositiv“) zu interpretieren ist 6 (in den anderen, weiter oben zitierten Beispielen war er, wohlgemerkt, immer restriktiv zu lesen). Der appositive Relativsatz weist allerdings einen Hauptakzent auf, der nach Lötscher gleich stark ist, wie der im Obersatzrest angesiedelte Satzakzent. Dementsprechend haben Konstruktionen mit appositiven Relativsätzen zwei Hauptakzente. Dies ist laut Lötscher darauf Zurückzufuhren, dass solche Konstruktionen zwei Thema- Rhema-Strukturen begründen, in denen jeweils das rhematische Element durch einen Hauptakzent ausgezeichnet wird. 7 Dabei ist die Thema-Rhema- Struktur des appositiven Relativsatzes kein Teil der anderen Thema- Rhema-Struktur, die folglich nur den Obersatzrest umfasst. In Konstruktionen mit restriktiven Relativsätzen liegt dagegen eine einzige Thema-Rhema- Struktur vor, deren rhematisches Element auch im Relativsatz enthalten sein kann. Die oben angesprochene Rechtstendenz des Satzakzents steht also letztlich für die Rechtstendenz des Satzrhemas, das aber nicht im appositiven Relativsatz enthalten sein kann, da dieser eine eigene Thema-Rhema-Struktur aufweist. Daraus erklären sich die eingeschränkten Stellungsmöglichkeiten der appositiven Relativsätze. 6 Bei appositiven Relativsätzen lässt Lötscher die Extraposition nur in Fällen wie (10) zu, in denen das Antezedens im Mittelfeld steht und nur von einem verbalen Element gefolgt wird. 7 Lötscher spricht hier sogar von zwei vollständigen, strukturell unabhängigen Sätzen (ebd., S. 54). Zur Stellung der Relativsätze 145 Die obige Argumentation kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die Adjazenz des Relativsatzes ist immer möglich, wiewohl sie manchmal zu stilistisch unschönen Konstruktionen führt. Die Möglichkeit der Extraposition wird im Allgemeinen durch die Rechtstendenz des Satzakzents bzw. des Satzrhemas gesteuert: A. Die Extraposition ist prinzipiell möglich bei Stellung des Antezedens im Mittelfeld wenn sich der Satzakzent bzw. das Satzrhema in der um den Relativsatz erweiterten Nominalphrase befindet; bei Stellung des Antezedens im Vorfeld wenn sich der Satzakzent bzw. das Satzrhema im Relativsatz befindet. B. Befindet sich das Antezedens im Mittelfeld, so ist die Extraposition besonders begünstigt, wenn die Nominalphrase am Ende des Mittelfeldes steht. C. Bei restriktiven Relativsätzen ist sowohl die Extraposition aus dem Mittelfeld als auch aus dem Vorfeld möglich. Da appositive Relativsätze eine eigene Thema-Rhema-Struktur aufweisen, kann nur ihr Antezedens den Satzakzent bzw. das Satzrhema enthalten. Folglich scheinen appositive Relativsätze nur dann die Extraposition zuzulassen, wenn die Nominalphrase am Ende des Mittelfeldes direkt vor dem Verbalkomplex bzw. seinem infiniten Teil steht. 2.2 Shannon 1992 Shannon prüft anhand schriftsprachlicher Belege (die Quellen werden unter „References“, S. 279f. mit aufgeführt) zunächst die Bedeutung folgender Faktoren für die Relativsatzstellung: - Position des Antezedens - Satzgliedwert der Nominalphrase - Defmitheit bzw. Indefinitheit der Nominalphrase - Position des Satzakzents Aus seinen diesbezüglichen Ergebnissen ergibt sich folgendes Bild (die in diesem Abschnitt zitierten Beispiele stammen alle aus Shannon 1992): 146 Marek Konopka Das Antezedens 8 steht bei Extraposition häufig am Ende des Mittelfelds und wird typischerweise nur durch den Verbalkomplex oder seinen infiniten Teil vom Relativsatz getrennt. Bei Adjazenz des Relativsatzes erscheint die Nominalphrase üblicherweise nicht am Mittelfeldende (vgl. S. 269ff). Bei Vorfeldstellung des Antezedens ist die Extraposition sehr selten. Was den Satzgliedwert der Nominalphrase angeht, so scheint es diesbezüglich keine Einschränkungen bei der Extraposition aus dem Mittelfeld zu geben. Vielmehr ist (in Shannons Korpus) nur die Extraposition anzutreffen, wenn die Nominalphrase als Prädikativum fungiert oder ein expletives es vorangeht (vgl. S. 262f): (12) Er könnte ihm einfach zeigen, dass er ein alter Raumhase war, der die Reizzustände des Raums nahm, wie sie kamen. (13) Es wäre aber noch aufdrei Bereiche hinzuweisen, die in größerem Umfang Fremdes enthalten [...]. Anders verhält es sich mit der Extraposition aus dem Vorfeld. Sie ist (in Shannons Korpus) nicht zu finden, wenn die Nominalphrase in eine Präpositionalphrase eingebettet ist. Die Nominalphrase ist bei der Extraposition des Relativsatzes im Allgemeinen häufig indefinit (außer wenn sie als Prädikativum fungiert) und bei der Adjazenz sehr häufig definit, wobei im letzten Fall oft indefinite Konstituenten des Satzes folgen. Schließlich enthält das Antezedens fast immer den Satzakzent. In einem typischen Fall findet also die Extraposition dann statt, wenn das Antezedens am Ende des Mittelfelds steht, indefinit ist und akzentuiert wird. Shannon schlussfolgert, dass die Bedeutung dieser verschiedenen Faktoren sich auf einen Hauptfaktor zurückfuhren lässt: Bei der Extraposition enthält die komplexe Nominalphrase den Satzfokus. Dies wird dadurch angezeigt, dass das Antezedens den Satzakzent enthält. Der Satzfokus ist typischerweise in indefiniten Konstituenten angesiedelt und tendiert dazu, spät im Mittelfeld zu erscheinen. 9 Dass die Extraposition fokus-sensitiv ist, erklärt auch, warum sie in Konstruktionen, die eine fokussierende Funktion haben Neben adnominalen Relativsätzen werden bei Shannon auch durch Relativadverbien eingeleitete Attributsätze zum adverbialen Kopf sowie Spaltsätze berücksichtigt (vgl. S. 260f.). Diese Konstruktionen sollen hier außer Acht gelassen werden. Dabei beruft sich Shannon auf Behaghels zweites Gesetz der Wortstellung (S. 273; vgl. Behaghel 1932, S. 4). 9 Zur Stellung der Relativsätze 147 (wie (13)) offensichtlich obligatorisch eintritt, und warum sie nach Shannon nicht auftreten kann, wenn bestimmte Operatoren ein anderes, der Nominalphrase folgendes Element fokussieren (vgl. S. 270), z.B.: (14) Vielleicht machen sie das Chronoskop, das sie haben, gar nicht absichtlich rar. Hinsichtlich seines Hauptfaktors der Relativsatzstellung, der Topik-Fokus- Gliederung des komplexen Satzes mit der Rechtstendenz des Satzfokus, liegt Shannon auf einer Linie mit Lötscher (1972). Im Hinblick auf die Position des Satzakzents nennt Shannon als Voraussetzung für die Extraposition allerdings nur die Platzierung des Satzakzents auf dem Antezedens des Relativsatzes. Er spricht nicht davon, dass der Satzakzent auch im Relativsatz auftreten könnte. Dies fuhrt dazu, dass der Ansatz Shannons zumindest im Hinblick auf die Erklärung derjenigen Fälle, in denen die Extraposition aus dem Vorfeld erfolgt, mit dem Ansatz Lötschers unverträglich zu sein scheint. 10 Anders als Lötscher geht Shannon auch nicht auf die möglichen Unterschiede zwischen restriktiven und appositiven Relativsätzen ein. Über Lötscher hinausgehend wird bei Shannon dafür die Bedeutung möglicher Faktoren wie Satzgliedwert oder Defmitheit der Nominalphrase relativiert bzw. auf ihre informationsstrukturelle Grundlage zurückgeführt. 2.3. Mariliier 1993 Marillier überprüft anhand eines literarischen Werkes 11 zunächst die Geltung folgender möglicher Faktoren der Relativsatzstellung (die in diesem Abschnitt zitierten Beispiele stammen aus Marillier 1993): - Restriktivität bzw. Nichtrestriktivität des Relativsatzes - Defmitheit bzw. Indefmitheit der Nominalphrase - Tiefe der Einbettung der Nominalphrase - Position des Antezedens Er stellt fest, dass die beiden ersten Faktoren keine Rolle bei der Wahl zwischen Adjazenz des Relativsatzes und seiner Extraposition spielen. Die Tiefe 10 Möglicherweise betrachtet Shannon nur die Akzentverhältnisse im Obersatzrest und bezeichnet mit „Satzakzent“ immer nur den Hauptakzent des Obersatzrestes, ohne auszuschließen, dass der Relativsatz einen zweiten Hauptakzent (evtl, den Satzakzent im Sinne Lötschers) enthalten kann. 11 Fischer, Marie-Luise: Bleibt uns die Hoffnung. 5. Aufl. München 1978. 148 Marek Konopka der Einbettung der Nominalphrase scheint nur dann von Bedeutung zu sein, wenn die Nominalphrase Konstituente eines Satzglieds im Vorfeld ist. In diesem Fall findet Mariliier keine Extraposition des Relativsatzes ans Ende des Hauptsatzes. (Ähnliches zu in Präpositionalphrasen eingebetteten Nominalphrasen bereits bei Shannon 1992, vgl. weiter oben.) Der einzige wirklich relevante syntaktische Faktor der Relativsatzstellung ist für ihn die Position des Antezedens, wobei auch er feststellt, dass bei Spätstellung der Nominalphrase im Mittelfeld die Relativsätze in der Regel extraponiert werden und in anderen Fällen eher adjazent zum Bezugselement bleiben. Da die Extraposition des Relativsatzes dennoch meistens optional erscheint, fragt sich Mariliier nach ihrer Motivierung. Er bemerkt, dass bei der Stellung der Nominalphrase am Mittelfeldende der Relativsatz fast immer extraponiert wird, wenn die rechte Verbklammer aus nur einem Element besteht und dass er sehr oft adjazent zum Antezedens bleibt, wenn die rechte Verbklammer aus mehreren Elementen gebildet wird. Folgt dem Relativsatz nur die rechte Verbklammer aus einem Element, scheint das Gleichgewicht der Gesamtkonstruktion gestört zu sein. Hier kann nach Marillier die Extraposition verständnisfördemd wirken. Die Verständniserleichterung ist für ihn aber nicht der eigentliche Grund für die Extraposition. Marillier geht davon aus, dass der extraponierte Relativsatz den Satzakzent enthält. Aufgrund dessen sieht er die grundsätzliche Motivierung für die Extraposition in Anlehnung an Benes (1968) darin, dass sie den höheren kommunikativen Wert des Relativsatzes signalisiert. Um das zu belegen, führt er Beispiele an, in denen er je nach Extraposition oder Adjazenz des Relativsatzes den „Mitteilungskem“ des Satzes im Relativsatz oder in darauf folgenden Elementen bzw. in der Verbklammer angesiedelt sieht; vgl. folgendes Beispielpaar mit der dazugehörigen Interpretation: (41a) Nein, ehrlich, ich weiß nicht, ob ich mich für so jemanden einsetzen würde, der... naja ... sich anfremdem Geld vergriffen hat. (F., 22) (41b) Ich weiß nicht, ob ich mich für so jemanden, der sich an fremdem Geld vergriffen hat, einsetzen würde. In (41b) wird vor allem Ablehnung (= verbale Klammer) geäußert, dagegen betont der Sprecher von (41a) durch die Relativsatzextraposition den Grund seiner Ablehnung. (Marillier 1993, S. 229) Die Hervorhebung des extraponierten Relativsatzes erklärt nach Marillier auch die Tatsache, dass extraponierte appositive Relativsätze als eine zweite selbstständige Behauptung interpretiert werden können, wie in folgendem Beispiel: Zar Slellung der Relativsätze 149 (15) Daß dies nicht geschehen war, dafür hatte Direktor Schneller, ihr unmittelbarer Vorgesetzter, gesorgt, der sie, ohne je zudringlich zu werden, gerne um sich sah. Als sein Hauptergebnis stellt er seiner Argumentation entsprechend Folgendes heraus: Extraposition kennzeichnet, wo sie sich als Gegenstück zur Integration bietet, einen höheren kommunikativen Wert des Relativsatzes, integrierte Relativsätze dagegen gelten als kommunikativ weniger wichtig. (Mariliier 1993, S. 231) Zusammenfassend lässt sich feststellen: Auch für Marillier scheint nach Ausschluss einer Reihe von denkbaren Faktoren die Relativsatzstellung entscheidend durch die Rechtstendenz des Satzakzents bzw. des kommunikativ Wichtigen (vgl. Lötschers Satzrhema und Shannons Satzfokus) bestimmt zu sein. Als erster sieht Marillier allerdings die Möglichkeit, dass durch die Adjazenzstellung des Relativsatzes nachfolgende Satzelemente hervorgehoben werden. Neu sind bei ihm ebenfalls die Feststellungen, dass durch die Extraposition der Relativsatz immer hervorgehoben wird und dass diese Hervorhebung bei appositiven Relativsätzen zu ihrer Verselbstständigung beiträgt. Diese Feststellungen beruhen auf einer Annahme, die sich mit den Aussagen von Lötscher und Shannon nicht ohne weiteres vereinbaren lässt, und zwar, dass der extraponierte Relativsatz immer den Satzakzent enthält. 12 Anders als Lötscher hält Marillier Restriktivität bzw. Nichtrestriktivität des Relativsatzes für unbedeutend für die Relativsatzstellung. 2.4 Hawkins 1994 In seinem Buch zur Bedeutung der übereinzelsprachlichen Prinzipien der Sprachverarbeitung für die Grammatik behandelt Hawkins u.a. ausführlich die Relativsatzextraposition im Deutschen (S. 196-210). Sein Ansatz ist grundsätzlich anders als die bisher behandelten. Hawkins misst Faktoren wie Akzentverhältnissen, Informationsstruktur oder Semantik des Relativsatzes, die von anderen Forschem immer wieder herangezogen werden, wenig Bedeutung bei. Er geht vielmehr davon aus, dass sich die Hauptgründe für die Variation der Relativsatzstellung aus einem einfachen Verarbeitungsprinzip ableiten lassen, das er „Early Immediate Constituents“ (EIC) nennt. Seine Grundidee beschreibt er wie folgt: 12 Marillier zitiert zwar Benes' (1968) Bemerkungen zur „zweipoligen Intonation“ bei der Extraposition, greift sie aber nicht in seiner Argumentation auf. 150 Marek Konopka 1 believe that words and constituents occur in the orders they do so that syntactic groupings and their immediate constituents (ICs) can be recognized (and produced) as rapidly and efficiently as possible in language performance. (Hawkins 1994, S. 57) Hawkins' Grundidee zufolge ist bei alternativen Anordnungen innerhalb einer Konstruktion zu erwarten, dass diejenige präferiert wird, die eine schnellere Erkennung der unmittelbaren Konstituenten der Konstruktion ermöglicht. 13 In komplexen Sätzen mit Relativsätzen stehen sich die Verarbeitung der um den Relativsatz erweiterten Nominalphrase und die Verarbeitung der dieser Nominalphrase übergeordneten Konstruktion gewissermaßen im Wege (vgl. Hawkins 1994, S. 198). Die um den Relativsatz erweiterte Nominalphrase wird gemäß dem EIC-Prinzip optimal verarbeitet bei der Adjazenz des Relativsatzes, die dieser Nominalphrase übergeordnete Konstruktion dagegen bei der Extraposition des Relativsatzes, vgl.: (a) Ich habe Hans das Buch, das Maria bestellt hat, geliehen. (b) Ich habe Hans das Buch geliehen, das Maria bestellt hat. (c) Das Buch, das Maria bestellt hat, habe ich Hans geliehen. (d) Das Buch habe ich Hans geliehen, das Maria bestellt hat. Für Hawkins gelten die unmittelbaren Konstituenten einer komplexen Konstruktion als erkannt, sobald sie alle „konstruiert“ sind. Er geht davon aus, dass die letzte unmittelbare Konstituente der komplexen Nominalphrase der Relativsatz ist, der mit der Erkennung seines Kopfes, des Relativpronomens, konstruiert wird. Die der Nominalphrase übergeordnete Konstruktion ist bei der Mittelfeldstellung des Antezedens des Relativsatzes eine Verbgruppe wie Hans ... geliehen in (a) und (b). Die unmittelbaren Konstituenten dieser Verbgruppe können als erkannt gelten, sobald das Vollverb geliehen verar- 13 Auf die Einführung der technischen Definition von EIC (s. Hawkins 1994, S. 76f.) wird hier verzichtet. Zur Stellung der Relativsätze 151 beitet wird, und zwar auch bei der Extraposition des Relativsatzes, denn nach Hawkins wird die komplexe Nominalphrase, die unmittelbare Konstituente der Verbgruppe ist, bereits durch den vorher erkannten Determinierer (den definiten Artikel) konstruiert. Man vergleiche dazu folgende sich an Hawkins anlehnende Formalisierung, in der VG für die Verbgruppe und RS für den Relativsatz stehen und die Erkennungsdomäne der unmittelbaren Konstituenten der Verbgruppe hervorgehoben ist: vg[XP \7>( Del V] V vy»[/ dS T ]] Bei der Vorfeldstellung des Antezedens des Relativsatzes wie in (c) und (d) ist die der Nominalphrase übergeordnete Konstruktion der gesamte Obersatz, 14 der neben der Nominalphrase als unmittelbare Konstituente die finite Verbgruppe enthält. Die unmittelbaren Konstituenten des Obersatzes gelten nach Hawkins als erkannt, sobald das finite Verb verarbeitet wird, das die finite Verbgruppe konstruiert. 15 In Bezug auf die Extraposition des Relativsatzes kann dies durch folgende Formalisierung illustriert werden, in der OS für den Obersatz und fVG für die finite Verbgruppe stehen und die Erkennungsdomäne der unmittelbaren Konstituenten des Obersatzes hervorgehoben ist: osMDetN] fvcW/ XP] „ P [RS]] In seiner Darstellung der Verarbeitung der komplexen Sätze mit Relativsätzen buchstabiert Hawkins die Prämissen von zwei gegenläufigen Intuitionen aus, die nicht nur für Sprachwissenschaftler auf der Hand liegen: Je länger der zum Antezedens adjazente Relativsatz, desto schlechter die Verarbeitung der die komplexe Nominalphrase enthaltenden Konstruktion, und je größer die Entfernung zwischen dem Antezedens und dem extraponierten Relativsatz, desto schlechter die Verarbeitung der komplexen Nominalphrase. 16 Hawkins begnügt sich jedoch nicht mit diesen Feststellungen und versucht die Effizienz der Erkennungsdomänen von Konstituenten („Constituent Recognition Domain“ = CRD, vgl. S. 76ff.) zu kalkulieren, um die in konkreten Fällen geltenden Stellungspräferenzen zu erklären. 17 Seine Berechnungen 14 Hawkins spricht hier von „Expression“ (vgl. S. 201). 15 Genauer gesagt spricht Hawkins davon, dass das finite Verb die „main clause“ (S), konstruiert, die Schwesterkonstituente der Nominalphrase in Vorfeldstellung ist. 16 Dazu bereits Behaghel (1932, S. 27Iff). 17 Die Effizienz einer CRD kann nach ihm durch das Verhältnis der Anzahl ihrer unmittelbaren Konstituenten zu der Anzahl der zu der Erkennung der CRD notwendigen Wörter wiedergegeben werden (vgl. S. 76f). 152 Marek Konopka (vgl. S. 200-202) zeigen folgendes Bild: Wenn die Extraposition über nur ein Wort, etwa das finite oder infinite Verb, hinweg erfolgt, ergibt sich mathematisch bereits bei sehr kurzen Relativsätzen, dass der Nachteil, der für die Verarbeitung der komplexen Nominalphrase entsteht, durch den Vorteil wettgemacht wird, der für die Verarbeitung der übergeordneten Konstruktion entsteht. Die Situation verändert sich radikal, schon wenn nur eine Konstituente aus zwei Wörtern zwischen dem Antezedens des Relativsatzes und dem Verb interveniert. In diesem Fall ist die Extraposition mathematisch nicht angezeigt, denn der Vorteil, der für die Verarbeitung der übergeordneten Konstruktion entstünde, ist kleiner als der Nachteil für die Verarbeitung der komplexen Nominalphrase. Hier empfiehlt sich also die Adjazenzstellung des Relativsatzes (und dies sogar noch bei Relativsätzen, die aus 16 Wörtern bestehen). Dass die Extraposition aus dem Vorfeld extrem selten ist, ergibt sich dementsprechend einfach daraus, dass die finite Verbgruppe mit ihren Komplementen typischerweise mehrere Wörter enthält, die bei Extraposition des Relativsatzes zwischen dem Antezedens und dem Relativsatz intervenieren würden. Seine Ergebnisse sieht Hawkins durch Korpusuntersuchungen bestätigt, in denen die Frequenz der Extraposition bzw. der Adjazenz des Relativsatzes in Abhängigkeit von der Stellung des Antezedens im Vorfeld oder im Mittelfeld, von der Länge des Relativsatzes und von der Anzahl der (potenziell) zwischen dem Antezedens und dem Relativsatz intervenierenden Wörter untersucht wird, und die seinen mathematisch hergeleiteten, auf dem EIC-Prinzip basierenden Vorhersagen entsprechen (vgl. S. 203ff). Zum Schluss geht Hawkins auch auf Faktoren der Relativsatzstellung ein, die von anderen vorgeschlagen wurden. Er betrachtet sie alle als epiphänomenal: Die Fokussierung der um den Relativsatz erweiterten Nominalphrase sei kein Grund für die Extraposition, da auch bei Adjazenz des Relativsatzes die komplexe Nominalphrase fokussiert sein kann. Komplexe Sätze mit Extraposition (die durch das EIC-Prinzip bedingt ist) weisen gegenüber ihren Pendants mit Adjazenz des Relativsatzes einfach nur eingeschränkte Möglichkeiten für die Fokuspositionierung auf. Dass Relativsätze seltener aus definiten Nominalphrasen heraus extraponiert werden als aus indefiniten (vgl. weiter oben zu Shannon 1992), hänge damit zusammen, dass definite Nominalphrasen mit den dazugehörigen Relativsätzen in der Regel kürzer sind, so dass sich die Notwendigkeit der EIC-gemäßen Extraposition vielfach nicht ergibt. Auch der Akzent im Antezedens des Relativsatzes (vgl. weiter oben zu Shannon 1992) sei keine Erklärung für die Extraposition. Der Ak- Zur Stellung der Relativsätze 153 zent scheine lediglich ein Signal für den Hörer zu sein, das auf den noch folgenden Relativsatz verweist, ein Signal, das bei restriktiven Relativsätzen allgemein (also auch in adjazenter Stellung) üblich ist; man vergleiche Konstruktionen wie diejenigen Studenten, die ... Schließlich sei auch die bereits von Behaghel (1932, S. 4) festgestellte Rechtstendenz der wichtigeren Information als ein Korrelat der Abfolge ‘kurze Konstituente vor langer Konstituente’ zu sehen, die durch das ElC-Prinzip erklärt werden kann. Von den Faktoren der Relativsatzstellung, die in den anderen hier behandelten Ansätzen vorgeschlagen wurden, bleibt bei Hawkins nur der Faktor Position des Antezedens bestehen. Uminterpretiert in „Anzahl der Wörter, die (potenziell) zwischen dem Antezedens und dem Relativsatz intervenieren“, wird er dabei zusammen mit dem Faktor Relativsatzlänge auf das EIC- Prinzip zurückgeführt. 3. Kritische Betrachtung der behandelten Faktoren 3.1 ElC-Prinzip Das ElC-Prinzip, in das die Faktoren Position des Antezedens und Relativsatzlänge integriert sind, scheint in seinen Gründzügen 18 eine adäquate Erklärung für die durch die Frequenz der Extraposition bzw. der Adjazenz des Relativsatzes belegten allgemeinen Präferenzen bei der Wahl der Relativsatzstellung zu sein. Es spezifiziert unter anderem auch Bedingungen für die Präferenz der Extraposition aus dem Vorfeld, die sehr selten erfolgt. Dem EIC-Prinizip entspricht etwa folgendes Beispiel, in dem der Relativsatz vom Antezedens im Vorfeld durch nur ein Wort getrennt ist: (16) Eine kleine Pause entstand, in der Frau Kahlenberg ihr Taschentuch zu einer Wurst drehte, (aus Mariliier 1993, S. 223) Was das ElC-Prinzip naturgemäß nicht erklärt, sind die Ausnahmen von den in einer bestimmten Umgebung präferierten Relativsatzstellungen. Diese Ausnahmen können zum Teil vielleicht als Stilisierungen erklärt werden. Oft scheinen sie aber etwa die Erklärungen Marilliers (1993) zum unterschiedlichen kommunikativen Wert der adjazenten und der extraponierten Relativsätze oder die Erklärungen Lötschers (1972) zu Unterschieden zwischen den restriktiven und appositiven Relativsätzen zuzulassen. 18 Über seine theorieabhängigen Züge wie eine bestimmte Aufteilung der Konstruktionen in unmittelbare Konstituenten mag gestritten werden. 154 Marek Konopka 3.2 Fokus-Hintergrund-Gliederung mit Akzentuierung Die Hinweise auf die Informationsstruktur, die in den behandelten Ansätzen unter Verwendung unterschiedlicher Terminologie gemacht wurden, werden hier auf das Konzept der Fokus-Hintergrund-Gliederung bezogen. 19 Die Fokus-Hintergrund-Gliederung muss schon deshalb als ein selbstständiger Faktor der Relativsatzstellung betrachtet werden, weil durch ihre aktuelle Ausprägung einige Fälle erklärt werden können, in denen die Relativsatzstellung gegenläufig zum EIC-Prinzip ist. So können etwa, wie es sich aus den Ausführungen Marilliers (1993) ergibt, auch längere Relativsätze im Mittelfeld direkt vor dem Verb erscheinen, wenn das Verb allein den Satzfokus trägt: 20 (17) Eine Stunde später wurde die Musik, die aus zahlreichen Lautsprechern in jeden Winkel der riesigen Verkaufshalle [...] drang, unterBROchen. (nach Marillier 1993, S. 221) (18) [„Ich will nie mehr zur Schule.“] Sven ließ die Waffel, in die er gebissen hatte, SINken. (nach Marillier 1993, S. 230) In solchen Fällen verdeutlicht die Adjazenz des Relativsatzes die Fokussierung des Verbs. Außerdem kann die Extraposition, wie es Lehmann (1984, S. 204) bemerkt, beim Demonstrativpronomen derjenige, das darauf spezialisiert ist, Relativsätze anzukündigen, über beliebig weite Strecken erfolgen: (19) DERjenige Athlet wird als erster durch’s Ziel gehen, wird die Medaille gewinnen, wird [...] und durch die Werbung viel Geld verdienen, der am fleißigsten traiNIERT hat. (ebd.) Der Relativsatz ist dabei fokussiert. Durch seine Extraposition wird sichergestellt, dass er den Satzakzent trägt (das Demonstrativpronomen weist dabei einen Nebenakzent auf). Der Relativsatz in (19) ist somit im Sinne Marilliers - „kommunikativ wichtiger“ als der entsprechende nicht extraponierte Relativsatz. Dass die Abweichungen von der EIC-gemäßen Relativ- 19 Unter Fokus werden hier, wie in der Literatur üblich (Pasch et al. 2003, S. 123ff., vgl. auch etwa Jacobs 1988), diejenigen Anteile an der Bedeutung eines komplexen Ausdrucks verstanden, die mit anderen denkbaren mentalen Einheiten kontrastiert werden. Die Ausdrücke, mit denen diese Bedeutungsanteile realisiert werden, werden als fokussiert betrachtet. Das, was an der Bedeutung eines komplexen Ausdrucks nicht mit etwas anderem kontrastiert werden soll, wird zu dessen Hintergrund gezählt. 20 ! m Folgenden wird die akzentuierte Silbe soweit notwendig durch Großbuchstaben hervorgehoben. Zur Stellung der Relativsätze 155 satzstellung in der vorgestellten Weise interpretiert werden, beruht darauf, dass man prinzipiell von der Rechtstendenz des Satzfokus und damit des Satzakzents ausgeht. Diese Tendenz spielt eine wichtige Rolle in den Ansätzen Lötschers, Shannons und Marilliers. Hawkins zufolge wird die wichtigere Information in der Regel mit mehr Wortmaterial realisiert, so dass die Entstehung der genannten Tendenz durch das EIC-Prinzip mit bedingt ist. Selbst wenn eine solche Herleitung der Tendenz zutrifft, kann die Tendenz auf die Relativsatzstellung auch selbstständig wirken, da sie Fälle bedingt, in denen die Relativsatzstellung das EIC-Prinzip verletzt. Vonseiten der Fokus-Hintergrund-Gliederung und der Akzentuierung ergeben sich folgende allgemeine Regularitäten in Bezug auf die Extraposition des Relativsatzes (vgl. A) und die Adjazenz des Relativsatzes (vgl. B): A. Die Extraposition kann immer dann erfolgen, wenn die um den Relativsatz erweiterte Nominalphrase fokussiert ist, genauer gesagt, wenn sich der Träger des Satzakzents in der komplexen Nominalphrase befindet. Shannon (1992) geht bei der Extraposition von der Positionierung des Satzakzents im Antezedens aus. Marilliers (1993) Ausführungen scheinen dagegen größtenteils auf der Annahme zu basieren, dass sich der Satzakzent bei der Extraposition im Relativsatz befindet. Lötscher (1972) stellt fest, dass bei der Extraposition der Satzakzent prinzipiell im Antezedens oder im Relativsatz positioniert sein kann. Wodurch ergeben sich diese unterschiedlichen Auffassungen? Es scheint, dass komplexe Sätze mit Extraposition in der Regel zwei starke Akzente enthalten, den einen im Antezedens, den anderen im Relativsatz. Bei der Extraposition eines restriktiven Relativsatzes erhält der Relativsatz meist den Satzakzent; der andere Akzent, der im Hinblick auf den gesamten komplexen Satz als Nebenakzent empfunden wird, kann dann auf dem Bezugsnominale oder wenn vorhanden dem definiten Determinativ liegen, z.B.: (20) Alexander hat sich gestern mit einem JUNgen getroffen, der in die KURpfalzschule geht. (21) Alexander hat sich gestern mit DEM(jenigen) Jungen getroffen, der in die KURpfalzschule geht. Bei der Extraposition eines appositiven Relativsatzes liegen in jedem Fall zwei starke Akzente vor. Der Akzent des Antezedens liegt auf dem Nominale und muss als Satzakzent gewertet werden, wenn man in Anlehnung an Löt- 156 Marek Konopka scher davon ausgeht, dass der appositive Relativsatz eine eigene Fokus- Hintergrund-Gliederung aufweist. Unter der Voraussetzung, dass das Antezedens den Hauptakzent des nach Abzug des Relativsatzes verbleibenden Obersatzrestes trägt, scheint sogar die von Lötscher grundsätzlich als ungrammatisch bewertete Extraposition des appositiven Relativsatzes aus dem Vorfeld möglich zu sein. Man vergleiche noch einmal Lötschers Beispiel mit der minimalen Fokussierung des Antezedens, die durch den von mir hinzugefugten Kontext erzwungen wird: (11') [Im gestrigen Formel-1-Rennen sind viele Fahrer AUSgeschieden. Sogar] Jacky STEWart musste aufgeben, der während 20 Runden an der SPItze gelegen hatte. Im Kontext der Regularität A muss auch festgehalten werden, dass die Extraposition am Rande auch dann erfolgen kann, wenn sich der Träger des Satzakzents außerhalb der komplexen Nominalphrase befindet. Dies ist insbesondere dann möglich, wenn der Satzakzent auf die Verbpartikel fallt, die bei Extraposition als einziges Element zwischen dem Antezedens und dem Relativsatz interveniert, z.B.: (22) Die Professoren lehnten den Antrag AB, den die Studenten eingebracht hatten. (vgl. Lötscher 1972, S. 51) B. Befindet sich der Träger des Satzakzents außerhalb der um den Relativsatz erweiterten Nominalphrase, so steht der Relativsatz in der Regel adjazent zum Antezedens. Dass die Extraposition des Relativsatzes meist problematisch erscheint, wenn der Satzakzent außerhalb der komplexen Nominalphrase platziert ist, zeigten bereits die Beispiele (6) und (7) weiter oben, die aus Lötscher (1972) übernommen wurden. 3.3 Restriktive und appositive Relativsätze Die restriktiven Relativsätze werden beim Vorliegen der informationsstrukturellen und akzentuellen Voraussetzungen für ihre Extraposition in der Regel extraponiert, wenn das EIC-Prinzip dafür spricht. Dagegen scheinen die appositiven Relativsätze selbst wenn ihr Antezedens akzentuiert wird häufig dem die Extraposition anzeigenden EIC-Prinzip zu trotzen. Lötscher (1972) geht sogar so weit, die Extraposition der appositiven Relativsätze nur dann als grammatisch zuzulassen, wenn das Antezedens im Mittelfeld steht und vom Relativsatz nur durch ein Element getrennt ist. Wenn auch diese Zur Stellung der Relativsätze 157 Beschränkung zu streng zu sein scheint (vgl. Beispiel (11') auf der Vorseite), gibt Lötscher dennoch eine plausible Erklärung für die Extrapositionsfeindlichkeit der appositiven Relativsätze. Diese Erklärung soll hier verkürzt und bezogen auf das Konzept der Fokus-Hintergrund-Gliederung noch einmal wiedergegeben werden: Da appositive Relativsätze eine eigene Fokus-Hintergrund-Gliederung aufweisen, die nicht in die Fokus-Hintergrund-Gliederung des Obersatzes integriert ist, können sie (anders als restriktive Relativsätze) nicht den Satzakzent enthalten die Rechtstendenz des Satzakzents bzw. des Fokus des komplexen Satzes bleibt folglich für sie ohne Auswirkung. Bei restriktiven Relativsätzen, die den Satzakzent enthalten, fuhrt diese Tendenz, vor allem wenn sie sich im Gleichlauf mit dem EIC-Prinzip befindet, zur Extraposition. Bei appositiven Relativsätzen kann nur noch das EIC- Prinzip die Extraposition indizieren, und dieses Prinzip erscheint allein oft als zu schwach, um die Extraposition auszulösen. Gegen die Extraposition appositiver Relativsätze spricht schließlich auch die Tatsache, dass extraponierte Relativsätze in ambigen Fällen vor dem Hintergrund der Rechtstendenz des Satzakzents bzw. des Satzfokus bevorzugt als Träger des Satzfokus, also restriktiv interpretiert werden. So können Relativsätze, die appositiv interpretiert werden, wenn sie adjazent zum Antezedens erscheinen wie in (23), bei ihrer Extraposition auch restriktiv interpretiert werden wie in (24) (vgl. Zifonun 2001, S. 97 sowie Zifonun et al. 1997, S. 1652f.; die in (24) angezeigte Akzentuierung erlaubt nur die restriktive Lesart): (23) Man hieß den Ministerpräsidenten, der gerade zum Kanzlerkandidaten der Union gewählt worden war, willkommen. (24) Man hieß DEN Ministerpräsidenten willkommen, der gerade zum Kanzlerkandidaten der UNION gewählt worden war. Die Gefahr der Uminterpretation des Relativsatzes scheint bei unklaren prosodischen Verhältnissen, wie sie vor allem in geschriebenen Texten vorliegen können, besonders groß zu sein. Zur weitergehenden Erklärung der Unterschiede zwischen restriktiven und appositiven Relativsätzen im Hinblick auf ihre Stellung könnten Korpusarbeiten beitragen, in denen sowohl die geschriebene als auch die gesprochene Sprache zu untersuchen wären, letzte mit besonderer Berücksichtigung der Prosodie in komplexen Sätzen mit Relativsätzen. 158 Marek Konopka 4. Schluss Es wurden zunächst vier Forschungsansätze zur Erklärung der Mechanismen vorgestellt, die die Wahl zwischen der Adjazenz des Relativsatzes zum Antezedens und der Extraposition des Relativsatzes steuern. Die darin vorgeschlagenen Faktoren der Relativsatzstellung wurden anschließend kritisch betrachtet. Die Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Als die wichtigsten Faktoren der Wahl zwischen Adjazenz und Extraposition des Relativsatzes erscheinen: A. die Präferenz für Anordnungen, die syntaktisch gesehen möglichst effizient verarbeitet werden können (das EIC-Prinzip) B. die Fokus-Elintergrund-Gliederung mit der Akzentuierung Von Bedeutung erweist sich auch die restriktive bzw. appositive Interpretation des Relativsatzes, insbesondere in Verbindung mit Faktor B, da komplexe Sätze mit appositiv zu interpretierenden Relativsätzen eingeschränkte Möglichkeiten im Hinblick auf die Platzierung des Satzakzents aufweisen. Das Zusammenwirken der beiden Hauptfaktoren kann wie folgt modelliert werden: Faktor A, in dem Aspekte wie Relativsatzlänge und Position des Antezedens integriert sind, indiziert die verarbeitungstechnisch effizientere Relativsatzposition. Sind die Voraussetzungen für diese Position auch im Hinblick auf Faktor B gegeben, wird diese Position in der Regel gewählt. Der Faktor Fokus-Hintergrund-Gliederung mit Akzentuierung kann dabei öfter Relativsatzstellungen bedingen, die syntaktisch gesehen weniger effizient erscheinen. 5. Literatur Behaghel, Otto (1932): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. IV. Wortstellung. Periodenbau. Heidelberg: Carl Winter's Universitätsbuchhandlung. Benes, Eduard (1968): Die Ausklammerung im Deutschen als grammatische Norm und als stilistischer Effekt. In: Muttersprache 78, S. 289-298. Hawkins, John A. (1994): A Performance Theory of Order and Constituency. Cambridge: Cambridge University Press. (= Cambridge studies in Linguistics 73). Jacobs, Joachim (1988): Fokus-Hintergrund-Gliederung und Grammatik. In: Altmann, Hans (Hg.): Intonationsforschungen. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 200). S. 89-134. Zur Stellung der Relativsätze 159 Lehmann, Christian (1984): Der Relativsatz. Typologie seiner Strukturen. Theorie seiner Funktionen. Kompendium seiner Grammatik. Tübingen: Narr. (= Language Universals Series 3). Lötscher, Andreas (1972): Some Problems Concerning Standard German Relative Clauses. In: Peranteau, Paul M./ Levi, Judith N./ Phares, Glorin C. (Hg.): Papers from the Relative Clause Festival. Chicago: Chicago Linguistic Society. S. 47-58. Marillier, Jean-Franfois (1993): Integration vs. Extraposition von Relativsätzen. In: Mariliier, Jean-Fran^ois (Hg.): Satzanfang - Satzende. Syntaktische, semantische und pragmatische Untersuchungen zur Satzabgrenzung und Extraposition im Deutschen. Tübingen: Narr. (= Eurogermanistik 3). S. 219-232. Pasch, Renate/ Brauße, Ursula/ Breindl, Eva/ Waßner, Ulrich Hermann (2003): Handbuch der deutschen Konnektoren. 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Das Problem Laut Robins (1973) ist die Sprachwissenschaft seit ihren Anfängen durch den Widerstreit zwischen einer ‘externen’ und einer ‘internen’ Herangehensweise gekennzeichnet. Den Gegenstand der Untersuchung aus externer Perspektive bilden wie bei anderen empirischen Wissenschaften beobachtbare, messbare Daten (einschließlich geschriebener Texte), während die interne Herangehensweise auf dem intuitiven Wissen eines Muttersprachlers beruht. Ziel der letzteren Methode ist es, aufzudecken, was der Beherrschung einer Muttersprache zugrunde liegt, wobei Akzeptabilitätsurteile, einschließlich verschiedener Abstufungen negativer Urteile (etwa „Konstruktion A ist deutlich schlechter als Konstruktion B“), den Gegenstand der Untersuchung bilden. Der Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrages ist die Überlegung, dass die Generative Grammatik zwar eine interne Herangehensweise verspricht, dieses Versprechen aber nicht einhalten kann aufgrund einer Übernahme gewisser Annahmen der (extern ausgerichteten) strukturalistischen Methodik. Harris (1951, S. 6) definiert diese Methodik wie folgt: The whole schedule of procedures [...] is essentially a twice-made application of two major steps: the setting up of elements, and the statement of the distribution of these elements relative to each other. First, the distinct phonological elements are determined [...] and the relations among them investigated [...]. Then the distinct morphologic elements are determined [...] and the relations among them investigated. Eine wesentliche in die Generative Grammatik übernommene Annahme ist, dass die ‘distinkten morphologischen Elemente’ nicht Wörter, sondern Morpheme sind, sowie die damit zusammenhängende Annahme, dass die ‘Relationen’ zwischen den Elementen syntagmatischer Natur sind. Diese Annahmen finden sich wieder in der Methodik der Generativen Morphologie, Sprecherintuitionen hinsichtlich der Verwandtschaft von Wörtern ausschließlich so zu beschreiben, dass Regeln postuliert werden, durch deren Anwen- Ich danke Lutz Gunkel für detaillierte und sehr hilfreiche Kommentare. 164 Renate Raffelsiefen dung beide Wörter von demselben Stammmorphem ableitbar sind. 1 Bei dieser Herangehensweise wird stillschweigend vorausgesetzt, dass den folgenden drei Aspekten morphologischer Beschreibung gleichermaßen Rechnung getragen wird: (1) I. Intuitionen hinsichtlich der Segmentierbarkeit von Wörtern II. Intuitionen hinsichtlich der Beziehungen zwischen existierenden Wörtern III. Intuitionen hinsichtlich der Akzeptabilität nicht-existierender Wörter Eine undifferenzierte Behandlung dieser drei Aspekte wird jedoch durch die häufig vorkommende Korrelation der Eigenschaften in (2) in Frage gestellt: (2) a. Es gibt einen Bestand an Wörtern S A mit übereinstimmenden formalen Eigenschaften (z.B. gleiche syntaktische Kategorie, gleiche Endung), deren etymologische Basisformen S B ebenfalls fortbestehen, so dass zumindest einige Wörter in S A und die entsprechenden Wörter in S B eine starke semantische Ähnlichkeit aufweisen. b. Phonologische Altemationen zwischen Wörtern in S A und den entsprechenden Basiswörtem in S B sind regelmäßig. c. Analoge nicht-etablierte Bildungen werden als inakzeptabel bewertet. In (2c) verstehe ich unter analogen Bildungen solche, deren mangelnde Akzeptabilität im Vergleich zu etablierten Bildungen nicht durch abweichende syntaktische, semantische oder phonologische Eigenschaften begründet sein könnte. Das Problem, das sich aus der hier skizzierten Datenlage ergibt, ist, dass der Befund in (2a,b) die Annahme von Regeln motiviert, die es erlau- 1 S. z.B. die Beschreibung der ‘descriptive methodology’ in Kenstowicz (1994, S. 89): „We construct paradigms of words to look for regular alternations in the phonetic shape of the stem as different affixes are added, as well as for systematic differences in the realization of the affix as a function of the stem. [...] If the alternations are regular, we assume that the morpheme has a unique underlying representation, such that the various phonetic shapes arise from sound changes introduced by context-sensitive phonological rules.“ Vgl. auch Spencer (1991, S. 63): „Put somewhat crudely, whenever a relationship between two linguistic forms could be discerned, that relationship had to be captured by assuming a common basic form and deriving each alternation from that underlying form by means of a battery of transformational rules.“ Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 165 ben, die Wörter in S A (und die entsprechenden Basisformen in S B ) von jeweils unikalen Morphemen abzuleiten. Der Befund in (2c) aber widerspricht der Annahme der entsprechenden Regeln im mentalen Lexikon. Das Problem fehlender Produktivität wird in der Generativen Morphologie meist ignoriert oder als inhärente Eigenschaft einer bestimmten Ebene im Lexikon stipuliert. Eine wirkliche Lösung des Konflikts aus interner Sicht verlangt m.E. eine prinzipielle Trennung der in (1) genannten Aspekte der Morphologie. Intuitionen hinsichtlich der Verwandtschaft von Wörtern zeigen zunächst nur, dass die Verwandtschaft von Sprechern erkannt wird. Derartige Intuitionen motivieren somit ein analytisches Erkennungsmodell, mit dem Ziel, die Bedingungen herauszuarbeiten, unter denen Beziehungen zwischen existierenden Wörtern erkannt werden (vgl. Raffelsiefen 1998). Im Gegensatz zu den oben erwähnten aus dem Strukturalismus übernommenen Grundannahmen wären ‘distinkte morphologische Elemente’ somit nicht Morpheme, sondern Wörter und die ‘Relationen’ zwischen den Elementen wären nicht syntagmatischer, sondern paradigmatischer Natur. Das Bestreben der Generativen Morphologie, die Akzeptabilität nicht-etablierter Bildungen zu beschreiben, wäre von einer solchen hörerbasierten analytischen Morphologie zu unterscheiden. Hinsichtlich der in (2) beschriebenen Korrelation ginge es bei der Generativen Morphologie allenfalls darum, Bedingungen zu identifizieren, die die Produktivität der entsprechenden Muster hemmen. In diesem Beitrag argumentiere ich, dass auch solche Bedingungen paradigmatischer Natur sein können. Eine rein syntagmatisch orientierte Herangehensweise wäre demnach nur für die Beschreibung des ersten Aspekts in (1) angemessen. Im Folgenden soll die Notwendigkeit der Trennung der drei in (1) genannten Aspekte anhand deutscher Verbbildungen veranschaulicht werden. Die Analyse bezieht sich zum Teil auf meine Beschreibung der Daten in Raffelsiefen (1995). 2. Die Daten: Verbalisierung im Deutschen Formal entsprechen die Daten in (3) den Vorgaben in (2) dahingehend, dass die Infinitive ein einheitliches Suffix aufweisen. Es lässt sich auch in einigen Fällen eine klare semantische Ähnlichkeit zu den etymologischen Basisformen feststellen. 166 Renate Raffelsiefen (3) a. Infinitive atmen wappnen be-waffnen ordnen zeichnen regnen segnen be-gegnen eignen ebnen trocknen öffnen ver-vollkommnen be-willkommnen etymolog. Basisformen Atem Wappen Waffen Orden Zeichen Regen Segen gegen eigen eben trocken offen vollkommen willkommen b. Infinitive federn hageln ekeln zwiebeln fackeln ver-dunkeln lockern er-obern ackern an-widern zuckern trauern eifern zimmern etymolog. Basisformen Feder Hagel Ekel Zwiebel Fackel dunkel locker ober Acker wider Zucker Trauer Eifer Zimmer Die entscheidende Generalisierung hinsichtlich des hier behandelten Konflikts zwischen Ziel und Methodik der Generativen Morphologie betrifft die Regelmäßigkeit der Schwa-Altemationen. Die ausnahmslose Regel ist, dass Schwa vor wortfmalem Liquid wie in (3b) in dem abgeleiteten Verb ‘erhalten bleibt’, vor wortfmalem Nasal wie in (3a) hingegen nicht. In der Lexikalischen Phonologie motiviert diese Generalisierung geordnete Regelanwendungen bzw. geordnete Ebenen im Lexikon. So unterscheiden Wiese (1986, 1988), Giegerich (1987) und Hall (1992) die Regeln L-Schwa-Epenthese, die Schwa vor finalem Liquid einschiebt, und S-Schwa-Epenthese, die Schwa vor finalem Sonoranten einschiebt, wobei die Regel «-Suffigierung zwischen diese beiden Epenthese-Regeln geordnet wird. Wie man aber aus den Beispielen in (4) ersehen kann, würde eine solche Regelordnung nicht ausreichen, korrekte Formen zu erzeugen: (4) fedr] v fedffrf / ev/ foJrwjiNF / e4o]r[3]«] INF 'fed{S\r[z\n\ m¥ hagl]v hagYflf hag[3\ln] m ? / zflg[9]/ [o]«]iNF */ zag[>]/ [9]«]lNF ö7] v atm\\! Input ö[o]/ ]v - L-Schwa-Ep. ö[o]/ «][nf atmn\m: w-Suffigierung ö'[o]/ [o]«]inf atmfä\n\ m¥ S-Schwa-Ep. atm\F[nf m : Output Das Problem wird gelöst durch eine allerdings output-orientierte - Beschränkung, die besagt, dass Epenthese nur stattfindet, wenn die fragliche Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 167 Segmentkette sonst nicht silbifiziert werden könnte. Diese Beschränkung verhindert zwar den Schwa-Einschub vor dem finalen Sonoranten in silbifizierbaren Stämmen wie öl, federn und hageln, wirft aber die Frage auf, warum S-Schwa-Epenthese dennoch in öln appliziert (vgl. die Silbifizierung dieser Konsonantenverbindung in Köln). Wiese (1996, S. 62) legt fest, dass alle Wörter mit dem Suffix -n auf einen trochäischen Fuß enden müssen. Die korrekten Outputformen in (5) werden somit erzeugt. Während der Gebrauch von Regelordnung eine einigermaßen adäquate Beschreibung der Distribution von Schwa in den vorliegenden Fällen erlaubt, ergibt sich aus interner Sicht ein Problem. Es zeigt sich, dass ein deutlicher Unterschied hinsichtlich der Akzeptabilität von n-Suffigierung in den oben erwähnten Fällen besteht. Während die Ergebnisse der Anwendung dieser Regel auf liquid-finale Stämme meist problemlos akzeptiert werden, trifft dies nicht auf analog zu dem Fall atmen abgeleitete Verben zu. Die belegten Beispiele in (6) zeigen, dass von liquid-finalen Wörtern abgeleitete Verben sogar unabhängig von interner morphologischer Struktur akzeptiert werden, während die nasal-finalen Wörter in (7) nicht verbalisiert werden können. Selbst Konversion wie in (7b) scheint hier kaum möglich, eine Behauptung, auf die ich später zurückkommen werde: (6) Komparativ milder ^mildern (5) fedr]\] hagl\v ö'/ ] v almf fecftfrf / Mg[9]/ ] v / A/ [o]r«], NF hagifln^; ö7«] [NF atmn] [NV L-Schwa-Ep. n-Suffigierung S-Schwa-Ep. Output Input - ö7[o]n]i NF afrn[3]w]i NF ye<7[o]r«]| NF ^ hag[Q)\lri\mY n, ö7[9]«][ NF ^atm[^\n\\^ Plural Lehnwörter (selbst mit nicht-kanonischer phonologischer Struktur) Label Power Model besser näher Eier Löcher Hämmer powern '’modeln 168 Renate Raffelsiefen (7) Kuchen Weizen Daumen Besen Boden Balken Garten Hafen Magen Knochen a. kuchnen weiznen daumnen besnen bodnen balknen gartnen hafnen * magnen knochnen b. buchen weizen daumen besen boden balken garten hafen * magen knochen Die Existenz der Verben in (3a) und die Ablehnung der analog gebildeten Verben in (7a) entspricht somit dem in (2) umrissenen Konflikt. Bestätigt werden die Urteile in (7a) durch den Umstand, dass die Verben in (3a) bis auf vervollkommnen und bewillkommnen zumindest seit dem Mittelhochdeutschen belegt sind. 2 (8) AHD etymolog. Basisformen a: tum wafan ordin zeihhan regan segan gagan eigan eban truckan offan AHD Verben a: tamo: n ? ordino.n zeihhannen regano.n segano.n gaganen eigine.n ebano.n truckane.n offino: n MHD Verben regenen segenen gegenen truckenen NHD Verben atmen wappnen be-waffnen ordnen zeichnen regnen segnen be-gegnen eignen ebnen trocknen öffnen offenen ätemen wäpenen (< wäpen) wäfenen (< wäfen) ordenen (< ordert) zeichenen eigenen ebenen Angesichts der Tatsache, dass es sich bei den Verben in (3a) um eine geschlossene Klasse zu handeln scheint, könnten Verfechter einer internen Herangehensweise die Regeln wie folgt beschränken: (9) / 7-Suffigierung erfolgt nur, wenn der Verbstamm silbisch wohlgeformt ist. 2 ,AHD“ = „Althochdeutsch“, „MHD“ = „Mittelhochdeutsch“, „NHD“ = „Neuhochdeutsch“. Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 169 Diese Beschränkung würde zur Folge haben, dass ein Stamm wie atm in (5) nicht verbalisiert werden kann. Ein solcher Vorschlag ist in der Generativen Morphologie bislang nicht gemacht worden und es gibt in der Tat zwei gute Gründe, die gegen ein solches Vorgehen sprechen: 1) Regel (9) ist ad hoc. 2) Den Sprecherintuitionen hinsichtlich der Verwandtschaft der Wörter atmen - Atem, Regen regnen, trocknen trocken etc. könnte nicht mehr Rechnung getragen werden. Der zweite Grund hängt damit zusammen, dass eine solche Verwandtschaft in der Generativen Morphologie prinzipiell nur durch Ableitung von demselben Morphem beschrieben werden kann. Bezüglich der eingangs erwähnten Trennung unterschiedlicher Aspekte der Morphologie ließe sich generalisieren, dass die Substantive und Adjektive in (3a) trotz der Schwa-Altemation weiterhin als Basisformen der bereits existierenden Verben erkennbar sind, dass aber solche Altemationen in Neubildungen nicht zulässig sind. Aus der Perspektive der analytischen Morphologie (vgl. Aspekt II in (1)) ließe sich weiterhin die Frage verfolgen, wie sich das Erkennen einer Basisbeziehung auf die semantische Interpretation der Verben auswirkt. Mögliche Generalisiemngen sind in (10) skizziert: (10) a. Verben, für die ein nicht pluralisierbares Basissubstantiv erkannt wird: ‘X hervorbringen/ empfinden’ (intransitiv), ‘mit X versehen’ (transitiv) Beispiele: atmen - Atem, regnen — Regen, segnen — Segen ekeln - Ekel, trauern - Trauer, eifern - Eifer b. Verben, für die ein pluralisierbares Basissubstantiv erkannt wird: keine reguläre semantische Beziehung Beispiele: ordnen - Orden, wappnen - Wappen, zeichnen - Zeichen federn - Feder, zwiebeln - Zwiebel, ackern - Acker, fackeln - Fackel c. Verben, für die ein Basisadjektiv erkannt wird: inchoativ (intransitiv), kausativ (transitiv) Beispiele: trocknen — trocken, ebnen eben, öffnen — offen lockern locker, dunkeln dunkel 170 Renate Raffelsiefen Bezüglich des synthetischen Aspekts der Morphologie (vgl. Aspekt III in (1)) ließe sich dann feststellen, dass Neuschöpfimgen der Beschränkung in (11) genügen müssen: (11) Transparenzbedingung Die segmentale und prosodische Struktur der Basis und die der abgeleiteten Bildung (oder einer Teilfolge davon) müssen vollständig übereinstimmen. Im Gegensatz zu der syntagmatisch ausgerichteten Beschränkung in (9) ist die Bedingung in (11) nicht stipulativ, sondern universell gültig (wenn auch prinzipiell verletzbar). Allem Anschein nach ist diese Bedingung zum Zeitpunkt des Entstehens der Verben in (3a) durchweg erfüllt (vgl. die fettgedruckten Buchstabenfolgen in (8)). In der Tat gibt es keinerlei Evidenz für Einschränkungen in der Produktivität der Verbalisierung auf Nasal endender Wörter im Alt- oder Mittelhochdeutschen. Einige Beispiele für solche Bildungen aus dem Mittelhochdeutschen sind in (12) aufgeführt: (12) a. morgen ‘Morgen’ siben ‘sieben’ degen ‘Krieger’ besem ‘Besen, Zuchtmte’ keten ‘Kette’ wölken ‘Wolke’ ougen ‘Augen’ morgenen ‘auf Morgen verschieben’ sibenen ‘jemanden in der Anwesenheit von sieben Zeugen befragen’ degenen ‘jemanden zum Krieger machen’ besemen ‘mit einem Besen auskehren, mit Rutenschlägen züchtigen’ ketenen ‘in Ketten legen’ wolkenen ‘bewölkt sein’ ougenen ‘zeigen’ b. widem ‘Aussteuer’ langen ‘Verleugnung’ taugen ‘Geheimnis’ meiden ‘Hengst’ lachen ‘Heilmittel’ brädern ‘Dampf kradem ‘Krach’ krisem ‘geweihtes Salböl’ ludern ‘Lärm’ widemen ‘mit einer Aussteuer versehen’ lougenen ‘leugnen’ tougenen ‘ein Geheimnis bewahren’ meidenen ‘kastrieren’ lächenen ‘mit Heilmitteln bestreichen’ brädemen ‘dämpfen’ krademen ‘Krach machen’ krisemen ‘mit geweihtem Salböl versehen’ ludemen ‘Lärm machen’ In Hinblick auf die Bedingung in (11) lässt sich vermuten, dass der entscheidende, für die Nichtverbalisierbarkeit der Substantive in (7) verantwortliche Sprachwandel die Einführung einer prosodischen Beschränkung Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 171 für Verben war. Das Ergebnis einer Beschränkung auf maximal zweisilbige Füße war systematische Schwa-Tilgung (s. (13), Spalte A), wobei das letzte Schwa getilgt wurde, um wortinterne Konsonantenverbindungen zu vermeiden (s. (13a)), es sei denn, die Tilgung des letzten Schwas hätte in unakzeptablen Kodaverbindungen wie [mn] oder [nn] resultiert (s. (13b)). Diese Tilgungsvorgänge führten somit zu systematischen Altemationen und einer entsprechenden Verletzung der Transparenzbedingung für alle Verben, deren Basis auf Schwa und Nasal endet (s. (13b), Spalte C), während in anderen Fällen keine Altemationen entstanden (s. (13a), Spalte C): (13) A B a. hagelen > hageln haglen wunderen > wundern wundren b. atemen > atmen atemn wäpenen > wappnen wappenn C hageln - Hagel wundern wunder atmen atem wappnen - Wappen Das Fehlen der relevanten Übereinstimmung in der paradigmatischen Beziehung ist dann die Ursache für die Nichtakzeptabilität der Bildungen in (7a) (vgl. Raffelsiefen 1995). Eine Kritik dieser Analyse aus syntagmatischer Sicht findet sich in Neef (1996) und Eschenlohr (1999). Neef schlägt vor, die Nichtakzeptabilität der Bildungen als Verletzung folgender ‘Designbedingung’ für deutsche Verbstämme zu erklären: Diejenigen Segmente der Wortform vom letzten Vollvokal an, die vor dem Schwa der ersten Nebensilbe stehen, müssen einen wohlgeformten und möglichst maximalen Silbenreim ergeben. (Neef 1996, S. 269) Diese Bedingung entspricht in etwa der Regel in (9) und ist gleichermaßen ad hoc. Die Unzulänglichkeit dieser Bedingung zeigt sich zum einen darin, dass fälschlich vorausgesagt wird, dass Verben mit stammfmalen stimmhaften Obstmenten nicht Vorkommen, die jedoch zu hunderten belegt sind (z.B. hab-en, werb-en, grins-en, send-en, wieg-en). Solche Verben verletzen Neefs Designbedingung, weil im Deutschen stimmhafte Obstmenten im Silbenreim systematisch ausgeschlossen sind. 3 Weiter lässt sich beobachten, dass Neefs Analyse die mangelnde Akzeptabilität der Bildungen in (14) nicht erklärt: 3 Für Neef ließe sich dieses Problem nicht durch den Bezug auf eine abstraktere Ebene der Repräsentation lösen, da er nur phonetische Repräsentationen anerkennt. 172 Renate Raffelsiefen (14) a. Nippes b. nipsen c. vgl. Gips Tinnef Pommes *tinfen pomsen vgl. Hanf vgl. Wams vgl. Wachs vgl. strikt Schaches Ticket *schacksen tickten Aus paradigmatischer Sicht gibt es eine einheitliche Erklärung für die mangelnde Akzeptabilität der Bildungen in (14b) und in (7a): beide verletzen die Transparenzbedingung. Für Neef hingegen müssten weitere Faktoren ins Spiel gebracht werden, da die fraglichen Silbenreime in (14b) einwandfrei sind (s. (14c)). Es scheint, dass aus syntagmatischer ‘Designperspektive’ keine passende Bedingung formuliert werden könnte. In Zusammenhang mit diesem Einwand ergibt sich auch die Frage, inwieweit Neefs Erklärung für das Aussterben der Verben in (12) zutrifft. Laut Neef kommen hier nur formale Gründe in Betracht, die die phonologische Form der individuellen Verben betreffen. Es scheint aber, dass paradigmatische Bedingungen hier wiederum wichtiger sind. In (15) führe ich die ersten in Bachofer/ v. Hahn/ Möhn (1984) gelisteten mittelhochdeutschen Verben auf, die auf einem mit Liquid endenden Stamm basieren. Obwohl diese Verben sich problemlos auf einen Trochäus reduzieren lassen, zeigt sich, dass die Schwundrate hier ähnlich hoch ist wie bei den Verben, deren Stamm auf Nasal endet. Insbesondere zeigt sich, dass das Aussterben der Basisform gewöhnlich das Verschwinden der Verbform mit sich bringt (s. (12b), (15b)). Dabei scheint die Überlebensrate paradigmatisch isolierter (historisch) abgeleiteter Verben in beiden Gruppen gleichermaßen niedrig {widmen, leugnen, rechnen versus siedeln (zu fidel ‘Sitz’) und grübeln (aus AHD grubilo: n, Iterativbildung zu graben). (15) a. fabelen fabel ‘Fabel’ gabelen gabel ‘Gabel’ nebelen nebel ‘Nebel’ snebelen snebel ‘Schnabel’ stehelen stahel ‘Stahl’ trumbelen trumbel ‘Trommel’ hobelen hobel ‘Hobel’ adelen adel ‘Adel’ nädelen nädel ‘Nadel’ tadelen tadel ‘Tadel’ edelen edel ‘edel’ Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 173 zedelen videlen wandelen windelen b. f zabelen f wibelen ^stadelen ''wadelen ^zadelen 'ntdelen i bridelen 'trendelen [strobelen 'tschübelen ] sedelen zedel ‘Zettel’ videl ‘Fiedel’ wandel ‘Wandel’ windel ‘Windel’ ] zabel ‘Spielbrett’ 'wibel ‘Kornkäfer ^stadel ‘Scheune’ ^wadel ‘Pinsel’ ^zadel ‘Mangel an Lebensmitteln’ nidel ‘Milchrahm’ bridel ‘Zügel’ Grendel ‘Kugel’ ^strobel ‘struppig’ hschübel ‘Büschel’ "sedel ‘Sessel’ Die Tatsache, dass Verben wie morgenen in (12a) auch trotz des Fortbestandes der Basis Morgen verschwunden sind, lässt sich auf die mangelnde Erneuerbarkeit der Bildungen aufgrund der Verletzung der Transparenzbedingung zurückführen. Obwohl die Annahme, dass phonologische Faktoren bei der ‘Lebensfähigkeit’ von Wörtern eine Rolle spielen könnten, nicht prinzipiell unplausibel ist (vgl. Lutz 1997), gibt es somit keine Evidenz, dass die phonologische Form der Verben in (12) als Ursache für deren Verschwinden festzumachen ist. Eschenlohr (1999, S. 187f.) argumentiert wie folgt gegen die Transparenzbedingung: [...] Basisverstümmelungen kommen in der Wortbildung nicht so selten vor. Um nur einige Beispiele zu nennen: en-Tilgung vor den Suffixen -eben, -ig, -lein (Gärtenchen, Knöchenlein, vollbusenig); Suffixtilgung vor -ling (ZimperUehling, Widertiehling, JämmerUeblmg)\ Tilgung von auslautendem Vokal vor -ier (gummiieren, propagandmeren)\ Haplologien {Herausfordererin, Fördererin). Es lässt sich aber zeigen, dass Eschenlohrs Beobachtungen mit der Transparenzbedingung kompatibel sind. Zunächst gibt es gute Gründe, ‘Basisverstümmelungen’ als Selektion wortinterner morphologischer Konstituenten zu analysieren. Die Analyse solcher Strukturen betrifft Aspekt I in (1), und ist, im Gegensatz zu den anderen beiden Aspekten, ausschließlich affixgesteuert. 174 Renate Raffelsiefen Das heißt, wenn ein Hörer in einem Wort wie in (16a) ein nicht-flexivisches Affix erkennt wie in (16b), dann wird der Rest des Wortes als (möglichst konsonant-finale) Wurzel kategorisiert wie in (16c): 4 (16) a. [Garten]^ [zimperlich]^ [Gummi]^ [Förderer^ b. [Gart[en\^\i [zimper[lich\ k¥T \ KDi \Gumm[ü\ AF¥ \f’ [Förder[er]aff]n c. [[Gart] W u R [e«] A FF]N [[z/ m/ ; er] wur[/ ,c / i)aff]a»j [[Gww2w]wur[/ ]aff]n [[Förder] mm [er] kri \,i Bestimmte Affixe erlauben nun den Zugriff auf Wurzeln, wenn die Kombination mit dem vollständigen Wort affixspezifische phonologische Beschränkungen verletzen würde. So selegieren -chen und -lein substantivinteme Wurzeln, um die markierte Abfolge von Silben mit gleicher Koda zu vermeiden, -ling selegiert adjektivinteme Wurzeln, um die Abfolge von Silben mit gleichem Ansatz und Nukleus zu vermeiden, -ig selegiert solche Wurzeln, um trochäische Outputstrukturen zu wahren, und auch -in selegiert Wurzeln zur Vermeidung von Haplologie. 6 Unter der Annahme, dass die Basis in den von Eschenlohr genannten Bildungen nicht die vollständigen Wörter, sondern nur die jeweils selegierten Wurzeln sind, ließe sich argumentieren, dass die Transparenzbedingung in den entsprechenden Ableitungen erfüllt ist. 7 4 Wenn ein flexivisches Affix erkannt wird, wird der Rest des Wortes als Stamm kategorisiert. Nicht-flexivische Affixe umfassen sowohl produktive Derivationsaffixe wie -lieh und (agentives) -er als auch andere wiederkehrende Endungen, die grammatisch relevant sind (z.B. finales -en als nicht-feminine Genusmarkierung in Substantiven). - Die Annahme, dass die Analyse wortinterner Struktur immer von vollständigen, prosodisch voll spezifizierten Wörtern ausgeht und ausschließlich affixgesteuert ist, hat zur Folge, dass gleich lautende Formen sowohl als Stamm (in flektiertem [[/ o><fer] STAMM [/ ] AFF ]), als Wurzel (in nicht-flektiertem [[Eö><fer] WUR [er] AFF ]) als auch als Wort (der Imperativförder) erscheinen können. Zur Motivation einer ausschließlich affix-basierten Analyse wortinterner Struktur aufgrund prosodischer Generalisierungen, vgl. Raffelsiefen (2004). 5 Möglicherweise erkennen manche Hörer ein Affix in diesem Wort, andere hingegen nicht. Die Bildung gummieren könnte dann nur von einem Mitglied der ersten Gruppe stammen. 6 Eine detaillierte Beschreibung entsprechender Bedingungen für das Englische findet sich in Raffelsiefen (2004). 7 Abgesehen von dem Umlaut in Gärtchen. Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 175 (17) 11 wl ; R[ertJ A FFjN + chen =o Gärt-chen [[zimper] m , R [lieh] A ff]adj + Hng => Zimper-ling ■ [[G«»i/ m]wur[/ ]aff]n+ / ere« => gumm-ieren [[Fördert W i; [<[er] A n ]n + z« => Förder-in Es lässt sich nun feststellen, dass das Suffix -n zur Ableitung denominaler und deadjektivischer Infinitive nicht zu den Affixen gehört, die Wurzeln selegieren können. Das heißt, wie auch immer die von Eschenlohr erwähnten Fälle am adäquatesten beschrieben werden können, sind analoge Möglichkeiten für n-Suffigierung ausgeschlossen. Für diese Bildungen behaupte ich dann, dass sowohl die Transparenzbedingung als auch die Beschränkung gegen Wurzelselektion unverletzbar sind. In (7) unterscheide ich die Bildungen in (7a) und (7b) hinsichtlich ihrer Akzeptabilität. Die Behauptung ist, dass die Bildungen in (7b) aufgrund ihrer Erfüllung der Transparenzbedingung zwar deutlich besser sind als die mit zwei Sternchen markierten in (7a), aber dennoch inakzeptabel sind. Der einzig feststellbare Mangel dieser Bildungen ist, dass sie mit den jeweiligen Basisformen identisch sind. Neben der Transparenzbedingung lässt sich also die Bedingung in (18) festlegen, die ebenfalls die paradigmatische Ebene betrifft: (18) Homonymieblockierung Abgeleitete Formen müssen relativ zu der jeweiligen Basisform markiert sein. Den möglichen Einwand, dass die Bedingung in (18) in zahlreichen Paaren verletzt wird, habe ich in Raffelsiefen (1995) mit dem Hinweis darauf zurückgewiesen, dass sich die Bedingung ebenfalls auf die Entstehungsbedingungen von Verben bezieht. Das heißt, synchron feststellbare Homonymie wie in (19a) ist unproblematisch, solange nachgewiesen werden kann, dass die Verben sich zu dem Zeitpunkt ihrer Entstehung von den Basisformen unterschieden wie in den entsprechenden früher belegten Formen in (19b). (19) a. NHD Husten husten Tropfen tropfen Schaden schaden Brocken brocken Nutzen nutzen b. AHD huosto/ huoston huosto.n tropfo.n scado: n tropfo scado broccho nuzza brocchom nuzzoin 176 Renate Raffelsiefen Eine Homonymieerklärung für die Urteile in (7b) ist vielfach kritisiert worden und es gibt eine Reihe alternativer Erklärungsversuche. Von vomeherein als unplausibel ausgeschlossen werden kann Neefs Behauptung, die fraglichen Bildungen seien semantisch oder pragmatisch nicht wohlgeformt: "[z]u Kuchen kann genausowenig ein Verb gebildet werden wie zu Torte oder Brezel [...]“ (1996, S. 265). Eine solche Erklärung könnte nur dann Gewicht haben, wenn die mögliche Bedeutung der Verben prinzipiell begrenzt wäre. Die Beispiele in (20) zeigen aber, dass dies zumindest für auf Konkreta basierende Verben nicht zutrifft: (20) zwiebeln ‘jmdm. hartnäckig [mit etwas] zusetzen’ ackern ‘viel und mühselig arbeiten’ tigern ‘irgendwohin, zu einem oft weiter entfernten Ziel gehen’ Das laut Neef ungrammatische Verb brezein ist denn auch in den Google- Daten vielfach belegt und scheint, neben einer Reihe anderer Verwendungen, oft so etwas wie schlagen zu bedeuten (ygX.jmdm. eine brezein, eine gebrezelt bekommen). Wichtig in diesem Zusammenhang ist nur, dass das Verb von Brezel abgeleitet ist und kein Verb von Kuchen abgeleitet wurde. Die schier unbegrenzten Interpretationsmöglichkeiten denominaler Verben zeigen, dass Planks Erklärung der Daten aufgrund von Synonymieblockierung ähnlich abwegig ist (s. Plank 1981, S. 170, vgl. auch die Kritik von Eschenlohr 1999, S. 188). Planks Behauptung, dass die Verbalisierung der Substantive in (21a) durch die Existenz der Verben in (21b) blockiert sei, wirft denn auch die Frage auf, warum entsprechende Blockierungen im Englischen nicht festzustellen sind: (21) Deutsch a. Besen, Lappen, Degen b. kehren, wischen,fechten c. besen, lappen, degen Englisch broom, cloth, rapier to sweep, to wipe, to fence ''to broom, to cloth, '‘to rapier Gegen die m.E. richtige Erklärung der Urteile in (7b) als Homonymieblockierung sind mehrere Argumente ins Feld geführt worden. Plank (1981, S. 171), zitiert in Eschenlohr (1999, S. 188), schreibt: [d]as Risiko textueller Ambiguität ist nur dann relativ hoch, wenn die Homonyme kategoriell nicht so verschieden sind, daß schon aus dem syntaktischen Kontext [...] eindeutig hervorgeht, welche der alternativen Bedeutungen einer Form intendiert sind. Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 177 Planks Argument setzt voraus, dass funktionale, auf Sprecher-Intentionen beruhende und den gesamten syntaktischen Kontext einbeziehende Kriterien hier maßgeblich sind. Meine Behauptung ist aber, dass es sowohl bei der Homonymieblockierung als auch bei der Transparenzbedingung um formale, das (mentale) Lexikon betreffende Bedingungen geht. Als zweites Argument gegen die Homonymie-Erklärung führt Eschenlohr an, dass Homonymie ja nur bestimmte Formen des Paradigmas betreffe. Es scheint aber, dass selbst nur einzelne Zellen des Paradigmas betreffende Probleme durchaus die Nichtakzeptabilität des Gesamtparadigmas verursachen könnten. Ein Beispiel hierzu wäre das Los der Kausativbildungen im Deutschen. Die althochdeutschen Kausativa in (22), die allesamt schwach flektierten, wurden aufgrund phonologischer Neutralisierungsregeln (Zusammenfall von kurzem geschlossenem e und offenem e, Vokalreduzierung in unbetonten Silben) homonym mit den jeweiligen starken Basisverben. Das Symbol „f“ in (22b) zeigt den Verlust der Verben im Neuhochdeutschen an. Es lässt sich generalisieren, dass vielleicht sogar alle historisch abgeleiteten Kausativverben in (22a) ausstarben, da die mit Sternchen markierten schwachen Verben vermutlich anderen Ursprungs sind. 8 (22) a. AHD b. NHD Kausativ: schwach Basis: stark schwach stark sterben quellen swellen smelzen hwerben (far)hellen scellen MHD. verderben sterban quelan swellan smelzan hwerban (far)helan scellan verderben t t/ *quälen t t t f/ *verhehlen ? f/ * schellen t sterben t schwellen schmelzen werben <— verhehlen schellen verderben Die Mutmaßung, dass das Aussterben der Verben in (22) eine Folge der Homonymie ist, basiert auf der Beobachtung, dass die Verlustrate wesentlich Phonologische und orthographische Evidenz lässt darauf schließen, dass das Verb quälen eine an das Substantiv Qual angelehnte Umbildung (oder eine völlige Neubildung) ist. Für die Verben verhehlen und schellen deutet semantische Evidenz auf einen Übertritt der ehemals starken Verben in die schwache Klasse hin. 178 Renate Raffelsiefen niedriger ist, wenn diese Eigenschaft nicht zutrifft. In Formen mit postvokalem Nasal wie in (23) kommt es nicht zu Homonymie, weil mittlere Vokale vor Nasal historisch angehoben wurden, und sich folglich von den neuentstandenen Umlautvokalen in den Kausativa unterschieden: 9 (23) hist, abgeleitetes Basisverb Kausativverb drängen zwängen tränken wenden sprengen verschwenden schwemmen senken rennen sengen senden brennen trennen dringen zwingen trinken winden springen verschwinden schwimmen sinken rinnen singen sinnen tbrinnen ttrinnen Die wesentliche Beobachtung in diesem Zusammenhang ist, dass die durch die phonologischen Prozesse entstandene Homonymie unter den schwachen Kausativa und starken Basisverben in (22) nur wenige Zellen des Paradigmas betraf. Dies deutet darauf hin, dass ein ‘lokales’ Homonymieproblem sich durchaus global auf das Gesamtparadigma auswirken könnte. Darüber hinaus ist es denkbar, dass der Infinitiv eine besondere Rolle spielt, dahingehend, dass die Erfüllung gewisser Bedingungen seitens des Infinitivs das Gesamtparadigma ‘absegnet’. So ist etwa denkbar, dass der Infinitivmarker to im Englischen ausreicht, die Homonymieblockierung aufzuheben, obwohl die meisten Formen des (Präsens-)Paradigmas von diesem Problem 9 Hier deutet sich ein weiteres, Aspekt II in (1) betreffendes Phänomen an, das die semantische Zusammengehörigkeit der Verben angeht. Das heißt, der enge semantische Zusammenhalt des transitiven Verbs schmelzen und des homonymen inchoativen Verbs schmelzen ist womöglich auf die phonologisch transparente Basisbeziehung zurückzuführen, während die Alternation im Stammvokal in (23) die Basiserkennung im Spracherwerb verhindert und somit in historischer Perspektive die Entwicklung semantischer Idiosynkrasien ermöglichte. Für eine genauere Erklärung solcher Zusammenhänge und Illustration aus dem Deutschen vgl. Raffelsiefen (1998). Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 179 betroffen sind. 10 Möglich ist auch, dass die Homonymieblockierung im Englischen verletzbar ist, im Deutschen nicht. 11 Eschenlohr wendet weiter ein, dass Homonymie nicht ausreicht, die unterschiedliche Beurteilung der Verbbildungen in (24a) und (24b) zu erklären: (24) Katze a. ’kalzen Pute puten Bote 11 boten Pistole pistolen Kater b. hatern Puter putern Ketzer ketzern Revolver revolvern Eschenlohr folgt hier Eisenbergs (1992[93], S. 98) rein syntagmatisch orientierter Erklärung, dass die Verben in (24b) aufgrund des stammfinalen Liquids eine Disposition zur morphologischen Segmentierung haben, was mit den verbalen Suffixen -er und -el in Zusammenhang gebracht wird. Diese Erklärung impliziert, dass Verben mit stammfmalem -el noch akzeptabler sein sollten als diejenigen mit -er, da -el wesentlich produktiver ist. Eine solche Präferenz lässt sich aber nicht feststellen. Es bietet sich jedoch an, auch die Daten in (24) mit einer (paradigmatisch orientierten) Homonymieblockierung zu erklären, da die Verben in (24a) homonym zu den Pluralformen der entsprechenden Substantive sind, was in (24b) nicht zutrifft. 12 Die Erklärung der Daten mit Bezug auf Homonymie trägt weiterhin der Beobachtung Rechnung, dass Verbalisierungen im Allgemeinen weitaus akzeptabler sind, wenn ein Präfix das Verb von der nominalen Basis formal unterscheidet (vgl. Neefs 1996, S. 264, Beispiele entknochen, durchbesen, entdaunen). 10 Wenn man englischen Muttersprachlern isolierte Verben entlockt (etwa „Nennen Sie Ausdrücke für ‘schlagen’ im Englischen.“), so kann man feststellen, dass eine starke Tendenz zur Markierung mit to besteht (also to strike, to hit, to beat statt strike, hit, beat). Das ist Evidenz fur die Behauptung, dass to im mentalen Lexikon den Infinitiv markiert. 11 Für die letztere Erklärung spricht, dass es im Englischen viele homonyme Kausativ- Inchoativ-Paare gibt. (Für diesen Hinweis danke ich Lutz Gunkel.) Während die Homonymiebedingung hier also möglicherweise wenig Gewicht hat, zeigt sich, dass die Transparenzbedingung in der englischen Verbbildung unverletzbar ist. Scheinbare Ausnahmen wie die ‘Akzentverschiebung’ in Jäpanize - Japan sind eher als Fälle von phonologisch bedingter Wurzelselektion zu analysieren (die relevante trochäische Wurzel wäre hier [[Jäpa«] WUR eie] AD j). Dies zeigt sich daran, dass analoge ‘Akzentverschiebungen’ ausgeschlossen sind, wenn keine relevante Wurzel existiert ( Tibetize zu Tibet, vgl. Raffelsiefen 2004). 12 Homonymie mit dem Dativ Plural ist vielleicht unproblematisch. Im Gegensatz zu anderen Pluralformen, die auch in der Wortbildung eine Rolle spielen (z.B. Zähneklappern, Kinderbuch) handelt es sich bei dem Dativ Plural um eine satzsyntaktisch regierte Flexionsform. 180 Renate Raffelsiefen 3. Schluss Aus interner Sicht muss die Morphologie den drei in (1) genannten Aspekten Rechnung tragen. Gegenwärtig kann sie diesem Ziel nicht gerecht werden, weil sie (aus wissenschaftshistorischen Gründen) einer extern orientierten und rein syntagmatischen Sichtweise verpflichtet ist. In der Tat lässt sich eine Vernachlässigung des zweiten und dritten Aspekts feststellen. Die Folge ist, dass weder die Bedingungen für das Erkennen paradigmatischer Beziehungen im Lexikon noch die Bedingungen für die Akzeptabilität von Neubildungen systematisch herausgearbeitet werden. Selbst die Unterscheidung dieser Bedingungen wird nicht thematisiert. Die Frage der Bedingungen für die Akzeptabilität von Neubildungen rührt an ein weiteres Erbe aus dem Strukturalismus, nämlich die Sicht auf die Relevanz diachroner Daten. Bezüglich der in den folgenden beiden Zitaten zum Ausdruck kommenden Positionen, die gegensätzlicher kaum sein könnten, wird in der Generativen Grammatik die letzte übernommen: Wenn wir nicht wissen, wie etwas geworden ist, so kennen wir es nicht. (Schleicher 1863, S. 10) The first thing which strikes one on studying linguistic facts is that the language user is unaware of their succession in time: he is dealing with a state. Hence the linguist who wishes to understand this state must rule out of consideration everything which brought that state about, and pay no attention to diachrony. Only by suppressing the past can he enter into the state of mind of the language user. The intervention of history can only distort his judgment. (Saussure 1916, hier zitiert nach der englischen Übersetzung von 1983, S. 81) Im Gegensatz zu der rein syntagmatisch orientierten strukturalistischen Methodik, die einfach unbesehen übernommen zu worden sein scheint und in keinerlei sachlichem Zusammenhang mit dem Bekenntnis zu einer internen Herangehensweise steht, erscheint die Ablehnung der Berücksichtigung diachroner Daten aus mentalistischer Perspektive zunächst plausibel. Wie sich aber zeigt, kann ein Wissen um die historischen Entstehungsbedingungen der Derivate durchaus ein Licht auf die Bedingungen für Neubildungen werfen (z.B. die Transparenzbedingung und die Homonymieblockierung), die bei einer bloßen Inspektion des externen synchronen Befundes obskur bleiben. Hier bleibt noch anzumerken, dass diese Probleme allen extern ausgerichteten Beschreibungsmodellen anhaften, einschließlich der Analogiemo- Ziel versus Methodik der Generativen Morphologie 181 delle (vgl. Becker 1990, 1993). So bleibt die mangelnde Akzeptabilität der fraglichen Bildungen in solchen Modellen ebenfalls ein Rätsel: 13 (25) Regeri\^ : regnen]^ = Hafen]g. X X = hafnen\\j Husten}^ : husten]v ~ Hafen]^ : X X = *hafen]v Hinsichtlich der Auswahl von Daten ist somit die Priorität der internen Herangehensweise gefordert, unter Zunahme historischer Daten zur Untersuchung von Entstehungsbedingungen von Neubildungen. Hinsichtlich der Methodik ist gefordert, paradigmatische Bezüge nicht a priori auszuschließen. 4. Literatur Bachofer, Wolfgang/ Hahn, Walter v./ Möhn, Dieter (1984): Rückläufiges Wörterbuch der Mittelhochdeutschen Sprache. Stuttgart: S. Hirzel. Becker, Thomas (1990): Analogie und morphologische Theorie. München: Fink. Becker, Thomas (1993): Morphologische Ersetzungsbildungen im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 12, S. 185-218. Eisenberg, Peter (1992[93]): Suffixreanalyse und Syllabierung. Zum Verhältnis von phonologischer und morphologischer Segmentierung. In: Folia Linguistica XIII/ 1-2,8.93-113. Eschenlohr, Stefanie (1999): Vom Nomen zum Verb: Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms. Giegerich, Heinz (1987): Zur Schwa-Epenthese im Standarddeutschen. In: Linguistische Berichte 112, S. 449-469. Hall, Tracy Alan (1992): Syllable Structure and Syllable Related Processes in German. Tübingen: Niemeyer. Harris, Zellig S. 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Einleitung Ich möchte in diesem Papier eine morphologische Analyse zweier Systeme der Verbflexion aus typologisch sehr unterschiedlichen Sprachen entwickeln: Das Deutsche ist eine primär Dependens-markierende Sprache, die ein akkusativisches Argumentkodierungsmuster benutzt und Kopf-Markierung nur reduziert, in der Form von Subjekt-Verb-Kongruenz, kennt; das Sierra Popoluca ist demgegenüber eine rein Kopf-markierende Sprache mit einem ergativischen Argumentkodierungsmuster. Nichtsdestoweniger zeigt sich, dass bei einer unabhängig durch die Ableitung systematischer Synkretismen motivierten abstrakten Analyse die Morphologie der Verbflexion in den beiden Sprachen denselben Prinzipien unterliegt. Konkret möchte ich für zwei Dinge argumentieren: zum einen dafür, dass im Deutschen wie im Sierra Popoluca die üblicherweise als irreduzibel eingeschätzten verbalen Flexionsmarker (wie st für die 2.Pers.Sg. im Deutschen oder an für die 1 .Pers.Ergabv im Sierra Popoluca) tatsächlich nicht primitiv sind, sondern sich aus der Kombination einfacherer, unterspezifizierter Flexionsmarker mit Segmentgröße ergeben, dass also die zunächst einmal sichtbaren Flexionsmarker weiter subanalysiert werden sollten; und zum anderen dafür, dass es neben den auf Unterspezifikation von Flexionsmarkern zurückgehenden Synkretismen noch systemdefinierende Synkretismusmuster gibt, die durch Flexionsmarker-unabhängige, allgemeine Regeln zu erfassen sind. Die Analyse wird im Rahmen der Distribuierten Morphologie (Flalle/ Marantz 1993, 1994) durchgeführt. Der Grund hierfür ist, dass diese Theorie anders als konkurrierende Modelle mit den Konzepten der Spaltung (‘fission’) und der Verarmung (‘impoverishment’) genau die Werkzeuge bereithält, die (respektive) Subanalysen von Flexionsmarkem erlauben und systemdefinierende Synkretismusmuster auf einfache Weise abzuleiten gestatten. Gemäß dieser Vorgabe beginne ich mit einer Skizze der Distribuierten Morphologie. 1 1 Dieser Aufsatz ist Gisela Zifonun gewidmet. Für hilfreiche Hinweise im Kontext der Studie danke ich Gisbert Fanselow, Jochen Geilfuß-Wolfgang, Lutz Gunkel, Jochen Trommer und Bernd Wiese. Den Anstoß für die vorliegende Untersuchung gab meine Arbeit über Varianzparameter der funktionalen Domäne Kodierung grammatischer Funktionen (Zifonun 2001, 2003) im IDS-Projekt GDE. 184 Gereon Müller 2. Distribuierte Morphologie Ein wesentliches Merkmal der Distribuierten Morphologie (vgl. Halle/ Marantz 1993, 1994, sowie zu einem Überblick Harley/ Noyer 2003) ist, dass es sich (in der Terminologie von Stump 2001) um eine lexikalische (nicht inferenzielle), aber dennoch realisationale (nicht inkrementelle) Theorie handelt. Für die Flexionsmorphologie heißt dies: Ein Flexionsmarker ist zwar ein lexikalisches Element; dieses trägt bei der Verbindung mit dem Stamm aber keine neuen morpho-syntaktischen Merkmale bei (wie etwa im Ansatz von Wunderlich 1996), sondern realisiert lediglich vorhandene Merkmale. Konkret wird Flexion aufgefasst als Instanz post-syntaktischer, also ‘später’ Einsetzung von Vokabularelementen (late insertion): Die Syntax arbeitet mit abstrakten Morphemen wie z.B. den funktionalen Kategorien v (einer abstrakten Agensbzw. Transitivitätskategorie) und T (d.h., Tempus, als Variante zur Kategorie Infi aus Chomsky 1981) im minimalistischen System von Chomsky (2001). Syntaktische Kopf-Bewegung des Verbstamms V über v nach T wie in (1) führt zu komplexen abstrakten Wörtern V-v-T, die das Ziel für post-syntaktische morphologische Einsetzung bilden. (1) [iP ... [l [v V V ] T ] [vP ... t„ [vp ... ty ... ]]] Funktionale Morpheme wie v und T besitzen in der Syntax vollständig spezifizierte Bündel morpho-syntaktischer Merkmale (wie sie z.B. von Kongruenzregeln vorausgesetzt werden), sind aber noch nicht phonologisch realisiert. Flexionsmarker sind demgegenüber Vokabularelemente, die phonologische und (oft unterspezifizierte) morpho-syntaktische Merkmale paaren; sie werden post-syntaktisch in die funktionalen Morpheme eingesetzt. Dies erfolgt gemäß dem Teilmengenprinzip (Lumsden 1992, Noyer 1992, Halle 1997, Wiese 1999, Zifonun 2003), das für einen voll spezifizierten syntaktischen Kontext jeweils den spezifischsten kompatiblen Flexionsmarker aus dem Lexikon wählt und in das abstrakte Morphem einsetzt: (2) Teilmengenprinzip: Ein Marker M wird an einem Kopf F eingesetzt gdw. (i) und (ii) gelten: (i) Die Merkmalsspezifikation von M ist eine Teilmenge der Merkmalsspezifikation von F. (ii) Mist der spezifischste Marker, der (i) erfüllt. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 185 Ein Flexionsmarker ist also kompatibel mit einem abstrakten Morphem, wenn die morpho-syntaktischen Merkmale des Markers entweder identisch sind mit den morpho-syntaktischen Merkmalen des Morphems oder aber eine echte Teilmenge davon bilden; letzterer Fall setzt voraus, dass Marker unterspezifiziert sein können, und dies ist im Folgenden gerade der interessante Fall. Unterspezifikation von Markern führt fast unweigerlich zu Situationen, in denen im Prinzip mehr als ein Marker mit einem gegebenen Kontext kompatibel ist; d.h., es entsteht ein Wettbewerb von Markern. Dieser Wettbewerb wird durch die Spezifizitätsbedingung in (2ii) aufgelöst, wobei die Spezifizität von Markern wie folgt bestimmt werden kann. (3) Spezifizität von Markern: Ein Marker Mi ist spezifischer als ein Marker Mj gdw. es eine Merkmalsmenge S gibt, so dass (i) und (ii) gelten: (i) Die Merkmaisspezifikation von M/ hat mehr Merkmale in S als die Merkmalsspezifikation von Mj. (ii) Es gibt keine höher-geordnete Merkmalsmenge S', so dass die Merkmalsspezifikationen von Mj und Mj unterschiedlich viele Merkmale in S' haben. Etwas vereinfacht folgt aus (3), dass ein Marker spezifischer ist als ein anderer, wenn er höher-rangige Merkmale hat; erst bei gleichem Rang der Merkmale entscheidet die Zahl von Merkmalen (m.a.W., Qualität geht vor Quantität). Für die gegenwärtigen Zwecke können wir eine Hierarchie von Merkmalsmengen der Art Kasus, Tempus > Numerus > Person voraussetzen; dies wird später noch etwas verfeinert werden. Zentral für die folgenden Analysen des Deutschen und des Sierra Popoluca sind nun die Operationen der Verarmung (impoverishment) und der Spaltung (fission) von abstrakten Morphemen (wie v, T), die nach der Syntax, aber vor der morphologischen Einsetzung applizieren. Verarmung (vgl. Bonet 1991, Halle/ Marantz 1993, 1994, Bobaljik 2002, Frampton 2002) tilgt dabei morpho-syntaktische Merkmale, deren Präsenz in der Syntax unerlässlich ist (weil die Syntax mit vollständig spezifizierten Merkmalsbündeln arbeitet und Unterspezifikation hier normalerweise keine Rolle zu spielen scheint). 2 Nachfolgende morphologische Einsetzung findet dann systematisch nur noch 2 So können Verben nicht unterspezifizierte Kasus regieren (z.B. einen abstrakten Objektivus (= Akkusativ oder Dativ) oder einen abstraken Obliquus (= Dativ oder Genitiv), wie sie für die Morphologie gut motiviert sind; vgl. Bierwisch 1967), nur vollständige spezifizierte Kasus wie Dativ oder Akkusativ. 186 Gereon Müller einen verarmten morpho-syntaktischen Kontext vor. Auf diese Weise kommen bei der Einsetzung spezifische Flexionsmarker, die normalerweise gemäß Teilmengenprinzip zu wählen wären, wegen Inkompatibilität mit dem nunmehr verarmten syntaktischen Kontext nicht mehr zum Zuge, und es muss ein weniger spezifischer (aber passender) Marker gewählt werden; dies instantiiert einen ‘retreat to the general case’ (Halle/ Marantz 1993, 1994). Verarmung ist somit das syntaktische Pendant zur Unterspezifikation von Flexionsmarkem; es handelt sich hierbei eben nur um eine Unterspezifikation von syntaktischen Kontexten. Verarmung hat aber noch eine andere, weitergehende Konsequenz, auf die Bobaljik (2002) und Frampton (2002) hinweisen: Auf diese Weise können systemweite, flexionsklassenübergreifende Synkretismusmuster erfasst werden, also z.B. Fälle, wo in mehreren Konjugationsklassen einer Sprache wiederkehrende Synkretismen auftreten, ohne dass dabei die am Synkretismus beteiligten Flexionsmarker immer dieselben sein müssen. Spaltung (vgl. Noyer 1992, Frampton 2002) hat einen ganz anderen Effekt: Ein von Spaltung betroffenes funktionales Morphem hat die Eigenschaft, dass nach Einsetzung eines (unterspezifizierten) Markers gemäß (2) noch nicht realisierte (also vom Marker selbst abgedeckte) Merkmale des Morphems für weitere Einsetzung gemäß (2) zur Verfügung stehen; vgl. (4). So können quasi-agglutinative Strukturen in eigentlich fusionierenden Systemen entstehen; d.h., es erfolgt eine Subanalyse von auf den ersten Blick nicht aufgliederbar erscheinenden Flexionsmarkem. 3 (4) Spaltung'. Ein gespaltenes Morphem M mit den Merkmalen a wird bei Einsetzung eines Vokabularelements V mit den Merkmalen ß in zwei Merkmalsbündel ß und a ß zerlegt, so dass (i) und (ii) gelten: (i) a-ß ist für weitere Einsetzung gemäß Teilmengenprinzip zugänglich. (ii) ß ist für weitere Einsetzung nicht zugänglich. Auf dieser Basis möchte ich mich nun der Reihe nach den Systemen der Verbflexion im Deutschen (3.) und im Sierra Popoluca (4.) zuwenden. 3 Dieses Konzept der Spaltung geht auf Noyer (1992) zurück. Es ist unterschieden von dem Konzept der Spaltung, wie es in Halle/ Marantz (1993) angenommen wird; in letzterem Fall ist Spaltung eine genuin Morphem-aufspaltende Operation, die zwei neue Morpheme generiert. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 187 3. Verbflexion im Deutschen Die hauptsächlichen Paradigmen für indikativische Präsens- und Präteritumformen von Verben im Deutschen sind in (5) dargestellt. 4 (5) a. Schwache Verbflexion: glauben [l,sg] [2,sg] [3,sg] [l,pl] [2,pl] [3,pl] Präsens glaub-e glaubst glaub-t glaub-en glaub-t glaub-en Präteritum glaub-te glaub-te-st glaub-te glaub-te-n glaub-te-t glaub-te-n b. Starke Verbflexion', rufen Präsens Präteritum ruf-e [l,sg] [2,sg] [3,sg] [l,pl] [2,pl] [3,pl] rufst ruf-t ruf-en ruf-t ruf-en rief riefst rief rief-en rief-t rief-en c. Suppletive Verbflexion: sein Präsens 1 Präteritum bin [Mg] [2,sg] [3,sg] [l,pl] [2,pl] [3,pl] bist is-t sind seid sind war warst war war-en war-t war-en 4 Zwei Bemerkungen. Zum einen nehme ich hier und im Folgenden an, dass Paradigmen keinen Status als genuine grammatische Objekte besitzen, sondern bloße Epiphänomene sind, also Generalisierungen, die abzuleiten sind. Zum anderen beschränke ich mich hier auf die Paradigmen in (5); analytische Verbformen, Konjunktiv sowie Spezialfälle wie die Präteritopräsentia {wollen etc.) bleiben außerhalb der Betrachtung (eine Integration auch dieser Daten würde die hier vorgestellte Analyse erweitern, aber nicht substanziell ändern). 188 Gereon Müller Ich setzte als analyseleitende Grundannahme voraus, dass Synkretismen (verstanden in einem allgemeinen Sinne, als Homonymie von Flexionsmarkem) soweit wie nur irgend möglich von der morphologischen Analyse als systematisch abgeleitet und auf eine einheitliche Ursache zurückgefiihrt werden sollen; jede Einstufung eines Synkretismus als zufällig bedarf somit besonderer Rechtfertigung (vgl. z.B. Wunderlich 2004 gegenüber Stump 2001). In (5) gibt es nun einige Synkretismen: Erstens sind die Flexionsmarker der l./ 3.Pers.Sg.Prät. in allen Paradigmen identisch. Zweitens sind die Flexionsmarker der l./ 3.Pers.Pl. in beiden Tempora identisch. Und drittens sind die Flexionsmarker der 3.Pers.Sg.Präs. und der 2.Pers.Pl.Präs. in (5ab) identisch (der Stamm mag dabei unterschiedlich sein; vgl. Er läuf-t vs. Ihr lauf-i). 5 Viertens schließlich zeigt ein genauerer Blick auf die Paradigmen in (5), dass es noch einen weiteren Synkretismus gibt: Der Flexionsmarker für die 2.Pers.Sg. st unterscheidet sich von dem Flexionsmarker für die 3.Pers.Sg.Präs. t nur durch das initiale s. Damit ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder ist es ein reiner Zufall, dass die beiden Flexionsmarker beidesmal t aufweisen; oder aber der Grund hierfür ist ein systematischer, und es handelt sich in beiden Fällen um ein und dasselbe t. Ich werde hier von der zweiten Option ausgehen. Betrachtet man die Vorschläge, die zur Ableitung von Synkretismen in der Verbflexion des Deutschen gemacht wurden (vgl. insbesondere Wiese 1994, Wunderlich 1996 und Eisenberg 2000), so stellt sich heraus, dass zwar die ersten beiden der eben angeführten Synkretismen (nämlich diejenigen, die die 1. und 3. Person betreffen) mit Hilfe des Konzepts der Unterspezifikation von Flexionsmarkem abgeleitet worden sind, dass aber die letzteren beiden Synkretismen (die die 3.Pers.Sg., die 2.Pers.Pl. und die 2.Pers.Sg. involvieren) bisher noch nicht auf systematische Weise erfasst worden sind: In den erwähnten Analysen müssen durchweg zwei unterschiedliche Spezifikationen für das t der 3.Pers.Sg.Präs. und das t der 2.Pers.Pl.Präs. angenommen 5 Bereits Bierwisch (1961, S. 62-66) nimmt an, dass dieser Synkretismus systematisch ist (und ordnet das Paradigma entsprechend so, dass die beiden involvierten Kategorisierungen benachbart sind). Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung in Fanselow/ Frisch (2005) aus dem Bereich der Koordinationssyntax lassen sich als weitere Evidenz für diese Annahme verstehen. Fanselow und Frisch beobachten, dass bei Koordinationen wie Er oder ihr wohnt in Frankfurt ein vergleichbarer Akzeptabilitätsstatus vorliegt wie z.B. bei Wir oder sie wohnen in Frankfurt, aber nicht der Status reduzierter Akzeptabilität von Sätzen wie Ich oder du wohne/ wohnst in Frankfurt. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 189 werden, und es muss vorausgesetzt werden, dass das t in st nichts mit den autonom vorhandenen Flexionsmarkem t zu tun hat. 6 Ein wesentlicher erster Schritt hin zu einer umfassenden Ableitung von Synkretismen in der deutschen Verbflexion besteht darin, die durch die Synkretismen dokumentierten natürlichen Klassen von Personen formal zu kodieren. Dies kann durch die Dekomposition der klassischen Person-Merkmale [1], [2], [3] in primitivere Merkmale geschehen. Unterspezifikation bezüglich dieser primitiveren Merkmale erfasst dann natürliche Klassen von Personen; und per Kreuzklassifizierung gewonnene vollständige Spezifikationen repräsentieren die klassischen Personen (vgl. u.a. Noyer 1992, Frampton 2002 generell, und Wiese 1994, Wunderlich 1996 und Eisenberg 2000 zur deutschen Verbflexion). Konkret setze ich eine Dekomposition in die Merkmale [±1], [±2] voraus; vgl. (6) (l.Pers.inklusiv erscheint im Deutschen nicht; aber s.u. zum Sierra Popoluca). (6) Personen: a. [1] =[+1,-2] b. [ 1 inkl] =[+l,+2] c. [2] =[-l,+2] d. [3] =[-1,-2] Ich nehme an, dass (vollständig spezifizierte) Person- und Numerus-Merkmale (sowie auch aufgrund fehlender morphologischer Realisierung am Verb im gegenwärtigen Kontext irrelevanterweise - Genus- und Kasus- (= Nominativ-) Merkmale) von der funktionalen Kategorie T getragen werden, die hinsichtlich dieser Merkmale mit einer Nominativ-NP kongruiert. Per Kopf-Bewegung von V über v zu (im Deutschen rechts-peripherem) T wird ein komplexes Wort Vv-T gebildet, und T wird post-syntaktisch durch Einsetzung eines Flexionsmarkers realisiert. Dieses T-Element ist ein von Spaltung betroffenes Morphem. Darüber hinaus applizieren auf T im Deutschen Verarmungsregeln, die im Einklang mit dem oben Gesagten für die Ableitung systemweiter, flexionsklassenübergreifender Synkretismen verantwortlich sind. 6 Einer systematischen Erfassung auch dieser Synkretismen am nächsten kommt noch die Analyse in Wiese (1994), in der zwar keine identische Merkmaisspezifikation für die verschiedenen Vorkommen von t postuliert wird, aber immerhin eine Ähnlichkeit der (unterspezifizierten) Merkmalsausstattung, die für die Identität der Form verantwortlich ist; und in der auch die Mehrsegmentigkeit der Endung st mit einer spezifischeren Merkmalsausstattung korreliert wird. 190 Gereon Müller Tatsächlich lassen sich in (5) sowohl flexionsklassenübergreifende Synkretismen beobachten als auch Synkretismen, die nur für bestimmte Endungen gelten und kein systemweites Muster repräsentieren. Ein systemweiter Synkretismus in der Verbflexion, der alle germanischen Sprachen betrifft (so auch schon das Gotische; vgl. Braune/ Ebbinghaus 1961, S. 101-108) und also auch im Deutschen zu finden ist, ist die Identität von 1 ./ 3.Pers.Sg.Prät. Wie die drei Konjugationsparadigmen in (5) zeigen, involviert dieser Synkretismus nicht nur einen Flexionsmarker; er gilt vielmehr unabhängig von der konkreten Markerwahl. Eine Verarmungsregel wie die in (7a) ist daher ein geeignetes Mittel, um dieses Synkretismusmuster zu erfassen: Nach (7a) ist es unmöglich, dass sich die 1. und die 3. Person im Singular des Präteritums unterscheiden können, ungeachtet der Merkmalsspezifikation von Flexionsmarkem. Wesentlich ist hier, dass die 1. und die 3. Person eine natürliche Klasse bilden, die durch das Merkmal [-2] kodierbar ist, und dass die Verarmungsregel durch Tilgung von [±1] zu unterspezifizierten Strukturen fuhrt, so dass für die morphologische Einsetzung die 1. und die 3.Pers.Sg.Prät. eine identische Merkmalsspezifikation aufweisen (es stehen hier [+pl] für Plural, [-pl] für Singular, [+prät] für Präteritum und [ prät] für Präsens). 7 Neben dieser gemeingermanischen Regularität haben unterschiedliche germanische Sprachen noch unterschiedliche weitere Synkretismusmuster entwickelt, die ebenfalls durch Verarmungsregeln auf einfache Weise erfasst werden könnend So bildet sich vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen die übergreifende Regularität aus, dass 1. und 3.Pers.Pl.Prät. identisch werden; und vom Mittelhochdeutschen zum modernen Deutsch wird dieses Synkretismusmuster auch auf die 1. und 3.Pers.Pl.Präs. erweitert (mit nicht notwendigerweise identischen Endungen; vgl. die Suppletivflexion im Präsens in (5)), so dass jetzt neben (7a) eine sehr allgemeine zweite Verarmungsregel angenommen werden kann, die im Plural systematisch die Unterscheidung von 1. und 3. Person unmöglich macht; vgl. (7b). 7 In den Analysen von Wiese, Wunderlich und Eisenberg geht dieser Synkretismus demgegenüber allein auf die Unterspezifikation von Flexionsmarkem zurück. Es gibt unter dieser Annahme nichts, was die systemweite Gültigkeit dieses Synkretismus ableiten kann, und das beobachtbare Muster ergibt sich als zufällige Konsequenz lexikalischer Einzelspezifikationen. 8 Das Isländische weist z.B. einen flexionsklassenübergreifenden Synkretismus der 2. und 3. Person Singular im Präsens auf (vgl. Kress 1982), der durch folgende Verarmungsregel ableitbar ist: [+2] —> 0/ [-l,-pl,-prät] . Subanalyse verbaler Flexionsmarker 191 (7) Zwei Verarmungsregelnfür die Verbflexion des Deutschen: a. [±1] —> 0/ [-2,-pl,+prät] b. [±1] —> 0/ [-2,+pl] Die unterspezifizierten Flexionsmarker des Deutschen, die als Vokabularelemente in gemäß (7a), (7b) verarmte, gespaltene T-Morpheme eingesetzt werden, sind in (8) mit von oben nach unten absteigender Spezifizität aufgelistet. 9 (8) Markerinventar. a. / te/ <-> ■ [+prät,-stark] b. / s/ ^ [+2,-pl] c. / n/ <-> ■ [-2,+pl] d. N [-1] e. / (e)/ ^ [ ] Es bleibt nun zu zeigen, wie die Synkretismen in der deutschen Verbflexion abgeleitet werden. Im generalisierten Paradigma in (9) ist für Präsens- und Präteritumkontexte per Durchstreichung illustriert, welchen Einfluss die beiden Verarmungsregeln auf Merkmalsspezifikationen in T vor der Vokabulareinsetzung haben. Das spezifischste Vokabularelement in (8) ist der Tempusmarker / te/ . 10 Er wird überall im Präteritum der schwachen Verben eingesetzt. Danach kommt / s/ , ein allgemeiner Marker der 2. Person für den Singular. Da / s/ jedoch unterspezifiziert und nur [+2] (und nicht etwa [-l,+2]) markiert ist, bleiben in den entsprechenden Kontexten noch [-1]-Merkmale für spätere 9 Die / / -Notation soll anzeigen, dass die Marker den Status zugrunde liegender Formen haben, die durch weitere morpho-phonologische Regularitäten verändert werden können. Dementsprechend müssen zu dem Markerinventar in (8) noch weitere Annahmen treten, damit sämtliche existierenden Paradigmen vollständig abgeleitet werden können. Insbesondere geht es hier um morpho-phonologische Regeln, die in bestimmten Kontexten, z.T. abhängig vom Stammauslaut, Schwa einfligen. Darüber hinaus wären noch spezielle Annahmen beim Suppletivparadigma sein zu machen. Schließlich müsste in einer umfassenden Analyse auch noch die Stammaltemation bei den starken Verben abgehandelt werden (vgl. dazu Wiese 2005). Ich beschränke mich hier auf das Kemsystem der Flexionsmarker ((7) und (8) im vorliegenden Ansatz). 10 Vgl. etwa Heidolph et al. (1981, S. 564), Wunderlich (1996, S. 95). Hier wäre weitere Subanalyse technisch zwar möglich, linguistisch aber wenig plausibel. Der Konjunktiv Präteritum der schwachen Verben ist unter dieser Perspektive parasitär zum Indikativ Präteritum (vgl. Helbig/ Buscha 1981, S. 159), so dass in Konjunktivformen wie Du glaub-te-s-t, Du rief-e-s-t das e unterschiedlichen Status hat (aber vgl. auch Heidolph etal. 1981, S. 565). 192 Gereon Müller Einsetzung verfügbar. Im schwachen Präteritum tritt / s/ an ein bereits in T eingesetztes / te/ ; dies ist möglich, weil vorherige / te/ -Einsetzung die Person- und Numerusmerkmale zugänglich gelassen hat. Die Ordnung mehrerer Marker in einem gespaltenen Morphem richtet sich nach der spezifizitätsbedingten Reihenfolge der Einsetzung (ein Marker tritt immer außen an die bestehende Form) sowie der Klassifizierung von Markern als Prä- oder Suffix (im vorliegenden Fall sind alle Marker Suffixe). Der Marker / n/ ist zu / s/ komplementär; er wird in der 1. und 3. Person im Plural eingesetzt. Der Marker / t/ in (8) ist in dieser Analyse sehr allgemein; er kann in allen Kontexten eingesetzt werden, wo das Merkmal [-1] zugänglich ist. Dies betrifft alle Kontexte der 2. oder 3. Person außer genau den Kontexten, in denen Verarmung das Merkmal [-1] getilgt hat, um eine Identität von 1. und 3. Person sicherzustellen. Zum einen ist dies die 3.Pers.Sg.Prät. Daher heißt es Sie glaubte statt *Sie glaubtet, Er rief statt *Er rieft). Zum anderen ist dies die S.Pers.Pl.Prät. Und schließlich ist es die B.Pers.Pl.Präs. Aus Letzterem ergibt sich, dass die Form Sieglauben lautet, nicht etwa 'Sie glaubent, wie man ohne Verarmung erwarten würde. 11 Der am wenigsten spezifische Marker in (8) ist / (e)/ . Dies ist der Default- oder Elsewhere-Marker, der überall dort eingesetzt werden kann, wo kein anderer Marker passt. Ich gehe hier davon aus, dass solche Default-Marker genau dann eingesetzt werden, wenn kein Marker im funktionalen Morphem vorhanden ist (dies impliziert, dass / e/ -Einsetzung nicht iterierbar ist; vgl. Wunderlichs 1996 Monotonizitätsbedingung). Dies betrifft im vorliegenden Fall dann nur die 1 .Pers.Sg.Präs. und die l./ 3.Pers.Sg.Prät. Der Marker / (e)/ ist etwas abstrakter als die anderen Marker in (8) insofern, als seine konkrete Realisierung von Eigenschaften des Stamms abhängt: Er verlangt minimale Indikation der Abweichung von Präsensstamm: Bei Stammaltemation (l.Pers.Sg.Prät. der starken Verben) bleibt / (e)/ somit ohne phonologische Realisierung; bei Stammidentität (1.Pers.Sg.Präs. der schwachen und starken Verben) wird / (e)/ als e realisiert. 12 11 Interessanterweise war es aber genau diese Form mit der Endung die noch im Mittelhochdeutschen vorlag (vgl. z.B. de Boor/ Wisniewski 1978, S. 108) bevor, wie oben erwähnt, Veratmung Tilgung der [±l]-Information in diesem Kontext und somit Identität von 1. und 3.Pers.Pl.Präs. bewirkte. 12 Eine Alternative hierzu wäre es, zwischen einem Defaultmarker / e/ für die 1.Pers.Sg.Präs. und einem spezifischen Nullmarker / 0/ mit der Merkmalsausstattung [+prät,+stark,-2,-pl] für die l.Pers.Sg.Prät. der starken Verben zu unterscheiden. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 193 (9) zeigt, wie die Marker in (8) in die gemäß (7) verarmten syntaktischen Kontexte sukzessive von innen nach außen eingesetzt werden. Es wird deutlich, dass sämtliche Synkretismen aufgelöst sind: Jeder Form entspricht genau eine Spezifikation. 13 (9) Einsetzung in verarmte T-Morpheme im Deutschen'. [-prät] [-stark] [+stark] [+l,-2,-pl] / e/ / e/ [-1,+2,-pl] / s/ -/ t/ N Isl-Itl m [3<-2,+pl] / n/ / n/ [-1,+2,+pl] [^r-2,+pi] hJ / n/ ti! / n/ [+prät] [-stark] [+stark] [>K-2,-pl] / te/ 70/ [-1,+2,-pl] H-T-2-pl] [^-2,+pl] [-1,+2,+pl] [^r-2,+ P i] / te/ -/ s/ -/ t/ / s/ -/ t/ / te/ / te/ -/ n/ TteAVtT / te/ -/ n/ 70/ 7n/ 7t/ / n/ 4. Verbflexion im Sierra Popoluca Die Argumentkodierung im Sierra Popoluca erfolgt mit Hilfe von Kopf-Markierung (bzw. Kreuzreferenz), nicht mit Hilfe von Dependens-Markierung (vgl. Nichols 1986); d.h., die morphologischen Marker, die die Kemargumente des Verbs kodieren, erscheinen nicht auf den Argumenten (wie sie das in Form von Kasussuffixen in Dependens-markierenden Sprachen wie solchen des indoeuropäischen Typs tun), sondern auf dem Verb selbst (vgl. El- 13 Indirekt wird somit auch die Annahme unterstützt, dass bei / te/ keine Subanalyse vorliegt; denn ansonsten gäbe es bei / t/ noch einen nicht abgeleiteten Synkretismus (ob der allerdings als Problem zu betrachten wäre, ist aufgrund der sehr unterschiedlichen Markerfunktion und der Möglichkeit der Kookkurrenz in einer Wortform nicht klar). 194 Gereon Müller son 1960a, S. 29-30, 1960b, S. 207-208). 14 Wie in Kopf-markierenden Sprachen üblich, ist die lexikalische Realisierung von Argument-NPs durchweg optional (und die Wortstellung realisierter lexikalischer Argumente ist relativ frei); ein einziges Verb kann daher bereits einen vollständigen Satz bilden (vgl. Jelinek 1984, Nichols 1986). Darüber hinaus folgt die Argumentkodierung im Sierra Popoluca nicht einem Akkusativmuster, sondern einem (zumindest in Hauptsätzen vergleichsweise reinen, prototypischen) Ergativmuster: Externe Argumente von transitiven Verben werden am Verb mit einer Klasse von Präfixen kodiert (Ergativmarker); externe Argumente von intransitiven Verben und interne Argumente generell werden mit einer anderen Klasse von Präfixen kodiert (Absolutivmarker). 13 Beispiele für Kodierung per Absolutivmarkierung in intransitiven Kontexten sind in (10) aufgelistet; Beispiele für Kodierung per Ergativ- und Absolutivmarkierung in transitiven Kontexten in (11). 16 (10) a. A-nik-pa 1.ABS-gehen-UNV ‘Ich gehe.’ b. Ta-ho.y-pa INKL.ABS-spazieren gehen-UNV ‘Du und ich gehen spazieren.’ 14 Sierra Popoluca (spanisch ‘Popoluca de la Sierra’) ist eine mittelamerikanische Mixe- Zoque-Sprache. Das heutige Verbreitungsgebiet des Sierra Popoluca ist der Isthmus von Tehuantepec im mexikanischen Bundesstaat Veracruz. Vor einem Jahrzehnt gab es noch 25.000-30.000 Sprecher (vgl. Kaufman 1994, S. 769). Die umfangreichste Arbeit zur Grammatik des Sierra Popoluca ist Elson (1960a); Morphologie und Syntax stehen im Vordergrund von Elson (1960b). Einiges von dem Material in diesen zwei Arbeiten hat seinen Weg in das Einführungsbuch von Elson/ Pickett (1964) gefunden. Spätere syntaktische Studien umfassen Lind (1964) und Marlett (1986). Alle Daten des vorliegenden Papiers entstammen Elsons Arbeiten. 15 Elson (1960b) nennt die Marker ASSOCIATE, PARTICIPANT; Marlett (1986) identifiziert das zugrunde liegende Ergativ-Absolutiv-Muster und nennt die Marker A und B. Explizite Verwendung von ERG und ABS als Verbmarker findet sich in der Literatur zu mittelamerikanischen (z.B. Maya-)Sprachen; vgl. etwa Bickel/ Nichols (2001). 16 Ergativmarker erscheinen noch in zwei weiteren Kontexten: als Possessivmarker in NPs (vgl. dazu Anderson 1992 und die angegebene Literatur sowie (12)) und mit der Distribution eines Nominativmarkers in einem Akkusativsystem in bestimmten eingebetteten Sätzen. Diese Kontexte zeigen die Ergativmarker in ihrer reinen Form, da bei Aufeinandertreffen mit einem Absolutivmarker Reduktionseffekte entstehen, die die Form verändern; s.u. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 195 (11) a. A-$-ko? c-pa 1.ABS-3 .ERG-schlagen-UNV ‘Er schlägt mich.’ b. M-aij-ko? c-pa 2.ABS-1 .ERG-schlagen-UNV ‘Ich schlage dich.’ Die Absolutiv- und Ergativmarker des Sierra Popoluca sind wie die Kongruenzmarker im Deutschen fusionierend in dem Sinne, dass sie mehr als einen Typ morpho-syntaktischer Information tragen. Konkret kodieren sie neben Kasus (Ergativ oder Absolutiv) noch Person: l.Pers., 2.Pers., S.Pers. sowie l.Pers.inklusiv (vgl. (10b)). 17 Im Einklang mit den bisherigen Annahmen sei vorausgesetzt, dass die Argumentkodierungsmarker im Sierra Popoluca postsyntaktische Realisierungen der funktionalen Morpheme T und v sind (die ihrerseits Kongruenzrelationen mit den eigentlichen, typischerweise als leeren Pronomina aufscheinenden Argumenten in Subjekt- und Objektposition eingehen). Dabei gehe ich davon aus, dass in einem Ergativsystem das innere funktionale Morphem (v) für Ergativ spezifiziert ist, das äußere dagegen (T) für den Absolutiv. 18 Kopf-Bewegung per Rechtsadjunktion (nicht, wie im Deutschen, per Links-Adjunktion) fuhrt dann zu komplexen abstrakten Wörtern T-v-V, in denen T und v als Präfixe (nicht, wie im Deutschen, als Suffixe) das Ziel für morphologische Einsetzung bilden. Die Paradigmen für Absolutiv- und Ergativmarkierung sind in (12) dargestellt. 19 Aus funktionaler Perspektive lassen sich zwei generelle Schwierigkeiten für ausschließlich Kopf-markierende Sprachen identifizieren: Zum einen werden in Kontexten, wo zwei 3. Personen aufeinander treffen, die Argumente nicht zuverlässig kodiert. Andere Sprachen lösen dieses Problem durch unterschiedliche Strategien (z.B. Genuskongruenz, obligatorisches Passiv; vgl. 17 Nicht spezifiziert sind diese Marker für Numerus. Dieses Merkmal wird im Sierra Popoluca als (stammnahes) Suffix realisiert (und spielt davon abgesehen eine untergeordnete Rolle). Ebenfalls als Suffix erscheinen Marker für Genus Verbi und Marker für Aspekt (UNV in den obigen Beispielen). Vom suffixalen Bereich von Verbformen abstrahiere ich im Folgenden. 18 In einem Akkusativsystem ist v für Akkusativ spezifiziert, T für Nominativ. Vgl. Murasugi (1992), Müller (2004) zu einer Rechtfertigung dieser Annahmen über die Syntax. 19 In „[1] —> [2]“ ist [1] externes Argument, [2] internes Argument. Durch den Kontext bedingte phonologische Veränderungen der Marker (wie z.B. an —> ar/ vor k) sind hier ausgeblendet. 196 Gereon Müller (12) a. Absolutivmarker: nik-pa (‘gehen-UNV’) [1] [ 1 inkl] [2] [3] a-nik-pa ta-nik-pa mi-nik-pa %-nik-pa c. Abs.-undErg.marker: ko? c-pa (‘schlagen-UNV’) [2] —> [1] [11 ^[21 [3]^ [3] [1] ^[3] [2] ^ [3] [3] —> [11 [3] -> PI an-ko? c-pa i-ko? c-pa an-ko? c-pa in-ko? c-pa a-ko? c-pa mi-ko? c-pa b. Ergativmarker: tik (‘POSS Haus’) man-ko? c-pa Nichols 1986, S. 112-113, Aissen 2002); Sierra Popoluca lebt mit der hier entstehenden Ambiguität. Zum anderen kann man ganz allgemein festhalten, dass in einem Wort weniger Platz ist als in einem Satz. Daher treten in transitiven Kontexten beim Zusammentreffen zweier Marker in vielen Kopfmarkierenden Sprachen Reduktionseffekte wie Portmanteau-Bildung oder Markertilgung auf; und dies ist auch so im Sierra Popoluca. In (12c), wo Absolutivmarker in T und Ergativmarker in v aufeinander treffen, ist zwar die Reihenfolge wie bei der Struktur T-v-V erwartet Absolutivmarker vor Ergativmarker; die Form der Marker ändert sich jedoch wie folgt: Treffen 1. oder 2. Person und 3. Person aufeinander, wird nur der Marker fur die 1./ 2. Person benutzt, ungeachtet seines Status als Absolutiv- oder Ergativmarker. Treffen dagegen 1. und 2. Person aufeinander, entstehen unter / i/ -Tilgung komplexe Marker: So erscheint statt eigentlich erwartetem mi-an in [1]—>[2]-Kontexten der Marker man\ statt a-in in [2]—>[l]-Kontexten on. 20 Es ergeben sich zwei Aufgaben. Erstens ist (nach den oben angenommenen Voraussetzungen) eine morphologische Analyse des Markerinventars zu entwickeln, die der Tatsache Rechnung trägt, dass die Marker keinen primi- 20 (12c) listet keine [1]—>[1]- oder [2]—>[2]-Kontexte auf; dies liegt daran, dass Reflexivität auf andere Weise (durch ein Suffix am Verb) markiert wird. Subanalyse verbaler Flexionsmarker 197 tiven Status zu haben scheinen, sondern auf Kombinationen einiger weniger, immer wiederkehrender Segmente zurückgehen; d.h., dass viele Fälle von Synkretismus vorliegen. So kann etwa i nur bei der 2. und 3. Person auftreten, was wie im Deutschen (und vielen anderen Sprachen, z.B. dem Southern Tiwa; vgl. Allen/ Frantz 1983, S. 304) suggeriert, dass diese beiden Personen eine natürliche Klasse bilden (kodierbar durch [-1]). Ebenso ist a in der Distribution begrenzt auf die Kontexte l.Pers./ l.Pers.inkl., die ebenfalls eine natürliche Klasse bilden ([+1]); n taucht dagegen nur im Ergativ auf. Solche Synkretismen können sich nur bei einer Subanalyse der Marker erschließen. 21 Zweitens sind die Reduktionseffekte bei Markerkookkurrenz abzuleiten. Ich möchte nun zeigen, dass eine einfache Analyse des Inventars mit Hilfe von Spaltung und Verarmung von genau der Art, wie sie oben für das Deutsche vorgeschlagen wurde, ohne weitere Annahmen die Reduktionseffekte mit erfasst. 22 Zugrunde gelegt sei zunächst die Dekomposition von Person-Merkmalen in (6); im Sierra Popoluca wird dabei auch die Merkmaisspezifikation [+l,+2] (= l.Pers.inkl.) verwendet. Die Kasus Ergativ und Absolutiv (wie natürlich auch Akkusativ und Nominativ) lassen sich wie bei Bierwisch (1967) als positive bzw. negative Spezifikationen eines einzigen Merkmals [±v(erbal)] 21 Dies ist von Elson im Prinzip schon vorher so gesehen worden; vgl. insbesondere Elson/ Pickett (1964, S. 51-52) (auch Elson 1960b, Fn. 7), wo (bzgl. des Markerinventars in (12)) festgestellt wird: „Clearly, there are some further morpheme cuts that can be made.“ Dies wird dann zwar letztlich verworfen („Morpheme cutting may sometimes be extended beyond the point of diminishing returns, when further analysis makes the results more complicated than they might be otherwise.“); aber dieser Einwand scheint in erster Linie durch das Fehlen eines geeigneten theoretischen Instrumentariums in den Sechzigerjahren begründet. 22 Reduktionseffekte wie in (12c) können leicht optimalitätstheoretisch beschrieben werden; vgl. Trommer (2003) zum Verbot der Kookkurrenz von Markern für 1 .Pers.-Subjekte und 2.Pers.-Objekte im Ainu. Z.B. könnte man annehmen, dass es Beschränkungen gibt, die die Realisierung von (respektive) l./ 2.Pers„ 3.Pers. und Kasus im Output fordern, sowie eine Beschränkung wie PERS-LINKS, die besagt, dass ein Person-Merkmal am linken Rand einer Wortform realisiert werden muss (also nicht zwei Präfixe mit Person-Merkmalen auftreten dürfen). Ist die Ordnung der Beschränkungen dann Real 1./ 2. » PERS-LINKS » REAL 3, REAL KASUS, so ergibt sich der Reduktionseffekt bei Zusammentreffen von l./ 2.Pers. und 3.Pers. Ungeklärt bliebe unter dieser Perspektive aber immer noch der Ausfall von lil in Kontexten mit 1. und 2.Pers. Darüber hinaus setzt eine solche Analyse die Flexionsmarker in (12) als gegeben voraus und übersieht, dass sie aus einigen wenigen Bausteinen zusammengesetzt sind. 198 Gereon Müller (oder: [±regiert]) auffassen, wobei gilt: [+v] = Ergativ (Akkusativ), [-v] = Absolutiv (Nominativ). Schließlich ist noch eine Verfeinerung der bisher vorausgesetzten Merkmalshierarchie ihr die Ermittlung der Spezifizität notwendig: Kasus-Merkmale stehen wie oben angenommen über Person-Merkmalen, aber unter den Person-Merkmalen gibt es noch eine weitere Ordnung [±1] > [+2], Wie im Fall von T im Deutschen sei vorausgesetzt, dass die funktionalen Morpheme T, v im Sierra Popoluca von Spaltung betroffen sind (wodurch Subanalyse und damit maximale Ableitung von Synkretismen ermöglicht wird); und wie im Deutschen gibt es zwei Verarmungsregeln, die systematisch die syntaktische Struktur für die Morphologie vereinfachen; vgl. (13a), (13b). (13) Zwei Verarmungsregeln für die Verbflexion des Sierra Popoluca: a. [av] —> 0/ [-al,-a2] b. [-1]->0/ [-2,-v]_ (global) Wesentliche Aufgabe dieser Regeln ist es, durch Verarmung morpho-syntaktischer Kontexte einen ‘retreat to the general case’ zu bewirken, also aufgrund durch Anwendung der Regel entstehender Inkompatibilität des ‘eigentlich’ passenden spezifischeren Markers die Einsetzung eines weniger spezifischen Markers oder sogar die Nicht-Einsetzung irgendeines Markers zu erzwingen. Beide Regeln weisen jedoch Besonderheiten auf: (13a) verwendet a als Variable über den Merkmalswerten ± (vgl. hierzu Chomsky/ Halle 1968, Noyer 1992, Johnston 1996). Dies hat zur Folge, dass das Merkmal [+v] (Ergativ) im Kontext [-1,-2] (3.Pers.) getilgt wird und das Merkmal [-v] (Absolutiv) im Kontext [+l,+2] (l.Pers.inkl.). Die Besonderheit bei (13b) ist demgegenüber, dass der Anwendungsbereich dieser Regel nicht, wie bisher vorausgesetzt, das minimale funktionale Morphem (T oder v) ist, sondern die Menge aller Morpheme in einem Wort (also T und v zusammen). Im Einklang mit dem globalen Charakter der Regel nehme ich an, dass sie nur einmal pro Wort applizieren kann, dass sie der lokalen Regel (13a) nachgeordnet ist und dass sie (im Falle von Ambiguität) das strukturell höchste [-1]-Merkmal tilgt. Die unterspezifizierten Vokabularelemente, die für Einsetzung in gemäß (13a), (13b) manipulierte T- und v-Morpheme zur Verfügung stehen, sind in (14) aufgelistet. Jeder Form entspricht nur eine Spezifikation; alle Synkretismen Subanalyse verbaler Flexionsmarker 199 sind damit vollständig aufgelöst: / n/ ist ein Ergativmarker; / a/ markiert [+1], / i/ markiert [-1] (und ist damit funktional identisch zu / t/ im Deutschen; vgl. (8)); und / m/ und N sind Marker für unterschiedliche [+2]-Kontexte. 23 (14) Markerinventar: a. / n/ <-> ■ [+v] b. / a/ ^ [+1] c. Iil [-1] d. ImJ ^ [+2] ([-v]) e. / t/ - [+2]([+l]) In (15) ist dokumentiert, wie die Marker in (14) in die gemäß (13) verarmten T- und v-Kontexte von innen nach außen eingesetzt werden (die Anordnung entspricht (12)). (15) Einsetzung in verarmte T- und v-Morpheme im Sierra Popoluca: T(Abs) [+1,-2-v] 7ä7 [+1,+2^<| / t-a/ [-1,+2,-v] / m-i/ [^-2,-v] / -/ v (Erg) [+l,-2,+v] / a-n/ [+l,+2,+v] j/ t-a-n/ [-1,+2,+v] / i-n/ [-1-2X] 7i/ (15) zeigt, wie die Verarmungsregeln Einfluss auf die morphologische Realisierung nehmen: (13a) ist verantwortlich für Eigenschaften des Markerinventars: für das Auftreten von / t/ statt ansonsten erwartetem / m/ im Kontext l.Pers.inkl.abs. und für das Fehlen von / n/ im Kontext 3.Pers.erg. (13b) ist 23 Die Klammemotation in den Spezifikationen von / m/ und / t/ beschreibt einen Fall ‘sekundärer Exponenz’: Der Marker kann nur eingesetzt werden im Kontext eines bereits realisierten [-v]bzw. [+1]-Merkmals (und realisiert daher dieses Merkmal nicht selbst); vgl. Noyer (1992), Wunderlich (1996) und Frampton (2002). 200 Gereon Müller ebenfalls verantwortlich für eine Eigenschaft des Markerinventars, nämlich das Fehlen eines Markers im einfachen Kontext 3.Pers.abs. Dieser Effekt wäre allein per Unterspezifikation von Flexionsmarkem ohne Annahme von spezifischen Nullmarkem nicht zu erzielen; diese Verarmungsregel ist daher unabhängig von der Kookkurrenz zweier Marker motiviert. Interessanterweise leitet (13b) aufgrund der globalen Anwendungsdomäne nun aber auch ohne Weiteres die beim Aufeinandertreffen von Markern in T und v entstehenden Reduktionseffekte ab: das Fehlen eines Markers für 3.Pers., falls das andere Argument ebenfalls als 3.Pers. spezifiziert ist; das Fehlen eines Markers für 3.Pers., falls das andere Argument als l./ 2.Pers. spezifiziert ist; und schließlich den Wegfall von / i/ in transitiven Kontexten, in denen nur 1. und 2.Pers. verkommen. Zusammengenommen ergibt sich, dass die Systeme der Verbflexion im Deutschen und Sierra Popoluca bei aller sonstigen Verschiedenheit der beiden Sprachen auf ganz ähnliche Weise aufgebaut sind. In beiden Fällen sind systemweite Asymmetrien beobachtbar zwischen solchen Spezifikationen morpho-syntaktischer Merkmale, wie sie in der Syntax relevant sind, und solchen, wie sie in der Morphologie zur Verfügung stehen; und in beiden Fällen legt eine möglichst vollständige Analyse von Synkretismen Subanalyse von Flexionsmarkem nahe. Insofern als Ersteres gut mit Flilfe von Verarmung erfasst werden kann und Letzteres mit Hilfe von Spaltung, kann die hier vorliegende Analyse als Argument für Theorien der Morphologie betrachtet werden, die derartige Konzepte vorsehen. 5. Literatur Aissen, Judith. (2002): Bidirectional Optimization and the Problem of Recoverability in Head Marking Languages. Ms. University of California, Santa Cruz. 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In Gunkel, Lutz/ Müller, Gereon/ Zifonun, Gisela (Hg.): Arbeiten zur Reflexivierung. Tübingen: Niemeyer. S. 267-300. Oddleif Leirbukt Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu mit besonderer Berücksichtigung subjektloser Konstruktionen 1. Vorbemerkungen Ins werafe«-Passiv umformbare Konstruktionen mit dem Verbalsyntagma bleiben + zw-Infmitiv fortan als „Wez7? e«-Fügung“ bezeichnet werden in den größeren Grammatiken neueren Datums (z.B. Zifonun et al. 1997, S. 1280 und 1792; Duden-Grammatik 1998, S. 181; Engel 2004, S. 253) stiefmütterlich behandelt, ebenfalls in Überblicksdarstellungen zur Syntax der Gegenwartssprache (vgl. etwa Eroms 2000, S. 408). In ein paar Passiv- Monografien bleiben sie sogar gänzlich ausgeklammert (vgl. z.B. Brinker 1971 und Schoenthal 1976). Eine Ausnahme bildet die Arbeit von Höhle (1978), in der sich wichtige syntaktische und semantische Angaben finden. Diese sollen den Ausgangspunkt der nachfolgenden Bemerkungen bilden. Unter der in der Überschrift benutzten Bezeichnung „passivische Fügung“ werden hier mit werden + Partizip Perfekt (Partizip II) funktional vergleichbare Verbalsyntagmen mit infinitivischer Komponente subsumiert, die ein Kohärenzfeld bilden (vgl. etwa Höhle 1978, S. 49) und Bestandteil von Konstruktionen sind, in denen das grammatische Subjekt (soweit vorhanden) nicht als Ausdruck des Agens fungiert. Hierher gehören neben Bildungen mit sein z.B. auch solche mit bleiben vgl. (1) - und gehen in Verbindung mit zw-Infinitiv (Der Schrank geht nicht zu öffnen.). Zur umstrittenen Frage, ob Sätze mit derartigen Verbalfügungen, die bekanntlich im Unterschied zu werden + Partizip II durch verschiedene modale Nebenbedeutungen gekennzeichnet sind, als Passivkonstruktionen zu gelten haben oder nicht, braucht hier nicht Stellung genommen zu werden. Nach Höhle (1978, S. 48f.) sind 6/ e/ 6e«-Bildungen mit so genanntem satzwertigem Infinitiv (weil jetzt nur noch bleibt, den Entwurf zu diskutieren) und das „bleiben-Vassxv“ in (1) systematisch voneinander zu unterscheiden (man vergleiche u.a. die Kohärenz als Kontrast zum eben angeführten blei- Zien-Beispiel): (1) weiljetzt nur noch dieser Entwurfzu diskutieren bleibt 206 OddleifLeirbukt Dieser Konstruktionstyp ist nach Höhle (1978, S. 50) auf transitive Verben beschränkt; Bildungen wie die folgenden seien „unakzeptabel“ (ähnlich Askedal 1987,8.24): (2) Dem Antrag bleibtjetzt nur noch zuzustimmen. (3) Darüber bleibt nachzudenken. Diese Annahme ist angesichts des folgenden Belegs zu überprüfen: (4) [...] um gleichwohl anzuerkennen, dass so etwas existiert wie das Böse in der Welt. Damit bleibt jederzeit zu rechnen, will man sich nicht in die Phantasie flüchten. (Schweizer Monatshefte 3/ 1992, S. 183) Dasselbe gilt für die These, dass die bleibenWxxgxmg durchweg die Modalität des Müssens ausdrückt (vgl. z.B. Engel 2004, S. 253). In diesem Zusammenhang ist der nachstehende Originalbeleg von Folsom (1966, S. 61) interessant, der bei ihm in Bezug auf die Möglichkeitslesart und die passivische Bedeutung unkommentiert bleibt: (5) Der Rest des Körpers blieb unter Wasser nicht zu erkennen. Im Folgenden soll zunächst aufgezeigt werden, dass subjektlose Konstruktionen mit der bleiben-Yügwxg in beträchtlichem Maße bildbar sind (Kap. 2.). Unter generellerem Gesichtspunkt möchte ich sodann der in der bisherigen Literatur m.W. nicht erwähnten Variation der Modalität vor allem auch dem Vorkommen der Möglichkeitslesart nachgehen (Kap. 3.) und anschließend die bislang wenig untersuchte zeitliche Situierung der Modalität und des modalisierten Ereignisses (Handlung oder Vorgang) in (1) etwa: das Diskutieren, in (5) z.B.: das Erkennen einer Klärung näher bringen (Kap. 4.). Ferner sollen Konstruktionen mit der bleiben-Bügxmg und solche mit der entsprechenden sem-Bildung in ausgewählten Aspekten miteinander verglichen werden (Kap. 5.). Zur Abrundung möchte ich versuchen, unter Einbezug anderer Bildungen mit zw-Infmitiv die syntaktische Bandbreite der bleiben-Vügxmg mit bestimmten sprachsystematisehen Gegebenheiten in Verbindung zu bringen (Kap. 6.). Die weiteren empirischen Aussagen stützen sich vor allem auf Belege, die sich mit Hilfe der Suchmaschine www.google.de Zusammentragen ließen. Bei den Recherchen wurden bleiben und Infinitiv zumeist in direktem linearen Kontakt (z.B. zu danken bleibt) eingegeben, wodurch nur ein Teil der ermittelbaren Belege zu erfassen war. Das andere unten herangezogene Material ist noch stärker zufallsgeprägt. Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 207 2. Zur syntaktisch bestimmbaren Art des in der subjektlosen Konstruktion im zw-Infinitiv auftretenden Verbs Alle mir vorliegenden Belege für die subjektlose Konstruktion weisen ein intransitives Handlungsverb auf, das ein Objekt zu sich nimmt; objektlose Konstruktionen scheinen nicht bildbar zu sein. In meinem Material finden sich Verben mit Präpositional- oder Dativobjekt, zu denen sich das nur einmal belegte gedenken gesellt. Im Folgenden seien zum Aufweis der Verbtypen ausgewählte Belege ohne näheren Kommentar angeführt. 2.1 Verb mit Präpositionalobjekt (6) Das heißt, jeder Magenkranke kann für sich selbst am besten heraus [sic] finden, was ihm bekommt und was nicht, [neuer Abs.] Abzuraten bleibt von größeren Mengen insbesondere kalter Getränke, weil der Dehnungsreiz zu vermehrter Säureproduktion im Magen führt, abzuraten auch von üppigen Spätmahlzeiten [...]. (http: / / www.wdr.de/ tv/ aks/ check-up/ themen/ m/ magenschmerzen. html, 27.09.04) (7) Es bleibt abzustimmen über die Entschließung unter Ziffer 3 der Ausschussempfehlungen. Wer stimmt zul - Mehrheit, (http: / / www . bundesgerichtshof . de / gesetzesmaterialien / Regist erFueG/ 880159 . pdf, 02.11.04) (8) Es gelang ihm [Berlusconi] innert kürzester Zeit, Italien umzuwandeln in seinem Sinne -, und da ist der Vergleich mit Mussolini vielleicht doch angebracht. Wobei stets daraufzu achten bleibt, dass nichts so heikel ist wie ein Vergleich verschiedener historischer Epochen, (http: / / www.woz.ch/ artikel/ archiv/ 5189. html, 27.09.04) (9) [...] die SPD-Prominenz billigte mitjenem ominösen SPD-SED- Papier vom Herbst 1987 eine rote Diktatur auf deutschem Boden [...]. Solchermaßen wurde dem Einigungsauftrag des Grundgesetzes faktisch der Laufpass gegeben, die Mauer indessen sah sich vom Westen her abgestützt, die ja woran zu denken bleibt durch ganz Europa verlief, keineswegs nur metaphorisch. [Hervorh. im Orig, vernachlässigt] (http.-/ / www.papcke .de/ Texte/ allemagnel59 .htm, 27.09.04) 208 OddleifLeirbukt (10) Der Bundesgerichtshof hat [...] deutlich gemacht, dass es durchaus berechtigte Interessen des Mieters zur Untervermietung geben kann, auch bei Gewerberaum, sodass die uneingeschränkte Verweigerung im Formularmietvertrag eine unangemessene Benachteiligung des Mieters darstellen dürfte. Der Vermieter ist auch bei einem Zustimmungsvorbehat [sic] im Mietvertrag nicht schutzlos gestellt, kann er doch die Untervermietung verweigern. In diesem Fall geht er nur das Risiko ein, dass der Mieter den auch langfristig geschlossenen - Mietvertrag fristgerecht kündigt, worauf nachfolgend noch einzugehen bleibt, (http: / / www.finanztip.de/ recht/ mietrecht/ br-gewerbe040699 . htm, 27.09.04) (11) Mit Schiller [...] bleibt daran zu erinnern, dass die Präsenz des Bösen allemal als Nebeneffekt der menschlichen Vergesellung begriffen werden muss. [Hervorh. im Orig, vernachlässigt] (Schweizer Monatshefte 3/ 1992, S. 184) (12) Allerdings entspricht die Auffassung des Berufungsgerichts der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Senats, woran auch im Ausgangspunkt festzuhalten bleibt, (http: / / www. dnoti . de/ topact/ top0176 . htm, 27.09.04) (13) Hinzuweisen bliebe noch auf sog. diachrone Kontrastierungen (vgl. Veith 1971, 25) wie etwa zwischen Altschwedisch und dem heutigen Schwedisch. [Hervorh. im Orig, vernachlässigt] (Skandinavistik 7, 1977, S. 85) (14) Der Zustand an den WertstoffContainern vor dem Aktiv-Markt wird als Zumutung bewertet [...]. Der Vorsitzende verspricht sich eine Verbesserung, wenn die dem GR bekannte Planung zur Umgestaltung des Verkaufsmarktes mit Außenbereich umgesetzt ist. Über das Aufstellen weiterer Container bleibt nachzudenken. (http: / / www.bergrheinfeld.de/ cgi-bin/ contray/ contray.cgi? ID=000002005&GROUP=027&DAn TA=‘, 02.11.04) i Bei der Wiedergabe von Intemetadressen kennzeichnet das Trennzeichen r-i am Zeilenende einen layoutbedingten Umbruch, der nicht Bestandteil der Adresse ist. Bindestriche, die Bestandteil der Intemetadresse sind, sind als „normale“ Minuszeichen angegeben. Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 209 (15) aber ob das dann schon dialektik ist. bleibt abzuwarten, bzw. wenn das heute dialektik ist. dann haben wir nichts mehr, auf das zu warten bleibt, (http: / / www.upwithforklift. twoday.net/ 20041009/ , 02.11.04) 2.2 Verb mit Dativobjekt (16) Das 150jährige Bestehen der Eisenbahn in Deutschland bietet den geeigneten Anlaß, an Max Maria von Weber zu erinnern. Seinem Urenkel bleibtfür die Stunde zu danken, in der er diese Erinnerung wachgerufen hat. (blickpunkt DB, Juni 1985, S. 10) (17) [...] daß [...] auch der deutsche Mittelstand für den Aufkauf auch bilanziell international sauber auf dem Tablett dargereicht wird, und zwar internationalen Konzernen und privaten fernöstlichen und amerikanischen Unternehmen, die voll verschwiegen bleiben dürfen. Zu gratulieren bleibt einer Bundesregierung, die mißlungene EU-Richtlinien noch perfektioniert zu Lasten ihres Mittelstands [...] (http: / / www.gmbhr.de/ frueher/ 05_00/ blickp_05_00 .htm, 27.09.04) (18) Wenn es wirklich zutrifft, dass die Amerikanisierung der Jugend Westeuropas in den Fünfzigerjahren eine Funktion von neu gewonnener Freizeit und einer beginnenden wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Rezipientenschicht von popular culture war, bleibt der Frage nachzugehen, wieso in der DDR mit ihrem begrenzten Wirtschaftswunder, aber einer allmächtigen Staatssicherheitsorganisation fast zeitgleich ähnliche Dinge abliefen, (http: / / www.theaterderzeit.de/ content/ recherchel4a.php, 27.09.04) 2.3 Verb mit Genitivobjekt (19) ,f)er 17. Juni 1953 steht als schwarzer Tag im Kalender der DDR. Er war mehr als ein Menetekel. Er hinterließ Opfer, derer zu gedenken bleibt“, erklärt die PDS-Landesvorsitzende Petra Pau. (http: / / www .pds-berlin. de/ presse/ 2001/ 06/ Or-i 007. htm, 27.09.04) 210 OddleifLeirbukt 3. Zur Art der Modalität Allgemein wäre festzustellen, dass die Müssen-Modalität in subjektlosen Sätzen die Regel ist. Hier kann ich die Können-Modalität nicht eindeutig belegen; sie könnte in Beispiel (15) vorliegen, das einen Zweifelsfall darstellt (mögliche Paraphrasen: aufdas wir {noch) warten müssen! können). In subjekthaltigen Konstruktionen besteht eine klare Dominanz der Notwendigkeitslesart; hier ist die Möglichkeitslesart nur ganz selten nachzuweisen. Letztere ist u.a. bei Wahmehmungsverben beobachtbar, vgl. etwa (5) und folgende Belege: (20) Ölfarben bringen eine so geringe Schichtdicke, dass ungespachteltes Holz darunter zu erkennen bleibt. (http: / / www. Naturfarben-malerei.ch/ meine_materialien.htm, 09.12.04) (21) Seinen Briefen wird, wie das auch in späteren Jahrzehnten zu beobachten bleibt, mit Drohungen Nachdruck verliehen. [Auszug aus einem Text über den AA-Beamten Erich Knapp, der angeblich an Intrigen gegen Willy Brandt beteiligt war.] (http: / / www.kokhavivpublications.com/ free/ BdllnD _oe .pdf, 09.12.04) (22) Immer lauter wurde das Zwitschern und Singen, das Summen aber wurde immer leiser, bis es ganz aufhörte und nur noch das trillernde Vögelchen zu hören blieb, (http: / / www. internr-, et-maerchen.de/ maerchen/ peterchenl4 .htm, 12.12.04) (23) 1618 erschienen am Himmel drei Kometen, von denen die ersten zwei schnell wieder verschwanden, von denen aber der dritte lange Zeit am Himmel zu sehen blieb, (http: / / www. userpage.fu-berlin.de/ ~historyl/ bs/ jensd/ 16xx/ 1616 .htm, 12.12.04) Für Ereignisse, bei deren Ausdruck Wahmehmungsverben wie in (20)-(23) Verwendung finden, wird die Rolle des Experiencers anzunehmen sein, für den ein intentionales Handeln kaum in Frage kommt. Wir hätten es hier mit einem Gebiet zu tun, auf dem die Notwendigkeitslesart der bleiben-Vügmg von der Bedeutung des im zw-Infmitiv erscheinenden Verbs her regelhaft ausscheidet und die andere Lesart eintritt. In diesen (hier nicht genau abzusteckenden) Bereich wird auch haben als Ausdruck der Haben-Relation gehören (vgl. die bekannte Realisiemng der Können-Modalität bei sein + zu + haben): Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 211 (24) Das bleibt weiterhin zu haben. Ferner ist für bleiben-Fügungen mit Handlungsverb in Verbindung mit sollen in Fällen wie (25) eine Blockierung der Notwendigkeitslesart festzustellen, die durch den deontischen Modalverbgebrauch bedingt ist; eine Markierung der Notwendigkeit durch zwei gleichartige verbale Ausdrücke im selben Satz wird vermieden (Paraphrase: soll die Qualifikation (...) weiterhin erhalten werden können). Entsprechendes träfe für Fügungen in Koppelung mit deontisch verwendetem müssen zu. (25) Meisterbriefist Meisterbrief [Zwischenüberschrift] So soll die Qualifikation in der Spitze zu erhalten bleiben. „Es bleibt bei 94 Meisterberufen auch wenn in 53 davon seit dem 1. Januar der Meisterbrief keine gesetzliche Voraussetzung für die selbständige Berufsausübung mehr ist. Der Meisterbrief ist auch in Zukunft sowohl in den 41 Berufen mit Meisterpflicht, wie auch in den 53 zulassungsfreien Meisterberufen zu erwerben“, sagte Philipp auf einer ZDH-Pressekonferenz. (http: / / www. adf . de/ newsticker/ detail_prof i . html? id=97i-i 2www2.handwerk.de/ .../ RenderPage&pageid=10198n 3 0 90 94 01&docid=1032 36 03 3 554 9, 19.12.04) Hier liegt übrigens eine Parallele zum regelhaften Auftreten der Können- Modalität bei sein + zw-Infmitiv von Handlungsverben bei deontisch gebrauchtem müssen vor: Das muss zu erledigen sein. Hinzu kommen noch Konstruktionen mit Handlungsverb, in denen die Möglichkeitsbedeutung mit einer Einschränkung hinsichtlich der Durchführung der betreffenden Handlung im Zusammenhang steht. In (26) wird die eingeschränkte Besichtigungsmöglichkeit durch nur noch verdeutlicht; in (27) ist das eingeschränkte Retten-Können nur kontextuell erschließbar (in der gegebenen Situation ist nicht alles zu retten): (26) Viel Zeit haben wir nicht mehr, so dass uns bis zur endgültigen Dunkelheit nur noch die Stätte zu besichtigen bleibt, an der Goethe übernachtet hat. (http: / / www.uni-muenster.de/ Jura . cl/ r. s/ eughexOl. htm, 02.12.04) (27) Uber 8.000 Helfer des Roten Kreuzes aus dem gesamten Bundesgebiet sind im Einsatz. Sie arbeiten rund um die Uhr, um zu retten, was zu retten bleibt. (http: / / www.drk-alpirsr-i bach.de/ aktuell .htm, 09.12.04) 212 OddleifLeirbukt Für die dominante Modalitätsausprägung sei noch an folgendem mit (21) kontrastierenden Z>eo6ac/ zfew-Beispiel eine kontextuelle Festlegung aufgezeigt (hier handelt es sich um ein agentiv geprägtes Beobachten): (28) Am ehesten ist es zu akzeptieren, wenn mehrere Meerschweinchen den Lebensraum mit einem Kaninchen teilen, wobei immer kritisch zu beobachten bleibt, ob das Kaninchen nicht urplötzlich anfängt, die wesentlich schwächeren Partner zu tyrannisieren [...] (http: / / www.schulschweinchen.de/ grundsaetzliches .htm, 09.12.04) Für die Realisierung der Möglichkeitslesart außerhalb des Gebiets ihres lexikalisch determinierten Auftretens (wo eher wie oben angedeutet eine Experiencer-Rolle im Spiele ist) wird, worauf Belege wie (26) und (27) hindeuten, eine beschränkte Handlungsmöglichkeit auf Seiten einer intentionsbegabten Entität, die für eine Agens-Rolle im Rahmen des in der Konstruktion mit der bleiben-Vügung ausgedrückten Geschehens grundsätzlich in Frage kommt, einen wesentlichen Faktor darstellen. Dabei wäre es unerheblich, ob mögliches autonomes oder mögliches irgendwie extern bestimmtes Handeln vgl. (26) bzw. (27) eingeschränkt wird. Mit der reduzierten Handlungsmöglichkeit kontrastiert das nicht situativ eingeschränkte Handeln-Können, das sich sowohl mit der Vorstellung von extern bestimmtem Handeln und Notwendigkeit wie etwa in (28) verbinden lässt als auch mit der Vorstellung von autonomem Handeln und Möglichkeit wie in folgendem Beispiel (der Sprecher kommentiert eine geplante Besichtigung, die nicht durch einen fremden Willen bedingt oder sonstwie fremdbestimmt ist): (29) Das Schloss bleibt noch zu besichtigen. In Fällen wie (28) und (29) hätten wir es mit regelhaften Festlegungen der Notwendigkeitsvs. Möglichkeitslesart bei Wez'Z>e«-Fügungen mit Handlungsverb zu tun, die weitgehend mit denen vergleichbar sind, die Holl (2001) für sein + zw-Infinitiv herausgearbeitet hat. Mir geht es hier um seine Analyse der Rolle einer externen Instanz als entscheidendem Faktor für die Realisierung der Notwendigkeitslesart und der Nicht-Präsenz einer solchen Instanz bei Realisierung der Möglichkeitslesart (Holl 2001, S. 234f), wobei allerdings diese Momente im Bereich des konstruktionell determinierten Ausscheidens der Notwendigkeitslesart der bleiben-¥ügung vgl. (25) m.E. nicht zum Tragen kommen. Auf eine Auseinandersetzung mit Holls Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 213 Grundidee, dass die modale Bedeutung des so genannten modalen Infinitivs im Wesentlichen auf den zi^-Infmitiv zurückzuführen ist, muss hier verzichtet werden. 4. Zur zeitlichen Situierung von Modalität und modalisiertem Ereignis Der Terminus „Ereignis“ (parallel zu engl, „event“) dient in dieser Arbeit als Sammelbezeichnung für willentliches Tun und Vorgänge (etwa perzeptive Prozesse), bei denen Agentivität nicht oder nur sehr beschränkt vorhegt. Mit Bezug auf das in Konstruktionen mit der bleiben-Yügung ausgedrückte „willkürliche Tun“ bemerkt Engel (1988, S. 479), dass es „im Zeitpunkt des Erforderlich-Seins noch aussteht“. Diese Angabe fehlt in der Neubearbeitung der Grammatik (Engel 2004), ist aber nach wie vor von Interesse, auch wenn sie der Korrektur bedarf. Hier wäre u.a. zu berücksichtigen, dass die genaue Lokalisierung zum Teil von der Art des im zw-Infmitiv begegnenden Verbs abhängt; so kommt beispielsweise bei abwarten Nachzeitigkeit der Handlung regelhaft zum Ausdruck, während sich die Handlung etwa bei danken mit der Notwendigkeit zeitlich überschneiden kann (s.u.). Für die Situierung werden auch temporale Adverbiale vgl. z.B. noch in (10) ~ eine Rolle spielen, was sich aber hier nicht näher untersuchen lässt. Es sind verschiedene Konstellationen anzutreffen: Einmal kann die Notwendigkeit gegenwarts-Zzukunftsbezogcn sein (d.h. schon im Sprechzeitpunkt bestehen), während die Handlung in der Zukunft hegt, vgl. z.B. (10). Zum anderen können Notwendigkeit und Handlung bei temporaler Überlappung gegenwartssowie zukunftsbezogen sein, typischerweise in generalisierenden Aussagen, wo es um Iterativität (sich wiederholende Ereignisse) geht. Vgl. etwa (4) und folgenden Beleg: (30) Es bleibt zu berücksichtigen, dass der Handlungsrahmen des [Bundes-jLanofas [in der Nachhaltigkeitspolitik] zunehmend von der Europäischen Union bestimmt wird. (http: / / www. umdenken. de/ ab2001/ ab0015 . htm, 07.12.04) In vergleichbarer Weise können sich die Modalität des Könnens und das modalisierte Ereignis, wie in (20) belegt, zeitlich überschneiden. Ferner können sich Notwendigkeit und Handlung beide auf die Gegenwart beziehen, und zwar bei performativem Gebrauch des im zw-Infmitiv auftretenden Verbs; vgl. z.B. (11) und folgenden Beleg (wo die We/ öe«-Passage das Ende des Textes bildet): 214 OddleifLeirbukt (31) Trotz wahrscheinlich unbeabsichtigter Nähe zum zeitgleich außerhalb der Opernhäuser tobenden Karneval (mit Ausnahme der Oper Köln) bleibt der Deutschen Oper in Berlin-Charlottenburg für ihre Produktion eines viel zu selten zu erlebenden Werkes [„Die tote Stadt“] zu danken, dem freilich mehr gedient gewesen wäre, wenn mehr Substanz statt Farbe geliefert worden wäre, (http: / / www.omm.de/ veranstaltungen/ musiktheater20032004 / Bdo die tote - Stadt . html, 27.09.04) Im Vergangenheitsbereich schließlich liegen (bei Unterschieden im Einzelnen) erwartbare Parallelen zu den etwa an (10) und (30) illustrierten Situierungsmöglichkeiten vor. Das modalisierte Ereignis kann wie in (32) relativ zur Modalität nachzeitig sein oder auch vgl. (33) und (34) mit ihr zusammenfallen (bei variierender Ausdehnung der Zeitspanne der Überlappung): (32) Um den Einfluss wegen Durchmesserdifferenzen zu eliminieren, legte Wild die Achse des Zahnrades waagrecht und führte die beidseitig angebrachten Zylinderzapfen in je einem Yförmigen Lager. Damit war eine spielfreie Auflage garantiert. Zu beseitigen blieb indessen noch der Einfluss einer Abweichung der Zylinderzapfen von einem exakt kreisförmigen Querschnitt. (http: / / www.geomatik.ch/ Zeitschrift/ VPKOm L_dosgesch.html, 16.01.05) (33) Die wenigen Angriffsbemühungen der Ahlener wurde [sic] bereits im Keim erstickt, zeigten aber auch, dass mit der Heimmannschaftjederzeit zu rechnen blieb, (http: / / www .Aleman nnia-aachen.de/ dyn/ spielbericht_detail.asp? IDnD = 56,08.12.04) (34) Greive betont [...] auch, daß trotz aller Versuche, sich von einer rein religiösen Argumentation in der Ablehnung der Juden zu lösen und damit eine neuartige antijüdische Bewegung zu schaffen, weiterhin eine Anknüpfung an Befangenheiten und Animositäten des alten religiösen Gegensatzes“ [...] deutlich zu erkennen blieb, (http: / / www.fachpublikationen.de/ dokumente/ 01/ 06/ 01006.html, 09.12.04) Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 215 5. Konstruktionen mit der bleiben-Fügung und solche mit sein + zw-Infinitiv - Unterschiede und Gemeinsamkeiten Ein erster formal greifbarer Unterschied gegenüber sein (im Rahmen der fraglichen Fügung) betrifft die morphologische Variation. In meinem Material kommen von bleiben der Indikativ Präsens, der Indikativ Präteritum, der Konjunktiv Präteritum (s.o.) sowie der Indikativ Futur I vgl. (35) vor. Darüber hinaus ließe sich würde + Infinitiv Präsens relativ leicht bilden, während die entsprechende Fügung mit Infinitiv Perfekt zwar denkbar, aber sicherlich marginal ist, vgl. (36). (35) Es wird zu beobachten bleiben, wie die Präsidentenpartei ihre Zweidrittelmehrheit nutzt, (http: / / www. blaetter. de/ aeltere/ kommenta/ pert0797 . htm, 10.12.04) (36) Dann würde aber noch eine ganze Menge zu erledigen bleiben/ zu erledigen geblieben sein. Engel (1988, S. 479) bildet das folgende (sicher akzeptable) Beispiel für den Konjunktiv Plusquamperfekt (ein ähnliches Beispiel bei Engel 2004, S. 253): (37) Die Vorlage wäre zu diskutieren geblieben. und bemerkt dazu (ähnlich Engel 2004, S. 253): „Perfektformen dieses Modalitätsverbs kommen selten vor.“ Ich kann weder perfektische Indikativ- oder Konjunktivformen (ist/ sei zu erledigen geblieben) noch plusquamperfektische Indikativformen {war zu erledigen geblieben) belegen, würde aber eine prinzipielle Bildbarkeit nicht ausschließen. Insgesamt gesehen dürfte bleiben in Verbindung mit zw-Infinitiv eine etwas geringere morphologische Variation aufweisen als sein. Unter dem Aspekt der syntaktischen Reichweite kann festgestellt werden, dass die bleiben-Vügwng (wie oben angedeutet) Intransitiva ohne Objekt nicht zulässt, d.h. stärkeren Vorkommensbeschränkungen unterliegt als die sc/ n-Fügung (für deren großes Verwendungsgebiet vgl. z.B. Höhle 1978, S. 46f. und 5Iff), wie etwa folgende Beispiele zeigen: (38) *Da bleibt nicht mehr durchzukommen, {sein hier völlig normal) (39) * Vorläufig bleibt zu Fuß zu gehen, {sein hier völlig normal) 216 OddleifLeirbukt Andererseits ist eine Reihe konstruktioneller Gemeinsamkeiten zu konstatieren: Die Regularitäten der Kohärenz und Klammerbildung vgl. etwa (1) bzw. (4) korrespondieren natürlich mit bekannten Erscheinungen bei Konstruktionen mit sein + zw-lnfmitiv {worauf unten einzugehen ist daraufist unten einzugehen). Ferner lässt sich die bleiben-Vügung vgl. z.B. (6) analog zu sein + zw-lnfmitiv {Abzuraten ist auch von ...) als Ganzes frontieren. Bei solcher Platzierung des Verbalsyntagmas ist die in (6) belegte Nichtsetzung des finiten bleiben direkt parallelisierbar mit entsprechender Behandlung des finiten sein {Abzuraten ist von größeren Mengen insbesondere kalter Getränke ...; abzuraten auch von üppigen Spätmahlzeiten ...). Hinzu kommt die parallele Verwendung des expletiven es bei Konstruktionen mit der bleiben-Yügung vgl. (7) - und solchen mit sein in Verbindung mit zw-lnfmitiv {Es istferner daran zu erinnern, dass ...). Eine sehr zentrale semantische Verwandtschaft zwischen Konstruktionen mit der bleiben-Vüguxvg und solchen mit sein + zw-Infinitiv liegt natürlich in der passivischen Bedeutung und der häufigen Nicht-Nennung des Agens, wobei diese Größe bei den ersteren Bildungen möglicherweise noch seltener Ausdruck findet. In diesem Zusammenhang sei auch angemerkt, dass die etwa in (26) belegte Agens-Kodierung durch eine Dativphrase (vgl. Höhle 1978, S. 50 und Pape-Müller 1980, S. 178f.) bei sein + zw-lnfmitiv ausscheiden wird. Die Dativphrase wird sicherlich durch das auxiliar gebrauchte bleiben selegiert, das sich dadurch wesentlich vom fraglichen sein unterscheidet; für Letzteres ist (jedenfalls im heutigen Deutsch) eine Agensphrasen-Selektion nicht ansetzbar. Die Selektionsfähigkeit dieses bleiben entspricht übrigens der von bleiben in Verbindung mit satzwertigem Infinitiv wie in (40) (sowie der von bleiben etwa in Nur das ist ihm geblieben.) und ist ein Indiz dafür, dass die bleiben-Fügxxng ein weniger fest gefügtes Syntagma darstellt als sein + zw-lnfmitiv. (40) Leider werde ich mir kein direktes Bild von dem Event machen können, so dass mir nur noch bleibt, Euch viel Erfolg und Spass [sic] bei der Ausrichtung zu wünschen, (http: / / www.baublog.twoday.net/ stories/ 23 5 03 8/ ,02.11.04) Über die semantischen Eigenschaften der im zw-lnfmitiv der bleiben-Vügung erscheinenden Verben und ihrer vom Aktiv aus charakterisierbaren Objekte lassen sich von meinem Material her nur ein paar allgemeinere Angaben machen. Die subjektlosen Konstruktionen scheinen analog zu subjektlosen Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 217 Konstruktionen mit der se/ n-Fügung (Dem ist noch zu helfen.) auf Handlungsverben beschränkt zu sein, wobei solche mit abstrakter Bedeutung und Objekten entsprechender Natur dominieren (Ausnahmen wären etwa danken oder gratulieren, vgl. Kap. 2.). Bei den subjekthaltigen Sätzen wird für die bleiben-Vügung eine geringere Variation der lexikalischen Füllung - und damit auch der Bedeutung der infinitivischen Komponente anzunehmen sein als für die xem-Bildung. Was das Subjekt betrifft, so ist der Annahme von Höhle (1978, S. 49), dass dieses Element (bzw. das korrespondierende Objekt des Aktivsatzes) semantisch nicht beliebiger Art sein kann, grundsätzlich zuzustimmen. Man wird feststellen dürfen, dass das Subjekt in Sätzen mit sein + zw-Infmitiv insgesamt gesehen eine größere Bedeutungsvariation aufweist als in solchen mit der bleiben-¥üg\mg, wo es zumeist abstrakter Natur ist. Aus Höhles Bewertung bestimmter Konstruktionen „mit Konkretum als Subjekt“ z.B. weil noch Straßenbäume zu beseitigen bleiben als „unakzeptabel“ (ebd.) ergibt sich aber keine generelle Restriktionsregel. Eine nähere (hier nicht durchzuführende) Untersuchung der semantischen Eigenschaften der mit der bleiben-Vügung kookkurrierenden Subjekte erscheint erforderlich im Hinblick etwa auf die Kombination Wahmehmungsverb + Konkretum wie in (20) oder folgenden entfernen-Bdeg: (41) Der Zahn der Zeit hat natürlich daran [an der Laterne] herumgenagt und einiger Rost bleibt noch zu entfernen, (http: / / www . germancgi . de / diskussionsf orum / infoforum/ messages/ 77 .html - Zusätzliches Ergebnis -, 17.12.04) Endlich sei unter dem Aspekt der Modalität festgehalten, dass die Bedingungen für die Notwendigkeitsbzw. Möglichkeitslesart bei der bleiben-Vügung in hohem Maße jenen bei sein + zw-Infinitiv entsprechen. 6. Die bleiben-Fügung im System der grammatischen Ausdrucksmittel für passivische Bedeutung Zur Abrundung möchte ich versuchen, die bleiben-Fügung in den größeren Zusammenhang des Repertoires grammatischer Mittel zum Ausdruck passivischer Bedeutung zu stellen. Dabei würde ich von der engen semantischen Verwandtschaft von bleiben und sein ausgehen: Gegenüber sein kommt bei bleiben nur das kontinuative Moment hinzu; man könnte m.a.W. ‘sein’ + ‘kontinuativ’ als Bedeutungscharakteristik festhalten. Diese semantische Nähe besteht beim kopulativen Gebrauch dieser Verben wie auch bei ihrer Kombination mit zw-Infinitiv und Partizip II in passivischen Syntagmen. 218 OddleifLeirbukt Für den letztgenannten Syntagmentyp mit sein ist zu konstatieren, dass er nicht nur in subjekthaltigen, sondern auch in subjektlosen Konstruktionen auftritt (vgl. Leirbukt 1983, dort auch folgender Beleg): (42) War abgeklopft, dann packten die Soldaten ihre Instrumente ein undfuhren [...] in die Kaserne zurück. Das passivische Syntagma bleiben + Partizip II ist zum allergrößten Teil in subjekthaltigen Sätzen anzutreffen: Das Museum bleibt heute geschlossen. Es ist aber auch ein subjektloser Konstruktionstyp bildbar (der möglicherweise auf Verben wie öffnen und schließen beschränkt bleibt): (43) Hier bleibt vorerst geöffnet/ geschlossen. Unter dem Gesichtspunkt der Konstruktionsverwandtschaft mit partizipialen sein- und We/ 6e«-Bildungen als analytischen Passivformen wäre bleiben in seinem Verhältnis zu sein innerhalb der passivischen Infinitivfügung grundsätzlich vergleichbar mit bleiben vis-ä-vis sein innerhalb der zusammengesetzen Passivform: bleiben steht jeweils in Opposition zu sein, vgl. ist zu erledigen/ nachzugehen : bleibt zu erledigen! nachzugehen ist ausgeklammert : bleibt ausgeklammert. (Das letztere Nebeneinander findet sich wenn auch sicherlich vereinzelt auch bei subjektlosen Sätzen: {hier) ist geöffnet: bleibt geöffnet, s.o.) Durch diese Oppositionen wird in der Dimension der Aktionalität differenziert, wobei das zweite Glied die Spielart der Kontinuativität (Intransformativität) markiert. Diese Aktionalitätsart kennzeichnet also nicht nur Verben wie bleiben (in kopulativer Verwendung) oder behalten, sich erhalten u.dgl., sondern kommt auch im Bereich der durch Kohärenz charakterisierten Verbalsyntagmen mit infinitem Bestandteil zum Ausdruck. Dementsprechend ist sie neuerdings bei Eroms (2000, S. 394) in ein auf partizipiale Bildungen zugeschnittenes Schema der Passivdiathesen des Deutschen integriert worden. Die im Verbalsyntagma des Typs bleiben + Partizip II auf ökonomische Weise mit passivisch-zuständlicher Bedeutung verbundene Kontinuativität findet (wie oben gezeigt) im Bereich der passivnahen Konstruktionen mit auxiliar verwendetem Verb + zw-Infmitiv eine systematische Entsprechung: Der zustandsbezogenen Kontinuativität von bleiben in Verbindung mit Partizip II korrespondiert in der modalen Dimension die Kontinuativität der in der bleiben-Vügung ausgedrückten Notwendigkeit bzw. Möglichkeit. Im letzteren Syntagma werden mithin passivischprozessuale Bedeutung und kontinuativ gefasste Modalität in kompakter Weise miteinander verbunden. Bemerkungen zur passivischen Fügung bleiben + Infinitiv mit zu 219 In Bezug auf den Grad der Integration im System grammatischer Ausdrucksmittel für passivische Bedeutung nimmt die bleiben-Vügxmg eine Mittelstellung zwischen sein + zw-Infinitiv einerseits und beispielsweise gehen/ stehen + zw-Infinitiv andererseits ein. Unter diesem Aspekt wäre an die Bemerkung von Fiedler (1976, S. 346) anzuknüpfen, dass die Syntagmen aus bleiben und stehen + zw-Infmitiv gegenüber sein + zw-Infmitiv einen „zunehmend lexikalisch-idiomatischen Charakter“ zeigen (womit wohl abnehmende Bildbarkeit gemeint ist), ebenfalls an den Hinweis etwa von Pape-Müller (1980, S. 181), dass stehen bei einer ganz kleinen Gruppe abstrakter Verben vorkommt. Ferner ist die bekannte Beschränkung von gehen auf die Möglichkeitslesart aussagekräftig. Die Syntagmen mit diesen beiden Verben sind im fraglichen System insgesamt gesehen bedeutend schwächer integriert als die bleiben-Vügmg. Zur ge/ zen-Fügung sei noch angemerkt, dass sie anders als die bleiben-¥ügung einer prinzipiellen Beschränkung auf transitive Verben zu unterliegen scheint. Einige Bildungen mit intransitivem Verb + Objekt könnten allerdings als nicht völlig inakzeptabel gelten (über „? “ und „*“ ließe sich bei den folgenden Beispielen streiten): (44) *Dem geht nicht mehr zu danken. (45) 7Dem geht noch zu gratulieren. (46) IDaran gehtfestzuhalten. (47) *Über das Aufstellen weiterer Container geht noch nachzudenken. Auch wenn es mehr oder weniger akzeptable subjektlose Konstruktionen mit dieser ge/ zew-Fügung geben sollte, wäre insgesamt festzustellen, dass sie eine geringere syntaktische Reichweite hat als die bleiben-¥üg\xng. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Akzeptabilitätsunterschied etwa zwischen den cfa/ zfezz-Beispielen (16) und (44) oder den ^/ eV/ za/ tezz-Beispielen (12) und (46) von nicht geringem Interesse. Zu den Unterschieden gegenüber gehen und stehen + zzz-Infinitiv gesellt sich eine noch klarere semantische und vorkommensmäßige Differenz der blei- Zzezz-Fügung zur passivisch-epistemischen Fügung scheinen + zzz-Infinitiv, für die sich im umfangreichen Korpus von Askedal (1998) nur drei Belege finden (gegenüber zahlreichen Vorkommen von nicht-passivischem, epistemischem scheinen + zzz-Infinitiv): 220 OddleifLeirbukt (48) Er schien nicht zu beruhigen. (Beispiel von Brinkmann 1971, S. 364) Die besprochenen Analogien der bleiben-^ügxmg zu sein + zw-Infmitiv (einschließlich des Wechsels von Notwendigkeits- und Möglichkeitslesart) und die konstatierten Differenzen gegenüber den passivischen Fügungen gehen! stehen! scheinen + zw-Infmitiv weisen auf unterschiedliche Stufen in einem Grammatikalisierungsprozess hin. Über dessen Ablauf werden erst unter Einbezug diachroner Daten sichere Erkenntnisse zu gewinnen sein. Da verlässliche Daten dieser Art nicht vorliegen, möchte ich mich mit einer Vermutung über den Hintergrund der stärkeren Integration der bleiben- Fügung gegenüber den letztgenannten Infinitivbildungen im System der grammatischen Ausdrucksmittel für passivische Bedeutung begnügen: Für bleiben ließe sich im Hinblick auf die semantische Nähe zu sein und die verhältnismäßig vage Grundbedeutung ein günstigerer Ausgangspunkt für die Entwicklung auxiliärer Funktion im Passivbereich annehmen als für die drei anderen Verben, die speziellere Grundbedeutungen haben. Für scheinen ist allerdings als besonderer, hemmender Faktor für eine solche Entwicklung die Spezialisierung in epistemischer Richtung bei aktivischen wie nichtaktivischen Konstruktionen in Rechnung zu stellen (für diese Spezialisierung vgl. Diewald 2001). 7. Schlussbemerkung Die obigen Ausführungen stützen sich auf zufällig zusammengetragenes empirisches Material und können daher nur unter sprachsystematischem Aspekt Gültigkeit beanspruchen. Die Art der in der bleiben-Fügung möglichen Verben war nur partiell zu klären, und zur kommunikativen Verwendung dieser Fügung beispielsweise in Hinsicht auf besondere Akzeptanz oder das Gegenteil in verschiedenen Textsorten konnte nichts gesagt werden. Eine Klärung dieser Fragenkreise, die die vollständige Auswertung eines hinreichend umfangreichen und adäquat Zusammengesetzen Korpus voraussetzt, muss späteren Untersuchungen überlassen bleiben. 8. Literatur Askedal, John Oie (1987): Syntaktische Symmetrie und Asymmetrie im Bereich der passivischen Fügungen im Deutschen. In: Centre de Recherche en Linguistique Germanique (Nice) (Hg.): Das Passiv im Deutschen. Akten des Kolloquiums über das Passiv im Deutschen, Nizza 1986. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 183). S. 17-49. 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Einleitung Reflexivkonstruktionen sind ein Dauerbrenner der neueren linguistischen Forschung und so überrascht es nicht, wenn auch die Jubilarin dieser Festschrift (vgl. Zifonun et al. 1997, Zifonun 2003) einige Flolzscheite in dieses Feuer legte, das wir mit der Herausarbeitung einiger Aspekte im Bereich der medialen Reflexivkonstruktionen weiter schüren möchten. Eine Einteilung der Verwendungsweisen von sich in mindestens drei Klassen ist in der neueren Forschung spätestens seit der Arbeit von Reis (1981) etabliert: (1) Anaphorische Konstruktionen: Max kritisiert sich häufig. (2) Medialkonstruktionen: a. Das Rad dreht sich, (ohne Adverbial) b. Das Rad dreht sich mühelos, (mit obligatorischem Adverbial) (3) Lexikalisierte Fälle: Max schämt sich. Neben anaphorischen Konstruktionen werden wir Medialkonstruktionen ohne Adverbial (MK) und Medialkonstruktionen mit obligatorischem Adverbial (MKA) näher betrachten. Lexikalisierte Fälle wie Max schämt sich klammern wir aus, da solche Prädikate keine nicht-reflexive Valenzvariante haben. Bei der Analyse der Medialkonstruktionen folgen wir der bisherigen Forschung in der allgemeinen Annahme, dass sie bestimmten Restriktionen hinsichtlich der semantischen und syntaktischen Argumentselektion unterliegen, nicht jedoch in der spezifischeren Annahme, der zufolge dem Subjekt einer Medialkonstruktion die semantische Rolle des Objekts der entsprechenden nicht-medialen Konstruktion, z.B. Patiens, zugewiesen wird (vgl. u.a. Haider 1985, Abraham 1995, Zifonun et al. 1997, Steinbach 2002a, 2002b, Kaufmann 2003, 2004, Eisenberg 2004). Wir werden empirische und konzeptionelle Argumente gegen diese Auffassung Vorbringen und eine alternative Analyse vorschlagen, die im Rahmen einer modifizierten Fassung des Proto-Rollenansatzes von Dowty (1991) theo- 224 Beatrice Primus / Jessica Schwamb retisch fundiert ist (vgl. Primus 1999, 2004, i.E.). Zu den empirischen Problemen alternativer Auffassungen gehören die Annahme eines impliziten Agens, auf den sich das Adverbial in (2b) bezieht, sowie die Lesart dieses Adverbials. Die konzeptionellen Probleme betreffen die einfaktorielle semantische Rollenkonzeption sowie die Tatsache, dass die Wahl eines Reflexivums als Markierung medialer Lesarten nicht adäquat erklärt werden kann. Unsere Lösung setzt eine multifaktorielle Rollenkonzeption und zwei Parameter der rollensemantischen Information voraus: kausale Dependenz und Involviertheit. Unsere These ist, dass sich das Subjekt einer Medialkonstruktion vom Subjekt der entsprechenden Grundvalenzvariante nicht hinsichtlich seiner Einbettung in der Kausalstruktur unterscheidet, sondern nur hinsichtlich seiner rollensemantischen Involviertheit. Ferner nehmen wir an, dass eine Medialkonstruktion rollensemantisch einstellig ist und keine Proto-Patiensrolle aulweist. Im Rahmen der hier vertretenen Rollenkonzeption kann das Subjekt einer Medialkonstruktion als Proto-Agens ausgewiesen werden, wodurch nicht nur die o.g. empirischen Probleme umgangen werden können, sondern eine einheitlichere Analyse des Reflexivums ermöglicht wird. 2. Kausale Dependenz und Involviertheit Der Ansatz von Dowty (1991) kommt mit genau zwei multifaktoriellen Rollen-Prototypen, Proto-Agens und Proto-Patiens, aus. Diese definiert Dowty durch zwei verschiedene Mengen von Folgerungen, die durch die Bedeutung eines Verblexems ausgelöst werden. Solche Folgerungen beinhalten grundlegendere Relationen zwischen einem in der semantischen Valenz verankerten Partizipanten und der vom Verb bezeichneten Situation bzw. einem Teilaspekt dieser Situation, z.B. eine physische Veränderung eines anderen Partizipanten. Diese Relationen werden im Folgenden Basisprädikate genannt. Die wichtigsten Basisprädikate für Proto-Agens (x) und Proto-Patiens (y) sowie ihre formale Notation listet (4) auf: (4) Proto-Agens (x) und Proto-Patiens (y) a. Kausale Dependenz x verursacht s bzw. einen Aspekt von y in s CAUSE(x,s[y]) Involviertheit b. x kontrolliert s bzw. einen Aspekt von y in s ctrl(x,s[y]) Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 225 c. x ist physisch aktiv in s bzw. manipuliert y in s phys(x,s[y]) d. x hat einen spezifischen psychischen Zustand in s bzw. in Bezug auf y in s exp(x,s[y]) poss(x,s[y]) e. x verfugt über y in s Die grundlegenderen Begriffe, nicht jedoch ihre formale Notation, sind mit denen, die Dowty für den Proto-Agens auflistet, weitgehend identisch, neu hinzugekommen ist lediglich die Besitzrelation in (4e). Die Notation P(x,s[y]) besagt, dass ein Basisprädikat P zwischen dem ersten Partizipanten x und der vom Verb bezeichneten Situation s sowie einem gegebenenfalls vorhandenen zweiten Partizipanten y in s eine Relation stiftet. Die Konzeption der Unterscheidung zwischen Proto-Agens und Proto-Patiens und der Basisprädikate, die unter Proto-Patiens fallen, entfernt sich dabei von der Dowtys. Dowty trennt Proto-Agens von Proto-Patiens durch partiell unterschiedliche grundlegendere Begriffe. So haben Bewegung und psychischer Zustand vonseiten des Proto-Agens keine Entsprechung beim Proto-Patiens. Im vorliegenden Modell werden beide Proto-Rollen durch dieselben Konzepte charakterisiert. Die grundlegende Unterscheidung ist durch den Begriff der kausalen Dependenz in (4a) erfasst und in (4b)-(4e) durch verschiedene Basisprädikate, die unterschiedliche Typen von Involviertheit repräsentieren, näher spezifiziert. Kausale Dependenz bedeutet im vorliegenden Ansatz, dass eine Proto- Patiensrolle notwendigerweise eine entsprechende Proto-Agensrolle einseitig impliziert und somit von dieser semantisch abhängig ist. Das erste Argument dieser Kausalstruktur x in (4a)-(4e) ist stets ein Proto-Agens, von dem falls vorhanden ein zweites Argument y als Proto-Patiens abhängt. Die unterschiedlichen Ausprägungen von Proto-Agens und Proto-Patiens ergeben sich dadurch, dass die Kausalstruktur inhaltlich unterschiedlich spezifiziert wird durch rollensemantische Begriffe, die auch Dowty für Proto-Agens verwendet. Diese werden als Parameter der Involviertheit aufgefasst (vgl. Primus 2004, i.E. für eine nähere Begründung). Der kausale Dependenzbegriff kann anhand der Basisprädikate Bewegung und psychischer Zustand illustriert werden. In der Situation, die durch den Satz Hans rollte die Kugel bezeichnet wird, bewegen sich beide Partizipanten, aber nur die Bewegung von Hans ist kausal unabhängig von der Bewegung der Kugel. Deren Funktion als Proto-Patiens ergibt sich daraus, dass 226 Beatrice Primus / Jessica Schwamb ihre situationsspezifische Bewegung nicht ohne Hans zustande gekommen wäre. Ferner ist auch das Zustandekommen der spezifischen Situation, die das Verb denotiert, das Ereignis des Rollens in unserem Beispiel, von den neurophysiologischen und physischen Vorgängen des Proto-Agens-Referenten abhängig, ln der Situation, die durch Peter sieht Maria bezeichnet wird, fungiert Peter als Proto-Agens, weil das Zustandekommen der verbspezifischen visuellen Wahmehmungssituation und Marias Rolle als visuelles Wahmehmungsobjekt abhängig ist von Peters neurophysiologischen Vorgängen. Zu beachten ist dabei, dass der hier verwendete kausale Dependenzbegriff allgemeiner ist als der Kausalitätsbegriff, den man bei Dowty und in der einschlägigen Forschung üblicherweise findet. Die rollensemantische Trennung zwischen kausaler Dependenz und Involviertheit ist syntaktisch sprachenübergreifend in erster Linie dadurch motiviert, dass die kausale Dependenzstruktur auf die strukturell-topologische Argumenthierarchie ikonisch abgebildet wird, während der rollensemantische Involviertheitstyp die zentrale Eingabebedingung für die Kasusselektion darstellt (vgl. Primus 1996, 1999, 2004, i.E.). Die strukturelle Argumentselektionsbeschränkung besagt, dass ein Proto-Agens-Argument unabhängig von der Art seiner Involviertheit strukturell höher eingebettet ist als ein Proto-Patiens-Argument, falls keine andere höherrangige strukturelle Beschränkung interveniert. Ob einem Proto-Agens in einer Nominativsprache der Nominativ zugewiesen wird, hängt von der Art und dem Grad seiner Involviertheit ab, falls keine übergeordnete Beschränkung diesen Faktor neutralisiert (vgl. ich arbeite mit einem kontrollierenden, physisch aktiven Proto- Agens vs. mir ist kalt mit einem lediglich wahmehmenden Proto-Agens). Unser Ansatz sagt voraus, dass sich reihenbildende Verblexemvarianten in den einzelnen rollensemantischen Dimensionen kausale Dependenz oder Involviertheit voneinander unterscheiden können. Eine Veränderung der kausalen Dependenz oder ihrer strukturellen Kodierung geht mit einer semantischen oder syntaktischen Restrukturierung der Argumente einher. Unsere Hypothese ist, dass bei Medialkonstruktionen weder eine rollensemantische noch eine syntaktische Restrukturierung der Argumente stattfindet. Das Subjekt einer Medialkonstruktion unterscheidet sich vom Subjekt der entsprechenden Grundvalenzvariante nicht hinsichtlich seiner Einbettung in der Kausalstruktur, sondern nur hinsichtlich seiner rollensemantischen Involviertheit. Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 227 3. Reflexivkonstruktionen 3.1 Anaphorische Reflexivkonstruktionen Wenden wir uns zunächst den Konstruktionen mit anaphorischem Reflexivum zu, vgl. (5): (5) Max kritisiert sich (selbst). Entsprechend den theoretischen Annahmen im vorherigen Abschnitt kann diese Konstruktion wie in (6) analysiert werden: (6) Kausalrahmen: CAUSE(x,s[y]) Involviertheit: ctrl(x,s[y]) phys(x,s[y]) exp(x,s[y]) [geh, anaph] Der Kausalrahmen enthält zwei Argumentvariablen. Die Variable x steht tur den rollensemantisch unabhängigen Proto-Agens, von dem y als Proto-Patiens rollensemantisch abhängt. Über die Basisprädikate Ctrl, phys und exp, die den Kausalrahmen spezifizieren, sind beide Argumente maximal im vom Verb denotierten Geschehen involviert. Damit haben die anaphorische und die nicht-reflexive Konstruktion (z.B. Max kritisiert Thomas) denselben rollensemantischen Valenzrahmen. In der reflexiven Verwendung eines Prädikats muss die anaphorische reflexive Beziehung zwischen zwei Argumenten spezifiziert werden. Wir wählen unter mehreren plausiblen Alternativen (vgl. Zifonun 2003) aus rein praktischen Gründen das privative Merkmal [geb], ohne andere Merkmalsanalysen, die für andere Zwecke besser geeignet sein mögen, präjudizieren zu wollen. 1 Aus der Bindungstheorie ist vorhersagbar, dass dieses Merkmal die Existenz von zwei syntaktischen Argumenten x und y voraussetzt und nur am zweiten Argument y durch ein geeignetes Lexem, im Deutschen sich, realisiert werden kann. Diese Ableitung soll im Folgenden durch den Rückgriff auf die Bindungstheorie erläutert werden. i Eine zusammenfassende Diskussion über die Leistung privativer Merkmale gegenüber Merkmalen mit binären Werten (+) und (-) findet man mit Bezug auf die Phonologie in Steriade (1995). 228 Beatrice Primus / Jessica Schwamb In Einklang mit neueren Arbeiten zur Bindungstheorie gehen wir nicht mehr von einem einheitlichen Anaphemkonzept aus, sondern von verschiedenen Reflexivierungsstrategien (vgl. besonders Everaert 2003, Zifonun 2003), die verschiedene semantische und syntaktische Lizensierungsbedingungen haben können. Wir unterscheiden mindestens die folgenden Typen von Lizensierungsbedingungen, wobei einige Bedingungen wie z.B. die Domänenbeschränkungen nur angedeutet werden, weil sie im Folgenden nicht zur Debatte stehen. (7) Semantische Beschränkungen: a. Das Element hat kein eigenständiges Denotat (semantische Defektivität). b. Das Element übernimmt das Denotat eines anderen sprachlichen Ausdrucks, der als semantisches Antezedens fungiert (‘Koreferentialität’, ‘referentielle’ Abhängigkeit). 2 Strukturelle Antezedensbeschränkungen: c. Das Antezedens c-kommandiert das Element. 3 d. Das Antezedens ist in der rollensemantischen Argumentstruktur des Prädikats dem Element übergeordnet. 4 e. Das Antezedens ist in der Kasushierarchie des Prädikats Nominativ > Akkusativ > Dativ dem Element übergeordnet. 5 Lokalitätsbeschränkungen: f. Es gibt ein Antezedens innerhalb einer bestimmten lokalen Domäne (als Ko-Argument einer Prädikation, innerhalb eines finiten Satzes, etc.). Die strukturellen Antezedensbeschränkungen (7c-e) haben jeweils stärkere Varianten, die für unsere Zwecke einschlägig sind: 2 Die semantische Abhängigkeit einer echten Anapher bezieht sich nicht nur auf referentielle Lesarten, sondern auch auf nicht-referentielle (vgl. Die Firma hat vergeblich eine Sekretärin gesucht, die sich schnell einarbeiten kann). Aus diesem Grund haben wir den Denotatsbegriff bemüht und die in der Literatur üblichen Termini ‘Koreferentialität’ und ‘referentielle’ Abhängigkeit in Gänsefüßchen gesetzt. 3 Vgl. hierzu bereits die frühesten Versionen der Bindungstheorie der generativen Grammatik (Chomsky 1981, Reinhart 1983). 4 Vgl. die rollensemantischen Bindungsbeschränkungen in Jackendoff (1972), Dixon (1994). 5 Vgl. für kasuelle Beschränkungen Grewendorf (1984), Primus (1989), Pollard/ Sag (1994), Steinbach (2002a). Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 229 c'. Das Antezedens ist ein strukturelles Subjekt. d'. Das Antezedens ist ein Proto-Agens (vgl. Gunkel 2003). e'. Das Antezedens ist ein Nominativsubjekt. Wir gehen davon aus, dass einige dieser Beschränkungen im Sinne der Optimalitätstheorie, d.h. unter bestimmten Wettbewerbsbedingungen, verletzbar sind, was uns im Folgenden jedoch nicht näher beschäftigen wird. Von einer anaphorischen Reflexivierung sprechen wir nur dann, wenn sie der semantischen Antezedensbedingung (7b) unterliegt. In solchen Lesarten trägt die Konstruktion die Merkmale [geb, anaph], wie in (6) weiter oben angegeben. Dadurch ist gewährleistet, dass neben den anderen Bindungsbeschränkungen auch die Bedingung (7b) zum Zuge kommt. Dabei nehmen wir an, dass das Reflexivum im Deutschen das Merkmal [geb] trägt und für anaphorische Lesarten unterspezifiziert ist, was wir durch das Fehlen des privativen Merkmals [anaph] in seinem Lexikoneintrag erklären. Das Merkmal [geb] garantiert, dass das Reflexivum gebunden sein muss. Aus den Antezedensbeschränkungen folgt für semantisch zweistellige Prädikate ohne weitere Zusatzannahme dass dieses Reflexivum nur an der Valenzstelle 7 realisiert werden kann. Nur in dieser Funktion ist gewährleistet, dass die Anapher ein geeignetes, d.h. alle Lizensierungsbedingungen erfüllendes Antezedens hat. Damit ist ein Koindizierungsmechanismus überflüssig. Die Bedeutungsrepräsentation von Prädikaten höherer Stelligkeit, wie z.B. überlassen, enthält nur zweistellige Basisprädikate, so dass bei einer objektbezogenen Reflexivierung (vgl. ich überließ die Kinder sich selbst) die anaphorische Lesart an rollensemantisch tiefer eingebetteten zweistelligen Basisprädikaten ebenfalls unter Verzicht auf Koindizierung spezifiziert werden kann. Durch die Absenz des privativen Merkmals [anaph] im Lexikoneintrag des Reflexivums im Deutschen kann erfasst werden, dass es in anaphorischen sowie nicht-anaphorischen Reflexivkonstruktionen eingesetzt werden kann. In anaphorischen Lesarten verlangt die Merkmalsspezifikation der Konstruktion [anaph] die Erfüllung aller Bindungsbeschränkungen. In nichtanaphorischen Reflexivkonstruktionen so unsere Hypothese erfüllt das Reflexivum alle Bindungsbeschränkungen außer (7b). Wenden wir uns nun den nicht-anaphorischen Reflexivkonstruktionen, den so genannten Medialkonstruktionen, zu. 230 Beatrice Primus / Jessica Schwamb 3.2 Medialkonstruktionen Die in diesem Aufsatz vertretene These ist, dass sich Medialkonstruktionen mit nicht-anaphorischem Reflexivum von anaphorischen Konstruktionen ausschließlich durch die Annahme zusätzlicher rollensemantischer Beschränkungen unterscheiden. D.h.: Das Reflexivum einer Medialkonstruktion erfüllt bis auf die Bedingung für anaphorische Lesarten alle Bindungsbeschränkungen, auch wenn die semantische Valenzstruktur des Prädikats von der Valenzstruktur des gleichlautenden Verbs in der Grunddiathese abweicht. Diese Abweichung betrifft so unsere weitere Hypothese nicht eine rollensemantische oder syntaktische Restrukturierung der Argumente, sondern nur deren Involviertheit, d.h. die Charakterisierung der Argumente durch die Basisprädikate der Involviertheitsdimension (vgl. (4b)-(4e) weiter oben). Diese Analyse steht in Widerspruch zur bisherigen Forschungsmeinung (vgl. Haider 1985, Klaiman 1991, Fagan 1992, Abraham 1995, Kunze 1997, Zifonun et al. 1997, Steinbach 2002a, 2002b, Kaufmann 2003, 2004, Eisenberg 2004), die den Medialkonstruktionen durch die Positionierung des zweiten Arguments der Grunddiathese in der Subjektposition der Reflexivkonstruktion eine passivähnliche syntaktische Restrukturierung der Argumente unterstellt. Unsere Hypothesen sollen zunächst an Medialkonstruktionen, die für ihre Interpretation keines Modaladverbials bedürfen (MKs), erarbeitet werden. Vgl. (8) mit (9): (8) Peter dreht das Rad. Kausalrahmen: CAUSE(x,s[y]) Involviertheit: ctrl(x,s[y]) phys(x,s[y]) exp(x,s[y]) (9) Das Rad dreht sich. Kausalrahmen: CAUSE(x,s) Involviertheit: phys(x,s) [geb] Im Kausalrahmen der MK erscheint v als Proto-Agens der vom Verb denotierten Situation (wir erinnern daran, dass in der hier vertretenen Rollenkonzeption ein Proto-Patiens nur in der zweiten Position Vorkommen kann). Im Vergleich zu seiner semantisch transitiven Grundvalenzvariante ist das Verb in der MK auf die Variable x als semantisch unabhängiges Argument reduziert. Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 231 Aufgrund dieser rollensemantischen Analyse impliziert (9) keinen zweiten Partizipanten, der die Bewegung des Rades verursacht (vgl. auch Reinhart 1996, Steinbach 2002a, b). Es kann sich um eine selbst- oder fremdinduzierte Bewegung des Rades handeln. Charakteristisch für MKs ist, dass ihre Kausalstruktur durch mindestens eine Involviertheitskomponente in den meisten Fällen phys spezifiziert ist, wodurch sie sich von den weiter unten besprochenen MKAs unterscheiden. 6 Die Medialkonstruktion ist als [geh] spezifiziert, wodurch sie allen Bindungsbeschränkungen mit Ausnahme der anaphorischen Beschränkung (7b) unterliegt. Dieses Merkmal ist auch dafür verantwortlich, dass die Konstruktion syntaktisch zweistellig sein muss, denn nur so kann eine legitime Antezedens- Reflexivum-Beziehung aufgebaut werden. Wie bei der anaphorischen Reflexiviemng garantiert dieses Merkmal, dass das Reflexivum an der Objektstelle realisiert werden muss. Da dem Reflexivum keine Variable in der rollensemantischen Argumentstruktur und somit keine semantische Rolle entspricht, ist es ein Expletivum. Analog dazu sprechen wir im Folgenden auch von expletivem Reflexivum bzw. expletiver Reflexivierung. Die Kasus der syntaktisch realisierten Argumente müssen im Lexikoneintrag des Verbs nicht spezifiziert werden. Der Nominativ für die erste Argumentstelle x ist sowohl semantisch als auch syntaktisch durch allgemeine Kasusbeschränkungen vorhersagbar (vgl. Primus 1999, 2004). Für das zweite, expletive reflexive Argument kommt nur der Akkusativ, der einzige formal lizensierte zweite Kasus in Frage. Der Dativ bedarf im Deutschen einer rollensemantischen Lizensierung (vgl. Primus op. cit.), die ein Expletivum, dem keine semantische Rolle entspricht, nicht erfüllen kann (vgl. Steinbach 2002a, 2002b für eine alternative Erklärung dieser Kasusbeschränkung des Reflexivums in MKs und MKAs). Was die Bindungsbeschränkungen betrifft, so steht diese Kasuskonstellation in Einklang mit der schwächeren und stärkeren Version der kasuellen Bindungsbeschränkung (7e, e') weiter oben: Das Antezedens ist ein Nominativsubjekt, das dem akkusativischen Reflexivum in der Kasushierarchie übergeordnet ist. Als wichtiges konzeptionelles Argument für die hier postulierte Analyse von Medialkonstruktionen betrachten wir die Tatsache, dass das expletive Reflexi- Weitere Beispiele für Verben, die in MKs erscheinen können, sind u.a. schließen, öffnen, entfernen, bewegen, verstecken, vergrößern, aufwärmen, beruhigen, verändern. Bei psychischen Verben wie freuen, wundern oder ekeln ist die Involviertheitskomponente in MKs exp(x,s). 6 232 Beatrice Primus / Jessica Schwamb vum auch die rollensemantische schwächere und stärkere Bindungsbeschränkung (7d, d') erfüllt: Das Antezedens des Reflexivums ist ein Proto-Agens. Damit ist der Unterschied zwischen anaphorischer und expletiver Reflexivierung in unserem Ansatz auf ein Minimum reduziert. Ein weiteres Argument für unsere rollensemantische Analyse der Medialkonstruktionen ist die Parallele zwischen (10a) und (10b): (10) a. Das Rad wurde schneller gedreht als Peter [gedreht wurde], b. Das Rad dreht sich schneller als Peter [sich dreht]. Wir gehen von der plausiblen Prämisse aus, dass solche Ellipsen nur bei gleichen Kausalstrukturen möglich sind. In (10a) fungieren beide Argumente als Proto-Patiens in einem passivischen Valenzrahmen und besetzen in der Kausalstruktur die gleiche Position. In (10b) sind beide Argumente Proto-Agens und besetzen in der Kausalstruktur ebenfalls die gleiche Position, wobei eine unterschiedliche Involviertheit keine Rolle spielt: Das Rad kann nicht als kontrollierender Proto-Agens fungieren, während Peter auch bei Ellipse des Prädikats als kontrollierender Proto-Agens interpretiert werden kann. Vgl. auch Die Tanzenden drehten sich schneller als das Karussell. Medialkonstruktionen vom Typ MKA {das Rad dreht sich mühelos) unterscheiden sich von solchen des Typs MK {das Rad dreht sich) durch die Absenz einer Involviertheitskomponente und dadurch, dass ein geeignetes Modaladverbial vorhanden oder kontextuell-rekonstruierbar sein muss. Vgl. die rollensemantische Analyse einer MKA in (11): (11) Das Rad dreht sich mühelos. Kausalrahmen: CAUSE(x,s) Involviertheit: [geb] Die kausalen Verhältnisse in einer MKA gleichen denen einer MK, wo x als einziges Argument in CAUSE(x,s) als Proto-Agens der Situation fungiert. 7 Das Reflexivum muss wie bei einer MK in der Objektposition erscheinen, wo es allen Bindungsbeschränkungen bis auf (7b) genügt. In dieser Analyse gibt es keinen impliziten kontrollierenden Agens als zweiten Partizipanten. 7 Beobachtungen in diese Richtung findet man bei Fagan (1992), Ogawa (2003) und Steinbach (2002a), die von der Verantwortlichkeit des Subjektreferenten in der medialen Konstruktion sprechen, ohne einen geeigneten theoretischen rollensemantischen Rahmen für eine Erklärung dieser Beobachtung bereitzustellen. Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 233 Anders als bei den MKs ist die Variable x in CAUSE(x,s) nicht über weitere Basisprädikate spezifiziert, sondern definiert sich als Proto-Agens ausschließlich über ihre Position in der Kausalstruktur. Der Involviertheitsgrad des Proto-Agens ist in einer MKA im Vergleich zur Grundvalenzvariante des Verblexems maximal reduziert. Aus der Absenz einer Involviertheitskomponente und aus der Kausalstruktur ergibt sich in unserer Analyse die spezifische Zustandslesart der MKAs von selbst. Der Unterschied zu Zustandsprädikaten wie ist rot oder ist gierig besteht darin, dass MKAs Zustände denotieren, die in bestimmten Ereignissen zum Vorschein kommen. In Anlehnung an Wagner (1977, S. 205) nennen wir sie Manifestationsereignisse. In MKAs spezifiziert das verbale Prädikat den Typ des Manifestationsereignisses. So ist der Typ des Manifestationsereignisses für Das Rad dreht sich mühelos ein Drehenereignis, das aufgrund des Rades bzw. nicht näher spezifizierter Eigenschaften desselben mühelos geschieht. In diesem Beispiel könnte dies das niedrige Gewicht des Rades sein, das dazu führt, dass sich müheloses Drehen einstellt. Zustandsaussagen, die sich auf diese Weise auf Ereignisse beziehen, lassen sich als Dispositionsaussagen klassifizieren (vgl. Wagner 1977, S. 204f, der Ryle 1949 folgt). Vgl. auch die dispositionellen Zustahdslesarten der MKAs in (12): (12) Das Buch liest sich schnell. / Der Wein trinkt sich gut. / Das Handtuch wäscht sich leicht. Zusammenfassend kann man also festhalten, dass MKs wenn keine weitere semantische Operation erfolgt - Ereignisse denotieren, an denen der Referent des Subjektarguments als Partizipant involviert ist, während MKAs keine Ereignisse denotieren, in denen Partizipanten involviert sind. Sie referieren in unserer Analyse lediglich auf die kausale Abhängigkeit zwischen dem Referenten des Subjektarguments und dem durch das Verb spezifizierten Typ von Manifestationsereignis. Der kausalen Abhängigkeitsrelation liegt ein kontrafaktisches Konditional zugrunde (vgl. Lewis 1973), so dass das Stattfinden eines Manifestationsereignisses semantisch nicht impliziert wird. Dadurch kann erklärt werden, dass eine Aussage wie Das Buch liest sich schnell wahr sein kann, auch wenn ein Lesen des betreffenden Buches nie stattgefunden hat oder stattfinden wird. Die Präsenz des Modaladverbials in MKAs ist die Konsequenz daraus, dass aufgrund der unterspezifizierten Kausal Struktur eine spezifische Eigenschaft des Subjektreferenten rekonstruiert werden muss im Gegensatz zu MKs, wo 234 Beatrice Primus / Jessica Schwamb x als kausaler Faktor durch mindestens ein Basisprädikat wie phys, das diese Rekonstruktion erleichtert, spezifiziert ist. Es gibt MKAs, in denen das Adverbial fehlen darf, diese sind jedoch laut Steinbach stark kontextabhängig, vgl. Dieses Kleid hat keinen Reißverschluss. Es knöpft sich zu. (2002a, S. 36, 278). Aus dem Involviertheitsunterschied zwischen MKs und MKAs erklärt sich auch die ambige Interpretation von Konstruktionen, die über ein unterschiedlich interpretierbares Modaladverbial verfugen und deren Verb in einer MKA oder MK erscheinen kann. 8 Vgl. (13): (13) Die Tür öffnet sich leicht. (13) erlaubt zum einen die Vorgangslesart einer MK ‘Die Tür öffnet sich ein wenig’, zum anderen die spezifische Zustandslesart einer MKA ‘Die Tür ermöglicht ein leichtes Öffnen’. Aus der vorgeschlagenen Analyse ist auch die Lesart des Modaladverbials in MKAs ableitbar und macht eine Unterscheidung der Modaladverbiale in agens- und patiensbezogene (so u.a. Fagan 1992) überflüssig. Aufgrund unserer Analyse können wir an der Flypothese festhalten, dass sich Modaladverbiale immer auf den expliziten oder impliziten Proto-Agens eines Satzes beziehen. Letztes kann anhand der Passivkonstruktion demonstriert werden. In einem Satz wie Das Buch wurde sorgfältig gelesen kann sich das Adverbial sorgfältig nicht auf das Patienssubjekt beziehen, sondern muss auf den impliziten kontrollierenden Agens zugreifen. In MKAs nimmt das Adverbial immer Bezug auf eine spezifische Eigenschaft des Subjektreferenten, der in unserer Analyse ein Proto-Agens ist. 9 Damit ist Das Rad dreht sich mühelos entgegen der Meinung Haiders (1985, S. 245) in der hier relevanten Hinsicht nicht äquivalent mit Jeder kann das Rad mühelos drehen oder mit Das Rad kann von jedem mühelos gedreht werden. Während es in den letzten Beispielen eher am Dreher als an dem betreffenden Rad liegt, dass es sich mühelos dreht, gilt für die Medialkonstruktion nur der Bezug zum overt realisierten Argument: Es liegt an dem betreffenden Rad, dass es sich mühelos dreht. Ebenso impliziert Das Buch liest sich schnell nicht, dass für die schnelle 8 Welchen Beschränkungen die Verben unterliegen, die in MKs oder MKAs verwendet werden können, werden u.a. in Reinhart (1996) und im Rahmen des vorliegenden Ansatzes in Schwamb (2003) diskutiert. Vgl. zu Bemerkungen in dieser Richtung Wagner (1977, S. 245) und Fagan (1992, S. 41f.). 9 Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 235 Lektüre ein geübter Leser verantwortlich ist. Der Satz bedeutet vielmehr, dass dem Buch Eigenschaften zukommen, die eine schnelle Lektüre ermöglichen. Auf einen impliziten kontrollierenden Agens beziehen sich Modaladverbiale wie absichtlich, fleißig und sorgfältig, wie weiter oben an einem passivischen Fall illustriert wurde. Entsprechend unserer Analyse und entgegen Flaiders Annahme sind letzte damit in MKAs ausgeschlossen, wie die Beispiele in (14) zeigen: (14) *Das Rad dreht sich freiwillig. / *Das Buch liest sich sorgfältig. / *Der Wein trinkt sich absichtlich. Diese Befunde sprechen gegen die in der bisherigen Forschung vielfach vertretene Analyse, der zufolge die Subjektposition der MKA dieselbe semantische Rolle trägt wie das Objekt der nicht-reflexiven Verblexemvariante. Vielmehr unterstützen sie unsere These, dass die semantische Rolle des Subjekts einer Medialkonstruktion in der rollensemantischen Argumenthierarchie die Position einnimmt, die in der Grunddiathese dem Agens zukommt und sich von diesem nur durch den Grad der Involviertheit unterscheidet. Ein weiteres empirisches Argument für unsere Analyse ist, dass eine von-? ? , welche im Passiv einen kontrollierenden Proto-Agens realisiert, in solchen Konstruktionen nicht möglich ist, vgl. (15): (15) *Das Rad dreht sich von Kindern mühelos. / *Das Buch liest sich von Kindern leicht. / *Die Tür öffnet sich von Kindern geräuschlos. Aufgmnd unserer rollensemantischen Analyse impliziert eine MKA keinen zweiten Partizipanten, der ein vom Verb spezifiziertes Manifestationsereignis verursacht. Falls ein solcher Partizipant bei der Interpretation von MKAs rekonstruiert wird, dann nur indirekt über die Rekonstruktion des Typs von Manifestationsereignis und seiner Involviertheitsverhältnisse. Unberücksichtigt sind bisher Medialkonstruktionen geblieben, deren gleichlautendes Verb in der grundlegenden Valenzvariante nicht zwei-, sondern einstellig ist. Das Besondere an diesen Konstruktionen ist, dass der Verursacher nicht als Subjekt realisiert werden kann, vgl. (16)-(17): (16) In diesem Bett schläft es sich ausgezeichnet. / Hier sitzt es sich gut. / Mit Mütze arbeitet es sich besser. 236 Beatrice Primus / Jessica Schwamb (17) In diesem Bett schläft es sich ausgezeichnet. Kausalrahmen: CAUSE(x,s) Involviertheit: x ist nicht als Subjekt realisierbar. [geb] Die Analyse in (17) weist diese Konstruktion als MKA aus. Der Kausalrahmen sieht zwei Argumentvariablen vor, x für den Träger einer Eigenschaft und s für das Manifestationsereignis, wobei x ein kausaler Faktor für 5 ist. In unserem Beispiel könnte diese Eigenschaft die Größe des Bettes oder die Weichheit der Matratze sein, die für ausgezeichnetes Schlafen sorgt. Der Grund, warum x nicht als Subjekt realisiert werden kann, ist, dass die MKA-Verblexemvariante kein passendes Argument zur Verfügung stellt. Das einzige rollensemantische Argument des Verbs ist in der Grunddiathese ein kontrollierender Agens, der in einer MKA blockiert ist (vgl. Schwamb 2003). Diese Subklasse von MKAs muss daher zwei expletive Argumente bereitstellen, um dem Bindungsmerkmal [geb] zu genügen. Ihre Kasusverteilung ist aufgrund formaler Kasusbeschränkungen und der kasuellen Bindungsbeschränkung vorhersagbar. Das expletive Antezedens muss im Nominativ stehen, das expletive Reflexivum im Akkusativ. Der Kausalrahmen erzwingt allerdings die Realisation des kausalen Faktors x, dessen Eigenschaften für ein Manifestationsereignis verantwortlich sind. Als syntaktische Realisation kommt bei diesen Verben nur eine PP oder eine andere oblique Funktion in Frage. Beispiele, in denen x syntaktisch gar nicht realisiert ist, sind ungrammatisch, vgl. (18): (18) *Es schläft sich ausgezeichnet, t *Es sitzt sich gut. / *Es arbeitet sich besser. 4. Zusammenfassung In diesem Aufsatz wird die These vertreten, dass sich mediale Reflexivkonstruktionen mit nicht-anaphorischem Reflexivum von anaphorischen Konstruktionen weniger unterscheiden als in der bisherigen Forschung angenommen. Medialkonstruktionen weichen rollensemantisch von ihrer Grundvalenzvariante ab, wobei nicht die Einbettung des Subjektpartizipanten in der Kausal Struktur und somit sein Proto-Agensstatus, sondern nur sein Involviertheitsgrad verändert ist. Die wichtigsten empirischen Argumente für unse- Aspekte medialer und nicht-medialer Reflexivkonstruktionen im Deutschen 237 re Analyse sind die Erklärung der Obligativität und Lesart von Modaladverbialen in Medialkonstruktionen mit obligatorischem Adverbial und die fehlende Anschlussmöglichkeit eines proto-agentivischen Arguments durch von. Ein wichtiges konzeptionelles Argument für unsere Analyse liefert die Tatsache, dass mit Ausnahme der semantischen Beschränkung für anaphorische Lesarten das Reflexivum einer Medialkonstruktion allen Bindungsbeschränkungen genügt. 5. Literatur Abraham, Werner (1995): Diathesis: The Middle, Particularly in West-Germanic. In: Abraham, Wemer/ Givön, Talmy/ Thompson, Sandra A. (Hg.): Discourse Grammar and Typology. 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Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 1. „Erst der Blick auf das Andere, auch in der Grammatik, schärft den Blick für das Eigene.“ (Zifonun 2002, S. 1) Dieser Leitsatz des von der Jubilandin geleiteten Projekts „Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich“ (GDE) fuhrt es zusammen mit der 1993 erschienenen KGDR, der "Kontrastive[n] Grammatik deutsch-rumänisch“ in dem Wunsch, das grammatische Wissen anzureichem unter anderem mit dem Folgeziel, zwischen der wissenschaftlichen Grammatikografie des Deutschen und den spezifischen Grammatiken und Lehrwerken für Deutschlemer mit einer bestimmten Ausgangssprache zu vermitteln. Dieser Aufsatz will sich mit Bedacht auf den DaF-Unterricht für Rumänen diesem Vorhaben anschließen. Lob steht dabei allein wegen des folgenden Sprichwortes zur Diskussion. Es gab den Anlass für einige anschließende Überlegungen grammatisch-semantischer Art: (1) Eigenlob stinkt. Was hier zunächst interessiert, ist, dass das GWDS das Lemma Eigenlob synonymisch definiert mit Selbstlob, dass es einen umgangssprachlichen verbalen Ausdruck mit Reflexivverb (2) Man lobt sich nicht selbst. anfuhrt und das Adjektiv eigen in der Paraphrase von Selbstlob verwendet: (3) ‘das Hervorheben eigener Leistung o.Ä. vor anderen’. Man kann mit Blick auf die Themenstellung auch noch die im GWDS nicht angegebene Fortsetzung des Sprichwortes anführen: (4) Fremdlob klingt. ‘Das Hervorheben fremder Leistung/ das Loben eines Fremden klingt (gut).’ eigen und selbst stehen so als Gegenüber von fremd und ander- und alle um das Verb loben und seiner substantivierten Form. Die rumänische Entsprechung zum Sprichwort und die auch dazu passenden Erläuterungen des GWDS ergeben ähnliche Substitutions- und Inhaltsvarianten: 242 Spercmfa Stänescu (1 a) Lauda de sine nu miroase bine. (2a) Nu te lauzi pe tine insuti. (wörtl. ‘Nicht [du] dich lobst dich selbst’) (3a) ‘mentionarea meritelor proprii fatä de altii’ (4a) Lauda altuia sunä frumos. ‘Das Lob eines anderen klingt schön.’ Wir finden im Rumänischen mehrere, mit den deutschen zum Teil kategoriell ähnliche Ausdrucksformen, die etwas mit einem semantisch als „Rückbezüglichkeit“ definierten Begriff der Reflexivität zu tun haben. In den nicht nur - Übersetzungsvarianten entsprechen den deutschen Komposita ein Nomen (lauda) mal syntagmatisch verknüpft mit einem Reflexivpronomen im Präpositionalkasus (de + Akkusativ sine in (la)), mal mit einem pronominalen Genitivattribut (altuia in (4a)). In den verbalen Paraphrasen zeigt sich, dass die Grundverben loben! a läuda zweiwertig „transitiv“ sind, wobei Agens und Patiens referentiell verschieden sind: (4) ' Fremdlob: ‘jemand lobt jemanden (der nicht er selbst ist)’ (4a)' lauda altuia: ‘cineva laudä pe altuf Besteht zwischen dem Subjekt/ Agens und der Akkusativergänzung/ Patiens Referenzidentität, findet eine Reflexivierung statt, die ihren Ausdruck im Vorkommen des Reflexivpronomens und ggf. seines Intensivierers hat. Im Rumänischen tritt außerdem auch die Verdopplung des Akkusativs ein (vgl. 2.2.2). (2)' sich (selbst) loben (2a)’ a se läuda (pe sine) (insugi) [‘sich loben sich selbst’] In der nominalen Paraphrase von Selbstlob und lauda de sine findet die Referenzidentität von Agens und Patiens und damit die Reflexivität ihren Ausdruck in der pronominalen Genitivattribuierung: (5) Selbstlob: Lob seiner selbst (6) lauda de sine: lauda sa (5)' ! sein Lob durch sich selbst (6)' 1 lauda sa de cätre el insuti Um trotz spaßig synoptischer Eingabe zur Reflexivität im Rahmen zu bleiben: die tägliche Konfrontation in Lehre und Forschung mit dem Deutschen als für mich und meine Studenten „fremde Sprache“ fuhrt zu einem (sprachlich) ‘Sich-selbst-Betrachten’, ‘Sich-selbst-besser Verstehen’ aber auch zu einem zwischensprachlichen Vergleich, der in gleichem Maße für Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 243 sprachtypologische Untersuchungen wie für didaktische Unternehmungen nutzbar gemacht werden kann. In einer sprachlichen, weniger wissenschaftlichen aber dennoch didaktisch gut verwertbaren Metaphorik können wir das Ergebnis in ein „Feld“ (Scur 1977) der Reflexivität mit einem „prototypischen Vertreter“ (Kleiber 1993, S. 139), den semantisch reflexiven Verben und weiteren „weniger guten Vertretern“ im Deutschen wie im Rumänischen versetzen. 2. Semantisch-syntaktische Reflexivität 2.1 Alternative Definitionen reflexiv [lat.], rückbezüglich. 1) reflexives Verbum, rückbezügl., d.h. mit einem Reflexivpronomen verbundenes Verbum. Man unterscheidet echte reflexive Verben (z.B. >ich verbeuge mich<), die nur in Verbindung mit einem Reflexivpronomen Vorkommen, von unechten reflexiven Verben (z.B. >ich entschuldige mich<), die auch außerhalb dieser Verbindung auftreten. 2) Logik: eine zweistellige Relation >R<, in der für jeden Gegenstand >x< gilt, daß er zu sich selbst in der Relation >R< steht (xRx); dies gilt v.a. für die Relationen der Identität, Gleichheit und Ähnlichkeit. (BROCKHAUS, Bd. 15, S. 88) Die Bezeichnung „reflexiv“ unter 1) ist wie in den deutschen und auch in den rumänischen Grammatiken ausdruckssyntaktisch vom Auftreten des „Reflexivpronomen“ dt. sichlmm. se im Satz abgeleitet. 1 Der zweite, in der Logik angesiedelte BROCKHAUS-Begriff kann auf den semantisch orientierten Begriff „Reflexivität“ vieler Grammatiken angewandt werden. Er grenzt an eine tatsächlich (ontologisch) vorhandene „Rückbezüglichkeit“ an und könnte auch in eine Beschreibung der im BROCKHAUS-Zitat genannten „unechten“ Reflexivverben eingehen. Im Zusammenhang mit diesen spricht Helbig (1984, S. 80f.) von „(semantischer) Reflexivität als Spezialfall der (semantisch) transitiven Relation“. Mit Zifonun (2003, S. 269) gilt für die funktionale Domäne der Reflexiva: [1.1] Funktionsbestimmung-. Reflexiva haben die zentrale Funktion, innerhalb einer Prädikation (bestehend aus Prädikat, Argumenten und Modifikatoren) Koreferentialität anzuzeigen. 1 Allerdings gibt es außer dem im BROCKHAUS genannten Vorkommen bei „reflexiven Verben“ zahlreiche weitere Vorkommen von sich bzw. von se. Diese können außer Reflexivität im semantischen Sinne auch noch andere Beziehungen wie Reziprozität, Passivität, Unbestimmtheit ausdrücken. (frei nach Helbig 1984, S. 78 und Stötzel 1970, S. 183f; für das Rumänische vgl. z.B. Irimia 1987, S. 134f.). 244 Speranfa Stänescu [1.2] Antezedensbezug: Innerhalb des Prädikatsausdrucks wird zumindest bei finiter Verbalphrase eine Argument-ZKomplementstelle durch ein nichtreflexives Antezedens besetzt, weitere Vorkommen (als Argument/ Komplement oder auch als Modifikator/ Adjunkt) werden durch Reflexiva belegt. [1.3] Sprachregelung: Sind [1.1] und [1.2] erfüllt, sagen wir, dass das Reflexivum bzw. die Reflexiva vom Antezedens,’referentiell abhängig’ sind, bzw. durch das Antezedens ‘lokal gebunden’. Kurz sprechen wir von ‘Reflexivität’. Soll eine Abgrenzung von anderen Bindungskonzepten erfolgen, sprechen wir expliziter von ‘lokaler s-Bindung’ (‘s’ für ‘semantisch’). 2.2 Die Reflexivmarke Das Formenparadigma der Reflexivpronomen umfasst im Deutschen wie im Rumänischen nur in der 3. Person spezifische (in der Tabelle mit Fettdruck hervorgehobene) Formen. Für die 1. und die 2. Person werden die entsprechenden Formen der Partnerpronomina übernommen. Traditionell werden nur die für Dativ und für Akkusativ beschrieben. Genitivformen haben im Feld der Reflexivität ein eigenes formal und syntaktisch differierendes Vorkommen. Das Reflexivpronomen kann von begleitenden Intensivieren! verstärkt und bei unklarer Referenzialität vereindeutigt werden (vgl. 2.3). Einzelsprachlich spezifische flexionäre und syntaktische Besonderheiten lassen sich an den folgenden Darstellungen erkennen. 2.2.1 Deutsch Singular Plural l.Ps. 2.Ps. 3.Ps. l.Ps. 2.Ps. 3.Ps. Dat. mir dir sich uns euch sich Akk. mich dich sich uns euch sich Das Reflexivpronomen sich ist kasus-, genus- und numerusneutral. Es kongruiert in Person und Numerus mit dem koreferenziellen Subjekt, der Kasus wird syntaktisch vom Verb oder einer Präposition gesteuert: (7) Ich will mich damit nicht belasten. (8) Er will sich damit nicht belasten. (9) Wir wollen nur an uns denken. (10) Sie wollen nur an sich denken. Die Genitivformen erscheinen attributiv bei einem Substantiv nur nachgestellt zusammen mit dem Intensivierer selbst. In der 3. Person wird der Genusunterschied markiert (vgl. (5), 3.3). Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 245 l.Ps. Singular 2.Ps. 3.Ps. Mask. Fern. Plural l.Ps. 2.Ps. 3.Ps Gen. meiner deiner seiner ihrer unser euer ihrer (11) eine Belastung seiner selbst seine Belastung durch sich selbst (12) eine Belastung ihrer selbst, ihre Belastung durch sich selbst 2.2.2 Rumänisch Es gibt ebenso wie im Deutschen nur in der 3. Person spezifische Formen (in der Tabelle in Fettdruck), allerdings lange/ betonte und kurze/ unbetonte wie bei den Partnerpronomina, von denen Formen übernommen werden. Die unbetonten Formen sind die eigentliche Marke der Reflexivität. Sie werden im Text entweder autonom oder verknüpft mit anderen Formen in phonetischer Einheit verwendet. Ihre Verdopplung durch eine lange Form ist fakultativ. Der Subjektnominativ kann im Rumänischen unaktualisiert bleiben. Dennoch kongruieren die Reflexivpronomina in Person und Numerus mit diesem. Der Kasus wird vom Verb oder einer Präposition gefordert. Reflexiva sind (bis auf die Genitivformen) genusneutral. Es gibt zahlreiche (in den Tabellen mit Majuskeln hervorgehobene) homonyme Formen. Der Fettdruck zeigt die nur reflexiv gebrauchten Formen an. Dat. bet. unbet. Singular l.Ps. mie IMI, MI- 2.Ps. tie ITI, TI- 3.Ps. sie l.Ps. noua NE, NI Plural 2.Ps. voua 3.Ps. w VA, V- Akk. bet. unbet. (pe) mine mä, m- (pe) tine te ipe) sine se, s- (pe) noi NE (pe) voi VA, V- (pe) sine se, s- Die Dativformen werden bis auf wenige Ausnahmen (vgl. (14)) ohne Präposition (vgl. (13)) verwendet. Die unbetonten Formen können von betonten verdoppelt werden (vgl. (15)). (13) (El) §i-ar cumpära schiuri noi §i i§ipune bani deoparte. ‘Er würde sich neue Schier kaufen und legt sich Geld beiseite.’ (14) Ea a reu.pt numai datoritä sie§i. ‘Sie hat es nur sich selbst zu verdanken, dass sie es geschafft hat.’ (15) / ? / este (sietfi) dragä. ‘Sie ist sich (selbst) lieb.’ 246 Speranfa Stänescu Soweit verwendet, erscheint die betonte Form des Akkusativs immer mit einer Präposition (vgl. (16), (18)). Unbetonte Formen können alleine stehen (vgl. (17)) oder von einer betonten Form verdoppelt werden (vgl. (18)). (16) Lucrurile merg de la sine. ‘Die Dinge funktionieren von sich/ von allein.’ (17) (Karl) s-a imbräcat la repezealä. ‘Karl hat sich in Eile angezogen.’ (18) Karl se crede doar pe sine. ‘Karl glaubt nur sich selbst.’ Reflexivische Genitivformen haben genusdependente Varianten und stehen in präpositionalen Fügungen in jurul säu/ in jurii-.fi ‘um sich herum’, (vgl. (19)-(21)), asupra sa ‘über sich’ u.a. Es sind homonyme Formen teilweise zu den Possessiva, teilweise zum Personalpronomen. Gen. bet. Singular l.Ps. M. F. meu mea 2.Ps. M. täu ta F. 3.Ps. M. sau sa F. Plural l.Ps. M. nostru noasträ vostru voasträ 2.Ps. M. F. 3.Ps. M. | F. lor unbet MI, IM1 TI, ITI ? I, I? I NE, NI VA, Vle, $i (19) El privi cu atentie in jurul säu. ‘Er sah aufmerksam um sich.’ (20) In juru-mi nu erau decätfete necunoscute. ‘Um mich herum gab es nur unbekannte Gesichter.’ (21) Ei §i-au construit in jurul lor un zid de nisip. ‘Sie haben um sich einen Sandwall gebaut.’ Die Disambiguierung homonymer unbetonter Formen wird entweder syntaktisch durch die Beziehung zum Verb (vgl. (23), (25)) oder indirekt durch die Existenz spezifischer Präpositionen (vgl. (22), (24)) geklärt. Ist die Hinzufügung der betonten Form möglich, wirkt das in der Analyse ebenfalls klärend (vgl. (26), (27) und jeweils in den eckigen Klammem von (23), (25)). (22) In juru-mi am plantat tei. [‘In jurul meu am plantat tei.’] ‘Ich habe um mich hemm Linden gepflanzt.’ (Präposition —> Gen.) Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 247 (23) Nu mi-am cumpäratflori. [‘Mie nu mi-am cumpärat flori.’] ‘Mir habe ich keine Blumen gekauft.’ (Verbvalenz —> Dat.) (24) ln juru-ne se ridicau numai blocuri de beton. [‘ln jurul nostru se ridicau numai blocuri de beton.’] ‘Um uns herum gab es nur Betonblocks.’ (Präposition —> Gen.) (25) Ne-am prezentat colegilor de la Berlin. [Wo/ ne-am prezentat colegilor de la Berlin.’] ‘Wir haben uns den Kollegen aus Berlin vorgestellt.’ (Verbvalenz —> Akk.) (26) Vouü v-ati cumpärat cärti. ‘Ihr habt euch Bücher gekauft.’ (Dat.) (27) Pe voi v-ati imbräcat. ‘Ihr habt euch angezogen.’ (Akk.) 2.3 Intensivierer Sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen kann das Reflexivum hervorgehoben werden. Im Deutschen übernimmt das unflektierbare selbst 2 diese Funktion. Es erscheint meist fakultativ, jedoch immer dem hervorgehobenen Substantiv oder Pronomen nachgestellt. (28) Karl hat seine Frau! sie! sich (selbst) (beim Direktor) vorgestellt. (29) Karl hat zu seiner Frau/ zu ihr! zu sich (selbst) gesprochen. Im Rumänischen gibt es das klassifikatorisch umstrittene „pronume personal de identificare“ (‘Pronomen der Identifizierung’): [Es] begleitet neutrale, personale und reflexive Pronomina oder Substantive und unterstreicht die Identität des bezeichneten „Gegenstandes“ mit sich selbst. [...] Seine Einordnung unter die Adjektive ist jedoch schwer zu rechtfertigen, weil sich seine semantische Eigenart nicht aus der Charakterisierung eines „Gegenstandes“ ergibt, sondern aus dessen Identität mit sich selbst. (Irimia 1987, S. 132) 3 2 Es ist nicht zu verwechseln mit der „Gradpartikel“ selbst (KGDR, S. 952). Vgl. z.B. Selbst Karl hat eine solche Aufgabe lösen können. (‘Sogar Karl ... ‘) Karl selbst hat eine solche Aufgabe lösen können. (‘Karl alleine, ohne fremde Hilfe ... ‘) 3 Eigene Übersetzung und Hervorhebung; Coteanu (1982, S. 135) beschreibt dasselbe Paradigma als „pronume personal de intärire“ (‘Personalpronomen der Verstärkung’), Dimitriu 248 Speranta Stänescu Begleitet der Intensivierer ein Pronomen, steht das Pronomen in seiner langen/ betonten Form und der Intensivierer ist dem Pronomen nachgestellt. Der Intensivierer hat ein eigenes Flexionsparadigma differenziert nach Genus, Numerus und Kasus und kongruiert mit seinem pronominalen Regens in Person, Genus bzw. Sexus, Kasus und Numerus. Maskulina haben jeweils eine Form für alle Kasus im Singular bzw. im Plural. Feminina differenzieren im Singular Nominativ/ Akkusativ und Genitiv/ Dativ. Der Intensivierer ist nur dort obligatorisch, wo der Referenzbezug unklar ist, und zwar bei Formen, die mit dem Personalpronomen homonym sind. (28a) Karl s-a prezentat (pe el insu§i) (la director). ‘Karl hat sich (‘ihn selbst’) (beim Direktor) vorgestellt.’ (29a) Karl a vorbit cätre sinelcätre el insu§i, Sabina cätre sine/ cätre ea insä§i. ‘Karl hat zu sich/ zu ihm selbst, Sabina zu sich/ zu ihr selbst gesprochen.’ (1979, S. 135) als ‘Adjektiv der Verstärkung’. In der KGDR (S. 587f.) steht es bei den Determinativen unter dem Namen „Tonikum“ und bekommt als flektierbare Klasse keine kategorielle Entsprechung im Deutschen. - In Strauß/ Zifonun (2002, S. 180) finden wir eine Formulierung, die, wie ich meine, auf den Intensivierer zutrifft: „[...] verwendet, um auf die Übereinstimmung einer Größe mit sich selbst abzuheben.“ Zu seiner Bedeutung in Komposita vgl. 3.4. Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 249 3. Fundorte für Reflexivität 3.1 Der beste Vertreter „Semantisch-reflexive/ partimreflexive/ anaphorisch-reflexive“ Verben sind mit dem VALBU (S. 50) Verben, die bei Beibehaltung der Bedeutung auch reflexiv gebraucht werden können, z.B. waschen/ a späla Mit der Belegung der Nominativergänzung und dem Reflexivpronomen kann man sich auf dieselbe Person beziehen. (30) Karl wäscht Karl. —> Karl wäscht sich. (30a) *Karl spaläpe Karl. —> Karl se spalä. Man kann aber das Reflexivpronomen gegen eine Nominalgruppe im Akkusativ austauschen, und zwar ohne Änderung der Verbbedeutung und sich damit auf beliebige konkrete Objekte beziehen. (30) 'Karl wäscht das Auto! den Hund! ... (30a)' Karl spalä mapna/ cäinele/ ... Daher wird bei solchen Verben sich/ se nicht als Bestandteil des Verblemmas betrachtet, sondern als eine Belegungsmöglichkeit für eine Valenzstelle des Verbs, die eine Akkusativergänzung (vgl. (31), (31a)), eine Dativergänzung (vgl. (32), (32a)), eine Präpositionalergänzung (vgl. (33), (33a)) oder eine Adverbialergänzung (vgl. (34), (34a)) sein kann. Die ‘reflexiv besetzte’ Dativstelle wirft dieselben Probleme auf wie die mit nichtpronominaler Besetzung. Der Dativ kann ein freies Verbdependens (vgl. (35), (35a), (36), (36a)) bzw. ein Pertinenzdativ (vgl. (37), (37a)) sein. (31) Er zieht sich an. (31 a) El se imbracä. (32) Er schadet sich mit dem Rauchen (32a) El i§iface räu cu fumatuHfumänd. (33) Er gewöhnt das Tier an sich. (33a) El obfnuiepe animalul cu el! ( ’cu sine. 4 (34) Erfährt dann zu sich. (34a) Apoi se duse la el/ { ] la sine.' (35) Er kauft (sich) ein Buch. (35 a) El (i§i) cumpärä o carte. 4 Der Ausdruck mit „echtem“ Reflexivpronomen ist zwar möglich, jedoch ungewohnt. 5 Vgl. Anm. 4. 250 Speranta Stänescu (36) Er zieht (sich) den Mantel an. (36a) El (i§i) imbracä paltonul. (37) Er wäscht (sich) die Hände. ‘Er wäscht seine Hände.’ (37a) El (i§i) spalä mäinile ‘El spalä mäinile sale.’ Die hier nur in ihrem Kern angesprochene Reflexivierungsstrategie betrachte ich als prototypisch für den oben (vgl. 2.1) definierten Begriff der Reflexivität. Die Beispiele wurden absichtlich als Übersetzungsbeispiele gewählt. In beiden Sprachen gelten dieselben systematischen Bedingungen für die Reflexivierung eines Verbs. Abweichend können freilich die formal-syntaktische Valenz der sich entsprechenden Verblemmata, die Flexion und das syntagmatische Auftreten des Reflexivpronomens sein (vgl. 2.2, 2.3). 3.2 Der naheliegende Vertreter Zifonun (2003, S. 285ff.) beschreibt referenzielle Bezüge und die lokale Bindung von sich durch ein Antezedens auch innerhalb der Nominalphrase. Die a.a.O. vorgenommene Koindexierung bei Referenzidentität kann für eine didaktisierbare Besprechung durch Paraphrasierungen mit Verbalsätzen ergänzt werden. Darin bestehende syntaktische Funktionen bleiben erhalten und spiegeln sich im Satzglied-ZRollenwert der Reflexiva wider. Der Intensivierer selbst kann u.U. klärend hinzugefügt werden. Das attribuierte Nomen kann ein Simplex (vgl. (38), (38a), (39), (39a)) oder eine Ableitung (vgl. (40), (40a)) sein, die die Stelligkeit des Grundwortes und die damit verbundene relationale Bedeutung übernimmt. (38) Ich lese PetersJseinen, Zeitungsartikel über sichi mit großem Vergnügen. ‘Ich lese den Zeitungsartikel von Peten, der über ihnj berichtet, mit großem Vergnügen.’ (39) HanSi schaut in den Zeitungsartikel über sichj. ‘Hansj schaut in den Zeitungsartikel, der über ihni berichtet.’ ‘HanSj schaut in den Zeitungsartikel, der über ihmi (an der Wand) hängt.’ (40) der Gedanke von Hans, an sich, (selbst) ‘Hans; denkt an sichj’ Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 251 Hat das Antezedens des Reflexivums die Form eines possessiven Determinativs oder eines sächsischen Genitivs, kann dieses bei Referenzidentität eine Genitivform annehmen (vgl. 2.2.1). (41) Identität seineri selbst seinej/ PeterSi Identität mit sich, selbst ‘Peter, ist identisch mit Peterf (42) die Übereinstimmung ihrer, selbst Übereinstimmung einer Größej mit sichj selbst ihre, Übereinstimmung mit sichj selbst ‘eine Größej ist mit einer Größe] identisch’ (43) die Wahrnehmung meinerj selbst meine, Wahrnehmung durch michj selbst ‘ichj nehme mich] wahr/ ichj werde durch mich; wahrgenommen’ Im Rumänischen gibt es ähnliche syntaktisch-semantische Verhältnisse. Soweit die Paraphrase ein Satz ist, muss allerdings der referenzidentische Subjektsnominativ aktualisiert werden. Der Intensivierer ist bei homonymen Formen von Reflexiv- und Personalpronomen obligatorisch. Hier stehen mit derselben Begründung wie in 3.1 die (Übersetzungs-)Beispiele: (38a) Citesc articolul lui Peterj! articolul lui, despre eln x l despre eh insu! }i / despre sine, cu mare pläcere. 6 ‘Citesc articolul lui Peten scris despre elj/ x / despre ef msu§i/ despre sinej cu mare pläcere. ’ (39a) HanSj se uitä la articolul de deasupra luii/ x l de deasupra luij insu§i / de deasupra sttj. 1 ‘Hans; se uitä la articolul aflat deasupra luij / x / deasupra lui, insusi / deasupra saj.’ (40a) gändul lui HanSj la el ilX / la eh insusi / la sinej ‘Hans; se gändejte la elj/ x / la el, insu$i / la sinej.’ 6 Der tiefgestellte Index x zeigt die Möglichkeit einer ungebundenen Lesart an. Sine und sa in (38a)-(43a) sind spezifisch reflexive Formen. Insoweit ist der Satz auch ohne Paraphrase eindeutig. Hingegen kann ellea (Akkusativ) bzw. lui/ ei (Genitiv) auch anaphorisch ungebunden (Personalpronomen), daher zweideutig sein. Der Intensivierer muss zur Klärung eingesetzt werden. 7 Die im Deutschen durch die Zweideutigkeit der Präposition in (39) gegebenen zwei Lesarten sind im Rumänischen so nicht übersetzbar. (39a) gibt nur die lokale Auslegung wieder. Die andere Lesart entspricht (38a). 252 Speranfa Stänescu Die Übernahme der deutschen Beispiele zum Genitiv zeigt die völlig andere Strategie in Rumänischen: die Verwendung des Intensivierers nur bei homonymen Formen. Dort, wo es zwei deverbale Ableitungsformen gibt, liegt auch unterschiedliche Belegung des Dependens vor (vgl. (43a), allerdings auch (43); 3.3). (41 a) identitatea sa identitatea lui Peter, cu el, imu§i / cu sinei ‘Peter, este identic cu Peter; .’ (42a) corespondenta sa corespondenta unei märimi, cu ea, insä§i / cu sinei ‘o märime; este identicä cu ea; msä§i/ cu sine’ (43 a) perceptia mea, de sine, perceperea mea, de cätre mine,! perceptia mea, despre mine, ‘eu, mä; percep pe mine; ’ 3.3 Der unmarkierte Vertreter Reflexive Bedeutung kann in manchen Fällen ohne Aktualisierung des Signals sich/ se bestehen. Im Deutschen fehlt die Reflexivmarke: a) bei Infinitiven in Aufforderungen (vgl. (44)); im Rumänischen steht hier der lange substantivierte, als bestimmt determinierte Infinitiv (vgl. (44a)), b) bei substantivierten Infinitiven (vgl. (45)); im Rumänischen steht hier das substantivierte, als bestimmt determinierte Partizip II (vgl. (45a)), c) beim Zustandsreflexiv (vgl. (46), (46a)), d) beim attributiven Partizip II (vgl. (47), (47a)): (44) Waschen! Kämmen! (44a) Spälarea! Pieptänarea! (45) Das Waschen! Kämmen bereitet ihr Schwierigkeiten. (45a) SpältuHpieptänatul ii provoacä greutäti. (46) Der Lehrer ist erholt! gekämmt. (46a) Invätätorul este odihnit! pieptänat. (47) der erholte! gekämmte Lehrer (47a) invätätorul odihnit! pieptänat (auch Helbig 1984, S. 88) Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 253 Diese Unmarkiertheit infiniter Formen trifft nicht zu a) auf das Partizip I (vgl. (48)); im Rumänischen steht hier ein Relativsatz mit Reflexivverb (vgl. (48a)), b) auf Attribute, deren Adjektivkem einen Genitiv fordert, der pronominal mit Intensivierer aktualisiert ist (vgl. (49)); im Rumänischen steht hier ein Relativsatz mit Reflexivverb (vgl. (49a)): (48) der sich erholende! sich kämmende Lehrer (48a) mvätätorul, care se odihne$te/ se piaptänä (49) der Mensch, das denkende undfühlende, sich seiner selbst bewusste Subjekt (49a) omul, subiectul care gände.pe, simte §i este con§tient de sine (auch Helbig 1984, S. 88) 3.4 Der unerwartete Vertreter Der Wortbildungstyp selbst + Substantiv habe „Hochkonjunktur“ und sei die „Manifestation einer Zeittendenz“, einer „Wertewandlungsbewegung“ in einem „Affekt gegen das Allgemeine“ (Wilss 1997, S. 330f). Mag sein. So weit soll hier nicht ausgeholt werden. Auch auf die „Suche nach Identität“ (Strauß/ Zifonun 2002) gehen wir nicht. In meiner Absicht steht auch keine exhaustive Beschreibung von se/ for-Wörtem, derer es viele und verschiedenartig gebildete gibt. Im engen Raum dieses Beitrags will ich einfach zeigen, dass selbst seine reflexiv-identifizierende Funktion (vgl. 2.3) als Wortbildungselement zur Geltung bringt, weshalb es in das Feld der Reflexivität als neuer, in den Grammatiken nicht als solcher verzeichneter Vertreter gehört. Gezeigt wird das anhand der Lemmata im BROCKHAUS und im GWDS und ihrer semantischen Gegenüberstellung zu fremd-! eigen- und auto- Bildungen. Auf der „Suche nach Identität'' (Strauß/ Zifonun 2002) finden wir Ich-als- Objekt {oder das Selbst) (S. 183), Einheit des Selbst (S. 182), Einzelheit oder Selbstheit des Individuums (S. 187), ,jSelbstheit [...] Tatsache, dass eine Person (oder eine Sache) sie selbst ist und nicht irgendetwas anderes“ (S. 185). Diese Umschreibung erinnert an die Beschreibung der substantivischen Verwendung der langen Akkusativform des Reflexivpronomens sine. Coteanu (1982, S. 127) spricht davon als von einem Substantiv, das nur attribuiert oder als Attribut in Wendungen wie in sinea mea/ ta/ lui/ lor ‘in meinem Mich/ deinem Dich/ seinem Sich/ ihrem Sich’, un lucru in sine ‘ein Ding 254 Speranta Stänescu an sich’, problema in sine ‘das Problem an sich’ steht. Aus der Übersetzung dieser Wendungen werden wir wiederum hingeleitet zu selbst in der Bedeutung ‘an sich/ aus der Sache heraus/ von selbst’. Ob eine reflexivische ,vc/ / ),s7-Bildung vorliegt, lässt sich durch Rückführung auf einen Satz erkennen, auch dort, wo die Beziehung zu einem Verb/ Geschehen eher indirekt besteht. Dabei zeigt sich, dass selbst in der Wortstruktur die Rolle trägt, die das intensivierte Reflexivum entsprechend der zugrunde liegenden Stelligkeit des Relators im Satz hat. Das einfache Auftreten eines Reflexivums oder seines „Verstärkers“ in Paraphrasierungen verhilft dem jeweiligen Wort allerdings nicht in das Feld der Reflexivität, wenn die in 2.1 genannten Bedingungen der semantisch-syntaktischen Rückbezüglichkeit nicht erfüllt sind. 8 Die reflexive Auslegung der Komposita deuten Paraphrasen verschiedener Art im GWDS an, so z.B. Selbstgespräch, das <meist Pl.>: jmds. Sprechen, das nicht an einen Adressaten gerichtet ist; Gespräch, das jmd. mit sich selbstführt Selbstaufgabe, die <o. Pl.x das Sich-selbst-Aufgeben als Persönlichkeit Selbsthilfe, die <o. Pl.x das Sich-selbst-Helfen: (ohnefremde Hilfe) Selbstbeschränkung, bewusstes Sichbeschränken auf einen bestimmten Bereich 9 Selbstbetrug, der: das Nichteingestehen einer Sache vor sich selbst 8 Das gilt für Ableitungen und Komposita wie etwa: a) selbstredend, selbstständig, selbsttätig, ... ‘automatisch, von selbst’ b) Selbstblock, Selbstentladung, Selbstfahrer, Selbstschlussventil, Selbsttätigkeit, ... ‘automatisch, von selbst’ c) Selbstlaut (vs. Mitlauf), Selbstsucht (Egoismus vs. Altruismus), Selbststudium, Selbstwert, Selbstzweck,... ‘allein, in sich selbst’ d) Selbstabholer, Selbstbucher, Selbstzahler, ...‘unabhängig’ e) Selbstverlag {Eigenverlag), Selbstverantwortlichkeit (Eigenverantwortlichkeit), ... ‘allein’ f) Selbstbehalt, Selbstkosten, ... (fachsprl., jur.) g) Selbstbefruchtung, Selbstung, Selbstgärung, ... (fachsprl., biol.) h) Selbstheilung, Selbstverständnis, ... ‘von selbst’ i) Selbstherrscher, Selbstherrschaft, ... ‘allein handelnd’ j) u.a. Hier wird eine inhaltliche Gruppierung vorgenommen, die nur angedeutet, aber nicht eingehend besprochen werden kann. 9 Inkonsequenzen der Rechtschreiberegelung werden hier evident. Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 255 Reflexive Auslegung von selbst liegt vor in folgenden Beispielen, die einerseits nach Wortbildungstyp, andererseits nach der damit verbindbaren inhaltlichen Struktur gruppiert sind. Für jede Kategorie wird repräsentativ je ein Beispiel paraphrasiert (vgl. auch 3.2). 1) relationale Adjektive: selbstbewusst 10 , selbstbezogen, selbstgenügsam, selbstsicher, ... 2) Substantive, die auf Verbalausdrücke zurückgeführt werden können: Selbstbild 1 , Selbstironie, Selbstkritik, Selbstmord, Selbstzensur, ... 3) von Adjektiven abgeleitete Substantive: Selbstbezogenheit, Selbstgewissheit, Selbstbewusstheit, Selbstsicherheit' 2 , ... 4) Nomina actionis auf -ung: Selbstaufopferung, Selbstbewunderung, Selbstbezichtigung, Selbstdarstellung, Selbstversorgung, Selbstüberwindung, Selbstverwirklichung' 3 , ... 5) Implizite Derivate von Verben: Selbstanalyse, Selbstanklage, Selbstanzeige, Selbstbetrug, Selbstreflexion, Selbstvorwurf Selbstzweifel , ... 6) Nomina agentis auf -er. Selbstdarsteller, Selbstversorger, Selbstverwalter, Selbststeller 5 , ... Zu den besprochenen reflexivischen se/ fo/ -Bildungen lassen sich nur Übersetzungen, keine systemhaften Entsprechungen im Rumänischen angeben. Komposition hat im Rumänischen ohnehin einen umstrittenen Status und ist kein produktives Wortbildungsmittel. Dem reflexiven selbst entsprechen aber in wechselnder, nicht prädizierbarer Verteilung die Präfixbildung mit aufo- und seltener die lange Form des Akkusativs sine. 1) selbstbewusst: con$tient de sine, selbstsicher: sigur de sine, selbstständig: autonom 111 Z.B. selbstbewusst ‘Er ist sich einer Sache bewusst. > Er ist sich seiner selbst bewusst.’ 11 Z.B. Selbstbild ‘Er macht sich ein Bild von etwas. > Er macht sich ein Bild von sich selbst.’ 12 Z.B. Selbstsicherheit ‘Er ist sich einer Sache sicher. > Er ist sich seiner selbst sicher. > die Sicherheit seiner selbst.’ 13 Selbstverwirklichung ‘Er verwirklicht etwas. > Er verwirklicht sich. > die Verwirklichung seiner selbst.’ 14 Selbstzweifel ‘Er zweifelt an etwas. > Er zweifelt an sich selbst.’ 15 Selbststeller ‘Person, die sich der Polizei selbst stellt’. 256 Speranta Stänescu 2) Selbstaufopferung: sacrificiu de sine: Selbstbewunderung: autoadmiratie/ admiratie de sine, Selbstbezichtigung: autoflagelare, Selbstfinanzierung: autofinantare, Selbstvorstellung: autoprezentare/ prezentare de sine 3) Selbstlob', lauda de sine, Selbstliebe: dragoste de sine, Selbstvorwurf: autorepro! } 4. Selbst zu Eigen und Fremd Der „sprichwörtliche“ Kreis schließt sich hiermit. In das Feld der Reflexivität ließen sich in beiden Sprachen grammatische und lexikalische Mittel hineinpferchen. Ein altes Wissen wird bei derartiger Betrachtung bestätigt: Einzelsprachen lösen die Aufgabe der Zuordnung von Sprachform und Sprachfunktion in je spezifischer Weise. Die Unterschiede liegen, wie erwartet, auf der Ausdrucksebene. Das bewusst zu machen ist Aufgabe einer Lernergrammatik, in der der terminologische und theoretisch-polemische Aufwand wie hier möglichst klein gehalten werden sollte. 5. Literatur BROCKHAUS = Brockhaus (1982): Dtv Brockhaus Lexikon in 20 Bänden. Wiesbaden: F.A. Brockhaus/ München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Coteanu, Ion (1982): Gramatica de bazä a limbii romäne. Bucure^ti: Albatros. Dimitriu, C. (1979): Gramatica limbii romäne explicatä. Morfologia. Ia§i: Junimea. GWDS = Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (2000): 10 Bände auf CD-ROM, Mannheim/ Leipzig/ Wien: Dudenverlag. Helbig, Gerhard (1984): Probleme der Reflexiva im Deutschen (in der Sicht der gegenwärtigen Forschung), ln: Deutsch als Fremdsprache 21, S. 78-89. Irimia, Dumitru (1987): Structura gramaticalä a limbii romäne. Ia§i: Junimea. KGDR = Engel Ulrich/ Isbäijescu Mihai/ Stänescu Speranta/ Octavian Nicolae (1993): Kontrastive Grammatik deutsch-rumänisch. Heidelberg: Groos. Kleiber, Georges (1993): Prototypensemantik. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Scur, Georgij S. (1977): Feldtheorien in der Linguistik. Düsseldorf: Schwann. (= Sprache der Gegenwart 42). Stötzel, Georg (1970): Ausdrucksseite und Inhaltsseite der Sprache. Methodenkritische Studien am Beispiel der deutschen Reflexivverben. Ismaning: Hueber. (= Linguistische Reihe 3). Von Fremd und Selbst. Zur Reflexivität im Deutschen und im Rumänischen 257 Strauß, Gerhard/ Zifonun, Gisela (2002): Auf der Suche nach Identität. In: Haß-Zumkehr, Ulrike/ Kallmeyer, Wemer/ Zifonun, Gisela (Hg.): Ansichten der deutschen Sprache. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 25). S. 165-213. VALBU = Schumacher, Helmut/ Kubczak, Jacqueline/ Schmidt, Renate/ de Ruiter, Vera (2004): VALBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 31). Wilss, Wolfram (1997): Zusammensetzungen mit selbst in der deutschen Gegenwartssprache. In: Muttersprache 107, S. 330-338. Zifonun, Gisela (2002): Neue Wege in der vergleichenden Grammatikschreibung. In: Agel, Vilmos/ Herzog, Andreas (Hg.): Jahrbuch der ungarischen Germanistik 2001. Budapest (Gesellschaft Ungarischer Germanisten)/ Bonn (DAAD). S. 143- 155. [zitiert nach: http: / / www.ids-mannheim.de/ gra/ texte/ zif2.pdf, August 2002] Zifonun, Gisela (2003): Aspekte deutscher Reflexivkonstruktionen im europäischen Vergleich: Pronominale Paradigmen und NP-inteme Reflexiva. In: Gunkel, Lutz/ Müller, Gereon/ Zifonun, Gisela (Hg.): Arbeiten zur Reflexivierung. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 481). S. 267-300. Cathrine Fabricius-Hansen Wie fügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 1. Funktionsverbgefüge als Valenzträger Funktionsverbgefüge (FVG) bilden nach der Grammatik der deutschen Sprache (Zifonun et al. 1997, S. 702ff., 1068ff.) eine Untergruppe der Nominalisierungsverbgefuge, die wie folgt charakterisiert werden: Nominalisierungsverbgefuge sind mehr oder weniger verfestigte, syntaktisch komplexe, aber semantisch einfache Prädikate, die aus einem sogenannten Nominalisierungsverb und einer Akkusativ-NP oder PP mit deverbalem oder seltener deadjektivischem Nomen gebildet sind, so daß dieses semantisch den Prädikatskem bildet {Verzicht leisten, Hoffnung! Ahnung! Ähnlichkeit haben, sich einer Prüfung unterziehen, einen Besuch machen), (ebd., S. 1068) Man vergleiche jeweils (1) und (2): (1) eine Anregung, das! ein Versprechen, die! eine Erlaubnis geben', Anwendung, Berücksichtigung, Zustimmungfinden (2) zum Abschluss, zur Aufführung, zur Verteilung, zur Entfaltung, zur Anwendung bringen! kommen Dabei zeigen Funktionsverben gegenüber ihrer Vollverbverwendung eine „verblaßte“ Bedeutung, die einfache Bedeutungskomponenten wie ‘kausativ’, ‘passiv’ oder solche der zeitlichen Phasierung wie ‘inchoativ’, ‘durativ’ umfaßt. Die Kembedeutung des Prädikats wird dagegen wieder durch den nominalen Bestandteil denotiert, in der Regel ein deverbales oder deadjektivisches Nomen, (ebd.) Das bedeutet, dass Funktionen oder Bedeutungsbestandteile, die im einfachen Prädikat (im finiten Vollverb) einem einzigen Wort zugeteilt sind, sich im FVG mit deverbalem Kern wie in anderen komplexen Prädikaten auf zwei oder mehr Wörter verteilen. Es liegt zwischen dem Funktionsverb und dem nominalen Bestandteil eine Art Arbeitsteilung vor: Das Funktionsverb hat zur Aufgabe, rein grammatische (morphosyntaktische) Merkmale und abstrakte Bedeutungsaspekte, die mit Perspektivierung (Passivierung), Zeitbezug, Modalität, Aktionsart und Aktionalität zu tun haben, auszudrücken. Den wesentlichen situationsbeschreibenden Bedeutungsbeitrag liefert der nominale Teil des Prädikats; vgl. Abb. 1. Es sei aber mit Eisenberg (1994, 260 Cathrine Fabricius-Hansen S. 309ff.) betont, dass nicht alle Funktionsverbgefüge sich in der in Abb. 1 dargestellten Weise auf einfache Vollverben beziehen lassen; vgl. Angst/ Mut haben/ bekommen; in Kraft, ins Werk setzen. (a) (dass) Anna lacht rtmlcs Voiiverb] : einfaches Prädikat Kembedeutung Kausativität Zeitbezug Modalität Num.-Pers. (b) (dass) wir Anna [[zum Lac/ tenverbaiabstr.] bringenr inllt . s FV ]: komplexes Prädikat Abb. 1: Einfaches Vollverb (a) vs. Funktionsverbgefuge (b) Ich bezeichne im Folgenden den nominalen Teil des FVGs als lexikalischen Kern und das Verb, von dem der lexikalische Kern (wenn deverbal) abgeleitet ist, als das Grundverb der Fügung. Zifonun et al. (1997) betonen, dass FVG und Funktionsverben keine fest abgrenzbaren Kategorien darstellen. So finden sich die Valenzmuster der entsprechenden Vollverb(variant)en in den Funktionsverbgefugen wieder: Bei den Verben gehen, kommen, geraten, gelangen, setzen, stellen, bringen, nehmen ist der nominale Bestandteil des Funktionsverbgefuges eine PP mit dem Akkusativ der Direktivkomplemente, bei stehen, sein, sich befinden mit dem Dativ der Situativkomplemente. Bei den transitiven Verben erheben, leisten, haben, nehmen, geben, finden, üben, halten, tragen, erteilen erscheint der nominale Bestandteil des Funktionsverbgefuges als Akkusativ-NP. Zwei- und Dreiwertigkeit in Funktionsverbgefugen ist entsprechend der Valenz des Funktionsverbs als Vollverb distribuiert [...]. (ebd., S. 1068f.) Demnach liegen in (3a)/ (4a) zweistellige intransitive, in (3b)/ (4b) dreistellige transitive Konstruktionen vor: 1 (3) a. Das Manuskript ist in Druck. b. Wir geben das Manuskript in Druck. (4) a. Er steht unter Druck. b. Ich setze ihn unter Druck. Das heißt, die Präpositionalphrase, die den lexikalischen Kern des FVGs {in Druck sein! geben, unter Druck stehen! setzen) enthält, wird wie das Akku- 1 Zifonun et al. (1997) rechnen auch das Subjekt zu den (Verb-)Komplementen. Wie fügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 261 sativobjekt in den transitiven Konstruktionen als Ergänzung (‘Komplement’) des Funktionsverbs aufgefasst (vgl. Eisenberg 1994, S. 31 lf). Was das FVG von der entsprechenden Vollverbkonstruktion unterscheidet, ist die „Verfestigung“ der Verbindung: Die Verfestigung der gesamten Fügung bedingt aber bei den Funktionsverbgefügen eine „Degradierung“ des Arguments, so daß man ihre nominalen Bestandteile bestenfalls als Komplemente ohne Argumentstatus bezeichnen kann Komplement- und Argumentstatus divergieren. (Zifonun et al. 1997, S. 1069) Die Konstruktionen in (3a)/ (4a) und (3b)/ (4b) enthalten m.a.W. jeweils nur ein bzw. zwei syntaktische Komplemente (kursiv gesetzt), denen nach Zifonun et al. (1997) Argumentstatus und damit auch eine semantische Rolle zukommen: das Subjekt bzw. das Subjekt und das Akkusativobjekt. Insofern lässt sich das ganze aus Funktionsverb und nominalem bzw. präpositionalem Bestandteil bestehende Funktionsverbgefuge aus semantischer Sicht als ein allerdings syntaktisch komplexes - Prädikat betrachten (Zifonun et al. 1997; S. 702; v. Polenz 1963; Heringer 1972, S. 179). Interessant ist dabei die Frage, wie die Valenzeigenschaften dieses Prädikats zustande kommen und wie sie sich bei einem deverbalen lexikalischen Kern zu den Valenzeigenschaften des jeweiligen Grundverbs verhalten (vgl. Heringer 1968, 1972). Dieser Frage sind die folgenden Betrachtungen gewidmet. 2 Dabei geht es mir im Rahmen eines „multidimensionalen Valenzkonzepts“ (Zifonun et al. 1997, S. 1030ff.) nicht zuletzt um den Zusammenhang zwischen der semantischen Rolle, die die Vollverbvariante des Funktionsverbs seiner Subjektstelle zuordnet, und dem Stellenwert des Funktionsverbgefüges als „aktivische“, „passivische“ oder „kausative“ Konstruktion (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 704; Helbig/ Buscha 2001, S. 84ff). Funktionsverbgefüge mit einer NP im Akkusativ und solche mit präpositional angeschlossener NP als lexikalischem Kem werden getrennt behandelt. 2. Funktionsverbgefüge mit NP A kk als Kern Als Funktionsverben in solchen Fügungen dienen transitive Verb(variant)en. Der nominale akkusativische Teil des FVGs sättigt eine syntaktische Feerstelle beim Funktionsverb, wie das Akkusativobjekt des entsprechenden Vollverbs; er hat aber nach Zifonun et al. (1997) keine selbstständig referie- Ähnlich in dem von der Autorin verfassten Kapitel Funktionsverben und Funktionsverbgefüge der 7. Auflage der Duden-Grammatik (2005, S. 424ff.) 262 Cathrine Fabricius-Hansen rende Funktion, keinen Argumentstatus (s. Kap. 1.). Das akkusativische Verbalsubstantiv selber ist oft von einem transitiven Verb abgeleitet; Ableitungen von intransitiven Verben kommen jedoch auch vor. Nach ihrer Valenz und Aktionalität 3 lassen sich die einschlägigen Funktionsverben (genauer: deren Vollverbentsprechungen) zunächst in fünf Gruppen einteilen: (i) Zweistellige Verben, die ihrem Subjektargument eine prototypische Agensrolle zuordnen, wie (etw.) leisten, machen, üben, führen, nehmen: FVG-Beispiele: Ersatz, Verzicht {auf etw.), einen Beitrag, Folge, Hilfe, Widerstand leisten', Zurückhaltung, Kritik {an etw.), Nachsicht {mit jmdm.), Verrat {an jmdm.) üben', Abschied, Aufstellung, Rache nehmen', ein Gespräch, ein Protokoll, den Vorsitz führen (ii) Dreistellige (ditransitive) Verben wie jmdm. etwas geben, erteilen (kausative Verben des Besitzwechsels), deren Subjekt und Dativobjekt die Rollen des Agens bzw. des Rezipienten oder Possessors zugeordnet sind: FVG-Beispiele: (jmdm.) ein Versprechen, eine Erlaubnis, eine Antwort, eine Zusicherung, einen Befehl, einen Rat, eine Anregung, einen Kuss geben', jmdm. einen Auftrag, einen Befehl, eine Erlaubnis, einen Rat erteilen (iii) Zweistellige Verben wie {etw.) finden, erfahren, genießen, deren Subjektargument kein prototypisches Agens ist, sondern als Experiencer o. dgl. zur verstehen ist: FVG-Beispiele: Anerkennung, Anwendung, Aufnahme, Berücksichtigung, Erwähnung, Unterstützung, Zustimmungfinden (iv) Die zweistelligen „Wechselverben“ Verben {etwas) bekommen, erhalten, deren Subjekt die Rezipienten- oder Possessorrolle trägt. FVG-Beispiele: dieleine Anregung, {dieleine) Antwort, denleinen Auftrag, den/ einen Befehl, Besuch, dieleine Bestätigung, die Einladung, die Einwilligung, dieleine Erlaubnis, dieleine Garantie, die Genehmigung, denleinen Rat, Unterricht, die Zusage, dieleine Zusicherung bekommen 3 Ich verwende den Terminus Aktionalität für Verbkategorisierungen, die sich eventuell zusätzlich zur Aktionsart vor allem an der semantischen Rolle des Subjektarguments orientieren, d.h. für Kategorien wie Handlung vs. Vorgang (s. Duden Grammatik 2005, S. 414, 418). Wiefügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 263 (v) Das zweistellige Zustandsverb haben, das als Vollverb seinem Subjekt keine Agens-, sondern eine possessorähnlichere Rolle zuordnet. FVG-Beispiele: eine Ahnung, den Glauben, die Hoffnung, Kenntnis, einen Auftrag, (k)eine Zustimmung haben Wie in Kap. 1. angedeutet wurde, lässt sich das FVG als ein komplexes Prädikat betrachten, dessen Valenz von Valenzeigenschaften des Funktionsverbs einerseits und Eigenschaften des Verbalsubstantivs bzw. des Grundverbs andererseits abhängen (s. dazu relativ ausführlich v. Polenz 1963 und 1987, Heringer 1968 und 1972). Dabei kann das Subjekt des FVGs semantisch dem Subjekt des Grundverbs entsprechen. Dies ist der Fall, wenn die Vollverbvariante des Funktionsverbs und das Grundverb ihren Subjektleerstellen dieselbe semantische Rolle oder wenigstens verträgliche Rollen zuordnen. Im typischen Fall handelt es sich dabei um die Agensrolle, d.h. beide Verben sind Handlungsverben. Dies ist das Muster der Funktionsverbgruppen (i) und (ii) oben; vgl. Hilfe leisten helfen, Kritik üben kritisieren, Rache nehmen — sich rächen, eine Antwort geben — antworten. Ist das Grundverb transitiv, entspricht seinem Akkusativobjekt eine präpositionale oder eventuell eine dativische Ergänzung im FVG, während ein Dativobjekt des Grundverbs im Normalfall als Dativobjekt im FVG „erhalten bleibt“: an jmdm. Kritik üben —jmdn. kritisieren, jmdm. Hilfe leisten jmdm. helfen, jmdm. eine Antwort geben jmdm. antworten. Aufgrund der Subjekt-Subjekt- Korrespondenz zwischen Grundverb und FVG werden Funktionsverbgefüge dieser Kategorie von Helbig/ Buscha (2001, S. 84) als „aktivisch” eingestuft; vgl. Abb. 2 und 3. Alle Subjekt, Agens Alle Subjekt, Agens üben Kritik kritisieren [an [dem Chef]]. Präp.-Obj. Patiens [den Chef]. Akk.-Obj., Patiens Abb. 2: FV + NP Akk (i) vs. Grundverb Man Subjekt, Agens Man Subjekt, Agens erteilte [dem Besitzer] die Erlaubnis Dat.-obj., Rezipient erlaubte [dem Besitzer] Dat.-obj., Rezipient umzubauen. Thema umzubauen. Thema Abb. 3: FV + NP Akk (ii) vs. Grundverb 264 Cathrine Fabricius-Hansen Die Vollverbentsprechungen der Funktionsverben vom Typ (iii) und (iv) - Typ finden, erfahren, genießen bzw. bekommen, erhalten teilen ihrer Subjektleerstelle wie erwähnt keine typische Agensrolle, sondern die patiensähnlichere Rolle des Experiencers oder Benefizienten zu. Dementsprechend erlauben sie auch im Funktionsverbgefüge kein Agens als Subjekt. Eine Subjekt-Subjekt-Korrespondenz zwischen FVG und Grundverb setzt folglich voraus, dass das Grundverb auch selber keine Agensrolle austeilt; vgl. {kein) Interesse finden - {nicht) interessieren. Ist das Grundverb ein prototypisches transitives Verb mit Agens-Subjekt und Patiens-ZThema-Objekt (s. Zifonun et al. 1997, S. 960ff.), entspricht das Subjekt des FVGs vielmehr dem Akkusativobjekt des Grundverbs. Die Funktionsverbfügung stellt in solchen Fällen eine „Konkurrenzform des Passivs” dar, sie hat „passivische Bedeutung“ (Helbig/ Buscha 2001, S. 84f.): Anerkennung finden — anerkannt werden, eine Veränderung erfahren verändert werden! sich verändern', vgl. Abb. 4. [Diese Einwände] fanden keine Berücksichtigung. Subjekt, Patiens Man berücksichtigte [diese Einwände] nicht. Subjekt, Agens Akk.-Obj., Patiens Abb. 4: FV + NP Akk (iii) vs. Grundverb Bei Funktionsverbgefügen mit bekommen, erhalten (Gruppe (iv)) korrespondiert das Subjekt mit dem Dativobjekt des Grundsverbs, wenn dieses ditransitiv ist; d.h., es trägt die Rezipientenrolle, wie das Subjekt im bekom- / nen-Passiv; vgl. Abb. 5. In anderen Fällen entspricht das Subjekt der bekommen-/ erhalten-¥ügung dem Objekt eines Grundsverbs, das nur den Akkusativ bzw. den Dativ regiert: einen Kuss bekommen geküsst werden, Lob erhalten gelobt werden, jm. bekommt Hilfe jmdm. wird geholfen. Ob das bekommen-lerhalten-Gefüge dabei eine stärkere Präferenz für benefizientenähnliche Subjekte aufweist als Fügungen mit finden oder erfahren, wäre noch zu untersuchen. [Der Besitzer] erhält heute die Erlaubnis Subj., Benefizient umzubauen]. Thema I Man erlaubt heute [dem Besitzer] umzubauen. Subj., Agens Dat.-Obj., Benefizient Thema Abb. 5: FV + NP Akk (iv) vs. Grundverb 265 Wiefügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? Bei den mit haben gebildeten Funktionsverbgeftigen (Typ (v)) sind verschiedene Korrespondenzmuster zu beobachten, je nach den Valenzeigenschaften des Grundverbs. Gemeinsam ist diesen Mustern jedoch, dass das Subjekt des Funktionsverbgefuges kein Agens ist, sondern dem Vollverb haben entsprechend eine possessor- oder patiensähnlichere Rolle trägt. Subjekt-Subjekt-Korrespondenz zwischen FVG und Grundverb setzt demnach voraus, dass dieses eine solche Rolle an sein Subjektargument vergibt; vgl. eine Ahmmg/ Hoffnung haben etwas ahnen, (auf) etwas hoffen, Interesse (für etwas) haben — sich (für etwas) interessieren, Interesse haben - (jmdn.) interessieren', dazu Abb. 6 (a). Statt haben lassen sich hier manchmal auch atelische Funktionsverben der Gruppe (iii) verwenden; vgl. Interesse genießen. In anderen Fällen ist es das Objektargument des Grundverbs, das auf das Subjektargument des Funktionsverbgefuges abgebildet wird. Es liegt dann ein „passivisches“ Korrespondenzmuster vor, wie es auch beim Typ (iii) und (iv) begegnet (was allerdings nicht heißen muss, dass das Grundverb eine normale Passivbildung mit werden erlaubt). Man vergleiche etwa (keine) Unterstützung haben - (nicht) unterstützt werden, der Vorschlag hat Zustimmung man stimmt dem Vorschlag zw, eine Erlaubnis, eine Bestätigung bekommen erlaubt! bestätigt bekommen', dazu Abb. 6b-c. (a) Alle hatten die Hoffnung, dass es gut gehen würde. Subj., Exper. Thema Alle hofften, dass es gut gehen würde. Subj., Exper. Thema (b) [Die Vorsitzende] hat keine Unterstützung. Subj., ‘Patiens’ Man unterstützt die Vorsitzende nicht. Subj., Agens Akk.-Obj., ‘Patiens’ (c) [Der Besitzer] hat die Erlaubnis umzubauen. Subj., Benefizient Thema Man erlaubt [dem Besitzer] umzubauen. Subj., Agens Dat.-Obj., Benefizient Thema Abb. 6: FV haben + NP^ (v) vs. Grundverb 266 Cathrine Fabricius-Hansen Ein besonderes Charakteristikum der haben-Gcfügc ist seine eindeutig atelische (‘imperfektive’, ‘durative’) Aktionsart, die Grundverben entsprechender Aktionsart verlangt, wenn das haben-Gefüge nicht als resultatbezogene (‘Passiv’-)Konverse dienen kann. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die transitiven Funktionsverben, deren Objektstelle im FVG durch ein deverbales Nomen als lexikalischen Kern gesättigt wird, im Hinblick auf die semantische Rolle des Subjekts in zwei Kategorien fallen: - Agentive Funktionsverben wie leisten, machen, nehmen, führen, üben, geben, erteilen, die dem Subjekt eine Agensrolle zuteilen (die Rolle des unbelebten ‘Verursachers’ mit eingefasst). - Unagentive Funktionsverben 4 wie finden, erfahren, genießen, bekommen, erhalten, haben, deren Subjektargument eine rangniedrigere Rolle - Experiencer, Rezipient, Benefizient, Patiens, Thema zufällt. Die Funktionsverben verlangen von dem Verb, das dem jeweiligen nominalen Komplement zugrunde liegt, dass es eine Argumentstelle - Subjekt- oder Objektstelle bereitstellt, die sich im Hinblick auf die ihr zugeordnete semantische Rolle auf die Subjektstelle des Funktionsverbs abbilden lässt. Wenn nun ein Vollverb überhaupt eine prototypische Agensrolle vergibt, so fallt diese der Subjektstelle im Aktiv der sog. externen Argumentstelle zu. Daraus ergibt sich wiederum, dass agentive Funktionsverben Verbalabstrakta als Objekt selegieren, die von agentiven (oder kausativen) Verben abgeleitet sind, und zwar so, dass Subjekt-Subjekt-Korrespondenz zwischen dem FVG und dem Grundverb besteht; vgl. Abb. 2 und 3. Das FVG hat in diesem Fall „aktivische“ Bedeutung es entspricht, von etwaigen Unterschieden der Aktionsart hier abgesehen, einem Aktivsatz mit dem betreffenden Grundverb. Für unagentive Funktionsverben gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Das Grundverb kann selber unagentiv sein, so dass seine Subjektleerstelle sich auf die Subjektleerstelle des Funktionsverbs abbilden lässt. Insofern ist das FVG auch in diesem Fall „aktivisch“ zu nennen; vgl. Abb 6(a). Die zweite Möglichkeit ist, dass das Grundverb agentiv ist, aber eine Objektstelle („interne Argumentstelle“) eröffnet, deren semantische Rolle zum Subjekt 4 Der hier eingeführte Begriff unagentiv hat einen weiteren Umfang als die verwandten Begriffe imergativ (unakkusativ), die sich auf Verben mit Patiens- oder Thema-Subjekt beziehen. Wiefügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefiige ein? 267 des Funktionsverbs 'passt’. In dem Fall entsteht ein „passivisches“ Funktionsverbgefüge oder richtiger: ein FVG, das als Konverse des Grundverbs im Aktiv dient, insofern seine Subjektleerstelle einer Objektleerstelle des Grundverbs entspricht; vgl. Abb. 4, 5 und 6(b) und (c). Und zwar ist es bei ditransitiven Grundverben die ranghöhere Rezipientenrolle, die dem Subjekt des Funktionsverbs {bekommen, erhalten, haben) zugeordnet wird. (a) Alle üben Kritik an dem Chef. (b) Wir geben dem Besitzer die Erlaubnis umzubauen. Alle kritisieren den Chef. Wir erlauben dem Besitzer umzubauen. (c) Alle hatten die Hoffnung, dass ... (d) Der VorschX&g findet/ hat kein Inte- Alle hofften, dass ... Der Vorschlag interessiert nicht. (e) Der Vorschlag fand/ hatte keine Unterstützung. (f) Die Verunglückte fand/ erhielt keine Hilfe. Man unterstützte den Vorschlag nicht. Man halfder Verunglückten nicht. (g) Der Besitzer bekam/ hatte die Erlaubnis umzubauen. Man erlaubte dem Besitzer umzubauen. Tab. 1: FV + NP Akk vs. Grundverb - Korrespondenzmuster Tabelle 1 fasst die oben beschriebenen Abbildungsmuster zusammen: In (a) und (b) liegen nicht konverse (d.h. „aktivische“) agentive FVG vor, in (c) und (d) 5 nicht konverse unagentive FVG, in (e), (f) und (g) konverse (d.h. „passivische“ und eo ipso unagentive) FVG, wobei (g) einem ditransitiven Grundverb entspricht. 3. Funktionsverbgefüge mit präpositional angeschlossenem Kern Präpositionale Funktionsverbfügungen werden in erster Linie mit (intransitiven und transitiven) Verben gebildet, die sich als Vollverben mit Richtungs- oder Ortsadverbialien verbinden (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1068ff.). Die entsprechende syntaktische Leerstelle wird im FVG durch die Präpositionalphrase gesättigt. Die Liste der einschlägigen Verben ist lang (vgl. Helbig/ Buscha 2001, S. 70ff); es lassen sich aber auch hier bestimmte ‘Grundkategorien’ unterscheiden: 5 Im Fall (d) lässt sich das FVG natürlich auch auf die reflexive Konstruktion {Man interessierte sich {nicht)für den Vorschlag) beziehen und insofern als konverses FVG bezeichnen. Allerdings entspricht das Subjekt des FVGs hier anders als bei den sonstigen konversen („passivischen“) Funktionsverbgefügen nicht einem Kasusobjekt, sondern einem Präpositionalobjekt des Grundverbs. 268 Cathrine Fabricius-Hansen (i) intransitive unagentive oder nicht eindeutig agentive Vorgangsbzw. ‘Positionsverben’ wie kommen, gehen, geraten, gelangen'. FVG-Beispiele: zur Anwendung, Aufführung, Bearbeitung, Durchführung, Einigung, Entscheidung, Verabschiedung, Versteigerung, Verwendung kommen', in Aufregung, Brand, Vergessenheit geraten', zum Abschluss, Ausdruck, Entschluss, Halten, Stillstand kommen', in Aufregung, Betrieb, Bewegung, Fahrt, Gang, Gebrauch, Ordnung, Schwung, Umlauf kommen', in Aufregung, Begeisterung, Erregung, Vergessenheit, Verwirrung, Verzweiflung, Verlegenheit geraten', in Druck, Revision, Erfüllung gehen (ii) die intransitiven Zustandsverben sein, stehen, bleiben, die gleichfalls nicht agentiv sind: FVG-Beispiele: in Anwendung, Bearbeitung, Betrieb, Bewegung, Entstehung, Entwicklung, Gang, Ordnung, Schwung, Umlauf sein', im Widerspruch {zu etw.), Zusammenhang {mit etw.) stehen', zur Debatte, Diskussion, Entscheidung, Erörterung, Verfügung stehen', unter Beobachtung, Druck stehen', in Berührung, Betrieb, Erinnerung, Gang, Schwung, Umlauf, Verbindung bleiben (iii) die transitiven ‘Positionsverben’ bringen, stellen, setzen: FVG-Beispiele: zur Anwendung, Aufführung, Bearbeitung, Deckung, Durchführung, Kenntnis, Verzweiflung bringen', zum Abschluss, Ausdruck, Einsturz, Erliegen, Halten, Kochen, Lachen, Reden, Stehen bringen', in Bewegung, Erfahrung, Erinnerung, Fluss, Verwirrung bringen', in Betrieb, Bewegung, Brand, Erstaunen, Kenntnis, Umlauf, Verwunderung setzen', unter Druck setzen', in Abrede, Aussicht stellen', unter Beobachtung, Beweis stellen (iv) andere transitive Handlungsverben wie nehmen, ziehen: FVG-Beispiele: in Anspruch, Bearbeitung, Besitz, Betrieb, Gebrauch, Empfang, Schutz, Verwahrung nehmen', in Betracht, Erw’ägung, Zweifel ziehen, ins Vertrauen ziehen (v) die transitiven Zustandsverben haben, halten: FVG-Beispiele: in Besitz, Gebrauch haben', zur Bearbeitung haben', in Betrieb, Erinnerung, Gang, Ordnung, Schwung, Umlauf halten ', unter Verschluss, Aufsicht halten Wiefügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 269 Mit den Funktionsverben kommen, gehen, geraten, gelangen - Gruppe (i) oben - und sein, stehen, bleiben - Gruppe (ii) werden intransitive FVG gebildet, deren Subjekt kein typisches Agens ist, sondern eine patiensähnliche Rolle trägt. Sie werden meistens mit (präpositional angeschlossenen) Verbalsubstantiven wie Anwendung und Entscheidung kombiniert, denen transitive Handlungsverben zugrunde liegen und deren internes (Patiens-)Argument somit auf das Subjekt des Funktionsverbgefüges abgebildet werden muss. Dieses entspricht somit semantisch dem Akkusativobjekt des Grundverbs. Das FVG reduziert in dem Fall die Valenz des Prädikats in ähnlicher Weise wie das Passiv oder eine sog. antikausative Reflexivkonstruktion wie sich entscheiden (vgl. Zifonun et al. 1997, S. 1862); vgl. Abb. 7. Zwischen den beiden Gruppen (i) und (ii) besteht wiederum ein Aktionsartenunterschied: FVG wie in Bewegung kommen, in Aufregung geraten sind telisch, und zwar inchoativ im Verhältnis zu den atelischen Fügungen in Bewegung sein/ bleiben bzw. in Aufregung sein. - In selteneren Fällen ist das Verbalsubstantiv von einem unagentiven intransitiven Verb abgeleitet, dessen Subjektrolle zur Subjektstelle des Funktionsverbs passt; vgl. Abb. 8. [Die neue Symphonie] Subjekt, Fattens I kommt endlich zur Aufführung. Man führt endlich Subjekt, Agens [die neue Symphonie] auf. Akk.-Obj., Fattens Abb. 7: FV + PP vs. Grundverb, Typ (i) - „passivisches“ FVG Gerüchte Die Versammlung Subj., Fattens Gerüchte Die Versammlung Subj., Fattens kamen in Umlauf, geriet in Aufregung. liefen um. regte sich auf. Abb. 8: FV + PP vs. Grundverb, Typ (i) - Subjekt-Subjekt-Korrespondenz Die Funktionsverben bringen, stellen, setzen - Gruppe (iii) hingegen sind transitiv und ordnen ihrem Subjekt eine Agens- oder Verursacherrolle zu. Ist das Grundverb intransitiv oder reflexiv, so entspricht das Akkusativobjekt eines Funktionsverbgefüges dieser Art semantisch dem Subjekt des Grund- 270 Cathrine Fabricius-Hansen verbs. Die Funktionsverbfügung steht in dem Fall dem Grundverb als komplexe Kausativkonstruktion gegenüber: Sie zeigt eine Valenzerhöhung gegenüber dem Grundverb, indem ihr Subjekt als Verursacher des mit dem Grundverb bezeichneten Vorgangs eingeführt wird. Vgl. zum Lachen, Erliegen, Einsturz, in Gang, Bewegung bringen lachen, erliegen, einstürzen, gehen, sich bewegen-, dazu Abb. 9. [Der Sturm] brachte [das Haus] zum Einsturz. Subjekt, Verursacher Akk.-Obj., Patiens [Das Haus] stürzte ein. Subjekt, Patiens Abb. 9: FV + PP vs. Grundverb, Typ (iii) - „kausatives“ FVG Ist das Grundverb selber ein agentives transitives Verb, so entspricht das Subjekt des Funktionsverbgefüges dem Subjekt des Grundverbs, oder es trägt die Rolle eines indirekten Verursachers (s. Heringer 1968); vgl. etw. zum Ausdruck, zur Anwendung, zur Durchführung bringen etw. ausdrücken, anwenden, durchführen', dazu Abb. 10. [Diese Formulierung] bringt [unsere Zielsetzung] nicht zum Ausdruck. Subjekt, Verursacher Akk.-Obj., Patiens [Diese Formulierung] drückt [unsere Zielsetzung] nicht aus. Subjekt, Verursacher Akk.-Obj., Patiens Abb. 10: FV + PP vs. Grundverb, Typ (iii) - Subjekt-Subjekt-Korrespondenz Auch bei Funktionsverben vom Typ (iv) nehmen, ziehen entspricht das Subjekt des Funktionsverbgefüges dem Subjekt des (transitiven) Grundverbs: vgl. etw. in Verwahrung, in Besitz nehmen — etw. verwahren, besitzen. Zwischen den beiden Konstruktionstypen kann jedoch, wie in den erwähnten Beispielen, ein Unterschied der Aktionsart (telisch atelisch) oder Aktionalität (Handlung - Zustand/ Relation) bestehen. Was im Einzelnen die Wahl zwischen Funktionsverben vom Typ (iii) und (iv) bestimmt, ist m.W. nicht geklärt. Die Annahme liegt jedoch nahe, dass die Präferenzmuster auf möglicherweise recht subtile - Unterschiede der typischen mit den jeweiligen Subjektstellen verknüpften Rollen zurückzuführen sind. Wie fügen sich Funktionsverben in Funktions verbgefüge ein? 271 Die mit Gruppe (v) haben, halten gebildeten FVGs sind gleichfalls transitiv. Es handelt sich um atelische Entsprechungen von Funktionsverbgefügen vom Typ (iii) oder (iv); vgl. einerseits in Gang bringen in Gang halten, in Bewegung setzen in Bewegung halten, andererseits in Erwägung ziehen in Erwägung haben, in Betrieb nehmen in Betrieb haben. Die Beziehungen zwischen FVG und Grundverb sind bei den Funktionsverben mit abstraktem PP-Komplement zweifellos komplizierter und unübersichtlicher als bei Funktionsverben, die sich mit einem abstrakten Akkusativobjekt verbinden. Ich habe hier lediglich die Hauptmuster besprechen können. Sie lassen sich in der folgenden Tabelle zusammenfassen. (a) Gerüchte kamenlwaren in Umlauf. Gerüchte liefen um (b) Die neue Symphonie kam zur Auffühning. Man führte die neue Symphonie auf. (c) Der Sturm brachte das Haus zum Einsturz. Das Haus stürzte ein. (d) Diese Formulierung bringt unsere Zielsetzung zum Ausdruck. Diese Formulierung drückt unsere Zielsetzung aus. (e) Der Intendant brachte die Symphonie zur Aufführung. Der Intendant ließ die Symphonie aufführen. Tab. 2: FV + PP vs. Grundverb - Typische Korrespondenzmuster In (a) und (b) liegen intransitive FVG mit Patiens-Subjekt vor, in (c) - (e) agentiv-kausative FVG. Dabei veranschaulichen (b) und (c) jeweils das „passivische“ und das „kausative“ Muster, (a) und (d) die Subjekt-Subjekt-Korrespondenz und (e) die Möglichkeit der indirekt-kausativen Interpretation. 4. Schlusswort In grammatischen Beschreibungen der Funktionsverbgefüge ist es üblich, zwischen „aktivischen“, „passivischen“ und „kausativen“ Konstruktionen bzw. Funktionsverben zu unterscheiden (s. z.B. Helbig/ Buscha 2001, S. 84f, Eroms 2000, S. 168ff). Ich bin hier der Frage nachgegangen, wie diese Unterschiede zustande kommen wie die Funktionsverben sich in die Funktionsverbgefüge einfügen und warum die Beziehungen zwischen FVG und Grundverb sind, wie sie sind. Dabei hat sich herausgestellt, dass nicht einfach die syntaktische Valenz des als Funktionsverb dienenden Verbs, (wie natürlich auch die des Grundverbs), sondern sein Valenzrahmen im erweiterten multidimensionalen Sinne von zentraler Bedeutung ist, und zwar insbesondere die semantische Rolle, die es an sein externes Argument - 272 Cathrine Fabricius-Hansen die Subjektleerstelle vergibt: Sie entscheidet, welche Argumentstelle des Grundverbs als Subjekt des Funktionsverbgefüges in Frage kommt. Das ranghöchste (Subjekt- oder Objekt-)Argument des Grundverbs, dessen semantische Rolle damit verträglich ist, wird auf die externe Argumentstelle des FVGs abgebildet. Handelt es sich dabei um ein Objekt des Grundverbs, entsteht eine „passivische“ Fügung, und zwar je nach Grundverb und Funktionsverb Patiens- oder Rezipientenpassiv. Handelt es sich um die Subjektleerstelle des Grundverbs, kommen je nach den weiteren Eigenschaften von Funktions- und Grundverb „aktivische“ Konstruktionen (FVG mit Subjekt- Subjekt-Korrespondenz) oder „kausative“ Konstruktionen zustande. Ich habe hier nur die wichtigsten Regularitäten und Tendenzen der Argumentabbildung andeuten können. Funktionsverbgefüge mit einem nichtdeverbalen lexikalischen Kern blieben ganz ausgeklammert. Meine Beobachtungen zeigen jedoch mit aller Deutlichkeit, dass die Vollverbsemantik der Funktionsverben deren Verwendung als Funktionsverben in hohem Ausmaß beeinflusst. Dies bestätigt wiederum die Erkenntnis, dass sich zwischen Vollverben und Funktionsverben bzw. Vollverbkonstruktionen und Funktionsverbgefügen keine scharfe Grenze ziehen lässt (vgl. Kap. 1.). Dies heißt allerdings nicht, dass Funktionsverbgefüge aus grammatischen Darstellungen zu verbannen seien, wie van Potteiberge (2001) fordert. Die Regularitäten der Argumentabbildung sind vielmehr in höchstem Grade eine grammatische Angelegenheit. 5. Literatur Duden (2005): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim etc.: Dudenverlag. (7., völlig neu bearb. u. erw. Auf! .). Eisenberg, Peter (1994): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. (3., überarb. Aufl.). Eroms, Hans Werner (2000): Syntax der deutschen Sprache. Berlin/ New York: de Gruyter. Helbig, Gerhard/ Buscha, Joachim (2001): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Neubearb. Berlin: Langenscheidt. Heringer, Hans Jürgen (1968): Die Opposition von kommen und bringen als Funktionsverben. Düsseldorf: Schwann. Heringer, Hans Jürgen (1972): Theorie der deutschen Syntax. München: Hueber. (= Linguistische Reihe Bd. 1). Wiefügen sich Funktionsverben in Funktionsverbgefüge ein? 'llIr Polenz, Peter v. (1963): Funktionsverben im heutigen Deutsch. Düsseldorf: Schwann. Polenz, Peter v. (1987): Funktionsverben, Funktionsverbgefüge und Verwandtes. In: Zeitschrift für linguistische Germanistik 15, S. 141-168. Potteiberge, Jeroen van (2001): Verbonominale Konstruktionen, Funktionsverbgefüge. Vom Sinn und Unsinn eines Untersuchungsgegenstandes. Fleidelberg: Winter. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts Für Deutsche Sprache 7.1-7.3). Angelika Storrer Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 1. Fragestellung Die an der Valenzidee orientierten Grammatikbeschreibungen haben sich lange und intensiv mit der Unterscheidung von Komplementen und Supplementen auseinander gesetzt. Weniger intensiv wurde die Debatte bislang an der Grenzlinie geführt, die zwischen Valenzträger und Valenzpartner verläuft, also zwischen Argumenten und Bestandteilen von komplexen Prädikaten. Um eines der Zuordnungsprobleme an dieser Grenzlinie soll es in diesem Artikel gehen, nämlich um die Zuordnung der nominalen Komponenten von Nominalisierungsverbgefügen, z.B. in Verbindung in (1) und Entscheidung in (2), in einer valenztheoretisch orientierten Grammatikbeschreibung. (1) Er tritt in Verbindung mit dem Minister. (2) Er trifft eine Entscheidung. Ich möchte in diesem Artikel dafür plädieren, den nominalen Komponenten in Konstruktionen vom Typ (1) einen anderen Status zuzuweisen als den nominalen Komponenten in Konstruktionen vom Typ (2). Dazu werde ich im folgenden Abschnitt zunächst ein paar terminologische Vereinbarungen treffen. In Abschnitt 3 stütze ich meine Hypothesen zum Status dieser Komponenten zunächst mit Hilfe gängiger Tests an kontextfreien Beispielsätzen. In Abschnitt 4 werden die dabei erzielten Ergebnisse zusätzlich an Daten aus einer corpusgestützten Fallstudie überprüft. 2. Gegenstand und Terminologie In der Literatur zu Verb-Nomen-Konstruktionen wie in (1) und in (2) gibt es zwei Diskussionslinien: (a) Die Diskussionslinie in der germanistischen Linguistik mit der zentralen Kategorie ‘Funktionsverbgefüge’ und (b) die Diskussionslinie in der angelsächsischen und französischen Literatur mit der zentralen Kategorie ‘support verb construction’ (‘Stützverbgefüge’, ‘constructions ä verbe supports’). 1 i Als ‘light verb construction’ wird eine ähnliche Gruppe wie mit ‘support verb construction’ bezeichnet; ab und an wird der Konstruktionstyp auch unter dem Etikett ‘complex 276 Angelika Starrer ad (a) Die terminologische Unterscheidung zwischen ‘Nominahsierungsverb (NV)’ und ‘Nominalisierungsverbgefüge (NVG)’ auf der einen und ‘Funktionsverb’ und ‘Funktionsverbgefuge (FVG)’ auf der anderen Seite geht zurück auf v. Polenz (1987). Er bestimmt FVG als Subklasse der NVG, die sich „durch eine systematisch beschreibbare Eigenbedeutung“ (ebd., S. 170) auszeichnen. Als systematisierbare „Eigenbedeutung“ werden in dieser Diskussionslinie Funktionen wie ‘Kausativierung’, ‘Aspekt’, ‘Passivierung’ genannt, durch die sich FVG wie in Verbindung treten, ins Grübeln kommen, Anwendungfinden von Konstruktionen der verbalen Ableitungsbasis, also z.B. verbinden, grübeln, anwenden, unterscheiden. Die Einheiten der Komplementärmenge, also NVG-Konstruktionen wie Hilfe leisten. Unterricht erteilen, Entscheidung treffen hingegen weisen solche Funktionen nicht auf. Ausgangspunkt dieser Diskussionslinie war das Bemühen, der Abwertung von NVG in Stillehren als „Sprachbeulen“, „Zeitwortattrappen“, „Verbalhypertrophien“ (Daniels 1963, S. 9f.) eine differenzierte linguistische Analyse und Neubewertung entgegenzusetzen. Insbesondere in den frühen Arbeiten 2 ging es deshalb vornehmlich darum, die Systematik und die spezielle Leistung der NVG herauszustellen. Dabei gerieten sehr bald die FV und FVG in den Mittelpunkt des Interesses, 3 denn an dieser Subklasse ließ sich gut zeigen, dass sich Konstruktionen wie in Verbindung treten! bringen! stehen systematisch von Konstruktionen mit dem jeweiligen Basisverb, z.B. verbinden, unterscheiden. ad (b) Für die Diskussionslinie in der angelsächsischen und französischsprachigen Literatur ist die Kategorie des Stützverbgefüges (‘support verb construction’, ‘construction ä verbe support’) zentral, die auf Harris zurückgeführt wird und insbesondere in der französischen Linguistik untersucht wurde. 4 In dieser Diskussionslinie steht die nominale Komponente der Konstruktion im Fokus, die als ‘prädikatives Nomen’ (‘nom predicatif, ‘predicative noun’) bezeichnet wird. Das vorrangige Erkenntnisinteresse liegt in der systematischen Beschreibung predicates’ diskutiert, in Anlehnung an van Potteiberge (2001) ist in jüngerer Zeit auch von ‘verbonominalen Konstruktionen’ die Rede. 2 Z.B. Daniels (1963), v. Polenz (1963), Schmidt (1968). 3 Z.B. in Engelen (1968), Heringer (1968), Klein (1968). 4 Vgl. Gross (1981), Bresson (1988). Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefiigen 277 der Art und Weise, in der die Argumente des prädikativen Nomens in die gesamte Konstruktion integriert werden, und zwar im Hinblick auf die Beschreibung der Konstruktionen in Computerlexika für die maschinelle Sprachverarbeitung bzw. für die maschinelle Übersetzung. 5 Die beiden Forschungslinien haben sich zwar wechselseitig zur Kenntnis genommen; dennoch wird häufig übersehen, dass sie nicht nur unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen, sondern auch verschiedene Typen von Konstruktionen fokussieren. In Linie (a) werden die FVG als prototypischer Kern betrachtet und damit Konstruktionen wie (1), in denen die nominale Komponente als Präpositionalphrase realisiert ist. Wie der Präzisierungsvorschlag in Langer (2004) deutlich zeigt, verhält es sich bei der Linie (b) genau umgekehrt: Konstruktionen wie in (2), bei denen die nominale Komponente als Nominalgruppe im Akkusativ realisiert ist, bilden den prototypischen Kern, Konstruktionen wie (1) werden als Sonderfälle angesehen (ebd., S. 186). Sich dies bewusst zu machen ist wichtig, weil die in Linie (a) als prototypisch erachteten Konstruktionen nicht dieselben Merkmale aufweisen wie die in Linie (b) fokussierten Konstmktionen: Dies wird in den folgenden Kapiteln noch deutlich werden. Erschwerend kommt hinzu, dass in Forschungslinie (a) einige Autoren der Unterscheidung von NVG und FVG nicht folgen, sondern einen weiten Begriff von ‘Funktionsverb’ und ‘Funktionsverbgefüge’ zugrunde legen, der auch Nominalisierungsverben wie treffen, erteilen umfasst. Dazu gehört die Verwendung von ‘Funktionsverb’ in den „Grundzügen“ (Grundzüge 1981, S. 431-442) ebenso wie die ausführliche Beschreibung der Funktionsverben in der Grammatik von Helbig/ Buscha (1994, S. 78-105). In diesem Artikel orientiere ich mich weitgehend an der Terminologie der „Grammatik der deutschen Sprache“ (GDS) 6 und übernehme damit auch die terminologische Unterscheidung von FVG und NVG mit zwei Erweiterungen: (1) Für die Komplementärmenge zu den FVG, also für NVG, die keine FVG sind, hat v. Polenz keinen eigenen Terminus geprägt. In der Literatur (auch in der GDS) wird für diese Gruppe meist der Ausdruck NVG verwendet; dies ist zwar nicht falsch, aber unscharf, weil der Terminus NVG ja die Grund- 5 Vgl. dazu Danlos (1992), Krenn/ Erbach (1994), Storrer/ Schwall (1994), Gräsler (2000), Ulrich (2002), Fillmore et al. (2003) und Langer (2004). 6 Zifonun/ Hoffmann/ Strecker et al. (1997). 278 Angelika Starrer menge bezeichnet, jedes FVG also genau genommen auch ein NVG ist. Weil der Fokus in diesem Artikel genau auf dem Verhältnis dieser beiden Teilmengen zueinander liegt, möchte ich für die Komplementärmenge der FVG eine spezielle Bezeichnung haben. Ich nutze hierfür den auch in Heringer (1988) verwendeten Ausdruck ‘Streckverbgefüge’, abgekürzt SVG. 7 (2) Für die weitere Diskussion ist es praktisch, eine Kurzform für den nominalen Teil der Konstruktion zu haben, um dessen Status es in diesem Artikel geht. Ich verwende hierfür das Kürzel NKN (‘nominale Komponente der Nomina- 1 is i erungsverbkonstruktion ’). 8 3. Hypothesen zum Status der NKN in Funktionsverbgefügen und in Streckverbgefügen Konkret kann der Status der NKN nur im Rahmen eines Grammatikmodells bestimmt werden; ich orientiere mich dabei an den Modellvorstellungen und Kategorien der GDS. In Bezug auf die Bestimmung des Status der NKN ist in diesem Rahmen zunächst zu differenzieren zwischen (a) einer semantischfunktionalen Ebene, auf der zu entscheiden ist, ob das NKN als Prädikatsteil oder als Argument fungiert und (b) einer syntaktisch-strukturellen Ebene, auf der zu entscheiden ist, ob ein NKN zu den Prädikativkomplementen oder zu den jeweiligen Termkomplementen (Präpositivkomplement, Akkusativkomplement) bzw. zu den Adverbialkomplementen gerechnet werden soll. Die GDS vertritt dazu die folgende Position: Auf der semantisch-funktionalen Ebene (a) rechnet die GDS die FVG und SVG dem Prädikat zu. Die NKN sind Komponenten der Kategorie „semantisch einfache Prädikate mit komplexem Ausdruck“, die nicht auf Gegenstände verweisen oder Gegenstandsentwürfe im Diskurs fortfuhren und damit keinen Argumentstatus haben (vgl. GDS, D3 8.3, insbes. S. 702ff.). Auf der syntaktisch-strukturellen Ebene werden die FVG den Prädikativkomplementen zugeordnet, allerdings mit dem Hinweis, dass die präpositionalen FVG-NKN „kein Argument und unter synchroner Betrachtung wohl auch kein Komplement“ repräsentieren, sondern „Bestandteil eines semantisch einfachen, aber formal komplexen idio- 7 Ich habe mich für ‘Streckverbgefüge’ und nicht für ‘Stützverbgefüge’ entschieden, weil diese Lehnübersetzung von ‘support verb construction’ ja genau genommen ebenfalls die ganze Grundmenge der NVG abdeckt. 8 Den in Diskussionslinie (b) eingebürgerten Ausdruck ‘prädikatives Nomen’ wollte ich hier nicht verwenden, weil er eine Vorentscheidung über den Status als Prädikativum suggeriert. Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 279 matischen Prädikats“ (GDS, S. 1113f.) sind. Über den Status der SVG-NKN wird in den Erläuterungen zu den einzelnen Komplementklassen in E2, Kap. 2 nichts ausgesagt. In einem der Darstellung der Komplementklassen vorangestellten Artikel zu Abgrenzungsproblemen (GDS, S. 1068f.) findet sich eine vorsichtige Zuordnung als „Komplemente ohne Argumentstatus“ (GDS, S. 1069), die allerdings ebenfalls eher auf die Gruppe der FVG bezogen ist als auf SVG. Insgesamt sind die Aussagen zum Status der NKN vorsichtiger formuliert als beispielsweise in den Grundzügen (1981), in denen die NKN explizit zu den Prädikativen gerechnet werden (vgl. ebd., S. 43Iff). Durch die Offenheit bezüglich des Status der SVG-NKN ist die GDS auf der syntaktisch-strukturellen Ebene deshalb besser kompatibel mit dem folgenden von mir vertretenen Vorschlag, den SVG-NKN einen anderen Status zuzuweisen als den FVG-NKN. Konkret möchte ich mich in diesem Artikel für die folgenden Hypothesen stark machen: H I: Der Status der NKN in SVG und FVG ist verschieden: In FVG bilden NKN und FV gemeinsam das Prädikat; auf der syntaktisch-strukturellen Ebene gehören die NKN zu den Prädikativkomplementen. In SVG haben die NKN semantisch den Status von Argumenten und sind auf der syntaktisch-strukturellen Ebene als Termkomplemente einzuordnen. H II: In beiden Gruppen, also FVG und SVG, unterscheiden sich die NKN aber durch systematisch beschreibbare Spezifika von den jeweiligen Komplementklassen, also den Prädikativkomplementen und den Termkomplementen. H III: Beide Gruppen weisen die Besonderheit auf, dass die Argumentstruktur der gesamten Konstruktion im Wesentlichen von der Argumentstruktur des NKN determiniert ist. Diese Besonderheit lässt sich auf der semantischen Ebene als Argumenttransfer beschreiben, auf der syntaktischen Ebene als Amalgamierung der Valenzmuster von NV und NKN. Um die Hypothesen zu stützen, betrachte ich zunächst die folgenden Satzpaare: (1) Er tritt in Verbindung mit dem Minister. (2) Er trifft eine Entscheidung. (3) Er tritt dem Minister aufden Schlips. 280 Angelika Starrer (4) Er trifft den Nagel aufden Kopf. (5) Er tritt in die Pfütze. (6) Er trifft die Zielscheibe. Komponenten verbaler Phraseolexeme (vPL), also aufden Schlips in (3) und den Nagel auf den Kopf in (4), gelten prototypisch als Teile mehrteiliger Prädikate. Unstrittig dürfte auch der Argumentstatus des Akkusativkomplements die Zielscheibe in (6) und auch der des Direktivkomplements in die Pfütze in (5) sein. Wenn man nun zeigen kann, dass sich die FVG-NKN in (1) eher wie die vPL in (3) und (4) und die SVG-NKN in (2) eher wie Komplemente in (5) und (6) verhalten, würde dies meine Hypothese H 1 untermauern. Eine wichtige Rolle in der Diskussion um den Argumentstatus der NKN spielt die als ‘Referenzfähigkeit’ bezeichnete Eigenschaft, die Argumenten typischerweise zukommt, während sie Prädikatsteilen typischerweise fehlt. 9 Nominale Komponenten von verbalen Phraseolexemen sind typischerweise nicht referenzfähig, während die ‘Referenzfähigkeit’ eine charakteristische Eigenschaft von Termkomplementen ist. Ich möchte deshalb im Folgenden mit den o.g. Sätzen ein paar Operationen durchführen, die in der Literatur 10 als Symptome für das Vorhandensein bzw. Fehlen der als ‘Referenzfahigkeit’ bezeichneten Eigenschaft gewertet werden: die Erfragbarkeit der Konstituente durch ein charakteristisches Fragepronomen oder Frageadverb, die Ersetzbarkeit durch eine entsprechende Proform, die Wahl zwischen verschiedenen Arten von Determinativen, die Möglichkeit der Verneinung durch das quantifizierende Determinativ kein- und die Möglichkeit der Modifikation durch ein Adjektivattribut. Wenn man die genannten Eigenschaften mit den o.g. Beispielen durchspielt, so ergibt sich folgendes Bild: Erfragbarkeit: (1) * Wohin / *ln was / * Wohinein tritt er? In Verbindung mit dem Minister. (2) Was trifft er? Eine Entscheidung. (3) * Wohin / *In was / * Wohinein tritt er? Dem Minister auf den Schlips. (4) * Was trifft er? Den Nagel aufden Kopf. (5) Wohin / In was / 'Wohinein tritt er? In die Pfütze. (6) Was trifft er? Die Zielscheibe. 9 Vgl. Grundzüge (1981, S. 441); Helbig/ Buscha (1994, S. 95). Auch die funktionale Bestimmung von Argumenten in der GDS (1997, S. 730ff.) rekurriert auf diese Eigenschaft. 10 Z.B. Grundzüge (1981, S. 441f), Eisenberg (1994, S. 310). Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 281 Ersetzung durch charakteristische Proform: (1) *Er tritt in sie / dorthinein. (2) Er trifft sie. (3) *Er tritt dem Minister aufihn / dorthinein. (4) *Er trifft ihn. (5) Er tritt in sie / dorthinein. (6) Er trifft sie. Freie Wahl des Artikels: (1) Er tritt *in die Verbindung / *in Verbindungen / 'in eine enge Verbindung mit dem Minister. (2) Er trifft eine Entscheidung / verschiedene Entscheidungen / die Entscheidung, X zu tun. (3) Er tritt dem Minister auf den Schlips / *auf die Schlipse / *auf einen Schlips. (4) Er trifft den Nagel auf den Kopf / *die Nägel auf die Köpfe / * einen Nagel aufden Kopf. (5) Er tritt in die Pfütze / die Pfützen / eine Pfütze. (6) Er trifft die Zielscheibe / die Zielscheiben / eine Zielscheibe. Verneinung mit dem quantifizierenden Determinativ kein: (1) 'Er tritt in keine Verbindung mit dem Minister. (2) Er trifft keine Entscheidung. (3) *Er tritt dem Minister aufkeinen Schlips. (4) * Er trifft keinen Nagel aufden Kopf. (5) Er tritt in keine Pfütze. (6) Er trifft keine Zielscheibe. Modifizierbarkeit durch ein Adjektivattribut: (1) Er tritt in eine enge Verbindung mit dem Minister. (2) Er trifft eine klare Entscheidung. (3) *Er tritt dem Minister aufden roten Schlips. 11 (4) * Er trifft den rostigen Nagel aufden Kopf. (5) Er tritt in die schmutzige Pfütze. (6) Er trifft die hintere Zielscheibe. 11 Die Modifikation ist möglich, aber sie fuhrt entweder zum Verlust der idiomatischen Lesart oder wird sprachspielerisch im Sinne einer idiomatischen Modifikation verstanden, also rot im Sinne einer politischen Couleur. Ähnliches gilt für die Modifizierbarkeit in (4). 282 Angelika Starrer Die in Tabelle 1 zusammengefassten Ergebnisse stützen sowohl Hypothese H I als auch Hypothese H II: Die FVG-NKN in (2) verhält sich eher wie die Bestandteile von Phraseolexemen in (3) und (4), während das Verhalten der SVG-NKN in (2) dem der Komplemente in (5) und (6) ähnelt. Es gibt aber auch Unterschiede: Die SVG-NKN differieren von den Komplementen in Bezug auf die Merkmale Erfragbarkeit und Anaphorisierbarkeit. Bei den FVG-NKN ist die Möglichkeit des Artikelwechsels und der Modifizierbarkeit durch ein Adjektivattribut zumindest fraglich. Ergebnisse von Proben, die an kontextfreien Sätzen durchgeführt werden, sollte man nicht überbewerten. Ich möchte meine Hypothesen deshalb in Kap. 4. durch eine corpusgestützte Fallstudie untermauern. In dieser musste ich mich auf die Gegenüberstellung einer kleinen Zahl von SVG- und FVG- Konstruktionen beschränken. Will man die Annahmen in einer größer angelegten empirischen Studie weiter validieren, dann muss man im Auge behalten, dass es in beiden Gruppen, also in FVG und in SVG, idiomatische Konstruktionen gibt, die baugleich mit nicht idiomatischen Bildungen sind. Baugleich zur nicht idiomatischen Konstruktion in Verbindung treten ist beispielsweise die idiomatische Fügung in Kraft treten. Baugleich zur nicht idiomatischen Konstruktion Arbeit leisten ist das idiomatische Folge leisten. Idiomatisierung führt typischerweise dazu, dass die Bedeutung eines NKN- Nomens von der Bedeutung abweicht, die es außerhalb der Konstruktion hat. Entsprechend verändert sich auch die ‘Referenzfähigkeif dieser NK.N, wodurch idiomatische NKN typischerweise ebenfalls morphosyntaktische Beschränkungen im Hinblick auf Determination und Modifikation aufweisen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um eine FVG- oder eine SVG-Konstruktion handelt. Tabelle 1: Übersicht über die Proben zum Argumentstatus der NKN Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefligen 283 Wenn man den NKN in FVG und SVG einen unterschiedlichen Status zuweist, bedeutet das nicht, dass sie keine gemeinsamen Merkmale haben können. Eine wichtige Besonderheit beider Konstruktionen begründet meine Hypothese H III: Die Argumentstruktur der NVG-Konstruktionen ist im Wesentlichen, aber nicht allein von der Argumentstruktur des NKN determiniert. Diese Annahme ist vor allem in Forschungslinie (b) weitgehend unumstritten und wird auch in der Forschungslinie (a) verbreitet so gesehen. Die vorsichtige Charakterisierung „im Wesentlichen, aber nicht allein“ trägt der Tatsache Rechnung, dass der Subkategorisierungsrahmen des NV die syntaktische Realisierung der Argumente mitbestimmt. Anders gesagt: Die Regeln für die syntaktische Realisierung der Argumente sind konstruktionsspezifisch und stimmen nicht in allen Fällen mit den Regeln überein, die für dasselbe Nomen in Nicht-NVG-Konstruktionen gelten. So ist beispielsweise das Argument im Nomen Rat als Präpositionalphrase an X anzuschließen, während im SVG Rat geben hierfür das Dativkomplement im Valenzrahmen von geben genutzt werden kann. 12 Diese Besonderheit lässt sich informell und metaphorisch beschreiben als Transfer der Argumente des NKN auf der semantischen Ebene und als Amalgamierung der Valenzmuster von NV und NKN auf der syntaktischen Ebene. Diese metaphorische Charakterisierung kann in verschiedenen formalen Grammatikbeschreibungen jeweils unterschiedlich präzisiert werden; einen entsprechenden Vorschlag für den HPSG-Ansatz haben beispielsweise Krenn/ Frhach (1994) entwickelt. Auf der Basis der Metaphern des Transfers und der Amalgamierung lässt sich nun auch ein topologisches Spezifikum von NVG-Konstruktionen erklären. Es geht um die Besonderheit, dass die vom NKN in die Konstruktion eingebrachten Argumente, also die Präpositionalphrase mit dem Minister in (1), im Satz permutierbar sind (vgl. (P) und (l"))- Eine derartige Umstellung ist mit ‘herkömmlichen’ Präpositionalattributen, wie mit der Mafia in (7) und aufPeter in (8), nicht möglich: In diesen Fällen verändert sich entweder die Satzbedeutung, z.B. durch eine komitative Interpretation der mit-? ? in (7') und (7"), oder die Sätze sind nicht akzeptabel, wie in (8') und (8"). (1) Er tritt in Verbindung mit dem Minister. (1 ’) Mit dem Minister tritt er in Verbindung. (1") Er tritt mit dem Minister in Verbindung. 12 Das Beispiel stammt aus Krenn/ Erbach (1994, S. 38f.); weitere Beispiele finden sich in Gräsler (2000), die NKN auf der Basis der lexikalischen Funktionen von Mel’cuk systematisch mit den entsprechenden Nomina in Nicht-NVG-Konstruktionen vergleicht. 284 Angelika Starrer (7) Er leugnet die Verbindung mit der Mafia. (7') Mit der Mafia leugnet er die Verbindung. (7") Er leugnet mit der Mafia die Verbindung. (8) Er beherrscht seine Wut aufPeter. (8') *Er beherrscht aufPeter seine Wut. (8") *AufPeter beherrscht er seine Wut. Diese Besonderheit ist deshalb grammatikografisch relevant, weil die so genannte Permutations- oder Verschiebeprobe im grammatikdidaktischen Kontext als Kriterium propagiert wird, mit dem man entscheiden kann, ob es sich bei einer Phrase um ein selbstständiges Satzglied oder um ein Attribut handelt. Wenn man diese Probe mit dem NKN-Argument in (1) durchführt, dann erweist es sich als Satzglied. Allerdings stellt sich in einem valenztheoretischen Beschreibungsrahmen dann oft das Problem, dass die betreffenden Stellen im Valenzrahmen des NV nicht angelegt sind. Aus diesem Konflikt heraus sprechen die Grundzüge (1981, S. 441) von einer „Zwitterstellung zwischen Satzglied und Gliedteil“, während Helbig/ Buscha (1994, S. 102) die NKN-Argumente als selbstständige Satzglieder ansehen, „da sie sich auf das Prädikat beziehen (FV und nominales Glied bilden zusammen das Prädikat)“. Die GDS (S. 1607ff.) behandelt die topologische Eigentümlichkeit im Abschnitt „Aufspaltung von Nominalphrasen mit Präpositivkomplement“ und legt damit eine Sicht nahe, bei der ein präpositionales Attribut in bestimmten Konstruktionen vom Bezugselement abgelöst und frei im Satz verschoben werden kann. Mit dieser Sicht scheint mir die metaphorische Vorstellung, dass beim Aufbau von NVG die Valenzstrukturen von NV und NKN amalgamieren und dadurch eine an das Nomen gebundene Phrase selbstständigen Status gewinnt, sehr gut kompatibel zu sein. Die Auffassung, dass es sich bei diesem Merkmal um ein Spezifikum der NVG handelt, wurde jüngst von van Potteiberge (2001, S. 52f.) bestritten. Die Fallstudie im folgenden Abschnitt soll deshalb die Annahme stützen, dass es sich bei der Permutierbarkeit des NKN-Arguments um ein typisches und systematisch vorhersagbares Merkmal von NVG handelt, während Permutierbarkeit in Nicht-NVG-Konstruktionen eher die Ausnahme ist. Zunächst bedeutet die Tatsache, dass auch andere Konstruktionen diese Charakteristik aufweisen, lediglich, dass diese Besonderheit nicht als hinreichendes Merkmal für die Abgrenzung der NVG von anderen Konstruktionen geeignet ist. Wenn es sich nachweisen lässt, dass es sich um eine notwendige Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 285 Eigenschaft der NVG handelt, ist diese durchaus erwähnenswert. Dass diese Stellungsauffalligkeit auf NVG beschränkt sei, wird übrigens weder in Helbig/ Buscha (1994) noch in der GDS behauptet. Die Beschreibung der GDS (S. 1609) stellt das Phänomen sogar explizit in eine Reihe mit verwandten Fällen, weist aber dennoch auf einen Zusammenhang mit dem semantischen Status der NKN hin. Systematisch ähnlich verhalten sich beispielsweise Argumente von prädikativ verwendeten Adjektiven, wie die Beispiele (9, 9', 9") zeigen: (9) Er ist stolz aufseinen Porsche. (9') Aufseinen Porsche ist er stolz. (9") Er ist aufseinen Porsche stolz. Die Stellungseigentümlichkeit ist also bei den FVG-NKN weniger erklärungsbedürftig sie werden ja den Prädikativkomplementen zugeordnet. Wenn man die SVG-NKN hingegen wie vorgeschlagen den Termkomplementen zuordnet, unterscheiden sie sich von anderen Termkomplementen, bei denen Präpositionalattribute nur in Kontaktstellung, also wie in (7) und (8), auftreten können. Gerade bei SVG sollte diese Stellungseigentümlichkeit also an entsprechender Stelle thematisiert werden, weil sich damit ein systematisch auftretender Typ von Problemfällen in der Anwendung der Verschiebeprobe erklären lässt. 4. SVGvs. FVG-Konstruktionen: Zwei corpusbasierte Fallstudien Im vorigen Kapitel habe ich meine Hypothesen an kontextfreien Beispielsätzen und klassischen grammatischen ‘Proben’ entwickelt. In diesem Abschnitt möchte ich einige der Annahmen durch zwei corpusbasierte Fallstudien überprüfen, in denen Belege aus einem Textcorpus ausgewertet wurden. 13 Ich habe dazu das online recherchierbare sog. „Kemcorpus“ des DWDS-Projekts 14 mit dem dafür verfügbaren Abfragetool ausgewertet. Die Texte des ca. 100 Mio. Wortformen umfassenden Corpus sind in einigermaßen ausgewogenem Verhältnis über den Zeitraum von 1900-2000 und über 13 Für die Mithilfe bei der Zusammenstellung und Auswertung der Corpusbelege möchte ich mich bei Birgit Reuter und Nicole Wilkens bedanken. 14 Das Corpus ist zugänglich unter http: / / www. dwds-corpus . de; die durchgefiihrten Abfragen können dort rekonstruiert werden. 286 Angelika Starrer verschiedene Textsorten (Belletristik, Fachtextprosa, Gebrauchsliteratur und Zeitungstexte) gestreut. Um meine Ergebnisse transparent zu halten, werde ich die klassifizierten Belege auf meiner WebSite verfügbar machen. 15 Gegenstand beider Fallstudien sind Konstruktionen mit den Nomina Verbindung und Kontakt, die mit dem Erkenntnisinteresse zusammengestellt wurden, Unterschiede zwischen FVG-Konstruktionen, SVG-Konstruktionen und Nicht-NVG-Konstruktionen sichtbar zu machen. Als FVG-Konstruktionen wurden in Verbindung treten, in Verbindung stehen, in Kontakt treten und in Kontakt stehen untersucht, Als NVG-Konstruktionen Kontakt halten und Verbindung halten. Ich habe für meine Studie bewusst Paarungen mit demselben Nomen gewählt, um auszuschließen, dass die Unterschiede durch die Semantik oder die Kollokationsmerkmale der Nomina bedingt sind. Ich habe dafür in Kauf genommen, dass es sich bei den NVG-Varianten Kontakt! Verbindung halten nicht um prototypische SVG handelt. Die erste Fallstudie soll die Hypothesen H I und H II untermauern. Dazu wurden zunächst alle Belegsätze ausgewertet, in denen die Lemmata in und Verbindung bzw. in und Kontakt gemeinsam in einem Suchfenster von 12 Wörtern mit dem Lemma treten Vorkommen. Die Abfrage nutzte die Lemmafunktion des Abfragetools, suchte also nach allen Flexionsformen von Kontakt, Verbindung und treten, so dass auch Artikelvariation und Singular-/ Pluralwechsel untersucht werden konnten. 16 Diese FVG-typischen Konstruktionen wurden verglichen mit SVG-typischen Belegsätzen, in denen die Lemmata Verbindung bzw. Kontakt gemeinsam in einem Suchfenster von 8 Wörtern mit dem Lemma halten Vorkommen. 17 In einem ersten Schritt wurden aus der automatisch generierten Treffermenge die nicht relevanten Belege ausgesondert. 1 x In den verbleibenden Belegen wurden folgende Eigenschaften des NKN ausgewertet: Vorhandensein von Pluralformen, Determination (definit, indefinit, Verneinung mit kein-) und Modifikation durch ein Adjektivattribut. 15 Vgl. www.angelika-storrer.de —> zu Publikationen (zuletzt besucht am 13.07.2005). Gerne schicke ich die Belege auch per E-Mail; Anfragen an angelika.storrer@unidortmund.de. 16 Die Abfragen waren: NEAR(in, Verbindung, treten, 12), NEAR(in, Kontakt, treten, 12). 17 Die Abfragen waren: NEAR(Kontakt, halten, 8), NEAR(Verbindung, halten, 8). 18 Nicht relevant sind Belege, in denen nominale und verbale Komponenten zu verschiedenen Teilsätzen gehören. Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 287 Konstruktion 03 ><U S 2 Pi .ti d) •o < oj i Q J 5 3 / « Verbindung treten 198 190 0 (0,5%) 25 (13,2%) in Kontakt treten 34 34 0 0 7 (20,6%) Verbindung halten 120 56 4 (7,1%) 12 (21,4%) 0 " ' 4»' (3,2%) 11 (19,6%) Kontakt halten 140 126 8 (6,3%) 19 (15%) (0,8%) 41 (32,5%) Tabelle 2: Ergebnisse der Fallstudie zu morphosyntaktischen Restriktionen auf der Basis der relevanten Treffer Die in Tabelle 2 zusammengefassten Resultate der Auswertung bestätigen die Ergebnisse der kontextfreien Proben. Auffällig ist lediglich die relativ hohe Zahl von Adjektivattributen in beiden Konstruktionstypen. Die Zusammenstellung der Adjektive in Tabelle 3 zeigt, dass beide Nomina kollokative Präferenzen für bestimmte Adjektive haben, die teilweise auch konstruktionsabhängig sind (z.B. in Kontakt treten mit direkt, Kontakt halten mit eng). in Verbindung treten enge (4), offene (3), engere (2), unmittelbare (2), nähere (2) jeweils 1 Beleg für: engste, mannigfaltige, zufällige, vertrau liehe, brüderliche, literarische, reale, feste, dauernde, diplomatische, freundschaftliche, innere Verbindung halten enge (3), lose (2) jeweils 1 Beleg für: wenig, diplomatisch, beste, vielfache, ständige, brüderliche in Kontakt treten direkten (3) jeweils 1 Beleg für: unmittelbaren, körperlichen, gesunden, sozialen, vorurteilsfreien Kontakt halten engen (25), engsten (3), guten (2) jeweils 1 Beleg für. freundschaftlichen, brieflichen, sozialen, wenig, ständigen, missionarischen, lebenslangen, steten, starken, direkten, persönlichen Tabelle 3: Liste der NKN-modifizierenden Adjektive 19 Beleg zu in irgendwelche Verbindung [...] treten. 20 Von den vier Belegen sind drei auch durch ein Adjektivattribut modifiziert: einen guten Kontakt (2), einen engen Kontakt. 288 Angelika Starrer In der Literatur wird häufig darauf hingewiesen, dass es zu adjektivisch modifizierten NKN häufig Konstruktionen mit identischer Bedeutung gibt, in denen dasselbe Adjektiv als Adverbiale fungiert. Zu dieser Beobachtung finden sich auch in unserer Studie Belegpaare wie (10), (11) und (12), (13): (10) Wir halten mit ihnen brieflich Kontakt, bis es soweit ist. (Viola Roggenkamp: „Infektiöser Müll“, in: DIE ZEIT 30.07.1998, S. 48) (11) Doch außer Röntgen selbst, der brieflichen Kontakt mit seinem Musterschüler hielt, nahm kaum einer Verbindung mit dem Mann auf, der Röntgens Entdeckung sozusagen gebrauchsfertig“ gemacht hatte. (Michael Westerholz: o.T., in: DIE ZEIT 14.04.1995) (12) In dem Großraumbüro, [...] sollen von Oktober an fünfzehn bis zwanzig, in der heißen Phase mehr als fünfzig Mitarbeiter den Wahlkampfkoordinieren und ständigen Kontakt halten: zu den Parteigliederungen, den Kandidaten, den Konkurrenten („Gegnerbeobachtung“), den Medien, den Werbern und natürlich den Wahlforschern. (Jochen Buchsteiner, Im Zeichen des Kürbis, in: DIE ZEIT 19.09.1997, S. 5) (13) Solange ein digitales Handy eingeschaltet ist, hält es ständig Kontakt mit den nächstgelegenen Funkstationen seines Netzes. (Martin Virtel, Blafasel darf nicht sterben, in: DIE ZEIT 02.08.1996, S. 62) (14) Je näher die schwedische Regierung in vertrauliche Verbindung mit der dänischen und norwegischen tritt, um so klarer muß Europa einsehen, dass [...] (Zur skandinavischen Ministerkonferenz in Kopenhagen, in: Berliner Tageblatt (Morgen- Ausgabe) 04.03.1916, S. 3) (15) Danach hängt denn alles davon ab, ob sich ein logisch unanfechtbarer Punkt ausmachen läßt, an dem beide Richtungen des menschlichen Geistes in echter Weise koinzidieren und in innere Verbindung treten können, ohne daß eine von ihnen an ihrem eigenen Wesen Schaden nimmt. (Heuß, Alfred: Verlust der Geschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, S. 64) Die Durchsicht der Daten macht aber deutlich, dass eine derartige Alternierung nicht immer möglich ist. In manchen Fällen ist eine entsprechende adverbiale Umformung zwar denkbar, aber nicht belegt, z.B. gibt es keinen Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefiigen 289 Beleg zu eng in Verbindung! Kontakt stehen oder eng Kontakt! Verbindung halten. In anderen Fällen, wie (14) und (15), ist eine adverbiale Umformung nicht möglich bzw. die beiden Konstruktionen haben nicht dieselbe Satzbedeutung. 21 Diese Datenlage stützt die Kritik, die van Potteiberge (2001, S. 321) am Vorschlag von Heringer (1968, S. 46) übt, nur diejenigen NVG als ‘vollwertige FVG’ anzusehen, bei denen die Alternierung von Adjektivattribut und entsprechendem Adverbial möglich ist. Die Daten der Fallstudie legen vielmehr nahe, dass die Möglichkeit einer derartigen Alternierung nicht von der Konstruktion abhängt, sondern von der Semantik des jeweiligen Adjektivs. Interessant an der Fallstudie ist weiterhin das Ergebnis, dass die Modifizierbarkeit des Adjektivs nicht mit der Eigenschaft der Artikelfixierung korreliert, obwohl beide als Symptom für dieselbe Ursache, nämlich das Fehlen der ‘Referenzfähigkeit’, gewertet werden. Würde sich dieser Befund in weiteren Studien bestätigen, müsste man noch einmal genauer darüber nachdenken, was genau unter ‘Referenzfähigkeif verstanden werden soll und wie man dieses Merkmal sinnvoll operationalisieren kann. In der zweiten Fallstudie wurde versucht, die Annahmen in Hypothese H III empirisch zu stützen. In Auseinandersetzung mit der o.g. Kritik in van Pottelberge (2001, S. 52f.) soll insbesondere der Nachweis geführt werden, dass die Permutierbarkeit des NKN-Arguments eine für NVG charakteristische Eigenschaft ist, während sie in Nicht-NVG selten auftritt. Dieser Nachweis wird als Indiz für die Hypothese gewertet, dass das NKN-Argument mit dem Valenzrahmen des NV zu einer Konstruktion ‘verschmilzt’, so dass das vom NKN eingebrachte Argument auch vom Stellungsverhalten her Eigenschaften eines an die ganze Konstruktion gebundenen Komplements aufweist. Gleichzeitig soll geprüft werden, ob es im Hinblick auf die Eigenschaft der Permutierbarkeit Unterschiede zwischen FVG und SVG gibt. Ein solcher Nachweis würde bedeuten, dass diese Eigenschaft unabhängig von der mangelnden ‘Referenzfähigkeif ist, die für die oben untersuchten morphosyntaktischen Beschränkungen verantwortlich gemacht werden. Untersucht wurden jeweils 40 Belege zu den FVG-Konstruktionen in Verbindung treten! stehen, in Kontakt treten! stehen. Diese wurden verglichen mit jeweils 40 NVG-Konstruktionen zu Kontakt halten und Verbindung halten und mit jeweils 20 Nicht-NVG-Konstruktionen in Sätzen mit Kontakt + lösen, bestreiten, leugnen, verbieten, untersagen, verhindern, fördern und 21 Vgl. hierzu auch die Beispiele in Krenn/ Erbach (1994, S. 393f.). 290 Angelika Storrer Verbindung + sehen, lösen, bestreiten. Es wurden nur Belege ausgewählt, in denen zu Kontakt und Verbindung auch tatsächlich ein Argument realisiert ist. Die Mischung verschiedener Verben bei den Nicht-NVG-Konstruktionen war bedingt durch die Tatsache, dass sich im Corpus zu keinem der Verben eine ausreichende Anzahl von relevanten Belegen mit Kontakt und Verbindung finden ließ. Die Mischung ist für das Ziel der Fallstudie aber nicht nachteilig, weil sich dadurch ausschließen lässt, dass die Nicht-Existenz von permutierten oder permutierbaren Belegen einzelverbspezifisch bedingt ist. Für jeden Beleg wurde geprüft, ob das Argument in Kontaktstellung oder in Distanzstellung zum NKN auftritt. ln den Fällen, in denen Kontaktstellung vorlag, wurde zusätzlich geprüft, ob eine Permutierbarkeit grundsätzlich möglich ist. Konstruktion Distanzstellung Kontaktstellung davon permutierbar in Verbindung treten/ stehen (40) 35 (87,5%) 5 (12,5%) in Kontakt treten! stehen (40) 21 (52,5%) 19(47,5%) 19 Kontakt halten (40) 6(15%) 34 (85%) 25 (9 fraglich) Verbindung halten (40) 16(40%) 24 (60%) 16 (8 fraglich) Kontakt + Nicht-FV (20) 0 20 0 Verbindung + Nicht-FV (20) 20 0 Tabelle 4: Ergebnisse der Fallstudie zur Permutierbarkeit des NKN-Arguments Die Zusammenstellung der Ergebnisse der Fallstudie in Tabelle 4 zeigt klar, dass in den untersuchten Nicht-NVG-Konstruktionen alle Argumente in Kontaktstellung auftreten und auch nicht frei im Satz verschoben werden können. Belegbeispiele für die Nicht-Permutierbarkeit der Argumente in Nicht- NVG-Konstruktionen sind (16) und (17): (16) Leo d. Gr. hatte ihn noch in Verbindung mit einer providentiellen Sendung des römischen Imperiums gesehen. (Baus, Karl: Die Reichskirche nach Konstantin dem Großen, in: Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Berlin: Directmedia Publ. 2000 [1973] S. 2936) (17) Engholm bestritt zeitgleich jegliche Kontakte zu Pfeiffer. (Jochen Buchsteiner: Die offene Akte, in: DIE ZEIT 26.09.1997, S. 11) Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 291 Eine solche corpusbasierte Fallstudie kann natürlich nicht sicherstellen, dass sich nicht vielleicht doch permutierbare Konstruktionen mit anderen Verben finden lassen. Bei den untersuchten Verben jedenfalls fand sich kein Beleg und die Daten stützen keinesfalls die Auffassung van Potteiberges, dass „die Permutierbarkeit von Präpositionalphrasen, die eine Bestimmung zu einem Substantiv bilden, ein ziemlich weit verbreitetes Phänomen ist“ (2001, S. 53). Erst die Durchsicht einer größeren Menge von Belegbeispielen könnte wirklich verlässliche Erkenntnisse über die Systematik der Permutierbarkeit der NKN-Argumente in NVG- und Nicht-NVG-Konstruktionen liefern. Überhaupt zeigt die Monographie von van Potteiberge (2001), dass man aus ein paar opportunistisch gesammelten Corpusbelegen keine voreiligen Schlüsse ziehen sollte. 22 Vielmehr ist es ratsam, bei der corpusgestützen Arbeit auch quantitative Aspekte zu berücksichtigen, nach typischen Mustern Ausschau zu halten und auf dieser Basis behutsam nach Systematisierungen und nach Erklärungen zu suchen. Beispielsweise legen die Ergebnisse der zweiten Fallstudie nahe, dass die Kontaktstellung bei den FVG eher der Normalfall ist, während sie bei SVG seltener auftritt. Dies wäre an weiteren FVG-SVG- Paarungen zu prüfen. Ein weiteres Muster, das an der tabellarischen Darstellung nicht direkt ablesbar ist, zeigt sich bei den 17 Belegen zu Kontakt! Verbindung halten, deren Permutierbarkeit als fraglich eingestuft wurde. In allen Fällen handelt es sich um Belege mit definitem Artikel wie in (18) und (19): (18) Als Transplantationskoordinatorin der Bochumer Klinik hält sie den Kontakt zu Eurotransplant im holländischen Leiden. (Iris Mainka: Protokoll eines Himtodes, in: DIE ZEIT 02.10.1997, S. 80) (19) [...] sie arbeiteten in Fünfergruppen, aus denen jeweils nur einer die Verbindung zur nächsthöheren Ebene halten durfte. (Brandt, Willy: Erinnerungen, Berlin: Ullstein 1997 [1989] S. 100) 22 Schon durch unsere kleine Fallstudie eindeutig zu widerlegen ist die Behauptung, die Fügung in Verbindung trete innerhalb und außerhalb von NVG obligatorisch mit einer PP mit X auf (van Potteiberge 2001, S. 52). Es finden sich innerhalb und außerhalb von NVG Belege, in denen überhaupt kein Argument realisiert ist oder in denen die PP mit zu X oder zwischen X und Y auftreten. 292 Angelika Starrer Die Durchsicht der gesamten Belege zu Verbindung halten und Kontakt halten bestätigte die Korrelation zwischen Permutierbarkeit und Definitheit. Insgesamt fand sich kein Beleg mit definit determiniertem Nomen, bei dem das NKN-Argument in Distanzstellung vorkommt, während eine Modifikation mit einem Adjektivattribut (enge Verbindung, direkter Kontakt) keinen Einfluss auf das Permutationsverhalten hat. Auch hier gibt es wieder keine systematische Korrelation des Merkmals ‘Modifizierbarkeit durch Adjektive’ mit dem Merkmal ‘variable Determination’, obwohl die beiden Merkmale allgemein als Indiz für dasselbe semantische Merkmal, die sog. ‘Referenzfähigkeit’, gewertet werden. 5. Fazit Es hat sich sowohl bei den Proben in Abschnitt 3 als auch in der empirischen Fallstudie in Abschnitt 4 gezeigt, dass sich SVG-NKN und FVG-NKN im Hinblick auf die Eigenschaften verschieden verhalten, die gemeinhin als symptomatisch für die Kategorie der Argumente gelten. Dies ist zwar keine neue Entdeckung; allerdings hat keine der von mir untersuchten valenzorientierten Grammatiken 23 daraus bislang die Konsequenz gezogen, für die ich in diesem Artikel plädieren möchte, nämlich die SVG-NKN explizit der Komplementklasse zuzuordnen, zu der die entsprechende freie Konstruktion gehört. Vielmehr werden sie meist zusammen mit den FVG-NKN den Prädikativen zugerechnet, wobei das verschiedene Verhalten bezüglich der morphosyntaktischen Restriktionen auf unterschiedliche Grade von Lexikalisierung bzw. Idiomatisierung zurückgeführt wird. 24 Dies verdeckt jedoch die Tatsache, dass die FVG-NKN unabhängig vom Grad ihrer Idiomatisierung typischen morphosyntaktischen Restriktionen unterliegen, während dies bei SVG-NKN nicht der Fall ist. Sicherlich ist es ratsam, in weiteren Corpusstudien zu prüfen, welche Eigenschaften auf Idiomatisierungsprozesse einzelner Konstruktionen zurückgehen und welche Eigenschaften systematisch auftretende Besonderheiten eines Konstruktionstyps sind. Meine erste Fallstudie legt nahe, dass zumindest die Beschränkung der Determination ein charakteristisches Merkmal von FVG-NKN ist, das SVG-NKN nicht im selben Ausmaß zukommt. Die zweite Fallstudie hat gezeigt, dass auch die Permutierbarkeit des NKN-Arguments ein Merkmal ist, in dem sich Nomina in 23 Grundzüge (1981), Helbig/ Buscha (1994), Eisenberg (1994) und GDS. 24 Grundzüge (1981, S. 441), Helbig/ Buscha (1994, S. 95). Eisenberg (1994) umgeht das Problem, indem er sich im Einklang mit der Tradition der germanistischen Forschungslinie auf die FVG beschränkt. Zum Status der nominalen Komponenten in Nominalisierungsverbgefügen 293 NVG-Konstruktionen systematisch von entsprechenden Nomina in Nicht-NVG- Konstruktionen unterscheiden. Solange man keine andere Ursache hierfür entdeckt, ist es deshalb gerade wegen der grammatikdidaktischen Relevanz der Permutationsprobe sinnvoll, diese Eigentümlichkeit von NVG-Konstruktionen in Grammatiken explizit zu thematisieren. Konkret auf das Grammatikmodell der GDS bezogen schlage ich also vor, die SVG-NKN auf der syntaktischen Ebene als Subklasse der strukturell entsprechenden Termkomplemente zu beschreiben, während die FVG-NKN in Einklang mit der bisherigen Beschreibung den Prädikativkomplementen zugeordnet werden. Wenn man diesem Vorschlag folgt, sollte man allerdings berücksichtigen, dass die jeweiligen NKN sich gerade im Hinblick auf die Erfragbarkeit und die Anaphorisierbarkeit nicht wie prototypische Prädikativkomplemente und auch nicht wie prototypische Termkomplemente verhalten. Da die Bestimmung von Satzgliedern der ‘traditionellen Schulgrammatik’, ebenso wie die Bestimmung von Komplementklassen in der GDS (vgl. S. 1073ff.) über Erfragungs- und Ersetzungsproben organisiert ist, sollte man diese Anomalien explizit thematisieren. Mein Vorschlag, die SVG- NKN auf der semantischen Ebene als Argumente einzustufen, ergibt sich im GDS-Modell als Konsequenz des syntaktischen Verhaltens der NKN. Dass es gegen eine solche Zuordnung Vorbehalte geben kann, weil das Nomen in solchen Konstruktionen, wenn es denn überhaupt referiert, dies ggf. auf andere Art und Weise tut als bei prototypischen Argumenten, ist auch durch meine Intuition gedeckt. Es hat sich aber in der Fallstudie ohnehin gezeigt, dass über die Kategorie der ‘Referenzfahigkeit’ und ihre Reflexe auf der morphosyntaktischen Ebene neu nachgedacht werden sollte, weil die verschiedenen Merkmale, die gemeinhin als Symptome für diese Eigenschaft angesehen werden, sich in Bezug auf dieselbe Konstruktion unterschiedlich verhalten. Dies hat vermutlich auch mit dem Typ der Nomina in NKN zu tun, die als Verbalabstrakta je nach Bedarf in referierender oder in prädizierender Funktion auftreten können. Aussagen hierzu müssten aber durch weitere Corpusanalysen gestützt werden. Auch die Bedingungen, unter denen Argumente solcher Nomina innerhalb und außerhalb von NVG-Konstruktionen permutierbar sind, sind noch weiter zu untersuchen. Dass es in Bezug auf die Permutierbarkeit systematische Unterschiede zwischen NVG und Nicht- NVG-Konstruktionen gibt, macht die Fallstudie deutlich. Es ergibt sich deshalb kein Anhaltspunkt dafür, dass eine grammatikografische Beschreibung, sei sie für Menschen oder für Computersysteme gedacht, eine falsche Aussage trifft, wenn sie dieses Stellungsverhalten in allen NVG als zulässig beschreibt. 294 Angelika Starrer 6. Literatur Bresson, Daniel (1988): Classification des verbes supports (Funktionsverben) de Fallemand. In: Cahiers d'etudes germaniques 15, S. 53-65. Daniels, Karlheinz (1963): Substantivierungstendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. Nominaler Ausbau des verbalen Denkkreises. Düsseldorf: Schwann. Danlos, Laurence (1992): Support Verb Constructions. Linguistic Properties, Representation, Translation. In: French Language Studies 2, S. 1-32. Eisenberg, Peter ( 3 1994): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler. Engelen, Bernhard (1968): Zum System der Funktionsverbgefuge. In: Wirkendes Wort 18, S. 289-303. Fillmore, Charles, F./ Johnson, Christopher R./ Petruck, Miriam R.L. 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Peter Eisenberg Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode* 1. Status Für die Grammatikschreibung sind die Funktionsverbgefuge (FVG) ein ambivalenter Gegenstand geblieben. Nachdem sie vor allem durch Peter v. Polenz (1963, ausgearbeitet 1987) und Hans Jürgen Heringer (1968) zu allgemeiner Aufmerksamkeit gelangt waren, werden sie aus mindestens zwei Gründen in so gut wie allen Grammatiken mit mindestens mittlerer Ausführlichkeit behandelt. Einmal erreicht man mit dem Begriff einen großen Faktenbereich, der früher eher eine bescheidene Rolle gespielt hatte. Zweitens setzt man sich von Versuchen eines Teils der Sprachkritik ab, den Konstruktionstyp als schlechtes Deutsch zu marginalisieren. Die Behandlung der Funktionsverbgefüge hat etwas Demonstratives behalten. Demonstriert wird Normalität. Auch die IDS-Grammatik demonstriert Normalität, nimmt die Funktionsverbgefüge einfach mit. Sie bespricht das Thema weder so umfangreich noch so ausführlich wie manch andere Grammatik und bezieht doch zu den Hauptdiskussionspunkten eindeutig Stellung. Zur Sprache kommt die Konstruktion dort, wo es sich aus systematischen Gründen zwanglos ergibt, nämlich (1) von den Funktionsverben aus im Wortartenkapitel (S. 53f), (2) von der syntaktischen Funktion her im Kapitel über Prädikate (S. 70Iff.) und (3) von der internen Struktur her im Kapitel über Komplemente (S. 1066ff). Es ergibt sich bei Orientierung an den jeweils aufgeführten Verbgruppen ein Bestand an Funktionsverbgefügen, wie ihn die Beispiele in (1) bis (3) illustrieren, wobei jede derartige Zusammenstellung teilweise schon Interpretation ist. Denn die IDS-Grammatik spricht von Beispielen, gibt allgemeine Charakterisierungen und unternimmt keinen aufwendigen Versuch zur Abgrenzung. Eine Vorfassung dieses Beitrages wurde im Oktober 2003 auf dem Symposium ‘Kommunikation im Recht’ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften vorgetragen. Für ausführliche Diskussion danke ich Nanna Fuhrhop, Oliver Teuber und Ulrike Sayatz, für teils umständliche Korpusrecherchen darüber hinaus George Smith, Franziska Buchmann, Hagen Hirschmann und ganz besonders Robert Langner. 298 Peter Eisenberg (1) Zustands- und Bewegungsverben a. bringen, gelangen, geraten, halten, kommen, liegen, setzen, stehen, stellen b. zum Verschwinden bringen, in Verwirrung bringen, zur Einsicht gelangen, in Vergessenheit geraten, in Gang halten, zum Ausbruch kommen, in Bewegung kommen, in Streit liegen, in Bewegung setzen, zur Diskussion stehen, in Verhandlung stehen, zur Debatte stellen, in Rechnung stellen Funktionsverben dieses Typs regieren im allgemeinen eine Präpositionalgruppe (PrGr), die Beispiele in (1b) können als typisch gelten. Nicht einfach als Zustands- und Bewegungsverben sind die akkusativregierenden gemäß (2) anzusehen. Die IDS-Grammatik macht aber aus ihrer Zugehörigkeit zu den Funktionsverben keinen Diskussionspunkt. (2) Akkusativverben a. finden, nehmen, treffen b. Anerkennung finden, Beachtung finden, Kenntnis nehmen, Einfluss nehmen, Entscheidungen treffen, Vereinbarungen treffen Ausdrücklich eingeschlossen werden die Kopulaverben sein und bleiben (3): „Die Funktionsverben erbringen also insbesondere auch eine Kopulafunktion, ein Umstand, der hier dadurch ins Bewußtsein gebracht werden soll, daß sein und bleiben auch als Funktionsverben geführt werden“ (S. 705). (3) Kopulaverben a. sein, bleiben b. in Verlegenheit sein, in Arbeit sein, in Bewegung bleiben, in Kraft bleiben Mit dem Verweis auf die Kopulafunktion ist die Auffassung verbunden, bei den FVG handele es sich um „Klassen komplex gebildeter Prädikatausdrücke, die semantisch einfache Prädikate formulieren“ (S. 701). Zur syntaktischen Beschreibung der Konstruktion gehört der Hinweis auf den möglicherweise zwiespältigen Charakter der beteiligten Nominale bzw. PrGr: es bestehe eine Divergenz zwischen ihrem Komplement- und ihrem Argumentstatus (S. 1069), was nichts anderes heißt, als dass sie in formaler Hinsicht eher dem grammatisch Üblichen entsprechen als in semantischer. Genau dies macht die FVG zu einer Teilklasse der Nominalisierungsverbgefüge, zu denen z.B. auch Ausdrücke wie Verzicht leisten oder einen Besuch machen Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 299 gehören, die nicht FVG sind und eine derartige Divergenz nicht aufweisen. Im übrigen werden die Konstruktionen allgemein mit dem bekannten Verhaltenssyndrom gekennzeichnet, das von Nichtanaphorisierbarkeit nominaler Bestandteile bis zu Beschränkungen bei der Diathesenbildung reicht. Ausdrücklich verwiesen wird darauf, dass FVG von formähnlichen Idiomatisierungen zu unterscheiden und auch nicht als etwas Ähnliches wie periphrastische Verbformen anzusehen seien. Der paradigmatische Bezug vieler FVG auf einfache Verbformen wird erwähnt, ohne dass daraus allzu weitreichende Konsequenzen abgeleitet würden. In ihrer Kürze ist die Darstellung informationsgesättigt und geeignet, eine strukturierte Wahrnehmung auf den Faktenbereich zu entwickeln. Mit Art und Inhalt ihrer Beschreibung entgeht die IDS-Grammatik dem größten Teil der Einzelvorhalte, die Jeroen Van Potteiberge (2000; 2001) so gut wie der gesamten neueren Grammatikschreibung zu den FVG macht. Aber sie entgeht nicht, jedenfalls nicht auf offensichtliche Weise, der Generalkritik, die FVG seien auf keine denkbare Weise so abgrenzbar, dass man sie als einen der grammatischen Beschreibung zugänglichen Gegenstand ansehen könne. Was immer als Charakteristikum und insbesondere als Anzeichen für Grammatikalisierung oder allgemeiner ‘Verfestigung’ erscheine, finde sich auch anderswo. Im Gegensatz zum «/ «-Progressiv etwa wiesen FVG keinerlei systematisch fassbare paradigmatische Beziehung zu den Formen einfacher Verben auf, selbst wenn man nur die Verbalabstrakta auf -ung und mit ihnen verwandte Substantive ins Auge fasse. Es ist vom „Unsinn eines Untersuchungsgegenstandes“ die Rede mit dem Schluss: „[...] all that terms like ‘Funktionsverbgefüge’ do is cause confusion“ (2001, S. 435). Solche Begriffe seien „endgültig als grammatische Begriffe zu streichen, und somit wäre ein schillerndes Kapitel aus der Linguistik abgeschlossen“ (2001, S. 455). Oben wurde festgestellt, dass die Verwendung des Begriffs Funktionsverbgefüge möglicherweise sekundär motiviert ist. Schon deshalb spricht alles dafür, Van Potteiberges Kritik trotz aller Schimpferei ernst zu nehmen. Wir haben es dann mit einer Frage von allgemeinerem Interesse zu tun: Wie lässt sich entscheiden, ob ein in der Grammatikschreibung verwendeter Begriff als solcher gerechtfertigt ist oder nicht? Gibt es die Funktionsverbgefüge als Gegenstand der grammatischen Beschreibung oder gibt es sie nicht? Das Problem hört sich in spätstrukturalistischer Formulierung so an: „Die Theorie der ‘God's Truth’-Linguistik [...] besteht darin, daß eine Sprache eine Struktur hat, und daß es die Aufgabe des Linguisten ist, a) herauszu- 300 Peter Eisenberg finden, was diese Struktur ist, und b) sie so klar, ökonomisch und elegant zu beschreiben, wie es möglich ist, ohne die gottgegebene Struktur zu verdunkeln. Der Hokus-pokus-Linguist glaubt [...], daß eine Sprache [...] eine Masse unzusammenhängender, formloser Daten ist, und daß es Aufgabe der Linguisten ist, diese Masse [...] zu organisieren, indem sie eine Struktur über sie legen“ (Householder 1952, S. 260 nach der Übersetzung in Bense u.a. (Hg.) 1976, S. 24f). Wir wollen der Frage, ob es sich beim Ansatz von ‘Funktionsverbgefuge’ als grammatische Kategorie oder als grammatische Relation um einen Fall von Hokus-pokus-Linguistik handelt, ein Stück weit nachgehen und sie, wie man so schön sagt, ergebnisoffen diskutieren. Vielleicht können wir unsere Grammatiken um einige Seiten kürzen, aber vielleicht müssen wir nur etwas mehr Aufwand treiben, um die FVG ordentlich zu beschreiben. Kap. 2. beginnt mit einer kurzen Darlegung möglicher Funktionen von FVG, Kap. 3. kommt auf Daten über ihre Verwendung in älteren Sprachstufen und im Gegenwartsdeutschen zu sprechen. Wir versuchen dann die Engfuhrung auf einen Prototyp, der, wenn er einer ist, die Perspektive für weitere Untersuchungen liefern müsste. Das Ganze ist so etwas wie eine methodische Fingerübung. 2. Funktionen Eine grammatische Analyse soll einer funktionalen Deutung der beschriebenen Konstruktion zumindest nicht im Wege stehen, deshalb darf die Frage nach der Funktion von FVG nicht einfach unter den Teppich gekehrt werden. Nach Auffassung des überwiegenden Teils der Literatur ruht ihre Verwendung auf zwei Säulen, nämlich einer pragmatisch-textuellen und einer semantischen. Erstere war die allein sichtbare, solange die FVG vornehmlich Gegenstand sprachkritischer Erwägung waren. Sie wird heute meist über Begriffe wie Schematisierung und Ritualisierung erfasst (2.1). Die andere kam mit dem im engeren Sinne sprachwissenschaftlichen Zugriff ins Spiel (2.2). 2.1 Schematisierung, Ritualisierung, Nähe und Distanz Unter Bezug auf Cherubims (1990) Beschreibung der Herausbildung fester syntaktischer Muster mit teilweise spezifischer lexikalischer Füllung zur Signalisierung institutioneller Zusammenhänge macht Seifert (2004, S. 111) geltend, dies setze voraus, dass die verwendeten Konstruktionen formelhaft Funktions verbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 301 erstarrt und nicht oder nicht mehr semantisch motiviert seien. Für die Nominalisierungsverbgefüge sieht die IDS-Grammatik (S. 703) als typisch den Gebrauch „in akademischer, technischer, amtssprachlicher oder formal-öffentlicher Rede“ an. „Sie stellen also im wesentlichen pragmatisch bedingte Varianten der einfachen Ausdrücke dar.“ Wie gesagt: es kann nicht bei dieser Kennzeichnung bleiben, wenn man sich aus einem primär sprachkritischen Zugriff lösen will. Genauso unangemessen wäre es, einen derartigen Verwendungsaspekt einfach zu vernachlässigen und so zu tun, als könne die Verwendung von FVG beispielsweise prinzipiell aktionsartlich erklärt werden. Zumindest in quantitativer Hinsicht sind pragmatische Gründe häufig ausschlaggebend, und dies allein kann eine erhebliche Wirkung auch in systematischer Hinsicht entfalten, gerade wenn es um Grammatikalisierungsprozesse geht. Festzuhalten bleibt weiter, dass das Reden von einem Mehrwert oder von Varianten einen Bezug auf ‘einfache Formen’ impliziert, die den Mehrwert nicht aufweisen. Die Art des paradigmatischen Bezuges, den die IDS-Grammatik im obigen Zitat auch ausdrücklich vomimmt, spielt ja über Begriffe wie ‘Streckform’ oder ‘komplexes Prädikat’ eine wichtige Rolle in der Diskussion über den Status der FVG. Man muss aufpassen, nicht schon durch das Reden von Mehrwert oder Varianten eine Obligation einzugehen, die FVG auf Formen einfacher Verben bezieht. Mit Cherubims Darlegungen ist das auch nicht notwendig. Rituelle Stilmuster können beschrieben werden, indem man nicht jeweils darauf abhebt, wie eine in bestimmter Hinsicht alternative Formulierung aussieht. Daraus folgt dann die Frage, ob die FVG gleich auf dem Hintergrund spezifischer institutioneller oder fachsprachlicher Folien wie Sprache des Rechts, der Verwaltung oder der Technik zu beschreiben sind oder ob man nicht zum Verständnis von ‘Funktionsverbgefüge im gegenwärtigen Deutsch’ eine allgemeinere Kennzeichnung suchen sollte, die speziellere Kennzeichnungen weder ausschließt noch überflüssig macht. Eine in diesem Sinn allgemeine und instruktive Verortung der FVG scheint mit dem Ansatz von Ägel/ Hennig (2004) möglich zu sein. Ägel und Hennig setzen beim Versuch von Koch/ Österreicher (1985; 1994) an, konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit mithilfe der Begriffe Kommunikationsbedingung und Versprachlichungsstrategie zu modellieren. Ihre Kritik an Koch/ Österreicher richtet sich einerseits gegen die in der Tat schwerwiegende ter- 302 Peter Eisenberg minologische Heterogenität des Ansatzes, sie richtet sich aber auch gegen die Aussonderung des medialen Aspekts als eines besonderen, der allen anderen gegenübergestellt wird. Ägel/ Hennig selbst fuhren eine Systematisierung über die Etablierung von universellen Parametern der Kommunikation durch, die sich auch als universelle Parameter der Diskursgestaltung erweisen, die über entsprechende Diskursverfahren umgesetzt werden und sich einzelsprachlich materialisieren können. Das ist das Entscheidende. Es wird ein Angebot gemacht, einzelsprachliche Merkmale in Hinsicht auf die Parameter der Nähe-Distanz- Kommunikation zu bewerten und damit letztlich Aussagen darüber möglich zu machen, in welcher Hinsicht und vielleicht sogar in welchem Maß ein vorliegender Text auf die eine oder die andere Seite gehört. Gehen wir die Parameter der Nähe-Distanz-Kommunikation durch und halten wir fest, was sich ohne großen Aufwand für die FVG ergibt. a) Der Rollenparameter erfasst Strukturen, die mit dem Wechsel bzw. Nichtwechsel der Sprecher- und Adressatenrolle zu tun haben. Prinzipiell sind alle Personalformen von FVG bildbar, auch die der 1. und 2. Person. Es würde aber nicht überraschen, wenn sie so gut wie gar nicht verkommen, und man kann durchaus fragen, ob nicht Grammatikalitätszweifel an Sätzen wie Ich komme zum Ausdruck oder Du kommst zur Anwendung bestehen. Noch eher scheint das für die Formen des Imperativs zu gelten. Unter welchen Umständen sind Sätze wie Gerate endlich in Vergessenheit oder Stellt euch zur Debatte denkbar? Oder sind sie schon ungrammatisch? Mit ihrem vergleichsweise hohen sprachlichen Aufwand gehören die FVG außerdem zu den Konstruktionen, die eher dann verwendet werden, wenn ein Rollenwechsel nicht droht, einem niemand ins Wort fallen kann. Ein Zusammenhang von sprachlichem Aufwand und pragmatischen Funktionen wird ja auch sonst in vielerlei Hinsicht geltend gemacht. b) Mit dem Zeitparameter wird die Beziehung zwischen Planung und Ausführung einer Äußerung erfasst, wobei ein hohes Maß an verbaler Planung insbesondere zur Verwendung integrierter Strukturen führt. Für den sog. Nominalstil gilt die Verwendung integrierter Strukturen als typisch, etwa was die kompakte Kodierung propositionaler Einheiten betrifft. Auch dies ist ein Merkmal von Distanzkommunikation. Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 303 c) Unter dem Situationsparameter werden die Merkmale zusammengefasst, die der Verschränkung des Sprechens in Raum und Zeit dienen. Die für FVG typischen Textsorten sind allgemein frei von Bezügen auf die Sprechsituation. Allerdings sehen wir im Augenblick nicht, was konstruktiv über das unter (a) Gesagte hinausgehen könnte. Eine Reihe von Funktionsverben, unter ihnen bringen und kommen, weist deiktische Merkmale auf, die in diesem Zusammenhang interpretationsbedürftig sind (4.1). d) Der Parameter des Codes muss, beschränkt man sich auf das Verhältnis von Verbalem und Nichtverbalem, nicht weiter kommentiert werden. Wir bleiben ganz auf der Seite des Verbalen. e) Schließlich der Parameter des Mediums. FVG kommen im Gesprochenen wenig vor, aber das besagt nicht viel. Wichtiger ist beispielsweise das Auftreten von Formcharakteristika wie den Verschmelzungen. Wir werden in Kap. 4. sehen, dass die Verwendung von Verschmelzungen an deren Grammatikalisierung auch im Geschriebenen gebunden ist. An der sprachlichen Form selbst wird die Bindung ans Geschriebene sichtbar. Funktionsverbgefüge sind auf die angedeutete Art und Weise wahrscheinlich als sprachliches Merkmal für Distanzkommunikation zu erweisen. Darum ging es ja. Je besser wir ihre Grammatik verstehen, desto eher dürfte es gelingen, dies überzeugend darzulegen. 2.2 Kausativierung und Aktionsartendifferenzierung Unter Kausativierung wird, einem verbreiteten Verständnis entsprechend, die Vergabe einer prototypischen Agensrolle verstanden. Dabei sind für unseren Zusammenhang zwei Fälle zu unterscheiden. Im ersten vergibt ein existierendes einfaches Prädikat selbst die Agensrolle. Dies ist der typische Fall bei FVG als Streckform. Ein semantischer Mehrwert durch Kausativierung ergibt sich nicht (4). (4) a. aufführen zur Aufführung bringen; Wolfgang bringt den Parsifal zur Aufführung b. bewegen in Bewegung setzen; Susanne setzt die Kommission in Bewegung In der zweiten Gruppe läuft Kausativierung auf etwas wie Transitivierung hinaus. Wenn es einfache Verben gibt, vergeben sie keine Agensrolle. 304 Peter Eisenberg (5) a. übereinstimmen in Übereinstimmung bringen; Paul bringt die Ergebnisse in Übereinstimmung b. explodieren zur Explosion bringen; Inge bringt Walther zur Explosion Kausativierung kann nicht die einzige, sie wird nicht einmal die Hauptfunktion der FVG sein. Man sieht sofort, dass sie nur von einem Teil der FV in (1) bewirkt wird. Der Mehrheit der Verben schreibt man die Bindung an bestimmte Aktionsarten zu. Die ganze chaotische Aktionsartendebatte scheint, was die FVG betrifft, auf ein binäres Aktionsartensystem hinauszulaufen, das eine dynamische von einer statischen Aktionsart trennt und in der Literatur durch inchoativ-durativ, transformativ-kursiv u.ä. gefasst wird: (6) a. inchoativ bringen, gelangen, geraten, kommen, setzen, stellen b. durativ halten, liegen, stehen Die IDS-Grammatik (S. 704) setzt darüber hinaus eine Gruppe von passivischen FVG an, kommt aber dann zu dem Schluss, dass diese doch keine eigene Klasse bilden: „Sie definieren sich als kausative, inchoative oder durative Funktionsverbfiigungen, die sie sind, über eine passivische Bedeutung.“ Auf die Frage, ob Passivität mit Kausativität Zusammengehen kann, kommen wir zurück. 3. Vorkommenshäufigkeit Häufigkeiten sind nicht der einzige, aber sie sind ein wichtiger Indikator für die Rolle, die FVG insgesamt sowie einzelne Gruppen von FVG innerhalb der Gesamtmenge spielen. Eine breit angelegte Untersuchung über das Vorkommen der Konstruktion im Gegenwartsdeutschen gibt es u.W. nicht, wohl aber verfügen wir über eine Reihe von speziellen Erhebungen und mehr oder weniger groben Schätzungen, die wohl ein halbwegs realistisches Bild ergeben. Von besonderem Wert scheint uns die Erhebung von Jan Seifert (2004) über das Vorkommen von FVG in Rechtstexten seit Beginn des 18. Jahrhunderts zu sein, weil sie vergleichsweise klare Entwicklungstendenzen bis ins Gegenwartsdeutsche hinein aufzeigt. Untersucht wird ein Korpus von 84 Texten Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 305 (Gesetze, Verordnungen, Mandate usw.) aus der Zeit zwischen 1706 und 1995. Der größte Teil von ihnen wurde im Marburger Forschungsprojekt zur Gesetzessprache des 18. bis 20. Jahrhunderts bearbeitet. Das Korpus strebt eine gleichmäßige Streuung im deutschen Sprachgebiet an. Es hat einen Umfang von gut 17.000 Sätzen mit gut 500.000 Wörtern und fast 44.000 Prädikatausdrücken und wird in sechs Teilkorpora für je ein halbes Jahrhundert ausgewertet. Die Übersicht in (7) gibt die Gesamtzahl der Prädikatausdrücke für die Teilkorpora an, dazu absolute Zahl und Prozentsatz an FVG sowie die Standardabweichung (Seifert 2004, S. 134). (V) Teilkorpus Präd A £ abs. FVG gesamt £ abs. 0-Anteil 18(1) J812i_ 4.688 4.514 407 326 8,1 8,1 2,2 3,5 19(1) 19(2) 3.659 7.842 371 881 11,1 10,8 4,0 2,2 20(1) 20 (2) 4.191 18.988 430 1.768 11,5 12,2 3,4 12,8 [Gesamtkorpus 43.882 4.183 10,41 Der Anteil von gut 8% zu Beginn des 18. Jahrhunderts steigt in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts kräftig und danach moderat an. Die jüngste Entwicklung fallt durch eine hohe Standardabweichung auf. Offenbar werden FVG in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr unterschiedlich häufig in Gesetzestexten verwendet. Einen wichtigen Befund gibt (8) wieder. Hier ist die Zahl der FVG zur Zahl der substantivischen Prädikatsausdrücke {ist Vertreter des ganzen Volkes; trägt die Verantwortung) ins Verhältnis gesetzt. Man sieht, dass der Anteil der FVG sinkt. Dieser (der prädikative) Teil des Nominalstils wird zu einem geringeren Teil von den FVG bestritten als früher. Die erkennbare Tendenz wird durch einen weiteren Befund bestätigt. Innerhalb der einzelnen Klassen von FVG nehmen wiederum die ‘echten’ mit PrGr relativ ab. Gemeint sind solche, die dem Bildungsmuster folgen, aber nicht als auf die eine oder andere Art lexikalisiert oder idiomatisiert gelten müssen. Als lexikalisiert gelten etwa die mit zuwege oder zustande, als idiomatisiert solche wie in Anspruch nehmen oder in Kraft setzen. Sie nehmen 306 Peter Eisenberg insgesamt zu, die produktiven (echten) nehmen ab. Das wird auch daran deutlich, dass die Zahl der neu gebildeten FVG insgesamt rückläufig ist. Wir haben es offenbar immer mehr mit überkommenen Einheiten zu tun, die zu einem erheblichen und wiederum zunehmenden Anteil Lexikalisierungen oder Idiomatisierungen sind. (8) Teilkorpus Psub 2 abs. 2 abs. FVG 0-Anteil 18(1) 18(2) 536 636 407 326 79,4 62,6 43,6 18,8 19(1) 19(2) 618 1.757 371 881 65,3 50,5 21,7 1U 20(1) 20 (2) 792 3.266 430 1.768 60,5 50,4 16.4 14.5 [Gesamtkorpus 7.605 4.183 60,0] Soweit zur vergleichsweise guten Datenlage zu den FVG in der Sprache des Rechts. Die von Seifert (2004, S. 253f.) zusammengestellten Ergebnisse über andere Textsorten im Gegenwartsdeutschen zeigen nicht viel mehr, als dass FVG auch sonst eine wichtige Rolle spielen. Wie wichtig sie ist und worin sie genau besteht, bleibt schwer zu beurteilen. In Fachtexten aus dem Gartenbau etwa machen FVG 2,4% der Prädikate aus, in solchen der Elektrotechnik das Doppelte. Die präpositionalen FVG stellen in sprachwissenschaftlichen Texten 1,38% der Prädikate, in belletristischen nur ein Achtel davon. Noch weniger Aussagekraft haben die Zählungen in Zeitungstexten, denen ihre Textsortenvielfalt gelassen wurde. Das TIGER-Korpus umfasst mehrere vollständige Ausgaben der Frankfurter Rundschau aus dem Jahr 1995. In seinen gut 40.000 Sätzen wurden etwa 1.200 Einheiten als FVG annotiert. Ein vergleichbarer Anteil ergibt sich für etwa 4,8 Millionen Sätze des überschlagsmäßig ausgewerteten TAZ-Korpus aus den Jahren 1993 bis 1995. Die Schwierigkeit bei all den Zählungen und Schätzungen besteht sowohl darin, dass nicht immer dasselbe gezählt wurde, als auch darin, dass die Zuordnungen zur Konstruktion nicht übereinstimmen. Immerhin steht über FVG mit bringen und kommen, die in Kap. 4. zur Sprache kommen, etwas mehr Information zur Verfügung. Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 307 4. Beschreibung des Prototyps Grundlage des folgenden Versuchs zur Engführung ist die Annahme, dass ein Prototyp in einem quantitativen wie in einem qualitativen Sinne unmarkiert sein sollte. Qualitativ heißt, dass er als typisch erkannte formale und funktionale Merkmale aufweist. Quantitativ heißt, dass er, sowohl was die Typefrequenz wie was die Tokenfrequenz betrifft, zu den am häufigsten vorkommenden Exemplaren gehört. Vorausgesetzt wird, dass der Prototyp innerhalb der Menge der FVG zu suchen ist, die aus FV gemäß (1) und PrGr aufgebaut sind. Betrachten wir also das Vorkommen der einzelnen Bestandteile der Konstruktion. 4.1 Funktionsverben Seit Beginn der intensiven Beschäftigung mit Funktionsverbgefügen galten bestimmte FV als besonders typisch für die Konstruktion. Schon v. Polenz' (1963, S. 260) Rede von der „Umsetzung konkret-räumlicher Vorstellungen in zeitlicher Phasenabstufung“ ist ein Hinweis in dieser Richtung. Heringer (1968) konzentriert sich auf bringen und kommen, die auch in der Liste von Herrlitz (1973) am häufigsten Vorkommen, bei den Zustands- und Bewegungsverben gefolgt von stehen, setzen und stellen. Im TIGER-Korpus fehlt setzen unter den häufigsten. Die Rangfolge wird angeführt von stellen stehen einerseits und bringen kommen andererseits. Sie bilden ein Viertel aller als FVG annotierten Einheiten. Noch eindeutiger ist die Verteilung in der Gesetzessprache, und zwar über den gesamten von Seifert untersuchten Zeitraum hinweg (2004, S. 237). Absolut dominant sind bringen und kommen. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind gut 8% der Prädikate FVG, davon ist jedes dritte mit bringen oder kommen gebildet. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ändert sich die Situation nicht wesentlich (9). (9) 18(1) 18(2) 19(1) 19(2) 20(1) 20 (2) %(Typen) 32.7 31.7 25.9 29.9 19,6 16,1 % (Belege) 31,4 29.6 21,9 35.7 17,3 20,0 308 Peter Eisenberg Für das 18. Jahrhundert lässt sich also feststellen, dass fast 3% aller Prädikate mit bringen oder kommen als Funktionsverb gebildet sind. Oder anders: in jedem Text, der mehr als 30 Prädikate enthält, kommt im Durchschnitt jedes der beiden FVG mindestens einmal vor. Zu dieser Zeit ist es möglicherweise gar nicht der Konstruktionstyp, der als charakteristisch für die Textsorte zu betrachten ist, sondern es sind die beiden Verben in ihrer je spezifischen Konstruktion. Offenbar muss zunächst das Verbpaar betrachtet und erst dann in einer größeren Menge von FV neben andere Verbpaare wie stellen stehen bzw. neben entsprechende Verbklassen gestellt werden. Mit der Charakterisierung als Kausativierer ist schon festgestellt worden, dass bringen ein prototypisches Agensverb mit einem klaren Agentivitätsgefalle zur zweiten Argumentstelle ist. Die strukturell angemessene Charakterisierung ist deshalb nicht die als Kausativierer, sondern die als Transitivierer (dazu Müller 2002; Gunkel 2003). Beide Argumente sind obligatorisch. In der Verwendung als Funktionsverb ist es auch das dritte, präpositional kodierte, auf das wir in Zusammenhang mit den Präpositionen zu sprechen kommen. Im Augenblick halten wir fest, dass mit bringen einerseits eine schematisierte Kodierung des Gegenstandes, um den es geht, erfolgt, andererseits eine des Adressaten eines Gesetzestextes im Sinne der Rolle des potentiellen ‘Täters’. Mit der Verwendung von bringen ist klar, was Gegenstand des Gesetzes ist und wen es meint. Sowie das Verb auftritt, steht die Grundstruktur der Aussage vor Augen. Die syntaktischen Kodierungen können sich durchaus erheblich voneinander unterscheiden: (10) a. Wer den Sprengstoffzur Explosion bringt b. Wenn jemand den Sprengstoffzur Explosion bringt c. Bringtjemand den Sprengstoffzur Explosion d. Jeder, der den Sprengstoffzur Explosion bringt e. Derjenige, der den Sprengstoffzur Explosion bringt f. ... Das transitive Funktionsverb bringen ist dann innerhalb „der Familie der grammatischen Konversen“ (IDS-Grammatik, S. 170ff.) zu Hause. Es ist Element einer syntaktisch besonders aktiven Klasse mit all ihren Möglichkeiten zur Rhematisierung oder Fokussierung des Agens sowie zu seiner Tilgung oder impliziten Kodierung. Diese Feststellung ist umso wichtiger, als häufig eher auf Restriktionen abgehoben wird, denen FV unterliegen. (11) zeigt nur einige der Möglichkeiten. Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 309 (11) a. Der Sprengstoffwird zur Explosion gebracht b. Der Sprengstoffist zur Explosion gebracht c. Der Sprengstoffgehört zur Explosion gebracht d. Der Sprengstoffist zur Explosion zu bringen e. Der Sprengstofflässt sich leicht zur Explosion bringen Im Gegensatz zu bringen ist das intransitive kommen syntaktisch arm. Es wird zu den ‘passivischen’ FV gezählt, wobei sich eine Argumentstruktur aber in einem wichtigen Punkt von der des Passivs unterscheidet (12). (12) a. Der Sprengstoffwird zur Explosion gebracht b. Der Sprengstoffwird von Karl zur Explosion gebracht c. Der Sprengstoff wird durch einen Betriebsfremden zur Explosion gebracht d. Der Sprengstoffkommt zur Explosion e. *Der Sprengstoffkommt von Karl zur Explosion f. Der Sprengstoff kommt durch einen Betriebsfremden zur Explosion Das werrfe«-Passiv lässt neben dem Agens einen Instrumentalis und auch beide gleichzeitig zu, (12b) und (12c) können kontaminiert werden. Bei kommen ist nur der Instrumentalis möglich (12e, f). Damit ist kommen auch als FV ein echtes Thema- oder ergatives Verb. Ergative Verben sind agenslos. Das gilt, wenn sie lexikalisch selbständig sind (*Karl ist vom Sensenmann gestorben) und es gilt genauso, wenn sie morphologisch auf Agensverben bezogen sind {*Die Wäsche ist von Karl getrocknet; *Das Buch liegt von Karl auf dem Tisch; *Karl ist von seiner Mutter eingeschlafen). Auch in anderer Hinsicht unterscheiden sich die Typen nicht, insbesondere was die Attribuierbarkeit des Partizip 2 betrifft. Die IDS-Grammatik plädiert sogar dafür, auch den morphologisch unabhängigen Verben einen ‘operationalen’ und nicht einen lexikalischen letztgebundenen Term (im Prinzip ein agentives Subjekt) zuzuschreiben. Dies würde auf eine verstärkte paradigmatische Bindung aller ergativen Verben an die transitiven hinauslaufen. Für das Verhältnis von kommen zu bringen scheint diese Sicht besonders gut begründbar zu sein. Das Diathesenverhältnis der Sätze mit bringen und kommen ist strikt, was das Verhältnis der Argumentstrukturen betrifft, es ist aber bemerkenswerterweise auch strikt, was die weiteren semantischen 310 Peter Eisenberg Merkmale der Verbstämme betrifft. Das gilt insbesondere für die inhärente Deixis. Sowohl bringen als auch kommen ist, wenn ohne Richtungsangabe verwendet, origo-orientiert {Die Post bringt ein Paket; Angela Merkel kommt). Da die Richtungsangabe bei Verwendung als Funktionsverb obligatorisch ist, wird die Orientierung entsprechend umgepolt, bei beiden Verben aber wieder in exakt derselben Weise: Er bringt den Sprengstoff zur Explosion. Der Sprengstoffkommt zur Explosion. Sieht man die Verhältnisse so, dann liegt es durchaus nahe, die lexikalische Kodierung der Konverse als analog zu Suppletion in Flexionsparadigmen oder in Wortparadigmen im weiteren Sinne aufzufassen. Suppletion als spezifische Form der Irregularisierung von Formen in paradigmatisch gebundenen Positionen wird dabei als ein funktional motivierter Prozess im sprachlichen Nahbereich verstanden: Je irregulärer ein Paradigma, desto wichtiger ist die formale Identität jeder einzelnen Form (Nübling 2000). 4.2 Substantive Selbst wenn man sich auf bringen und kommen als FV beschränkt, bleibt es schwierig, etwas spezifisch Grammatisches über die verwendeten Substantive auszusagen. In der Literatur ist mehr oder weniger entschlossen von Nomina actionis die Rede, auch die IDS-Grammatik (S. 1068) sieht „in der Regel ein deverbales oder deadjektivisches Nomen.“ Damit, dass man die Kennzeichnung der FVG als Streckform aufgibt, gibt man notwendigerweise die Annahme auf, es handele sich um eine Konstruktion, die das Substantiv regelhaft auf Verb- oder Adjektivstämme als Derivationsbasen zu beziehen erlaube. Van Potteiberge (2001, S. 41 Iff.) macht daraus noch einmal einen ganz wichtigen Kritikpunkt und zeigt insbesondere, wie groß der Unterschied in der Systematik zwischen dem am-Progressiv {am Lesen sein) und den FVG in dieser Hinsicht ist. Bei bringen und kommen bilden die ung- Verbalabstrakta die größte Gruppe (13a), stellen aber in keinem Sinn eine Mehrheit dar. Es gibt viele einfache Substantive (13b), es gibt komplexe Substantive anderer Art (13c) und daneben eine Reihe von allerdings teilweise abgeleiteten - Simplizia (13d). (13) a. zur Abschaltung bringen/ kommen, zur Abstimmung bringen/ kommen, zur Anrechnung bringen/ kommen, zur Anwendung bringen/ kommen, in Aufregung bringen/ kommen Funktionsverbgefiige - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 311 b. zum Gehen bringen/ kommen, zum Keimen bringen/ kommen, zum Sieden bringen/ kommen, zum Stehen bringen/ kommen, zum Sprechen bringen/ kommen c. zum Abschluss bringen/ kommen, in Aufruhr bringen/ kommen, zu Bewusstsein bringen/ kommen, in Einklang bringen/ kommen, in Umlauf bringen/ kommen d. in Fluss bringen/ kommen, in Form bringen/ kommen, in Mode bringen/ kommen, zur Ruhe bringen/ kommen, in Wut bringen/ kommen Es sind nun verschiedene Möglichkeiten denkbar, die Vielfalt der Substantivtypen im Sinne der Ermittlung eines vielleicht doch produktiven Kembereichs zu reduzieren. Kann man beispielsweise zeigen, dass heute verstärkt FVG mit substantiviertem Infinitiv gebildet werden, wäre das wohl auf die teilweise Zurückdrängung der ««g-Abstrakta zurückzuführen. Umgekehrt könnten die stärkeren Restriktionen, die ung im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat, gerade den Kernbereich seiner Verwendung in FVG bestimmen. Eine wesentliche Rolle für die Erklärung der Vielfalt von Substantivtypen könnten dann Blockierungen spielen. Mitverantwortlich für die Vielfalt wäre das pure Alter der Konstruktion. Die Evaluierung solcher Möglichkeiten ist aufwendig, ihr Ausgang offen. Unaufwendiger ist ein eher dogmatisch-strukturalistisches Vorgehen. Henry Hiz hat einmal griffig formuliert, was eine Distributionsanalyse als Entdeckungsprozedur erst sinnvoll macht: „Die Möglichkeit, eine bestimmte Relation zwischen zwei Objekten anzusetzen, setzt nicht voraus, daß man für jedes Objekt eine Eigenschaft angeben kann, auf die sich die Relation zwischen ihnen gründet“ (Hiz 1964, S. 98; zitiert nach der Übersetzung in Bense u.a. (Hg.) 1976, S. 13). Zur ersten Nutzanwendung des Satzes wurde in (13) zu allen PrGr sowohl bringen als auch kommen gestellt. Beide sind jeweils möglich, und es fragt sich, wie weit das verallgemeinerbar ist. Ein Durchprobieren in den Listen von Herrlitz (1973) ergibt, dass mit wenigen Ausnahmen im nicht eindeutig idiomatisierten oder lexikalisierten Bereich kommen und bringen austauschbar sind. Eindrucksvoll sind auch die Zählungen im TAZ-Korpus. Mehr als die Hälfte der Vorkommen von bringen und kommen hat identische PrGr bei sich und a fortiori dieselben Substantive. Die Analogie ist so stark, dass sie selbst in Fällen wie in Frage durchschlägt. Den über 600 Vorkommen von in Frage kommen stehen immerhin sieben unerwartete von in Frage bringen gegenüber. Man konstatiert einen deutlichen Analogie-Effekt. 312 Peter Eisenberg Eine vergleichbar weitgehende Übereinstimmung besteht etwa mit stellen nicht, vgl. beispielsweise die zweifelhaften in Aufregung stellen, zur Ausführung stellen, zur Besinnung stellen usw. Dagegen ist die Übereinstimmung zwischen stellen und stehen wiederum groß. Diese Art der Gruppenbildung wäre im einzelnen zu untersuchen. 4.3 Präpositionen Was die Vorkommenshäufigkeit betrifft, ist die Auszeichnung eines Kembestandes bei den Präpositionen noch einfacher als bei den Funktionsverben. Absolut dominant sind in und zu. Ungefähr 90% der von Herrlitz aufgelisteten FVG enthalten eine der beiden Präpositionen. Auch bei bringen und kommen sind sie mit großem Abstand am häufigsten. Von den Vorkommen von FVG im TIGER-Korpus mit den beiden Verben sind über 80% mit in oder zu gebildet. Im TAZ-Korpus wurden insgesamt etwa 88.000 Vorkommen der beiden Verben ausgemacht, von denen fast jedes zehnte ein FVG ist, das bringen oder kommen mit in oder zu enthält. Ohne genauere semantische Analyse der Verteilung von in und zu ist es nicht möglich, eine Begründung für die Verwendung der Präpositionen zu geben. Auf einer etwas abstrakteren Ebene ist das aber durchaus und so möglich, dass die paradigmatischen Verhältnisse weiter hervortreten. In mit seiner Variante ein und zu gehören zum Kembestand der alten Schicht von lokalen Präpositionen, die ein in sich geschlossenes System bilden, die zu den am häufigsten vorkommenden Formen überhaupt gehören und die dort eine besondere Rolle spielen, wo Konstruktionen mit präpositionalen Bestandteilen auf die eine oder andere Weise grammatikalisieren. Letzteres gilt etwa für die Verwendung in Präpositionalobjekten, es gilt für das Vorkommen in Verschmelzungen (4.4), für die Verwendung als Verbpartikel und eben in Funktionsverbgefügen. Auch was die Form selbst betrifft, finden sich in und zu unter den am weitesten grammatikalisierten Formen (Di Meola 2000). Zur Vorkommenshäufigkeit kann mit Wiese (2004, S. 43) auf Meiers Sprachstatistik verwiesen werden. Im Korpus von Meier (1967), das über 10 Millionen Wortformen enthält, sind in und zu mit jeweils über 200.000 Vorkommen nicht nur die häufigsten Präpositionen, sondern beide gehören auch zu den 30 häufigsten Formen überhaupt. Noch aussagekräftiger ist Wieses Beschreibung des Systems der Präpositionen. Den Kembestand der lokalen vergleicht er mit Lokalkasussystemen und kommt zu dem Schluss, dass beide mit unterschiedlichen Mitteln dieselben Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 313 grundlegenden semantischen Verhältnisse kodieren. In einer Sprache wie dem Deutschen bilden die primären lokalen Präpositionen „ein System, dessen Struktur mit der von Flexionssystemen vergleichbar ist“ (Wiese 2004, S. 8). In der Grundverwendung ist in lokal, mit Wiese Merkmal [non dynamisch], dagegen ist zw allativ, Merkmal [dynamisch]. Was die Lokalisierung eines Bezugsobjekts betrifft, bezieht sich zu auf einen nicht näher bezeichneten Einzugs- oder Nachbarschaftsbereich {zur Ostsee), während in sich auf das Innere eines Raumgebiets bezieht {im Wald, Merkmal [interior]). Mit dem Bezug auf einen Innenraum ist in spezifischer als zu, mit dem Merkmal [dynamisch] ist zu spezifischer als in. Im übrigen sind beide die semantisch unmarkierten Präpositionen überhaupt, abgesehen von bei, das einerseits non-dynamisch ist und andererseits einen nicht näher spezifizierten Nachbarschaftsbereich betrifft. Bei ist trotzdem viel weniger häufig als in und zu und spielt in anderen Zusammenhängen, beispielsweise in Präpositionalobjekten, ebenfalls eine nur geringe Rolle. Warum das so ist, kann hier nicht verfolgt werden. In hat neben der lokalen eine dynamische Verwendung, ist dann also mit zu gleichgestellt. Auch dieser Synkretismus bei der Bezeichnung des Wo und des Wohin ist keineswegs zufällig. Ebenso wenig zufällig sind phonologische Substanz und Struktur der Präpositionen. Wiese (2004, S. 47ff.) zeigt, wie man für das System der primären lokalen Präpositionen in ähnlicher Weise von konstruktionellem Ikonismus sprechen kann, wie man es bei Flexionsmarkem innerhalb von Flexionsparadigmen tut. Wir haben es bei den FVG allgemein und bei denen mit bringen und kommen im Besonderen mit Einheiten zu tun, die auch über ihre Präpositionen in paradigmatische Beziehung gesetzt sind. Dieser Bezug ist von seinen strukturellen Eigenschaften her durchaus mit dem zwischen Formen innerhalb von Flexionsparadigmen vergleichbar. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass er nicht zwischen Wortformen, sondern zwischen speziellen Ausprägungen von PrGr besteht. 4.4 Kasus und Verschmelzungen In und zu regieren mit dem Dativ beide den strukturellen Kasus der Präpositionen; auch dies gehört zu den Eigenschaften, die sie als Einheiten des Kembereichs ausweisen und ist insbesondere für das direktionale zu hervorzuheben. Bei in wird der Synkretismus des Wo und Wohin kontextuell durch den Kasus aufgelöst, ganz wie das üblicherweise bei Synkretismen in der Flexionsmorphologie geschieht. Die Zuordnung von semantischen Merkmalen zu Kombinationen aus Präposition + Kasus ist dann die in (14). 314 Peter Eisenberg (14) stehen, halten bringen, kommen Von den prinzipiell gegebenen Möglichkeiten ist die Merkmalskombination {[-dyn] [-int]} weder bei bringen noch bei kommen realisiert (sie tritt z.B. bei stehen und halten auf). Unsere beiden Funktionsverben sind auf die untere Zeile von (14) beschränkt, so dass aus der Verteilung von in und zu bei den vorkommenden Substantiven ermittelbar sein müsste, warum das Bezugsobjekt einmal als nicht näher spezifizierter Nachbarschaftsbereich und das andere Mal als Innenraum konzeptualisiert wird. Wir gehen der Frage nicht nach. Nun zu den Verschmelzungen. Die Grammatikalisierung von Verschmelzung und Artikelflexiv geht dann am weitesten, wenn die Präposition einsilbig ist und vokalisch oder mit dem unmarkierten Sonoranten [n] auslautet. Das betrifft an, bei, in, von und zu mit den Formen am, beim, im, vom, zum und zur (Eisenberg 2004, S. 200f.). Auf der zweiten Stufe stehen die konsonantisch auslautenden Einsilber mit s als Artikelflexiv, also ans, aufs, durchs, fürs, ums, vors. Auch diese Formen sind so weit grammatikalisiert, dass sie in bestimmten Vorkommen standardsprachlich nicht mehr in eine Folge aus Präposition und Artikel aufgelöst werden können. Das ist beispielsweise der Fall bei Idiomatisierungen {ans Leder gehen, aufs Ganze gehen), aber eben auch bei Funktionsverbgefiigen. Die Verschmelzungen mit in und zu werden verwendet, wenn sie grammatisch passen. Zugelassen ist dann in der Regel weder die Form ohne Artikelrest noch die mit Artikel (15). (15) a. im Belieben stehen - *in Belieben stehen - *in dem Belieben stehen b. zum Erliegen bringen - *zu Erliegen bringen - *zu dem Erliegen bringen c. zur Geltung bringen — *zu Geltung bringen - *zu der Geltung bringen d. ins Rollen bringen - *in Rollen bringen - *in das Rollen bringen Funktionsverbgefüge - Über das Verhältnis von Unsinn und Methode 315 Wenn eine hinreichend grammatikalisierte Verschmelzung vorliegt, wird sie im typischen FVG auch verwendet. Das Besondere dieser Verwendung wird aus (16) deutlich. (16) a. Inge geht schon zur Schule - Inge geht schon zu der Schule b. Inge ist schon im Kindergarten - Inge ist schon in dem Kindergarten c. Inge geht schon in den Kindergarten d. Inge ist schon in der Schule e. Inge geht schon in die Schule (16) demonstriert, was man als das normale Verhalten von Verschmelzungen ansieht. Ist eine hinreichend grammatikalisierte Verschmelzung vorhanden, dann ist sie bei Sätzen wie (16a, b) bei der intendierten Bedeutung obligatorisch. Wird stattdessen die Vollform des Artikels verwendet, ergibt sich die intendierte Bedeutung nicht. Ist eine Verschmelzung nicht vorhanden wie in (16c-e), dann tritt die Vollform ein. Diese Sätze können analog zu den ersten in (16a, b) gelesen werden. Die Verschmelzungen sind in diesem Sinn auf die Vollformen bezogen. Das ist anders in (15). Zwar wird auch im FVG wenn möglich eine Verschmelzung verwendet, als Variante tritt aber nicht die Vollform, sondern die reine Präposition ein (in Anwendung bringen, in Berührung kommen). Der Bezug auf die Vollform ist verloren gegangen. Die Verwendung von Verschmelzungen in FVG hat nichts mit dem Artikel zu tun, sondern ist offenbar reiner Kasusanzeiger. Das ist Hinweis darauf, dass nicht nur die Verschmelzungen selbst, sondern die gesamte PrGr Gegenstand eines Grammatikalisierungsprozesses ist. Der wirksamste syntagmatische Constraint im typischen FVG beruht einmal auf dem Verlust der Kemfunktion des Substantivs. Attribute sind nicht möglich, das Substantiv bleibt isoliert. Er beruht zweitens auf dem Verlust der Kopffunktion des Determiners. Das ist beim ersten Hinsehen durch das häufige Auftreten von Verschmelzungen verschleiert. Es zeigt sich aber, dass die Verschmelzungen nichts mit einer Kopffunktion zu tun haben. Das Nominal innerhalb eines FVG der beschriebenen Art hat weder einen Kopf noch hat es einen Kern. 5. Fazit Funktionsverbgefüge des betrachteten Typs sind Fügungen aus transitivem oder ergativem Verb mit PrGr als einem obligatorischen Komplement. Die PrGr ist in Hinsicht auf Präposition und Kasus regiert. Der Kasus wird, so 316 Peter Eisenberg weit möglich, durch Verschmelzungen angezeigt. Gerade in Konstruktionen dieser Art liegt es nahe, von flektierten Präpositionen zu sprechen. Das Nominal innerhalb der PrGr verfugt weder über einen Kopf noch über einen Kern und weist in der Regel auch keine Numerusflexion auf. Innerhalb der Menge der FVG kommt es zu paradigmatisch fundierten Gruppenbildungen, deren Umfang und Ordnung weiter zu untersuchen ist. Obwohl diese Ordnung Merkmale aufweist, die als typisch für Flexionsparadigmen gelten, ist eine allgemeine Tendenz zur Bildung analytischer Wortformen nicht zu erkennen. Nicht erkennbar ist auch, warum das FVG nicht als Konstruktion sui generis angesehen werden kann, die als solche einer grammatischen Analyse zugänglich ist. 6. Literatur Agel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (2004): Theorie und Praxis des Nähe- und Distanzsprechens. In: Ägel, Vilmos/ Hennig, Mathilde (Hg.): Die Zukunft der Gesprochene-Sprache-Forschung. Tübingen: Niemeyer, i. Dr. Bense, Elisabeth/ Eisenberg, Peter/ Haberland, Hartmut (Hg.) (1976): Beschreibungsmethoden des amerikanischen Strukturalismus. München: Hueber. 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Adverbien modifizieren Sätze oder Prädikate: Sie gehören meistens zu den freien Angaben und in selteneren Fällen zu den prädikatsspezifischen Ergänzungen (z.B. mit Zustands-, Positions-, Beziehungs-, Qualifiziemngs-, oder Bewegungsprädikaten). Es sind besonders die Adverbien der Zeit, des Raumes und der Art und Weise, die als Ergänzungen auftreten können. 1 Zu den Satzadverbien werden meistens a) evaluative Adverbien (z.B. glücklicherweise), b) konjunktive Adverbien (z.B. endlich), c) sprecherbezogene Adverbien (z.B. ehrlich (gesagt)), d) modale Adverbien (z.B. vermutlich), e) Bereichsadverbien (z.B. logisch(erweise)) und subjektsbezogene Adverbien (z.B. tapfer) gezählt. Auch Zeitangaben (z.B. gestern) und Ortsangaben (z.B. hier) werden meist als Satzadverbien gesehen, können aber (vgl. Alexiadou 1997, S. 6f.) auch zu den Modifikatoren von Verbalphrasen gerechnet werden, zu denen nach Alexiadou auch die Adverbien der Art und Weise (z.B. korrekt(erweise)), Vollendungsadverbien oder resultative Adverbien (z.B. vollständig) und aspektuelle bzw. quantifizierende Adverbien (z.B. immer) gezählt werden sollten. Negierende Adverbien können den ganzen Satz im Für hilfreiche Kommentare danke ich Dr. Lutz Gunkel, IDS Mannheim. Für die Korrektur bedanke ich mich bei Gabriele Meier, Universität Heidelberg. 1 Neben dieser prädikatsmodifizierenden Funktion haben Gradadverbien (und mitunter auch Quantitätsadverbien) auch eine intensivierende Funktion, die wir als einen Sonderfall der adverbialen Prädikatsbestimmung sehen und nicht im Einzelnen diskutieren werden. 320 Jadranka Gvozdanovic Skopus haben und sollten deshalb (nach Alexiadou op. cit.) zu den Satzadverbien gezählt werden. Aspektuelle Adverbien haben engen Bezug zum Aspekt und entsprechende Beschränkungen der Wortfolgemöglichkeiten, die jedoch parametrisiert sind und sprachspezifische Variation aufweisen können. Alexiadou (1997, S. 90f.) unterscheidet zwei Typen von aspektuellen Adverbien: a) durative und unbestimmt zählende, z.B. griech. sinithos ‘meistens, üblicherweise’, kapa-kapa ‘manchmal’, kathimerina ‘tagtäglich’, taktika ‘regelmäßig’ usw.; b) kardinale, bestimmt zählende, z.B. griech. molis ‘gerade’, amesos ‘sofort’, mjafora ‘einmal’, djo fores ‘zweimal’ usw. Beide Gruppen sind aspekt-sensitiv: die erste Gruppe erscheint mit dem imperfektiven Aspekt und die zweite Gruppe mit dem perfektiven Aspekt, wie die folgenden griechischen Beispiele (ebd., S. 91) zeigen: (1) a. Diavaza sinithos to vivlio Ias-IMP: 1SG üblicherweise das Buch-AKK ‘Ich las üblicherweise das Buch’ a'. *Diavasa sinithos to vivlio Ias-PF: 1SG üblicherweise das Buch-AKK b. O Petros egrafe panda megala grammata der Peter-NOM schrieb-lMP: 3SG immer lange Briefe-AKK ‘Peter schrieb immer lange Briefe’ b'. *0 Petros egrapse panda megala grammata der Peter-NOM schrieb-PERF: 3SG immer lange Briefe-AKK c. Pigame mjafora s' afto to musio ging-PERF: lPL einmal nach dieses das Museum-AKK ‘Wir gingen einmal in dieses Museum’ c'. *Pigename mjafora s' afto to musio ging-IMF: lPL einmal nach dieses das Museum d. Ta pedja xipnisam amesos die Kinder-NOM erwachte-PERF: 3PL sofort ‘Die Kinder erwachten sofort’ d'. *Ta pedja xipnusan amesos die Kinder-NOM erwachte-IMP: 3PL sofort Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 321 Alexiadou (1997, S. 91 f.) schreibt, dass diese Kompatibilitätsbeschränkung auch in anderen Sprachen mit morphologischem Aspekt beobachtet wurde, z.B. im Altgriechischen sowie auch im Russischen (2) und Bulgarischen (3): (2) i vdrug uvidel PERF znakomogo und plötzlich sah: 3SG Bekannter-AKK ‘und plötzlich sah er einen Bekannten’ (3) nie se srestaxme lhlp vseki den wir REFL begegnete-IMP: 1PL jeden Tag ‘wir begegneten uns jeden Tag’ Aufgrund dieser Daten wird postuliert (ebd., S. 92), dass die aspektuellen Adverbien kongruent mit den relevanten aspektuellen Merkmalen generiert werden. Als relevante aspektuelle Merkmale nimmt Alexiadou an: - +PERF = +punktuell, +bestimmt - -PERF (d.h. IMP) = +habituell, -bestimmt, +durativ, +fortdauemd Die Kongruenz zwischen dem Verbalaspekt und dem aspektuellen Adverb sorgt für die übliche Wortfolgeadjazenz zwischen den Adverbien und den Aspektformen (wie durch die obigen Beispiele illustriert wird) und kann möglicherweise der Wirkung ein und desselben Aspektoperators zugeschrieben werden. Ziel meines Beitrags ist es, die Kongruenzbedingungen zwischen den aspektuellen Adverbien und dem Aspekt in ausgewählten slavischen Sprachen zu untersuchen und zu einigen weiteren allgemeinen Schlussfolgerungen zu gelangen. Es geht konkret um folgende Fragen: (i) Treten der Aspekt und die aspektuellen Adverbien immer kongruent auf? (ii) Falls nicht, kann der Unterschied durch Einwirkung anderer Prinzipien erklärt werden? (iii) Sind eventuelle Unterschiede systematischer Art und können sie sprachtypologisch erklärt werden? Die empirisch erforderliche Datensammlung für die Beantwortung dieser Fragen muss eine größere Menge vergleichbarer Daten aus unterschiedlichen Sprachen beinhalten. Die Vergleichbarkeit wird am besten durch Übersetzungen kohärenter Texte gesichert, die einen eigenen deiktischen Raum erzeugen und koindexieren. So entstehen vergleichbare Korpora, die für die Beantwortung der gestellten Forschungsfragen unabhängige Evidenz liefern können. 322 Jadranka Gvozdanovic 1. Der Aspekt und der temporale Allquantor Am Anfang der empirischen Forschung soll eine genaue Definition der zu erforschenden Begrifflichkeiten stehen. In diesem Fall geht es um die Begriffe ‘Aspekt’ und ‘aspektuelles Adverb’. In der Aspektdefinition soll der wichtige Unterschied zwischen dem lexikalischen Aspekt und dem grammatischen Aspekt beachtet werden. Der lexikalische Aspekt (von Klein 1995, S. 681 etc. „lexikalischer Inhalt“ genannt) wird aufgrund der Verbalsemantik definiert. Es wird zwischen O-Zustandsverben (mit atemporalen Inhalten, wie z.B. russ. byt' ‘sein’), 1-Zustandsverben (z.B. russ. cvesti ‘blühen’, est' ‘essen’) und 2-Zustandsverben (z.B. russ. procvesti/ procvetat' ‘erblühen’, s"est' ‘aufessen’) unterschieden. 2-Zustandsverben unterscheiden zwischen dem Ausgangszustand (z.B. blühen, essen) und dem Zielzustand (z.B. dem Anfang des Blühens in erblühen oder dem Ende des Blühens in verblühen, des Essens in aufessen). Simplicia sind in den meisten Fällen O-Zustandsverben oder 1-Zustandsverben. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. geben) sind 2-Zustandsverben nach sprachspezifischen Regeln abgeleitet; im Russischen werden 2-Zustandsverben mithilfe von Präfixen (z.B. ot-kry-t' ‘öffnen’) oder dem Suffix -nu- (für Einmaligkeit) abgeleitet. Durch weitere Ableitungen (besonders mit Suffixen) können von 2- Zustandsverben neue 1-Zustandsverben abgeleitet werden. Diese haben entweder zielgerichtete oder inhomogene Bedeutungen (z.B. russ. ot-kry-va-t' ‘(1) dabei sein, zu öffnen; (2) wiederholend öffnen’). Es sind besonders die 2-Zustandsverben, die an der grammatischen Aspektopposition beteiligt sind. Der grammatische Aspekt wird auf der Grundlage der Definition von Klein (1995) ausgehend von der Situationszeit der Proposition (T-SIT) und der Assertionszeit (T-AST; vgl. Klein 1995, S. 687: „it is the time for which an assertion is either made or made an issue“) definiert. 2 Klein (1995, S. 688) bestimmt den Aspekt als die temporale Relation zwischen T-SIT und T-AST. Bei O-Zustandsinhalten und 1-Zustandsinhalten trifft einfache temporale Überschneidung zu. Bei 2-Zustandsinhalten einer T-SIT haben wir es mit 2 Subintervallen zu tun, korrespondierend mit dem Ausgangszustand (T-SS) und dem Zielzustand (T-TS) der lexikalischen Verbbedeutung. Die Asserti- 2 Die von Klein (1995, S. 687) vorgeschlagene Definition der Assertionszeit ist ein Ansatz zur Verbesserung der traditionellen Definition der Referenzzeit, die als vom Kontext gegeben aufgefasst wird (vgl. Reichenbach 1947, S. 288). Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 323 onszeit kann Überschneidung entweder mit einem Subintervall oder mit einem Subintervallsübergang aufweisen. Ich fasse die russische Aspektopposition zusammen: - Beim perfektiven Aspekt wird der Zustandsübergang assertiert. - Beim imperfektiven Aspekt wird nur ein Zustand assertiert; dies ist üblicherweise der Ausgangszustand; es können aber auch eine Reihe identischer Zustandsübergänge sein, wobei die Reihe als ein einzelner, inhomogener Zustand aufgefasst wird. Man kann auch sagen, dass beim perfektiven Aspekt der Zustandsübergang assertiert wird, während beim imperfektiven Aspekt eine Zustandsübergangsassertion ausbleibt. Die Frage ist nun, ob die Assertion eine ausschließlich temporale ist, wie Klein (1995) dies angenommen hat. Aus der Tatsache, dass sie sich auf einen Zustandsübergang bezieht, ergibt sich die natürliche Annahme, dass die Assertion auch den oder die Zustandsträger betrifft. Der Zustandsträger ist in diesen Fällen das Denotat des Objekts und/ oder des Subjekts. (Wenn ich z.B. einen Kuchen aufesse, ändert sich nach dem zeitlichen Subintervall des Essens auch der Zustand des Kuchens sowie auch mein Zustand: Der Kuchen ist weg und ich bin satt.) Aus diesem Grund nehme ich an, dass jegliche Zustandsänderung innerhalb einer propositionalen Situation das Prädikat mit seinen Argumenten betrifft. Was assertiert wird, ist neben den zeitlichen Intervallen auch die Geltung des Prädikats in Bezug auf seine Argumente. Ich gehe also davon aus, dass der Aspekt durch die Assertion unterschiedlicher temporaler Subintervalle die Geltung der prädizierten Eigenschaft (die sich auf einen Flandlungsvorgang, einen Prozess oder einen Zustand beziehen kann) in Bezug auf die Prädikatsargumente (die durch das Objekt und/ oder das Subjekt zum Ausdruck gebracht werden) quantifiziert. 3 Diese Quantifizierung kann zeitliche, räumliche, oder entitätenbezogene Interpretationen haben: 3 Falls vorhanden, bestimmen die Objekte die prädikatsinhärente Grenze mit. Eine erreichte Grenze ist in diesem Sinne auch immer eine bestimmte Grenze. Bedeutet dies, dass die Aspektdefinition von Alexiadou (1997), nach der PERF mit Punktualität und Bestimmtheit gleichgesetzt wird, akzeptabel ist? Leider nicht. Nicht nur die Annahme der Punktualität kann falsifiziert werden (z.B. das Buch durchlesen kann keineswegs punktuell sein), auch für die angenommene Bestimmtheit kann man Gegenbeispiele finden (z.B. um lesen zu lernen, musst du ein ganzes Buch durchlesen). 324 Jadranka Gvozdanovic zeitlich, z.B. drei Stunden lang sprechen-, räumlich, z.B. den Platz überqueren, oder entitätenbezogen, z.B. ein Buch schreiben, ein Buch finden Die Quantifizierung kommt im perfektiven Aspekt (PERF) zum Tragen, während sie im imperfektiven Aspekt (IMP) aktuell ausbleibt. PERF signalisiert das Erreichen einer relativen, prädikatsinhärenten zeitlichen Grenze, während IMP dies nicht signalisiert. Mit Klein (1995) stimme ich überein in der Annahme, dass der grammatische Aspekt sich durch Assertion eines Subintervalls oder des Subintervallübergangs geltend macht. Im Unterschied zu Klein nehme ich jedoch an, dass die Assertion ihre temporale Geltung nur bezüglich des Prädikats mit seinen Argumenten hat und somit nicht ausschließlich temporal zu interpretieren ist. Diese alternativen Hypothesen ermöglichen weitere Aussagen, die einem Test unterzogen werden können: - Falls die Annahme über die rein temporale Art des Aspekts zutrifft, ist zu erwarten, dass der Aspekt mit den temporalen Quantoren homogen auftritt, wie dies von Alexiadou für das Griechische gezeigt wurde. - Andererseits, falls der Aspekt nicht ausschließlich temporal zu definieren ist, sollte das Auftreten des Aspekts mit den aspektuellen Adverbien kein homogenes Bild zeigen. Diese Aussagen können anhand paralleler Sprachkorpora überprüft werden. In Bezug auf die Adverbien nehme ich an, dass aspektuelle Adverbien wie auch andere Adverbien unterschiedliche Skopusbereiche haben können, die mit der Wortfolge signalisiert werden können. Im Skopus eines aspektuellen Adverbs kann entweder die propositionale Situation oder das Prädikat sein. Wir werden auch Fälle sehen, wo sich nur ein Teil des Prädikats im Skopus des aspektuellen Adverbs befindet. Im Neutralfall gehört zum Skopus des Adverbs alles, was auf das Adverb folgt, aber fokussierte Satzteile können direkt vor dem Adverb stehen und sich doch in seinem Skopus befinden. Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 325 Ein aspektuelles Adverb quantifiziert die zeitliche Dimension der Situation (i) mit dem zeitlichen Allquantor (immer) oder dem zeitlichen Existenzquantor (einmal)'. (ii) als eine bestimmte oder unbestimmte Menge zeitlicher Intervalle (z.B. zweimal vs. oft). Die Quantifizierung mit aspektuellen Adverbien bezieht sich auf die temporalen Eigenschaften der Situation als solcher, nicht auf die Platzierung der Situation auf der Zeitachse, die von den temporalen Adverbien zum Ausdruck gebracht wird (aus diesem Grund ist z.B. im Russischen raz ‘einmal’ in der spezifisch zeitlichen Lesung ein temporales und kein aspektuelles Adverb; dies erklärt seine Kombinationsfreiheit). Wie schon gesagt, legen die angenommenen temporalen Definitionen nahe, dass der Aspekt und die aspektuellen Adverbien auf der logischen Ebene demselben Komplex zuzuordnen sind, den man der Wirkung eines aspektuellen Operators zuschreiben kann. Im Einzelnen ist die Lage jedoch möglicherweise komplexer als die griechischen Daten suggerieren. Die Skopuswirkung von Quantoren hängt nämlich nicht nur von der strukturell explizitierten Proposition ab, sondern wird auch dynamisch von den diskursiven Annahmen beeinflusst (vgl. Roberts 1995). Die zentrale Forschungsfrage ist nun, inwieweit der Aspekt und die aspektuellen Adverbien nur kongruent auftreten können. Als Hinweis für die Beantwortung dieser Frage können die Gebrauchsmöglichkeiten des zeitlichen Allquantors dienen. Da der zeitliche Allquantor (immer) unbestimmt ist und Situationsveränderung ausschließt, sollte es grundsätzlich unmöglich sein, diesen Quantor mit dem perfektiven Aspekt zu kombinieren. Für das Griechische scheint diese Annahme zu gelten, aber es existieren genug Gegenbeispiele in anderen Sprachen. Im Nachfolgenden werde ich mich besonders mit den slavischen Sprachen befassen. 2. Der Aspekt und der temporale Allquantor im Slavischen In Bezug auf die Gebrauchsmöglichkeiten des Aspekts weisen die slavischen Sprachen eine interessante Zweiteilung in westliches und östliches Slavisch auf: Dem westlichen Typ gehören das Tschechische, Slovakische, Ober- und Niedersorbische und das Slovenische an. Polnisch und Kaschubisch im Norden und Kroatisch-Bosnisch-Serbisch im Süden stellen Mischtypen dar, 326 Jadranka Gvozdanovic während das Russische, Weißrussische, Ukrainische, Bulgarische und Mazedonische dem östlichen Typ angehören (vgl. Dickey 2000). Der Unterschied zwischen dem östlichen und dem westlichen Typ kann mit den folgenden russischen und tschechischen Beispielen illustriert werden. (4) tsch. Nase muzstvo s unsere Mannschaft-NOM mit prohraje PF / prohrävä ,MP verliert: 3SG russ. Nasa komanda s unsere Mannschaft-NOM mit *proigraet PF / proigryvaet m? verliert: 3 SG nimi vzdycky ihnen immer nimi vsegda ihnen immer ‘Unsere Mannschaft verliert mit ihnen immer.’ (5) tsch. Pokazde, kdyz prohraje PF , tak kolemsebe divoce jedesmal wenn verliert: 3SG so um sich herum wild mläti IMP rukama. A on vzdycky prohraje 11 ... schlägt: 3SG Hände-INSTR und er immer verliert: 3SG russ. Kazdyj raz, kogda on proigryvaet IMP / *proigraet P/ ’, on jedesmal wenn er verliert: 3SG er besenno maset rukami. A on wild schlägt: 3SG Hände-INSTR und er proigryvaet IMP / *proigraet PI vsegda... verliert: 3SG immer... ‘Jedesmal, wenn er verliert, schlägt er mit seinen Händen wild um sich. Und er verliert immer... ’ (6) tsch. A i z florbalu jsem mel radost, und auch an Hockey-GEN habe gehabt Freude-AKK, protoz mi to stejne jako nasemu tymu, weil mir es genauso wie unser-DAT Team-DAT, ktery vzdycky prohräva x1P , docela dobre slo IMP , a tak das immer verliert: 3SG, ganz gut lief, und so jsme byli vsichni spokojeni. wir waren alle zufrieden Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 327 russ. Chokej mne toze nravilsja IMP , potomu cto Hockey-NOM mir auch gefiel weil u menja choroso sli IMf dela, tocno bei mir gut ging: 3PL Geschäfte-NOM genauso tak ze, kak i u nasej komandy, kotoraja PART, wie auch bei unser-GEN Team-GEN, das vsegda proigryvaet 1M / *proigraet PF , i my vse byli immer verliert: 3SG, und wir alle waren dovol'ny. zufrieden-NOM ‘Und auch an Hockey hatte ich meine Freude, weil es bei mir, genauso wie bei unserem Team, das immer verliert, ganz gut lief, und so waren wir alle zufrieden.’ Im Unterschied zum Russischen, wo in Verbindung mit dem Allquantor der imperfektive Aspekt die Regel und der perfektive Aspekt nur eine relative Ausnahme ist (in 6,9 % der Belege im russischen Uppsala Korpus von über einer Million Wörtern, vgl. Gvozdanovic 2004 4 ), finden wir im Tschechischen im Skopus des Allquantors die volle Opposition zwischen dem perfektiven und dem imperfektiven Aspekt. Der perfektive Aspekt wird bei der Partikularisierung der wiederholten Vorgänge verwendet (wenn, wie im Bsp. (5), ein in sich abgeschlossener Vorgang beispielhaft für die ganze Wiederholungsreihe verwendet wird). Ohne Partikularisierung ist auch im Tschechischen die Verwendung des imperfektiven Aspekts der Regelfall. Die Partikularisierung kann als narrative Fokussierung des einzelnen Vorgangs aus einer ganzen Reihe gesehen werden. 4 Tabelle 1: Aspekt (und Tempus) mit Quantoradverbien im Russischen (Uppsala Korpus) aus Gvozdanovic (2004, S. 82) Bcema Macro ‘oft’ Pe; iKO ‘selten’ Hnoma ‘manchmal’ Zahl % % % % IPF Präs. 171 32,82 % 60,87 % 46,67 % 56,70 % PF Präs./ Fut. 18 3,45 % 0,40 % 2,67 % 1,40% IPF Prät. 305 58,54 % 37,94 % 49,33 % 41,62% PF Prät 18 3,45 % 0,00 % 0,00 % 0,00 % IPF Fut. 1,73% 0,79 % 1,33 % 0,28 % Gesamt: 521 100,00% 100,00% 100,00% 100,00% 328 Jadranka Gvozdanovic Die Beispiele (4)-(6) zeigen, dass Bestimmtheit kein Teil der Bedeutung des perfektiven Aspekts im Tschechischen ist. Auch die vorhandene, obwohl beschränkte, Möglichkeit, den Allquantor im Russischen mit dem perfektiven Aspekt zu verwenden (in der potentiellen, beispielhaften oder summativen Bedeutungsvariante), entkräftet die (in Bezug auf das Russische von Dickey 2000 geäußerte) Annahme, dass der perfektive Aspekt im Russischen auf ‘zeitlicher Bestimmtheit’ basieren würde. Bestimmtheit des perfektiven Aspekts im Russischen kann bestenfalls die prototypische Variante, aber keineswegs die Bedeutung darstellen. Beispiel (5) zeigt auch, dass (wenigstens im Tschechischen, einer prototypisch westlichen slavischen Sprache) der zeitliche Allquantor die propositionale Situation quantifizieren kann, ohne dass das Prädikat seinem Einfluss unterliegen würde. Dies unterstreicht den Unterschied zwischen dem Prädikat und der Proposition. Gleichzeitig zeigt dieses Beispiel, dass der Allquantor und der Aspekt nicht ein und demselben Operator ohne Skopusunterschiede zugeschrieben werden können. Die Annahme, dass der Allquantor (tsch. vzdyckylkxo'dl. uvijeklmss. vsegda ‘immer’) und der Aspekt nicht kongruent sein müssen, wollen wir jetzt an einem kompletten Text überprüfen. Dafür nehmen wir ein tschechisches Original (mit den meisten Variationsmöglichkeiten im Aspektgebrauch) und seine russische und kroatische Übersetzung. Das Original ist der bekannte Roman von Milan Kundera Nesnesitelnä lehkost byti „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (Paris 1984, Toronto 1988) und die russische Übersetzung Nevynosimaja legkosf bytija (St. Petersburg 1997), übersetzt von Nina Sul'gina. Damit das Ganze in eine umfassende typologische Perspektive gesetzt werden kann, habe ich mich auch mit dem Kroatischen befasst, das nach den Angaben Dickeys zum Übergangstyp gehört. Die kroatische Übersetzung Nepodnosljiva lakoca postojanja (Zagreb 2000) ist von Nikola Krsic. Die deutsche Übersetzung von Susanna Roth (beim Fischer Verlag erschienen) ist aus dem Jahr 1984. Im gesamten Text und seinen Übersetzungen habe ich die Kombinationen mit dem Allquantor ‘immer’ überprüft und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese mehrheitlich übereinstimmen. Interessant sind aber besonders die wenigen Fälle, in denen der Aspekt des Originals verändert wurde. Diese werden im Nachfolgenden aufgelistet (die Kapitelangabe steht in Klammem). Im Kontext von ‘immer’: tsch. 86%IMP+14%PF: kroat. 88%IMP+12%PF: russ. 98%IMP+2%PF. 329 Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts (7) tsch. perfektiv kroat. perfektiv russ. imperfektiv; z.B. I Tereze casto rekf F üplne stejnym tönern undTeresa-DAT oft sagte: 3SG ganz derselbe-INSTR Ton-INSTR „svlekni PF se“, a i kdyz to rekl PI tise i kdyz „zieh dich aus“, und selbst wenn das sagte: 3SG leise selbst wenn to jen septal IMP , byl ,MP to rozkaz a ona das nur flüsterte: 3SG war: MASK das Befehl-NOM und sie pocitila PF vzdycky wzuseni z toho, ze poslouchd IMP . fühlte: 3SG immer Erregung-AKKvon das-GEN dass gehorcht: 3SG Ted' uslysela Pl stejne slovo a chut' nun hörte: 3SG dasselbe-AKK Wort-AKK und Lust-NOM uposlechnont pt byla ... (2.22) gehorchen-INF war: FEM ... I Terezi je cesto istim" tonom govorio mp Und Teresa-DAT KOP oft derselbe-INSTR Ton-INSTR sagte: 3SG „Svuci PF sei“, pa i kad bi to rekao PF tiho i „zieh dich aus“, und selbst wenn würde: 3SG das sagen leise selbst kad bi to samo sapnito 11 , bilo IMP je to naredenje. A wenn würde: 3SGdas nur flüstern war: NEUT das Befehl-NOM. Und ona bi uvijek osjetila PF uzbudenje zbog toga sie-NOM würde: 3SG immer fühlen Erregung-AKK wegen das-GEN sto se pokorava B,P . Sad je cula PF te iste rijeci weil sich unterwirft: 3SG.Nun hörte: 3SG dieselben-AKK Worte-AKK i zelja da poslusa bila MF je... und Wunsch-NOM zu gehorchen-INF wanFEM... / Tereze casto govorif MP tocno takim ze und Teresa-DAT oft sagte: 3SG ganz derselbe-INSTR PART tonom „razden'sja PF ! “,i chotja govorif MP eto ticho, Ton-INSTR „zieh dich aus“, und selbst wenn sagte: 3SG das leise podcas daze sepotom, eto byf MP prikaz, i ona manchmal sogar Geflüster-INSTR das war: 3SG Befehl-NOM und sie vsegda prichodila F,p v vozbuzdenie ot togo, eto pokomo immer geriet: 3SG in Erregung-AKK von das-GEN, dass gehorsam 330 Jadranka Gvozdanovic sledue/ MP emu. Sejcas, kogda ona uslysala Pf to ze folgt: 3SG ihm. Nun als sie hörte: 3SG dasselbe-AKK PART slovo, ee zelanie podcinit'sja stalo PI ... Wort-AKK ihre Lust-NOM gehorchen-INF wurde: 3SG... ‘Auch zu Teresa sagte er oft in demselben Ton „Zieh dich aus“, und selbst wenn er es nur leise sagte, selbst wenn er es nur flüsterte, war es ein Befehl, und sie war schon darum erregt, weil sie ihm gehorchte. Nun hörte sie dieselben Worte, und ihre Lust zu gehorchen war vielleicht umso größer ... ’ Beispiel (7) zeigt die entscheidende Rolle des partikularisierenden Kontexts nach dem Satz mit dem Allquantor im westlichen Slavischen, wo in diesen Fällen überwiegend der perfektive Aspekt mit dem Allquantor kombiniert wird. Im Kroatischen wird für die wiederholte Vergangenheit überwiegend der perfektive Konditional (anstelle des westslavischen Präteritums) verwendet, um die dauerhafte Wiederholungsmöglichkeit in der Vergangenheit zum Ausdruck zu bringen. Im Russischen dagegen bestimmt der Allquantor den imperfektiven Aspekt, soweit das Verbum direkt nach dem Allquantor steht und sich damit in seinem Skopus befindet was im Russischen als eine starke Wortfolgepräferenz auftritt. Vergleichbare Unterschiede treten in den folgenden, beispielhaft gewählten Textausschnitten auf. Diese Textausschnitte präsentiere ich für das tschechische Original und seine kroatische und russische Übersetzung. Um das Bild mit den grammatischen Annotationen nicht zu belasten, gebe ich nur die aspektuelle Zuordnung und den Allquantor an. (8) Vyprävela Ph mu: „Byla jsem pohrbena PF . Uz dlouho. Chodil IMP jsi za mnou kazdy tyden. Vzdycky jsi zafukal PF na hrob a ja jsem vysla pl ' ven. Ocijsem mela ,Mr plne hliny. (5.18) Bila sam sahranjena FI — pricala IMF mu je. Vec dugo. Dolazio ,MP si svakog tjedna. Uvijek bi pokucao 1 ' 1 na grob, ija bih izasla Ph . Oci su mi bile IKlP pune gline. Menja pochoronili PF , rasskazyvala IUP ona emu. - Menja uze davno pochoroniU Pf . Ty chodil ,MP ko mne kazduju nedelju. Ty vsegda stucal IX! P v mogilu, i ja vychodila ,MP ottuda. Glaza u menja byli IMP polny zemli. ‘Sie erzählte ihm: „Ich war begraben. Schon lange. Du hast mich jede Woche einmal besucht. Du hast ans Grab geklopft, und ich bin herausgekommen. Ich hatte die Augen voller Erde.“’ Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 331 Beispiel (8) zeigt, dass der perfektive Aspekt im westlichen und im Mischtyp auch ohne partikularisierenden nachfolgenden Kontext verwendet werden kann. Der Grund für diese Verwendung im Tschechischen, sowie auch für die Verwendung des perfektiven Konditionals im Kroatischen, ist im partikularisierenden Quantor kazdy tyden ‘jede Woche’ im Kontext direkt vor dem Allquantor zu finden. (9) tsch. perfektiv kroat. perfektiv russ. perfektiv Skoro kazdemu z nich se to jednou stane Pf . Lide druhe kategorie si naproti tomu nejaky ten pohled vzdycky obstaraji PF . Patn IA " mezi ne Marie-Claude ijeji dcera. (6.23) Gotovo svatko od njih to jednom dozivi PF . Ljudi druge kategorije, nasuprot tomu, uvijek pronadu PF neki pogled koji im je potreban. Medu njih spadaju ,MP Marie-Claude i njena kci. Pocti s kazdym iz nich takoe slucaetsja lMP ran'se Uipozze. Ljudi vtoroj kategorii, naprotiv, uz kakim-nikakim nuznym vzgljadom sumejut PF razzit'sja PF vsegda. K nim otnositsja ,MP Marija-Klod i ee doc'. ‘Irgendwann passiert das fast jedem von ihnen. Die Menschen der zweiten Kategorie hingegen verschaffen sich immer irgendwelche Blicke. Zu ihnen gehören Marie-Claude und ihre Tochter.’ Beispiel (9) zeigt, dass Wiederholungen mit einem partikularisierten Objekt mit dem perfektiven Aspekt zum Ausdruck gebracht werden können. Im Russischen ist dies allerdings nur dann möglich, wenn das Prädikat sich nicht im Skopus des Allquantors befindet. Aus diesem Grund steht der Allquantor nach dem Verb. In den beiden anderen untersuchten Sprachen gilt diese Beschränkung nicht. (10) tsch. imperfektiv kroat. imperfektiv russ. imperfektiv Nenl lMf Vzdycky züstävä IMP male procento nepredstavitelneho. Kdyz videl M zenu v satech, umel ,MP si ovsem priblizne predstavit PF , jak bilde vypada/ MP nahä (zde jeho zkusenost lekare doplnovala 1 ' jeste zkusenost milence), ale mezi pribliznosti predstavy a presnosti skutecnosti züstävala IMP mala mezera nepredstavitelneho a ta ho nenechävala ,MP v klidu. (5.9) 332 Jadranka Gvozdanovic Nije IMP . Uvijek ostaje IMP mali postotak nezamislivog. Kada bi vidio IMP zenu u haljini, mogao IMP si je, naravno, phblizno predociti FF kako ce izgledati ,MP gola (lijecnicko iskustvo tu se dopunjavalo IMP s ljubavnickim), ali izmedu priblizne predodzbe i konkretne stvarnosti uvijek je ostajala IMI neka mala razlika, ono nezamislivo, i to muje osiguravalo IM mir. Otnjud' net. Vsegda ostaetsja IMP malen'kaja dolja nevoobrazimogo. Kogda on videl M zenscinu vplat'e, on, konecno, umel IMP priblizitel'no voobrazit ,/ v sehe, kak ona bildet vygljadet‘ IMI obnazennoj (zdes' ego opyt medika dopolnjal IMP opyt ljubovnika), no mezdu priblizitel'nostju voobrazenija i tocnostju real'nosti vsegda ostavalsja '" malen'kij zazor nevoobrazimogo, ne davavsego IMP emu pokoja. ‘Nein, es bleibt immer ein kleiner Prozentsatz an Unvorstellbarem. Sah er eine Frau in Kleidern, so konnte er sich zwar vorstellen, wie sie nackt aussehen würde (hier ergänzte die Erfahrung des Arztes die Erfahrung des Liebhabers), doch blieb zwischen dem Ungefähren der Vorstellung und der Präzision der Wirklichkeit ein kleiner Spielraum für das Unvorstellbare, und genau das war es, was ihm keine Ruhe ließ.’ Beispiel (10) zeigt Skopusunterschiede zwischen dem Tschechischen und den beiden anderen untersuchten Sprachen. Während im Tschechischen der Allquantor die ganze Episode nach seiner Erscheinung im Skopus haben kann, scheint dieser Skopus im Russischen und im Kroatischen nicht über zwei (möglicherweise hierarchisch strukturierte) Propositionen hinausgehen zu können. Eine weitere Erforschung dieser Erscheinungen ist geplant. 3. Fazit Unsere Überprüfung der Kombinationsmöglichkeiten des temporalen Allquantors mit dem Aspekt im Tschechischen (als Prototyp der westlichen slavischen Sprachen) im Vergleich mit dem Russischen (als Prototyp der östlichen slavischen Sprachen) und dem Kroatischen (einer südslavischen Sprache, die nach Dickey 2000 einen Mischtyp darstellt) hat eine mehrheitliche Übereinstimmung zwischen dem Allquantor und dem imperfektiven Aspekt gefunden. Diese ist jedoch keine Regel. Es zeigt sich, dass bei wiederholten Ereignissen der nachfolgende Kontext entscheidend ist. Wenn der Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 333 nachfolgende Kontext den Zustandswechsel in den Vordergrund stellt, kann der perfektive Aspekt bevorzugt werden. Im Beispiel (9) steht der Allquantor nicht vor dem Verbum, sondern nach ihm, was sogar im Russischen für die Kombinationsmöglichkeit des perfektiven Aspekts mit dem Allquantor entscheidend zu sein scheint. Der Allquantor nach dem (unfokussierten) Verbum hat das Verbum nicht in seinem Skopus. Ein weiteres interessantes Resultat des Vergleichs findet sich im Mischtyp des Kroatischen. Dort ist für wiederholte Vorgänge in der Vergangenheit der Gebrauch des Konditionals viel üblicher als die Grammatiken oder Dickey (2000) signalisieren. Für die Eindeutigkeit der Wiederholung muss der Allquantor meistens wiederholt werden (wie im Bsp. (11)), wie auch im Russischen, aber im Unterschied zum Tschechischen. Im Tschechischen kann der Allquantor offenbar die ganze Episode im Skopus haben, was wiederum im Kroatischen nur ausnahmsweise und im Russischen gar nicht der Fall ist. Darin liegt ein wichtiger sprachtypologischer Unterschied. Der Vergleich paralleler Texte hat bezüglich der Kombinierbarkeit des Allquantors mit dem Aspekt keine einheitliche Kongruenz gezeigt. Diese wurde nur im Russischen gefunden, und auch da nur in der stark präferierten Stellung des Verbs nach dem Allquantor, was zur regelmäßigen Kongruenz mit dem imperfektiven Aspekt führte. In den anderen slavischen Sprachen wird der Allquantor zwar oft mit dem imperfektiven Aspekt kombiniert, von einer regelmäßigen Kongruenz kann jedoch nicht die Rede sein. Die Unterschiede sind systematischer Art: - Der perfektive Aspekt im westlichen Slavischen assertiert nur die erreichte Totalität des Ausgangszustands (inklusive der prädikatsspezifischen Grenze), während der Zielzustand zur Implikatur des perfektiven Aspekts gehört. - Der perfektive Aspekt im Ostslavischen assertiert den Übergang in den Zielzustand. - Die vorliegende Forschung hat gezeigt, dass im Russischen der Übergang in den Zielzustand nur bei der narrativen Fokussierung des Zielzustands assertiert werden kann; sonst kann der perfektive Aspekt nicht verwendet werden. In den slavischen Sprachen des westlichen Typs, wie dem Tschechischen, kann der Allquantor offenbar entweder lokalen oder globalen Skopus haben, wobei ein Allquantor am Anfang einer narrativen Episode sogar die ganze 334 Jadranka Gvozdanovic Episode in seinem Skopus haben kann. In den slavischen Sprachen des östlichen Typs, wie dem Russischen, hat der Allquantor einen lokalen Skopus, der sich je nach Platzierung des Allquantors auf die Proposition, auf das Prädikat oder auf eine Ergänzung beziehen kann. Diese typologisch relevanten Unterschiede im Skopus des Allquantors ergänzen die erwähnten Untersuchungen über die Quantorplatzierungsmöglichkeiten und zeigen gleichzeitig auch, dass die von Roberts (1995) angenommene dynamische diskurs-pragmatische Beeinflussung der Skopusdomäne von Allquantoren zusätzlichen sprachspezifischen Diskursregeln unterliegt. In Bezug auf die Forschungsfragen gelten folgende Antworten: - Die festgestellte unvollständige Kongruenz zwischen dem Aspekt und den temporalen Quantoren bestätigt die Annahme, dass für den grammatischen Aspekt die Assertion temporaler Subintervalle nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium ist. Neben der Assertion temporaler Subintervalle wird auch die Geltung der prädikativen Funktion für die Argumente assertiert. - Die Aspektkategorie in den slavischen Sprachen ist nicht einheitlich; im östlichen Slavischen wird beim perfektiven Aspekt der Übergang in den- Zielzustand assertiert, im westlichen Slavischen dagegen nur ein temporal quantifizierter Ausgangszustand, der Zielzustand hat den Status einer Implikatur, die vom Kontext und von der kommunikativen Situation abhängt. - Der Skopus der temporalen Quantoren ist auch nicht einheitlich: Während das Russische (als Vertreter des östlichen Slavischen) relativ engen Skopus aufweist, der sich auf die Proposition oder ihre Teile erstreckt, kann sich der Skopus im Tschechischen (als Vertreter des westlichen Slavischen) über die ganze Episode als Basiseinheit im Diskurs erstrecken. Die festgestellten Unterschiede zwischen den slavischen Sprachen sind systematischer Art. Sie sind Folgen der Einwirkung des teilweise unterschiedlichen Aspekts sowie auch unterschiedlicher Skopusbestimmungen für temporale Quantoren. Sowohl für die Bestimmung der Assertionszeit, die für die Aspektdefinition relevant ist, als auch für die Skopusbestimmung temporaler Adverbien, hat sich die Strukturierung des diskursiven Kontexts oberhalb der Ebene des Satzes als relevant erwiesen. In diesem Bereich ist weitere Forschung erforderlich. Quantifizierende Adverbien und Typologie des Aspekts 335 4. Literatur Alexiadou, Artemis (1997): Adverb Placement. Amsterdam: Benjamins. Dickey, Stephen (2000): Parameters of Slavic Aspect. Stanford: Center for the Study of Language and Information. Gvozdanovic, Jadranka (2004): Vid na razlicnych urovnjach jazyka. In: Certkova, M.Ju. (red.): Trudy aspektologiceskogo seminara Filologiceskofo fakul'teta MGU im. M.V. Lomonosova, Tom 4. Moskva. S. 77-87. Klein, Wolfgang (1995): A Time-Relational Analysis of Russian Aspect. In: Language 71,4, S. 669-694. Reichenbach, Hans (1947): Elements of Symbolic Logic. New York/ London: Macmillan. Roberts, Craige (1995): Domain Restriction in Dynamic Semantics. In: Bach, Emmon et al. (Hg.): Quantification in Natural Languages. Dordrecht: Kluwer. S. 661-700. Unflektierbare Eva Breindl Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik: komplexe Lokalisationsausdrücke im Deutschen 1. Problemstellung und Ziel Zum Ausdruck räumlicher Relationen dienen im Deutschen typischerweise Präpositionen. Deren Syntax und Semantik hat Gisela Zifonun in Kap. G2 der Grammatik der deutschen Sprache (GDS) ausführlich behandelt. Die Perspektive war dort zuvörderst, das volle Funktionsspektrum der Präpositionen, unter Einschluss ihrer „grammatischen“ Funktion in präpositional kodierten Termen mit Komplementstatus, auf der Basis der jeweiligen präpositionalen Grundfunktion zu motivieren. Der funktionale Aspekt, mit welchen Ausdrücken und mit welchen syntaktischen Verfahren im Deutschen ein mehrdimensionales räumliches System entfaltet wird, kam dabei kaum zum Tragen. Im Konzept der „funktionalen Domäne“ als Tertium Comparationis für den Systemvergleich spielt er hingegen für das neue, von Gisela Zifonun geleitete Projekt Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich eine wichtige Rolle. Der vorliegende Beitrag versucht, sich seinem Gegenstand aus beiden Perspektiven zu nähern. 1 Dieser Gegenstand nun scheint auf den ersten Blick bestenfalls eine Randnotiz in der Grammatik von Präpositionalphrasen wert. Es handelt sich um die Lexeme rings, quer, mitten und entlang bzw. längs, die in komplexen Lokalisationsausdrücken auftreten und die ich, in Ermangelung einer einheitlich zutreffenden Wortartkategorisierung, im Folgenden „Lokalkombinatoren“ nenne. So unklar ihre Wortartzugehörigkeit, so unklar ist auch ihr syntaktischer Status. Prinzipiell könnten sie sein: (a) Modifikator einer PP: 2 [rings[um den Teich] n l\ n , (b) Kopf einer AdvP: [[/ mg.v] A Dv [um den Jeic/ i]pp] AD vp (c) Kopf einer Postpositional)? : [[an der Wand] P p \entlang\p\w 1 Für kritische Kommentare danke ich Bernd Wiese. 2 Einen Status als Modifikator der P allein ziehe ich angesichts von Kombinationen mit Adverbien (rings herum, mitten hinein, quer dazu) gar nicht erst in Betracht. 340 Eva Breindl (d) trennbarer Bestandteil eines Partikelverbs: [[an der Wand] P p [entlangfahren]v]vp (e) Teil eines „modifikativen Adverbialkomplexes“ ein Konzept mit dem Gisela Zifonun Phrasen vom Typ ganz rechts vor der Ampel, in Frankfurt in der Waldstraße beschreibt (GDS 1997, S. 2090ff.). Welche dieser Optionen zutrifft - und ob überhaupt einheitlich für alle Lokalkombinatoren, soll in Abschnitt 2 gezeigt werden. Warum sie hier überhaupt zusammen behandelt werden, wird in Abschnitt 3 dargelegt: Ihre gemeinsame semantisch-konzeptuelle Funktion ist die Kodierung von semantisch komplexen Dimensionen des Lokalsystems, allen voran der wegbezogenen (perlativen) Dimension des wo durch, wo entlang. Die übergeordnete Fragestellung lautet: Welche lexikalischen, kategorialen und syntaktischen Optionen werden für einen konzeptuellen Bereich getroffen, der nicht mehr durch das grammatikalisierte zentrale Kodierungssystem für Lokalisation, die sog. primären Präpositionen, abgedeckt ist, und in welchem Verhältnis stehen Kodierungstyp und semantische Funktion? 2. Grammatische Eigenschaften der Lokalkombinatoren 2.1 Morphologische Eigenschaften, kategoriale Klassifizierung Das Duden-Universalwörterbuch (2001) fuhrt rings, mitten und quer als Adverbien, längs und entlang als Präpositionen (mit Gen./ Dat., bzw. postponiert auch mit Akk.) und Adverbien (das Sofa längs stellen, einen Weg am Ufer entlang verfolgen). Als Bestandteile von trennbaren Verben treten quer, längs und entlang auf: sich querlegen, entlangfahren, -führen, -kommen, längsgehen, -laufen, -kommen. Eine solche dreifache Polykategorialität als Präposition, Adverb und Verbpartikel ist im Deutschen nicht ungewöhnlich: Demselben Wörterbuch nach fungieren als Adverbien auch die Präpositionen an (Köln an 14.30 Uhr, von heute an), auf (Augen auf, von klein auf), aus (Licht aus, von hier aus), hinter (hinter in den Garten gehen), über (den ganzen Tag über, über und über, Segel über) und zu (gegen die Grenze zu, Augen zu), die sämtlich auch Partikelverben bilden. Als Adverbien werden dort aber unterschiedliche Gebräuche klassifiziert: gefrorene Wendungen, Ellipsen aus idiomatisierten Partikelverben (Augen aufzu[machen\, Licht aus[machen], Segel über[holen]) sowie Kombinationen mit einer PP (gegen die Grenze zu, von Montag an, von klein auf). Letzteres wird in der GDS zusammen mit Ausdrücken wie unter dem Zaun durch, vom Bahnhof aus! Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 341 ablan und eben auch am Bach entlang als „zirkumpositionsartige“ Adpositionen behandelt (GDS 1997, S. 2086f.). Wenig zur Klärung trägt auch die Wortbildungsmorphologie bei. Erstarrte Genitive wie rings und längs gibt es unter Präpositionen {seitens, mangels) wie Adverbien {anfangs, nachts)-, Zusammenrückungen aus Präpositionen wie entlang (aus den nddt. Präpositionen in + lang) ergeben Präpositionen {inmitten, gegenüber, zwischen (aus mhd. enzwischen)) wie Adverbien {inzwischen, nebenan, mitunter). Die Etymologie bestätigt letztlich nur den bekannten Befund einer engen Wechselbeziehung zwischen Präpositionen und Adverbien. 2.2 Syntaktische Eigenschaften von Lokalkombinatoren 2.2.1 rings Die eingeschränkteste Kombinatorik weist rings auf: Es tritt zusammen mit einer um-V? auf (1) sowie als nicht-relationales Adverb in der Bedeutung ‘ringsumher’ (2, 3), eine Verwendung, die als veraltet gilt. (1) Deutlich auch die Sprache der rings um das Lokal geparkten Autotypen, (taz, 11.07.1988,8. 11-12) (2) Kennst du die Stille rings? (Hölderlin, Empedokles, 1,3) (3) Aber meine Neigung gilt {deutet rings auf die Bilder in seinem Amtszimmer) der bildenden Kunst, (taz, 23.01.1991, S. 23) Außer mit um kombiniert rings nur noch mit den Präpositionen in und an. Diese Kombinationen sind allerdings leichter umstellbar und trennbar als die rmg.s-ww-Kombinationen, ein Hinweis auf die Bildung von Adverbialkomplexen ohne eindeutige Kopf-Komplement-Struktur. (4) Schriftsteller rings im Kreise, von Brecht bis Kisch [...]. (taz, 20.03.1989, S. 20) (5) Rings an den Wänden sind Fotos und Dokumente zu sehen. (taz, 27.04.1992,8. 13-14) (6) a. Allein, es fehlt der Glaube rings im deutschen Lesevolk. (Die Zeit, 17.05.1996) b. Im deutschen Lesevolk rings fehlt der Glaube./ Im deutschen Lesevolkfehlt rings der Glaube. (7) Rings um das Lokal parken Autos./ *Um das Lokal rings parken Autos./ # Um das Lokal parken rings Autos. 342 Eva Breindl 2.2.2 mitten Mitten zeigt als Lokalkombinator im Vergleich zu rings deutlich weniger Beschränkungen. Es tritt, in statischer wie dynamischer Verwendung, zu den Präpositionen in, aus, auf, über und durch, die allesamt das Konzept des Innenraums des Referenzobjekts implizieren. in: mitten im Herzen der Stadt, ~ im Kalten Krieg, die Vögel sind ~ im Brutgeschäft, ~ ins Gesicht aus: ~ aus Berlin, ~ aus dem Leben, ~ aus dieser Gesellschaft auf: ~ auf der Kreuzung, ~ aufder Fahrbahn, ~ aufder Insel, ~ auf dem Alex, ~ aufdem Ozean; ~ aufdie Kreuzung, ~ aufdie Straße über: ~ über den Rasen laufen, eine Brücke ~ über das Tal durch ~ durch die Wüste, ~ durch eine neue Siedlung Typisch sind ferner Kombinationen mit unter (in der Bedeutung ‘inter’, und nicht ‘sub’: mitten unter euch) bzw. zwischen {mitten zwischen den Geleisen) und pluralischem NP-Komplement. Außerhalb der lokalen Domäne ist noch Kombination mit temporalem während möglich: 3 (8) Parteichef Bettina Craxi [...] zelebriert mitten während der Regierungskrise feinen“ Kongreß, (taz, 03.04.1987, S. 7) Einige weitere Kombinationen, die nicht so recht zum Innenraumkonzept passen, werden in Abschnitt 3 behandelt. Nicht-relational tritt mitten nicht auf. 2.2.3 quer Quer kombiniert mit perlativem durch und über sowie mit allativem zu. (9) Ungewollt schwangere Frauen treiben ab -[...) quer durch alle Parteien und Konfessionen, (taz, 04.10.1986, S. 4) (10) [...] wenn man den Rhein nur quer über die niederländischen Felder leiten könnte, (taz, 01.06.1988, S. 3) (11) Ihre heutige Antipornokampagne liege jedoch quer zur „Gleichberechtigungslogik“ der i Emma\ (taz, 11.10.1988, S. 9) Wie rings tritt es auch als nicht-relationales Adverb auf: quer verlegtes Parkett, quer eingebauter Motor, etwas liegt! steckt quer. Diese Verwendung ist nicht scharf von der Verbpartikelfunktion zu trennen; Sprecher bzw. Schreiber halten sich hier vielfach nicht an die geltende Orthografie. 3 Hier ist das Innenraumkonzept auf Zeitintervalle angewendet; man vergleiche etwa die Deutung von p während q als Enthaltenseinsrelation bei Lohnstein (2004, S. 145). Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 343 (12) weil dort eine Wurzel querlag (http: / / www.mtb-news .de/ forum/ archive/ index.php/ t-12012 9 .html [Stand: Juni 2005]) (13) Ich [...] entdecke tief hinten im Rachen einen Futterpartikel, der dort quersteckt, (http: / / www.usuarios.lycos.es/ bluehibiscus/ catweazle . htm [Stand: Juni 2005]) Kombinationen von quer mit anderen Präpositionen als durch, über und zu {quer auf der Straße stehen, quer im Hals stecken) sind mit diesem einstelligen Gebrauch verwandt; sie lassen anders als quer durch/ über x Umstellung zu und bilden Adverbialkomplexe (mit Übergang zur Verbpartikelverwendung). (14) Eine Gräte steckte ihm quer im Hals./ Eine Gräte steckte ihm im Hals quer./ Im Hals steckte ihm eine Gräte quer./ weil ihm im Hals eine Gräte quer steckte! quersteckte. (15) Der Hase flitzte quer durch! über das Feld.! *Der Hase flitzte durch! über das Feld quer. ! *Durch/ über das Feld flitzte der Hase quer./ *weil der Hase durch/ über das Feld quer flitzte! *querflitzte. 2.2.4 längs Längs ist wie entlang unstrittig auch eine Präposition. Mit entlang teilt es die Besonderheit, neben der für sekundäre Präpositionen typischen nicht bedeutungsdistinktiven Dativ-Genitiv-Rektionsvariation auch Akkusativ zu regieren, standarddeutsch allerdings nur in Postposition: längs der Küste, ~ des Rheins, ~ der Grenze, die U-Bahn ~ dem Potsdamer Bahnhof, sie schlendern die Straßen ~ (Belege). Ferner tritt es als einstelliges Adverb auf, begrenzt auch mit der Möglichkeit der Partikelverbbildung: etwas ~ durch den Raum spannen, ~ verlegen, ~ statt quer eingebaut, ~ und schräg in Scheiben schneiden. In der Kombinatorik treten wie beim semantisch komplementären quer die Präpositionen zu, durch und über auf. Kombinationen mit anderen Präpositionen sind, nach Ausweis des Umstellungstests, wohl wieder ein Fall von einstelligem Adverb längs in einem modifikativen Adverbialkomplex. (16) das Bett, das eigens für ihn längs zur Fahrt aufgestellt wurde (17) Der anatomische Schnitt durch den Körper, in diesem Fall längs durch die Mitte [...]. (taz, 11.04.1996, S. 139) (18) eine Narbe, die längs über die linke Kopfhälfte reicht 344 Eva Breindl (19) Ein siebenstöckiges „Torgebäude 1 ' soll als hoher Block längs aufden Rembertiring gesetzt werden, (taz, 05.04.1989, S. 18) (20) Beim Spielen steht der Musiker so vor dem Xylophon, dass die Klangstäbe längs vor ihm liegen, (http: / / www.vsl .co.at/ deutsch/ instruments/ Schlaginstrumente/ stabspiele/ xylophon/ Tonerzeugung. htm [Stand: Juni 2005]) 2.2.5 entlang Entlang verhält sich kombinatorisch nicht ganz so wie längs. Zwar tritt es ebenfalls als Präbzw. Postposition mit Dativ, Genitiv und Akkusativ auf (zur Kasusrektion vgl. Di Meola 1998), doch kann es als Lokalkombinator der PP vorwie nachgestellt sein, wobei Nachstellung mit zirkumpositionsartiger Klammerbildung die unmarkierte Variante ist. Am häufigsten ist die Kombination mit an, doch sind auch orientative Präpositionen möglich (hinter/ vor/ neben dem Zaun entlang). Die Kombination an-NV&at-entlang entspricht semantisch der Postposition NPakk-ent/ ang. Einstelliger Gebrauch als Adverb ist eher fraglich; solche Verwendungen lassen sich immer auch als Partikelverben analysieren ((23)-(24)) und zu Verwendungen wie etw. längs verlegen, etw. längs einbauen gibt es kein Pendant mit entlang. (21) Von der Lok aus wandern zwei Lichtpunkte am Zug entlang. (taz, 08.09.1986, S. 5) (22) mit dem Fahrrad entlang am einstigen Verlauf der Berliner Mauer (taz, 07.09.2002, S. 22) (23) Und weiter schiebt er sein bunt geschmücktes Friedensfahrzeug den Bergrücken entlang, (taz, 07.10.1986, S. 7) (24) die völlig ausgetrockneten Wadis, in denen sich die Straßen entlangschlängeln (taz, 17.03.1998, S. 20) Zusammenfassung: syntaktische Eigenschaften * nur als Zirkumposition oder mit Adverbialkomplexbildung Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 345 Hier zeigt sich nun, dass die Lokalkombinatoren recht unterschiedliche syntaktische Eigenschaften haben und in unterschiedlichem Maße polykategorial sind. Die Annahme einer eigenen Wortklasse neben den etablierten Klassen oder als Subklasse der Adverbien ist nicht zu rechtfertigen. Die Polykategorialität verbietet auch eine einheitliche funktionale Analyse. (a) Rings, quer und längs sind als einstellige Adverbien Modifikatoren, die, nach Aufweis des in der GDS (1997, S. 1122ff.) benutzten Ausfilterungstests für Satzadverbiale, auf der Verbgruppenebene operieren (*Es ist quer/ längs der Fall, dass er das Parkett verlegt.PEs ist rings der Fall, dass die Bilder verteilt sind.). (b) Die Domänenzugehörigkeit zur Verbgruppe scheint eine Vorbedingung für Verschmelzung mit dem Verb, vg\. falsch spielen, gutheißen, frisch halten vs. * baldkommen, * vielleichtmachen. Als Verbbestandteile sind quer, längs und entlang auf Wortebene Modifikatoren; ob als Verbpartikeln (in Analogie zu anderen trennbaren Bestandteilen wie ein-, ausetc.) oder als determinierende Glieder eines Verbkompositums zu analysieren, ist eine Frage der Wortbildungstheorie. (c) Längs und entlang können als Präpositionen - Köpfe einer (adverbialen) PP sein. (d) Rings, quer und längs sind dann als (einstellige) adverbiale Bestandteile modifikativer Adverbialkomplexe im Sinne der GDS zu betrachten, wenn sie zusammen mit einer PP auftreten und die Kombination trennbar und umstellbar ist. In diesen Fällen gibt es keine P-Selektion durch das Adverb. Übrig bleiben diejenigen Verwendungen von rings, quer, mitten und längs, bei denen zwischen Lokalkombinator und Präposition starke Selektionsrestriktionen bestehen und die Kombination stellungsfest ist: rings + um-, quer + durch, über, mitten + Präposition mit Innenraumkonzeptualisierung, längs + durch, über. Bei diesen Kombinationen sprechen Weglassungstests für einen Status als Modifikator einer PP. (25) a. Amors Pfeil trafsie (mitten) ins Flerz. b. *Amors Pfeil trafsie mitten. (26) a. Die Spur zieht sich (quer) durch den Garten. b. *Die Spur zieht sich quer. (27) a. Die Spurführt (rings) um den Garten. b. *Die Spurführt rings. 346 Eva Breindl (28) a. Die Narbe zieht sich (längs) über die rechte Kopfliälfte. b. *Die Narbe zieht sich längs. Nicht ganz eindeutig ist der Test bei den komplementären quer und längs zu: (29) a. Der Wagen schlingerte quer zur Fahrbahn. b. # Der Wagen schlingerte zur Fahrbahn. c. Der Wagen schlingerte quer. (30) a. Sie stellten das Bett im Zug längs zur Fahrtrichtung. b. # Sie stellten das Bett im Zug zur Fahrtrichtung. c. Sie stellten das Bett im Zug längs. Auch scheinen hier Umstellungen noch eher möglich, wobei deren Akzeptabilität mit der einer potentiellen Partikelverbbildung korreliert. (29) d. 'Der Wagen schlingerte zur Fahrbahn quer/ längs e. ' dass der Wagen querschlingerte f. Der Wagen stand (zur Fahrbahn) quer/ längs. g dass der Wagen zur Fahrbahn querstand (31) a. 'Er argumentiert zur herrschenden Meinung quer. b. 11 Er argumentiert querJ*dass er querargumentiert Die quer/ längs-zu-Vhx&SQn lassen also auch eine Analyse als Adverbphrasen (mit quer und längs als Kopf der Kategorie Adverb) bzw. als modifikative Adverbialkomplexe zu. Adverbphrasen und ihre Binnenstruktur fristen in Grammatiken ein Schattendasein; auch in der GDS sind sie auf einer knappen halben Seite (ebd., S. 82) nur als modifikativ erweiterbare und auf wenige Adverbien beschränkte Kombinationen vom Typ sehr oft, so oft, knapp daneben erwähnt. Dass Adverbien syntaktisch und semantisch mehrstellig sein oder in anderer Terminologie: Valenzträger sein können, ist m.W. bisher nicht diskutiert worden. 4 Von den in Zifonuns multidimensionalem Valenzkonzept (GDS 1997, Kap. E2.2) angesetzten Valenzkriterien treffen auf 4 Das rein logisch-semantische Konzept der „Valenz zweiter Stufe“ bei Bondzio (1974) ist damit nicht vergleichbar: Dort haben alle Adverbialia als Prädikationen über einen Satz, ungeachtet ihrer konkreten lexikalischen und kategorialen Ausprägung, einen Status als Valenzträger zweiter Stufe (zur Kritik an diesem Konzept vgl. Breindl i.Dr.). Anders verhält es sich mit Adverbien wie folglich, aber, sonst, die als sog. Konnektoren zwar semantisch relational, d.h. zweistellig, syntaktisch aber einstellig sind, da ihre eine semantische Argumentstelle nicht innerhalb der Satzgrenze belegt werden muss (vgl. Pasch et al. 2003, Kap. A2). Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 347 längs und quer die Formrelationen zu: So weisen die Beispiele oben auf Obligatorik der PP hin, die Restriktion auf eine Präposition könnte als Rektion gedeutet werden. Da die Bedeutungsrelationen im Bereich der Adverbialia natürlich anders liegen als bei den Termkomplementen von Verben und ein PP-förmiges Komplement eines Adverbs quer/ längs schlecht mit dem Konzept der „Sachverhaltsbeteiligung“ beschrieben werden kann, ergeben sich aus den Bedeutungsrelationen keine Anhaltspunkte. Auch „Autokodierung“ als „Supplementfürsprecher“, die hier ja mit der voll semantischen Präposition immer gegeben ist, ist bereits im Fall der Adverbialkomplemente nicht zutreffend. Dennoch erscheint der Gedanke einer „Adverbvalenz“ nicht ganz abwegig, sofern man sie etwa auch für Richtungsadjektive wie schräg! senkrecht/ frontal zu x annimmt, die in Funktion, Bedeutung und Kontexteinbindung den Adverbien quer und längs doch sehr ähneln. Quer wird überdies im älteren Deutsch und nicht-standardsprachlich auch als Adjektiv verwendet. (32) Etwas quere Alphornklänge führten in einen lüpfigen Ragtime über. (Züricher Tagesanzeiger, 26.01.1996, S. 11) 3. Semantische Eigenschaften komplexer Lokalisationsausdrücke 3.1 Lokalisation: das Grundschema Bei der Lokalisation wird ein zu lokalisierender Gegenstand, das Lokalisatum, (resp. Zielobjekt, Figur, Trajektor) durch die Lokalisierungs- und Relationierungsfunktion eines Lokalisators bezüglich eines Referenzobjekts (resp. Locus, Grund, landmark) „verortet“; Stolz (1992, S. 16ff.) setzt als Grundschema an: Lokalisator (Lokalisatum, Locus). 5 Für gewöhnlich bildet der Lokalisator zusammen mit dem Referenzobjekt eine Phrase, während das Lokalisatum außerhalb dieser Phrase angesiedelt ist. Als Lokalisatoren fungieren typischerweise Kasusaffixe und/ oder Adpositionen, im Deutschen nur letztere. Die spezifische lexikalische Bedeutung der Präposition bestimmt dabei jeweils eine bestimmte Region des Referenzobjekts: bei ortsbezogenen Präpositionen wie in, bei, an, auf etc. ist dies ein Umgebungsraum des Referenzobjekts, bei wegbezogenen Präpositionen (entlang, durch, um, über) ein Weg des Lokalisatums relativ zu der durch das Referenzobjekt denotierten 5 Für unsere Zwecke kann von der bei orientativen Präpositionen (vor, hinter, rechts von, links von) zu veranschlagenden Lokalisationskomponente „Blickpunkt“ (origo, Perspektive, Diskursanker) abgesehen werden. 348 Eva Breindl Region. In diesem Fall verändert das Lokalisatum entweder seine Position (bei Kombination mit einem Richtungsverb; wir laufen um den See) oder es ist ein „verteiltes“ Objekt, d.h., der Weg ist seine Extension (bei Kombination mit einem statischen Verb; um den See stehen Bäume). 3.2 Der Beitrag der Lokalkombinatoren zum Lokalisationssystem des Deutschen Die semantische Leistung von modifikativen Lokalkombinatoren besteht darin, einen Ausschnitt aus der durch den einfachen Lokalisationsausdruck denotierten Region zu spezifizieren; es liegt also eine Inklusionsrelation vor. Diese Ausschnittsspezifizierung geschieht vor allem auf zwei Weisen: (i) „Standardisierungsfunktion“: Einschränkung der präpositionsspezifischen Region (P-Region) durch Ausschluss weniger zentraler und nicht-prototypischer Regionen (ii) „Wegverortungsfunktion“: Spezifizierung der Ausrichtung eines Wegs relativ zum Referenzobjekt 3.2.1 rings Rings ist selbst wegbezogen und kann wie entlang aus topologischen Lokalisationsausdrücken wegbezogene machen; vgl. am Zaun wächst Thymian vs. rings am Zaun wächst Thymian. Zur Bedeutungskomponente Wegbezogenheit kommt die Gestaltbezogenheit: Im typischen Fall bezeichnet das Referenzobjekt einer n«gs-ww-Phrase eine mehr oder weniger kreisförmige Ausdehnung (Städte, Länder, Seen, Stadien), doch sind selbst rechteckige Flächen (Gebäude, Straßen, Kreuzungen) möglich. (33) [...] und setzen uns rings um ein viereckiges schwarzes Podium, das an einen Boxring erinnert, (taz, 19.11.1990, S. 23) Die typische Kombination ist deshalb die mit dem perlativen um, bei dessen Standardverwendung ebendiese Bedeutungskomponenten vorliegen. Anders als um und getreu seinem Etymon (Ringe sind Objekte mit geschlossener Achse) ist rings aber auch spezifisch in der Terminativitätsdimension: Es bezeichnet eine geschlossene Bewegung und ist deshalb mit Non-Standard- Verwendungen von um, in denen dies nicht der Fall ist, inkompatibel: (34) a. Hans biegt (*rings) um die Ecke. b. Hans legt den Arm (*rings) um Anna. c. (*Rings) um einen Teil des Sees stehen Eichen. d. Wir wohnen (*rings) um die Ecke. Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 349 Ebenso wenig kann der durch rings denotierte Wegbereich ein unspezifischer temporaler Nahbereich ‘um x herum’ sein, innerhalb dessen ein Ereignis lokalisiert wird, vgl. *rings um Weihnachten, *rings um die Jahrhundertwende herum. Hier fehlt das Geschlossenheitsmerkmal. Auch andere nicht-räumliche Verwendungen von um und Präpositivkomplemente sind nie mit rings kombinierbar: um vieles besser, (so) um die 2 Meter hoch, um jeden Preis, warm ums Herz, sich kümmern um, trauern um. Rings ist damit wegbezogen und gestaltbezogen, aber neutral bezüglich der Innen-Außen- Dimension (vgl. rings im Kreis und rings um den Kreis). 3.2.2 mitten Mitten ist bezüglich der Dimension Statik - Dynamik unspezifisch (mitten im Dorf wohnen, ~ ins Dorffahren)', es kombiniert mit ortsbezogenen (~ ins Dorffahren) wie mit wegbezogenen Präpositionen (~ durchs Dorf ~ übers Feld laufen) und ist nur spezifisch bezüglich der Innen-Außen-Dimension: Es limitiert entsprechend seiner Etymologie die durch die PP denotierte Region auf ihr Zentrum. Folglich ist es kompatibel mit Präpositionen, die das Innenraumkonzept implizieren: die ortsbezogenen in, auf! " aus, die perlativen durch und über, sowie unter (in der Bedeutung ‘inter’), zwischen und das temporale während. Dazu scheinen nun die (im Standarddeutschen etwas fragwürdigen) Kombinationen mit der <-INNEN>-Präposition an nicht zu passen: (35) In Weinfelden mitten am Marktplatz (St. Galler Tagblatt, 03.03.1999) (36) Zwei Stunden vor der Tanz-Aufführung seiner Staatsopern- Schützlinge fiel Michael Birkmeyer mitten am See der Motor eines Elektrobootes aus. (Neue Kronen-Zeitung, 18.08.1995) Diese Verwendungen sind dialektale Relikte einer älteren Bedeutung von an, wie sie in mhd. und fmhd. Verwendungen wie an dem Grase sitzen, sich an das Gras setzen und süddt. am Land vorliegt: An deckt hier Verwendungen von heutigem standardsprachlichem auf ab (Paul 1981 gibt als ursprüngliche Bedeutung nur ‘räumliche Berührung’ an). 6 AufbaX nach Wiese (2004) ein INTERIOR- und ein EXTERIOR-Merkmal: Ist das Referenzobjekt eine Fläche, fallen Oberfläche und Inneres zusammen; wer sich auf einem Feld befindet, befindet sich innerhalb von dessen Grenzen. Ähnliches gilt für das perlative über, das ebenfalls beide Merkmale hat. 350 Eva Breindl Erklärungsbedürftig ist aber auch die Kombination mit den orientativen Präpositionen über, unter, vor und hinter, für deren Bedeutung die Innen- Außen-Dimension überhaupt keine Rolle spielt: (37) Mitten über dem Atlantik hat er gedacht, er schaffe es höchstens noch bis Münster, (taz, 09.07.1991, S. 23) (38) Daß es mitten in, nein, mitten unter dem Naturschutzgebiet von Lassing ein richtiges Bergwerk gibt [...]. (Die Zeit, 06.08.1998, S. 48) (39) So sähen die Planer den Physiker Helmholtz, der seit 1994 mitten vor dem Haupteingang steht, lieber seitlich [...]. (taz, 13.02.1999, S. 25) (40) so gingen sie denn waldeinwärts, [...] voran Pieter Peeperkorn, auf den Arm seiner Begleiterin gestützt [...]; mitten hinter ihnen Hans Castorp [...]. (Mann, Zauberberg, S. 859) Mitten erzeugt hier die Vorstellung einer Begrenzung der P-spezifischen Umgebungsregion des Referenzobjekts, die von der Präposition allein nicht ausgeht. Der Raum über, unter, vor und hinter einem Objekt ist nicht durch die Abmessungen von dessen Ober- oder Unterseite bzw. der dem Lokalisatum zu- oder abgewandten Seite beschränkt (vgl. der Himmel über uns, die Stadt unter! vor! hinter mir). Da aber mitten (von ahd. mitti ‘in der Mitte befindlich’) Außengrenzen voraussetzt (vgl. v der Himmel mitten über uns, die Stadt mitten unter/ vor/ hinter mir), werden in der Kombination mit den orientativen Präpositionen die je P-spezifischen Außenflächen des jeweiligen Referenzobjekts als Grenzen gewählt, in deren Zentrum das Lokalisatum verortet wird. Gegenüber m-PPen zeigen mitten-in-PPen Einschränkungen. Sie erlauben keine Toleranz bezüglich der genauen Lage des Lokalisatums in der IN- Region; mitten verändert also die Wahrheitsbedingungen, vgl. # Mannheim liegt mitten in Baden- Württemberg, # Weihnachten liegt mitten im Dezember. Ist die genauere Verortung des Lokalisatums irrelevant, ist Kombination mit mitten ausgeschlossen, vgl. # Mitten im Rhein ist die Schadstoffkonzentration gesunken. 11 Es gibt kein Brot mitten im Haus. # Mitten in dem Buch geht es um den Mord an einem Schriftsteller. # Das Muster mitten in der Vase. Folglich sind auch die sog. „übertragenen“ / «-Verwendungen nicht mit mitten kompatibel, vgl. # mitten im Sport, ^mitten in Wirklichkeit, # mitten in deinem Zustand. Mitten unterbindet also gerade die in der GDS (1997, S. 2114f.) be- Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 351 schriebenen „Anwendungstoleranzen“ der Präposition, bei denen vom Hohlkörperkonzept mehr oder minder gravierend abgewichen wird, und lässt neben den lokalen nur noch die temporalen Standardverwendungen zu, bei denen Zeitspannen nach dem Muster abgegrenzter Räume konzeptualisiert werden. Als weitere Einschränkung kommt dann die „Feinlokalisierung“ auf das Zentrum der P-Region hinzu: Da das Konzept der Mitte eine komplementäre IN-Region des Referenzobjekts erfordert, die nicht vom Denotat des Lokalisatums ausgefüllt ist, sind dann auch Verwendungen wie Das Wasser mitten in der Blumenvase riecht faulig, nicht möglich. Auch für die Kombination mit anderen Präpositionen gilt die Unterdrückung der Anwendungstoleranzen der Präposition; so ist mitten z.B. nicht mit der funktionsbezeichnenden Verwendung von £«</ ’kompatibel: mitten aufder Post. 3.2.3 quer Quer ist wie rings wegbezogen und hat zwei Verwendungen, die sich in der Bedeutung unterscheiden. Mit perlativem durch und über hat die Kombination das <+INNEN>-Merkmal der Präposition; quer bezeichnet hier die Ausrichtung des Wegs in Bezug auf das „durchquerte“ Referenzobjekt. Der Weg kann (a) orthogonal zur intrinsisch festgelegten Längsachse oder (b) diagonal von einer Ecke zur schräg gegenüber liegenden Ecke des Referenzobjekts gerichtet sein. 7 In der Kombination mit allativem zu ist nur (a) möglich; das Referenzobjekt ist dann aber als Linie ohne ausgewiesenen Innenraum konzipiert. In der Verwendung als gesättigtes Adverb und in der Partikelverbverwendung gilt ebenfalls nur die Bedeutung (a); dabei ist die Längsachse kontextuell {auf der Straße stand ein LKW quer) oder aus dem Weltwissen {quer eingebauter Motor) erschließbar. Wie rings und mitten hat auch quer bezüglich durch und über eine „Standardisierungsfunktion“. Während durch auch Non-Standard-Verwendungen hat, bei denen der Weg des Lokalisatums den Passagebereich nur unvollständig 7 Die Bedeutung ‘rechtwinklig zur Längsachse’ ist dominant, wenn auch historisch nicht eindeutig die primäre (von mhd. twerch, vgl. Zwerchfell). Grimm (1854) gibt für zwerch sowohl ‘eine längsrichtung kreuzend, oft im rechten winkel zu ihr’ als auch ‘von der seite her, nach einer seite hin von der geraden richtung abweichend, schief, schräg’ an. In kreuz und quer bezeichnet kreuz nach Paul (1981, s.v. kreuz) die Diagonale, quer die Orthogonale zum Referenzobjekt. Informantenbeffagungen zur Bedeutung von Ausdrücken wie die Schnur quer durch den Raum, der Riss quer durch das Bild, quer durch den Garten gehen ergaben ebenfalls eine leichte Präferenz für die Orthogonal-Interpretation. 352 Eva Breindl abdeckt, ist bei quer durch die vollständige Passage zwingend. Eine Abweichung von der für Standardverwendungen von durch geltenden „condition of complete traversal“ (Kaufmann 1993, S. 236f.) ist in zwei Fällen möglich: Bei einem Stoffnamen als Referenzobjekt wird von dessen geometrischer Gestalt abgesehen und es wird sozusagen „von innen“ konzeptualisiert, so dass die Begrenzung irrelevant ist (Kaufmann 1991). Quer-durch-Kombmationen sind dann nicht gleichbedeutend oder nicht möglich. (41) a. Wir wunderten stundenlang durch Matsch und Unrat. b. # Wir wanderten stundenlang quer durch Matsch und Unrat. (42) a. Sie waten durch trübes Wasser. b. Sie waten quer durch trübes Wasser. Zweitens kann der Passageweg das Resultat einer nicht-zielgerichteten, iterativen und bezüglich des Referenzobjekts nicht eindeutig ausgerichteten Bewegung sein. Auch dann ist Kombination mit quer problematisch. (43) Der Fluss mäandert kilometerlang (*quer) durch die Auenlandschaft. (44) Erjoggt stundenlang/ eine Zeitlang ('quer) durch den Park. Das Referenzobjekt von quer-durch und quer-über-Phmsen muss einen echten zweideimensionalen Passagebereich aufweisen, was für die Verwendung von durch allein nicht gilt: (*quer) durchs Fenster schauen, das Haus (*quer) durch die Hintertür betreten, die Suppe (*quer) durch ein Sieb seihen. Diese Überwindung einer Grenzlinie ist nach Kaufmann (1991) wiederum eine Non-Standard-Verwendung von durch, die dritte Jwrc/ j-Lesart neben der vollständigen und unvollständigen Durchquerung eines flächigen Objekts. Ferner muss das Referenzobjekt eine perzipierbare intrinsische Achsausrichtung haben: (*quer) durch den Kreis/ die Kugel. Während durch bezüglich der Achsausrichtung wiederum unspezifisch ist der Passageweg ist auch entlang der Längsachse des Referenzobjekts möglich, vgl. Fahren Sie durch die Hintergasse. ist dies bei quer durch ausgeschlossen. Und schließlich sind auch wieder alle Ausweitungen auf nicht-räumliche Domänen wie Passiv-Agens (*Das Feuer wurde quer durch Brandstiftung verursacht), Instrumental (*quer durch leichten Druck die Teile trennen) oder sonstige Sonderformen (*quer durch drei teilen) ausgeschlossen, anders als bei mitten hier auch die temporale (*quer durch 10 Jahre hindurch). Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 353 Anders liegt der Fall bei Kombination mit zu. Die Menge der durch quer zu x bezeichneten Wege ist keine Teilmenge der zw-jc-Wege, es liegt also gar kein semantisches Inklusionsverhältnis vor; vgl. Bsp. (29a/ b). Zu ist terminativ, wogegen mit quer zu auch die Durchdringung des Referenzobjekts bezeichnet werden kann, in etwa der dritten Lesart von durch entsprechend. Überdies wird die Lokalisationsphrasen-exteme Kombinatorik offenbar nicht durch die Direktionalpräposition zu gesteuert, die Bewegungsverben selegiert, sondern von quer, vgl. Der Wagen stand quer zur Straße vs. * Der Wagen stand zur Straße, oder auch Bsp. (11) und (31). Die semantische Analyse liefert hier weitere Indizien für einen Status von quer als Kopf der Lokalisationsphrase. 3.2.4 längs und entlang Für die Kombination längs zu gilt Gleiches wie für quer zu\ längs hat hier keine Modifikationsfunktion, sondern ist Kopf einer Adverbphrase. (45) a. Im Inneren läßt die Bahn nachträglich errichtete Trennwände und Vorbauten herausreißen und schafft somit im Erdgeschoß großzügige Passagen quer und längs zu den Gleisen aufder Ebene darüber, (taz, 28.07.1999, S. 22) b. # [...] und schafft somit Passagen zu den Gleisen In der Kombination mit durch kommt dagegen wieder die modifizierende Funktion zum Tragen: längs spezifiziert die Ausrichtung des mit der durch- PP bezeichneten Passagewegs. Es aktualisiert hier aber nicht unbedingt die Standardverwendung von durch. Zum einen ist ein Passageweg längs durch ein Objekt wohl nicht eindeutig obligatorisch grenzbezogen, vgl. längs durch die Halle ziehen sich Stahlträger. Zum anderen ist als Passageweg durch Referenzobjekte mit unterschiedlicher Länge und Breite der kürzere, unaufwendigere, eben die Durchquerung, auch die naheliegendere, so dass die Abweichung vom Unauffälligen extra benannt werden muss, wie in (46) bei der Längsbohrung durch einen Baumstamm. (Man könnte auch sagen: längs ist gegenüber quer diesbezüglich markiert.) (46) Zusammen mit seinem Sohn Josef treibt er mit meterlangen Handbohrern Kanäle längs durch Tannenstämme. (Oberösterreichische Nachrichten, 27.09.1999) 354 Eva Breindl Da entlang als kombinatorisches Element mit der Zirkumpositionsbildung eine andere syntaktische Option realisiert, soll es hier nur in seinem Verhältnis zu längs betrachtet werden, als dessen Synonym es bisweilen gilt. Längs verhält sich nämlich zu entlang wie rings um zu um oder quer durch zu durch', es kodiert genau die zentrale Bedeutung von entlang und teilt nicht dessen „Anwendungstoleranzen“ für Non-Standard-Verwendungen. Das zeigt sich an Restriktionen bezüglich der inhärenten Merkmale des Referenzobjekts. Längs ist im Unterschied zu entlang auf die Raum-Domäne beschränkt und hat keine abstrakten NP-Komplemente, vgl. *längs der Richtlinien, *längs des Üblichen aber: entlang der Richtlinien, entlang des Üblichen. Darüber hinaus muss das Referenzobjekt eine ausgezeichnete Längsachse haben: (47) a. Wir liefen entlang blauschwarz tiefgründiger Wasserlöcher. b. * Wir liefen längs blauschwarz tiefgründiger Wasserlöcher. Entscheidend ist aber eine Einschränkung in der Positionierung des ENT- LANG-Wegs: Bei der Standard-Verwendung von entlang verläuft er parallel und seitlich versetzt zur Lateralachse des Referenzobjekts. Dies ist auch die Bedeutung von längs. Entlang kann aber zusätzlich auch einen mit der Längsachse zusammenfallenden Weg bezeichnen, die Verwendungen zeigen dabei je spezifische Rektionspräferenzen (vgl. Di Meola 1998). (48) a. Wir wanderten den Fluss entlang! entlang des Flusses. b. Wir wanderten längs des Flusses. c. Wir wanderten die Straße entlang! entlang der Straße. (= ‘auf der Straße’ oder ‘an der Straße entlang’) d. Wir wanderten längs der Straße. (= nur ‘an der Straße entlang’) Da entlang hinsichtlich der Position des Wegs unspezifisch ist, kann es außer mit an auch mit einer ganzen Reihe orientativer Präpositionen kombinieren. In all diesen Fällen ist der komplexe Lokalisationsausdruck nicht durch eine längs-? ? ersetzbar. (49) Mama Amsel flattert laut schimpfend am, über und unter dem Balkon entlang, (taz, 13.09.1995, S. 16) (50) Ein Tänzer kriecht unter dem Teppich entlang. (Berliner Zeitung, 17.09.1999, S. 15) Quer durch die Wortarten rings um die Phrasensyntax mitten in die Semantik 355 (51) Die Spielsteine wandern über Torbögen entlang. (Berliner Zeitung, 11.09.1998, S. V) (52) Sie liefen nicht vor, sondern hinter den Tischen entlang, (taz, 02.11.2002, S. 11) Die nachstehende Übersicht fasst die semantische Leistung der Lokalkombinatoren zusammen rings'. wegbezogen; Wegausrichtung spezifizierend; gestaltbezogen (geschlossene Achse); Standardisierungsfunktion bezüglich unr, mitten'. Regionsausschnitt spezifizierend; Standardisierungsfunktion bezüglich in\ quer. wegbezogen; grenzbezogen; interior; Wegausrichtung spezifizierend; Standardisierungsfunktion bezüglich durch-, längs: wegbezogen, exterior; Wegausrichtung spezifizierend; entlang-, wegbezogen; Wegausrichtung spezifizierend. 4. Zusammenfassung Die hier untersuchten Lokalkombinatoren operieren sämtlich in einem konzeptuellen Bereich des Lokalsystems, der im Deutschen nicht mehr durch das zentrale Kodierungssystem für Lokalisation, die primären Präpositionen, abgedeckt ist (Abgrenzungskriterien für primäre Präpositionen: morphologische Simplizia, Dativ oder Akkusativrektion, auch in den Teilsystemen Partikelverben und öfa(r)-Pronominaladverbien etabliert; vgl. Eisenberg 1999, S. 194). Als Modifikatoren von PPen denotieren sie Ausschnitte aus der durch die einfache PP bezeichneten Region. Sie leisten dabei vor allem Spezifizierungen von perlativen PPen, indem sie die Wegausrichtung bezüglich des Referenzobjekts (Achsausrichtung, Grenzbezogenheit) und die Weggestalt (+/ geschlossen) angeben. Häufig handelt es sich dabei um eine „Standardisierungsfunktion“, d.h. um eine Unterbindung der „Anwendungstoleranz“ und Blockierung von Non-Standard-Verwendungen der Präposition. Die Standardisierung ist der Effekt davon, dass die spezifischere Bedeutung des Lokalkombinators aus der Menge der P-Lesarten diejenigen ausfiltert, die nicht mit der Kombinatorbedeutung kompatibel sind. Die perlative Dimension gilt im Rahmen einer universalen Grundstruktur von Lokalkasus- und Adpositionssystemen als Systemerweiterung des Grundgerüsts aus einer ersten Dimension von Ort und Richtung (WO - WO- HIN - WOHER) und einer zweiten Dimension des Innen - Außen (vgl. Stolz 356 Eva Breindl 1992, Wiese 2004). Diese Dimension ist im Deutschen selbst weniger ausgebaut und mit weniger primären Lokalpräpositionen besetzt, so eben auch mit entlang und längs. Für weitere Differenzierungsschritte treten im Deutschen kombinatorische Elemente auf: polyfunktionale Adverbien, aber auch Adjektive wie schräg, senkrecht etc., wobei deren Kombinationssyntax geradezu patchworkartig nicht nur von Lokalkombinator zu Lokalkombinator, sondern auch von Kombination zu Kombination variieren kann und von Modifikatorstatus des Lokalkombinators (PP-Modifikation, Verbmodifikation in der Partikelverbbildung, Verbgruppenmodifikation als einstelliges Adverb) über Adverbialkomplexbildung bis hin zu Kopfstatus des Lokalkombinators und damit zur Umkehrung der hierachischen Struktur reichen kann. Dabei korreliert die Standardisierungsfunktion von rings {um), mitten {in! aufaus etc.) und quer {durch/ über) mit Modifikatorstatus des Lokalkombinators, während Lokalkombinatoren als Köpfe von Adverbphrasen {quer! längs zu) oder von Adjektivphrasen {schräg zu) eine Wegausrichtungsfunktion haben, die nicht einer Standardausrichtung entspricht. 5. Literatur Behaghel, Otto (1924): Deutsche Syntax. Eine geschichtliche Darstellung. Bd. 2. Heidelberg: Winter. Bondzio, Wilhelm (1974): Die Valenz zweiter Stufe als Grundlage der Adverbialsyntax. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 23, S. 245-257. Breindl, Eva (i.Dr.): Präpositionalphrasen. In: Ägel, Vilmos/ Eichinger, Ludwig MV Eroms, Hans Wemer/ Hellwig, Peter/ Heringer, Hans Jürgen/ Lobin, Henning (Hg.): Dependenz und Valenz. Ein internationales Handbuch der zeitgenössischen Forschung. 2. Halbbd. Berlin/ New York: de Gruyter. 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Im zweiten Schritt wird gezeigt, wie die so ermittelten Typen von we««-Relationen mit den in Sweetser (1990) ausgeführten Verknüpfungsdomänen (Sachverhaltsebene, epistemische Ebene, Sprechaktebene), die durch pragmatische Ambiguität gekennzeichnet sind, korrelieren. 1. Einführung in die Problematik Der Konnektor wenn fällt allein wegen seines häufigen Vorkommens im Korpus gesprochener Sprache auf: Laut Korpusstatistik qualifiziert sich wenn mit 544 2 Belegen gegenüber weil mit 316 Lemmavorkommen als der meistgebräuchliche in der Gruppe der i.w.S. konditional-kausalen Konnektoren. Eine weitere Beleganalyse zeigt allerdings einen deutlich polysemen Charakter von we««-Äußerungen. Die Überschneidung unterschiedlicher Bedeutungen hat nicht zuletzt etymologische Wurzeln. 3 Bis heute verfügt das moderne Deutsch neben dem Konnektorenpaarfalls (nur KOND) sobald (nur TEMP), in dem Konditionalität und Temporalität wortsemantisch voneinander unterschieden werden, über den polyfunktionalen Konnektor wenn, der neben der konditionalen auch 1 Grundlage für die vorliegende empirische Studie liefern die vom IDS zur Verfügung gestellten Transkripte spontaner Gespräche mit einer Gesamtdauer von ca. 20 Stunden, die im Zeitraum zwischen 1966 und 1996 in verschiedenen Bundesländern aufgenommen wurden. Die Gesprächssortenbreite des Korpus reicht von starker Offizialität bis salopper Alltagssprache. 2 Bei dem Auswahlverfahren wurden auch dialektale Varianten von wenn wie wönn, wann oder die mit dem Indefinitum man verschmolzene Form we=ma berücksichtigt. 3 Seit dem Althochdeutschen fungiert wenn als temporales w-Adverb (zurückgehend auf ahd. hwanne, hwenne), das nach dem Vorbild des lat. quando gebraucht wird. 360 Anna Volodina eine temporale Bedeutung annehmen kann. Auch wenn heute, im Unterschied zum ahd. und mhd. Sprachgebrauch, 4 die konditionale Bedeutung nach Angaben des Duden Universalwörterbuchs (Duden 2001, S. 1801) offensichtlich als dominant zu bezeichnen ist, ist die temporale wewz-Bedeutung nicht geschwunden. 5 Die Bedeutung des Konnektors ist die der spezifischen Relation, in der er realisiert wird: wenn als Konnektor kann den durch das interne Konnekt ausgedrückten Sachverhalt z.B. als erfüllbare Bedingung im Rahmen einer konditionalen Relation kennzeichnen oder auch einen zeitlichen Bezug zu dem durch das externe Konnekt bezeichneten Sachverhalt im Rahmen einer temporalen Relation herstellen, was am folgenden Beispiel näher beleuchtet werden soll: (AA geht Zigaretten holen): (a) AA: Wenn ich zurück komme, reden wir darüber. (b) AA: In 10 Minuten reden wir darüber. Funktional gesehen ist die wewi-Äußerung in (a) mit der zeitlichen Angabe in (b) gleichzusetzen. Da der Sprecher die Dauer der Flandlung (<Zigaretten holen>) nicht extra fixieren will, gibt er dem Hörer mit seiner wewi-Äußerung eine relative Zeitangabe in Bezug auf das mögliche Eintreten der Folge (<reden wir darüber>). Die Interpretation des zeitlichen Intervalls bleibt daher dem Hörer überlassen. 1st der Hörer in die Situation involviert und kann die Dauer der Handlung <AA holt Zigaretten> relativ gut abschätzen, kommt von ihm in der Regel ein zustimmendes (non)-verbales Zeichen, im gegenteiligen Fall eine insistierende Nachfrage: Wenn das Zeitintervall klärungsbedürftig ist (BB will genau wissen, wann AA zurückkommt), stellt der Hörer in der Regel eine konkretisierende Ergänzungsfrage wie in (c) und betont damit den temporalen Charakter der Ausgangsrelation (a). Bei Zweifeln an der allgemeinen Vollziehbarkeit der Handlung (BB glaubt nicht, dass AA zurückkommt) sichert eine Entscheidungsfrage eine konditionale Lesart (d): 4 Das Grimmsche Wörterbuch (DWB, 1854) gibt die temporale Bedeutung von wenn als vorherrschende, erste Teilbedeutung an, erst dann folgt der Hinweis auf die konditionale. 5 Aus den fünf aufgelisteten Teilbedeutungen von wem wird im Duden (2001) zuerst auf seine konditionale (synonym zu unter der Voraussetzung, Bedingung, dass für den Fall, dass ...\ falls), erst dann auf seine temporale (synonym zu sobald und sooft) Bedeutung hingewiesen. v/ erm-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 361 (c) TEMP-Lesart von (a): RR: Wann kommst du denn? (d) KOND-Lesart von (a): BB: Kommst du denn überhaupt? In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach den Abgrenzungskriterien der temporalen von den anderen wenw-Relationen bzw. nach Indikatoren, die nur eine Lesart erlauben. Schon die oben eingeführten Lesarten zeigen, dass die Rolle des situativen Kontexts bei der Feststellung der temporalen wenn- Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Das Verhältnis zu beschreiben, in dem „[...] formgleiche Konnektoren mit unterschiedlicher Bedeutung bzw. Verwendung (z.B. temporales und konditionales wenn)“ (Blühdom 2004, S. 125) zueinander stehen, definiert Blühdom als eine der Hauptaufgaben der Konnektorensemantik. 6 Die IDS-Grammatik ist sich der Schwierigkeit dieser Aufgabe voll bewusst: Im Kap. Hl zur Subordination von Nebensätzen (IDS-Grammatik, S. 2282ff.), das von Gisela Zifonun verfasst wurde, wird an einzelnen Beispielen aufgefuhrt, wie problematisch die Unterscheidung zwischen der temporalen und der konditional-hypothetischen Verwendung von wenn-Supplementsätzen sei. Für die Separierung im Einzelfall gäbe es jedoch eine Reihe von Indizien: So unterscheiden sich die generalisierenden Konditionalen von den generalisierenden Temporalen dadurch, dass „nur bei Konditionalen die Frage der Wahrheit des Untersatzes überhaupt relevant wird. Konditionale beziehen sich stets auf die Folie ‘unter bestimmten situativen Bedingungen war p möglich, aber auch nicht-p’. Dagegen stellt sich bei generalisierenden Temporalen diese Alternative gar nicht.“ (ebd., S. 2285) Im Weiteren wird ein ausdifferenziertes Modell für die semantische Klassifikation der Verwendungsvarianten von wenn, der in wesentlichen Punkten dem von Fabricius-I lansen/ Sasbo (1983) und dem der IDS-Grammatik (1997, S. 2282ff.) ähnelt, vorgeschlagen und an Korpusbelegen überprüft. Mit Hilfe eines schrittweisen Ausschlussverfahrens soll eine möglichst klare Unterscheidung zwischen den ‘temporalen’ und ‘nicht-temporalen’ wenn-Relationen gewährleistet werden. 6 Beiträge zu dieser Problematik unter grammatischer Perspektive bei Fabricius-Hansen/ Ssebo (1983), Metschkowa-Atanassowa (1983), Engel (1988, S. 730ff.), Pasch (1994, S. 42ff.), Pittner (1999, S. 230ff.), Eisenberg (2004, S. 344ff.); unter Berücksichtigung pragmatischer Bedingungen Günthner (1999), Auer (2000), Gohl (2002). 362 Anna Volodina Das Disambiguierungsverfahren wird auf eine Gruppe von indikativisch formulierten we««-Belegen (350 Belege des gesamten Korpus) 7 angewendet, bei denen das Vorkommen der temporalen Bedeutung nach ihrer Spezifik, einen zeitlichen Bezug herzustellen am wahrscheinlichsten ist. 8 2. Kriterien für das Disambiguierungsverfahren Als signifikant für das oben genannte Disambiguierungsverfahren zwischen den ‘temporalen’ und ‘nicht-temporalen’ we««-Relationen betrachte ich die folgenden binären Oppositionen, die im Weiteren kurz erläutert werden: 1. Faktizität <-> ■ Nicht-Faktizität 2. Generizität <-> Spezifizität 2.1 Faktizität vs. Nicht-Faktizität Bei der Definition der Faktizität stütze ich mich im Wesentlichen auf die Definition der Faktizitätskontexte der IDS-Grammatik, die „auf das, was tatsächlich der Fall ist, bezogene Kontexte Faktizitätskontexte“ nennt (IDS- Grammatik, S. 1744). In diesem Zusammenhang spreche ich im Weiteren von einem faktischen und einem nicht-faktischen Gebrauch von wemr-Sätzen, die wie folgt definiert werden können: FAKT: Wenn der vom Träger-Konnekt bezeichnete Sachverhalt aus dem näheren Kontext (oder situativ) als gegeben, wahr interpretiert werden kann, wird die ganze we««-Relation als faktisch bewertet, die Bedingung gilt als erfüllt (s. Beispiele (5), (6), (7) in Abschnitt 3). NICHT-FAKT: Dagegen wird die wen/ r-Relation als nicht-faktisch bewertet, wenn die Proposition des internen Konnekts als offen oder unplausibel bezeichnet werden kann. Der durch das interne Konnekt bezeichnete Sachverhalt drückt eine erfüllbare Bedingung aus: über die Vollzogenheit der Bedingung wird dabei nichts ausgesagt (s. Beispiele (1), (2), (3), (4) in Abschnitt 3). 7 In die Analyse wurden nur wewi-Supplementsätze einbezogen. 8 Die im gesprochensprachlichen Korpus als gering geschätzte Möglichkeit des Vorkommens konjunktivischer wewj-Äußerungen in temporaler Bedeutung ist damit trotzdem nicht ausgeschlossen. Nach Metschkowa-Atanassowa (1983, S. 86) kann das Prädikat in einem temporalen wewn-Satz auch im Konj. stehen, so z.B. in der indirekten Rede. Es kann sogar der Konj. II zum Ausdruck der Unsicherheit auftreten. Ich wollte den Weg über Österreich und den Rhein nehmen, den ich kannte, und sie anrufen, wenn ich Zürich erreicht hätte. (E.M. Remarque, Die Nacht von Lissabon, S. 113) (zit. nach Metschkowa- Atanassowa 1983, S. 87). wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 363 2.2 Generizität vs. Spezifizität Der Begriff Generizität wird in den einschlägigen Arbeiten unterschiedlich verwendet und gehört immer noch zum Problemkomplex der Linguistik (vgl. Ballweg 1995, S. 271). In der Linguistik werden die Termini generisch bzw. nicht-generisch in der Regel mit den Kategorien Definitheit bzw. Indefinitheit von Nominalphrasen in Verbindung gebracht (s. dazu Glück (Hg.) 2000, S. 837; Übersicht der neueren Arbeiten in Bisle-Müller 1991, S. 133-137). Behrens (2005) fasst den Begriff deutlich breiter und schlägt vor, nach generischen Ausdrücken (meist Phrasen), generischen Sätzen und generischen Texten zu unterscheiden. Im Rahmen dieses Aufsatzes verzichte ich auf die bisherige Diskussion des Terminus und lege meine Definition in Bezug auf die satzsemantische Analyse am Beispiel von we««-Äußerungen fest: Kontextuelle sprachliche we»«-Äußerungen können in jedem Verwendungsfall nach dem generischen (GEN), und nicht-generischen, d.h. spezifischen (SPE) Gebrauch unterschieden und wie folgt definiert werden: GEN: Das interne Konnekt einer we««-Relation in generischer Lesart drückt einen allgemeingültigen, regelhaften, habituellen Sachverhalt aus, der oft durch man, jeder signalisiert wird, oder er bezeichnet eine sich wiederholende Handlung (s. Beispiele (1), (6), (7) in Abschnitt 3). SPE: Das interne Konnekt einer wenn-Relation in spezifischer Lesart ist dagegen auf ein singuläres/ partikuläres Ereignis bezogen (s. Beispiele (2), (3), (4), (5) in Abschnitt 3). Neben der Feststellung von Faktizität bzw. Nicht-Faktizität des vom internen Konnekt ausgedrückten Sachverhalts ist die Ermittlung der generischen bzw. spezifischen Referenz der we«»-Relationen eine wichtige Komponente bei der Beschreibung ihrer semantischen Funktion. Die IDS-Grammatik spricht in diesem Zusammenhang von einem „generischen Konditional“ oder „generischen Sätzen“, die, auf Begriffe der Logik gestützt, als „abgeschwächte Versionen von Allaussagen zu verstehen“ sind (IDS-Grammatik, S. 2058). 3. Semantische Varianten von wnn-Relationen Wesentlich für die Abgrenzung unterschiedlicher Varianten von we««-Relationen sind aber nicht die bereits erwähnten Kriterien selbst, sondern ihre Kombinationsmöglichkeiten (s. Tab. 2): 364 Anna Volodina Typ A TypB TypC Typ D NICHT-FAKT NICHT-FAKT FAKT FAKT GEN SPE SPE GEN Tab. 1: Vier Merkmalskombinationstypen von we/ w-Relationen Betrachten wir diese vier Merkmalskombinationen zuerst angesichts der Ausprägung ihrer Beschreibungsparameter unter folgender Fragestellung: (i) Welche der vier Typen, d.h. welche Merkmalskombinationen erlauben nur eine Lesart {konditionale vs. temporale vs. wedertemporale-noch-konditionale)l (ii) Welche Merkmalskombinationen erlauben dagegen mehrere Lesarten? (iii) Welche positionsspezifischen Merkmale (bezüglich der Stellung des internen Konnekts) weisen die jeweiligen Typen auf? 3.1 Typ A: vvewt-Rclation in nicht-faktischer generischer Lesart Die durch Nicht-Faktizität des vom internen Konnekt bezeichneten Sachverhalts gekennzeichneten generischen we««-Relationen sind nur rein-konditional interpretierbar. Sie lassen eine Paraphrase durch den eindeutig konditionalen Konnektorfalls zu. (1) Fünfzig Dollar In diesem Belegbeispiel aus der Gesprächssorte „Small Talk am Kiosk“ stellt UU die Situation des Devisenwechsels auf der Bank als eine habituelle Handlung dar. Das Subjekt ist hier nicht-singulär verwendet. Es schließt nicht nur den Sprechaktteilnehmer selbst ein, sondern ist auf eine weitere Menge potenzieller Sprechaktteilnehmer bezogen; du ist hier mit dem generalisierenden man synonym. SMALLTALK - SZ.02. 154 UU: 155 BB: wenn du mitfuffzich dollar uffdie ahjo 156 UU: bankgehsch kriegsch die umgewechselt odder ned 157 BB: 158 UU: brauchsch kän ausweis odder irgendwas wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 365 nicht-faktisch, generisch: —> rein konditional Für alle X gilt: Unter der Bedingung, dass X 50 Dollar besitzt und in die Bank geht, wird ihm das Geld gewechselt, ohne dass er sich ausweisen muss. 3.2 Typ B: wewn-Relation in nicht-faktischer spezifischer Lesart Die wewn-Relation in nicht-faktischer, spezifischer Verwendung kann sowohl rein-konditional als auch temporal interpretiert werden. Dieser Typ ist mit insgesamt 159 Belegen (= 45,4%) im Korpus am häufigsten vertreten. Die Separierung der Belege dieses Typs erwies sich auch unter der besonderen Berücksichtigung des Kontexts als nicht unproblematisch, weil in einer wew«-Relation in nicht-faktischer, spezifischer Verwendung in der Regel beide semantischen Komponenten zum Ausdruck kommen. Es gibt jedoch einige Indizien, die uns erlauben, eine dominante Bedeutung entweder eine temporale oder eine konditionale festzustellen. Konditionale Lesart: Eine bevorzugt konditionale Deutung der Relation lässt sich generell in dem Fall feststellen, wenn das interne Konnekt (p) bereits ein Temporaladverbial enthält, das einen genauen Zeitpunkt für eine mögliche Realisierung des durch das externe Konnekt ausgedrückten Sachverhalts (q) angibt: (2) Abgabe der Scheine Während eines Beratungsgesprächs stellt der beratende Dozent (BR) fest, dass ihm für die Fertigstellung des Gutachtens für seinen Studenten (RS) einige Scheine fehlen. Unter der Bedingung, dass der Student die fehlenden Papiere <heut noch> bringt, verspricht ihm der Dozent eine schnelle Erledingung der Formalitäten. Der vom internen Konnekt bezeichnete Sachverhalt ist daher nicht-faktisch. STUDIENBERATUNG - 1400.08 140 BR: ja * gut ja dann k/ w«« 141 RS: hause und pack=s zusammen/ 142 BR: sie=s HEUT NOCH abgeben/ kann ich das schnell machen nicht-faktisch, spezifisch: —> rein konditional Unter der Bedingung, dass sie es heute noch abgeben, kann ich das schnell machen. 366 Anna Volodina Temporale Lesart'. Eine temporale Deutung erlauben spezifische we««-Relationen, in denen der Vollzug der Handlung vom Sprecher nicht in Frage gestellt wird. Im Gegensatz zum eben besprochenen Beleg (2) ist das Subjekt des wewi-Konnekts im folgenden Beispiel nicht der Hörer, von dessen Handlung die Erfüllung der Bedingung abhängt, sondern der Sprecher selbst: (3) Kaffee vorm Arzt Die fristlos gekündigte Putzhilfe weist den Vorwurf zurück, sie habe nach ihrer Krankmeldung beim Arbeitgeber in einem Cafe, wie man ihr unterstellt, Unmengen Alkohol konsumiert. Sie behauptet stattdessen, nur Kaffee getrunken zu haben. Damals habe sie einem Zeugen auf die Frage, ob sie denn schon beim Arzt gewesen sei, geantwortet: SCHLICHTUNG - 3003.119 159 Al: / wenn isch 160 CC: ja: - 161 Al: au"sgetrunke hab geh isch zu meim a"rzt |zurück/ | nicht-faktisch, spezifisch: —> temporal Sobald ich ausgetrunken habe, gehe ich zu meinem Arzt zurück. Obwohl der vom wenn-Konnekt bezeichnete Sachverhalt zukunftsbezogen ist, wird die Wahrscheinlichkeit seiner Realisierung vom Sprecher als feststehend dargelegt. Auf den genauen Zeitpunkt der Realisierung des Sachverhalts p wird jedoch nicht hingewiesen. Das wew? -Konnekt enthält damit keine Bedingung, stellt aber einen zeitlichen Bezug zum externen Konnekt her. Im Unterschied zu den rein-temporalen und ambigen Fällen lassen nur die temporalen Relationen dieses Typs die Tempuskombination <Perfekt im internen Konnekt - Präsens im externen Konnekt> zu. IHenra-Relationen in spezifischer temporaler Verwendung sind immer zukunftsbezogen (vgl. IDS- Grammatik, S. 2285). Ambige Fälle'. Falls das interne Konnekt einer we««-Relation in spezifischer, nicht-faktischer Verwendung weder ein Zeitadverbiale enthält noch eine Handlung bezeichnet, die sich auf ein gegenwärtiges Geschehen bezieht, das noch nicht vollzogen (und damit nicht-faktisch) ist, aber aus der Sicht des Sprechers vollzogen werden kann (wie im Beleg (3) „Kaffee vor dem Arzt“), haben wir es mit einem Fall von Ambiguität zwischen temporaler und kon- 'wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 367 ditionaler Bedeutung zu tun. Diese Fälle erlauben beide Lesarten und bilden eine so genannte Übergangszone zwischen den nicht-faktischen, spezifischen einerseits temporal und andererseits konditional interpretierbaren Relationen: (4) Genehmigung Bevor der Schiedsrichter das Protokoll der Sitzung verkündet, erklärt er den streitenden Parteien den weiteren Verlauf der Gerichtsverhandlung. SCHLICHTUNG - 3005.21 1239 CC: das- * is nach meiner auffassung- *5* alles was wir 1240 CC: hier- * heute- * aufnehmen und erreichen können/ / * 1241 CC: ich les ihnen das jetz nochmal vo: r und wenn es von 1242 CC: ihnen genehmigt wird dann- ** >schicken wir ihnen 1243 CC: das- * mit dem zusatz daß es vorgelesen und 1244 AA: ja/ 1245 CC: genehmigt is zu/ < Bei einer konditionalen Interpretation der Relation käme zum Ausdruck, dass der Richter die Entscheidung der Klägerin und des Beklagten, das Protokoll der Sitzung zu unterschreiben, nicht beeinflussen will. nicht-faktisch, spezifisch: —» rein konditional Falls das Dokument von Ihnen genehmigt wird, schicken wir Ihnen das mit dem Zusatz, dass es vorgelesen und genehmigt ist, zu. Bei einer temporalen Interpretation läge hingegen eine Beschreibung des weiteren Verlaufs der Dinge vor: nicht-faktisch, spezifisch: -»temporal Sobald das Dokument von Ihnen genehmigt wird, schicken wir Ihnen das mit dem Zusatz, dass es vorgelesen und genehmigt ist, gleich zu. 3.3 Typ C: we«n-Relation in faktischer, spezifischer Lesart Die sogenannten faktischen w<? ««-Relationen bilden in ihrer spezifischen Verwendung den dritten Typ der we/ w-Relationen. Sie erlauben weder eine rein-konditionale noch eine temporale Interpretation. In bestimmten pragmatischen Kontexten lassen vve/ iw-Relationcn dieses Typs eine kausale oder auch eine konzessive Lesart zu. 368 Anna Volodina Die kausale Lesart kommt als Begründung einer epistemischen Annahme, eines Vorschlags oder Vorwurfs, einer Frage oder einer non-verbalen Handlung vor (detailliert s. Gohl 2002), also in denselben Kontexten, in denen auch prototypisch kausale, mit weil eingeleitete Relationen Vorkommen können. Der vom wenn-Konnekt bezeichnete Sachverhalt basiert jedoch in der Regel auf dem evidenten, dem Sprecher im Sprechakt bereits vermittelten Wissen oder ist auch situativ vorgegeben wie im nächsten Belegbeispiel, in dem die non-verbale Handlung begründet wird: (5) Kuchen Bei einem lebhaften Gespräch vergisst die Gastgeberin, den bereits servierten Kuchen zu teilen. Eine der eingeladenen Freundinnen ergreift die Initiative. Eine Formulierung der Begründung einer eigenen Handlung durch wenn anstelle von weil bzw. denn ist in diesem Fall weniger kategorisch. ALLTAGSGESPRÄCHE - FRA 124 KOMMENTAR: S3 teilt den Kuchen S3: ( jetzt fang ich hier an ,+ wenn sie das nicht machen +,) +k Sl: so k+ klein . und ... is das da . S3: kann man da eins durchteilen / +k . das dürfen sie auch . faktisch, spezifisch: —» kausal Jetzt fange ich hier an <S3 teilt den Kuchen>, denn / sie machen das nicht. 3.4 Typ D: wenn-Relation in faktischer generischer Lesart Bei diesem Typ der vve/ r/ r-Relation in faktischer generischer Verwendung kommt eine andere Art der temporalen Konditionalen zum Ausdruck. Diese ist stets vergangenheitsbezogen. Die Relationen dieses Typs sind in der Regel durch die Tempuskombination <Präteritum/ Perfekt im internen Konnekt - Präteritum/ Perfekt im externen Konnekt> gekennzeichnet, die auf eine abgeschlossene Handlung hinweist. (6) Beschwerde Die Klägerin AA beklagt sich über das mangelnde Entgegenkommen des Friseurbetriebs Plack, wo für sie ein Haarteil angefertigt wurde, mit dem sie nicht zufrieden war. Ihren ständigen Bitten um Nachbesserung ist niemand nachgekommen: wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 369 SCHLICHTUNG-3005.21 767 K STOTTERT LEICHT 768 AA: * wenn ich angerufen hat bei herrn 769 AA: plack un hab äh oder bei mitfrau plack gesprochen 770 AA: hab un hab gesacht- * frau plack de/ ich ka"nn=s 771 AA: immer noch nich tra"gen sie müssen mir he"lfen hab 772 AA: ich sogar zu ihr mal gesagt- * ich komm damit nicht 773 AA: zurecht so" geh"t es nich dann war des einziche was 774 AA: ich zu hörn gekricht hab so machen wir des schon faktisch, generisch: —» temporal Sooft ich angerufen habe, [...] war das Einzige, was ich zu hören bekam: „so machen wir des schon“. Die wenn-Relation in faktischer, generischer Verwendung (Beispiel (7)) kann weder konditional (wegen der aus dem Kontext gegebenen Faktizität) noch temporal (wegen des fehlenden Bezugs auf die zeitliche Folge) interpretiert werden. (7) Mensch von Anfang an Frau W., die Vertreterin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, äußert sich generell gegen Abtreibung. Die wenn-Relation erlaubt eine kausale Lesart. TALKSHOWS - 4050.026 3127 RW: wenn biolo "gen und mediziner sagen mensch von 3128 RZ: |nehmen sie das zurück-| 3129 RW: anfang an/ dann \muss es den schu"tz \ und die 3130 K& TUMULT, UNVERSTÄNDLICH 3132 RW: hi"Ife geben! faktisch, generisch: —» kausal Die Tatsache, dass Biologen und Mediziner sagen, dass das Embryo ein Mensch ist, ist der Grund dafür, dass es für das Kind den Schutz und die Hilfe auch im Anfangsstadium geben muss. Dieser Typ in faktischer, generischer Verwendung ist mit dem Typ A verwandt, der eine rein-konditionale Lesart von generischen wenn-Relationen erlaubt. Die Verwendung von wenn statt kausalem weil oder da dient bei solchen Relationen der Abschwächung der Wahrheitsbedingungen, unter 370 Anna Volodina denen p erfüllt ist und als Folge für den Sachverhalt q gilt. Der vom internen Konnekt bezeichnete Sachverhalt bezieht sich in der Regel auf das nichtsprecherbasierte Wissen, dessen sich der Sprecher oder die Sprecherin in diesem Fall eine Mc/ zf-Medizinerin und Mc/ zf-Biologin nicht wirklich sicher sein kann. Ich fasse diesen Punkt zusammen: wenn-Relationen des Typs A in nichtfaktischer, generischer Verwendung sind nur als rein-konditional zu interpretieren. Die des Typs B in nicht-faktischer spezifischer Verwendung können entweder temporal-konditional oder rein-konditional interpretiert werden. Die des Typs C in faktischer spezifischer Verwendung erlauben nur eine Lesart: sie sind als weder-konditional-noch-temporal interpretierbar. Die des Typs D in faktischer, generischer Verwendung sind als rein-temporal oder weder-konditional-noch-temporal zu interpretieren. Typ A: nicht-faktisch generisch rein-konditional Typ B: nicht-faktisch spezifisch rein-konditional temporal-konditional Typ C: faktisch spezifisch weder-konditional-noch-temporal Typ D: faktisch generisch weder-konditional-noch-temporal rein-temporal Tab. 2: Bedeutungsvarianten von wenn 4. Typenspezifische syntaktische Präferenzbereiche Vor dem Hintergrund dieser semantisch getroffenen Differenzierung zwischen verschiedenen Bedeutungen einer wenn-Relation gehe ich der Frage nach, ob sich die bereits beschriebenen Typen A-D auch syntaktisch voneinander unterscheiden, und zwar angesichts der Stellung des wenw-Konnekts. Generell kann die Subjunktorphrase mit wenn syntaktisch anteponiert, postponiert, ins externe Konnekt parenthetisch eingeschoben oder auch desintegriert Vorkommen (dazu mehr HdK 2003, S. 361 ff). Den höchsten Grad der syntaktischen Integration weist das wenn-Konnekt in seiner anteponierten Stellung bei der Einbettung in das externe Konnekt auf, den niedrigsten bei seiner Desintegration. Diese liegt vor, wenn das interne Konnekt das sogenannte Vor-Vorfeld besetzt (vgl. HdK 2003, S. 74). Sowohl das desintegrierte als auch das parenthetisch eingeschobene wenn-Konnekt werden stets intonatorisch abgesetzt. wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 371 Angesichts der Stellung des internen Konnekts lassen sich die Korpusdaten wie folgt tabellarisch erfassen: Typ A Stellung des n>g««-Konnekts Gesamt ANTE POST EING DESIN NICHT-FAKT/ GEN/ KOND 33 11 52 63% 21% 6% 10% 100% Typ A kommt 52 Mal im Korpus vor, was etwa 1/ 7 der Gesamtzahl der Belege ausmacht. Die anteponierte Stellung des internen we««-Konnekts ist mit Abstand (63%) die dominierende. Typ B Ste ANTE lung des we/ iw-Konnekts POST EING Gesamt DESIN NICHT-FAKT/ SPE/ KOND 73 57% 24 8 18% 6% 24 19% 129 100% NICHT-FAKT/ SPE/ TEMP- KOND GESAMT 18 60% 91 57% 12 40% 36 23% 0% 5% 0% 24 15% 30 100% 159 100% Typ B mit konditionaler Lesart: In Bezug auf die Stellung des internen Konnekts ist das Bild der Verteilung der konditionalen weww-Relationen des B-Typs relativ identisch mit dem des A-Typs: Die Anteposition des wenn- Konnekts ist am häufigsten vertreten. Auffällig ist dagegen das deutlich häufigere Vorkommen von desintegrierten vvcvm-Konnekten. Offensichtlich besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Spezifizität des vom wenn- Konnekt bezeichneten Sachverhalts (signifikantes Unterscheidungsmerkmal des B-Typs vom Typ A, der im Unterschied zu Typ B durch Generizität des von internen Konnekt bezeichneten Sachverhalts gekennzeichnet ist) und der kommunikativen Situation, die eine syntaktisch gesehen - „lockerere“ Konstruktion erlaubt. TypB mit temporaler Lesart: Die Zahl der Belege mit überwiegend temporaler Lesart (30 Belege) fallt deutlich geringer aus als die mit konditionaler Lesart (129 Belege). Sie beträgt nur noch 19% aller Belege dieses Typs. Deutlich mehr als die Hälfte der Belege (57%) ist anteponiert. Die Differenz zwischen dem Vorkommen der temporal interpretierten und dem der konditional interpretierten Belege in der Postposition ist erheblich: Die Gesamtzahl der postponierten spezifischen (Typ B) und postponierten generischen Konditionalen (Typ A) steht mit den anteponierten in einem Verhältnis von 372 Anna Volodina eins zu drei. Charakteristisch für die Relationen mit temporaler Lesart ist außerdem eine starke syntaktische Integration der Konnekte: parenthetisch eingeschobene und desintegrierte vve««-Konnekte in temporaler Lesart waren im Korpus nicht feststellbar. Type Stellung des w/ m-Konnekts Gesamt ANTE POST EING DESIN FAKT/ SPE/ WEDER-KOND- NOCH- TEMP 37 26 14 12 89 42% 29% 16% 13% 100% Typ c : Wie wir es auch bei allen anderen Typen beobachtet haben, ist die anteponierte Position des internen Konnekts mit 42% am meisten belegt. Auffällig sind die hohen Prozentzahlen bei den eingeschobenen (16%) und desintegrierten (13%) we«n-Konnekten, was die Spezifik dieses Typs widerspiegelt. Die we«rt-Konstruktionen, die weder konditionale noch temporale Züge aufweisen, werden hörerfreundlich vom Sprecher als begründende Erläuterung in dem Moment eingesetzt, in dem der Zusammenhang der geschilderten Handlungen bzw. sein Gedankengang dem Hörer nicht einleuchtend genug ist, was dem Sprecher gegebenenfalls häufig non-verbal signalisiert wird. In solchen Fällen wird das wenn-Konnekt in die Struktur der vom Sprecher geplanten Äußerung eingeschoben und meistens schneller und/ oder mit einem tieferen Ansatz der Tonhöhenkontur ausgesprochen als die das Konnekt umrahmende Konstruktion. Die aus der Gesamtstruktur der Äußerung desintegrierten we««-Konnekte dienen funktional demselben Zweck. Sie stehen in der Regel im Nachfeld und werden nach einer kurzen Denkpause geäußert. Typ D Stellung des w/ in-Konnekts ANTE POST EING DESIN Gesamt FAKT/ GEN/ TEMP 78% 22% 0 0% 0 0% 100% FAKT/ GEN/ WEDER-KOND- NOCH-TEMP 25 60% 20% 5% 15% 41 100% GESAMT 32 64% 10 20% 4% 12% 50 100% Typ D mit generischer temporaler Lesart ist mit nur noch 9 Belegen am wenigsten vertreten. Dies ist wie folgt zu erklären: Generische wenn-Relationen, die ausschließlich eine temporale Interpretation erlauben, kommen eher wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 313 in narrativen Gesprächssorten monologischen Charakters (wie z.B. Reiseberichte oder Kindheitserinnerungen) vor, in denen ein Geschehen in zeitlich linearer Abfolge geschildert wird. Da die ausgewählten Gesprächssorten diese Spezifika nicht aufweisen und eher spontan-dialogisch aufgebaut sind, kommen wen«-Konstruktionen des D-Typs hier seltener vor. Bezüglich der Stellung des internen Konnekts sind wie bei den temporalen des Typs B nur zwei Positionen möglich: Anteposition und Postposition. Typ D mit weder-konditionaler-noch-temporaler Lesart. Fast 2/ 3 der Belege dieses Typs sind anteponiert. Mit anderen Worten, die Stellung der so genannten faktischen wenn-Konstruktionen weicht nicht unbedingt von der prototypischen syntaktischen Stellung der rein-konditionalen ab, die auffällig häufig anteponiert auftreten. 9 Möglicherweise ist dieses Ergebnis durch die Beschaffenheit des Korpus zu erklären, in dem die meisten generischen we««-Relationen in der Gesprächssorte „Gerichtsverhandlungen“ Vorkommen. Den Regeln einer Gerichtsverhandlung zufolge darf der Richter, um vor der Urteilsverkündung Neutralität zu bewahren, nicht mit weil argumentieren, sondern lediglich mit dem sogenannten faktischen, weniger kategorischen wenn, das eine Distanzierung vom Gesagten erlaubt. Ich fasse diesen Punkt zusammen: Die Präferenzstellung des we««-Konnekts im Korpus ist eindeutig die anteponierte. Beschränkungen in der Stellung des internen Konnekts wurden bei den als temporal interpretierbaren wenn- Relationen festgestellt: Das w««-Konnekt in temporaler Lesart kommt im Gesamtkorpus weder desintegriert noch in das externe Konnekt parenthetisch eingeschoben vor. Dagegen konnten Relationen mit dem eingeschobenen w<? «tt-Konnekt als weder-konditional-noch-temporal am häufigsten interpretiert werden. Nachdem diese Korrelationen zwischen Bedeutungstyp und syntaktischpositioneilen Präferenzen beschrieben wurden, soll nun im nächsten Abschnitt untersucht werden, ob es auch Korrelationen zwischen Bedeutungstyp und pragmatischen Kontexten gibt. 9 Vgl. dazu die Daten von Gohl (2002, S. 212), die die Häufigkeitsverteilung bezüglich der Stellungsvariation bei den begründeten wew? -K.onstruktionen untersucht: „Von den 46 mit wenn eingeleiteten Begründungen finden sich 28 im Nachfeld, 11 im Vorfeld und 7 im Vor-Vorfeld.“ 374 Anna Volodina 5. Kompatibilität mit Sweetsers Ebenentheorie Der nächste Schritt bei der Klassifizierung der wenw-Relationen ist die so genannte Ebenenselektion. In Anlehnung an das von Sweetser (1990) vorgeschlagene Modell, dem zufolge auch we««-Relationen pragmatisch ambig sein können und auf drei verschiedenen semantischen Ebenen operieren können, unterscheide ich die folgenden Realisierungsebenen von we«n-Relationen, deren „pragmatische Kontexte“ funktional und semantisch verschieden sind: (i) die Sachverhaltsebene („content domain“) (ii) die epistemischen Ebene („epistemic domain“) (iii) die Sprechaktebene („illocutionary domain“) Die Sachverhaltesebene bildet die Grundlage für die beiden anderen, die als markierte Fälle der ersten Ebene betrachtet werden können. Auf der Sachverhaltsebene wird eine propositionale Beziehung zwischen einer Bedingung und einem bedingten Sachverhalt hergestellt. Auf der epistemischen Ebene wird der Sachverhalt als faktisch erfasst, die wewz-Relation ist in solch einem Fall auf den sogenannten reduktiven Schluss zurückzufuhren. Auf den Sprechakt bezogene wenM-Äußerungen werden der sogenannten Sprechaktebene zugeordnet. In diesem Zusammenhang wurden nun die sechs Bedeutungstypen einer Probe nach ihrer Kompatibilität mit den Ebenen (i), (ii) und (iii) unterzogen. Nach der Beleganalyse ergibt sich Folgendes: 5.1 we««-Relationen auf der Sachverhaltsebene Auf der Sachverhaltsebene treten alle semantischen Varianten der wenn- Relationen auf. Diese Ebene ist auch zugleich die Domäne der temporalen we««-Relationen, die auf den anderen Ebenen nicht verkommen. Den einen Hauptzweig der Sachverhaltsebene bilden nicht-faktische wenn- Relationen, und zwar nicht-faktische, generische wenn-Relationen mit konditionaler Lesart (Beleg (1) <Fünfzig Dollar>) nicht-faktische, spezifische weiw-Relationen mit temporaler zukunftsbezogener Lesart (Beleg (3) <Kaffee vor dem Arzt>) nicht-faktische, spezifische wewn-Relationen mit konditionaler Lesart (Beleg (2) <Abgabe der Scheine>) wenn-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 375 Den anderen Hauptzweig dieser Ebene bilden dagegen faktische wenn- Relationen (wenn p, q ‘p ist kontextgegeben’): faktische, generische wenn-Relationen mit temporaler und vergangenheitsbezogener Lesart (Beleg (6) <Beschwerde>) faktische, generische wenn-Relationen mit kausaler Lesart (Beleg (7) <Mensch von Anfang an>) faktische, spezifische wnn-Relationen mit kausaler Lesart, die am folgenden Beispiel illustriert wird: (8) Morris-Aufsatz Die Empfehlung des Betreuers (BR) einen weiteren Aufsatz von Morris zu lesen, basiert auf der im Diskurs bereits erbrachten Information darüber, dass der Student (RS) während der Vorbereitung auf seinen Vortrag unter anderem <auch paar Sachen von morris> schon gelesen hat. Seinem Vorschlag schickt er eine mögliche mit wenn eingeleitete Begründungssequenz voraus. STUDIENBERATUNG - 1400.06 669 RS: also während ich 670 RS: mich mit dem * / mit dem mit dem mead beschäftigt hab 671 RS: hab ich auch paar Sachen von morris gelesenil * um 672 RS: mal zu sehen ja wie * weil er eben * morris sich oft 673 RS: auf mead bezieht oder viel über mead * er * hat ja 726 BR: wenn sie sich also wenn se da mal 727 BR: sowas gelesen haben und sie interessiern sich für 728 BR: morris^ * kann ich ihnen den aufsatz als 729 BR: zusammenfassende * da"rstellung * ä ä die versucht 730 BR: dem morris * als ganzen * ä Wissenschaftler * und 731 BR: zwar insbesondere als semio: tiker gerechtzuwerden 5.2 wenn-Relationen auf der epistemischen Ebene Die wenn-Relationen der epistemischen Ebene sind immer faktisch. Sie können sowohl auf einen konkreten Fall bezogen sein, als auch generisch verwendet werden: faktische, spezifische wewi-Relation (wenn q, p wobei ‘p ist kontextgegeben’) mit reduktivem Schluss (epistemische Annahme) faktische, generische wewi-Relation mit reduktivem Schluss (epistemische Annahme) (dazu auch IDS-Grammatik, S. 1908) 376 Anna Volodina 5.3 we«»-Relationen auf der Sprechaktebene Auf Grund der Spezifika der Sprechaktebene beschränkt sich die Zahl der semantischen Variationen auf zwei in spezifischer, faktischer und nichtfaktischer Verwendung. Nicht-faktisch sind zum Beispiel die mit wenn eingeleiteten Redebeitrage, in denen der Sprecher sogenannte „diskursorganisierende Floskeln“ äußert (dazu auch Pittner 1999, Günthner 1999). (9) Zuhören Mit einer vve/ w-Äußerung mahnt MG im folgenden Beispiel die fehlende Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners an: TALKSHOWS - 4050.026 4412 MG: wenn se ma eben zuhören wir woMen 4413 MG: keine gegensätze verkleistern/ * nicht-faktisch, spezifisch: -» konditional <Ich bitte meinen Gesprächspartner mir zuzuhören> <falls er meine Bitte erfüllt, fahre ich fort> wir wollen keine Gegensätze verkleistern. Die we««-Relationen, die als Begründungen von Fragen, Bewertungen, Aufforderungen wie im Beleg (10) <Ich verstehe nicht> auftreten, sind von evidentem Sachverhalt, daher auch faktisch. (10) Ich verstehe nicht SCHLICHTUNG - 3005.21 798 CC: [ja wamm warum sin se dann net| woanders 799 CC: hingegangen wenn ihnen des jetz so weh tut also ich 800 CC: versteh das nicht/ faktisch, spezifisch: —> kausal <Ich frage> Warum sind Sie in diesem konkreten Fall nicht woanders hingegangen, weil <Sie eben gesagt haben, dass > es ihnen jetzt so weh tut. Ich fasse zusammen: Die mit wenn eingeleiteten Relationen treten im Korpus in allen ausgewählten Gesprächssorten und auf allen Realisierungsebenen (auf der Sachverhaltsebene, auf der epistemischen Ebene und auf der Sprechaktebene) auf. In diesem Sinne ist wenn ein universell verwendbarer Konnektor. vitTm-Relationen: Schnittstelle zwischen Syntax, Semantik und Pragmatik 311 Auf der Sachverhaltsebene sind alle Varianten (s. Tab. 2) möglich. Wenn- Relationen erlauben auf der Sachverhaltsebene konditionale, temporale oder auch im Falle der Faktizität des vom internen Konnekt ausgedrückten Sachverhalts kausale Lesarten. Generell sind die auf der Sachverhaltsebene vorkommenden vverm-Relationen durch hohe syntaktische Integrationskraft gekennzeichnet: bei den meisten von ihnen tritt das interne Konnekt in anteponierter Stellung und in das externe eingebettet auf. Prosodisch gesehen weist die ganze Relation bei solch einer Stellung nur einen Hauptakzent und nur eine Intonationskontur auf. Die epistemische Ebene lässt auf Grund ihrer Spezifika nur wenn-Relationen in faktischer spezifischer und faktischer generischer Interpretation zu. Diese sind stets auf den reduktiven Schluss zurückzuführen. Die Sprechaktebene beschränkt sich auf uewn-Relationen in spezifischer faktischer und nichtfaktischer Verwendung. Im Falle der Faktizität des vom weiw-Konnekt bezeichneten Sachverhalts weisen sie kausale, bei Nicht-Faktizität konditionale Lesart auf. Die auf diesen beiden Ebenen vorkommenden wewi-Relationen sind durch geringere syntaktische Integrationskraft von wenn gekennzeichnet: Die häufigsten Positionen des internen Konnekts sind die Desintegration und der parenthetische Einschub. All dies lässt den Schluss zu, dass die temporale Lesart einer we««-Relation, deren internes Konnekt weder syntaktisch desintegriert noch parenthetisch eingeschoben vorkommt, die ausschließliche Domäne der Sachverhaltsebene ist. 6. 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Im syntaxorientierten Handbuch der deutschen Konnektoren (Pasch et al. 2003, im Weiteren ‘HdK’) wurde diese Kategorie übernommen, aber natürlich semantisch noch nicht erschöpfend beschrieben; dies soll ein zweiter Teil des HdK leisten, der in der von Gisela Zifonun geleiteten Abteilung Grammatik des Instituts für Deutsche Sprache im Entstehen ist. In diese Richtung soll dieser Beitrag aufbauend auf den o.g. Darlegungen von G. Zifonun weitere Schritte gehen. 1 1. Bestandsaufnahme: irrelevanzkonditionale Konnektoren Zur Signalisierung oder Kodierung „des Irrelevanzkonditionales“, also der entsprechenden Satzverknüpfungsrelation, stellt die deutsche Sprache Ausdrucksmittel vielfältiger Art bereit, lexikalische Einheiten wie auch bestimmte syntaktische Konstruktionen (vgl. neben der an dieser Stelle onomasiologisch vorgehenden GDS, S. 2319-22, etwa König/ Eisenberg 1984, S. 315). Ich nenne und behandle im Folgenden nur die Konnektoren: Wichtigster, prototypischer Vertreter ist sicherlich der (im HdK, vgl. S. 720, syntaktisch als Einzelgänger klassifizierte) Konnektor ob mit den Varianten ob ... ob ob ... oder ..., ob ... oder ob\ der zweite Teil kann in verschiedenen Kombinationen wiederholt verkommen {ob ..., ob ..., oder ob ... etc.). Mein herzlicher Dank für hilfreiche Anmerkungen zu einer früheren Fassung dieses Textes geht an Eva Breindl, Helmut Frosch, Monika Urbanik und Klaus Vorderwülbecke. 382 Ulrich Hermann Waßner Die bedeutungsbewahrende Ersetzbarkeit durch diesen Konnektor kann als Test für Irrelevanzkonditionalität dienen. 2 Dieses ob kann durch vorangestelltes egal! gleich(-gültigl-viel) erweitert werden dann muss kein zweiter Teil im obigen Sinn folgen. Ebenfalls ein Einzelgänger (vgl. HdK, S. 721) ist sei es ... sei es / sei es ... oder / sei es ... oder sei es (mit der Variante sei's (dass)). Daneben findet sich die Konnektorenkombination auch wenn sowie die „Steigerung“ des Konditionales wenn durch eine Gradpartikel: selbst/ sogar wenn ... (ggf. + noch so + Adjektiv/ Adverb). 3 2. Definition: die diesen Konnektoren zugrunde liegende Relation Aus der Bedeutung dieser Konnektoren (und der anderen Ausdrucksmittel) ist eine Definition der semantischen Kategorie des Irrelevanzkonditionales als der Relation, die diese Wörter denotieren, abzuleiten. Nach Zifonun handelt es sich um eine bestimmte Art von wie ich sagen würde - Satzverknüpfungsrelation, nämlich eine konditionale zwischen den von den Konnekten denotierten Sachverhalten, „einem Konsequens und einer Menge von Antezedensbedingungen, die ein ganzes Spektrum von Möglichkeiten mehr oder weniger erschöpfend erfassen. Dabei wird ausgedrückt, daß keine dieser Möglichkeiten die Gültigkeit des Konsequens beeinflußt.“ (GDS, S. 2319, meine Fettung; ähnlich auch HdK, S. 265 und 630). Mit anderen Worten, es geht um die „Negation der von ob ausgedrückten Bedingungsrelation“; zum Ausdruck gebracht wird: „Der Sachverhalt, den der von ob regierte Ausdruck bezeichnet, ist keine hinreichende Bedingung für die Faktizität des vom Bezugssatz bezeichneten Sachverhalts.“ 4 So motiviert sich 2 Womit man dann, wie Zifonun, auch zu Ausdrucksvarianten kommt, die keine Konnektoren im Sinne des HdK sind. So lässt sich der Beleg Wie das Land auch bewirtschaftet wird: einzeln oder gemeinsam die Bauern müssen im Konsum kaufen. (GDS, S. 2322) paraphrasieren mit Ob das Land einzeln oder gemeinsam bewirtschaftet wird ... 3 Einer besonderen Behandlung bedürfen Konnektoren wie der Subjunktor ungeachtet dass, etwa im Sinne von ‘folgenden Faktor lasse ich dabei unberücksichtigt’, die möglicherweise eine Entsprechung von Irrelevanzkonditionalen auf der epistemischen und argumentativen Ebene darstellen; hier ist noch einiges über das Verhältnis zu den Konzessiven zu klären. 4 Die Redeweise von der Negation der Bedingungsrelation und davon, dass (genauer: ) die einzelnen Sachverhalte, die als (gewissermaßen scheinbare) Antezedensbedingungen fungieren, keine hinreichende Bedingung für die Faktizität des Konsequens sind, bedarf der genaueren aussagenlogischen Fassung, um nicht missverstanden zu werden. Ich kann Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 383 auch die Bezeichnung: Sie leitet sich von „der Irrelevanz des von der ob- Phrase bezeichneten Sachverhalts für die Faktizität des vom Bezugssatz bezeichneten Sachverhalts“ ab (alles HdK, S. 632, meine Fettungen; vgl. auch S. 672). 5 Eines der angegebenen defmitorischen Elemente lässt sich zumindest als generelles Postulat und für die sprachliche Oberfläche nicht aufrechterhalten, nämlich, wie das FIdK zu ob schreibt, „Damit ob als ein Irrelevanzkonditionale bildender Konnektor interpretiert werden kann, muss in dem von ihm regierten Ausdruck [dem „internen Konnekt“] eine Alternative ausgedrückt sein“ (S. 632). 6 Dies kann syndetisch -ob pi oder (ob) p2 - oder asyndetisch (ob p, ob q) geschehen (vgl. FldK, S. 672). Diese Forderung trifft als eine an die sprachliche Gestalt für den speziellen Konnektor ob, wenn es alleine steht, wohl zu, aber nicht auf andere Irrelevanzkonditionalkonnektoren, etwa selbst wenn und auch für egal ob etc. Diese eröffnen die Möglichkeit, auch ohne explizite in das interne Konnekt eingebettete Altemativrelation vorzukommen. In vielen Fällen wird nur ein Sachverhalt im Nichtbedingungs- Konnekt explizit denotiert, z.B.: (1) a. Egal, ob 4.500 Klöckner-Arbeiter etwas produzieren, nach dem der Markt verlangt: die neuen Stamokaps wollen die Stahlhütte retten, um zumindest die Arbeitsplätze zu erhalten. (die tageszeitung, 22.12.1993, S. 17) b. Egal, ob diesmal das Milliardenspektakel ein Erfolg wird, Tsutsumis Plan ist in allen Punkten aufgegangen. (Die Zeit, 5.2.1998, S. 60) c. Egal, ob die persönliche Einstellung zum Berufin einem Tief steckt: Lehrpersonen müssen ohne Unterbruch einfach funktionieren [...]. (St. Galler Tagblatt, 20.2.2001, o.S.) darauf nicht näher eingehen, aber auf König/ Eisenberg (1984, S. 315) und Zaefferer (1987, S. 264f., auch S. 283 Fn. 3) verweisen. Die Sprechweise „Irrelevanzkonditionale“ geht wohl auf König/ Eisenberg (1984, S. 314f.) zurück. - In der einschlägigen Literatur finden sich vergleichbare Definitionen, aber andere Bezeichnungen der Klasse (vgl. Zaefferer 1991b, S. 1135), etwa Konzessivkonditionale (vgl. König 1986, 1994; König/ van der Auwera 1988, vor allem S. 106f. und 117-123) oder Unkonditionale (vgl. Zaefferer 1990, 1991a). Letztere sind nicht zu verwechseln mit den Inkonditionalen, wie Hermodsson (1973) vorschlägt, die Konzessiven zu bezeichnen. 6 Vgl. auch die Begriffsbestimmung von König/ Eisenberg (1984, S. 327). 384 Ulrich Hermann Waßner Hier wie in vergleichbaren Fällen 7 lässt sich aber natürlich ohne Bedeutungsveränderung jeweils ... oder nicht ergänzen. Da also aus der Irrelevanz eines Sachverhalts als Bedingung oder Ursache auch die Irrelevanz seines Gegenteils zu folgen scheint, ist die obige Überlegung zwar formulierungsorientiert berechtigt, gilt aber für die Semantik nicht: Wo immer gilt, dass „egal ob p, q“, gilt wohl auch „egal ob -.p, q“, also zusammengenommen „egal ob p oder ob -p, q“, so dass in der logisch-semantischen Struktur tatsächlich immer eine Alternative vorhanden sein dürfte. 8 In diesem Sinne verstanden, kann man denn doch semantisch von einer Menge von Antezedensbedingungen als dem einen Glied der Beziehung ausgehen, wenn auch eben nicht davon, dass dies sprachlich seinen expliziten Widerhall finden muss. Den Irrelevanzkonditionalen (als eine semantisch bestimmte Art von Konnektoren verstanden) unterliegt also wesentlich eine Konditionalrelation (p ist bzw. pi ... p n (jede für sich) sind bzw. wären hinreichende Bedingung(en) für q), die aber in dem Sinn zu verstehen ist, dass keine einzelne dieser Bedingungen tatsächlich (in der unterstellten Realität) vorliegen muss, damit das Konsequens stattfindet; aus dem Vorliegen des Konsequens folgt keine der Bedingungen zwingend, es findet statt, gleichgültig, ob, und unabhängig davon, ob irgendeine der scheinbaren Bedingungen stattfindet sie sind nicht notwendig. In diesem Sinne wird die unterstellte Bedingungsbeziehung negiert. Die Antezedens-Sachverhalte haben faktisch keine Wirkung auf (und sind insofern irrelevant für) das Bestehen des Konsequens- Sachverhalts. Und (das kann zumindest für den Fall der exhaustiven Liste sogar formal daraus abgeleitet werden): 9 Im assertiven Fall wird der vom Konnekt q denotierte Sachverhalt, also das Konsequens, als faktisch beste- 7 So etwa auch im folgenden Beleg aus der GDS (S. 2320f.), Ganz gleich, ob der utopische Raketen-Abwehrschirm jemals auch nur halbwegs perfekt funktionieren kann: Moskau sieht im amerikanischen Streben, ein umfassendes Verteidigungssystem im Weltraum aufzubauen, den gezielten Versuch, die bisherige nukleare Parität aus den Angeln zu heben. (Die Zeit, 1.2.1985, S. 1), wo ebenfalls nur eine (Nicht-)Bedingung genannt wird. 8 Dass nur der eine der beiden alternativen Fälle explizit erwähnt wird, liegt wohl daran, dass hier nur der positive Fall kommunikativ relevant ist und d.h., dass nur er als für die Konsequenz irrelevant gekennzeichnet werden muss im Fall (1) c. z.B.: wenn ihre Einstellung nicht in einem Tief steckt, ist es nicht oder zumindest wenig verwunderlich, wenn Lehrer funktionieren. 9 Vgl. schon König/ Eisenberg (1984, S. 315) sowie Zaefferer (1987, S. 264). In dem Spezialfall ob p oder nicht, q gilt, dass wenn (p oder nicht-p), dann q logisch äquivalent zu q ist. Solcherart sind die beiden Klauseln der Definition vermittelt. Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 385 hend behauptet, 10 die Sachverhalte pj aber nicht (ob hält ja auch in anderen Zusammenhängen den Wahrheitswert des von ihm abhängigen Satzes offen! )." Der Sprecher signalisiert: q gilt (der von q denotierte Sachverhalt findet statt, ist der Fall) realiter unabhängig von (Bestehen, Vorliegen oder Nichtvorliegen der möglichen Bedingungen) p*, geht mit allen pj (im Spezialfall: sowohl mit p als auch mit nicht-p) zusammen. Die Alternativen im Nichtbedingungskonnekt können von verschiedener Art sein. Es kann sich um Sachverhalte in einem komplementären Verhältnis zueinander handeln, wie vor allem 'm ob ... oder (ob) n/ cfe-Beispielen, wo die Bedingungen in einem kontradiktorischen, absoluten Gegensatz zueinander stehen, dem Prinzip des tertium non datur gehorchen (das entspricht der durch Klausel (2) in der Definition von König/ Eisenberg 1984, S. 315, gegebenen Unterart). Ein Beispiel zu diesem Spezialfall: (2) Ich häng' gern am Zoo ab, weil die Leute mich so akzeptieren, wie ich bin. Egal ob ich Drogen konsumier' oder nicht, (die tageszeitung, 19.9.1996, S. 23) (An diesem Beispiel sieht man, dass die irrelevante Bedingung auch nachgestellt sein kann, was problemlos möglich ist, da das andere Konnekt ja unbedingt behauptet wird, also nicht als unbehauptet markiert werden muss.) Die disjungierte Negation kann natürlich sprachlich genauso gut fehlen, womit wir dann bei dem oben diskutierten Fall eines einzigen Antezedenten sind. Die Bedingungen können aber auch in dem schwächeren Verhältnis der Antonymie (des konträren Gegensatzes; vgl. (3) bei König/ Eisenberg 1984, S. 315) zueinander stehen, und in diesem Fall kann es sich auch um eine non-exhaustive Aufzählung, eine offene, unvollständige, exemplarische Liste handeln, was oft aus Hintergrundannahmen hervorgeht, wie in (3) Ob die Drogenfahnder wieder Rekordfunde melden konnten, ob Lkw-Blockaden den Verkehr lahmlegten, ob die sommerliche Blechlawine das berühmte „nicht’s [so im Original! uw] geht 10 Zum Zusammenhang dieser Tatsache mit der syntaktischen Nicht-Integration der ob- Phrase in den Bezugssatz und zu den Konsequenzen für die Interpunktion (häufig vorkommender Doppelpunkt oder Gedankenstrich; „topologische Desintegration“) vgl. GDS, S. 2322 (q „ist antezedensunabhängig assertierbar“) und HdK, S. 632. 11 Wir werden sehen, dass sekundär die Faktizität doch wieder hinzukommen kann. Wie bei der Konditionalität allgemein ist dies aber kein Merkmal der betreffenden Relation. 386 Ulrich Hermann Waßner mehr“ ansagte; ob Demonstranten die Autobahn besetzten, ob menschliche Katastrophen über Flüchtlinge hereinbrachen, ob Tierleid auf Transportern deutlich wurde. Immer war eine Schar Journalisten von dies- und jenseits der Grenze am Ort des Geschehens. (Salzburger Nachrichten, 2.4.1998, o.S.) Auf jedes ob folgt die Nennung einer als einzelner (für sich) positiven hinreichenden Bedingung: Bei Vorliegen einer jeden einzelnen der Bedingungen dieser Liste waren Journalisten da. Nichts wird darüber ausgesagt, was geschah, wenn keine dieser Bedingungen erfüllt war, ob sie also (in ihrer Gesamtheit) notwendig sind. Eine mächtige konversationelle Implikatur besteht aber dahingehend, dass die Fälle nur exemplarisch aufgezählt sind und auch unter anderen hier nicht genannten Umständen Journalisten da waren, das Konsequens auch unter weiteren, nicht genannten Bedingungen stattfand, dass also alle zusammen und desgleichen jede einzelne nicht notwendig sind. Ebenfalls eine offene Liste liegt vor in (4) Kein Zweifel, daß Flüchtlinge, „egal ob Inder, Syrer oder Neger“ in Becklem unerwünscht sind, (die tageszeitung, 17.11.1986, S. 9) Man kann paraphrasieren: Flüchtlinge sind in Becklem unerwünscht. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Inder sind (oder nicht), ob sie Syrer sind (oder nicht) etc., d.h.: Wenn sie Inder sind, sind sie unerwünscht; wenn sie Syrer sind, sind sie unerwünscht; etc. aber ein (unerwünschter) Flüchtling muss kein Inder sein, kein Syrer etc. auch wenn er nichts davon ist, ist er unerwünscht. Die Liste der Antezedenten kann auch dezidiert als offen gekennzeichnet werden; typisches sprachliches Mittel dazu sind gewisse nichtkonnektorale der von Zifonun angeführten Irrelevanzkonditionale, wie {egal ob ...) oder wauch immer in (5) a. Der «Flugi-Ball» verspricht einmal mehr [...] alles, was des Fasnächtlers Herz höher schlagen lässt. Das Motto des Abends ist frei; egal ob Hexen, Clowns oder was für Gestalten auch immer, an Ideenreichtum und Originalität der Böögen sind keine Grenzen gesetzt. (St. Galler Tagblatt, 22.1.1999, o.S.) b. Strukturen schaffen heißt die Devise, „egal ob für die Zweite oder Dritte Liga oder mit welchem Präsidenten auch immer“ (Schlageter). (Mannheimer Morgen, 30.4.2002, o.S.) Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 387 Prinzipiell ist sogar damit zu rechnen, dass die Listenmitglieder gar nicht konkret angegeben werden können. Der folgende Beleg aus der GDS (S. 2322, dort (23)) zeigt, dass noch nicht einmal klar sein muss, welche Einheiten genau die Liste bilden; somit bleibt sie kommunikativ offen, auch wenn sie in der Denotatswelt geschlossen ist: (6) Wer auch immer dieses Amt antreten mag, er gehört zu den Protagonisten im Prozeß der Selbstklärung der Grünen. (Die Zeit, 7.6.1985, S. 5) ‘Für alle beliebigen x gilt, wenn x dieses Amt antritt, gehört er etc.’; irrelevant ist hier die konkrete Füllung der Variablen x, sie ist keine (ausschließende oder fördernde) Bedingung dafür, ein Protagonist... zu sein. Schließlich sei noch belegt, dass die Irrelevanz sich sprachlich „steigern“ lässt (obwohl das natürlich ein logisches Unding ist), nämlich durch Quantoren (völlig gleichgültig ob, ganz gleich ob etc.): (7) Gregor Gysi wird im nächsten Bundestag sitzen, ganz egal, ob es seine Partei schafft oder nicht, (die tageszeitung, 18.8.1998, S. 7) Wie man sich übrigens von der Bezeichnung „Irrelevanzkonditional“ irreführen lassen kann, zeigt exemplarisch der Eintrag im Lexikon Sprache (Glück (Hg.) 2000, S. 319). Demnach liegt die „Konstruktionsbedeutung“ des „Satzgefüges Irrelevanzkonditional“ „darin, daß die Proposition des Nebensatzes durch die Proposition des Hauptsatzes irrelevant wird“. Wäre sie tatsächlich irrelevant, bräuchte man sie nicht zu äußern für diese Erkenntnis muss man nicht erst Grice bemühen. (Das Bestehen oder Nichtbestehen von) p ist nicht selbst und an sich irrelevant, sondern nur in dieser Funktion und in diesem Zusammenhang - (als Voraussetzung) für q. - Glücks Beispiel, Wenn der Wein auch sauer ist, wird Klaus ihn doch trinken, ist übrigens deutlich konzessiv (vgl. die Definition von Breindl 2004, S. 4) und nicht irrelevanzkonditional: Behauptet wird p & q, nicht nur q; präsupponiert wird die Erwartung, dass Klaus keinen sauren Wein trinkt, was bei Irrelevanzkonditionalen keine obligatorische Entsprechung findet; 12 dafür ist die 12 Diese Diskurspräsupposition fehlt z.B. in Beispielen wie (10) c./ (10) c.'; dass in Äußerungen wie Ob es regnet oder schneit, wir wandern! etwas Vergleichbares vorliegt, muss aus anderen Faktoren erklärt werden diese Äußerung entspricht in allen anderen Hinsichten der Bestimmung der Irrelevanzkonditionalen. 388 Ulrich Hermann Waßner Säure des Weines eben nicht wie bei diesen eine hinreichende Bedingung dafür, ihn zu trinken, sondern ist kein Hinderungsgrund für Klaus dagegen, ihn zu trinken. 3. Position in der Systematik Ich will kurz ein paar Worte dazu sagen, wo Irrelevanzkonditionale in einer Systematik der Satzverknüpfungsrelationen im Feld ihrer nächsten Verwandten einzuordnen sind. Zaefferer etwa hat festgestellt (1991b, S. 1135): „unconditionals are at the crossroads of four related construction types: regular conditionals, concessives, interrogatives, and free relatives“. Gewisse Zusammenhänge mit den Konzessiven wurden eben schon angesprochen und schlagen sich auch in alternativen Klassenbezeichnungen nieder; nun soll gezeigt werden, dass unsere Konnektoren nicht auf der Konzessivität basieren, sondern auf Konditionalität. 3.1 Irrelevanzkonditionalität als zusammengesetzte Relation: Disjunktivität/ Altemative und Konditionalität als Komponenten Formulierungen wie in König/ Eisenberg (1984, S. 315, meine Fettung), „bei den Irrelevanzkonditionalen [werde] eine konditionale Beziehung nicht zwischen zwei, sondern zwischen einer Menge von Propositionen im Vorsatz und einer Proposition im Nachsatz ausgedrückt“, könnten bei flüchtigem Lesen dazu verführen, die Irrelevanzkonditionalitäts-Relation für genuin drei- oder mehrstellig zu halten. Dem ist entgegenzuhalten, dass es sich vielmehr um eine zweistellige Relation handelt, nämlich gmndlegend um eine Bedingungsrelation, in deren eines Argument (bzw. in das Antezedenskonnekt) eine andere, nämlich eine Disjunktion, eingebettet ist, so dass tatsächlich das eine Beziehungsglied oder Relatum aus einer Menge von Propositionen besteht. Auf diese Struktur der denotierten Relation deutet bereits die sprachliche Ausdrucksform ob pi oder ob p 2 , q hin, in der ob für die Konditionalität steht 13 (und oder für die Disjunktion). Nicht ein p allein 13 Wegen der intimen Verwandtschaft von Interrogativität (indirekter Fragesatz: Satzfrage) und Konditionalität (bei beiden werden wie bei Assertionen vollständige Propositionen geäußert, aber dies anders als bei Assertionen ohne behauptende Kraft) kann ob beide Funktionen übernehmen (vgl. engl, if: ask ; / 'fragen ob' vs. ifp q 'wenn p q') (vgl. näher HdK, S. 630). - Viele Irrelevanzkonditionalkonnektoren enthalten ja den Konditionalkonnektor wenn noch als einen Bestandteil, etwa auch wenn. Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 389 ist „irrelevant“, sondern dann auch gleich seine Negation oder alternative Sachverhalte. Es handelt sich also um eine zusammengesetzte Relation. Da wir aber Ausdrucksmittel finden, deren Bedeutung wohl kaum ohne eine solche Kategorie zu beschreiben ist (s. Kap. 1. und 5.), ist sie eigens in eine Systematik aufzunehmen. Die Irrelevanzkonditionalität ist also tatsächlich als ein Spezialfall der Konditionalität in eine Systematik der Satzverknüpfungsrelationen einzuordnen, also die entsprechenden Konnektoren als eine spezielle Unterart der konditionalen aufzufassen, was diese Bezeichnung unter den alternativen (vgl. Fn. 5) als angemessen erscheinen lässt. 14 Deutlich wird der Faktor Konditionalität im Kontrast zu einer ebenfalls explizit genannten, aber tatsächlich relevanten Bedingung: (8) a. [IRR. 1: ] Damit geht zwar ein wenig von der Romantik des Sports verloren, aber übermäßig wählerisch darf ein Schlittenhund-Besitzer in hiesigen Regionen ohnehin nicht sein. [IRR. 2: ] Egal ob der Vierbeiner nun Siberian Husky, Grönlandhund, Samojede oder Alaskan Malamute heißt - [KOND.: ] wer sein Tier liebt, gönnt ihm reichlich Auslauf. (Frankfurter Rundschau, 9.1.1999, S. 34) b. [KOND.: ] Wer verliert, schiesst, [IRR.: ] egal, ob auch Unschuldige sterben. (Züricher Tagesanzeiger, 31.7.1999, S. 10) ln (8) haben wir „eingebettet“ auch „Relevanz“-Konditionale in Gestalt von Relativsätzen (Wenn jemand sein Tier liebt, gönnt er ihm reichlich Auslauf; wenn jemand verliert, schießt er). Diesen steht das Irrelevanzkonditionale gegenüber: Er gönnt ihm reichlich Auslauf unabhängig von der (Bezeichnung der) Rasse des Tiers; er schießt (dann), ob Unschuldige sterben oder nicht. 14 Zifonun fuhrt in der GDS eine Gruppe (iv) von sprachlichen Irrelevanzkonditional-Signalen an, für die der Verberstsatz ein wesentliches Merkmal ist {sei ..., möge ...; vgl. S. 2321/ 2). Es handelt sich dabei nicht um Konnektoren; erwähnenswert ist diese Gruppe wegen der auch hier bestehenden Analogie zur Konditionalität, die ja ebenfalls ohne Konnektor mit Vl-Sätzen ausgedrückt werden kann. - Dass allgemein bei Konditionalität Faktizität der Konnekte als sekundäres Phänomen verkommen kann, wurde schon erwähnt. Die Zusatzbedingung „q wird behauptet“ ist somit kein Grund, die Irrelevanzkonditionalen nicht unter die Konditionalen zu rechnen, auch wenn diese im Grundfall hinsichtlich der Faktizität der Konnekte neutral sind. 390 Ulrich Hermann Waßner Eine Beobachtung am Rande belegt die enge Verwandtschaft von Irrelevanzkonditionalen und Konditionalen noch weiter: Wie wir (sinnvoll interpretierbare! ) Verbindungen von Kausalen und Konzessiven wie nicht weil, sondern obwohl und sogar nicht nur weil, sondern auch obwohl haben, haben wir auch vergleichbare Kombinationen von Konditionalen und Irrelevanzkonditionalen, wie z.B.: (9) Die vom Stadtrat angeführten Daten zeigen eindrücklich, wie gefährdet Fussgänger noch immer sind, selbst oder gerade wenn sie den Fussgängerstreifen benützen. (St. Galler Tagblatt, 20.8.1999, o.S.) Auch die folgende mögliche Paraphrase von (2) zeigt augenfällig, dass eine Konditionalrelation zugrunde liegt, vor allem aber auch, wie sich logische Prinzipien in diesem Bereich sprachlich widerspiegeln: (2') Ich häng' gern am Zoo ab, weil die Leute mich so akzeptieren, wie ich bin, wenn ich Drogen konsumier' und mich auch so akzeptieren, wie ich bin, wenn {ich) nicht {Drogen konsumier'). Hier kann statt des spezifischen Irrelevanzkonditionales der Konditionalkonnektor verwendet werden. Aus oder wird dann allerdings und). 15 Zusammenfassend: Irrelevanzkonditionale sind „logisch“ als Konditionale zu fassen, in deren (Nicht-)Bedingungsargument eine Altemativrelation eingebettet ist; sprachlich kann sich das auf zwei verschiedene Arten äußern: das Antezedenskonnekt kann eine in einen o^-Subjunktorsatz eingebettete Disjunktion oder eine Disjunktion von o6-Phrasen sein. Im einfachen Fall nur zweier Disjunkte gibt es also folgende Möglichkeiten für die sprachliche Markierung des Antezedens der Irrelevanzkonditionalrelation (ich habe schematisch die Binnenstruktur durch Klammerung verdeutlicht): ob (pi oder p 2 ) oder {ob pi) oder {ob P2). Ob dieser Unterschied relevant ist, müssen künftige Forschungen zeigen. 15 Wie (2") in Kap. 5. noch einmal zeigen wird, kann hier aber sprachlich statt und wenn der in (2') gefettete Teil wegfällt auch oder stehen; dies entspricht dem generellen Prinzip, dass undbzw. oder sprachlich extensional (Vereinigungsvs. Schnittmenge von Klassen) oder intensional (dgl. von Eigenschaften) gelesen werden können, was in bestimmten Kontexten zu genau entgegengesetzten Interpretationen führt (Übergrößen für Dicke und/ oder Große). Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 391 3.2 Faktizität: Irrelevanzkonditionale zwischen Konditionalen und Konzessiven Was die Faktizität angeht, stehen Irrelevanzkonditionale zwischen Konditionalen und Konzessiven, woraufja auch die von König (vgl. etwa 1986) und anderen geprägte alternative Bezeichnung konzessive Konditionale hindeutet. Das Irrelevanzkonditionale nimmt semantisch eine Zwischenstellung zwischen Konditionalität und Konzessivität ein: Wie beim Konditionale und anders als beim Konzessivsatz kann nicht auf die Gültigkeit des Antezedens geschlossen werden; wie beim Konzessivsatz und anders als beim Konditionalsatz kann auf die Gültigkeit des Konsequens geschlossen werden. (GDS, S. 2319) M.a.W.: Wie bei den Konzessiven sind bei der großen Mehrheit der Konnektoren (kausale, adversative, temporale u.a.) beide Konnekte in Abwesenheit von Signalen, die in eine andere Richtung weisen, als positiv faktisch anzusehen. Anscheinend genau nur bei den echten („Relevanz-“)Konditionalen und den Alternativen/ Disjunktiven sind dagegen beide Konnekte neutral bzgl. ihrer Faktizität: in falls p, dann q und in entweder p oder q werden je weder p noch q behauptet, wenn, falls, oder etc. nehmen die behauptende Kraft von beiden Konnekten weg, nur die ganze Konditional- oder Alternativaussage, gewissermaßen das Bestehen der Relation selbst, wird behauptet. Die Irrelevanzkonditionalen vervollständigen das systematische Bild. Sie liefern den gemischten Fall und unterscheiden sich darin von ihren Verwandten, sowohl von den Konditionalen wie auch von den Konzessiven: Irrelevanzkonditionale „tilgen“ (nur) die behauptende Kraft des Antezedens. Das Antezedenskonnekt ist hinsichtlich der Faktizität neutral, über die Tatsächlichkeit des entsprechenden Sachverhalts wird nichts ausgesagt, aber das Konsequenskonnekt wird positiv behauptet. In besonders deutlichen Fällen erweist sich die scheinbare Bedingung schon deswegen als gleichgültig, weil die Konsequenz in der Vergangenheit also bekanntermaßen schon eingetreten ist, während sich erst in Zukunft herausstellen wird, ob die Pseudobedingung erfüllt wird - oder nicht, so in (1) b.: Es muss sich noch zeigen, ob „das Milliardenspektakel ein Erfolg wird“, der Plan aber ist bereits aufgegangen. Allerdings kann offenkundig wie auch bei wenn „Faktizität“ sekundär „hinzugefügt“ werden, womit man jedoch in beiden Fällen den eigentlichen Bereich der Relation verlässt, da die (Nicht-)Bedingung nicht mehr a-faktisch 392 Ulrich Hermann Waßner ist und also keine erwogene (Nicht-)Voraussetzung, sondern ein tatsächlich (nicht) stattgefundenes Geschehen. Positiv faktisch sind etwa die „Bedingungen“ in (3), wohl wegen des Präteritums jedenfalls nicht aufgrund des Irrelevanzkonditionalkonnektors. Beide Male lässt sich durch Konjunktiv II auch Kontrafaktizität herstellen; selbst! auch wenn / ob er gesungen oder getanzt hätte, wir lieben ihn benennt zwar immer noch die Liebe als unabhängig von den möglichen Bedingungen/ Gründen, suggeriert aber, dass diese tatsächlich nicht eingetreten sind (was eben an der Liebe auch nichts ändert). Dieselben Sachverhalte p (Leverkusen gewinnt) und q (Kaiserslautem steigt ab) können als in verschiedenen dieser Relationen zueinander stehend kommuniziert werden: 16 (10) a. Wenn Leverkusen gewinnt, steigt Kaiserslautern ab. b. Obwohl Leverkusen gewonnen hat, ist Kaiserslautern abgestiegen. c. Auch/ Selbst/ Sogar wenn Leverkusen gewinnt, steigt Kaiserslautern ab. c'. Ob Leverkusen gewinnt oder nicht, Kaiserslautern steigt ab. (Die Beispiele sind von Florin 1997 inspiriert.) (10) a. ist konditional zu lesen. Keines der beiden Konnekte wird als gültig behauptet, sondern nur der positive Bedingungszusammenhang zwischen beiden, wobei offen bleibt, ob es sich um eine notwendige, eine hinreichende Bedingung oder eine Äquivalenz handelt. (Man kann für alle drei Arten von Sachzusammenhängen eine Tabellensituation und Spielpaarungen angeben.) Aus der Logik ist bekannt, dass mit (10) a. nichts darüber ausgesagt wird, was geschieht, wenn Leverkusen nicht gewinnt außer die Formulierung ist als Äquivalenz gemeint. Beim konzessiv zu lesenden (10) b. werden dagegen beide von den Konnekten denotierte Sachverhalte als faktisch bestehend, als Tatsachen behauptet. Pragmatisch präsupponiert wird die Normalerwartung, dass wenn Leverkusen gewinnt/ gewonnen hätte - Kaiserlautem nicht absteigt/ abgestiegen wäre' 7 (vgl. Breindl 2004, S. 4); dieser Fall wird als nicht eingetreten gekennzeichnet. 16 Zur Diachronie (KOND > IRRKOND > KONZ) finden sich übrigens Hinweise bei König/ Eisenberg (1984, S. 326). 17 Die Änderungen in Tempus und Modus spielen für die Argumentation keine Rolle. Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 393 Die Irrelevanzkonditionalen wie (10) c. stehen hinsichtlich der Faktizität zwischen den beiden vorherigen Fällen: q wird als unabhängig von p und von -"p bestehend behauptet, da sowohl p als auch ^p bereits hinreichend für q sind, keines aber notwendig ist. Wenn L. gewinnt, steigt K. ab, und wenn L. nicht gewinnt, steigt K. auch ab, was logisch äquivalent zu der einfachen Aussage K. steigt ab ist. Das Bestehen oder Nichtbestehen von p hat keinen Einfluss auf das Bestehen von q; insofern kann man von einem (sachlichen, nicht kommunikativen) Nicht-Zusammenhang sprechen. 4. Konverse Die o.g. Definition der Irrelevanzkonditionalen zielt auf die von den entsprechenden Konnektoren denotierte Satzverknüpfungsrelation (das ist die Grundlage, oberste Ebene einer semantischen Konnektorenklassifikation). Wie bei den meisten, vor allem den asymmetrischen, Relationen und speziell auch bei der Überklasse (dort: Konditional i.e.S. - Markierung der Bedingung bzw. Voraussetzung: wenn, falls', vorausgesetzt^) dass u.v.a. vs. Konsequental - Folgemarkierung: dann, so) gibt es in diesem selben Rahmen (Relation der „aufgehobenen Bedingung“) zwei verschiedene, zueinander „konverse“ Konnektorenklassen. Die bisher (und in der GDS ausschließlich) behandelten markieren die Nicht-Bedingung(en). Daneben gibt es aber auch solche, die das andere Relatum derselben Relation markieren, also in dem Konnekt stehen, das den als unabhängig behaupteten Sachverhalt denotiert. Ein Beispiel (der zum Verständnis des Belegs wohl notwendige unmittelbare Vorkontext lautet: Jürgen Schrempp und Co. würden, sollten sie verzichten, wohl einem moralisch unhaltbaren Zustand einen kleinen Teil der Spitze nehmen ökonomisch gesehen wäre es nichts anderes als die Senkung persönlicher Sparquoten.)'. (11) Der zum „ Verzicht gezwungene Normal-Arbeitgeber aber würde weniger konsumieren, weil er sein Geld zum Leben braucht. Der Nachfrage-Mangel, an dem die Konjunktur ohnehin krankt, nähme zu. (Frankfurter Rundschau, 19.7.2004, S. 3) Das durch ohnehin markierte Konnekt ist zu vervollständigen als (q) die Konjunktur krankt an Nachfrage-Mangel. Dieser Sachverhalt existiert unabhängig von dem (p), dass der Normal-Arbeitgeber weniger konsumieren würde. Zwischen diesen Propositionen besteht das ‘ohnehin’-Verhältnis. Der Nachfrage-Mangel würde durch p eine nicht notwendige, zusätzliche Ur- 394 Ulrich Hermann Waßner sache verstärkt, „nähme zu“. Eine andere die eigentliche, schon hinreichende - Ursache für den Nachfrage-Mangel wird nicht angegeben; das ist auch nicht nötig. Eine Umformungsprobe (ohne relevante Konsequenzen verkürzt und aufs Wesentliche reduziert) verdeutlicht, dass dieselbe Relation vorliegt wie bei den Irrelevanzkonditionalen: (11') Ob der Normal-Arbeitgeber weniger konsumiert oder nicht, die Konjunktur krankt an Nachfrage-Mangel. Wir haben also innerhalb der Irrelevanzkonditionalrelation die folgenden beiden Unterarten von Konnektoren per Konversion: Pi-Markierung: s. Kap. 1. q-Markierung: 18 Kandidaten für diese Gruppe sind 19 vor allem: ohnedies, ohnehin, sowieso, eh jedenfalls, aufjeden Fall, in jedem Fall allemal in einer Bedeutungs-ZVerwendungsvariante wie in (12) a. Egal, ob man nun Esoterik differenziert betrachtet oder nicht, eine Gegenwelt zur Aufklärung ist sie allemal. (Tiroler Tageszeitung, 4.10.1997, o.S.) b. In dem weiten Feld zwischen medizinischem Ethos und pekuniärem Eigennutz wissen sich die Doktoren [...] geschickt so zu verhalten, daß dies allemal zu ihrem [...] Nutzen ist. (Die Zeit, 19.7.1985, S. 9) Auch die q-Markierer können in diesem Rahmen als synonym gelten. Sie haben genau auch die Bedeutung ‘q findet unabhängig davon statt, ob p der 18 Bei den Konversen ist das Konsequens-Konnekt obligatorisch postponiert. Da aber dem Antezedens-Konnekt keine behauptende Kraft zukommen darf und da der Konnektor dies erst nachträglich absichem kann, muss es auf andere Art sichergestellt werden. Daher sind Bezugskonnekte typischerweise Erwägungen oder Fragen, Alternativen oder modalisierte Aussagen. Default-Lesart von einfachen, unmodalisierten Konstativsätzen (vgl. HdK, S. 212ff.) ist ja die der positiven Faktizität. Will man diese Lesart verhindern, muss man eine von verschiedenen sprachlichen Ausdrucksformen nutzen, die die behauptende Kraft wegnehmen (etwa Modalisierung des Deklarativsatzes; Transformation in einen Fragesatz/ Verberstposition; indirekte Rede/ Konjunktiv I). 19 Einige davon finden sich bei König/ Eisenberg (1984, S. 315) in noch relativ vager Formulierung als „Pronominaladverbien“, die den Irrelevanzkonditionalen „entsprechen“. Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 395 Fall ist (oder nicht)’. 20 (Zu einer semantischen Untergliederung, d.h. zu einer individuellen semantischen Beschreibung dieser, wie ich sie i.e.S. nennen möchte, „Irrelevanzkonsequentalen“ sind noch weitere Studien vonnöten.) Auffällig ist, dass bei diesen Konversen zu den Irrelevanzkonditionalen häufig der oben diskutierte Fall „ohne explizite eingebettete Altemativrelation“ vorkommt. Generell kommen bei Relationen, zu denen es konverse Konnektoren gibt, - und nicht nur bei diesen nicht selten Doppelmarkierung (beider Konnekte) vor. Typisch ist der Fall obwohl p, trotzdem q. Auch in unserem Fall findet sich nicht sehr überraschend so etwas. Ein Beispiel mit je einem Irrelevanzkonditional und -konsequental: 21 (13) Ob Felder mit den Leistungen seiner Mannschaft zufrieden ist oder nicht, er hat ohnehin keine personellen Alternativen. (Salzburger Nachrichten, 3.1.1997, o.S.) Hier leistet das Irrelevanzkonditionale die wie oben gezeigt bei Irrelevanzkonsequentalen notwendige explizite Wegnahme der behauptenden Kraft im ersten Konnekt. 5. Asyndese Beruht die Interpretation als Irrelevanzkonditional-Relation tatsächlich auf dem Beitrag des Konnektors? Diese Frage wird üblicherweise getestet, indem der Konnektor weggelassen wird und man sich fragt, ob der verbleibende Ausdruck interpretierbar bleibt und wie er interpretiert werden kann oder muss, speziell, ob er bereits eindeutig als Irrelevanzkonditional zu verstehen ist. In unserem Fall ergibt sich allerdings das Problem, ob diese Relation überhaupt asyndetisch formuliert werden kann bzw. ob asyndetische Formulierungen überhaupt so interpretiert werden können. Prüfen wir die hier angeführten Belege, so zeigt sich noch einmal deutlich, dass eine zusammengesetzte Relation vorliegt; denn offenkundig können nicht beide Faktoren dieser Relation unversprachlicht bleiben, wohl aber einer von beiden: 22 20 Dazu passt in vielen Fällen auch der Aufschlusswert dieser Bildungen, sowieso z.B. ist völlig durchsichtig: ‘(es ist) im-einen-Fall ebenso-wie-auch im-anderen-Fall (gleich)’. Auch ohnedies eignet sich von seiner Etymologie her sehr schön für diese Lesart. 21 Breindl (2004) hat auch hierfür, für Markierung in beiden Relaten, ein Beispiel: Ob die Bayern gut oder schlecht spielen, sie gewinnen jedenfalls immer. 22 Ähnliches scheint übrigens für die finale Relation (damit, um zu) zu gelten, die als aus einer kausalen oder konditionalen Komponente (weil/ wenri) und einem modalen Faktor 396 Ulrich Hermann Waßner b. Wird das Milliardenspektakel diesmal ein Erfolg oder nicht, Tsutsumis Plan ist in allen Punkten aufgegangen. Ich häng' gern am Zoo ab, weil die Leute mich so akzeptieren, wie ich bin, konsumier' ich Drogen oder nicht. Kein Zweifel, daß Flüchtlinge, „Inder, Syrer oder Neger“, in Becklem unerwünscht sind. a. Das Motto des Abends istfrei; Hexen, Clowns oder anderes, an Ideenreichtum und Originalität der Böögen sind keine Grenzen gesetzt. b. Strukturen schaffen heißt die Devise, für die Zweite oder Dritte Liga undfürjeden beliebigen Präsidenten. a. [IRR. 1: ] Damit geht zwar ein wenig von der Romantik des Sports verloren, aber übermäßig wählerisch darf ein Schlittenhund-Besitzer in hiesigen Regionen nicht sein. [IRR. 2: ] Heiße der Vierbeiner Siberian Husky, Grönlandhund, Samojede oder Alaskan Malamute wer sein Tier liebt, gönnt ihm reichlich Auslauf. b. : Wer verliert, schießt, stürben auch Unschuldige. Es scheint also die Explizitierung des eingebetteten Altemativmarkers oder zu genügen. 21 Allerdings müssen in Fällen wie (5) zur Vermeidung des zweiten Irrelevanzkonditionals die Offenheit der Liste bzw. die universale Quantifikation anders formuliert werden. Ein Bedingungskonnektor muss nicht auch noch Vorkommen, jedoch kann die Konditionalität (die ja in der Ersatzformulierung (2') durch einen Konditionalkonnektor „sichtbar“ wurde) ggf. wie in (! ') b., (2") oder (8') b. (das stilistisch markiert ist und neben VI noch das auch aufweist, was dessen Wichtigkeit zeigt! ) durch Verberststellung signalisiert werden. In (8') a. [IRR. 2] wird die Konditionalität durch Verberststellung und die Alternative durch explizites oder und damit die Irrelevanzkonditional ität sozusagen vollständig erfasst. Eine andere Möglichkeit soll nur angedeutet werden: In (8 1 ) a. [IRR. 1] wird das Weglassen des Konnektors ohnehin durch den Kontrastausdruck (Kontrast ist die andere Verwandtschaft neben Konditionalität und Alternative! ) (will/ soll) zusammengesetzt gedacht werden kann; drückt man sie konnektorlos aus, muss der Modalfaktor explizit werden (damit er gewinnt > weil er gewinnen will/ soll). 23 ln (T) b. muss die Irrelevanzkonditionalität durch oder nicht deutlich gemacht werden, sonst liest man die Formulierung als „Relevanzkonditionale“. (1’) (2") (4’) (5’) (8') Zur Relevanz von und zur Irrelevanz bei Irrelevanzkonditionalen 397 abgefangen, die Relationsinterpretation bleibt erhalten. {Egal ob / Auch wenn ein wenig von der Romantik des Sports verloren geht, darf ein Schlittenhund-Besitzer nicht übermäßig wählerisch sein.) Umgekehrt kann natürlich auch der Ausdruck der Alternative (das oder) fehlen, wenn etwa durch das ob die Konditionalitätsrelation „gesichert“ ist; die Disjunktion kommt durch asyndetische Aussagenreihung dazu (vgl. GDS, S. 2319). Je nach der Klammerung (vgl. am Ende von 3.1) haben wir auch hier zwei Varianten. Belege wie etwa (3) oben zeigen, dass Reihen von wiederholtem bloßem ob {ob pi, ob p2, ob p 3 , [in jedem dieser Fälle) q) ohne oder möglich sind. 24 HdK, S. 629, (1), und S. 630, (5f), bringt Belege für ob x, y {z, ...), q ganz ohne zweites ob und auch ohne oder. Bei den explizit eingliedrigen Irrelevanzantezedenten scheint die asyndetische Formulierungsweise an ihre Grenzen zu stoßen. Hier tritt ja kein Altemativmarkierer ersatzweise gleich für die Irrelevanzkonditionalrelation mit ein. Der Versuch, die Konditionalität mit VI deutlich zu machen, führt zu einer semantischen Veränderang hin zu einer relevanten Bedingung (Konditionalität): (1') c. Steckt die persönliche Einstellung zum Beruf in einem Tief müssen Lehrpersonen ohne Unterbruch einfach funktionieren. Die am Ende der Kap. 1. und 2. angesprochene „Steigerung“ dies zum rundenden Abschluss geht natürlich mit dem Irrelevanzkonditionalausdruck verloren; die Relation selbst aber bleibt erhalten: (7') Gregor Gysi wird im nächsten Bundestag sitzen, schafft es seine Partei oder nicht. 6. Literatur Breindl, Eva (2004): Konzessivität und konzessive Konnektoren im Deutschen. In: Deutsche Sprache 32, S. 2-31. Florin, Michael (1997): Konditionalsätze in pragmatischer Sicht (1. Staatsexamen Münster), Kap. 3: Konditionalsätze und Handlungen, http: / / www.yonder, de/ kondprag.html, zuletzt besucht am 9.12.2004. 24 Ich verstehe Zifonuns Satz „In diesem Fall wirkt ob ... ob wie ein zweiteiliger Konjunktor in einem insgesamt subordinierenden Gefüge“ (GDS, S. 2320) so, dass das wiederholte ob selbst hier die doppelte Aufgabe übernimmt, die im syndetischen Fall auf das eine ob und das oder aufgeteilt war, nämlich, die Konditionalität und die Disjunktion zu signalisieren, aus der die Irrelevanzkonditionalrelation zusammengesetzt erscheint. 398 Ulrich Hermann Waßner Glück, Helmut (Hg.) (2000): Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart/ Weimar: Metzler. (2., überarb. u. erw. Aufl.). Hermodsson, Lars (1973): Inkonditionalsätze. Zur Semantik der sogenannten „konzessiven“ Ausdrücke. In: Studia Neophilologica 45, S. 298-305. König, Ekkehard (1986): Conditionals, Concessive Conditionals and Concessives: Areas of Contrast, Overlap and Neutralization. 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Linguistische Grundlagen der Beschreibung und syntaktische Merkmale der deutschen Satzverknüpfer (Konjunktionen, Satzadverbien und Partikeln). Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 9). [Zit. als HdK.] Zaefferer, Dietmar (1987): Satztypen, Satzarten, Satzmodi - Was Konditionale (auch) mit Interrogativen zu tun haben. In: Meibauer, Jörg (Hg.): Satzmodus zwischen Grammatik und Pragmatik. Referate anläßlich der 8. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, Heidelberg 1986. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 180). S. 259-285. Zaefferer, Dietmar (1990): Conditionals and Unconditionals in Universal Grammar and Situation Semantics. In: Cooper, Robin/ Mukai, Kuniaki/ Perry, John (Hg.): Situation Theory and its Applications. Vol. 1. Stanford: Center for the Study of Language and Information. (= CSLI Lecture Notes 22). S. 471-492. 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[Zit. als GDS], Renate Pasch Fokussierende, fokussierte und fokussierbare Vorerstausdrücke: Drei syntaktisch-informationsstrukturelle Klassen adverbialer Ausdrücke Der vorliegende Beitrag ist ein Plädoyer für die Unterscheidung dreier lexikalischer Klassen von Ausdrücken, deren syntaktischer (Geltungs-)Bereich ein Satz bzw. eine Verbgruppe und deren semantischer (Geltungs-)Bereich - Skopus dann die Bedeutung eines Satzes bzw. einer Verbgruppe sein kann (zu den Begriffen des syntaktischen und des semantischen Bereichs der hier interessierenden Ausdrücke s. Jacobs 1983). Auf den Sinn der im Folgenden zu beschreibenden klassifikatorischen Unterscheidung bin ich ursprünglich durch die nicht regelgerechte Verwendung von akzentuiertem auch vor einer weiteren, nichtakzentuierten Konstituente im Vorfeld eines Verbzweitsatzes durch eine Nichtmuttersprachlerin gestoßen. Klassifikationen sind Zusammenfassungen von Einheiten nach gemeinsamen Merkmalen. Klassen sprachlicher Zeichen können nach inhaltlichen oder formalen Gemeinsamkeiten der Zeichen oder nach Typen von Kopplungen zwischen den Merkmalen dieser Typen bei den einzelnen Zeichen gebildet werden. Klassifikationen natürlichsprachlicher Zeichen werden in Grammatiken geboten. Nach formalen Kriterien gebildete Wortklassen, die in Grammatiken traditionell aufgeführt werden und sich bei der Vermittlung von Sprachkenntnissen nicht von ungefähr bewährt haben, sind solche, deren Elemente sich durch Einheitlichkeit ihres Denotats bei morphologischer Variation im Zusammenhang mit kombinatorischen Bedingungen ihrer Verwendung beim Aufbau komplexerer Zeichen auszeichnen. Dies sind die Wortklassen Nomen, Pronomen, Verb und Adjektiv, also die Klassen flektierbarer Einheiten. Daneben gibt es im Deutschen Einheiten, deren Form nicht in diesem Sinne variieren kann, d.h. Unflektierbare, die aber in ihrer Kombination mit anderen Einheiten bei der Bildung komplexer Zeichen formale Besonderheiten ihrer Kokonstituenten in Sätzen festlegen. Diese „regierenden“ Unflektierbaren sind im Deutschen Präpositionen und regierende Konjunktionen (z.B. subordinierende Konjunktionen, d.h. Konjunktionen, die im Deutschen Letztstellung des Verbs in dem Satz festlegen, der ihre Kokonstituente bildet; s. zum Begriff der regierenden Konjunktionen HdK 2003, S. 42 und 35 lf). Neben den regierenden Unflektierbaren gibt es Unflektierbare, die keine formalen Eigenschaften ihrer Kokonstituenten fest- 402 Renate Pasch legen, die also „nichtregierende Unflektierbare“ sind. Es handelt sich erstens um die koordinierenden Einheiten, die, wenn sie zwei Sätze koordinieren, nicht als Konstituente eines dieser Sätze auftreten können, und zweitens um Einheiten, die traditionell als „Adverbien“ bzw. „Partikeln“ bezeichnet werden. Letztere sind, grob gesagt, Einheiten, die als Konstituenten eines Satzes fungieren können und die die Bedeutung des Rests dieses Satzes ihres „Trägersatzes“ - oder als Verbgruppenadverbial (s. hierzu GDS 1997, S. 1177ff.) die Bedeutung der Verbgruppe des Trägersatzes im Geltungsbereich (Skopus) ihrer eigenen Bedeutung haben können. (Die betreffenden Einheiten können auch in Attributen in Nominalphrasen fungieren und der Skopus ihrer Bedeutung ist dann die Bedeutung des Rests der Nominalphrase bzw. des Rests des Attributs. Dieser reguläre Zug ist hier immer mitzudenken.) Wenn ich im Folgenden kurz von „Unflektierbaren“ oder „unflektierbaren Ausdrücken“ spreche, werde ich mich ausschließlich auf die nichtregierenden als Satzkonstituenten zu verwendenden Unflektierbaren beziehen. In den Grammatiken wurde die Zusammenfassung der als Konstituenten von Sätzen zu verwendenden nichtregierenden Unflektierbaren zu Klassen nach formalen Merkmalen bislang unterschiedlich gehandhabt bis vernachlässigt. Über die Gründe hierfür kann und will ich nicht spekulieren. Ich möchte im Folgenden auf die Existenz dreier Klassen in diesem Bereich hinweisen, von denen in den Grammatiken zwar die eine erwähnt wird, m.W. aber nicht die beiden anderen, deren Unterscheidung jedoch sinnvoll ist, da die formalen Unterschiede, die die Klassen begründen, systematisch mit einem inhaltlichen Unterschied der diese Einheiten enthaltenden Sätze einhergehen. Diese systematische Kopplung im Unterricht „Deutsch als Fremdsprache“ bewusst zu machen, erscheint mir so lohnend, dass ich die Unterscheidung der drei Klassen in Grammatiken empfehlen möchte. 1. „Vorerstausdrücke“: Unflektierbare in Vorerstposition Formale Besonderheiten, nach denen die nichtregierenden satzintegrierbaren Unflektierbaren zu Klassen zusammengefasst werden können, sind vor allem positionelle Möglichkeiten. Die meisten dieser Unflektierbaren können mehr als eine Position im Satz einnehmen und dann bezüglich der unterschiedlichen Positionen mit unterschiedlichen Einheiten zusammen Klassen bilden, d.h. entsprechend kreuzklassifiziert werden. So können manche Einheiten nicht das Vorfeld eines Verbzweitsatzes besetzen vgl. *Aber hatte er Hunger. was andere wieder können vgl. Anfangs! dagegen! dennoch hatte er Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdriicke 403 Hunger. Andere wieder können unmittelbar nach einer Konstituente im Vorfeld eines Verbzweitsatzes auftreten vgl. Er aber! dagegen hatte Hunger. andere wieder nicht vgl. *Er anfangs! dennoch hatte Hunger. So gehören dennoch und anfangs mit dagegen in die Klasse der Einheiten, die das Vorfeld besetzen können, nicht aber in die Klasse der Einheiten, die im Vorfeld nach einer Konstituente auftreten können, in die dagegen und aber gehören. Aber und dagegen gehören also in Bezug auf die letztgenannte Position in ein und dieselbe Klasse, aber in Bezug auf die Fähigkeit, das Vorfeld zu besetzen, gehören sie in unterschiedliche Klassen. Angesichts dieser unterschiedlichen Positionsmöglichkeiten stellt sich die Frage, was eine sinnvolle Zusammenfassung von Unflektierbaren nach Positionskriterien ist. Meines Erachtens sollte eine Klassenbildung favorisiert werden, die jenseits der rein theoretisch möglichen Zusammenfassungen von Unflektierbaren gemäß ausschließlich positionellen Kriterien noch systematische Verknüpfungen formaler mit inhaltlichen Phänomenen berücksichtigt. Um eine derartige Klassenbildung geht es mir im Folgenden. Bei den Klassen, mit denen ich mich befassen werde, handelt es sich um Zusammenfassungen von Einheiten, die außer im Mittelfeld eines Verbzweitsatzes (vgl. die Konstruktionen unter (2)) auch im Vorfeld eines solchen Satzes vor einer weiteren infiniten Konstituente X möglich sind (vgl. die Belege unter (1)): (1) a. [In der Region wurden nach Angaben der Rettungskräfte rund 125 Menschen aus ihren Häusern evakuiert. Hunderte liefen auf die Straße und übernachteten in ihrem Auto oder in Zelten.] Auch drei Krankenhäuser mussten evakuiert werden. (Die Rheinpfalz, 26.11.04, S. 01) b. [In einem populärwissenschaftlichen Aufsatz wird die gegenseitige Umschlingung von Ackerwinde und Geißblatt als ein erklärungsbedürftiges Phänomen, d.h. als ein Rätsel beschrieben: Dabei dreht sich die Ackerwinde immer linksherum [...]. Das Geißblatt dreht sich ausschließlich rechtsherum, und deshalb können beide sich so innig umschlingen. [Absatz - R.P.] Japanische Wissenschaftler bieten nun eine Erklärung, wie diese Links- und Rechtsdrehungen zustande kommen [...]. [Absatz - R.P.]] Weiterhin ein Rätsel ist allerdings, warum nur sehr wenige Pflanzen rechtsherum winden. (WELT am SONNTAG, 12.5.2002, S. 64) 404 Renate Pasch (2) a. [In der Region wurden nach Angaben der Rettungskräfte rund 125 Menschen aus ihren Häusern evakuiert. [...]] Es mussten auch drei Krankenhäuser evakuiert werden. b. [Japanische Wissenschaftler bieten nun eine Erklärung, wie diese Links- und Rechtsdrehungen zustande kommen.} Allerdings ist weiterhin ein Rätsel, warum nur sehr wenige Pflanzen rechtsherum winden. Eckige Klammem in den Beispielen schließen Kontext ein, der für die Akzentuierung und die auf dieser bemhende Interpretation der hier interessierenden Sätze relevant ist. Die Unterstreichung des Vokals einer Silbe soll anzeigen, dass diese Silbe im Verhältnis zu ihrer Umgebung hier: im Vorfeld akzentuiert ist. Die letzte unterstrichene Silbe eines ggf. syntaktisch komplexen Ausdrucks soll dessen Hauptakzent tragen. Die Akzente sind hier, besonders bei den kombinierten Ausdrücken, die in der hier interessierenden Position möglich sind, so gesetzt, wie sie bei Position der jeweiligen Einheit vor einer anderen Konstituente X im Vorfeld erscheinen, wenn X den Hauptakzent des Vorfelds trägt. Vgl. den Schlageranfang Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung. Die Position einer Unflektierbaren vor einer Konstituente X im Vorfeld nenne ich mit dem HdK (2003) „Vorerstposition“. In der Vorerstposition sind nicht alle Unflektierbaren möglich, wie die Beispiele unter (3) im Unterschied zu denen unter (1) zeigen: (3) a. [Auf den Straßen lagen viele Verletzte.} *Sofort drei Krqn- Allein können viele der nicht in Vorerstposition möglichen Unflektierbaren allerdings das Vorfeld besetzen (vgl. (4)): •hält wurden evakuiert. b. [Das Rätsel der gegenseitigen Umschlingung von Ackerwinde und Geißblatt ist nun gelöst.} *bleibt, warum nur sehr wenige Pflanzen rechtsherum winden. Krankenhäuser evakuiert. b. [Das Rätsel der gegenseitigen Umschlingung von Ackerwinde und Geißblatt ist nun gelöst.} Dagegen bleibt ein Rätsel, warum nur sehr wenige Pflanzen rechtsherum winden. Fokussierende, fokussierte und fokussierbare Vorerstausdrücke 405 Ich nenne nun Unflektierbare, die in der Vorerstposition Vorkommen können, „Vorerstausdrücke“ (auch in Fällen, in denen sie z.B. im Mittelfeld verwendet werden). (5) Vorerstausdrücke: abermals-, fHtt; allein-, allenfalls-, annähernd', auch-, äußerst: ausgerechnet: ausgesprochen: ausschließlich: außerordentlich: beinahe: beispielsweise/ bspw.; bei weitem: bereits: besonders: bestenfalls: circa/ ca.-, direkt/ direkt: durchaus: <J|1§: ebenfalls: ebenso: echt: einfach: einigermaßen: einzig {und allein): erst: etwa: etwas: extrem: fast: frühestens: 11111; gar, JB; genauso: gerade: geradezu: gleich: gleichermaßen: gleichfalls: höchst: höchstens: hübsch: immer, immerhin: msbesond{e)relinsbesond{e)re: insgesamt! insgesamt: in Sonderheit: jedenfalls: kaum: knapp: lediglich: maßlos: mehr, mindestens: mittlerweile: nahezu: nicht: nicht {ein)mal: nicht zuletzt: noch: nochmals: nur, nur mehr, offenbar: rein: restlos: richtig: rund: schätzungsweise: schön: schon: sehr, selbst: sicher{lich): so: sogar, sozusagen: spätestens: toüberaus: überhaupt/ überhaupt: übermäßig: ungefäftf: ungemein: Ungewöhnlich: ungleiSjt: viel: vielleicht: völlig: vollkommen: vollständig: vor allem: wahrschemlich/ wahrscheinlich: vornehmlich: weit, weitaus: weiter, weiterhin: wenig: weniger, wenigstens: wesentlich: wieder, wiederum: wohl: ziemlich: zu: zumal: z.B./ z.Bsp./ zum Beispiel: zumindest: zum Mindesten: zurück: ... (? ); Kombinationen: ganz besonders! ganz besonders: ganz und gar, immer noch: immer wieder! immer wieder, insgesamt rund: nicht etwa: nur noch: viel weniger, ... (? ) Die in (5) grau unterlegt wiedergegebenen Einheiten sind Adjektive, die in Vorerstposition in adverbialer Funktion verwendet sind und somit in dieser Position nicht flektiert werden können. Deshalb rechne ich sie zu den Unflektierbaren. Unter den Vorerstausdrücken gibt es solche, bei denen die Konstituente X auf bestimmte Konstituententypen beschränkt ist. Solche Beschränkungen allgemeinerer Art werden in 3.1 und 3.2 behandelt. Manche der aufgelisteten Vorerstausdrücke weisen nun noch über die dort beschriebenen Beschränkungen hinausgehende, speziellere Beschränkungen auf. Hier seien nur einige genannt: Bei manchen Vorerstausdrücken ist X nur wenig, dafür aber 406 Renate Pasch relativ komplex beschränkt: Bei immer z.B. kann X zwar eine Nominalphrase, eine Präpositionalphrase, ein Adverb oder ein Adjektiv sein, wenn es aber ein Adjektiv ist, muss dieses in Komparativform vorliegen. Viel und wenig können nur vor Nominalen (viel/ wenig Lärm, viel/ wenig große Autos) oder mit Adjektiven im Komparativ verwendet werden (viel! wenig größer) und das in allen Positionen oder Funktionen des Adjektivs (viel/ wenig schneller fahren-, viel/ wenig schnellere Autos). Als Vorerstausdruck kann weitaus nur vor einem Adjektiv im Komparativ und Superlativ, wesentlich nur vor einem Adjektiv im Komparativ oder vor dem Adverb mehr in der Funktion von X stehen. Bei gleich, weiter und zurück muss X eine Zeit- oder Ortsangabe sein: gleich um drei', gleich hinter der Tür, aber nicht ^gleich die Säugetiere (vgl. dagegen wohlgeformtes erst die Säugetiere). Ebenso und genauso verlangen, dass X ein Adjektiv, ein Adverb, eine Präpositionalphrase oder eine prädikativ verwendete Nominalphrase ist. Bei kaum ist X auf Adjektive im Komparativ oder indefinite Nominalphrasen oder Pronomina beschränkt. 1st X ein Pronomen, trägt immer kaum den Flauptakzent des Vorfelds. Überhaupt, das ebenfalls das Vorfeld besetzen kann, verlangt in Vorerstposition - und nur dort -, dass X eine negierte Konstituente ist (vgl. Überhaupt! überhaupt kein Problem habe ich mit den Sitten der Region.). Noch kann im Vorfeld nur dann den Hauptakzent tragen, wenn X ein Adjektiv im Komparativ ist. Aus Platzgründen kann ich nicht auf alle Beschränkungen eingehen, die der Konstituente X von Vorerstausdrücken auferlegt werden. Bezüglich einiger von ihnen verweise ich auf Helbig (1988, S. 47). Die systematische Angabe solcher Beschränkungen ist eine dringliche Aufgabe für lexikologische und lexikografische Arbeiten. 2. Zur Bedeutung der Hauptakzentstelle des Vorfelds für die syntaktische Klassifikation der Unflektierbaren Wie (la) und (1b) zeigen, trägt den Hauptakzent des Vorfelds mal der Vorerstausdruck s. (1b) - und mal X s. (la). Die in (la) und (1b) bezüglich der Akzentuierung des Vorfelds verschiedenen Vorerstausdrücke stehen in ihrer jeweiligen akzentuellen Eigenschaft nicht allein. Das heißt, es können zwei unterschiedliche syntaktisch-akzentuelle Klassen von Vorerstausdrücken gebildet werden. Diese sind systematisch mit einer spezifischen Besonderheit in den Fokus-Hintergrund-Gliederungen ihrer Trägersätze verbunden. Wie die vorangehenden verbalen Kontexte dieser Sätze zeigen, Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdrücke 407 stellt in (la) die Bedeutung von X neue Information dar: Sie gehört zum „Fokus“ der Bedeutung des Trägersatzes, ln (1b) dagegen stellt sie bereits gegebene Information dar. Sie gehört zum „Hintergrund“ für den Fokus der Trägersatzbedeutung. (Bezüglich einer genaueren Bestimmung der Begriffe „Fokus“ und „Hintergrund“ verweise ich speziell auf das HdK (2003, S. 120ff), auf dem die vorliegenden Ausführungen aufbauen.) Die Akzentverhältnisse in den Trägersätzen der Vorerstausdrücke aus (la) und (1b) entsprechen der Regel, nach der der Hauptakzent eines Satzes oder einer Konstituente immer auf einen Ausdruck fällt, dessen Bedeutung zum Fokus des Satzes bzw. der Konstituente gehört. Dabei gilt speziell für das Vorfeld: Fällt der Hauptakzent des Vorfelds auf die Konstituente X, so gehört die Bedeutung von X zum Fokus der Bedeutung des Trägersatzes kurz: zum „Fokus des Satzes“. Fällt der Hauptakzent des Vorfelds dagegen auf den Vorerstausdruck, so gehört die Bedeutung von X immer zum Hintergrund der Bedeutung des Trägersatzes. (Wie der Vergleich von (la) und (1b) weiter zeigt, kann der Hauptakzent des Trägersatzes dabei im Vorfeld wie in (la) - oder im Mittelfeld wie in (1b) liegen.) Vorerstausdrücke mit der Eigenschaft des Vorfelds: ‘Kette „Vorerstausdruck < Konstituente X“ mit dem Hauptakzent der Kette auf X’, wie sie durch (la) illustriert werden, werden durchaus in der grammatischen Literatur als eigenständige Wortklasse betrachtet, und zwar unter den Namen „Fokuspartikeln“ (so von König 1991 und 1993, König/ Stark 1991: „focus particles“, Duden 1995, Eisenberg 1999, Hentschel/ Weydt 2003 und vom HdK 2003) oder „Gradpartikeln“ (so von Altmann 1976, Jacobs 1983, Engel 1991, Helbig 1988 und der GDS 1997). Bei Weinrich (1993) heißen diese Vorerstausdrücke „Fokus-Adverbien“ und bei Clement/ Thümmel (1975) „Rangierpartikeln“. Bei Letzteren sind sie allerdings Vertreter spezieller Rangierpartikelunterklassen, die die Autoren als „RPi“ bis „RP 5 “ bezeichnen. Ich gehe hier nicht auf die unterschiedlichen Kriterien dafür ein, dass ein Vorerstausdruck unter diese Begriffe subsumiert werden kann, sondern versuche (s. 3.), die Systematik in den unterschiedlichen Gebrauchsbedingungen zu zeigen, die Vorerstausdrücke mit der genannten akzentuellen Eigenschaft des Vorfelds aufweisen, in dem sie auftreten können. Vorerstausdrücke mit der Eigenschaft des Vorfelds: ‘Kette „Vorerstausdruck < Konstituente X“ mit dem Hauptakzent der Kette auf dem Vorerstausdruck’, wie sie in (1b) illustriert werden, werden dagegen in den Grammatiken überhaupt nicht als eine besondere Klasse verzeichnet (und nach mei- 408 Renate Pasch nem Eindruck auch nicht in der grammatischen Literatur im weiteren Sinne). Ausdrücke dieser Art nenne ich „fokussierte Vorerstausdrücke“. Die Besonderheit der Akzentuierung der beiden nach meinem Vorschlag zu unterscheidenden Klassen von Vorerstausdrücken wurde offenbar bislang nicht gesehen, was man auch daraus schließen kann, dass in der Liste der Fokuspartikeln z.B. von Eisenberg (1999, S. 228) die Einheit ebenfalls oder von Hentsche1/ Weydt (2003, S. 323) die Einheit gleichfalls aufgeführt wird oder zu den Gradpartikeln von Helbig (1988) gleichfalls gerechnet wird. Im HdK (2003, S. 504ff.), das sich als vertiefender Satellit der unter der Leitung von Gisela Zifonun erarbeiteten GDS (1997) versteht, wird nun zwar auf die Existenz dieses intonatorisch-informationsstrukturellen Unterschieds zwischen den Vorerstausdrücken im Vorfeld hingewiesen, in die vom HdK (2003) vorgeschlagene syntaktische Klassifikation der Konnektoren (die eine semantisch-kombinatorische Teilklasse der Unflektierbaren bilden) wurde die Unterscheidung der zwei Gruppen von Vorerstausdrücken jedoch ebenfalls nicht aufgenommen. Dies ist ein Mangel, der behoben werden sollte, wenn die Klassenbildung im Bereich der nichtregierenden satzintegrierbaren Unflektierbaren einen Einblick in die systematischen Züge der wechselseitigen Zuordnung formaler und inhaltlicher Merkmale im Wortschatz gewähren soll. Dass sie das sollte, dafür plädiere ich aus Gründen der vollständigen Beschreibung der Gebrauchsbedingungen der Unflektierbaren. 3. Fokussierende Vorerstausdrücke Vorerstausdrücke mit der obligatorischen Eigenschaft des Vorfelds: ‘Kette „Vorerstausdruck < Konstituente X“ mit dem Hauptakzent der Kette auf X’ nenne ich „fokussierende Vorerstausdrücke“. Mit dieser Klassenbildung und dem mit ihr zusammenhängenden Terminus sowie der für Letzteren gegebenen ziemlich allgemeinen Begriffsbestimmung unterscheide ich mich von den oben angeführten Autoren, die sich mit den hier zu behandelnden Vorerstausdrücken befasst haben. Bei den fokussierenden Vorerstausdrücken kann die Bedeutung des Mittelfelds zwar zusammen mit der Bedeutung von X (und des Vorerstausdrucks selbst) zum Fokus des Satzes gehören, wobei der Hauptakzent des Satzes dann im Mittelfeld liegt (vgl. (6)), sie muss es aber nicht (vgl. (la)), d.h., sie kann durchaus zum Hintergrund des Satzes gehören. Dass sie nicht zum Fokus des Satzes gehört, erkennt man daran, dass der Hauptakzent des Satzes in diesem Falle nicht im Mittelfeld, sondern auf X im Vorfeld liegt. Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdrücke 409 (6) Für die rasant gestiegene Zahl der Bedürftigen steht die existentielle Versorgung in der Suppenküche im Mittelpunkt. Aber es geht nicht nur ums Abfüttern: Sozusagen nebenbei passiert, was mit einem bißchen Perspektive zu tun hat: die Qualifizierung der arbeitslosen Mitarbeiterinnen [...]. (die tageszeitung, 04.11.1989,8.26) In die Klasse der Einheiten, die das für fokussierende Vorerstausdrücke genannte positionell-akzentuelle Kriterium erfüllen, gehören die folgenden: (7) Fokussierende Vorerstausdrücke: absolut, allein-, allenfalls-, ausgerechnet, ausgesprochen-, ausschließlich', beinahe-, beispielsweise! bspw.-, bei weitem', bereits', bestenfalls-, bloß-, circa! ca.-, durchaus-, eben-, echt, einfach', einigermaßen-, einzig {und allein)’, erst, etwa', fast', gar, geradezu-, gleich-, höchst, hübsch-, immerhin', insbesondere; in Sonderheit; jedenfalls; knapp; lediglich; mittlerweile; nicht; nicht (ein)mal; nicht zuletzt; noch (X ist kein Adjektiv im Komparativ); nur; nur mehr; offenbar; rein; rund; schätzungsweise; schön; schon; selbst; sicherlich); sogar; sozusagen; vielleicht; vor allem; vornehmlich; wahrscheinlich; weit; wohl; zumal; z.B.lz.Bsp.lzum Beispiel; zumindest; zum Mindesten; zurück; ... (? ); Kombinationen: insgesamt rund; nicht etwa; nur noch ...(? ) Die Liste (7) ist zum einen durch eigene Erweiterungen des Bestands an Ausdrücken entstanden, die Helbig (1988) als Vertreter zweier Klassen aufführt, von denen er die eine als „Gradpartikeln“ und die andere als „Steigerungspartikeln“ bezeichnet. Zum anderen enthält sie einige bei Helbig (1988) nicht verzeichnete Ausdrücke, die das für fokussierende Vorerstausdrücke angegebene Kriterium erfüllen, die Weinrich (1993, S. 590-595 und S. 655ff.) unter den Termini „Grad-Adverbien“ und „Fokus-Adverbien“ aufführt. Bei einigen Einheiten aus (7) ist die Konstituente X auf bestimmte Phrasenkategorien beschränkt (s. hierzu 3.1 und 3.2) und bildet den syntaktischen Bereich der betreffenden Vorerstausdrücke. Die Liste (7) enthält neben Unflektierbaren, die als syntaktischen Bereich einen Satz haben verkürzt ausgedrückt: Unflektierbaren mit „Satzskopus“ auch solche Unflektierbaren, deren syntaktischer Bereich unterhalb des Formats eines Satzes liegt und sich in den hier interessierenden Konstruktionen auf die Konstituente X beschränkt. Um Letztere geht es in 3.1 und 3.2. Diese 410 Renate Pasch werfen zugegebenermaßen die Frage auf, ob bei ihrer Position vor X am Anfang eines Satzes noch von einer Vorerstposition gesprochen werden kann oder ob sie nicht vielmehr mit ihrem syntaktischen Bereich eine komplexe Konstituente bilden, die dann als Ganze das Vorfeld in Erstposition besetzt. Ein Argument für Letzteres ist, dass vor einem solchen komplexen Teilausdruck wieder ein Ausdmck mit Satzskopus eine echte Erstposition einnehmen kann, wie z.B. beispielsweise vgl. Beispielsweise ausgesprochen sicher ist die A u/ bewahrung im Bankschließfach. (Hier steht beispielsweise mit Satzskopus vor ausgesprochen, dessen syntaktischer Bereich auf Adjektivphrasen oder prädikativ verwendete Nominal- und Präpositionalphrasen beschränkt ist.) Da sich aber die Unflektierbaren mit Nichtsatzskopus wie die Unflektierbaren mit Satzskopus ebenfalls in fokussierende, fokussierte und fokussierbare (s. zu Letzteren 4. und 5.) gruppieren lassen, behandle ich sie hier trotzdem nicht anders als die Unflektierbaren mit Satzskopus. Der Vorerstausdruck rein taucht in den nachfolgenden Listen von Subklassen fokussierender Vorerstausdrücke nicht auf, weil er wegen seiner Beschränkung von X aufgar nichts nicht in eine dieser Klassen einzuordnen ist. 3.1 Fokussierende Vorerstausdrücke mit prädikativem X Eine Klasse fokussierender Vorerstausdrücke mit einem auf X beschränkten syntaktischen Bereich wird von Einheiten gebildet, die Helbig (1988) als „Steigerungspartikeln“ und die die GDS (1997, S. 56) als „Intensitätspartikeln“ bezeichnet. Bei diesen ist die Konstituente X, die unmittelbar auf den Vorerstausdruck folgt, auf die Klasse der Adjektivphrasen (in attributiver, prädikativer oder adverbialer Funktion) beschränkt und jedenfalls bei einigen von ihnen auf prädikativ verwendete Nominalphrasen und Präpositionalphrasen (vgl. Durchaus willig sind hier alle.). (8) Vorerstausdrücke mit prädikativem X: absolut, ausgesprochen', bei weitem', durchaus', echt, einfach', einigermaßen', ganz', gar, geradezu', höchst, hübsch', schön', ungemein', ungleich', weit, ... (? ) 3.2 Fokussierende Vorerstausdrücke mit einem Ausdruck X für skalierbare Größen Eine weitere Gruppe fokussierender Vorerstausdrücke mit einem auf X beschränkten syntaktischen Bereich bilden Ausdrücke, bei denen die Konstituente X ein Ausdruck für eine skalierbare Größe ist, im Folgenden kurz Skalierungs-X. Vgl. die Konstruktionen unter (9) mit (10): Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdrücke 411 (9) a. Fast die ganze Gruppe weinte. b. Fast überall lag Unrat umher. c. Fast kläglich klang es. (10) *Fast die Gruppe hätte das Problem lösen müssen. Weinrich (1993, S. 590ff.) nennt diese Gruppe „Grad-Adverbien“ (wobei er allerdings auch Einheiten unter diesen Begriff subsumiert, die m.E. in die Gruppe der Vorerstausdrücke mit prädikativem X gehörten, wie ausgesprochen; einigermaßen', äußerst, höchst, überaus', weitaus', ungleich und ziemlich, (wobei ich die letzten fünf zu den fokussierbaren Vorerstausdrücken s. hierzu 5. rechne). Um Assoziationen mit Einheiten zu vermeiden, die sonst in der Literatur wie erwähnt „Gradpartikeln“ genannt werden, nenne ich die hier zu behandelnde Gruppe „fokussierende Vorerstausdrücke mit Skalierungs-X“. (11) Fokussierende Vorerstausdrücke mit Skalierungs-X: beinahe', circa! ca.', etwa', fast, knapp', rund', schätzungsweise', ...(? ) Die Skalierungsausdrücke können, wie die Beispiele unter (9) zeigen, anders als die Konstituente X bei den Vorerstausdrücken mit prädikativem X zwar unterschiedlichen syntaktischen Kategorien (Konstituententypen im Sinne des HdK 2003) angehören, doch sind hier in den Kombinationsmöglichkeiten Unterschiede festzustellen. Adjektive in der Rolle von X sind dabei nur bei beinahe und fast möglich: Beinahelfast handlungsunfähig war ich vor Angst. Diese Unflektierbaren könnten dann mit der semantischen Beschränkung auf die genannte Skalierbarkeit des Denotats des adjektivischen X auch der formal definierten Klasse der Vorerstausdrücke mit prädikativem X zugewiesen werden. 3.3 Fokus-Adverbien Fokussierende Vorerstausdrücke mit prädikativem X und Vorerstausdrücke mit Skalierungs-X bilden zweifelsfrei mit der Konstituente X zusammen eine komplexe (modifizierte) Konstituente, d.h., der Vorerstausdruck hat als seinen syntaktischen Bereich (s. hierzu HdK 2003, S. 58ff.) nur die Konstituente X, ist einzig und allein Modifikator nur zur Konstituente X (vgl. auch Helbig 1988, S. 46). Von diesen beiden Gruppen unterscheidet sich eine Klasse fokussierender Vorerstausdrücke, bei deren Elementen die Konstituente X im Vorfeld keinerlei Wortklassenbeschränkungen unterworfen ist und für die ich als semantischen Bereich den Rest des Trägersatzes dieser Aus- 412 Renate Pasch drücke annehme. Diese Gruppe nenne ich mit Weinrich (1993) „Fokus- Adverbien“. Es ist die Gruppe, die in der Literatur u.a. unter dem Terminus „Fokuspartikeln“ firmiert. Ich ziehe den Terminus „Fokus-Adverbien“ vor, weil in diese Klasse nicht nur Einheiten fallen, die traditionell mit dem Terminus „Partikeln“ bezeichnet werden, worunter Einheiten verstanden werden, die nicht allein das Vorfeld besetzen können (vgl. Helbig 1988, S. 22). So kann z.B. vor allem allein, d.h. ohne eine folgende Konstituente X, das Vorfeld besetzen. (12) Fokus-Adverbien: allein-, allenfalls-, ausgerechnet, ausschließlich-, beispielsweise! bspw.-, bereits-, bestenfalls-, bloß-, eben-, einzig (und allein)-, erst, immerhin-, insbesond(e)re-, in Sonderheit, jedenfalls', lediglich', mittlerweile', nicht, nicht (ein)mal; nicht zuletzt, noch (X ist kein Adjektiv im Komparativ); nur, nur mehr, offenbar, schon-, selbst, sicherlich)-, sogar; sozusagen; vielleicht; vor allem; vornehmlich; wahrscheinlich; wohl; zumal; z.BJz.Bsp./ zum Beispiel; zumindest; zum Mindesten; zurück; ... (? ) 4. Fokussierte Vorerstausdrücke Unter „fokussierten Vorerstausdrücken“ verstehe ich, wie gesagt, solche Vorerstausdrücke, die, wenn sie im Vorfeld stehen wie weiterhin in (1b) obligatorisch den Flauptakzent des Vorfelds tragen. Ihre Bedeutung gehört dort immer zum Fokus der Satzbedeutung, während die Bedeutung von X dort zum Hintergrund der Satzbedeutung gehört. Das bei ihnen lexikalisierte Akzentuierungsschema für das Vorfeld hängt mit ihrer Bedeutung zusammen: Sie verweisen auf die Bedeutung eines vorausgehenden Satzes. X darf dabei nicht das Subjekt des Satzes sein (d.h. in (1b) ist die Nominalphrase im Nominativ ein Prädikativ). Der Hauptakzent des Trägersatzes fällt dabei nicht ins Vorfeld, sondern ins Mittelfeld. Das bedeutet in Bezug auf die Fokus-Hintergrund-Gliederung des Trägersatzes: Bei den fokussierten Vorerstausdrücken im Vorfeld gehört die Bedeutung des Mittelfelds immer zum Fokus des Satzes, d.h., die Bedeutung des fokussierten Vorerstausdrucks kann keinen minimalen Fokus bilden. Vgl.: (13) [A.: Links liegt das Prinzessinnen-Palais. B.: Und wo liegt das Kronprinzen-Palais? ] ^Ebenfalls links liegt das Kronprinzen- Palais. Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdrücke 413 Korrekt wäre (14): (14) Das Kronprinzen-Palais liegt ebenfalls links. Wie (14) zeigt, können die fokussierten Vorerstausdrücke, wenn sie im Mittelfeld auftreten, auch den Hauptakzent des Satzes tragen. In diesem Falle hat allerdings der bei Vorerstposition des unflektierbaren Ausdrucks als Fokusausdmck fungierende Mittelfeldausdruck (hier: das Kronprinzen-Palais) den Status eines Hintergrundausdrucks. Diese Konsequenz der unterschiedlichen Stellung von „Vorerstausdruck < akzentuiertes X“ muss beachtet werden, wenn der Trägersatz zu seinem vorausgehenden verbalen Kontext passen soll. Die Vorerstposition gestattet dem fokussierten unflektierbaren Ausdruck a also dreierlei gleichzeitig: 1. die Art der semantischen Beziehung zu seinem vorausgehenden Kontext so früh wie möglich anzuzeigen, 2. durch die Platzierung von X unmittelbar nach a vor der Barriere des finiten Verbs, also frühestmöglich, den Bedeutungsanteil des Satzes auszudrücken, auf den als Hintergrund im engeren Sinne sich die Bedeutung von a bezieht, und 3. damit in räumlicher Nähe zu diesem X zu stehen. Der letzte Gesichtspunkt wird deutlicher, wenn man Konstruktionen wie (15) als mögliche Alternative zu Konstruktionen wie (1b) betrachtet, wo weiterhin vom Hintergrundausdruck ein Rätsel durch das finite Verb und den unflektierbaren Ausdruck allerdings getrennt ist. (15) Ein Rätsel bleibt allerdings weiterhin, warum nur sehr wenige Pflanzen rechtsherum winden. (16) Fokussierte Vorerstausdrücke: abermals', ebenfalls', ebenso', genauso', gleichermaßen', gleichfalls', nochmals', überhaupt, weiterhin', wiederum', ... (? ); Kombinationen: immer noch', ... (? ) 5. Fokussierbare Vorerstausdrücke Neben den Vorerstausdrücken, bei denen immer die Konstituente X den Hauptakzent des Vorfelds trägt, und solchen, die immer selbst den Hauptakzent des Vorfelds tragen, gibt es eine Reihe von Vorerstausdrücken, die in Abhängigkeit vom Kontext und dabei dann in Abhängigkeit von der informationsstrukturellen Beschaffenheit, genauer: der Fokus-Hintergrund-Gliederung, ihres Trägersatzes sowohl zu den fokussierenden Vorerstausdrücken mit X als Träger des Hauptakzents des Vorfelds als auch zu den fokussierten Vorerstausdrücken gerechnet werden können: 414 Renate Pasch (17) al [Alle freuten sich auf Weihnachten.} Besonders die Kinder waren freudig erregt. a2 [All das ist ja wunderschön.} Besonders schön aber ist die Krippe. bl [Wir traten ins Zimmer.} Direkt hinter der Tür stand ein Sessel. b2 [Einige Schritte von der Tür weg stand ein Sofa.} Direkt! direkt hinter der Tür lag eine Luftmatratze. cl [Dicht beim Redner saßen alle, die schwerhörig waren.} Weiter weg hatten sich die platziert, die schlafen wollten. c2 [Lisa hatte sich ziemlich vom Redner entfernt gesetzt.} Weiter von ihm weg saß niemand. Die Beispiele zeigen: Gehört die Bedeutung von X aufgrund der kontextuell bedingten Fokus-Hintergrund-Gliederung des Trägersatzes zum Hintergrund der Satzbedeutung, die Bedeutung des Vorerstausdrucks dagegen nicht, dann fällt der Hauptakzent des Vorfelds auf den Vorerstausdruck. Gehört die Bedeutung von X kontextuell bedingt nicht zum Hintergrund, dann fallt der Hauptakzent des Vorfelds auf X. Die sich so verhaltenden Vorerstausdrücke sind damit „fokussierbare Vorerstausdrücke“. (18) Fokussierbare Vorerstausdrücke: annähernd-, auch-, außerordentlich', äußerst, besonders-, direkt, etwas-, extrem-, frühestens', ganz-, genau-, gerade-, gleich-, höchstens-, insgesamt, kaum-, maßlos-, mehr, mindestens-, nahezu-, noch (mit X als Adjektiv im Komparativ); restlos-, richtig-, sehr, so-, spätestens-, total, überaus-, übermäßig-, ungefähr, ungemein-, ungewöhnlich-, ungleich, viel, völlig-, vollkommen-, vollständig-, weitaus-, weiter, wenig-, weniger, wenigstens-, wesentlich, wieder, ziemlich, zw, ... (? ); Kombinationen: ganz und gar, immer noch, immer wieder, ... (? ) Wie die Vorerstausdrücke mit X als Träger des Hauptakzents des Vorfelds können sie in semantische Subklassen gemäß der Unterscheidung von prädikativem X und Skalierungs-X gruppiert werden. 6. Zusammenfassung und Schlussbemerkung In Sätzen, deren Vorfeld durch eine Konstituente X und einen X vorausgehenden unflektierbaren Ausdruck - „Vorerstausdruck“ besetzt wird, sind Akzentuierungsvarianten des Vorfelds zu unterscheiden. Mit der Platzierung Fokussierende, fokussierte undfokussierbare Vorerstausdrücke 415 des Hauptakzents des Vorfelds entweder auf den Vorerstausdruck oder auf X sind Unterschiede in den Informationsstrukturen der Trägersätze verknüpft. Bei den Vorerstausdrücken mit dem Hauptakzent des Vorfelds auf X gehört die Bedeutung von X zum Fokus und bei den fokussierten Vorerstausdrücken gehört sie zum Hintergrund der Satzbedeutung. In Bezug hierauf lassen sich im Bereich der adverbialen Unflektierbaren drei Klassen von Vorerstausdrücken unterscheiden: fokussierende, fokussierte und fokussierbare Vorerstausdrücke. Bei den fokussierenden Vorerstausdrücken unterscheide ich solche mit prädikativem X und solche mit Skalierungs-X von solchen, bei denen X nicht syntaktisch eingeschränkt ist (d.h. von den „Fokus- Adverbien“). Bei den fokussierenden Vorerstausdrücken liegt der Akzent obligatorisch auf X, bei den fokussierten liegt er obligatorisch auf dem Vorerstausdruck, und bei den fokussierbaren liegt er in Abhängigkeit von der kontextuell determinierten Fokus-Hintergrund-Gliederung des Trägersatzes mal auf dem Vorerstausdruck und mal auf X. Bei den fokussierenden und den fokussierten Vorerstausdrücken ist die Akzentplatzierung also lexikalisiert, bei den fokussierbaren dagegen nicht. Solche informationsstrukturellen Aspekte können Argumente für die Beschreibung systemhafter Züge im Bereich der Unflektierbaren mittels Klassenbildung und -angabe sein. Sie stellen die Merkmale von Klassen in diesem Wortschatzsektor, die in Grammatiken anzugeben sind, auf eine objektivierbare Grundlage. Eine solche Grundlage steht m.E. für die Satzadverbien bezüglich der Verbindung formaler und inhaltlicher Phänomene derzeit noch aus. 7. Literatur Altmann, Hans (1976): Die Gradpartikeln im Deutschen: Untersuchungen zu ihrer Syntax, Semantik und Pragmatik. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 33). Clement, Daniele/ Thümmel, Wolf (1975): Grundzüge einer syntax der deutschen Standardsprache. Frankfurt a.M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag. (= Fischer Athenäum Taschenbücher 2057). Duden (1995): Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. Mannheim: Bibliographisches Institut. (= DUDEN 4). (5., völlig neu bearb. u. erweit. Aufl.). Eisenberg, Peter (1999): Grundriß der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. Stuttgart/ Weimar: Metzler. Engel, Ulrich (1991): Deutsche Grammatik. Heidelberg: Groos. (2., verbess. Aufl.). 416 Renate Pasch GDS (1997) = Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. (Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7.1-7.3). HdK (2003) = Pasch, Renate/ Brauße, Ursula/ Breindl, Eva/ Waßner, Ulrich Hermann (2003): Handbuch der deutschen Konnektoren. Linguistische Grundlagen der Beschreibung und syntaktische Merkmale der deutschen Satzverknüpfer (Konjunktionen, Satzadverbien und Partikeln). Berlin/ New York: de Gruyter. Helbig, Gerhard (1988): Lexikon deutscher Partikeln. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie. Hentschel, Elke/ Weydt, Harald (2003): Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin/ New York: de Gruyter. (3., völlig neu bearb. Aufl.). Jacobs, Joachim (1983): Fokus und Skalen. Zur Syntax und Semantik der Gradpartikeln im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 138). König, Ekkehard (1991): The Meaning of Focus Particles. A Comparative Perspective. London u.a.: Routledge. König, Ekkehard (1993): Focus Particles. In: Jacobs, Joachim/ Stemefeld, Wolfgang/ Vennemann, Theo (Hg.): Syntax. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 9.1). S. 978-987. König, Ekkehard/ Stark, Detlef (1991): The Treatment of Function Words in a New Bilingual German-English Dictionary. In: Abraham, Werner (Hg.): Discourse Particles. Descriptive and Theoretical Investigations on the Logical, Syntactic, and Pragmatic Properties of Discourse Particles in German. Amsterdam: Benjamins. (= Pragmatics & Beyond. New Series 12). S. 303-327. Weinrich, Harald (1993): Textgrammatik der deutschen Sprache. Unt. Mitarb. v. Maria Thurmair, Eva Breindl u. Eva-Maria Willkop. Mannheim: Bibliographisches Institut. Martine Dalmas Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 1. Von Läusen und anderen Nutztieren ... Die Sprachwissenschaft hat sich lange Zeit mit der Klassifizierung der so genannten ‘Gesprächswörter’ beschäftigt, d.h. zwangsläufig mit der Suche nach passenden Bezeichnungen für diese zum Teil lange Zeit verpönten Lexeme der deutschen Sprache. Dabei hat die Wahl der Bezeichnung ‘Partikeln’ bzw. ‘Modalpartikeln’ für die unauffälligsten Elemente unter ihnen zumindest diese aus ihrem Schattendasein geholt und [hat] gleichzeitig für ihr Ansehen gesorgt. Die „Läuse“ 1 wurden als Nutztiere akzeptiert! Mittlerweile ist über ihre Funktion als Einstellungsindikatoren hinaus auch ihre satzverknüpfende Rolle anerkannt und damit auch ihre Rolle als Dekodierungshilfe bei der Interaktion zwischen Sprecher und Rezipienten. Andere Elemente mit deutlicherer Verknüpfungsfunktion, 2 die ja meistens eine anaphorische Komponente enthalten {außerdem, dabei, damit, darüber hinaus, dennoch, so, überdies usw.), sind ebenfalls in den letzten Jahrzehnten in den Vordergrund gerückt. All diesen Lexemen ist gemeinsam, dass sie Funktionswörter sind, d.h., dass sie sich durch ihre Funktion(en) bezeichnen und beschreiben lassen. Dass diese Funktion zunächst als eine satzbzw. äußerungsverbindende angesehen und beschrieben wird, erklärt sich aus praktischen Gründen. Wer aber mit Texten umgeht sowohl rezeptiv als auch produktiv weiß, dass solche Elemente oft größere Einheiten miteinander verknüpfen und dass sie dadurch als wichtige Faktoren der Textkonstitution zu betrachten sind. Auch die sog. Modaladverbien auch ‘modale Satzadverbialia’ genannt mit ihren unterschiedlichen semantischen Kategorien werden noch lange brauchen, bis ihre (indirekt) verbindende Funktion 3 anerkannt wird. 1 Vgl. „sie wimmeln ‘wie Läuse im Pelz unserer Sprache herum’“ (Reiners, zitiert bei Helbig 1988, S. 14). 2 Sie haben sich dadurch z.T. den Namen ‘Konnektivpartikeln’ verdient und zählen zur großen Klasse der ‘Konnektoren’. 3 Vgl. Zifonun et al. (1997, S. 1126-1128). In Pasch et al. (2003) werden einstellige Satzadverbien ausdrücklich nicht zu den Konnektoren gezählt, denn ihr reaktiver Charakter betrifft ihre Verwendung und gehört nicht zu ihrem semantischen Gehalt. 418 Martine Dalmas Ich will hier weder auf die Vielfalt von Bezeichnungen noch auf die unvermeidlich fließenden Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen eingehen, vielmehr geht es mir darum, an drei dieser Elemente mit Modalfunktion exemplarisch zu zeigen, wie sie über ihre satzverknüpfende Funktion hinaus zur Textstrukturierung beitragen. Diese drei Lexeme sind jedenfalls, überhaupt und in der Tat. Ihre Wahl ist auf ihre Funktion zurückzuführen: Während alle drei einen Perspektivenwechsel 4 anzeigen, markiert jedes von ihnen einen Wechsel der Ebene, der ihren jeweiligen Beitrag zur Textgestaltung erklärt. Ich gehe also von der Hypothese aus, dass die Modalfunktion zwangsläufig zu einem Perspektivenwechsel führt. Dieser kann in manchen Fällen durch einen Wechsel auf der referentiellen oder auf der argumentativen Ebene erfolgen, in anderen Fällen aber auch auf der Sprechaktebene, nämlich durch einen Wechsel der Äußerungsinstanz. 5 2. Einengung der Perspektive: jedenfalls Die Autoren kategorisieren jedenfalls unterschiedlich, entweder als Konnektor oder als Konnektivpartikel, ohne jedoch den Grund für die Art der Konnektion näher zu untersuchen oder zu bestimmen. Zweifellos gehört jedenfalls zur geschlossenen Klasse derjenigen / a/ / ,s-Elcmcnte, die dazu dienen, den Geltungsbereich der vorangegangenen Äußerung oder Teiläußerung abzustecken. Auf der Satzebene handelt es sich bei diesen Äußerungen meist um Lokal-, Temporal- oder Modalangaben, deren Geltungsbereich auf diese Weise nachträglich präzisiert bzw. eingeschränkt wird. So in (1), (2) und (3): (1) Im Film ist das wahre Leben nicht zu sehen, jedenfalls nicht in Filmen unter achtzehn. (Kohlhaase, Inge, S. 45) (2) Auch Marx und Engels haben die Wendezeit im Zentrum Berlins überstanden, bisjetztjedenfalls. (Süddeutsche Zeitung, 7.11.1991) (3) Er [= ein schwarzer Markt unter Kindern] läßt sich nicht mehr ausrotten, jedenfalls nicht durch Verbote, weder von den Eltern, noch von der Polizei. (Schütz, Jette in Dresden, S. 24) 4 Zum Begriff „Perspektivenwechsel“, vgl. Dalmas (2001a, 2003). 5 Als ‘Äußerungsinstanz’ bezeichne ich hier, was die französische Sprachwissenschaft in Anlehnung an Ducrot (1984) ‘enonciateur’ nennt und auf die Stimmenvielfalt in einem anscheinend und scheinbar monologischen Text/ Diskurs verweist. Zur Stimmenvielfalt vgl. auch Bachtin (1979). Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 419 Es kann sich aber auch um die Einschränkung des Geltungsbereichs 6 von Äußerungen handeln, die die subjektive Einstellung, sei es die des Sprechers selbst oder die eines Dritten, wiedergeben. Dies geschieht dann mit formelhaften Wendungen wie ich glaube es jedenfalls, so habe ich es jedenfalls gehört, so steht es jedenfalls in der Zeitung usw. wie etwa in (4) und (5): (4) Arbeit istja ein eminent politischer Faktor, und im Bereich Arbeitswelt kann ich politische Zusammenhänge am besten darstellen, das glaube ich jedenfalls. (Arnold, Gespräche mit Schriftstellern, S. 125) (5) Udo hat das entnehme ich seinem ersten verworrenen Bericht jedenfalls einen neuen Wunsch oder eine Bemerkung seiner Mutter wieder mißverstanden. (Martin, Kein Schnaps für Tamara, S. 125) Interessanter ist für uns der Gebrauch von jedenfalls auf transphrastischer Ebene, der auch eine Art ‘Rückzug’ erlaubt, aber einen Rückzug anderer Natur und anderen Umfangs: jedenfalls markiert in solchen Fällen die Rückkehr zum Hauptthema, es erfolgt also ein thematischer Rückschritt zum Hauptstrang der Erzählung. Ein solches Verfahren findet sich nämlich vorwiegend in narrativen Texten, seien sie mündlich oder schriftlich. In der Belletristik kann dies sogar zum Kunstgriff werden, wenn es dem Autor darum geht, zwei narrative Stränge nebeneinander verlaufen zu lassen. So zum Beispiel in dem Roman von S. Lenz „Heimatmuseum“, in dem der Erzähler immer wieder von einer Erzählebene zur anderen wechselt oder sich längere Exkurse bzw. Kommentare erlaubt, wobei er die Rückkehr zum Hauptthema systematisch durch jedenfalls einleitet. Beispiele (6) und (7) gehören dazu. Beispiel (6) befindet sind gleich auf der ersten Seite des Romans; der Erzähler hat im ersten Absatz die Brandstiftung schon gestanden, die er im Roman erklären will; im zweiten Absatz hat er versucht, sich mit seinem Zuhörer, der mit Brandverletzungen im Krankenhaus liegt, zu unterhalten, und im dritten Abschnitt kommt er zurück zum Hauptthema: (6) Nein, es war kein Unglück. Ich habe das Feuer gelegt, an einem Abend, am Abend des achtzehnten August, mir blieb nichts anderes mehr übrig, als das Museum zu zerstören [...] 6 Vgl. Perennec (1990). 420 Martine Dalmas Rauchen Sie ruhig, ein Aschenbecher ist im Nachttisch ... Was meinen Sie? Es ist so schwer, Sie zu verstehen, durch all die Verbände ... [...] Jedenfalls, damit Sie auch dies wissen: Den Brand legte ich mit Abfall aus der Webstube, den ich mit Benzin tränkte und [...]. (Lenz, Heimatmuseum, S. 7) In Beispiel (7) wendet sich der Erzähler zunächst an seinen Zuhörer mit einem Kommentar und setzt dann seine Erzählung an dem Punkt wieder fort, wo er sie abgebrochen hatte: (7) [...] und dann trat einer an Blasks Schlitten heran, ein bleicher Mann mit schleppenden Bewegungen, Johannes Hauser ... Erstaunt? Das braucht Sie nicht zu erstaunen, mein Lieber, das war nun mal so bei uns: die eigenen Leute hießen vielleicht Konopatzki, Piassek oder Sobottka, und hier in Klein-Grajewo trugen sie eben Namen wie Gutkelch oder Niedermüller oder Hauser ... Jedenfalls, ich sehe Johannes Hauser noch dastehen, ein gekrümmtes Profil vor milchiger Sonne. (Lenz, Heimatmuseum, S. 56) Für den Text als Ganzes fungiertjedenfalls als wichtiger und in vielen Fällen unverzichtbarer Marker des Ebenenwechsels. In den eben angeführten Beispielen steht es sogar in der vorersten Stellung, im so genannten Vor-Vorfeld, als eine Art Wegweiser für den Rezipienten/ Leser. In dieser Funktion ist es kaum wegzudenken: Ohne das Aushängeschild jedenfalls würde der neue Absatz thematisch ‘in der Luft hängen’ und der Leser hätte die größte Mühe, ihn ‘in Relation zu setzen’, d.h. seine Relevanz zu finden. Aber auch ein durch jedenfalls angeschlossener Nachtrag kann textstrukturierend benutzt werden. Er ermöglicht bisweilen die Einführung eines neuen Parameters und dadurch auch den Wechsel zu einem allgemeineren Aspekt der Thematik wie in Beispiel (8), wo der Sprecher über die Unfähigkeit der Deutschen, „miteinander zu leben“, spricht: (8) [...] Um es einfach zu sagen: Deutsche lieben einander nicht. Jedenfalls nicht genug, um diese zahlreiche, anspruchsvolle, schwerbeladene Nation von innen zusammenzuhalten. Das Verbindende wird öffentlich deklariert, ist aber nicht wirklich vor- Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 421 handen, nicht im Verhältnis der einzelnen zueinander, nicht in den intimen Strukturen, aus denen eine Gesellschaft besteht. Die deutsche Familie ist auffallend zerrüttet. Statistiken belegen den Trend zur Single-Gesellschaft, den Geburtenrückgang: Millionen Versprengte, überaltert, einsam, demoralisiert. (Noll, Deutschland, ferner Schatten, S. 145) Der neue Absatz, der hier mit jedenfalls beginnt, greift das Thema des vorhergehenden Satzes wieder auf, um die Behauptung zu relativieren und eine Einschränkung einzuführen {nicht genug), die dann im ganzen Absatz ausgeführt wird und mit einem negativen Fazit über die heutige deutsche Gesellschaft endet. Dadurch, dass der Sprecher hier bei seinen Ausführungen über die Folgen einer ungenügenden Liebe der Deutschen zueinander einen höheren Gewissheitsgrad zeigt und somit den Geltungsanspruch für seine Ausführungen unterstreicht, erhöht er gleichzeitig seine Glaubwürdigkeit. Nach dem ziemlich pauschalen Urteil am Ende des vorhergehenden Absatzes {Deutsche lieben einander nicht) erscheint hier der Anfang des neuen Absatzes aufgrund der Einschränkung zunächst etwas bescheidener und glaubhafter. Davon profitieren dann die darauf folgenden Ausführungen im ganzen Absatz: Sie gewinnen an Relevanz. Schließlich ist noch das Einsetzen von jedenfalls bei Schlussbetrachtungen zu erwähnen, bei dem es darum geht, etwa nach Überlegungen oder gar Prognosen zu einem Thema oder einer Sachlage zurückzukommen, in denen der Sprecher seine Gewissheit zum Ausdruck bringen kann. Das letzte Wort soll auch das sicherste sein. (9) Und während man anderswo noch an Datenhelmen bastelt, die die virtuelle Realität im Kopf des Menschen erzeugen sollen, existiert sie hier schon als kollektiv-privater Rausch: Inmitten von 400 Gleichgesinnten ist jeder allein — mit sich und seiner 3D- Vision. An Filmen wird jedenfalls kein Mangel herrschen. Jean- Jacques Annaud plant schon die maximale Fortsetzung mit einer 3D-Trilogie: Zwei weitere Werke über die französischen Postflieger hat er in Arbeit - und einer davon ist sogar Antoine de Saint-Exupery. (Focus, 23/ 1996) 422 Martine Dalmas 3. Erweiterung der Perspektive: überhaupt Auch überhaupt wird unterschiedlich eingeordnet und bezeichnet: Aufgrund seiner Erststellungsfähigkeit findet man es oft in der Klasse der Satzadverbien; da es aber auch unbetont im Satzinneren, und zwar in Fragesätzen, erscheinen und in dieser Stellung mit eigentlich oder denn konkurrieren kann, wird es von manchen Autoren als Partikel betrachtet. Fungiert es als Begleiter der Negation, dann rückt es in die Nähe der Gradpartikeln. Überhaupt gehört zweifellos zu den Elementen mit der größten funktionalen Vielfalt: Wie jedenfalls kann es intra- oder transphrastisch fungieren und nicht nur Sätze, sondern auch ganze Absätze oder gar Textteile miteinander verbinden. Last, but not least, es kann in Verbindung mit und allein stehen, stellvertretend sozusagen für alle möglichen Argumente: (10) Frau Hedwig hatte ihre Gesangstunden aufgegeben. Kempenich verstand nicht warum und redete ihr zu. Man muss etwas für die Kunst tun, und was sollen die Leute denken, das siehtja aus, als müsste man sparen. Aber Hedwig wollte nicht. Erstens weil sie keine Lust hatte, und zweitens überhaupt. Gegen „überhaupt gibt es keine Widerlegung. (Spoerl, Wenn wir alle Engel wären, S. 38) Uns interessiert hier in erster Linie der Gebrauch von überhaupt in argumentativen Kontexten. Es ermöglicht nämlich den Übergang zu einer breiteren und allgemeinen Ebene, d.h. zu einem weiter reichenden bzw. allgemeingültigen Argument, das ‘über den anderen’ steht und sie womöglich einschließt. Schon intraphrastisch lässt sich dies beobachten: (11) Tut mir leid, Herr Kommissar. Aber soweit ich sagen kann, von unseren Leuten, also von den Bühnenarbeitern, überhaupt von den ganzen Handwerkern, kann das keiner gewesen sein. Ich würde bei keinem 'n Sinn darin sehen. (Martin, Wotan weint und weiß von nichts, S. 102) Transphrastisch ist der Wechsel der Ebene noch deutlicher: (12) Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wiederum nicht. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte überhaupt vermieden, ihn zu berühren. (Süskind, Das Parfüm, S. 116) Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 423 Durch überhaupt wird in diesen beiden Fällen der allgemeine Fall, die Allgemeinregel markiert, der/ die den vorher erwähnten Einzelfall erklärt und evtl, auch rechtfertigt. Auf Textebene ermöglicht es einen ähnlichen Schritt, allerdings mit weit reichenden Folgen: Der Ebenenwechsel erweitert die Perspektive und erlaubt die Erwähnung allgemeiner Aspekte, auf die dann näher eingegangen wird: So in Beispiel (13), einem Auszug aus einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1991 über die dramatische Situation der ostdeutschen Industrie nach der Wende; zunächst wird ein Einzelfall beschrieben, mit überhaupt erfolgt dann der Übergang zu dessen Gültigkeit für ein ganzes Gebiet, für mehrere Regionen der ehemaligen DDR: (13) Ein Beispiel von besonders hoher Dramatik ist die Textil- und Bekleidungsindustrie. [...] Überhaupt gilt, dass Regionen mit industriellen Monostrukturen, etwa das Vogtland, das Mansfelder Revier oder Ostsachsen, wenn nicht rasch gegengesteuert wird, in Massenarbeitslosigkeit versinken. (Berliner Zeitung, 31.12.1991) In (14) erweitert der Sprecher die Perspektive, indem er zunächst sein Verhalten im Garten beschreibt, es dann auf sein Gesamtwesen zurückführt, um gleich darauf das heutige Stadtleben in Wohnblocks zu thematisieren: (14) Ich bin auch gern in meinem Garten, das war vor drei Jahren ein wüster Fleck. Ich buddle gern und sehe, wie es wächst. Überhaupt bin ich sehr naturverbunden, ich muss Bäume um mich haben, ln einer Betonwüste wie in Potsdam am Stern könnte ich nicht wohnen, schon die Jugendhöhe in Werder wäre mir zuviel. Er war meiner Meinung nach falsch, dort tausendzweihundert junge Menschen, Lehrlinge und Jungfacharbeiter, zu konzentrieren. Werder ist damit überfordert, undfür die jungen Leute ist kein natürliches Hinterland da. Diese Blöcke, das sind doch keine Wohnhäuser, das sind moderne Schnitterkasernen, ein normales Leben kann sich da nicht entwickeln. [...] (Eckart, So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR, S. 185) Und in Beispiel (15) haben wir es mit einem Fall zu tun, wo überhaupt an der vordersten Stelle steht, d.h. vom Rest der Äußerung getrennt ist, als besonders deutliches Signal des Ebenenwechsels: Das Beispiel ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Otto Schily im Jahre 1990 im Rahmen einer Veranstaltungsreihe mit dem Titel Nachdenken über Deutschland gehalten hat. 424 Martine Dalmas (15) Die politische Linke wird Mühe und Ehrlichkeit aufwenden müssen, um sich aus vielen Peinlichkeiten und hohler Besserwisserei zu befreien, was ihr um so schwererfällt, als die alten Irrtümer nicht zum Kurs 1: 1 in fabrikneue Einsichten umgetauscht werden können. [...] Überhaupt, allerlei verwelktes Gedankengut wird zu kompostieren sein. Aber niemand in der DDR ist verpflichtet, seinen Geist aufzugeben, auch nicht zugunsten der Warenwelt des Westens. Mit exorzistischen Ritualen, so scheint es, soll der Marxismus der DDR-Gesellschaft ausgetrieben werden. Dafür besteht kein Bedarf. Der katechetische Marxismus löst sich von allein auf. [...] (Schily, Deutsch-Stunde, S. 159) Auch hier fuhrt die neue, erweiterte Perspektive zu einem neuen Aspekt der Thematik „Rolle der Intellektuellen“. Nach einer für die Intellektuellen in beiden Teilen Deutschlands geltenden durch überhaupt markierten - Aussage („allerlei verwelktes Gedankengut wird zu kompostieren sein“) nutzt der Sprecher Schily diesen Schritt gleich als Gelegenheit, auf das besondere Schicksal des „katechetischen Marxismus“ in der DDR einzugehen. Dem wird dann ein ganzer Absatz gewidmet. Man sieht es hier also deutlich: Die Leistung von überhaupt ist ein wichtiger Beitrag zur Textprogression, bei der die Kohärenz des Ganzen nicht zu kurz kommen darf. Beide Adverbialia jedenfalls und überhaupt weisen Ähnlichkeiten in ihrem Gebrauch auf. In beiden Fällen geht es dem Sprecher darum, einen Wechsel der Ebene zu verdeutlichen. Mitjedenfalls handelt es sich um eine Reduzierung des Blickwinkels, um einen Rückzug in einen engeren Bereich, mit überhaupt ist es im Gegenteil eine Erweiterung: Der Sprecher verlässt den Einzelfall, die Beschreibung einer konkreten Situation, die Darstellung eines genau abgesteckten Sachverhalts, und gelangt in einen weiteren, umfassenderen Bereich. In beiden Fällen jedoch ist dieser Ebenenwechsel ein Mittel, ein Thema oder Teilthema neu zu entwickeln und es bei der Textgestaltung vom Vorhergehenden deutlich ‘abzusetzen’. Die Markierung durch ein solches Satzadverb erweist sich oft als notwendig, solche Wegweiser braucht nämlich der Rezipient vor allem dann, wenn er von einer Erzählebene auf eine andere geführt werden soll, d.h. unter anderem, wenn mehrere Stimmen im Spiel sind. Eine solche Stimmenvielfalt liegt auch dem Gebrauch von in der Tat zugrunde, mit dem wir uns nun befassen möchten. Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 425 4. ‘Stimmwechsel’: in der Tat In der Tat gehört für die meisten Autoren zu den Modaladverbien bzw. zu den modalen Satzadverbialia und vertritt neben tatsächlich und wirklich die Gruppe der Elemente, die auf den Realitätsgrad des beschriebenen Sachverhalts hinweisen. 7 Diese feste polylexikalische Einheit fungiert meist transphrastisch und hat zwei Gebrauchsweisen, die sich jedoch auf eine einzige Funktion zurückfuhren lassen. In der Tat wird nämlich sowohl in monologischen als auch in dialogischen Kontexten verwendet. In monologischen Kontexten leitet es eine Aussage ein, die an eine stark modalisierte Äußerung anschließt (wie etwa eine Vermutung oder eine Behauptung, die sich auf den ‘Anschein’ stützt), und sie über den Verweis auf die Tatsachen bestätigt; so in Beispiel (16): (16) Für ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, daß Baldini mit den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hätte erkennen können. (Süskind, Das Parfüm, S. 106) In (17) knüpft der neue Absatz an einen Sachverhalt an, der mit einem Versprechen zusammenhängt, also noch ‘in die Tat’ umgesetzt werden muss: (17) Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Präsident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte. In der Tat ging der Prozeß gegen Grenouille äußerst zügig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdrückend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand. (Süskind, Das Parfüm, S. 289-290) 7 Hier weichen wir von der von Zifonun et al. (1997) vorgeschlagenen Klassifizierung der „assertiven Satzadverbialia“ etwas ab. Einen Vergleich von in der Tat und den mit ihm verwandten Elementen findet man bei Dalmas (1999) und (2001b). 426 Martine Dalmas Dieses Spiel mit einer anderen Stimme, von der sich der Sprecher zunächst distanziert, findet man natürlich auch in dialogischen Kontexten, in denen die andere Äußerungsinstanz sich mit einem anderen Sprecher deckt. Hier leitet in der Tat eine Aussage ein, die an die Äußerung eines anderen Sprechers anknüpft und sie ebenfalls aufgrund der erwähnten ‘Tatsachen’ entweder bestätigt oder widerlegt. In (18) zum Beispiel, einem Auszug aus einem Interview, wird dem Interviewten ein Standpunkt nahe gelegt, den er dann auch übernimmt: (18) Focus: Derzeit gehen Zehntausende auf die Straße. Läuten die Warnstreiks das Ende des vielgerühmten deutschen Modells ein? Berger: Das deutsche Modell hat in der Tat ausgedient. Nicht weil es nicht mehrfunktionieren könnte, sondern weil die soziale Marktwirtschaft zum überzogenen Wohlfahrtsstaat pervertiert wurde. Wir erleben Rückzugsgefechte, die auch Schaucharakter haben. Es protestieren alle, die nicht hinnehmen wollen, daß sich die Welt geändert hat, die meinen, ihre Macht bewahren zu müssen. (Focus, 23/ 1996) Besonders aufschlussreich sind dabei narrative Kontexte, in denen der fremde Standpunkt in direkter Rede wiedergegeben und dann vom Erzähler wieder aufgegriffen bzw. übernommen wird sozusagen nach Prüfung der konkreten Gegebenheiten. (19) ,Jch glaube'' 1 ', sagte das Mädchen, das sein kleines Geschwisterchen mitgebracht hatte, „es hat wirklich geregnet. Ich bin jedenfalls patschnaß.“ In der Tat war inzwischen das Gewitter niedergegangen. Und vor allem das Mädchen mit dem kleinen Geschwisterchen wunderte sich, daß es ganz vergessen hatte, sich vor Blitz und Donner zu fürchten, solange es auf dem stählernen Schiff gewesen war. (Ende, Momo, S. 33) (20) „Ja“, sagt ein Arbeiter, „weg ist weg! Ab mit Schaden! Gegen die Technik kommt keener an! “ - „Und wo“, frage ich ihn, „sind die Toten? “ Er zeigt mit der Hand in eine leere Stelle: ,JLier war einmal der Friedhof! Man hat sie übersiedelt, die Toten, sie liegen jetzt in Frankleben! “ Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung All In der Tat, sie liegen jetzt in Frankleben, die Toten! Aus der ewigen Ruhe, zu der man sie einst bestattet hatte, mußte man sie für eine Weile wecken, zwecks Übersiedlung. Und sie erhoben sich, mit Kreuz und Kegel, sie verließen den Boden, der aus den Gebeinen ihrer verstorbenen Ahnen bestand und der sich leider in Kali verwandelt hatte, und sie zogen auf Geheiß der Weltwirtschaft nach Frankleben und legten sich wieder unter einen frischen Rasen. (Roth, Orte, S. 112) Abschließend noch ein Beispiel, in dem der fremde Diskurs auf ein einziges Wort, ein Schlüsselwort, reduziert ist. Dieses wird zitiert, dann einfach übernommen und schließlich noch einmal in Anführungszeichen gesetzt, bis es endgültig angenommen und weiter ausgeführt wird. (21) [...] Denn für Freiheit“ ich entsinne mich genau sind die Menschen in Leipzig und Dresden und Jena auf die Straße gegangen; auch für die Pressefreiheit“. Nur in Freiheit und Selbstbestimmung kommen sie eines Tages auch zur Wiedervereinigung, zu ,J3ananen und Kohl“. ,Freiheit“ also — in der Tat ist ihr vornehmliches Medium das Wort. ‘Am Anfang war das Wort’, so steht es schon aufder ersten Seite eines der wichtigsten Bücher, die wir kennen, und das ist nicht nur die Antwort auf die Frage, wo die Schöpfung ihren Anfang nahm. Das Wort dauertfort durch die Zeiten. Es ist von Augenblick der Schöpfung an zum Medium, zum wichtigsten Mittel der Verständigung zwischen den Menschen geworden, die Gott „nach seinem Ebenbild geschaffen hat. Mit der Sprache entwickelte sich der Geist, erwuchs Bewusstsein, bildete der Mensch die Fähigkeit aus, zu verallgemeinern, in Begriffen zu denken. [...] (v. Lojewski, Nachdenken über Deutschland die Medien, S. 18) Ob monologischer oder dialogischer Kontext, in beiden Fällen haben wir es mit einem Perspektivenwechsel zu tun, der mit einem Wechsel der ‘Stimme’, d.h. der Äußerungsinstanz zusammenhängt. Wir betrachten nämlich Kontexte wie in (16) als Fälle, bei denen der Sprecher verschiedene (hier zwei) Standpunkte hintereinander vertritt. Der erste Standpunkt wird durch ein Modalwort oder ein ähnliches Mittel (hier ist es der als o6-Satz) abgeschwächt, der Sprecher distanziert sich damit von der geäußerten Proposition 428 Martine Dalmas und schreibt sie einer Äußerungsinstanz zu, welcher er in einem nächsten Schritt noch Recht oder Unrecht gibt Die Tatsachen helfen ihm dann, diesen Standpunkt zu übernehmen - oder nicht. Dementsprechend erfolgt der Anschluss bestätigend mit in der Tat oder ablehnend mit in der Tat aber. 5. Von den Vorteilen eines Doppellebens ... Hinter der Kulisse der Modalfunktion spielt sich also ein anderes Leben ab; es darf uns daher nicht verwundern, wenn Elemente, die als „modale Satzadverbien“ bekannt sind, sich bei genauerem Hinschauen als Doppelgänger entpuppen. Da sie eine verknüpfende Funktion haben, hat man sie teilweise zu den ‘Konnektoren’ ‘gesteckt’, ohne sich genau zu fragen, wie diese konnektierende Funktion zustande kommt. Dass sie Sätze miteinander verknüpfen helfen, steht außer Zweifel, auch wenn diese Funktion neben der modalisierenden in den Hintergrund tritt. Dass sie aber auch größere Einheiten miteinander verbinden, ist jedoch kaum berücksichtigt worden, und somit auch nicht ihr Beitrag zur Textgestaltung. Die drei Adverbien, die wir hier untersucht haben, markieren über ihre Modalfunktion hinaus in erster Linie einen Ebenenwechsel und ermöglichen dadurch die Kombination von z.T. heterogenen Einheiten. Der Wechsel kann die referentielle Ebene betreffen oder die argumentative Ebene, er kann reduzierend oder erweiternd sein, er kann auch die Äußerungsinstanz selber betreffen und dem Sprecher einen fremden Standpunkt annehmen helfen eine fremde Ansicht sozusagen zur eigenen Einsicht. Diese unterschiedlichen Formen des Perspektivenwechsels und vor allem ihre Markierung durch Adverbien sind ein wichtiger Faktor von Textualität; denn einerseits geben sie dem Sprecher die Möglichkeit, auf seine eigene Sprecherrolle, d.h. hier auf seinen Umgang mit den Sachverhalten und Standpunkten hinzuweisen, andererseits erleichtert der Gebrauch von solchen Adverbien die Interpretation heterogener Einheiten, insofern als sie für ihre Kohärenz und ihre Relevanz sorgen. Der konkrete Hinweis auf den einschränkenden Rückzug, auf die Erweiterung der Perspektive sowie auf den fremden Standpunkt ist nämlich oft nötig, damit eine ganze Textpassage kohärent bleibt; außerdem ist der Hinweis auf den Ebenenwechsel ein wichtiges Mittel, die Relevanz des genannten Sachverhalts, des angeführten Arguments oder des erwähnten Standpunkts zu unterstreichen. Modalfunktionen als Mittel zur Textgestaltung 429 Modalfunktionen seien es assertive oder abschwächende liefern bekanntlich einen wichtigen Beitrag zur Textkonstitution, und Modaladverbien bzw. modale Satzadverbialia entpuppen sich hierbei in vielen Fällen als unverzichtbare Faktoren für das Zustandekommen von Textualität. Deshalb verdient ihr Doppelleben in Zukunft mehr Aufmerksamkeit, und deshalb sollte auch eine genaue Beschreibung ihrer Leistung zum Curriculum eines jeden ‘Texteschreibers’ gehören. 6. Literatur 6.1 Literaturangaben zu den Beispielen Arnold, Heinz Ludwig (1975): Gespräche mit Schriftstellern. München: Beck. Eckart, Gabriele (1984): So sehe ick die Sache. Protokolle aus der DDR. Leben im Havelländischen Obstanbaugebiet. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Ende, Michael (1970/ 1993): Momo. München: dtv. Kohlhaase, Wolfgang (1977): Inge, April und Mai. In: Silvester mit Balzac und andere Erzählungen. Berlin/ Weimar: Aufbau Verlag. Lenz, Siegfried (1978/ 1981): Heimatmuseum. München: dtv. Lojewski, Günther v. (1990): Nachdenken über Deutschland die Medien. In: Keller, Dietmar (Hg.): Nachdenken über Deutschland II. Reden. Berlin: Verlag der Nation. S. 17-38. Martin, Hansjörg (1966): Kein Schnaps für Tamara. Reinbek: Rowohlt. (=rororo thriller 2086). Martin, Hansjörg (1989): Wotan weint und weiß von nichts. Reinbek: Rowohlt. (= rororo thriller 2386). Noll, Chaim (1993): Deutschland, ferner Schatten. In: Rietzschel, Thomas (Hg.): Über Deutschland. Schriftsteller geben Auskunft. Leipzig: Reclam Verlag. S. 142-153. Schily, Otto (1990): Deutsch-Stunde. In: Keller, Dietmar (Hg.): Nachdenken über Deutschland II. Reden. Berlin: Verlag der Nation. S. 151-167. Schütz, Helga (1981): Jette in Dresden. Berlin/ Weimar: Aufbau-Verlag. Spoerl, Heinrich (1984): Wenn wir alle Engel wären. München: dtv. Süskind, Patrick (1985): Das Parfüm. Die Geschichte eines Mörders. Zürich: Diogenes Verlag. 430 Martine Dalmas 6.2 Verwendete wissenschaftliche Literatur Bachtin, Michail M. (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dalmas, Martine (1999): Fakten und Effekte: Wozu gebraucht man eigentlich tatsächlich u. Co.? In: Wotjak, Barbara/ Skibitzki, Bernd (Hg.): Linguistik und Deutsch als Fremdsprache. Festschrift für Gerhard Helbig zum 70. Geburtstag. Tübingen: Niemeyer. S. 53-65. Dalmas, Martine (2001a): Perspektivenwechsel durch Konnektoren und ‘Formen mit konnektorähnlicher Funktion’. In: Cambourian, Alain (Hg.): Textkonnektoren und andere textstrukturierende Einheiten. Tübingen: Stauffenburg. S. 109-127. Dalmas, Martine (2001b): Nackte Tatsachen auf frischer Tat ertappt. In: Heinrich, Wilma/ Heiss, Christine (Hg.): Modalitä e substandard. Bologna: CLUEB. S. 193- 213. Dalmas, Martine (2003): Soweit das Auge reicht? Stand- und Blickpunkte durch sog. Modalisatoren. Ein Rückblick. In: Baudot, Daniel/ Behr, Irmtraud (Hg.): Funktion und Bedeutung. Modelle einer syntaktischen Semantik des Deutschen. Festschrift für Fran? ois Schanen. Tübingen: Stauffenburg. S. 197-208. Ducrot, Oswald (1984): Le dire et le dit. Paris: Minuit. Helbig, Gerhard (1988): Lexikon deutscher Partikeln. Leipzig: VEB Verlag Enzyklopädie. Pasch, Renate/ Brauße, Ursula/ Breindl, Eva/ Waßner, Ulrich Hermann (2003): Handbuch der deutschen Konnektoren. Berlin/ New York: de Gruyter. Perennec, Marcel (1990): Fonction circonstancielle, enonciation, texte. In: Krier, Femande/ Quintin, Herve (Hg.): Composition et derivation verbale. La fonction circonstancielle. Rennes: G.R.I.G.S./ Universite de Haute-Bretagne. S. 61-75. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7.1-7.3). Bruno Strecker Ich mein 'ja nur. Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 1. Nur - Partikel oder Partikeln? Partikeln sind, so Daniele Clement,' die „mal aimes“ unter den Ausdrucksmitteln der Sprache. Eisenberg nennt sie „Zaunkönige und Läuse im Pelz der Sprache“, und nachdem er darauf verwiesen hat, dass sie lang stiefmütterlich behandelt wurden, beschließt er, dieser Tradition treu zu bleiben. 2 Genau das soll hier nicht geschehen. Hier soll von einer besonders fetten Laus die Rede sein: von der Partikel nur. Dabei sollen in der Hauptsache diese, etwas ketzerischen Thesen vertreten und begründet werden: Es gibt nicht mehr als eine Partikel nur. Die gängigen Subklassifikationen sind nicht aufrecht zu erhalten. - Nur wirkt in all seinen Verwendungen als Einschränkung und bedeutet in etwa soviel wie nichts als dies. - Es kann nicht davon die Rede sein, dass nur als niedrige Einstufung wirkt. - Nur wirkt in keiner Verwendung fokussierend, bezieht sich jedoch bei entsprechender Platzierung auf einen vorhandenen Fokus. Wenn hier bei einer einzelnen Partikel angesetzt wird und nicht allgemein beim Begriff der Partikel, dann wie ich meine aus gutem Grund: So kann erst einmal die leidige Wortklassendiskussion vermieden und der Blick auf das gerichtet werden, was an sprachlichen Fakten anzutreffen ist. Die grammatische Analyse kann dann mit diesen Fragen beginnen: - Wie ist es möglich, mit nur all das zu tun, was faktisch damit getan wird? - Worin besteht der genuine Bedeutungsbeitrag von nur in den verschiedenen Verbindungen, und wie ist er mit weiteren Faktoren zu verrechnen, die Satzbedeutungen konstituieren? 1 2 Daniele Clement gesprächsweise. Eisenberg (1986, S. 197). 432 Bruno Strecker Am Ende werden syntaktische Überlegungen stehen: - Welchen Status hat die Partikel im syntaktischen Gefüge eines Satzes? - Wie kann, wie muss die Partikel platziert werden, um ihre verschiedenen semantischen Funktionen zu erfüllen? 2. Die vielfältigen Verwendungsweisen von nur Dass nur verschiedene Verwendungsweisen kennt, ist lang bekannt. Man kann mit nur an etwas anknüpfen, etwas einstufen, Quantifikationen verschärfen, Gesagtes abtönen, und in Hinblick auf diese Funktionen hat man nur als Gradbzw. Fokuspartikel, Abtönungsbzw. Modalpartikel und Konnektivpartikel klassifiziert: Anknüpfung: (1) Und ich habe mich auch gesundheitlich in der Zeit sehr wohl gefühlt. Nur, in den letzten Jahren bin ich davon abgekommen, überhaupt Wein oder Bier zu trinken, weil ich, äh, nun einfach aufmeine Linie achten muss [...]. (Roman Herzog, 22.1.1994 in SDR3: Leute) (2) Natürlich wird auch kritisch gefragt, das ist ganz klar. Nur war halt bis jetzt eigentlich noch nicht Anlass da, um ah, um ah, kritisch zu fragen. (Franz Beckenbauer, Sommer 1994 in SDR3: Leute) (3) Ihre Behandlung war nicht verfehlt, sie war nur möglicherweise zu einseitig orientiert. (Thomas Mann, Der Zauberberg, SFV 1960, Bd. 3, Erste Buchausgabe: Berlin, 1924, S. 869) Abtönung: (4) Die Amerikaner bringen jetzt schon was her, Warten S' nur (Liesl Karlstadt, 1946, Bayerischer Rundfunk) (5) Wenn ich doch nur die Kraft hätte, Peter! (Domenica, Sommer 1994 in SDR3: Leute) (6) Mochten sie's nur alle mitanhören, daß sie nicht einverstanden war mit den Wünschen des jungen Mannes. (Jung, Die Magd vom Zellerhof, Hamburg: Martin Kelter Verlag, 1965, S. 60) Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 433 Quantiflkationsmodifikation: (7) Nur ein Wunder kann Sie aus Casablanca herausbringen, und die Deutschen haben Wunder verboten. - Wir sind nur an zwei Visa interessiert. (Senor Ferrari - Elsa Lund in Michael Curtiz' Film „Casablanca“) (8) Vom Knall geweckt rümpft nur der Hase, zwei, drei, vier Mal die Schnuppernase [...]. (Loriot, Advent) (9) Ich muss nich unbedingt fernsehn. - Ich auch nich. Nich nur, weil heute der Apparat kaputt is. Ich meine sowieso. Ich sehe sowieso nicht gern Fernsehn. (Evelyn Hamann und Loriot, Femsehabend) Einstufung: (10) Das ist eine Marotte von mir. Ich rauche Zigarillos und immer fünfpro Tag, aber das ist nur der Durchschnitt. (Roman Herzog, am 22.1.1994 in SDR3: Leute) (11) Würden Sie's uns begründen, warum Sie's nicht tun? - Nein, nur weil damit natürlich viele Fragen verbunden sind, wenn ich sage ja, man hätte, äh dann ja wieso und wo und wann und noch mit wem. Das mach ich einfach grundsätzlich nicht. (Wolfgang Heim und Markus Wolf, 21.6.1995 in SDR3: Leute) Die Lorschungslage in Sachen Partikeln ist heute bei weitem nicht mehr so trostlos wie zu Zeiten, in denen sie als Würz- oder Füllwörter diffamiert wurden, doch, und insoweit hat Eisenberg recht mit seiner Zurückhaltung, klare Vorstellungen, die linguistisches Gemeingut wären, zeichnen sich noch nicht ab. Von grammatischer Seite sind vor allem die verschiedenen Partikellexika 3 bemerkenswert. Nicht so sehr, weil sie bemerkenswerte Leistungen darstellen, bemerkenswert ist ihre Existenz, in der eine Präferenz für eine wortweise Behandlung des Phänomenbereichs zu erkennen ist. Tatsächlich tun sich Grammatiken aller Arten und Schulen ausgesprochen schwer mit der systematischen syntaktischen und semantischen Analyse der Partikeln. Das zeigt sich nicht zuletzt im aufs Ganze gesehen heterogenen Charakter gängiger Termini. 3 Unter anderen sind hier zu nennen: Helbig (1988), Metrich/ Faucher/ Courdier (1994/ 1995/ 1998/ 2002). 434 Bruno Strecker Im Lauf der Zeit hat sich auch ohne Konsens der interessierten Forschung ein gewisser Standard herausgebildet, was kaum überraschen kann, schließlich lebt die Sprachwissenschaft seit ihren Antangen mit zahlreichen Ungereimtheiten selbst in so elementaren Fragen wie der, was denn ein Satz, was eine Sprache sei. Dieser Standard wurde hier erst einmal unproblematisiert auf die Beispiele angewandt. Unten wird all das zumindest für die Partikel nur in Frage gestellt werden. Die Klassifikation kann sich im Kern durchaus auf zutreffende Beobachtungen stützen. Als Wortklassenunterscheidung bleibt sie dennoch verfehlt und fruchtlos. Tatsache ist, dass in allen Fällen dasselbe Wort auftritt und nicht etwa ein nur t , nur 2 , nur 3 . Als Hörer oder Leser erhält man mithin seitens der Partikel keinerlei Information darüber, welche Art von Partikel vorliegen könnte. Man muss sich an das Umfeld halten, in welches das Wort gestellt wurde, denn verschieden ist jeweils dieses Umfeld, nicht die Partikel selbst, und es ist ein gutes Prinzip, Unterschiede erst einmal an dem festzumachen, was verschieden ist, und nicht ausgerechnet an dem, was jeweils gleich ist. Natürlich ist es unvermeidlich, die Partikel in verschiedenen Umgebungen verschieden auszuwerten, doch das macht Gleiches nicht zu Verschiedenem: Ein Stein bleibt ein Stein, ob er als Bremsklotz, als Hammer-Ersatz oder als Kunstwerk fungiert. Aus syntaktischer Sicht kann man die Rede von Partikelklassen als J'agon de parier betrachten, die im Grund nicht Wortklassen, sondern syntaktische Funktionen bezeichnet. Semantisch hingegen ist auseinander zu halten, was ein Ausdruck an Bedeutung mitbringt und wozu er kraft des Mitgebrachten gebraucht werden kann. Aber muss man denn unbedingt davon ausgehen, dass es sich bei nur stets um ein und dasselbe sprachliche Zeichen handelt? Schließlich finden sich im Deutschen unstrittig mehrdeutige Ausdrücke, so etwa meine oder überdacht. Warum nicht auch nur? Immerhin ist nur in verschiedenen Verwendungen systematisch verschieden zu paraphrasieren: (5) a. Wenn ich doch nur die Kraft dazu hätte, Peter! b. Wenn ich doch bloß die Kraft dazu hätte, Peter! c. Wenn ich doch *lediglich die Kraft dazu hätte, Peter! d. Wenn ich doch *ruhig die Kraft dazu hätte, Peter! Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 435 (12) a. Der sieht michja nur von außen. b. Der sieht michja bloß von außen. c. Der sieht michja lediglich von außen. d. Der sieht michja *ruhig von außen. (13) a. Warten S'nur. b. Warten S' *bloß. c. Warten S' *lediglich. d. Warten S' ruhig. oder zu übersetzen: (14) a. Also gut, ich geb's dir, nur laß michjetzt in Ruh'. b. Bon, je vais te le donner, mais laisse moi tranquille maintenant. (15) a. Die Gegend ist schön, nur daß es dort öflers regnet. b. La region est belle, saufqu'ilypleut assez souvent. (16) a. Statt zu antworten, grunzte er nur. b. Pour toute reponse, il se contenta de grogner. (17) a. Nur das Benzin mußt du bezahlen. b. Tu n 'as que Tessence ä payer. 4 Solche Beobachtungen sind sicher hilfreich, wenn man die verschiedenen Kontexttypen erfassen will, in denen nur auftreten kann, doch das alles reicht nicht aus, um die Partikel damit als mehrdeutig zu bestimmen, denn, dass nicht immer dieselbe Paraphrase oder Übersetzung angemessen ist, beweist allein, dass es im Deutschen kein zweites Wort gibt, das exakt dieselbe Bedeutung hat wie nur. Paraphrasen geben Auskunft über Bedeutungsgleichheit, doch sie geben keine Bedeutungen an. Um wirklich die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks anzugeben, müsste man aus der Sprache heraustreten, sie, wie etwa Kuno Lorenz das versucht, 5 in Lehr- und Lemsituationen hintergehen, indem man sprachlichen Einheiten Weltausschnitte zuordnet. 4 Beispiele aus Meirich (1993). 5 S. etwa Lorenz (1968). 436 Bruno Strecker Anders als bei wirklich mehrdeutigen Ausdrücken finden sich bei verschieden kategorisierten Verwendungen von nur auffällige Gemeinsamkeiten. Tatsächlich kann für alle Verwendungen von nur ein identischer Bedeutungsbeitrag angenommen werden. Wie immer man zur Einordnung von nur in verschiedene Partikelklassen stehen mag, gewonnen ist damit in jedem Fall nicht viel, denn nach wie vor bleibt zu klären, was die Partikel zur Satzbedeutung beiträgt und welche Stellung sie im syntaktischen Gefüge von Sätzen einnimmt. Die Zahl der Arbeiten, die hier Substanzielles zu bieten haben, hält sich in eher engen Grenzen. Zu nennen ist vor allem Jacobs (1983), auf dessen Arbeit ich noch zu sprechen kommen werde. 3. Die Semantik von nur oder was nur zu all dem befähigt Man hat sich als Linguist so daran gewöhnt, von nur als Grad- oder Fokuspartikel, als Abtönungs- oder Modalpartikel und als Konnektivpartikel zu sprechen, dass man, wenn die Rede auf nur kommt, gleich fragen möchte: „Welches Nur meinst du? “ Dabei versteht sich die Aufspaltung in Wortklassen keineswegs von selbst. Die Partikel nicht etwa wird keineswegs so auf verschiedene Klassen verteilt, obwohl sie sich, wie Jacobs zu Recht bemerkt, in mancherlei Hinsicht so verhält wie nur. Wie also kommt man dazu, verschiedene Partikeln nur anzunehmen? Bestimmend sind wohl diese Faktoren: - Es finden sich Verwendungen von nur, in denen die Partikel einschränkend wirkt, zum Teil auch skalierend zu wirken scheint, und solche, in denen dies nicht so zu sein scheint. - Nur kann in Sätzen auftreten, in denen eine Fokussierung vorliegt, und in solchen, in denen das nicht der Fall ist. 6 Wie die verbreitete Bezeichnung Fokuspartikel zeigt, wird das Auftreten bestimmter Partikeln mit dem Vorliegen eines Fokus in Verbindung gebracht. Man nimmt an, die Partikel wirke fokussierend. Da sie dies jedoch offenkundig nicht immer tut, müsste man, sofern dies korrekt wäre, von zwar gleich lautenden jedoch verschiedenen Ausdrücken ausgehen. Die Annahme einer fokussierenden Wirkung von Partikeln lässt sich jedoch nicht wirklich bestätigen, denn die vorzufindenden Fokussierungen hängen nie 6 Fokus und Fokussierung sind hier durchweg im Sinn eines engen Fokus zu verstehen. Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 437 vom Auftreten entsprechender Partikeln ab, sondern allein davon, dass der nötige Rahmen dafür gegeben ist. Dies wird verkannt, wo isolierte Beispielsätze zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht werden, weil dabei ausgeblendet wird, was eine Fokussierung auslöst, ln der Not hält man sich dann an die Partikeln als Fokussierungsindikatoren, wie man sich an den Rauch hält, wo man das Feuer nicht sieht. Betrachtet man hingegen ganze Gesprächs- und Interaktionssequenzen, lässt sich besser bestimmen, was wirklich für die Fokussierung verantwortlich ist. Ein Beispiel dafür: (18) Ihre Behandlung war nicht verfehlt, sie war nur möglicherweise zu einseitig orientiert. (Thomas Mann, Der Zauberberg, Berlin: SFV 1960, Bd. 3, S. 869) Hier bildet die Phrase zu einseitig orientiert einen Kontrast zu verfehlt und wird eben deshalb fokussiert. Dass Fokussierungen nicht auf Partikeln zurückzuführen sind, zeigt sich auch daran, dass man Partikeln tilgen kann, ohne dass sich dadurch etwas an der Fokussierung und am Intonationsverlauf zu ändern hätte. Dass nur sowohl in Sätzen mit als auch in Sätzen ohne Fokus jedenfalls ohne engen Fokus auftreten kann, ist charakteristisch für diese und einige weitere Partikeln. Man könnte eine ganze Klassifikation darauf aufbauen. Trifft die mit nur ausgedrückte Beschränkung auf einen Fokus, reagiert sie ganz wie die Negation: Sie wirkt nicht einfach pauschal, sondern bezieht sich in besonderer Weise auf das, was fokussiert ist. Fokusbezug ist allerdings, wie erwähnt, nicht das einzige Charakteristikum, auf das sich die übliche Partikelklassifikation stützt. Im Fall von nur wird auch vorgebracht, bestimmte Verwendungen wirkten einschränkend, bei anderen fehle diese Wirkung. Ich denke: Sie fehlt nie. Mit nur wird stets zum Ausdruck gebracht: nichts als dies was semantisch klar zu fassen ist, da es ausschließlich logische Begriffe nutzt. Zu fragen ist allein, welchen kommunikativen Sinn die Einschränkung jeweils hat und was davon betroffen ist. Dass ein und dieselbe Ausdruckseinheit in gleicher Bedeutung ganz verschiedene Auswirkung auf das Zustandekommen der Satzbedeutung haben kann, ist keineswegs ungewöhnlich: Man findet dieses Phänomen etwa auch bei der Analyse von Kausal- und Konditionalsätzen, wie sich bei diesen Beispielen zeigt: 438 Bruno Strecker (19) Die Pflanze ist eingegangen, weil du sie zuwenig gegossen hast. (20) Sie müssen geerbt haben, weil sie auf einmal lauter neue Sachen haben. (21) Die Räuber hat Schiller geschrieben und nicht Kleist, weil du das behauptet hast. (22) Die Karre bricht zusammen, wenn du noch mehr darauf packst. (23) Sie sind Herr Kugler, wenn ich mich nicht irre. (24) Wir sind im Schwarzen Adler, wenn Peter nach uns fragt. Was hier mit einem Kausalsatz bzw. Konditionalsatz zum Ausdruck gebracht wird, ist jeweils auf verschiedenen Ebenen auszuwerten. Wie man sich dies bei der Partikel nur vorzustellen hat, zeigt am besten ein Raisonnement anhand einiger Beispiele: 3.1 Zu Beispiel (1) - Nur, in den letzten Jahren ... Aus diskursanalytischer Sicht stellt sich die Sache so dar: Der Hörer wird mittels nur darauf vorbereitet, dass weiter reichende Erwartungen, die das Gesagte hervorgerufen haben könnte, sich im Folgenden nicht bestätigen werden. Man spricht hier üblicherweise von einer Funktion als Konnektor und bezeichnet nur entsprechend etwa als Konnektivpartikel. Es ist allerdings zu bedenken, dass keineswegs direkt an die Aussagen angeknüpft wird, die vor der Partikel vorgebracht werden. Es wird vielmehr ein Zusammenhang hergestellt zwischen unausgesprochenen Erwartungen, die durch das bereits Gesagten ausgelöst werden könnten, und dem, was auf die Partikel folgt. Dabei wird nur ganz im Sinn seiner Bedeutung wirksam: Es gilt, was gleich folgt, und es gilt nichts als dies. Die verbindende Wirkung ergibt sich so: Mit nur wird eine Grenze gezogen, und Grenzen schaffen Zusammenhänge, auch wenn dies paradox scheinen mag, eben dadurch, dass sie trennen. 3.2 Zu Beispiel (4) - Warten S' nur! Die Partikel wird bei solcher Verwendung üblicherweise als abtönend beschrieben, was ebenso vielwie nichtssagend ist. Was heißt abtönend? Helbig (1988) - und er ist nicht untypisch spricht im Zusammenhang mit Abtönung mal von Nachdruck, von Erhöhung der Dringlichkeit, mal von Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 439 subjektiver Interesselosigkeit, mal von Bewunderung, und damit ein und dieselbe Partikel derart Verschiedenes leisten kann, geht er konsequenterweise davon aus, dass allein sechs Abtönungspartikeln nur zu unterscheiden sind. Schuld an dieser Inflation hat eine elementare Fehleinschätzung, die im Bereich der Partikelsemantik nicht selten ist: Man schreibt der Partikel Wirkungen zu, die sich erst im Zusammenspiel mit spezifischen Kontextbedingungen ergeben. Die Aufforderung Warten S' nur! ist als Aufforderung zu werten plus Hinweis, es brauche nichts als dies. Wenn hier von brauchen die Rede ist und nicht, wie zuvor, von gelten, ist das dem Umstand geschuldet, dass nur im Kontext einer Aufforderung auftritt und mithin der Wirkung ihres Anspruchs unterworfen ist. Ein spezielles Interpretationsproblem mit der Bedeutung von nur ergibt sich damit nicht, allenfalls die Frage, was es mit dem Hinweis auf sich haben könnte. Doch das hat dann bereits mit den speziellen Umständen zu tun und kann je nach Lage der Dinge zu recht verschiedenen Antworten führen. 3.3 Zu Beispiel (7) - Nur ein Wunder ... Die beiden Verwendungen von nur in diesem Beispiel sind fokusbezogen und könnten grundsätzlich als quantifikationsmodifizierend oder als skalierend interpretiert werden. Stellt man den Kontext in Rechnung, in dem diese Äußerungen vorgebracht werden, lässt sich jedoch festhalten, dass in beiden Fällen die Restriktion einer Quantifikation erreicht wird: im ersten Fall nur ein Wunder auf ein einzelnes Element der Menge der Ereignisse, die geeignet sein könnten, Victor Laszlo und Elsa Lund aus Casablanca herauszubringen, im zweiten Fall nur an zwei Visa interessiert auf eine bestimmte Anzahl, nämlich zwei. Um die Restriktion zu leisten, braucht es durchaus keine spezielle Bedeutung von nur. Das wird deutlich, wenn man nur in diesen Sätzen tilgt, denn dann ergeben sich Quantifikationen, die in einer Weise offen sind, die nach der Modifikation mittels nur nicht mehr gegeben ist. Hätte Ferrari behauptet, dass ein Wunder Victor und Elsa aus Casablanca herausbringen könnte, hätte er nicht ausgeschlossen, dass auch andere Möglichkeiten bestehen könnten. Mit nur schließt er dies ausdrücklich aus: ein Wunder und nichts als dies. Und hätte Elsa einfach gesagt, sie seien an zwei Visa interessiert, wären sie 440 Bruno Strecker vielleicht auch ins Geschäft gekommen, wenn lediglich ein Visum zu bekommen gewesen wäre. Mit nur schränkt sie die Erfüllungsbedingungen für ihr Verlangen auf die exakte Anzahl ein und blockt Ferraris Angebot, ein Visum zu beschaffen, ab. 3.4 Zu Beispiel (10)-... das ist nur der Durchschnitt Was diese Mitteilung etwas eigenartig macht, ist der Umstand, dass nach der Feststellung „und immer fünf pro Tag“ eigentlich kein Raum mehr bleibt für die sprecherseitige Einschränkung, es handle sich aber nur um den Durchschnitt. Das Ganze wäre weniger auffällig, hätte zwischen beiden Feststellungen ein Sprecherwechsel stattgefunden. Wir hätten dann die klassische Verwendung von nur. Jemand behauptet etwas hinsichtlich einer bestimmten Quantität, und ein anderer weist dies zurück, indem er seinerseits eine andere Quantität setzt, verbunden mit dem Hinweis, es gelte nichts als dies. Verschiedentlich wird angenommen, bei solchen Verwendungen von nur sei zudem eine eher niedrige Einstufung zu erkennen. Meines Erachtens handelt es sich dabei um eine weitere Fehleinschätzung. Nur schränkt ein, und oft ist das, worauf eingeschränkt wird, von minderer Güte. Daher der Eindruck niedriger Einstufung auf einer Werteskala. Doch Einschränkung liegt auch hier vor: (25) Nur die Besten der Besten überstanden die Strapazen. Auch hier gilt einfach: Nichts als dies. 3.5 Die m/ r-Operation Wenn die Kriterien für eine Unterscheidung verschiedener Klassen von Partikeln nur nicht greifen, gibt man die Klassifikationsversuche am besten einfach auf. Sie würden ohnehin nicht sehr erhellend wirken, da in jedem Fall zu fragen bleibt, was jeweils mit nur erreicht wird. Will man unbedingt eine griffige Bezeichnung für die Anwendung von nur haben, kann man sie pauschal als die ««/ --Operation bezeichnen. Diese ist wie die Negation einstellig, wird wie diese auf Sätze oder, um präziser zu sein, auf deren Bedeutungen angewandt und führt wegen ihres besonderen semantischen Bezugs zu einer möglicherweise gegebenen Fokussierung zu ähnlichen Irritationen wie die Negation. Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 441 Vielfach, und das schlägt sich auch in syntaktischen Überlegungen nieder, wird ein gegebener Fokus, auf den nur bezogen ist, mit dem Skopus der nur- Operation gleichgesetzt, mit der fatalen Konsequenz, dass dadurch der Charakter der Operation unverständlich wird, denn welcher Art Entität könnten etwa ‘nur zwei Beine’ sein? Es muss mindestens ein Anspruch auf Existenz hinzukommen, damit eine derartige Einschränkung greifen kann. Wie Jacobs (1983) gehe ich davon aus, dass der semantische Bereich von nur, mit anderen Worten sein semantischer Skopus, eine Satzbedeutung ist, soweit nur nicht innerhalb einer Nominalphrase auftritt. Auf Fälle dieser Art kann ich in diesem Rahmen nicht eigens eingehen. Dazu nur soviel: Nur kann in Nominalphrasen an diesen Positionen auftreten: (a) an Erstposition, bei artikellosen Nominalphrasen, wenn diese Teil einer Präpositionalphrase sind: (26) Die BGS Systems, Erkrath, weist darauf hin, daß mit der Freigabe von dem Programm Best/ 1 für Unix nun unternehmensweites Performance- und Kapazitätsmanagement plattformübergreifend unter nur einer Benutzeroberfläche möglich ist. (Computer Zeitung, 4.11.1993, S. 10) (b) zwischen Artikel und pränominalem Attribut: (27) Eine nur per Video hör- und sehbare Zeugin bestätigte diese Ansicht des Staatsanwaltes. (Salzburger Nachrichten, 24.11.2000; Den Tod in den Augen) (c) zwischen Kopfnomen und postnominalem Attribut: (28) Ein Urteil nur nach ästhetischen Maßstäben würde angesichts ihrer Beliebigkeit ziemlich ungnädig ausfallen und träfe wohl auch gar nicht die Intention der Veranstalter, (die tageszeitung, 14.10.1996, S. 23) (d) innerhalb eines Attributsatzes: (29) Minimalausrüstung, um die eigene DVgegen potentielle Angriffe zu schützen, sind Firewall-Systeme, die nur definierten Anwendern Zugriff auf die lokalen Rechner erlauben und die deren Benutzung überwachen. (Computer Zeitung, 9.9.1996, S. 10) Bei Verwendungen, wie sie unter (a)-(c) aufgeftihrt sind, erstreckt sich der Skopus der «wr-Operation zwar ausschließlich auf die Phrase, in der nur auftritt, doch handelt es sich dabei ausnahmslos um Phrasen, die als Sätze 442 Bruno Strecker reformuliert werden könnten, weil in ihnen gewissermaßen in Kompaktform eine Argument-Prädikat-Struktur gegeben ist. In attributslose Nominalphrasen mit echt nominalem Kopf 7 kann nur nicht eingefügt werden: (30) *ein nur Buch, *der nur Besucher Dass Satzbedeutung bei komplexen Sätzen nicht immer und unbedingt Bedeutung des ganzen Satzes heißen muss, zeigt sich bei Verwendungen, wie sie unter (d) aufgeführt sind. Um die generelle These zum Skopus von nur zu stützen, muss man zu stilistisch wenig überzeugenden skopus-explizierenden Paraphrasen greifen, ähnlich jenen, die in der Prädikatenlogik üblich sind: (31) a. Das ist nur der Durchschnitt. b. Es ist nurfestzustellen, dass das der Durchschnitt ist. Das Verfahren lässt sich auch auf Sätze anderer Modi ausdehnen, wenn man die nötigen Anpassungen vomimmt. So kann man etwa bei Aufforderungssätzen es ist festzustellen ersetzen durch es ergeht die Aufforderung, bei Wunschsätzen durch es besteht der Wunsch: (32) a. Warten S' nur. b. Es ergeht nur die Aufforderung zu warten. (33) a. Wenn ich nur die Kraft hätte. b. Es besteht nur der Wunsch, dass ich die Kraft hätte. Während die Bestimmung des Skopus der «wr-Operation noch vergleichsweise leicht fällt, bereitet es größere Schwierigkeiten zu klären, was es mit dem besonderen semantischen Betroffensein des Fokus auf sich hat. Jacobs, der dieses Problem m.W. zuerst klar formuliert hat, präzisiert dies in Fokus und Skalen (= Jacobs 1983) in einer aufwändigen technischen Theorie. Hier beschränke ich mich auf eine zugegebenermaßen eher intuitive - Erklärung dieser Erscheinung: Der Bezug auf den Fokus wirkt in gewisser Weise als Identifikation des Verursachers der Einschränkung, die mit nur vorgenommen wird. 7 Anders bei so genannten deadjektivischen Nomina wie Angestellte, Fremde, Verlobte, die sich formal auch bei solcher Verwendung ganz wie Adjektive verhalten und semantisch den Charakter eines Prädikats haben, das auf ein ausdrucksseitig nicht länger präsentes Argument angewandt wird, das ursprünglich den Kopf der Phrase bildete. Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 443 Dadurch, dass die Einschränkung mittels mir bei einem fokussierten Element ansetzt, greift sie jeweils bestimmte, beim Adressaten vermutete Einschätzungen oder Erwartungen auf und weist diese als unhaltbar zurück. Hierzu eine Reihe von Beispielen, die sich abgesehen von der Positionierung der Partikel nur ausschließlich hinsichtlich des fokussierten Elements unterscheiden: (34) Manchen Leuten musst du das zweimal sagen. a. Nur MANchen Leuten musst du das zweimal sagen. b. Manchen Leuten musst nur DU das zweimal sagen. c. Manchen Leuten musst du nur DAS zweimal sagen. d. Manchen Leuten musst du das nur ZWEImal sagen. Mit (a) wird die Vermutung korrigiert, du müsstest das allen oder zumindest vielen zweimal sagen, mit (b) die Vermutung, dies träfe auch auf andere als dich zu, mit (c) die Vermutung, das gelte auch für weitere Mitteilungen, mit (d) die Vermutung, es müsste häufiger als zweimal gesagt werden. 4. Worauf sich die verschiedenen Interpretationen stützen können Der Status der Partikel nur als Ausdruck eines Satzbedeutungsoperators lässt ein Ausdrucksverhalten in der Art von Satzadverbial ia erwarten, also eine eigenständige, unmittelbare Satzkonstituente, die sich wie Satzadverbialia platzieren lässt und sich dabei eben mit diesen und mit ähnlichen Partikeln arrangieren muss. Soweit die Partikel nicht auf einen Fokus bezogen ist, trifft dies auch weitgehend zu. Ein konnektiv verstandenes nur etwa kann, was sein Stellungsverhalten angeht, in fast allen Positionen gegen ein Adverb wie vermutlich ausgetauscht werden. Ausgenommen ist allein die Position im linken Außenfeld, bei der, mehr als in allen anderen Positionen, der Charakter von nur als Schranke zum Tragen kommt, der dieser Partikel die Wirkung eines Konnektors verleiht, weil er innen und außen in Beziehung setzt. Bezieht sich die Partikel jedoch auf einen Fokus, scheint sie häufig fest mit dem Satzglied verbunden, dem das Wort angehört, das den Fokusakzent trägt. In Permutationstests lässt sich nur mit solchen Phrasen gemeinsam bewegen: 444 Bruno Strecker (35) a. Nur manchen Leuten musst du die Geschichte zweimal erzählen. b. Du musst nur manchen Leuten die Geschichte zweimal erzählen. c. Zweimal musst du die Geschichte nur manchen Leuten erzählen. d. Zweimal erzählen musst du die Geschichte nur manchen Leuten. Hat man die Partikel deshalb als Bestandteil dieser Phrasen zu betrachten oder als deren Ko-Konstituente? Dagegen spricht, dass Linksanbindung und überhaupt Anbindung an die den Fokus bergende Phrase keineswegs zwingend ist: (36) a. Ihre Behandlung war möglicherweise nur zu EINseitig orientiert. b. Ihre Behandlung war nur möglicherweise zu EINseitig orientiert. c. Ihre Behandlung war möglicherweise zu EINseitig nur orientiert. d. Ihre Behandlung war möglicherweise zu EINseitig orientiert nur. e. Nur war ihre Behandlung möglicherweise zu EINseitig orientiert. f. Nur, ihre Behandlung war möglicherweise zu EINseitig orientiert. Auch der Umstand, dass die Partikel sich dann mit Phrasen ganz verschiedener Kategorien zu einer Phrase dieser Kategorie zu verbinden hätte, spricht nicht gerade für diese Annahme, und da auch häufig nicht die ganze Phrase als Fokusausdruck zu betrachten ist, scheint der Zusammenhang zwischen Partikel und Phrase nur bedingt motiviert. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Partikel allein deshalb direkt an diese Phrase heranrückt, weil das die, wie Jacobs sich ausdrückt, maximal fokusnahe Position ist und maximale Fokusnähe maximale Verständlichkeit gewährleistet. Eine andere Lösung wäre, die Partikel synkategorematisch einzuführen, sie also gewissermaßen unanalysiert aus dem Ärmel zu ziehen. Für eine derartige Lösung hat sich Heringer in seiner Dependenzsyntax ausgesprochen (Heringer 1996). Jacobs betrachtet ein solches Vorgehen mehr als Kapitulation Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 445 denn als Lösung. Er schlägt vor, als syntaktischen Bereich fokusbezogener Partikeln nicht das den Fokusakzent tragende Satzglied zu betrachten, sondern jeweils die ganze auf der Verbendstellungsstufe auf die (Grad-)Partikel folgende nullbis dreistellige Verbalphrase. Diese Analyse hat den Vorteil, analog zur Syntax der Adverbien zu sein, deren formales Verhalten ohnedies dem Verhalten von Partikeln wie nur am nächsten kommt. Allerdings ergibt sich auch hier ein Problem der Mehrfachkategorisierung: Da als syntaktischer Bereich der Partikel verschieden gesättigte Verbalphrasen in Frage kommen, scheint nichts daran vorbeizuführen, auch verschiedene Partikelkategorien vorzusehen. Hier behilft sich Jacobs mit einer Metaregel, die Geach in seinem Program for Syntax entwickelt hat (Geach 1972): Wenn A-B - ► C, dann A-B/ D - ► C/ D. Ergibt ein Ausdruck A verbunden mit einem Ausdruck B einen Ausdruck C, dann ergibt die Verbindung von A mit B/ D Ausdrücke der Form C/ D. Auf das Verhältnis von Partikel und deren syntaktischem Bereich angewandt, bewirkt diese Metaregel, dass, wenn VO der syntaktische Bereich der Partikel sein kann, auch alle Vn mit n>0 ihr syntaktischer Bereich sein können: Wenn VO/ VO ■ VO VO, dann VO/ VO • VO/ T (=V1) -> VO/ T. Wenn VO/ VO • VI — VI, dann VO/ VO • Vl/ T (=V2) - ► Vl/ T. Wenn VO/ VO • V2 -> V2, dann VO/ VO • V2/ T (=V3) - ► V2/ T. Die Partikel kann dann generell als VO/ VO kategorisiert werden. Zu fragen ist allerdings, inwieweit es überhaupt korrekt ist, das Zusammenspiel von Fokussierung und Partikelgebrauch unter dem Aspekt der Komposition zu beschreiben. Fokussierung hat mit Vordergrund und Hintergrund zu tun, nicht mit Komposition. Nun braucht ein Hörer oder Leser nicht allein Informationen zur Komposition, sondern ebenso zu eventueller Fokussierung, da diese im Verbund mit einer Partikelanwendung auf spezifische Erwartungen oder Einschätzungen verweist. Die Information darüber, was im Fokus ist, erhält der Adressat einer entsprechenden Mitteilung jedoch nicht über eine Informationseinheit, die eigens dafür zuständig ist, also insbesondere nicht über eine so genannte Fokuspartikel. Sie ergibt sich vielmehr aus seinem Informationsstand sowie seinen Erwartungen und Einschätzungen zu dem Zeitpunkt, in dem er Kenntnis von einem Gesprächsbeitrag erhält; gerade so, wie, was Vordergrund und was Hintergrund ist, von der Position des Betrachters abhängig ist. 446 Bruno Strecker Dagegen möchte man einwenden, da wäre doch immerhin der so genannte Fokusakzent. Das ist wohl zutreffend, doch wird die Wirkung dieses Akzents meines Erachtens weit überschätzt. In der alltäglichen Redepraxis hat er allenfalls Hilfsfunktion. Studien an authentischem Material können belegen, dass man diesen Akzent mehr zu hören glaubt, als dass man ihn wirklich hören könnte, denn oft genug ist er faktisch gar nicht vorhanden. Ein falsch gesetzter Akzent führt deshalb selten zu anderer Fokussierung, sondern allenfalls zu meist reparabler - Irritation des Hörers. Wie also kommt man als Hörer an die nötige Information über eine Fokussierung? Man wertet eine erhaltene Mitteilung im Licht dessen aus, was man bereits weiß oder unmittelbar im Anschluss erfährt. Bei Informationslücken hilft man sich mit Konjekturen. Erkennt man den Fokus, findet sich, wo nur eine fokusbezogene Partikel vorliegt, das Weitere für den Hörer oder Leser tatsächlich von selbst. Erst bei mehreren Partikeln wird es wichtig, den jeweiligen Fokus korrekt zuzuordnen. Hier gilt diese einfache Regel: Was von links nach rechts mit der ersten Partikel ausgedrückt wird, ist auf den ersten Fokus zu beziehen, was mit der n-ten Partikel ausgedrückt wird, auf den n-ten Fokus. Als Sprecher oder Schreiber muss man allerdings mehr beherrschen. Man muss seinen Gesprächsbeitrag so organisieren, dass im Vordergrund steht, was man im Vordergrund haben will. Dazu muss man über Standardformen von Sätzen hinaus Verfahren der Fokussierung kennen. Ein effizientes Verfahren ist etwa die vollständige oder partielle Wiederholung des Gesagten unter Veränderung der kritischen Teilinformationen. Durch die partielle - Parallele werden Unterschiede auffällig. Durch Setzen von Fokusakzenten kann man die Unterschiede gewissermaßen unterstreichen. Korrekter Partikelgebrauch setzt all das voraus, und da die genaue Platzierung des Akzents innerhalb der zugehörigen Phrase für die Partikelplatzierung ohne Bedeutung ist, gehe ich darauf nicht weiter ein. Zur Platzierung von Partikeln ist dann festzuhalten: Partikeln sind im Prinzip vom linken Außenfeld bis zum rechten Außenfeld an allen phrasenextemen Positionen zu platzieren, soweit diese nicht bereits für andere Funktionen reserviert sind und soweit die Anforderungen an geeigneten Kontext erfüllt sind. Es gibt mithin keine Position, die von Haus aus für die Partikel vorgesehen ist. Sie muss sich stets mit anderem arrangieren. Eine Konsequenz Exemplarische Betrachtungen zu Syntax und Semantik von Partikeln im Deutschen 447 davon ist, dass es nicht gelingen kann, die Regeln der Partikelplatzierung im Rahmen einer kurzen Abhandlung umfassend darzulegen, deshalb sollen hier lediglich exemplarisch einige Kandidaten für Regeln und Bedingungen in Verbindung mit der Partikel nur vorgestellt werden: 1) Intonatorisch abgesetzt vor dem Vorfeld kann nur stehen, wenn es sich auf den gesamten nachfolgenden Satz bezieht, d.h. Skopus und Fokus identisch sind, und wenn der Äußerung ein Satz desselben Sprechers im selben Satzmodus, bei W-Fragemodus auch im Aussagemodus, unmittelbar vorangeht. 2) Unter denselben Bedingungen kann die Partikel im rechten Außenfeld stehen, doch ist eine Platzierung nach Regel 1 vorzuziehen, und zwar umso mehr, je länger der zweite Satz ist. 3) Unter denselben Bedingungen kann die Partikel unmittelbar nach dem finiten Verb stehen, sofern keine Topikalisierung vorliegt. 4) Liegt eine Topikalisierung vor, und die Partikel steht zwischen Finitum und Subjekt, muss dieses fokussiert sein, was unausweichlich dazu fuhrt, dass nur sich darauf bezieht. 5) Liegt unter denselben Bedingungen wie unter 1. im Folgesatz eine Topikalisierung vor, kann nur unmittelbar nach Finitum und Subjekt stehen. 6) Allein im Vorfeld kann nur stehen, wenn dieselben Bedingungen wie unter 1. erfüllt sind und das Subjekt im Mittelfeld steht. 7) In Verberst- und Verbletztsätzen kann die Partikel ohne intonatorische Pause nicht am Satzbeginn stehen, also nicht bei Aufforderungssätzen, Entscheidungsfragen, Wunschsätzen, Exklamativsätzen. 8) Liegt eine Fokussierung vor, kann die Partikel links- oder rechtsadjazent zu der entsprechenden Phrase stehen, wo immer diese selbst platziert sein kann. Rechtsadjazente Platzierung gilt zumindest bei nur als veraltet. 8 Verfechter der Verbzweit-These werden dies nicht akzeptieren wollen und sprechen eben deshalb der Partikel den Satzgliedstatus ab, doch gerät es sofort zur petitio principii, wenn man solchen Redeteilen den Satzgliedstatus unter Berufung auf das Verbzweitprinzip absprechen will. 448 Bruno Strecker 9) Liegt eine einzige Fokussierung vor, kann die Partikel an allen Positionen stehen, die prinzipiell für fokusbezogene Partikeln zugänglich sind und die auf die den Fokus einschließende Phrase folgen. Bei wachsender Distanz zum Fokusausdruck sinkt allerdings die Akzeptabilität. 10) Liegen mehrere Fokussierungen vor, muss eine Partikel, die sich auf die i-te Fokussierung beziehen soll, als i-te Partikel dieses Typs von links gesehen an einer der möglichen Partikelpositionen platziert werden. Über-Kreuz-Platzierungen sind ausgeschlossen. 5. Literatur Eisenberg, Peter (1986): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. Geach, Peter (1972): A Program for Syntax. In: Davidson, Donald/ Harman, Gilbert (Hg.): Semantics of Natural Language. Dordrecht: Reidel. S. 483-497. Helbig, Gerhard (1988): Lexikon deutscher Partikeln. Leipzig: Verlag Enzyklopädie. Heringer, Hans Jürgen (1996): Deutsche Syntax: Dependentiell. Tübingen: Stauffenburg. Jacobs, Joachim (1983): Fokus und Skalen. Zur Syntax und Semantik der Gradpartikeln im Deutschen. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 138). Lorenz, Kuno (1968): Dialogspiele als semantische Grundlage von Logikkalkülen. In: Archiv für mathematische Logik und Grundlagenforschung 11, S. 32-55, S. 73-100. Metrich, Rene (1993): Lexicographic bilingue des particules illocutoires de l'Allemand. Göppingen: Kümmerle. Metrich, Rene/ Faucher, Eugene/ Courdier, Gilbert (1994/ 1995/ 1998/ 2002): Les invariables difficiles. Dictionnaire allcmand-frangais des particules, connecteurs, interjections et autres „mots de la communication“. Nancy: Association des Nouveaux Cahiers d'Allemand. (= Deutsch-französisches Partikelwörterbuch, Bd. 1 -4). Text, Stil und Diskurs Ewa Drewnowska-Vargäne Metaphern in Reformulierungsausdrücken. Ein interlingualer Vergleich ausgewählter Presse-Interviews* 1. Einleitung Im vorliegenden Beitrag befasse ich mich mit Metaphern in Reformulierungen, 1 denen meistens von Politikern stammende - Presse-Aussagen zu einem politischen Hauptthema zugrunde liegen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden meine Forschungsergebnisse aus einer vorangehenden Paralleltextanalyse 2 der Reformulierungen in Einstiegen ausgewählter deutsch-, polnisch- und ungarischsprachiger Presse-Interviews zum Kosovo- Diskurs (vgl. Drewnowska-Vargäne 2002). Unter ‘Diskurs’ verstehe ich nach Busse/ Teubert (1994, S. 14) „alle Texte, die sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen“ und „durch explizite oder implizite [...] Verweisungen aufeinander Bezug nehmen“. Das Korpus der Untersuchung stellt einen textsortenkonstanten (vgl. Heinemann/ Heinemann 2002, S. 115) internationalen (vgl. Wichter 1999, S. 269-272) Diskurstyp dar: Es handelt sich um 90 Meinungsinterviews (je 30 aus dem jeweiligen Sprachkorpus). Die Interview- Texte wurden je drei deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Tages-, Wochenzeitungen und Wochenmagazinen entnommen (dt.: Die Welt, Die Zeit, Der Spiegel; poln.: Gazeta Wyborcza, Polityka, Przekröj; ung.: Magyar Hirlap, 168 öra, F1VG). 3 Den Aufsatz widme ich Frau Prof. Dr. Gisela Zifonun in respektvoller Dankbarkeit für die fachliche und moralische Unterstützung, die sie mir seit meinem ersten Forschungsaufenthalt am Institut für Deutsche Sprache (1999/ 2000) gewährt. 1 Reformulierungen definiere und klassifiziere ich mit dem von Steyer (1997) für schriftliche Texte entwickelten Ansatz (vgl. Kap. 2.2 und Kap. 4.). 2 Paralleltextanalyse findet hier im Sinne von Spillner (1981, S. 241f.) ihre Anwendung: Im vorliegenden Beitrag handelt es sich um folgende zwei Formen der Paralleltextanalyse: l.um einen situationsäquivalenten Textvergleich; 2. um eine Textsortenkontrastierung unter ausgewählten textlinguistischen Aspekten. 3 Alle Texte im Korpus befassen sich mit dem übergreifendem Thema: Kosovo-Konflikt und stammen aus dem Zeitraum vom 24. März 1999 (also vom Beginn der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien) bis zum 10. Juni 1999. Darüber hinaus befinden sich noch in jedem Sprachkorpus der Interviews je ein bzw. zwei Exemplare, die zeitlich einige Monate nach dem offiziellen Ende des Konflikts geführt wurden. 452 Ewa Drewnowska- Vargdne Ziel dieser Paralleltextanalyse ist es, kommunikationskultur-bedingte textsortenspezifische Tendenzen im Gebrauch von metaphorischen Reformulierungen bei der Gestaltung der ausgewählten deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Interviews herauszuarbeiten. An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass alle präsentierten Analyseergebnisse bei weitem nicht auf die jeweils ganze deutsch-, polnisch- oder ungarischsprachige Kommunikationskulturgemeinschaft bezogen werden dürfen, sondern lediglich aufjeweils eine von drei spezifischen journalistischen Diskursgemeinschaften. 4 2. Themen-, Frage- und Hypothesenstellung 2.1 Zum Presse-Interview als medial vermittelte Textsorte Bei der anvisierten Textsorte Presse-Interview handelt es sich um das geschriebene (geformte) Interview, das in Form eines überwiegend dialogisch gestalteten Textes im Medium Zeitung/ Zeitschrift erscheint im Unterschied zum gesprochenen (flüchtigen) Interview, das in verschiedenen elektronischen Medien in einer audio-visuellen Form präsentiert wird (vgl. Haller 1997). Das geschriebene (geformte) Interview stellt in Ähnlichkeit zum gesprochenen (flüchtigen) eine Form der öffentlich-dialogischen Kommunikation dar und ist als solche mehrfachadressiert. Die Mehrfachadressierung an der Seite der Textrezipienten findet an der Seite der Textproduzenten ihr Pendant: Seine Urheber betreffend ist nämlich das Presse-Interview ein Produkt von Mehrfachautoren (vgl. Bucher 1999), d.h. von den Interviewten (meistens Politikern, aber auch Politologen und Historikern), von interviewenden Journalisten und von den an der redaktionellen Bearbeitung der Interviews beteiligten professionellen Autorenkollektiven. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den beiden Formen des Interviews beruht darauf, dass das gesprochene (flüchtige) Interview in einer kommunikativen Primärsituation verläuft, wohingegen das geschriebene (geformte) Interview das Produkt einer sekundären kommunikativen Situation darstellt, 4 Zur journalistischen Diskursgemeinschaft: Die deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Mehrfachautoren des vorliegenden Korpus der Interviews betrachte ich als jeweils eine spezifische journalistische Diskursgemeinschaft mit einem sie verbindenden Sprachsystem (dem Deutschen, dem Polnischen und dem Ungarischen) und mit einer sie kennzeichnenden Schreibkultur und charakteristischen Vertextungsroutinen, die diese Diskursgemeinschaft von den zwei anderen unterscheiden (ausführlicher: zum Mehrfachautor und zur journalistischen Diskursgemeinschaft bei der Textsorte Interview in: Drewnowska- Vargäne 2002, S. 232-234). Metaphern in Reformulierungsausdriicken 453 denn: Das Interview im Fernsehen oder im Hörfunk kann vom Publikum zu der Sendezeit und vom Publikum im Studio an demselben Ort, direkt rezipiert werden. Das ursprünglich mündlich geführte Presse-Interview erscheint in der Zeitung dagegen oft in einer stark bearbeiteten Form 5 zeitlich und örtlich von der primären kommunikativen Situation getrennt, in der es ursprünglich geführt wurde (vgl. Burger 1990, S. 66f.). 6 2.2 Der redaktionelle Interview-Einstieg als Ort der verbalen Evozierung: Reformulierungen und Metaphern Die Zerdehnung der Sprechsituation (vgl. Ehlich 1981, S. 39), d.h. die zeitliche und örtliche Trennung des Produktionsprozesses vom Rezeptionsprozess im Falle des geschriebenen (geformten) Interviews kann beim Leser zu bestimmten Informationsdefiziten, bzw. zu Missverständnissen führen: In erster Linie sei hier an die Hauptaussage des Interviews sowie an weitere relevante Inhalte, an die interviewte Person und Hintergründe der kommunikativen Primärsituation gedacht. Dem kann jedoch in einem vor dem verschriftlichten Dialog platzierten, redaktionellen Einstieg 7 entgegengewirkt werden: indem die zentrale Aussage des Interviews im Haupttitel wiedergegeben wird (vgl. Burger 1990, S. 61; Lüger 1995, S. 143); indem ein Präsignal der Textsorte Interview und einige Informationen über die interviewte Person, bzw. auch über das Thema des Interviews im Unterbzw. Obertitel oder im Vorspann angegeben werden (vgl. Burger ebd., vgl. Lüger ebd.; Haller 1997, S. 349); indem bestimmte inhaltliche und „atmosphärische“ Elemente der kommunikativen Primärsituation im Vorspann evoziert werden (vgl. Burger 1990,8.62). 5 Jedoch darf die schriftliche Version des ursprünglich mündlich geführten Interviews nicht ohne Autorisierung, d.h. Einwilligung der interviewten Person publiziert werden: Als individuell gestaltete Texte genießen die Presse-Interviews den Schutz des Urheberrechtes (vgl. Haller 1997, S. 321-324). 6 Aus Raumgründen verzichte ich hier auf einen weiteren Vergleich beider Formen des Interviews und verweise lediglich auf einige einschlägige Beiträge: Haller (1997, S. 342- 349 und S. 361-400); Burger (1990, S. 58-62) und Drewnowska-Vargäne (2002, S. 234- 237). 7 Unter einem Einstieg verstehe ich das folgende, im vorliegenden Korpus der Interviews häufig auftretende Schema: Haupttitel (die Schlagzeile), Unterbzw. Obertitel und monologisch gestalteter Vorspann. 454 Ewa Drewnowska- Vargäne Der relativ kleine Umfang des Einstiegs erlaubt es nur einen recht geringen Teil von inhaltlichen und evtl, auch „atmosphärischen“ Elementen aus dem Inhalt und vom Hintergrund des Interviews wiederzugeben. Der den Interview-Text bearbeitende Journalist hat eine Auswahl zu treffen, was zu einem Hervorhebungseffekt fuhrt: Das im Einstieg Evozierte bekommt ein besonderes Gewicht. Somit beschränkt sich die Funktion des Einstiegs nicht auf die Textoptimierung allein. Vielmehr dient der Einsteig auch der Lesewerbung und Leserunterhaltung/ In diesem Kontext erhält die Information als „der entscheidende Zweck des politischen Interviews“ (Bresser 2000, S. 257) m.E. eine besondere Relevanz: „[...] Interviews werden dann spannend, wenn sich aus Antworten neue Gesichtspunkte, neue Zusammenhänge oder auch neue Fragen ergeben“ (ebd.). Demnach sind in den Einstiegen Äußerungen zu erwarten, die durch ihre Neuartigkeit, durch die Besonderheit - oder gar durch die Originalität ihrer Zusammenhänge von den das jeweilige Interview bearbeitenden Redakteuren als attraktiv und, zu einer weiteren Lektüre motivierend betrachtet werden: So genannte „Appetitmacher“. Die Ergebnisse der vorangehenden Paralleltextanalyse (vgl. Drewnowska- Vargäne 2002) deuten darauf hin, dass Reformulierungen, d.h. direkte, indirekte oder freie Wiedergaben (Steyer 1997, S. 78-85) von Bezugsausdrücken aus dem verschriftlichten Dialog, die von den das Interview redigierenden Journalisten evoziert werden, ein recht häufig verwendetes Mittel bei der Gestaltung der Interview-Einstiege sind (s. Anhang I): Die Gesamtanzahl der Reformulierungen ist im Korpus jeder journalistischen Diskursgemeinschaft höher als die Gesamtanzahl der Interviews. Pro Einstieg kommt also zumindest eine Reformulierung, die meistens als die im Haupttitel befindliche zentrale Aussage des Interviews auftritt (vgl. Anhang I, Punkt 1.1). Somit kann vorausgesetzt werden, dass den Reformulierungen erst recht als zentralen Teilen der Interviews neben der Funktion der Textoptimierung auch die der Lesewerbung und Leserunterhaltung zukommt. Eine weitere Paralleltextanalyse, deren Ergebnisse hier diskutiert werden sollen, widmete ich der wohl prominentesten rhetorischen Figur, die in der Sprache der Presse zur 8 Damit sind nur einige, für die Belange des vorliegenden Beitrags besonders wichtige Funktionen des Einstiegs angesprochen, ohne dass z.B. auf seine informationspolitische Relevanz eingegangen wird (vgl. dazu Bucher 1991, S. 51-54). Zur entscheidenden Rolle des Einstiegs bei der Rezeption der Presse-Texte vgl. noch z.B.: Bell (1991, S. 175-189); Schneider/ Esslinger (1993); Schneider/ Raue (1998, S. 153 und S. 170-180); Blum/ Bucher (1998,8.29-40). Metaphern in Reformulierungsausdrücken 455 Stiftung und Steigerung dieser Funktion dient und in Reformulierungen verhältnismäßig häufig auftritt: der Metapher. 9 Im Mittelpunkt stehen z.B. folgende metaphorisch konstituierte Reformulierungen wie z.B.: „Der Westen muß versuchen, Rußland wieder ins Boot zu holen“, „Rambouillets Tod „ oder „Hellenisches Gleichgewicht“ (vgl. Kap. 4.: Textbeispiele (1), (4) und (6))- 2.3 Frage- und Hypothesenstellung Den Gegenstand der vorliegenden Analyse bilden Metaphern, in vorhin thematisierten Reformulierungen in den Interview-Einstiegen, der drei journalistischen Diskursgemeinschaften. Fragestellungen, die hier erörtert werden, zielen vor allem auf evtl, quantitative und qualitative Zusammenhänge zwischen den Reformulierungen und den in ihnen enthaltenen Metaphern in den Interview-Einstiegen der drei Diskursgemeinschaften ab: - Inwiefern bestehen Zusammenhänge zwischen der Gesamtanzahl der Reformulierungen und der Gesamtanzahl der Metaphern im jeweiligen Sprachkorpus? - Inwiefern entstehen neue Metaphern aufgrund der Reformulierungen, bzw. inwiefern unterliegen metaphorische Bilder infolge ihrer Transportierung aus dem verschriftlichten Dialog in den Einstieg einer Veränderung? - Inwiefern ist die Platzierung des Bezugsausdrucks im verschriftlichten Dialog, mit dem der metaphorisch konstituierte, reformulierte Ausdruck im Einsteig zusammenhängt, für das Korpus der jeweiligen journalistischen Diskursgemeinschaft kennzeichnend? - Inwiefern spiegelt sich unterschiedlich die Reflexion des Kosovo-Krieges in den Textprodukten der drei Diskursgemeinschaften wider? Auf die Belange des vorliegenden Beitrags ausgerichtet, heißt das: Inwiefern unterscheiden sich die Interview-Einstiege der drei Diskursgemeinschaften unter dem Aspekt evtl, auftretender Tendenzen zur Metaphorisierung nach bestimmten Konzepten betrachtet voneinander? 9 Im Standardwerk zur Sprache der Presse bewertet Lüger (1995, S. 38, 136, 138) die Metapher als eines der wichtigsten Mittel der Lesewerbung und -Unterhaltung in unterschiedlichen Textsorten der Presse; vgl. Jäger/ Jäger (Hg.) (2002): Mehrere empirische diskursanalytische Untersuchungen weisen deutlich auf die Unvermeidlichkeit der Metapher in der Darstellung politischer Ereignisse in der Presse hin, demzufolge auch in der Darstellung des Kosovo-Krieges. 456 Ewa Drewnowska- Vargäne In Bezug auf die zwei ersten Fragen lassen sich aufgrund der Ergebnisse der vorangehenden Paralleltextanalyse folgende Hypothesen aufstellen: Die Anzahl der Reformulierungen ist im polnischsprachigen Korpus am höchsten (s. Anhang I, Punkt 1: Gesamtanzahl der Reformulierungen). Folglich dürfte die Anzahl der in den Reformulierungen eruierten Metaphern auch in diesem Korpus die höchste sein. Reformulierungen, die weder als direkte noch als indirekte, sondern als freie berichtende und insbesondere komprimierende - Wiedergaben fungieren, bieten den größten Spielraum im Hinblick auf Veränderungsmöglichkeiten der Bezugsausdrücke (vgl. Steyer 1997, S. 81-85). Die Anzahl der als freie Wiedergaben ermittelten Reformulierungen ist wiederum im Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft am höchsten (s. Anhang I, Punkt 1.2.3: freie Wiedergabe). Demnach dürften die meisten im Zuge der Reformulierungen entstandenen neuen Metaphern bzw. im Zuge der Reformulierungen veränderten Metaphern ebenfalls in diesem Korpus eruiert werden. 3. Metapher als tertium comparationis der Paralleltextanalyse In der Definition der Metapher verknüpfe ich den textlinguistischen Ansatz von Weinrich (1976, S. 311 und 319) mit dem kognitiven von Lakoff und Johnson (Lakoff/ Johnson 2003, urspr. 1980 10 ), Lakoff (1987) und Johnson (1987). Demnach betrachte ich die Metapher als ein Stück Text in einem konterdeterminierenden Kontext. Ihr liegt ein bestimmtes metaphorisches Konzept zugrunde, auf welches aufgrund der Interpretation im Kontext gefolgert werden kann. Ein metaphorisches Konzept wird von einem Konzeptpaar gebildet, „dessen zweite Komponente als projiziert von der ersten identifiziert wird“ (fiebert 1992, S. 8). Für den Bereich, aus welchem projiziert wird, hat Lakoff (1987, S. 276) den Terminus: Herkunftsbereich (‘source domain’) und für den, auf welchen projiziert wird, den Terminus Zielbereich (Target domain’) eingeführt. Neben diesen Termini gebrauche ich die Termini Bildspender und Bildempfänger im Sinne von Weinrich (1976, S. 299)." 10 Metaphern betrachten die Autoren (Lakoff/ Johnson 2003, S. 11) als metaphorische Konzepte, die die Wahrnehmung, das Denken und das Handeln des Menschen strukturieren: „Wenn, wie wir annehmen, dass unser Konzeptsystem zum größten Teil metaphorisch angelegt ist, dann ist unsere Art zu denken, unser Erleben und unser Alltagshandeln weitgehend eine Sache der Metapher.“ 11 Zu diesen und zu weiteren terminologischen Entsprechungen zwischen der kognitiven Metaphemtheorie und dem textlinguistischen Ansatz von Weinrich vgl. Drewer (2003, S. 19-24), Jäkel (2003, S. 129) und Osthus (2000, S. 131). Metaphern in Reformulierungsausdrücken 457 Als Orientierungspunkt für die Klassifikation der im Ergebnis der Paralleltextanalyse ermittelten Metaphern betrachte ich den Ansatz von Baldauf (1997) zu Alltagsmetaphem: Im Resultat einer Renovierung und Erweiterung der Klassifikation von Lakoff/ Johnson (1980, vgl. 2003), die auf der Grundlage des englischsprachigen Beispielmaterials etabliert wurde, teilt Baldauf die Alltagsmetaphern in vier Klassen ein - Attributsmetaphem, ontologische Metaphern, bildschematische Metaphern und Konstellationsmetaphem zudem werden sie an einem umfangreichen Korpus aus der deutschsprachigen Gegenwartspresse beschrieben und belegt. 12 4. Befunde der vorliegenden Paralleltextanalyse 4.1 Das Korpus der deutschsprachigen Diskursgemeinschaft Im Vergleich zu den Korpora der zwei anderen Diskursgemeinschaften konnten in Reformulierungen der deutschsprachigen Diskursgemeinschaft zahlenmäßig und prozentual gesehen die wenigsten Metaphern eruiert werden (s. Anhang II, Punkte 1 und 2). Die meisten der Metaphern im deutschsprachigen Korpus finden sich in den Haupttiteln und treten fast ausschließlich in den als direkte Wiedergaben reformulierten Ausdrücken auf (s. Anhang II, Punkte 1.1 und 1.2). Einen in diesem Sinne typischen Fall illustriert das Textbeispiel Nr. (1), in dem der Haupttitel und der Schluss eines Interviews angeführt werden: (1) [RA: ] 13 „Der Westen muß versuchen, Rußland wieder ins Boot zu holen“ WELT-Interview mit Klaus Kinkel. [...] [der Interviewende, Karl-Ludwig Günsche: ] Milosevic findet nur noch in Rußland Verteidiger. Besteht die Gefahr, daß der Kosovo-Konflikt zu einer neuen Ost- West-Konfrontation wird? 12 Trotz ihres einzelsprachorientierten Korpus verfügt Baldaufs Klassifikation über einen universellen Charakter, d.h., es ist durchaus möglich, auf ihrer Grundlage eine analoge Klassifikation von Metaphern aufzustellen, die aus drei unterschiedlichen Sprachkorpora ermittelt wurden. Dies ist der entscheidende Grund, warum ich mich grundsätzlich an Baldaufs Ansatz gegebenenfalls mit bestimmten Modifikationen und Erweiterungen anlehne. 13 Hervorhebungen (Abkürzungen in eckigen Klammem, Fett-Kursiv-Schrift) in Textbeispielen von mir; RA: Reformulierungsausdruck; BA: Bezugsausdruck; BS: Bezugssequenz - E.D.-V. 458 Ewa Drewnowska- Vargäne [der Befragte, Klaus Kinkel: ] Das darfaufgar keinen Fall passieren. Nach langen und schwierigen Jahren hat sich endlich ein neues Verhältnis zwischen der Nato und Rußland eingependelt. Jetzt hat Rußland diese Beziehungen ausgesetzt, aber glücklicherweise nicht gleich über Bord geworfen. Wir müssen einfach einkalkulieren: Dadurch, daß die Nato gegen den Willen Rußlands eingegriffen und an Funktion und Bedeutung des Sicherheitsrats zumindest gekratzt hat, ist das Sicherheitsratsmitglied Rußland nicht nur in eine extrem schwierige Lage geraten, sondern wirklich geschwächt. Die Situation ist für Rußland besonders schwierig, weil die russische Regierung auch die harte Haltung der Duma berücksichtigen muß. [der Interviewende, Karl-Ludwig Günsche: ] Wie kommt man da wieder raus? [der Befragte, Klaus Kinkel: ] Ich hoffe sehr, daß Rußland auch angesichts seiner innenpolitischen Schwierigkeiten nicht in einer Weise reagiert, die nur noch schwer oder gar nicht mehr reparierbar ist. Es wird viel davon abhängen, wie die Dinge in Jugoslawien sich weiter entwickeln. [BA: ] Der Westen mußjetzt versuchen, Rußland wieder ins Boot zu holen. (Die Welt, 26. März 1999; Online-Version; Nr. 1 im Korpus) Die Anführungszeichen, in denen der als Haupttitel funktionierende Reformulierungsausdruck erscheint (vgl. [RA: ] „Der Westen muß versuchen, Rußland wieder ins Boot zu holen“), sind ein Reformulierungsindikator für eine direkte Wiedergabe des Bezugsausdrucks vom Ende des Interviewtextes. Beim Vergleich beider Ausdrücke fällt zwar auf, dass der Reformulierungsausdruck eine leicht gekürzte Form des Bezugsausdrucks darstellt. Entscheidend bei der Klassifizierung einer Reformulierung ist jedoch in erster Linie nicht der identische Wortlaut, sondern vielmehr eine explizite Kennzeichnung als direkte Wiedergabe (vgl. Steyer 1997, S. 80). Die meisten Reformulierungen im deutschen Korpus haben die Form ähnlich wie im obigen Textbeispiel durch Anführungszeichen explizit gekennzeichneter direkter Wiedergaben. Im obigen Textbeispiel Nr. (1) handelt es sich bei „Rußland wieder ins Boot zu holen“ sowohl im Bezugsals auch im Reformulierungsausdruck um Metaphern in Reformulierungsausdrücken 459 dieselbe, unveränderte Konstellationsmetapher 14 aus dem Herkunftsbereich ‘Verkehrswesen’ (vgl. Baldauf 1997, S. 208-212; Zhu 1993, S. 193-197). Interessant in textkompositorischer Hinsicht ist die Wiedergabe des metaphorischen Bezugsausdrucks vom Schluss des verschriftlichten Dialogs im Einstieg des Interviews, wodurch der ganze Interview-Text umrahmt wird. Im Korpus der deutschsprachigen Diskursgemeinschaft finden sich drei Belege für metaphorische Umrahmungen dieser Art. Aufgrund des Beitrags des Interviewenden im Textbeispiel Nr. (1): „Milosevic findet nur noch in Rußland Verteidiger. Besteht die Gefahr, daß der Kosovo-Konflikt zu einer neuen Ost-West-Konfrontation wird? “ bzw. aufgrund des darauf kommenden Beitrags des Befragten mit der Konklusion: „Der Westen muß jetzt versuchen, Rußland wieder ins Boot zu holen“ lässt sich auf das metaphorische Konzept GEMEINSAME POLITISCHE HALTUNG IST EINE GEMEINSAME SCHIFFFAHRT 15 schließen. Was Tendenzen zur Metaphorisierung nach ähnlichen Konzepten in weiteren deutschsprachigen Interview-Einstiegen anbelangt, findet sich ein nächster Beleg im folgenden Haupttitel: „Nato-Truppen wären der Weg in die Sackgasse“. 16 Die Metapher evoziert das Konzept POLITISCHER IRRTUM IST EINE STRASSE OHNE AUSWEG. Beide metaphorischen Konzepte (dieses und das im Textbeispiel Nr. (1)) lassen sich einem allgemeineren zuordnen POLITIK IST EINE FAHRT. Einem mit diesem kognitiv verwandten Konzept begegnet der Rezipient in zwei weiteren Einstiegen, in denen ,JSchritt“ als metaphorischer Bildspender für politische Strategien auftritt: Erstens in einem als Haupttitel funktionierenden Reformulierungsausdruck, dessen Bedeutung erst im Kontext des Bezugsausdrucks verständlich ist: (2) [RA: ] „Den ersten Schritt geschafft“ [...] [der Interviewende, Manfred Eitel: ] Herr Präsident, wann wird Frieden aufdem Balkan herrschen? 14 Vgl. Baldauf (1997, S. 82): Es ist eine Klasse der Alltagsmetaphem, die über den höchsten Informations- und Komplexitätsgrad unter allen vier oben genannten Klassen (vgl. Kap. 3.) verfügen. Das Wesen der Konstellationsmetaphem beruht darauf, „ganze, gestalthafte Konstellationen wie z.B. die Kriegskonstellation in abstrakte Bereiche“ zu projizieren. 15 Vgl. Baldauf (1997, S. 211): Auf der Grundlage eigener empirischer Unteruchung etabliert und belegt die Autorin ein ähnliches Konzept RISIKOREICHE HANDLUNG ORGANISIER- TER EINHEITEN IST SCHIFFFAHRT. 1 Vgl. Die Welt, 13. April 1999; der Befragte: Juri Luschkow; der Interviewende: Die Welt; Online-Version; Nr. 10 im Korpus. 460 Ewa Drewnowska- Vargäne [der Befragte, Martti Ahtisaari: ] [...] Es wird ein langer Prozeß sein, eine neue Demokratie mit gewählten Vertretern im Kosovo zu schaffen. Vorher ist der Frieden nicht sicher. [BA: ] Wir haben aber den ersten Schritt geschafft. [...] (Der Spiegel, 07. Juni 1999; S. 28f.; Nr. 28 im Korpus) Zweitens in einer als Untertitel fungierenden Reformulierung: „Ex-Außenminister Kinkel: Ansatz richtig, aber kleinere Schritte besser“. 17 ln den beiden zuletzt genannten Interview-Einstiegen wird das metaphorische Konzept POLITISCHE STRATEGIEN SIND SCHRITTE evoziert. Beim Vergleich dieses Konzeptes mit dem obigen POLITIK IST EINE FAHRT lässt sich auf folgende kognitive Verwandtschaft schließen POLITIK IST EINE FORT- BEWEGUNG. In Bezug auf die völlige Übereinstimmung des metaphorischen Ausdrucks im Reformulierungs- und im Bezugsausdruck sind alle bis jetzt angeführten Belege für das deutschsprachige Korpus typisch: Lediglich im Falle eines einzigen Belegs im ganzen Korpus kommt es im Resultat der Transportierung aus dem verschriftlichten Dialog in den Einstieg zur Veränderung des metaphorischen Ausdrucks: Aus zwei Metaphern in dem im Redebeitrag des Befragten befindlichen Bezugsausdruck ist infolge einer Reformulierung als „freie Wiedergabe komprimierend“ (Steyer 1997, S. 83, vgl. auch Kap. 4.2) im Haupttitel des Interviews ein metaphorischer Ausdruck entstanden: (3) [RA: ] Seltsame Stille Kaum Kritik am Nato-Einsatz: Ist der deutsche Pazifismus am Ende? [...] [der Befragte, Emst-Otto Czempiel: ] [...] Was mich aber seit dem 24. März besonders verwundert, ist die Sprachlosigkeit der politischen Klasse, das Verstummen des Parlaments [...] (Die Zeit, 31. März 1999; Online-Version; Nr. 4 im Korpus) 4.2 Das Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft Im Vergleich zu den Korpora der zwei anderen Diskursgemeinschaften finden sich in Reformulierungen der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft zahlenmäßig die meisten Metaphern (s. Anhang II, Punkt 1). Die Metaphern stehen sowohl in den in Haupttiteln als auch in den in Vorspännen platzier- 17 Vgl. Die Welt, 25. Mai 1999; der Befragte: Klaus Kinkel; der Interviewende: Karl Ludwig Günsche; S. 8; Nr. 26 im Korpus. Metaphern in Reformulierungsausdriicken 461 ten reformulierten Ausdrücken (s. Anhang II, Punkt 1.1). Dies fuhrt in sogar sechs Interview-Einstiegen zu einem besonderen Effekt: Der Rezipient wird bereits während der Lektüre des Einstiegs mit zwei unterschiedlichen metaphorischen Konzepten konfrontiert. Im Vergleich dazu gibt es im deutschsprachigen Korpus keine und in den ungarischsprachigen Interview- Einstiegen drei Belege für den besagten Effekt. Was die Verteilung der Metaphern in einzelnen Klassen der Reformulierungen anbelangt, finden sich die meisten in den als direkte Wiedergaben reformulierten Ausdrücken und gleich danach in den als freie Wiedergaben auftretenden Reformulierungen, wohingegen indirekte Wiedergaben eine ganz niedrige Anzahl Metaphern beinhalten (s. Anhang II, Punkt 1.2). Im folgenden Textbeispiel Nr. (4) handelt es sich um einen Einstieg mit zwei unterschiedlichen metaphorischen Konzepten, die in einer freien bzw. in einer direkten Wiedergabe des Bezugsausdrucks auftreten: (4) [RAI: ] Smierc Rambouillet Czy chcemy czy nie, realia sq takie, ze wprowadzenie wojsk Iqdowych do Kosowajest koniecznosciq. [RA2: ] Ramboulletjest juz tylko „kawalkiem historii “[...] [BSE] [der Interviewende, Jacek Pawlicki: ] A co z porozumieniem z Rambouillet? [der Befragte, James Lyon: ] To juz dzis [BA2: ] kawalek historii. [...] (Gazeta Wyborcza, 02. April 1999; S. 8; Nr. 4 im Korpus) dt: [RAI: ] Rambouillets Tod Ob wir es wollen oder nicht, sieht die Realität so aus, dass der Bodentruppeneinsatz im Kosovo eine Notwendigkeit ist. Rambouillet ist nur noch [RA2: ] „ein Stück Geschichte“ [...] [BS 1: ] [der Interviewende, Jacek Pawlicki: ] Und was ist mit dem Rambouillet-Abkommen? [der Befragte, James Lyon: ] Das ist heute [BA2: ] ein Stück Geschichte. [...] Der Reformulierungsausdruck [RAE] „Rambouillets Tod“ im Haupttitel wird im verschriftlichten Dialog weder vom Befragten noch vom Interviewenden ausgesprochen. Seine Bezugssequenz [BSE] findet sich in zwei Rede- 462 Ewa Drewnowska- Vargäne beiträgen: in der Frage des Interviewenden: „Und was ist mit dem Rambouillet-Abkommen? “ und in der darauf kommenden Antwort des Befragten: „Das ist heute ein Stück Geschichte. Diese Reformulierung lässt sich als eine „freie Wiedergabe komprimierend“ klassifizieren (Steyer 1997, S. 83), denn: sie ist als Redewiedergabe vollkommen unmarkiert und stellt ein im hohen Grade kondensiertes inhaltliches Resümee der Bezugssequenz dar. Interessant dabei ist, dass keine Metapher aus dem verschriftlichten Dialog in den Interview-Einstieg transportiert wird, sondern es entsteht eine neue Metapher im Resultat der Reformulierung. Das Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft liefert drei Belege für ähnlich aufgrund der „freien Wiedergabe komprimierend“ entstandene neue Metaphern, die in den jeweiligen Bezugsausdrücken nicht genannt wurden, und einen Beleg für einen metaphorischen Ausdruck, der im Resultat der Reformulierung verändert wurde. Bei „Rambouillets Tod“ handelt es sich um eine Konstellationsmetapher aus dem Herkunftsbereich: ‘Personifikation’ (vgl. Lakoff/ Johnson 2003, S. 44f.). Die Metapher beruht auf einem allgemeinen Konzept ABSTRAKTA SIND LEBEWESEN (Baldauf 1997, S. 193f). Im Vergleich mit dem ersten Reformulierungsausdruck stellt der zweite im Vorspann [RA2]: „ein Stück Geschichte“ eine direkte Wiedergabe des Bezugsausdrucks im Redebeitrag des Befragten [BA2]: „Das ist heute ein Stück Geschichte. [...]“ dar. Obwohl der Bezugsausdruck im polnischsprachigen Original sogar in einem anderen Kasus steht, sehe ich ihn als eine direkte Wiedergabe an, denn als solche wird er durch die Anführungszeichen explizit gekennzeichnet. Die Konstellationsmetapher: „Rambouillet ist nur noch "ein Stück Geschichte’’“ beinhaltet einen Bildspender aus dem Herkunftsbereich: ‘Geschichte’ 18 und lässt auf das Konzept VERALTETE/ NICHT MEHR GÜLTIGE POLITISCHE ABKOMMEN SIND (ABGESCHLOSSENE) ZEITRÄU- ME IN DER GESCHICHTE schlussfolgern. Der am deutschsprachigen Textbeispiel Nr. (1) illustrierte metaphorische Rahmen, d.h. die Wiedergabe des metaphorischen Bezugsausdrucks vom Schluss des verschriftlichten Dialogs im Einstieg des Interviews, tritt im 18 Der von mir als ‘Geschichte’ bezeichnete Herkunftsbereich wird in einschlägigen empirischen Untersuchungen zwar thematisiert und exemplifiziert, doch nicht benannt. Dabei handelt es sich um Geschichte als Bildspender für Vergangenheit (wie im Beispiel oben), bzw. um allgemein bekannte historische Perioden bzw. Ereignisse als Bildspender für die Darstellung der Ereignisse des Kosovo-Krieges, z.B. „‘Nie wieder Krieg’ und/ oder/ aber ‘Nie wieder Ausschwitz’“ (Kocar 2002, S. 79). Metaphern in Reformulierungsausdrücken 463 polnischsprachigen Korpus im Vergleich zu den beiden anderen Korpora mit der höchsten Anzahl von sechs Belegen auf. Das folgende Textbeispiel Nr. (5) illustriert einen dieser Belege. Es stellt einen Reformulierungsausdruck im Titel mit dem entsprechenden Bezugsausdruck in einem vor dem Schluss des Interviews stehenden Beitrag des Befragten dar: (5) [RA 1: ] Wziqc Rosj^ na poklad [...] [der Befragte, Henk Houweling: ] [...] \P]opracujmy nad dobrobytem, ktöry mozemy osiqgnqc tylko wspölnym dzialaniem. Powtarzam wiyc: wracac do Rady Bezpieczenstwa, [BA 1: ] wziqc Rosjq na poklad i zaprezentowac program odbudowy Baikanöw, a w szczegölnosci Kosowa! [...] (Gazeta Wyborcza, 20. Mai 1999; S. 9; Nr. 21 im Korpus) dt.: [RA 1: ] Russland an Bord nehmen [...] [der Befragte, Henk Houweling: ] Wir sollen am Wohlstand arbeiten, den wir nur durch gemeinsames Handeln erreichen können. Ich wiederhole also: Man soll zum Sicherheitsrat zurückkehren, [BA 1: ] Russland an Bord nehmen und ein Programm für den Balkan-Wiederaufbau, und insbesondere den Kosovo- Wiederaufbau, vorlegen! [...] Die Ähnlichkeit dieses Belegs mit dem vorne angeführten deutschsprachigen Textbeispiel Nr. (1) ist auffallend: In beiden wird dasselbe metaphorische Konzept GEMEINSAME POLITISCHE HALTUNG IST EINE GEMEINSAME SCHIFFFAHRT evoziert. Während jedoch mehrere Interviews im deutschsprachigen Korpus durch Metaphern, denen ähnliche Konzepte zugrunde liegen, miteinander verbunden sind, bestehen zwischen den Interviews des polnischsprachigen Korpus kaum intertextuelle Verbindungen dieser Art: In allen polnischsprachigen Interviews findet sich nur noch ein Beleg, dem ein ähnliches Konzept zugrunde liegt. In den polnischsprachigen Interviews wird vielmehr nach jeweils unterschiedlichen Konzepten metaphorisiert. 4.3 Das Korpus der ungarischsprachigen Diskursgemeinschaft Im Vergleich zu den Korpora der zwei anderen Diskursgemeinschaften finden sich in Reformulierungen der ungarischsprachigen Diskursgemeinschaft prozentual betrachtet die meisten Metaphern (s. Anhang II, Punkt 2). Metaphorische Reformulierungen sind ähnlich wie im polnischsprachigen Korpus vor allem in den Haupttiteln und in den Vorspännen platziert, wobei es 464 Ewa Drewnowska-Vargäne sich um eine jeweils geringere Anzahl an Belegen handelt als im Korpus der polnischsprachigen Interviews (s. Anhang II, Punkt 1.1). Folglich ist die Anzahl der Einstiege mit zwei unterschiedlichen metaphorischen Konzepten deutlich niedriger als im polnischsprachigen Korpus: Es gibt nur drei Belege dafür. Bei der Verteilung der Metaphern in einzelnen Klassen der Reformulierungen zeigt sich die direkte Wiedergabe als am stärksten und die indirekte Wiedergabe als am schwächsten belegt. Die freie Wiedergabe bleibt zahlenmäßig im Mittelfeld (s. Anhang II, Punkt 1.2). Doch handelt es sich bei der Entstehung neuer Metaphern im Resultat der Reformulierungen immer um freie Wiedergaben, wie z.B. im folgenden Einstieg und Abschnitt aus dem verschriftlichten Dialog eines Interviews: (6) [RA 2: ] Hellen egyensüly A görög közvelemeny elesen eliteli a szerbiai bombäzäsokat, de ez nem jelenti azt, hogy a hellenek ne volndnak a NATO elkötelezett szövetsegesei immär negyvenhat eve. Am Görögorszäg helyzete specialis: ez az egyeilen olyan balkäni orszäg, amely egyaränt tagja a NATO-nak, az Euröpai Uniönak es a Nyugateuröpai Uniönak. S bar lakossäga szerbbarät, ortodox görögkeleti valläsü negyszäzezer mohamedän albännak ad otthont. [RA 1: ] Erröl a kenyes egyensülyi helyzetröl loannis Fotopoulos nagykövettel Trom Andräs beszelgetett [...] [der Interviewende, Andräs Trom: ] A melyebb megertes azt jelenti, hogy a görög nep a szerbek partjän all. [BA 1: ] Tehät az önök helyzete kenyes: szerbbarätsäg, NATO-elkötelezettseggel. [...] (168 öra, 20. Mai 1999; S. lOf.; Nr. 18 im Korpus) dt.: [RA 2: ] Hellenisches Gleichgewicht Die griechische öffentliche Meinung verurteilt die Bombardierungen Serbiens aufs Schärfste, aber es bedeutet nicht, dass die Hellenen keine verpflichteten Verbündeten der Nato wären dies sind sie bereits seit sechsundvierzig Jahren. Doch ist Griechenlands Lage eine besondere: Dies ist der einzige Balkanstaat, welcher Mitglied der NATO, der Europäischen Union und der West-Europäischen Union gleichermaßen ist. Obwohl die Einwohner griechisch-orthodoxe Serben-Freimde sind, hat das Land vierzigtausend islamische Albaner aufgenommen. [RA 1: ] Metaphern in Reformulierungsausdrücken 465 Über diese heikle Gleichgewichts-Lage hat mit loannis Fotopoulos, dem Botschafter, Andräs Trom gesprochen [•••] [der Interviewende, Andräs Trom: ] Ein besseres Verständnis bedeutet, dass das griechische Volk an der Seite der Serben steht. [BA 1: ] Ihre Situation ist also heikel: Serben-Freundschaft mit NATO-Verpflichtung. [...] Im Unterschied zu allen bisher angeführten Beispielen steht der Bezugsausdruck nur im Redebeitrag des Interviewenden [BA 1: ] „Ihre Situation ist also heikel: Serben-Freundschaft mit NATO-Verpflichtung“. Der das Interview redigierende Journalist (wahrscheinlich ist es der Interviewer selbst) scheint seinen eigenen Redebeitrag zuerst im Vorspann reformuliert zu haben [RA 1: ] „Über diese heikle Gleichgewichts-Lage hat mit loannis Fotopoulos, dem Botschafter, Andräs Trom gesprochen“ und erst danach noch einmal im Haupttitel: [RA 2: ] „Hellenisches Gleichgewicht'. Anders als in allen bisher angeführten Textbeispielen liegt hier eine doppelte Reformulierung vor: Bei der ersten Reformulierung [RA 1: ] handelt es sich um freie berichtende Wiedergabe (vgl. Steyer 1997, S. 81) des Bezugsausdrucks [BA 1: ]: Sie ist als Wiedergabe nicht explizit gekennzeichnet und enthält ein propositionales Element des Bezugsausdrucks „heikel“. Die zweite Reformulierung im Haupttitel [RA 2: ] „Hellenisches Gleichgewicht stellt eine „freie Wiedergabe komprimierend“ dar (vgl. Steyer 1997, S. 83). Sie reformuliert jedoch nicht den Bezugsausdruck [BA 1: ] im Beitrag des Interviewenden, sondern den ganzen Vorspann zu einer Art ‘Makroproposition’ (vgl. Dijk 1980, S. 43). Der Bezugsausdruck [BA 1: ] „Ihre Situation ist also heikel: Serben- Freundschaft mit NATO-Verpflichtung“ wird vom redigierenden Journalisten zuerst im Vorspann als „heikle Gleichgewichts-Lage“ metaphorisiert. Es handelt sich hier um eine bildschematische Metapher, die im Haupttitel obgleich mit einem anderen Attribut — beibehalten wird: „Hellenisches Gleichgewicht. Die Hauptbotschaft der bildschematischen Metaphern ist im Sinne von Johnson (1987) zu zeigen, dass Bedeutungen von der körperlichen Erfahrung untrennbar sind. Aus dem Bereich der körperlichen Erfahrung werden bildschematische metaphorische Strukturen in einen abstrakten Bereich übertragen. Somit liegt neben z.B. dem Behälter-, dem Weg- oder dem Skalen-Schema manchen metaphorischen Konzepten das GLEICHGE- WICHTS-Schema zugrunde: Es basiert auf dem allgemeinen Wissen, „daß Gleichgewicht durch Kräfteausgleich zustande kommt, daß es Stabilität leis- 466 Ewa Drewnowska- Vargäne tet und durch Unausgewogenheit zerstört wird“ (vgl. Baldauf 1997, S. 174). Demnach lässt sich aufgrund der im Vorspann und Haupttitel des Textbeispiels Nr. (5) stehenden Metapher auf das Konzept SERBEN UND NATO SIND GLEICH SCHWER folgern. Im ganzen ungarischsprachigen Korpus konnten ähnlich wie im polnischsprachigen vier Belege für Metaphern ermittelt werden, die erst im Resultat der Reformulierungen entstanden bzw. verändert sind. Doch ist hier bei der zahlenmäßigen Ähnlichkeit auch ein Unterschied zwischen dem ungarisch-, und dem polnischsprachigen Korpus bemerkbar: Neue bzw. veränderte Metaphern treten nur in den freien Wiedergaben auf. Während im polnischsprachigen Korpus acht Belege für diese Form ermittelt werden konnten, finden sich im ungarischsprachigen Korpus lediglich fünf Belege für freie Wiedergaben (s. Anhang II, Punkt 1.2.3). Demzufolge gebrauchen die ungarischsprachigen Autoren die freie Wiedergabe im Unterschied zu den polnischsprachigen fast immer zur Bildung einer neuen Metapher aufgrund des Bezugsausdrucks bzw. zur Veränderung der Metapher aus dem Bezugsausdruck im Reformulierungsausdruck. Metaphorischer Rahmen ist in ungarischsprachigen Interviews genauso wie im Falle der deutschsprachigen in lediglich drei Belegen vorhanden. Was Tendenzen zur Metaphorisierung nach ähnlichen Konzepten angeht, finden sich folgende drei Belege für Metaphern aus dem Bereich ‘Personifikation’ in drei unterschiedlichen Haupttiteln: „Rambouillet ist tot“ (ung. ‘Rambouillet halott’), 19 „Der Frieden kommt nicht von alleine“ (ung. ‘Magätöl nem jön el a beke’) 20 bzw. „Die Demokratie muss gekrönt werden“ (ung. ‘A demokräciät keil megkoronäzni’). 21 Allen diesen Belegen liegt das allgemeine Konzept: ABSTRAKTA (hier: politische Abkommen, Zustände, Prinzipien) SIND LEBEWESEN zugrunde. HVG, 15. Mai 1999; der Befragte, Bujar Bukoshi; der Interviewende, Pal Reti: S. 10; Nr. 15 im Korpus. Wie eingangs festgestellt ist der behandelte Diskurs ein internationaler Diskurstyp. Manche Konzepte sind wie dies z.B. aus den Belegen für „Rambouillets TodJ bzw. „Rambouillet ist tot im polnisch- und ungarischsprachigen Korpus ersichtlich sein dürfte, international gültig, d.h., sie können in den Texten von zwei oder von allen drei Diskursgemeinschaften auftreten. 20 Magyar Hlrlap, 09. Juni 1999; der Befragte: Zoran Djinjics; der Interviewende: Baläzs Garai; S. 1-2; Nr. 27 im Korpus. 21 Magyar Hlrlap, 11. November 1999; der Befragte: Alekszandar Karadjordievics; die Interviewerin: Nagy Melyküti Edit; S. 3; Nr. 29 im Korpus. Metaphern in Reformulierungsausdrücken 467 5. Zusammenfassung und Ausblick Aus den Ergebnissen ist ersichtlich, dass gewisse Zusammenhänge zwischen der Gesamtanzahl der Reformulierungen und der Gesamtanzahl der in diesen Reformulierungen befindlichen Metaphern im jeweiligen Sprachkorpus bestehen. Diese Zusammenhänge dürfen jedoch bei weitem nicht in einem 1: 1 Verhältnis gedeutet werden, denn: wie die erste Hypothese besagt, ist zwar die Anzahl der Metaphern im polnischsprachigen Korpus am höchsten, doch zeichnet sich das Korpus der ungarischsprachigen Diskursgemeinschaft prozentual betrachtet durch den höchsten Anteil der Metaphern aus. Die Interview-Einstiege der deutschsprachigen Autoren beinhalten die wenigsten Metaphern, obwohl die Gesamtanzahl der Reformulierungen im deutschsprachigen Korpus sogar etwas höher ist als die im ungarischsprachigen Korpus (s. Anhang I: Punkt 1 und Anhang II: Punkt 1 und Punkt 2). Die zweite Hypothese, nach der die meisten neuen bzw. veränderten Metaphern als Resultat der Reformulierungen im Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft erwartbar sind, kann ebenfalls nicht hundertprozentig bestätigt werden, denn im ungarischsprachigen Korpus konnten zahlenmäßig genauso viele neue Metaphern festgestellt werden (die Anzahl der Befunde im Vergleich: Deutsch: 1; Polnisch: 4; Ungarisch: 4). Jedoch dürften die Ergebnisse der Analyse die vorliegende Hypothese in dem Sinne bestätigen, dass neue bzw. veränderte Metaphern nur in den als freie Wiedergabe begegnenden Reformulierungen auftreten. Hinsichtlich einiger kommunikationskulturell bedingter textsortenspezifischer Tendenzen im Gebrauch von metaphorischen Reformulierungen konnte aufgrund der Ergebnisse der durchgeführten Paralleltextanalyse Folgendes festgestellt werden: Zu den Interviews der deutschsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Im Unterschied zu den Interviews der polnisch- und ungarischsprachigen Diskursgemeinschaft sind die Metaphern vorwiegend in den als Haupttitel fungierenden reformulierten Ausdrücken platziert, die die Form direkter Wiedergaben haben. Die Reformulierungen im deutschsprachigen Korpus evozieren meistens einen als direkte Wiedergabe explizit gekennzeichneten Redebeitrag des Befragten. Beim Vergleich des jeweiligen Reformulierungsausdrucks mit dem Bezugsausdruck stellt sich zwar oft heraus, dass die Reformulierung den Bezugsausdruck in einer gekürzten Form wie- 468 Ewa Drewnowska- Vargäne dergibt, doch unterliegt der metaphorische Ausdruck infolge der Kürzung des Bezugsausdrucks mit Ausnahme eines einzigen Belegs keinerlei Veränderung. Zu den Interviews der polnischsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Die in den reformulierten Ausdrücken befindlichen Metaphern sind in Haupttiteln und in Vorspännen platziert. Der daraus resultierende Effekt zweier metaphorischer Konzepte in einem Einstieg unterscheidet das Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft von denen der zwei anderen deutlich. Metaphern treten hier zwar in der höchsten Anzahl als direkte Wiedergaben aber auch in einer nicht viel kleineren Anzahl als freie Wiedergaben auf. Mit Metaphern in Reformulierungen als freie Wiedergaben ist der nächste Kontrast zum deutschsprachigen und die Ähnlichkeit zum ungarischsprachigen Korpus verbunden: Im Resultat der Reformulierungen entstehen auch neue bzw. veränderte Metaphern. In textkompositorischer Hinsicht zeichnet sich das polnischsprachige Korpus durch die metaphorischen Umrahmungen der Interview-Texte aus: Die Wiedergabe des metaphorischen Bezugsausdrucks vom Schluss des verschriftlichten Dialogs im Einstieg des Interviews ist im Korpus der polnischsprachigen Diskursgemeinschaft mit sechs Interviews doppelt so häufig belegt wie in den Korpora der zwei anderen Diskursgemeinschaften. Zu den Interviews der ungarischsprachigen journalistischen Diskursgemeinschaft: Die Interviews unterscheiden sich von den deutschsprachigen und ähneln zugleich den Interviews im polnischsprachigen Korpus hinsichtlich der Platzierung der Metaphern in den als Haupttiteln bzw. als Vorspann(teilen) fungierenden Reformulierungen und hinsichtlich der Präsenz der Metaphern in direkten und in freien Wiedergaben, wobei im Falle der ungarischsprachigen Belege jeweils eine niedrigere Anzahl als im polnischsprachigen Korpus auftritt. Bei der Metaphorisierung der Reformulierungen scheinen die ungarischsprachigen Autoren am effizientesten vorzugehen: Ihre Interviews weisen die unter den drei Interview-Korpora niedrigste Anzahl der Reformulierungen und zugleich den höchsten prozentualen Anteil der in diesen Reformulierungen befindlichen Metaphern auf (vgl. Anhang I: Punkt 1 mit Anhang II: Punkt 2). Somit lassen sich im Gebrauch von metaphorisierten Reformulierungen in den Interviews der deutsch-, polnisch- und ungarischsprachigen Mehrfachautoren von Diskursgemeinschaft zu Diskursgeminschaft Unterschiede fest- Metaphern in Reformulieningsausdrücken 469 stellen, die m.E. mit dem unterschiedlichen Wissen der Autoren dieser drei journalistischen Diskursgemeinschaften um die Textsorte geschriebenes/ geformtes politisches Meinungsinterview Zusammenhängen. Die Frage danach, inwiefern sich die Reflexion des Kosovo-Krieges unterschiedlich in den Interviews der drei Diskursgemeinschaften in den Tendenzen zur Metaphorisierung nach ähnlichen Konzepten widerspiegelt, kann folgendermaßen beantwortet werden: Es lässt sich zwar auf zwei allgemeine Konzepte schließen: im deutschsprachigen Korpus aufgrund der vier Interview-Einstiege auf das allgemeine Konzept POLITIK 1ST EINE FORTBEWEGUNG, mit dem übrigens zwei Belege im polnischsprachigen Korpus Ähnlichkeit aufweisen; im ungarischsprachigen Korpus aufgrund von drei Interview-Einstiegen auf das Konzept ABSTRAKTA SIND LEBEWESEN. Doch ist große Vorsicht bei einer Verallgemeinerung dieser Konzepte geboten: Inwiefern sie für jeweils eine der drei Diskursgemeinschaften kennzeichnend sind bzw. diese von den anderen zwei unterscheiden darüber können Aussagen erst nach weiteren Paralleltextanalysen anderer von denselben drei journalistischen Diskursgemeinschaften verfassten Textsorten zum Kosovo-Diskurs gemacht werden. 6. Literatur Baldauf, Christa (1997): Metapher und Kognition: Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher. Frankfurt a.M.: Lang. (= Sprache in der Gesellschaft 24). Bell, Allan (1991): The Language of News Media. Oxford, UK u.a.: Blackwell. Blum, Joachim/ Bucher, Hans-Jürgen (1998): Die Zeitung: Ein Multimedium: Textdesign ein Gestaltungskonzept für Text, Bild und Grafik. Konstanz: UVK Medien. (= Edition sage & schreibe 1). Bresser, Klaus (2000): Der Wahrheit näher kommen - Über die Rolle des Interviews. ln: Mast, Claudia (Hg.): ABS des Journalismus: Ein Leitfaden für die Redaktionsarbeit. 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Obertiteln: 2 7 1 1.1.3 in Vorspännen: 5 24 14 1.2 Klassifikation der eruierten Reformulierungen: 1.2.1 direkte Wiedergabe: 27 28 6 1.2.2 indirekte Wiedergabe: 4 11 20 1.2.3 freie Wiedergabe: 6 22 10 II. Die in den Reformulierungen befindlichen Metaphern Deutsch Polnisch Ungarisch 1. Gesamtanzahl der Metaphern: 11 21 15 1.1 Platzierung der Metaphern in den in einzelnen Teilen der Einstiege befindlichen Reformulierungen: 1.1.1 in Haupttiteln: 9 13 9 1.1.2 in Unterbzw. Obertiteln: 2 - 1 1.1.3 in Vorspännen: - 8 5 1.2 Verteilung der Metaphern auf die einzelnen Klassen der Reformulierungen: 1.2.1 direkte Wiedergabe: 10 11 7 1.2.2 indirekte Wiedergabe: - 2 3 1.2.3 freie Wiedergabe: 1 8 5 2. Prozentualer Anteil der Metaphern in allen Reformulierungen pro Korpus: 29,7% 34,4% 41,6% Hans-Werner Eroms Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 1. Die Wellen der Beeinflussung des Deutschen durch das Französische In der gegenwärtigen Diskussion der sogenannten Fremdwortfrage konzentriert sich das Interesse vor allem der Öffentlichkeit auf die Anglizismen. Dabei gerät allzu schnell aus dem Blick, dass das Deutsche, wie die meisten europäischen Sprachen, sehr verschiedene Schichten von Wörtern enthält, die aus anderen Sprachen übernommen worden sind. Insbesondere die Gallizismen, die von der älteren Forschung sehr gut dokumentiert und in ihrem Status bewertet worden sind, finden gegenwärtig nicht immer das Interesse, das sie verdienen. Dabei sind sie schon allein deswegen bedeutsam, weil sich an ihnen die ältere Fremdwortdebatte entzündet hatte. Dazu kommt, dass sie heute teilweise in Konkurrenz zu den Anglizismen stehen, wodurch ein Vergleich mit diesen und die Beurteilung der Feldabgrenzung, die sich im Wortbestand des Deutschen zeigt, möglich, ja nötig wird. Auf eine Diskussion der in der älteren wissenschaftlichen Literatur gerade bei den Gallizismen kontrovers gesehenen Abgrenzungen von Fremd- und Lehnwörtern soll hier verzichtet werden. 1 Es sollen vor allem solche Wörter betrachtet werden, bei denen die Herkunft aus dem Französischen offensichtlich ist, also bei denen sowohl die Aussprache wie auch die Schreibung ihre Herkunft signalisiert, wie bei Faible, Plädoyer oder larmoyant. Wörter wie Büro, Möbel oder Parlament erfordern bereits sprachwissenschaftliche Kenntnisse, um ihre Herkunft zu erkennen. Dies gilt in verstärktem Maße für Lehnschöpfimgen und -Übertragungen wie Mehrheit (nach majorite, das aber auch Majorität im Deutschen neben sich hat), Missheirat (nach mesalliance) oder Brießvechsel (nach correspondence). Aus der ersten Welle der Beeinflussung des Deutschen durch das Französische im frühen und hohen Mittelalter haben sich Wörter wie Arznei, Turnier und Ritter erhalten, wobei die jeweilige Wortgeschichte höchst unterschiedlich ist. So ist Ritter als Lehnbedeutung von chevalier über das Niederfränkische ins Deutsche gelangt. Einzelheiten finden sich bei Öhmann (1918 und 1974). 1 Vgl. dazu Munske (2001, S. 9). 474 Hans- Werner Eroms Nach einer relativ geringen Beeinflussung des Deutschen im späten Mittelalter steigt danach die Entlehnung rapide an. Wörter wie Marsch, Etikette, kontrollieren haben sich teilweise nicht nur sehr gut gehalten, sondern haben, weil sie in den Eigenbestand integriert worden sind, auch in der Wortbildung oder durch die Übernahme und Ausbreitung von Suffixen das Deutsche stark mit fremdsprachlichen Elementen durchsetzt. Der eigentliche Höhepunkt der Entlehnungen aber findet sich im 17. und 18. Jahrhundert. Kirkness (1991) hat für das 18. Jahrhundert 863 Entlehnungen aus dem Französischen ermittelt, das damit weit vor dem Lateinischen mit 488 und dem Griechischen (128) an der Spitze liegt. Die Gründe für diesen enormen Einfluss des Französischen auf das Deutsche sind bekannt und brauchen hier nicht erneut benannt zu werden. Wie in der Zeit der Beeinflussung des Deutschen durch die römische Zivilisation und heute durch das Angloamerikanische wird eine als progressiv aufgefasste Gesellschaft zusammen mit ihren materiellen Erzeugnissen und Fetischen und deren Benennungen als nachahmenswert empfunden. Der französische Hof ist das absolute Vorbild für die deutschen Fürstenhöfe, dynastische Verbindungen entstehen, exulierte Protestanten werden in Deutschland aufgenommen, Waren werden trotz merkantilistischer und autarkistischer Bestrebungen in großem Ausmaß nach Deutschland importiert. Die „Alamodesprache“, wie sie sich etwas in den Briefen der Liselotte von der Pfalz zeigt, ist mit Gallizismen durchsetzt, von denen sich bis heute eine große Zahl gehalten hat (vgl. Helfrich 1990). Allerdings trifft diese Sprachhaltung auch auf große Kritikbereitschaft. 2 Insofern ist dies bereits eine Vorwegnahme der derzeit allenthalben sich äußernden Kritik an den Beeinflussungen des Deutschen durch die Anglizismen. Geblieben sind vor allem Verben wie reüssieren, logieren, korrespondieren, aber auch Adjektive wie skandalös, malcontent und penetrant und Substantive wie Courage, Lektüre und Toilette. Mit der aus Frankreich kommenden Aufklärung, die Wörter wie Demokratie, Sozialismus und Etat an das Deutsche abgegeben, aber auch Lehnübersetzungen wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zu liberte, egalite, fraternite geschaffen hat, und schließlich mit der napoleonischen und nachnapoleonischen Ära hat sich das Französische endgültig als die europäische Prestigesprache durchgesetzt und bildet auch im Deutschen ein reiches Substrat von Ausdrucksweisen. Dass mit den sprachkritischen Bestrebungen 2 Zur „Verdeutschungsarbeit“ vgl. v. Polenz (1994, S. 107-134). Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 475 schon des 17. Jahrhunderts und den politischen Antagonismen des 19. Jahrhunderts Gegenströmungen entstehen, hat dem Französischen nicht sein Gewicht nehmen können. Trotz der amtlich verordneten - und durchgesetzten - Ersetzung französischer Ausdrücke in der Administration und verwandten Bereichen — Fahrkarte statt Billet, Bahnsteig statt Perron, Fußweg statt Trottoir ist das Französische als zunehmend exquisite Stilschicht im Deutschen vorhanden und hat darin bis zum Ersten Weltkrieg seinen Platz behaupten können. Französisch stand bis dahin im Unterricht der Gymnasien unter den lebenden Fremdsprachen an erster Stelle. Gilt dies für die Bildungsschichten, so sind auch die bildungsfemeren Schichten mit Gallizismen durchaus vertraut, gerade in den Regionalsprachen haben sich bis heute zahlreiche Ausdrücke gehalten, die aus dem Französischen stammen, etwa das genannte Trottoir oder Bredulje und Budike. 2. Die Ablösung des Französischen als Prestigesprache durch das Englische 2.1 Allgemeines Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nimmt der Einfluss des Französischen kontinuierlich zugunsten des Englischen ab. v. Polenz (1999, S. 392-394) dokumentiert die Entwicklung im Einzelnen und weist auf die Vielschichtigkeit des Prozesses hin. Die Gründe für diesen Wechsel liegen sowohl in der wirtschaftlichen und technischen Vorrangstellung, die England einnimmt, als auch in der Entwicklung von Politik und Pressewesen. Aus dem ersteren Bereich gelangen Ausdrücke wie Lokomotive, Trust und Partner ins Deutsche, aus letzterem Wörter wie Reporter, Demonstration und Streik. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn alle Ausdrücke in ihrem ersten Auftreten, ihrer Ausbreitung und ihrer Konkurrenz und möglichen Verdrängung von Gallizismen verfolgt würden. Aber schon die wenigen Beispiele zeigen, dass es im Aufkommen der Anglizismen der damit verbundene Aktualitäts- und Modemisierungsschub ist, der sich hier bemerkbar macht. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches. So gut wie alle Übernahmen aus anderen Sprachen geschehen aus dem Grunde, dass die andere Kultur mit ihrer Sprache ein Angebot darstellt, das die eigene nicht bieten kann. Da sich Deutschland und Europa trotz aller Zäsuren und Brüche in den vergangenen Jahrzehnten als in ungebrochener Kontinuität mit den letzten beiden Jahrhunderten empfindet, ist zu fragen, ob in diesem Fall die Schichtungen, die sich im Deutschen mit dem französischen Sediment und dem sich dar- 476 Hans- Werner Emms über schiebenden englischen nicht eine Konkurrenz zwischen diesen beiden Bereichen aufbaut, die das eine, ältere, als allmählich archaisierend, aber gehoben, das andere, neue, angloamerikanische, generell als das modernere, prestigehaltigere empfinden lässt. Es wird sogleich deutlich werden, dass dieser Eindruck mit Belegen gestützt werden kann, dass aber andererseits eine Prüfung an der Verwendung von Gallizismen und Anglizismen in der aktuellen deutschen Gegenwartssprache zu einem differenzierten Bild führt. Vorweg aber ist noch kurz auf die Bewertung der Anglizismen und Gallizismen in der Öffentlichkeit einzugehen, wenn auch an dieser Stelle keine ins Einzelne gehende Auseinandersetzung mit der Anglizismenkritik geführt werden soll. 3 Gisela Zifonun hat in ihrem einschlägigen Aufsatz (Zifonun 2002) deutlich genug darauf hingewiesen, dass hier überhaupt kein Anlass zur Panikmache besteht, sondern dass es längerfristig eher zu einem Nebeneinander von Ausdrucksweisen als zu einer Verdrängung der deutschen kommen werde. Der grammatische Bestand des Deutschen ist in keiner Weise gefährdet, die lexikalischen Aufnahmen sind zum großen Teil gruppensprachlich oder funktionalstilistisch begrenzt, d.h., sie reichen nur in geringem Maße in die Allgemeinsprache hinein. Darüber hinaus ist es immer wieder erstaunlich, dass die radikalen Kritiker nicht erkennen, in welcher Tradition sie in ihrer Aufgebrachtheit stehen. Weiter muss daraufhingewiesen werden, dass es zu allen Zeiten Schichtungen und Verflechtungen im lexikalischen Bestand des Deutschen gegeben hat. Und letztlich wäre es schon eine merkwürdige Vorstellung, die davon ausgeht, dass ausgerechnet die Sprache den übernationalen kulturellen Verflechtungen gegenüber abstinent sein sollte. Das Deutsche jedenfalls ist in seinem älteren Bestand derart mit den Wörtern aus anderen Sprachen vernetzt, dass es damit einerseits in die Geberkulturen hineinreicht, andererseits die „Fremdbestandteile“ mit den indigenen in klein- und großräumiger Aufgabenverteilung zusammen nutzt. Was die derzeit massiv aufgenommenen Ausdrücke aus dem Englischen oder mit englischem Sprachmaterial gebildeten betrifft, so ist die Entwicklung erst einmal abzuwarten, die meisten Neubildungen sind Eintagsfliegen und werden nach einer gewissen Zeit wieder ausgeschieden werden. 3 Vgl. dazu meine Beiträge Broms (2002) und Broms (i.Dr.). Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen All 2.2 Der Paradigmenwechsel Wie die unhinterfragte Vorherrschaft der aus dem Lateinischen und Französischen übernommenen Fremdwörter im Westdeutschland der Ersten Boom- Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg schlagartig in Konkurrenz zu den Anglizismen gerät, hat Martin Walser in seinem 1957 veröffentlichten Roman 'Ehen in Philippsburg’ unnachahmlich beschrieben. Es ist gleichzeitig eine Beschreibung der Gründe, warum man Fremdwörter überhaupt verwendet natürlich eine, die im Dienste der Charakterisierung einer Handlungsperson des Romans steht. Aber diese Person repräsentiert gerade den Typ des Erfolgsmenschen, der in seiner Sprachhaltung den neuesten Trend zeigt: (1) Eine opportunitas dara sagte Dr. ten Bergen, der keinen Satz aus dem Munde entließ, ohne ihm ein leuchtendes Fremdwort wie eine Fahne aufzusetzen; und es waren fast immer Fremdworte, die man nicht jeden Tag hörte, die im einheimischen Sprachgebrauch noch keine abgenützte Heimstatt gefunden hatten, sondern noch fremdartig schön und zum Teil unverständlich den Zuhörern im Ohre rumorten. Bis vor einem Jahr noch waren es vor allem Blüten aus der lateinischen und französischen Sprache gewesen, mit denen Dr. ten Bergen seine Reden garniert hatte: der und der habe ein droit moral; zu optima fide sei hierorts kein Anlass; erfühle sich außer Obligo; tant mieux, wenn der Gegner consentiere; im übrigen verachte er diese Pseudo-Connaisseure; all diese Usancen seien höchst ridikül [...] Seit er aber seine Amerikareise hinter sich hatte, ließ er was er früher verachtet hatte, denn das Englische war ihm zur Aufnahme in seinen Sprachgarten einfach zu grob gewesen, einen Seemannsdialekt hatte er es genannt -, jetzt ließ er seine ganze Reisebeute in seine Reden einströmen. Natürlich nicht „allright' und „o.k“, sondern Ausdrücke wie: muddle-through als Methode sei ihm zuwider; public relations seien eine conditio sine qua non; seine Arbeit gelte nicht nur den happyfew; er wisse von seinen Freunden, und darunter seien einige big wheels, dass sein approach auch in der Politik Beachtung gefunden habe; er werde sich niemals der oder jener pressuregroup beugen; auf snob-appeal lege er keinen Wert, er mache auch nicht in understatement um jeden Preise 4 Martin Walser (1957): Ehen in Philippsburg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zitiert nach: Süddeutsche Zeitung Bibliothek. München 2004, S. 208f. 478 Hans-Werner Eroms Die Fremdwörter, hier gesehen in ihrer stilistischen Potenz, individuelles Sprechen mit der Aura des Ungewöhnlichen zu umgeben, markieren in diesem Roman aus dem Jahre 1957 den Paradigmenwechsel von der gallolateinischen Kulturtradition zur angelsächsischen. Tatsächlich ist der Umschlag ziemlich abrupt, und seit den späten fünfziger Jahren dominiert das Englische in einem solchen Maße, dass sich der Eindruck aufdrängt, zumindest das Französische spiele praktisch keine Rolle mehr bei der Abrufung von Fremdwortregistem zu welchen Zwecken auch immer, sei es individualstilistischen oder gruppenspezifischen. Ob dieser Eindruck den Tatsachen entspricht, bleibt jedoch noch zu überprüfen. Nun sind in dem Walser-Zitat die verwendeten Gallizismen und Anglizismen zum Teil sehr gesucht und parodistisch übertrieben. Die Gallizismen jedenfalls sind kaum in der gegenwärtigen Gemeinsprache nachzuweisen. Gehen wir sie der Reihe nach durch: Droit moral findet sich (im Januar 2005) mit der Google-Suchmaschine zwar etwa 15000-mal in deutschen Texten, ist aber fast ausschließlich auf juristische Fachtexte beschränkt. Ein Beleg sei angeführt: (2) Für den Deutschen Kulturrat hat das droit moral einen hohen Stellenwert, daher wird an dieser Stelle noch einmal insbesondere auf den Artikel 6 bis der RBÜ verwiesen. (Quelle: http: / / www.kulturrat.de/ pdf/ 202.pdf) Tant mieux ist zwar ebenfalls häufig nachzuweisen (57900-mal), aber nur in rein französischen Kontexten. Die Verwendung in Lessings 'Minna von Bamhelm’ (4. Akt, 1. Szene) zeigt, dass das bereits für die Frühzeit seines Vorkommens im Deutschen der Fall war: (3) Fräulein. Gut! - Mein Herr, ich höre daß Sie spielen, daß Sie Bank machen; ohne Zweifel an Orten, wo etwas zu gewinnen ist. Ich muß Ihnen bekennen, daß ich gleichfalls das Spiel sehr liebe - Riccaut. Tant mieux, Mademoiselle, tant mieux! Tons les gens d'esprit aiment lejeu a la fureur. Der einzige im Projekt „Wortschatz Deutsch“ der Universität Leipzig zu findende Beleg für eine Insertion in einen deutschsprachigen Kontext zeigt das von Walser ironisierte Stilniveau: Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 479 (4) „Wenn einer von uns den Bovillard vor die Klinge fordern könnte, tant mieux, von Herzen gern, so wäre der Geschichte mit einemmal der Kopfabgeschnitten" (Projekt Gutenberg) Ähnliches gilt für konsentieren. Über die Recherche der IDS-Textkorpora mit Cosmas II lässt sich der folgende Beleg ermitteln: (5) Und die Realisierung des Gedachten würde er wem überlassen? Lorenz: ,f)ie Entscheidung, was gemacht wird, müßte letztendlich mir überlassen sein. Ich stelle mir vor, mit einem Expertenbeirat zu arbeiten, es müßte einen erheblichen Meinungsaustausch geben und eine offene Ideenbörse. Aber ich bin kein Konsentierer und absolut dagegen, Dinge zu Tode zu konsentieren." (K98/ JUL.63267 Kleine Zeitung, 07.07.1998) Etwas allgemeinsprachlicher ist der folgende Beleg: (6) Der Arbeitsausschuss des Bewertungsausschusses soll die beiden Vorschläge weitgehend konsentieren, letzte Differenzen könnten bei einer weiteren Sitzung des erweiterten Bewertungsausschusses ausgeräumt werden. (http: / / 64.233.183.104/ search? q=cache: -xBgtJ5B8twJ: n www. kbv. de/ themen/ 4839. htm+konsentieren&hl=de) 5 Connaisseur ist fest etabliert als Bezeichnung eines ‘wirklichen Kenners’: (7) Der echte Connaisseur betrachtet die Blätter deshalb selten und legt sie gleich wieder in den Safe. (Die Welt 2002) Usancen ist dagegen ein Ausdruck, der als Synonym zu Gepflogenheit oder eher zu Usus eine leicht negative Konnotation aufweist: (8) Anscheinend ist Zimmermann mit den Berliner Usancen noch nicht recht vertraut. (Die Zeit 2001) Ridikül scheint eine ironische Komponente aufzuweisen: (9) Zynismus nein, aber die Vorschriften zur Besserung sind wirklich ridikül. (TAZ 1997) 5 Bei der Wiedergabe von Intemetadressen kennzeichnet das Trennzeichen n am Zeilenende einen layoutbedingten Umbruch, der nicht Bestandteil der Adresse ist. Bindestriche, die Bestandteil der Intemetadresse sind, sind als „normale“ Minuszeichen angegeben.. 480 Hans- Werner Eroms Aus diesen wenigen Belegen lässt sich keine Schlussfolgerung für das Vorkommen und die Funktion von Gallizismen in der deutschen Gegenwartssprache ziehen, doch lassen sich einige Tendenzen erkennen: Gallizismen sind in der deutschen Gegenwartssprache durchaus auf dem Wege, gehobene Stilschichten zu markieren. Man kann den Grund dafür zunächst darin vermuten, dass sie, vor allem unter der Konkurrenz der Anglizismen, einen Prozess der zunehmenden Archaisierung durchmachen. Dies ist bereits in den einschlägigen Arbeiten von Burger (1979) und Blume (1997) beobachtet worden. Beide Untersuchungen betonen aber auch zu Recht, dass es eine Reihe von Bereichen gibt, in denen die Gallizismen unangefochten ihren Bestand wahren, und nicht nur in Prestigebereichen. Die Magisterarbeit von Katrin Söldner (2004) hat dies u.a. für die Bereiche der Politik und Gesellschaft, der Philosophie und des Pressewesens, aber auch für den Sport zeigen können. Die Mode ist kürzlich von O'Halloran (2002) untersucht worden. Dabei konnte die Verfasserin belegen, dass die Modesprache inzwischen zwar auch vom Englischen dominiert wird, dass die Gallizismen hier aber erst einige Jahrzehnte später in ihrer Vormachtstellung durch die Anglizismen abgelöst werden (O'Halloran 2002, S. 54). In einigen Bereichen, z.B. in der Kosmetik, überwiegen nach wie vor die Gallizismen. 2.3 Aktuelle Entwicklungen Eine neue Dimension hat die Frage der Konkurrenz von Gallizismen und Anglizismen durch eine Initiative der „Arbeitsgemeinschaft Sprache in der Politik“ anlässlich des Irakkrieges der USA erhalten. Es wurde nämlich vorgeschlagen, Anglizismen, wo immer dies möglich sei, durch Gallizismen zu ersetzen und damit seinen Protest gegen die Vorherrschaft der anglophon bestimmten Welt zum Ausdruck zu bringen. Die folgende Liste wurde dazu vorgelegt: 6 (10) Adieu/ Ade für Bye bye Mannequin für Model Bassin für Pool Billett für Ticket Bonvivant für Playboy Budget [büdsche] oder Etat für Budget [badschet] Equipe für Team Etikett für Label Fete für Party Niveau für Level Opinion publique für Public 6 http: / / miw. spräche-in-der-politik. de/ aktuelles . htm. Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 481 Chanson für Song Chauffeur für Driver Cheffür Boss Communique für Briefing Conferencier für Showmaster (Scheinanglizismus) Coupe für Cup (‘Pokal’) d'accord für okay formidable für cool Hausse für Boom Hautevolee für High Society Klassement für Ranking opinion Ordinateur für Computer Pointe für Gag Sofa für Couch Rendezvous für Date Resümee für Abstract Revue für Show Souterrain für Basement Tantieme für Royalty Tournee für Tour Trikot für T-Shirt Diese Liste findet sich mittlerweile auf einer Unzahl von Webseiten, wird im Großen und Ganzen aber kritisch kommentiert. Das Spektrum reicht von einigen noch wohlwollenden Zitierungen, die aber sogleich relativiert werden wie: „Letztlich unintelligent befand das NETBLOG die zu kurz gedachte Retourkutsche der Sprach-Boykotteure, Anglizismen im Deutschen durch Gallizismen zu ersetzen. Die Frankfurter Rundschau motivierte es zum Ausruf eines: Shame on you, Mister President! (via NETBLOG und Perlentaucher)“ 7 über ironische (und zum Teil in merkwürdigem Französisch geschriebene) Kommentare wie „d'accord, dann werden wir dem coucher Americaine mal richtig formidable zeigen, wo der 'ammer 'ängt, ne pas, mon compagnons“ 8 bis zu radikalen Ablehnungen: „Nein, leider nicht mehr zu retten... sind die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ‘Sprache in der Politik’“ 9 oder „Grußkarte aus dem Elfenbeinturm.“ 10 In der Tat ist bei einer realistischen Betrachtung das Terrain für die Gallizismen im Deutschen ziemlich festgelegt und es lässt sich nicht einfach ausweiten, genauso wie sich nicht durch Verordnung die Zahl der Anglizismen reduzieren ließe. Ein Eingriff in den Wortbestand kann ohnehin nicht punktuell vorgenommen werden, die Wörter sind vernetzt und die oben angesprochene „Aufgabenverteilung“ zwischen indigenen und nicht indigenen Wör- 7 http: / / www.erratika.de/ link/ 5_0_1_0_C/ . 8 http: / / www.rundumschlag24.de/ html/ hauptteil_rundumschlag_08.html. 9 http: / / www.20six.de/ yoyo/ archive/ 2003/ 04/ . 10 http: / / www.tu-chemnitz.de/ phil/ leo/ rahmen.php? seite=r_kult/ mayer_ gallizismen.php. 482 Hans-Werner Eroms tem ist durch kleinräumige und großflächige Gebiete gekennzeichnet, die in ihrer gegenwärtigen Verteilung nicht nur durch horizontale und vertikale Schichtungen gekennzeichnet sind, sondern auch die historischen Entwicklungen tradieren. 3. Überprüfung gegenwärtiger Tendenzen Dennoch kann die exemplarische Untersuchung der Konkurrenz von Gallizismen und Anglizismen Auskunft über die Verteilungsdomänen geben. Ein direkter Vergleich konkurrierender Ausdrücke ist allerdings insofern künstlich, als immer auch die mit den Fremdwörtern Wortfelder bildenden deutschen Ausdrücke in die Betrachtung einbezogen werden müssen. Daran lässt sich im Übrigen auch erkennen, dass es hier nicht oder nicht immer um Verdrängung eines deutschen Wortes durch ein fremdes geht, sondern, eher umgekehrt, entweder das deutsche das fremde ersetzt hat oder dass sich eine natürliche Aufgabenverteilung ergeben hat, die das Vorkommen der Wörter in verschiedenen Funktionalstilen in Rechnung stellt. Zum ersteren gehören etwa Billett für Ticket. Der deutsche Ausdruck Fahrkarte ist bekanntlich durch Verordnung sekundär für Billet eingetreten, 11 hat sich aber in Deutschland weitgehend durchgesetzt und ist auch heute noch lebendig. Weil auch sonst die ausschließliche Betrachtung der Konkurrenz von Gallizismus versus Anglizismus unrealistisch wäre, sei die oben angeführte Liste zunächst um synonyme und quasisynonyme deutsche Ausdrücke ergänzt. Es wird dabei immer nur ein einziges deutsches Wort angeführt, falls sich ein solches finden lässt. In manchen Fällen ist ein Synonym nur wieder ein schon älteres Fremdwort, meist aus der griechisch-lateinischen Schicht. Ferner ist auf den ersten Blick zu erkennen, dass sich meist eine stattliche Anzahl deutscher Entsprechungen finden ließe. Das kann gleich der erste Eintrag zeigen. Statt tschüss für den Abschiedsgruß finden sich bekanntlich in diatopischer, diastratischer und alterspezifischer Verteilung sehr viele Ausdrücke, etwa Aufwiedersehen, mach's gut, also dann, ade, tschö usw. Weiter gibt es bei anderen Lehnübersetzungen (öffentliche Meinung), die damit ebenfalls nicht „rein deutsch“ sind. Manche deutsche Ausdrücke wirken hausbacken (Aufkleber), manche sind zu allgemein (Fest), andere dagegen zu speziell (Sitzbank). 11 Vgl. Schmidt (2004, S. 152). Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 483 (11) Adieu - Bye bye - Tschüss Bassin - Pool - Schwimmbecken Billett - Ticket - Fahrkarte Bonvivant — Playboy — Lebemann Budget [büdsche] oder Etat - Budget [badschet] - Haushalt Chanson - Song - Lied Chauffeur - Driver - Fahrer Chef- Boss - Leiter Communique - Briefing - Kurze Zusammenfassung Conferencier - Showmaster (Scheinanglizismus) - Unterhalter Coupe - Cup - Pokal d'accordokay in Ordnung formidable cool stark Hausse - Boom — Aufschwung Hautevolee - High Society bessere Gesellschaft Klassement - Ranking - Rangordnung Mannequin - Model - Vorführdame Equipe - Team - Mannschaft Etikett - Label - Aufkleber Fete - Party - Fest Niveau - Level - Stufe Opinion publique - Public opinion öffentliche Meinung Ordinateur - Computer - Rechner Pointe - Gag - Witz Sofa - Couch - Sitzbank Rendezvous - Date - Verabredung Resümee - Abstract - Zusammenfassung Revue - Show - Aufführung Souterrain - Basement - Untergeschoss Sujet - Topic - Gegenstand Tantieme - Royalty - Gewinnanteil Tournee - Tour - Gastspielreise Trikot - T-Shirt - Hemd Diese sehr heterogene Liste zeigt, dass die Wörter keineswegs gegeneinander ausgetauscht werden können. Ihre Spektren sind vielfältig verzahnt und decken ganz unterschiedliche Bereiche ab. Dennoch kann die Musterung direkter Konkurrenzen einen Eindruck über die Hauptdomänen der Wörter vermitteln. Das sei im Folgenden an fünf Beispielen gezeigt. 484 Hans- Werner Eroms 1. Resümee - A bstract - Zusammenfassung Bei der Suche nach Webseiten auf Deutsch finden sich folgende Zahlenverhältnisse: Resümee: 0.2 Mio; Abstract: 5,3 Mio, Zusammenfassung-, 3,1 Mio Einträge. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass Zusammenfassung in Konkurrenz mit Kurzfassung, Abriss, Inhaltsangabe und weiteren Synonymen steht. Für die Verwendung des jeweiligen Ausdrucks werden im Folgenden zwei bis drei Beispiele angegeben, die sich im Leipziger Projekt „Wortschatz Deutsch“ finden. Die Auswahl beschränkt sich auf solche Fälle, die dem Kembereich des Gallizismus nahe kommen. (12) Es wäre abwegig, nach einem einfachen Resümee für diesen durchaus unklaren und vielgestaltigen Prozeß zu suchen. (Die Zeit 1998) (13) Nach diesem resignierten Resümee war aber doch noch eine Menge zu erfahren. (Die Zeit 2000) (14) Die Seite bietet einen Abstract der Untersuchungsergebnisse und einen Link aufden kostenpflichten Artikel The Beginning of the Endfor Cervical Cancer? (Die Zeit 2002) (15) Bei Büchern heißt das: zuerst die Buchempfehlung (das Abstract) lesen, und wenn das Vor-Lesen Geschmack auf vertiefende Lektüre gemacht hat, das ganze Buch. (Die Welt 2001) (16) Es sei die „kürzeste Zusammenfassung der Bergpredigt. (Neues Deutschland 2003) (17) Doch an der automatischen Zusammenfassung muß noch viel gefeilt werden. (Die Zeit 1998) Resümee und Abstract erscheinen auf den ersten Blick hin in ihrer Bedeutung sehr nahe zu sein. Beide Ausdrücke fokussieren den Inhalt, die Quintessenz eines längeren schriftlichen Textes, vor allem eines Buches, eines Vortrags oder einer Abhandlung. (18) Für das Buch, das es hier anzuzeigen gilt, würde der,Abstract etwa lauten: Wolfgang Oppenheimer, geboren 1923 in Hamburg-Altona, Sohn und Erbe einer jüdischen Unternehmerfamilie, die es in der Lederbranche zu Wohlstand und Ansehen gebracht hat. (Tagesspiegel 1998) Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 485 Die Unterschiede liegen in der Verwendung des Wortes Abstract eher für anpreisende Kurzdarstellungen, während Resümee den Effekt, das Ergebnis stärker betont. Der deutsche Ausdruck Zusammenfassung lässt vielfach den aktiven Vorgang erkennen. Bei einem Verbalsubstantiv ist dies auch zu erwarten. Belege für die Bedeutungsvariante 'Konzentration’ sollen dabei außer Betracht bleiben: (19) Die höchste Zusammenfassung dieser geistigen Kräfte ist aber der Staat, in welchem materielles und geistiges Leben zu einer organischen Einheit verbunden werden. (Projekt Gutenberg) Das Wort beschränkt sich auch nicht auf die Komprimierung von Texten, sondern hat eine viel weitere Anwendung: (20) Das ist die Zusammenfassung dessen, was jetzt getan werden muss, um die Errungenschaften des Sozialstaats aufrechterhalten zu können. (Der Spiegel ONLINE 2004) 2. Klassement - Ranking - Rangordnung Das Wort Klassement hat seine Verwendungsdomäne bei der Bezeichnung von Rangordnungen in bestimmten Sportarten. (21) Sie hat ihn verringert, zwei Konkurrentinnen im Klassement passiert und sich Bronze um den Elals hängen lassen. (Die Welt 2002) (22) Köln rangierte im Klassement zwischenzeitlich auf Rang zehn, als Coach Lance Nethery samt 450000 Euro Abfindung ging - und Chernomaz kam. (Süddeutsche Zeitung 2002) Ranking ist dagegen in aktuellen Zusammenhängen zu finden. Alles oder jedes in Rangordnungen zu bringen ist eine Art Volkssport im Deutschen geworden. Die Bildungseinrichtungen, insbesondere die Universitäten, das Land und seine Institutionen werden derzeit fast nur noch in ihrem Ranking beachtet. Das akuteile Ranking ist eine besonders typische Ausdrucksweise. (23) Zwei Jahre nach Gründung schon liegt sie in der neuen, von der Zeitschrift „Werben & Verkaufen“ (W & V) jetzt vorgelegten Rangliste der kreativsten deutschen Agenturen aufPlatz 17; das aktuelle Ranking der Fachzeitung „Horizont', im Dezember veröffentlicht, sieht sie gar aufPlatz zehn. (Die Welt 15.1.2001) 486 Hans-Werner Erotns (24) Siemens, der einzige deutsche Konzern im Ranking der 20 Top- Entlasser, hält tapfer mit und kündigte Anfang vergangener Woche noch einmal 7000 Stellenstreichungen an. (Die Welt 2001) (25) Deutschland fällt im Ranking der Bertelsmann Stiftung auf Platz 15 zurück. (Die Welt 2000) Bei Rangordnung halten sich ältere Ausdrucksweisen. Insbesondere vorgegebene Rangordnungen, die fest und biologisch oder soziologisch zu begründen sind, werden mit diesem Wort ausgedrückt. Kollokationen wie die gewohnte Rangordnung sind hier prototypisch. (26) Nach drei Runden war aber die gewohnte Rangordnung wieder hergestellt und Riss ging als Erster durchs Ziel. (Schweriner Volkszeitung Online) (27) Da hat ein Tier die Rangordnung nicht beachtet und wurde schmerzlich dafür gerügt. (Berliner Zeitung 1997) 3. D 'accord okay in Ordnung D'accord findet sich im Leipziger Projekt „Wortschatz Deutsch“ überhaupt nicht, obwohl das Wort als Lemma aufgefiihrt wird. Das Wort ist sehr gehoben. Die Recherche der IDS-Textkorpora mit Cosmas II ergab folgenden Beleg: (28) Der in Wiesbaden lebende Politiker geht mit den Innenministern der Länder durchaus accord, daß Flüchtling nicht gleich Flüchtling ist. (R97/ JUL.51772 Frankfurter Rundschau, 03.07.1997, S. 1) Okay ist eine Ausdrucksweise, die sich dagegen in ungezwungenen Zusammenhängen findet. Auffällig ist, dass die Sätze, die als Beispiele angeführt werden, besonders kurz sind: (29) ,Oeb ist okay. [...]“ (Die Zeit 1998) (30) ,JCultfigur Schröder okay. [...]“ (Die Zeit 1998) (31) Würde die das okayfinden? (Die Zeit 1999) Dagegen ist das deutsche Synonym zu diesen Ausdrücken, mit dem eine Zustimmung signalisiert wird, daneben auch für „grundsätzlichere Ausdrucksweisen“ zu finden. Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 487 (32) Er hielt das Werk in Ordnung und hatte es lange Jahre im Frieden in Ordnung gehalten. (Wilhelm Raabe: Das Odfeld, Kap. 7) (33) Doch der Pfarrer durfte seine Gemeinde in der Nähe Coburgs betreuen, als wäre alles in Ordnung. (Der Spiegel ONLINE 2002) Auch hier wird die „herkömmliche Ordnung“ betont: (34) In NRW scheintfür die Aufsichtsbehörden die Welt in Ordnung. (Neues Deutschland 2003) Nur sollten aus dieser Tatsache, die sich ja auch bei der vorher benannten Trias Klassement - Ranking - Rangordnung findet, keine voreiligen Schlüsse gezogen werden, etwa dass das deutsche Wort die den Deutschen gern unterstellte Ordnungsliebe betone. Doch ist die Verwendung des Anglizismus in aktuellen, die des Gallizismus in sehr gehobenen Verwendungsweisen repräsentativ. 4. Ordinateur - Computer - Rechner Das französische Wort lässt sich im Deutschen nicht nachweisen. Es finden sich nur Belege für die Ersetzung von Computer im Französischen selber. (35) Statt Walkman beispielsweise hat es nun ,ßalladeur“ zu heißen, aus Computer wurde „Ordinateur“. (Berliner Zeitung 1997) Die inzwischen im Deutschen etablierten Ausdrücke Computer und Rechner durch ein Wort zu ersetzen, dessen Berechtigung nicht eingesehen werden könnte, erscheint wenig sinnvoll. Computer ist 35910-mal im Leipziger Wortschatzprojekt belegt, Rechner 6951-mal. Es lassen sich so gut wie keine unterschiedlichen Gebrauchsdomänen feststellen. Sowohl in eher technischen, als auch in allgemeinen Kontexten werden die beiden Wörter ziemlich unterschiedslos verwendet. (36) Die Cebit galt immer als wichtige Jobbörse im Bereich von Computer, Software und Telekommunikation. (Der Spiegel ON- LINE 2003) (37) Noch immer sind Computer in vielen deutschen Kinderzimmern und Studentenwohnungen Mangelware. (Der Spiegel ONLINE 2002) 488 Hans-Werner Emms (38) Kurzum: Ob ein Rechner von Ad-Ware befallen ist, entdeckt man ohne Hilfsmittel allenfalls per Zufall. (Der Spiegel ON- LINE 2005) (39) Teenager schalten den Rechner nach gut 12 Stunden aus. (Der Spiegel ONLINE 2002) Auch die signifikanten Kollokationen sind recht ähnlich, z.B. Firmenbezeichnungen und Ausdrücke wie Daten, Software, Festplatte u.a. Als einziger merklicher Unterschied lässt sich feststellen, dass fast ausschließlich per oder via Computer, aber nicht per oder via Rechner gesagt wird. 5. Rendezvous - Date - Verabredung Ein Wort, das sich trotz starker Konkurrenz durch das englische Äquivalent gehalten hat, ist Rendezvous. Es kommt sogar in der Nachbarschaft von englischen Ausdrücken vor: (40) Zwei Kinder hat Elisa, doch jetzt glänzt sie vor Aufregung wie ein Teenager vor dem Rendezvous. (Die Zeit 2002) Die Kollokationen sind ähnlich. (41) „Es könnte ja sein, dass man eine SMS bekommt und schon wieder auf dem Sprung zum nächsten Date ist.“ (Süddeutsche Zeitung 29.10.2002) Von den deutschen Synonymen ist Stelldichein deutlich ein Archaismus. Die Kontexte, in denen das Wort begegnet, sind meist etwas ironisch: (42) Darüber, ob Niklas Luhmann aufden Hügeln von Bielefeld Hegel und Heidegger zum Stelldichein zusammenführt, ist ausgiebig spekuliert worden. (Die Zeit 1997) Verabredung ist dagegen das neutrale Wort. (43) Jede Verabredung, die man trifft, ist eine Selbstverpflichtung. (Die Zeit 2003) Söldner (2004) hat die Konkurrenzen zwischen Equipe/ Team, Hausse/ Boom, Bonvivant/ Playboy, Hautevolee/ High Society, Chef/ Boss, Billet/ Ticket und Esprit du Corps/ Corporate identity untersucht und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Für den Vergleich von Chef und Boss sei hier ihre Zusammenfassung angeführt: Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 489 Man kann also resümieren, dass in diesem Fall der Gallizismus nicht vom Anglizismus verdrängt wurde und auch nicht von ihm in seiner Existenz bedroht zu sein scheint. Während der Gallizismus in der Regel in neutraler Verwendung zu finden ist, fällt beim Anglizismus eine teils pejorative Nuance auf. (Söldner 2004, S. 158) 4. Fazit Für den Vergleich dieser Synonymenreihen sei nun ein kurzes Resümee versucht, an das einige allgemeinere Folgerungen angeschlossen werden sollen. Es ist offensichtlich, dass die Gallizismen im Vergleich mit den englischen und den deutschen Ausdrücken eine markierte Gruppe sind, auch wenn sie in einigen Bereichen die gängigsten Ausdrucksweisen darstellen. Im Allgemeinen gehören die Gallizismen „gehobeneren“ Stilregistem an. Das schlägt sich jedoch manchmal so nieder, dass sie in ironisierenden oder archaisierenden Kontexten verwendet werden. Nicht außer Acht gelassen werden darf, dass nicht nur die Wörter französischer Flerkunft, sondern auch die Anglizismen stets in Konkurrenz zu den deutschen Ausdrücken ihres Wortfelds stehen. Dies wird in der gegenwärtigen Debatte um die Fremdwörter allzu leicht vergessen. Es sind nur ganz wenige Bereiche, in denen etwa Anglizismen absolut dominieren, ln den meisten Fällen werden die Ausdrucksweisen, die aus dem Angloamerikanischen stammen, passiv rezipiert. In den Allgemeinwortschatz gehen allerdings auch nicht wenige Wörter ein. Doch sind sie, bis auf geringe Ausnahmen, wiederum auf bestimmte Funktionalbereiche, vor allem der Mode, der Computertechnik, der Jugendkultur und der Werbung beschränkt. In der Besetzung derartiger Ausdrucksnischen haben die Anglizismen die Gallizismen in der deutschen Gegenwartssprache zweifellos aus ihrer dominierenden Rolle verdrängt. Die Entwicklung lässt sich, wie oben angeführt, bereits für die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beobachten. Zwangsläufig erhalten die Gallizismen zu einem erheblichen Teil dadurch einen etwas altertümlichen Touch, während die Anglizismen generell als die aktuelleren, moderneren Ausdrucksweisen aufgefasst werden. Nicht zuletzt finden sich in der Jugendsprache so gut wie keine Gallizismen. Sie gehören der Bildungssprache an. Journalisten verwenden sie, um entsprechende Signale auszusenden. So findet sich in der Süddeutschen Zeitung vom 5.3.2002 ein Artikel mit der Überschrift „Nebenjob mit Hautgout“, in dem es am Schluss heißt: 490 Hans- Werner Eroms (44) Aber der Kniggesche "Esprit de conduite' ist halt leider nicht mehr so ganz in. Daneben behalten die Ausdrucksweisen, die aus dem Französischen übernommen worden sind, in einigen klassischen Bereichen ihre Bedeutung. Der Bereich der Mode, der Parfüms und Pflegeartikel, vor allem die Ausdrücke gehobener Kochkunst sind fest in französischer Hand. Genau dies stabilisiert aber die „Funktionsverteilung“ zwischen den Ausdrücken angloamerikanischer und französischer Herkunft. Etablierte, gehobene, damit aber auch traditionellere Bereiche tendieren eher zum Französischen, aktuelle, „dynamische“ und stilistisch neutrale Bereiche zum Englischen. Insgesamt sind dies nur Tendenzen. Die Gallizismen, um die es hier vor allem geht, sind auf Grund ihrer langen Geschichte im Deutschen mehr oder weniger überall vertreten, wenn auch ihre Token-Frequenz mit den Anglizismen in keiner Weise Schritt halten kann. So gibt es Bereiche, in denen die alte Domäne sich erhalten hat oder sogar ausgebaut werden konnte. Für Esprit etwa gibt es keine englischen Synonyme im Deutschen. Wohl aber ist das ganze Begriffsfeld mit Brillianz, Eloquenz, Humor und Ironie immer noch romanisch, wenngleich sich hier die deutschen Äquivalente sehr bemerkbar machen: Geist, Witz, Verstand und Scharfsinn. Nicht zuletzt ist die erste große Wortfelduntersuchung im Deutschen diesem Gebiet gewidmet (Trier 1931). Doch darf dieser Bereich nun wiederum nicht gegen das Englische ausgespielt werden. Denn wer wollte unterstellen, dass der etwas andere englische Humor nicht dem französischen das Wasser reichen könnte. Nur haben diese Ausdrucksweisen die französischen im Deutschen nicht tangieren können. Sie gehören zum festen Bestand des Deutschen, wie so viele andere Wörter aus der Romania, auch wenn sie nicht so häufig verwendet werden wie die Anglizismen. 5. Literatur Blume, Herbert (1997): English well known, le fran9ais oublie. Kulturmusterwechsel als Ursache von Sprachwandelprozessen im Gegenwartsdeutsch. In: Andersson, Bo/ Müller, Gemot (Hg.): Kleine Beiträge zur Germanistik. Festschrift für John Evert Härd. Uppsala: University Library. S. 33-49. Burger, Antje (1979): Die Konkurrenz englischer und französischer Fremdwörter in der modernen deutschen Pressesprache, ln: Braun, Peter (Hg.): Fremdwort-Diskussion. München: Fink. S. 246-272. Gallizismen in der Konkurrenz zu Anglizismen im Deutschen 491 Eroms, Hans-Wemer (2002): Die Bewertung der Anglizismen im Deutschen. In: Földes, Csaba/ Pongö, Stefan in Zusammenarbeit mit Hans-Wemer Eroms u. 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Grammatische, semantische und pragmatische Aspekte des Formulierens komplexer Äußerungen im Gespräch Dieser Beitrag soll auf einen Verknüpfungsbereich von Grammatik und Pragmatik, speziell Gesprächsanalyse hinweisen, der sich in der Forschung der letzten fünfzehn Jahre als sehr fruchtbar erwiesen hat, zumindest für die Pragmatik und eine kommunikativ-funktional orientierte Grammatikkonzeption (vgl. dazu auch Zifonun et al. 1997). Äußerungsstrukturelle, insbesondere grammatische Gesichtspunkte spielen für die Verfahren des gesprächsanalytischen Spurenlesens im Umgang mit Dokumenten der Kommunikationswirklichkeit eine große Rolle, und die Systematisierung der dabei anfallenden Befunde macht Fortschritte. Für die folgenden Überlegungen beziehe ich mich auf die Verteilung von Redebeiträgen, das zentrale Arbeitsfeld der klassischen Konversationsanalyse. Dabei spielt die Frage der Vollständigkeit von Redebeiträgen bzw. Äußerungsstrukturen eine wichtige Rolle. Und hier gibt es eine fruchtbare Verknüpfungsstelle zwischen Gesprächsanalyse und Grammatik. Im Zentrum der Betrachtung stehen einige Aspekte von nicht völlig reibungslosen Sprecherwechseln im Anschluss an komplexe Redebeiträge. Ich stütze mich auf zwei Beispielfälle. Der erste Fall enthält neben einer ganzen Folge von unproblematischen Sprecherwechseln zumindest einen, bei dem man sich fragen muss, inwieweit und in welchem Sinne eine laufende komplexe Äußerung vorzeitig gestört und der Darstellungszusammenhang unterbrochen wird. Als Kontrast dazu wird ein zweiter Beispielfall herangezogen, in dem das Problem darin besteht, dass ein Sprecher seine lange Äußerung als beendet markiert, ohne dass jemand von den Adressaten startet. In beiden Fällen wird durch die Folgebehandlungen deutlich, dass zur Vervollständigung der komplexen Äußerung inhaltlich noch etwas gefehlt hat. Vorgänge der angedeuteten Art bieten gute Ansatzpunkte für eine Analyse der Art und Weise, wie bei der Organisation von Sprecherwechseln Strukturierungen unterschiedlicher Reichweite Zusammenwirken, d.h. also Eigenschaften der lokalen, kleinräumigen Strukturierung von Äußerungseinheiten einerseits und übergreifende, die Gesamtäußerung oder auch Äußerungssequenzen überspannende Strukturierungen, die man als meso-strukturell bezeichnen 494 Werner Kallmeyer kann. Und zugleich sind auch die Besonderheiten der lokalen Gesprächsorganisation als Beitrag zur Konstitution übergreifender Gesprächsvorgänge zu sehen. Diese analytische Perspektive ist charakteristisch für eine gesprächsrhetorische Sicht (vgl. Kallmeyer 1996). Bei den folgenden Beispielanalysen konzentriere ich mich auf grammatische, prosodische, semantische sowie pragmatische Eigenschaften der fraglichen Äußerungen und Äußerungssequenzen. Es ist bekannt, dass nonverbale Aktivitäten wie Blickkontakt, körperliche Zuwendung, Gesten für die Organisation der Redeübergabe wichtig sind. Trotzdem spare ich diesen Aspekt hier aus im Vertrauen darauf, dass die interessierenden Analysegesichtspunkte in den Beispielen dadurch nicht grundlegend verfälscht werden. 1, Grundlegende Eigenschaften der Organisation von Sprecherwechseln Aus der Sicht der Gesprächsanalyse ist die Organisation des Austausches von Redebeiträgen das Grundgerüst sprachlicher Interaktion. Das Tum-taking- System von Sacks/ Schegloff/ Jefferson (1974) fußt auf der Annahme, dass die Redeverteilung ganz lokal geregelt wird. Die Sprecher haben jeweils nur für eine Äußerung vom Umfang einer Tum-Konstruktionseinheit das Rederecht. Jede Vollendung einer solchen Konstruktionseinheit schafft einen Punkt, an dem die Frage der Redeverteilung relevant ist; d.h., es gibt einen sog. „transition relevance point“. Besondere Bedingungen gelten für komplexe Äußerungen, weil sie durch eine Reihe von Konstruktionseinheiten gebildet werden, an deren Ende jeweils eine übergangsrelevante Stelle erscheint. Welche nun das mögliche Ende der gesamten Äußerung darstellt, ist davon abhängig, wie die Sprecher diese lokalen übergangsrelevanten Stellen behandeln, d.h., welche Vorkehrungen sie treffen, um den Stellenwert der aufgrund der Konstruktionsmittel erforderlichen Zäsur zu bestimmen. Interaktionspartner müssen im Gespräch schnell reagieren können. Für dieses schnelle und geordnete Funktionieren von Sprecherwechseln ist wichtig, dass übergangsrelevante Stellen antizipiert werden können. Dafür spielen Eigenschaften der Äußerungskonstruktion eine wichtige Rolle, die bestimmte Fortsetzungen projizieren. Eine Stelle wird in dem Maße frühzeitiger und auch eindeutiger als übergangsrelevant erkennbar, wie es voraufgehende Projektionen für die Vervollständigung der Äußerung gibt und diese Projektionen an der fraglichen Stelle eingelöst sind. Die klassische, soziologisch ausgerichtete Konversationsanalyse macht nur wenige Angaben zum Cha- Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 495 rakter von Tum-Konstruktionseinheiten (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974; Schegloff 1996). Tum-Konstruktionseinheiten sind Sätze und andere grammatische Strukturen, die pragmatisch selbststständig funktionieren können, z.B. elliptische Konstruktionen, Interjektionen usw. Vorbehaltlich einer genaueren Klärung kann man sagen, dass sie im Prinzip den „Kommunikativen Minimaleinheiten“ der IDS-Grammatik entsprechen (Zifonun et al. 1997). Wie Redebeiträge sprachlich konstruiert werden, ist ein zentraler Gegenstand der sog. interaktionalen Linguistik geworden. 1 Die vorliegenden Ergebnisse gestatten, die Rolle äußerungsintemer Projektionen unterschiedlicher Reichweite und deren Einlösung bei der Organisation von Sprecherwechseln genauer zu analysieren. Generell gilt, dass Sprecherwechsel interpretativ gesteuert sind, d.h., dass die Interaktionsbeteiligten aufgrund ihrer Interpretationen der oben genannten Kontexteigenschaften über den Charakter einer Gesprächsstelle entscheiden, z.B. über ihre Eignung für einen problemlosen Sprecherwechsel (oder einen problematischen, aber Erfolg versprechenden usw.). Ein Kernpunkt dabei ist, dass die Interpretation von Redeübemahme als legitim, erwünscht, als Störung oder Unterbrechung usw. hochgradig kontextabhängig und entsprechend variabel ist, und dass diese Eigenschaften Gegenstand von Aushandlungen der Beteiligten sind oft ganz unscheinbar und hochgradig routinisiert, manchmal aber auch mit erkennbaren Spuren der Problematisierung. Bei der Organisation von Sprecherwechseln spielen zudem Abstufungen des Rederechts eine Rolle. Nicht jede Intervention eines zweiten Sprechers im Verlauf einer noch nicht abgeschlossenen Äußerung eines ersten Sprechers ist als ein Unterbrechungsversuch zu werten. Der zweite Sprecher kann vielmehr gerade das vorgängige Rederecht des ersten Sprechers bestätigen und die Produktion der laufenden Äußemng unterstützen oder auch nur ein sekundäres, untergeordnetes Rederecht beanspmchen, wodurch das Rederecht des etablierten Sprechers nicht außer Kraft gesetzt, sondern allenfalls kurzfristig suspendiert wird (Kallmeyer 1999). 1 Zur interaktionalen Linguistik vgl. u.a. Auer (1991; 1996a), Ford/ Fox/ Thompson (1996), Ford/ Thompson (1996), Fox (2001), Ochs/ Schegloff/ Thompson (1996), Selling (2000), Selting/ Couper-Kuhlen (2001). Ein wichtiger Diskussionspunkt der interaktionalen Linguistik ist, welche Art von grammatischen Kategorien bzw. Modellen den Prozessen der sukzessiven Produktion von Äußerungen unter Interaktionsbedingungen am ehesten gerecht wird. Diese Grammatik-bezogene Diskussion möchte ich hier jedoch nicht weiter verfolgen. 496 Werner Kallmeyer 2. Projektionen und ihre Einlösung Die Etablierung von Projektionen für den weiteren Verlauf und das Ende von Einheiten ist in der Regel komplex und oft auch relativ vage. Immerhin gibt es einige Aspekte der Konstitution von Äußerungen, die als ziemlich verlässlich angesehen werden können. Ich greife nur einige davon hier auf: (a) Projektionen können durch syntaktische Konstruktionen eingeführt werden. Die Satzklammer im Deutschen (z.B. in einer Äußerung wie ich habe ihm heute morgen nach einigem Zögern das Buch gegeben) ebenso wie die Verb-Endstellung in abhängigen Sätzen (z.B. weil er mich erst heute morgen angerufen hat) sind in dieser Hinsicht besonders starke Mittel: Solange im ersten Fall die Partizipialform nicht produziert ist, ist die grammatische Projektion nicht erfüllt; im zweiten gilt das analog für die finite Verbform hat. (b) Die syntaktisch-semantische Konstruktion von Äußerungen in Verbindung mit der Akzentverteilung definiert Foki und dementsprechend Keminformationen. Die Produktion des Informationskems hat für die Rezipienten einen hohen Orientierungswert. Initiativen zur Wortergreifung vor der vollständigen Produktion des Informationskems gelten als Unterbrechung, während Initiativen zur Wortergreifung nach der Produktion des Informationskems bei noch laufender Äußerung im Zweifelsfall als Frühstart, aber nicht unbedingt als Unterbrechung gelten. (c) Intonationsbewegungen wie die Intonationssenkung am Ende sind starke Signale für die Beendigung von Konstmktionseinheiten (vgl. u.a. Auer 1996b, Couper-Kuhlen/ Selting 1996, Ford/ Thompson 1996, Fox 2001, French/ Local 1983, Local 1992). Auch hier gibt es Möglichkeiten, Projektionen einzufuhren, z.B. durch eine Reihe von steigenden Akzenten; eine folgende Akzentumkehr signalisiert mit großer Wahrscheinlichkeit das Konstruktionsende, z.B. und dann'l nach vielen versuchen^ als wir schon fast verzweifelt waren^ hat es dann doch noch geklappt],. Hierbei kann die Akzentumkehr auch schon im Verlauf der letzten Formulierungseinheit beginnen: hat es dann doch], noch geklappt],). (d) Die Voranstellung von kurzen Elementen vor den Kern einer Äußerung: Z.B. sicher * das kann man so sehen oder aber * wenn ich noch mal nachdenke oder und dann * am nächsten Tag kam Elsa nach Hause und ... Derartige Elemente werden in der Diskursforschung unterschiedlich benannt, z.B. als Besetzungen des Vor-Vorfeldes (Auer 1996a), als Diskursmarker (vgl. z.B. Günthner 1999) und als Operatoren (Fiehler et al. 2004). Sie sind Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 497 zu beschreiben hinsichtlich der syntaktischen Position vor der „linken“ Konstruktionsgrenze der Einheit, auf die sich das entsprechende Element bezieht; hinsichtlich der syntaktischen Beziehungen (Selbstständigkeit durch Herauslösung aus der Bezugskonstruktion), der prosodischen Markierung (prototypisch sind Abtrennung durch Pause, eigenständige Konturierung des vorangestellten Elements mit eigenem Grenzton, fallend oder steigend; allerdings nicht durchgängig so) und hinsichtlich der Funktion: Generell wird ihnen eine projizierende Kraft zugeschrieben; sie kündigen eine Bezugseinheit mit mehr oder weniger deutlich definierten Eigenschaften an. (e) Projektionsträchtig sind generell erste Teile von zweiteiligen Konstruktionen. Das gilt z.B. auch für zweiteilige Konnexionen durch Formen wie zwar-aber, einerseits-andererseits, sowohl-als auch, entweder-oder (vgl. auch Pasch/ Brauße/ Breindl 2003) und grammatisch-pragmatische Muster wie JA-ABER, d.h. eine Form von Zustimmung und eine Form von Opposition. Dieses letzte Muster ist insofern besonders interessant, weil es sowohl innerhalb eines Satzgefüges funktionieren kann wie die anderen zweiteiligen Konnektoren, die Hauptsätze verbinden (z.B. das ist sicher so aber es geht um etwas anderes), aber auch textuell, mit einem expandierten und als selbstständige Einheit konturierten ersten Teil der Einräumung. Solange ABER nicht realisiert ist, gilt die Projektion eines zweiten Teils weiter. (f) Zu den gängigen Verfahren der Äußerungskonstruktion gehören auch solche, die Projektionen über die Grenzen von Äußerungseinheiten hinweg etablieren. Eine Standardmöglichkeit der Projektion von letzten Aktivitäten in komplexen Äußerungen sind Formen von Ankündigungen wie eine frage habe ich noch oder ich habe drei einwände. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Sprecher oft nicht auf die angekündigten Aktivitäten beschränken. Aber wenn z.B. jemand am Beginn einer Äußerung eine Frage ankündigt, dann wird diese Projektion in dem Moment erfüllt, wo erkennbar eine Frage formuliert wird, und das Ende der Fragekonstruktion schafft einen Punkt für die legitime Redeübemahme. Bei der Einheiten übergreifenden Projektion von Aktivitäten können also bestimmte Aktivitäten als strukturschließend erwartbar gemacht werden; das Ende dieser projizierten letzten Aktivität muss allerdings wiederum innerhalb der Äußerungseinheit erwartbar gemacht und angezeigt werden. (g) Fest geprägte Textmuster etablieren ebenfalls Projektionen für den weiteren Verlauf und das erwartbare Ende. So ist ein Witz erst zu Ende, wenn eine Pointe produziert wurde. In ähnlicher Weise sind Erzählungen auf ein 498 Werner Kallmeyer Ende hin orientiert, das für die Rezipienten damit antizipierbar wird. Wenn z.B. ein Sprecher eine Erzählung ankündigt mit mir ist heute etwas unglaubliches passiert, kann die Erzählung erst als im Prinzip beendbar angesehen werden, wenn etwas dargestellt wurde, das den genannten Eigenschaften entspricht. Auch wenn jemand ein eigenes Problem darstellt mit dem Ziel, Hilfe in Form eines Ratschlags zu bekommen, ist antizipierbar, wann die Problemdarstellung frühestens als vollständig interpretiert werden kann (vgl. u.a. Kallmeyer 2001). 3. Der Beispielfall entschuldige dass ich lache Das erste Beispiel ist einem Beratungsgespräch im Fernsehen aus der Sendereihe „Lämmle live“ entnommen, bei der Ratsuchende anrufen können und, nach einer Vorauswahl durch den Stab im Hintergrund, mit Brigitte Lämmle sprechen. Der zunächst wiedergegebene Ausschnitt setzt gegen Ende der ersten Problemdarstellung der Anruferin MA ein. Als Reaktion lacht Brigitte Lämmle (BL) lauthals über die Aussage von MA zum Ergebnis einer früheren Therapie und stuft durch das Lachen und mit ihren Formulierungen die Relevanz von MAs Aussage nachdrücklich herunter (entschuldige dass ich laiche da können wir uns nämlich n butterbrot mit belegen oder sonst was). Das ist im Therapiekontext auffällig an einer Stelle, an der eine Klientin gerade ein gravierendes Problem darstellt. Auf diesen Aspekt komme ich weiter unten zurück. Zunächst konzentriere ich mich auf die Organisation der Sprecherwechsel: 28 MA: ** und * es ist 29 30 31 32 33 34 35 36 MA: in dieser therapie eigentlich nur rausgekommen äh MA: >a/ < ja * in den anfängen dass ich wahrscheinlich MA: ein ganz ungewolltes und ungeliebtes ki"nd bini BL: LACHT li/ entschuldige dass |ich la"|che da MA : ILACHANS SATZ| BL: können wir uns nämlich n butterbrot mit K LACHEND MA: LACHANSATZ 37 BL: belegen oder sonst was: was <fa"ngen> wir jetzt mit 38 BL: dieser erke"nntnis anj |LACHT 39 MA: ja| |ich konnte damit Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 499 40 BL: 41 K |ich a"uch nicht |LACHT LACHEND 42 MA: MA: überhaupt nichts| anfan|gen |ich hab |das 43 BL: 44 MA: eigentlich auch ganz weit von mir äh hmhmja einfach 45 MA: we"ggestoßen und ich bin jetzt aber >äh< ja am Ich betrachte zunächst den Äußerungsteil von MA (Z. 28ff.): Die im Matrixsatz {es ist in dieser therapie eigentlich nur herausgekommen) etablierte Fortsetzungsprojektion ist zum einen grammatisch fundiert: Gemäß der Verbvalenz von / herauskommen/ mit as-Subjekt ist ein Objekt notwendig. Der folgende dass-SsXz ist ein Objektsatz und erfüllt damit diese grammatische Projektion. 2 Innerhalb des abhängigen Satzes wird eine Konstruktion mit Endstellung des finiten Verbs projiziert und durch die Satzkonstruktion mit bin am Ende erfüllt. Prosodisch ist der Bereich der abhängigen Konstruktion ebenfalls klar konturiert. Es gibt eine Folge von steigenden bzw. hohen Akzenten auf ungewohntes und ungelie“btes sowie einen hohen Einsatz von k'Wnd mit fallendem Akzent; dann folgt ein markanter Abfall auf bin. Die Akzentumkehr und die tiefe Absenkung (tiefer als alle Senkunkungen im voraufgehenden Kontext) markieren die Stelle deutlich als Ende einer Konstruktionseinheit. Außerdem etabliert der Hauptsatz eine semantisch-thematische Projektion für den abhängigen Satz durch die Aussage „aus der Therapie ist x herausgekommen“. Projiziert wird für die Objektrealisierung eine Aussage zum Therapieergebnis. Die Kriterien für eine angemessene Einlösung dieser semantisch-pragmatischen Projektion sind nicht sehr scharf, aber zwei Bedingungen kann man mit Sicherheit formulieren: Das Ergebnis muss unmittelbar mit dem zu behandelnden Problem Zusammenhängen und behandlungsrelevant sein; und die Semantik von herauskommen impliziert, dass etwas Nicht-Offensichtliches zutage gefördert wurde. Der dbss-Satz erfüllt diese semantisch-thematische Projektion durch die Aussage zur Problemquelle (Z. 30/ 31). Alle bislang betrachteten Konstitutionsaspekte koinzidieren, indem sie die Einlösung von Projektionen und damit strukturelle Vervollständigung anzei- 2 Ich gehe hier davon aus, dass die Interpretation des Lautkörpers [das] als Artikel schon bei ich und die Interpretation als Relativpronomen relativ schnell abgewählt werden. 500 Werner Kallmeyer gen. Die Äußerungskonstruktion ist zumindest unter lokalen Gesichtspunkten abgeschlossen. BLs Lachen (Z. 32) am Beginn ihrer Reaktion ist zwar überraschend als Anschlussaktivität, wird aber „punktgenau“, d.h. ohne Pause und ohne Überlappung platziert; d.h., BL respektiert formal die Organisationsprinzipien für Sprecherwechsel. Auch bei den folgenden Übergängen lassen sich grammatische Projektionen und ihre Einlösung nachweisen, ebenso prosodische Markierungen, die kleinräumig das Ende antizipierbar machen, so z.B. im letzten Segment der Intervention von BL (Z. 37/ 38) die Endstellung des Verbpräfixes (fangen ... an) sowie der deutlich fallende Grenzton. Interessant ist der folgende Wechsel von MA zu BL (Z. 40/ 42). MAs Äußerungskonstruktion wird grammatisch klar geschlossen (konnte ... anfangen, d.h. Endstellung des Infinitivs in der Konstruktion Modalverb mit Infinitiv); die Prosodie ist jedoch weniger markant, es gibt keinen eindeutigen Grenzton. In diesem Fall entsteht eine kurze Überlappung. BL setzt an einer Stelle ein, an der erkennbar ist, dass die grammatische Projektion eingelöst wird; anfang/ ist als Verbform erkennbar, was auch dadurch unterstützt wird, dass es sich bei der Verbform um eine Reformulierung des Verbs aus der Vorgängeräußerung handelt. Insofern orientiert sich auch dieser Äußerungsstart an der grammatischen Gestaltschließung. Es bleibt aber festzuhalten, dass er früh erfolgt. BLs frühe Bestätigung übergeht z.B. die mögliche Anlage von MAs Äußerung als komplexer Redebeitrag, z.B. mit einer JA-ABER-Struktur. Auch der nächste Wechsel von BL zu MA (Z. 40/ 42) weist eine kleine Besonderheit auf. MA orientiert sich an der Vollständigkeit der elliptischen Konstruktion ich au‘ch nicht und startet „punktgenau“. Dabei überlappt sich ihr Äußerungsbeginn mit BLs Lachen. Die Überlappung eines Äußerungsstarts mit einem überhängenden Lachen nach einem Konstruktionsschluss ist hinsichtlich der geordneten Durchführung von Sprecherwechseln generell unproblematisch, solange der betreffende Beteiligte nicht in einer Weise lacht, die signalisiert, dass er absorbiert ist und als Adressat für andere Sprecher vorübergehend nicht verfügbar ist. Bedeutsam ist aber, dass MA in das Lachen von BL nicht einstimmt. Sie hatte vorher schon zweimal eine minimale Reaktion auf BLs Lachen gezeigt (LACHANSATZ), die hinsichtlich der Expressivität so sehr hinter BLs Lachen zurückbleibt, dass es nicht als Einstimmen bzw. Mitlachen angesehen werden kann. Jetzt übergeht sie die Tatsache, dass BL ihr Lachen expandiert (vgl. die lachend gesprochene Äußerung und das Anschlusslachen). Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 501 Die beiden letzten Übergänge zeigen eine geläufige Form von Sequenzbildung: BL produziert eine gut platzierte Äußerung, die ihre voraufgehende Äußerung inhaltlich wieder aufnimmt, die Aussage von MA bestätigt und wie ein Einwurf funktionieren kann (kurz, unmittelbar angebunden an die Bezugsäußerung; vgl. Kallmeyer 1999). MA ihrerseits setzt ebenfalls ihre voraufgehende Äußerung fort im Sinne der Konstruktion einer komplexen Äußerung. An dieser Stelle ergibt sich eine Verzahnung der beiden Äußerungsstränge in der Art einer Engfuhrung. Das beidseitige Insistieren auf dem eigenen Äußerungsstrang lässt eine Perspektivendivergenz vermuten, die sich möglicherweise weiter zurückkverfolgen lässt. Kann es sein, dass BLs erste Intervention auch schon früh platziert ist in dem Sinne, dass die Problemdarstellung von MA an dieser Stelle noch nicht ihren Abschluss erreicht hat? MA produziert eine typische erste Problemdarstellung am Beginn eines Beratungsgesprächs. Mit Problempräsentationen in Beratungsgesprächen ist ein bestimmtes Themenpotential verbunden, zu dem z.B. das Auftreten des Problems, die Entwicklungsgeschichte, das Betroffensein durch das Problem, das erworbene Wissen über das Problem bzw. den Problemtyp, bisherige Lösungsversuche und ihr Ergebnis sowie eigene aktuelle Lösungsvorstellungen gehören (Nothdurft 1984). Fast alle diese thematischen Komponenten sind in der Problemdarstellung MAs zumindest andeutungsweise dargestellt: (a) Ankündigung mit einer ersten Kategorisierung und Bewertung des Problems: ATMET AUS * ja also * mein problem is ähm *ja auch ganz ganz umfangreich] * und * besteht schon sehr sehr lang] (Z. 1-9). (b) Auftreten des Problems und eigene Betroffenheit: ich hab seit * ungefähr neunzehn zwanzig jahren leide ich unter atemnotattacken] ähmdie halt immer wieder auftreten wenn ich ähm in schlimmen Situationen bin und in ** ja in Situationen wo ich einfach glaub da komme ich allein nicht rau"s{ (Z. 9-14). (c) Rahmenbedingungen: ich bin * geschieden... leb alleine seit fünfjahren ** und habe drei kinder (Z. 14-17). 3 Die Zahlenangaben beziehen sich auf das Gesamttranskript, das hier nur in Auszügen zitiert wird. 502 Werner Kallmeyer (d) Verknüpfung von Situation und auftretenden Beschwerden: und hab halt in * in diesen- * ahm Jahren mit den hindern halt immer wieder ganz ganz schlimme erlebnisse gehabt auch in meiner ehe die mich halt immer wieder haben atemlos werden lassen (Z. 17-20). (e) Verlauf; die Steigerung der Beschwerden bis zum vorläufigen Höhepunkt: und ** es war halt letztes Jahr so schlimm dass ich äh: *ja nicht mal mehr essen konnte weil ich ständig geglaubt hab ich ersticke sogar am essen (Z. 20-23). (f) Lösungsversuch: und ** dann bin ich in eine psychosomatische klinik gegangen] (Z. 23-24). (g) Lösungsbedingungen; Versorgung der Kinder, zeitliche Begrenzung der Therapie: hatte leider nur vier wochen zeit, Z. 25-28. (h) Ergebnis der Therapie: und * es ist in dieser therapie eigentlich noch rausgekommen äh usw.; an dieser Stelle schließt das oben bereits betrachtete Transkriptstück an (Z. 28-31). Nach dem allgemeinen Beratungsschema steht auch noch eine Anliegensformulierung aus. Im Rahmen der Lämmle-Beratungsgespräche ist allerdings nicht sicher, dass eine explizite Anliegensformulierung zu den Normalformerwartungen gehört. Es bleibt jedoch als relevanter Punkt, dass MA noch nicht zum voraufgehenden Lösungsversuch Stellung genommen hat. Es gibt einen Hinweis auf die Bewertung der Therapie als Problemlösungsversuch (vgl. das nur in es ist in dieser zeit eigentlich nur herausgekommen)', allerdings hebt MA die begrenzten Möglichkeiten der Therapie aufgrund der knappen Zeit hervor: hatte leider nur vier wochen zeit (Z. 25). Unklar ist an dieser Stelle aber aufjeden Fall, ob und in welchem Sinne MA das Ergebnis des Therapieversuchs als eigene Lösungsorientierung übernimmt bzw. welche Rolle es für sie spielt. Dass der Punkt der Bewertung des Therapieergebnisses tatsächlich noch offen und für das weitere Beratungsgespräch relevant ist, zeigt sich unmittelbar in der Fortsetzung: 39 MA: jai |ich konnte damit 40 BL: | (ich a"uch nicht |LACHT | 41 K LACHEND 42 MA: überhaupt nichts| anfan|gen- |ich hab |das hmhm- 43 44 BL: MA: eigentlich auch ganz weit von mir äh ja einfach Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 503 45 MA: we"ggestoßen und ich bin jetzt aber >äh< ja am 46 MA: überlegen weil ich schon glaub * dass es irgendwo * 47 MA: in meiner kindheit scho"n erlebnisse gab die=äh * ja 48 MA: denk ich mal diese atemlosigkeit jetzt auch irgendwo 49 MA: immer wieder au"slösen- * also das denk ich scho"ni 50 BL: ich bin ja n ganz pragmatischer menschi fangen wir 51 BL: doch mal am anfang an; m/ a"temnot hast du: * 52 MA: jai ** MA gibt zu erkennen, dass sie sich doch ein Stück weit mit dem Erklärungsmuster aus der Therapie identifiziert. Insofern ist MAs Problempräsentation noch unvollständig bzw. nur fast vollständig. Und in diesem Sinne ist BLs Reaktion früh platziert. Und dass in Bezug auf diesen inhaltlichen Punkt ein Dissens besteht, wird erneut daran deutlich, dass BL auf die Identifikation mit dem importierten Erklärungsschema mit einem manifesten Fokuswechsel reagiert (ich bin ja ein ganz pragmatischer mensch). Die thematische Nicht-Korrespondenz verdeutlicht eine Perspektivendivergenz. Wenn man diese Befunde mit der lokalen Analyse der Sprecherwechsel verbindet, werden die Konturen einer Interventionsstrategie von BL erkennbar. Der markante, überraschende Modalitätswechsel (Lachen) durchbricht in dramatischer Weise den von MA hergestellten Darstellungs- und Erklärungszusammenhang. Zu dieser Interventionstrategie gehört auch das frühe Eingreifen, d.h., bevor MA ihren Darstellungszusammenhang vervollständigen kann. Damit kommt BL einer möglichen weiteren Fehlorientierung von MA zuvor. Dass es sich nicht um ein Versehen oder eine ungezielte Spontaneität handelt, sondern um einen strategisch motivierten Zug, wird dadurch erkennbar, dass BL dasselbe Verfahren des Eingreifens an frühest möglicher Stelle sofort noch einmal im Zusammenhang mit ihrem bestätigenden Einwurf verwendet. Die frühe und expressive Bestätigung von MAs beginnender Stellungnahme kommt der weiteren Entfaltung dieser Stellungnahme zuvor. BL behandelt auf diese Weise MAs Einräumungsteil als Kemaussage ihrer Stellungnahme. Das entspricht einem Verfahren der suggestiven Vorgabe einer Perspektive. 504 Werner Kallmeyer 4. Der Beispielfall und die lässt sich auch verwirklichen Redebeiträge sind grundsätzlich expandierbar, auch wenn sie bereits einen Punkt der Vervollständigung der Äußerungskonstruktion erreicht haben (vgl. u.a. Auer 1991). Die Expansion über den Konstruktionsschluss hinaus ist interaktiv ein wichtiges Mittel der Aushandlung von Rederechten und von Zustimmung bzw. Ablehnung. Im Folgenden betrachte ich einen Fall, in dem ein Sprecher ausgiebig Gebrauch von der Fortsetzbarkeit einer Äußerung nach einem klar markierten Abschlusspunkt macht. Mit den Äußerungsexpansionen reagiert er auf das Ausbleiben von erwartbaren Anschlusshandlungen auf Seiten der Adressaten. Die Stelle entstammt einer Aussprache zwischen vier Freunden. Sie haben ein Wohngemeinschaftsprojekt geplant, aus dem zwei nun doch aussteigen möchten (darunter der Sprecher TI). Am Beginn der Aussprache erläutern beide ihre Absicht auszuscheiden. Im folgenden Ausschnitt kommt TI auf seinen ersten Versuch zurück, von der Erklärung des Ausstiegs zur Besprechung der Zukunft überzugehen. TI produziert eine Ankündigung als Rahmung (ja was ich jetzt draii^naus wollte) und eine zweigliedrige Struktur von Einräumung und Opposition (das is kla”r... aber). Der Einräumungsteil wird schrittweise expandiert und dann mit einem Abkürzungsverfahren beendet (naja ihr hattet euch das so gedacht). Der ABER-Teil ist ebenfalls expandiert; an die Formulierung der eigenen Position (aber n wir sollten ** ->ich würde das auch gerne sehen ^sozusagen wenn wir*- ** ->wenn wir da jetzt*auch schnell rauskämen sozusagen ne]) wird um eine Begründung erweitert (weil die idee" ** weil ich d/ die idee an sichfür gu"t halte i): 360 TI: ja was ich jetzt drau=naus 361 TI: wolltei net ** ich mein das ** das is kla"r * damit 362 TI: * hab ich auch gerechnet also dass ihr jetzt 363 K UNDEUTLICHE 364 TI: vielleicht ent/ ** und auch du eventuell enttäuscht 365 K SPRECHWEISE 366 TI: bistj ** weil sa=ma weil wir auch mitkriechten ihr 367 TI: wart auch schon in einem ** stadium ^wie du das auch ★ * 368 TI: mit inge sachtest«das war an sich- -.naja okayt Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 505 369 TI: ihr hattet euch das so gedachtj*- * HOLT LUFT aber=n 370 K HERUM 371 TI: wir sollten ** ^ich würde das auch auch gerne 372 K DRUCKSEND 373 TI: 374 K 375 JO: sehen*- RAUSPERT SICH —sozusagen wenn wir<- SEHR SCHNELL ** —wenn wir 376 TI: da jetzt— auch schnell rauskämen sozusagen net weil 377 TI: die idee"t ** weil ich d/ die idee" an sich für gu"t 378 K PRONONCIERT 379 TI: haltet *3* 380 K Der Übergang zum ABER-Teil (Z. 369ff.) ist insofern auffällig, als hier nicht die übliche prosodische Hochstufung bei der Darstellung der Eigenposition stattfindet. Es fehlen die Anhebung der Lautstärke und starke Akzente, die Sprechweise ist streckenweise schnell bzw. sehr schnell. TI verschiebt den zentralen Punkt seiner Aussage durch eine Reformulierung und die Expansion der vorgeschalteten Formulierungsteile, und er schwächt ihn modal auch ab von wir sollten zu ich würde das auch auch gerne sehen + sozusagen). Die prosodische Hochstufung wird bis zur Begründung verschoben. Damit wird klar erkennbar, dass TI einen anscheinend problematischen Punkt (schneller Ausstieg aus dem Projekt) in der Relevanz herabstuft und einen positiven Punkt (gute Idee) hochstuft. Unberührt von diesen Besonderheiten in der Realisierung des ABER-Teils bleibt die Tatsache, dass die Projektion des zweiteiligen JA-ABER-Formativs eingelöst wird, einschließlich der Erwartung einer Hochstufung des ABER- Teils (wenn diese auch verspätet einsetzt). Der Abschluss wird zudem grammatisch projiziert aufgrund der Verbklammer und prosodisch durch die Intonationsentwicklung bis hin zum fallenden Grenzton und lokal eindeutig markiert. Die Pause von 3 Sek. lässt keinen Zweifel daran, dass TI das Rederecht abgeben will. An dieser Stelle beginnt eine Sequenz von Manifestationen der Nicht-Übernahme des Rederechts auf Seiten der Adressaten, auf die TI jeweils mit Expansionen seiner Äußerung reagiert, bis schließlich die definitive Übernahme einer Anschlussäußerung erfolgt: 506 Werner Kallmeyer 377 TI: die idee"T ** weil ich d/ die idee" an sich für gu"t 378 K PRONONCIERT 379 TI: haltei *3* |(...)| aber das es |ersch/ | es erscheint 380 K 381 JO: |j a: | |>mh< | 382 WE: mhmi 383 TI: auf jeden fall ei"nleuchtendi >soweit ich das 384 TI: beurteilen kanni< und die lässt 385 JO: kla"r die: die: : ** 386 TI: sich auch verwirklichen! 387 JO: —ja: aber ** die idee ist 388 JO: natürlich mit leuten ** verknüpft! * >ner- * oder an 389 TI: |mhm| 390 JO: I an I an< leu"te ** mit ner bestimmten intention ** 391 TI: mhm 392 JO: gebundeni ehm * ih"r habt=es so * ziemlich Die Reaktionen der beiden Adressaten zeigen eine massive Dispräferenz für die Übernahme des Rederechts. Zunächst startet keiner von beiden (3 Sek. Pause). Dann reagiert JO, aber mit gedehnt realisierten Elementen einer Äußerungseröffnung, zuerst minimal (Ja: ), dann expandierter (kla il r die: die: **), die aber jeweils sofort wieder aufgegeben werden; im ersten Fall folgt ein Rezeptionssignal mh, als TI weiterspricht, und im zweiten Fall eine deutliche Pause. Auch WE beschränkt sich auf ein Rezeptionssignal (mhm). JO manifestiert damit einerseits, dass er verstanden hat, dass Tis Äußerung als Anschlusshandlung der Adressaten eine Stellungnahme (Zustimmung/ Ablehnung) relevant macht; und andererseits behandelt er diese projizierte Aktivität als problematisch. Für das von TI angewendete Verfahren der Äußerungsexpansion ist charakteristisch, dass Teile oder inhaltliche Aspekte der voraufgehenden Äußerung so reformuliert werden, dass sich kein neuer thematischer Impuls ergibt und relativ schnell ein neuer übergangsrelevanter Punkt erreicht wird. TI liefert zunächst die Explizierung seines Abwägungsprozesses, der letztlich seinem positiven Urteil über die Projektidee nichts hinzufugt, sondern nur den Vorgang des Urteilens als eine pragmatische Voraussetzung des Urteils noch mal explizit macht. Im zweiten Schritt wird diese Abwägung durch eine Abschwächung des Urteils erweitert. Ein solches Verfahren kann als Absenken Wann ist ein Redebeitrag zu Ende? 507 der Akzeptanzschwelle und als Einladung verstanden werden, ggf. auch abweichende Meinungen vorzubringen. Eine solche Vorgehensweise ist ein gängiges Mittel für die Bewältigung von Übergabe-Problemen (man muss es den Adressaten leichter machen). In diesem Fall hat das Verfahren jedoch keinen Erfolg. Im dritten Schritt liefert TI dann eine Ergänzung der bisherigen Aussage. Erst darauf hin übernimmt JO endgültig den Tum für eine Stellungnahme. Wamm funktioniert die Übergabe jetzt? Natürlich ist es denkbar, dass die problematisierende Verzögerung lange genug gedauert hat und dass es für JO nach drei Versuchen Tis schwierig wird, die ausstehende Reaktion sozial akzeptabel zu verweigern. Sicher spielt aber auch ein inhaltlicher Aspekt eine Rolle. Im letzten Expansionsschub berührt TI einen Punkt, den er vorher im ABER-Teil seiner Äußemng übergangen hat. Die WEIL-Verbindung von schnell rauskommen und idee gut ist nicht transparent, weil es eine Argumentationslücke gibt. Retrospektiv kann man als fehlendes Glied konstmieren: „Die Idee ist gut, und sie ist auch ohne uns realisierbar. Insofern ist es unter den gegebenen Umständen von Vorteil, wenn wir die weitere Entwicklung nicht blockieren, sondern schnell ausscheiden“. Mit und die lässt sich auch verwirklichen i liefert TI die Aussage nach, die ihm argumentativ erlaubt, die „Kosten“ des Ausstiegs zu verringern, deren Brisanz sich aber gerade auch darin zeigt, dass er sie zunächst ausspart. Jetzt sind die Karten auf dem Tisch, und die Reaktion der durch den Ausstieg geschädigten Adressaten folgt dem auf dem Fuße. 5. Fazit Auch wenn die beiden Beispielanalysen in vieler Hinsicht relativ untechnisch angelegt sind, können sie vom Prinzip her zeigen, wie Interaktionsbeteiligte mit den unterschiedlichen Aspekten der Vollständigkeit von Äußerungen und Äußerungskomplexen umgehen. Die Behandlung von erwartbaren und noch nicht realisierten Komponenten ist generell ein wichtiger Aspekt der Interaktionskonstitution. Sie erscheint im ersten Beispiel als Bestandteil einer Strategie des Zuvorkommens und im zweiten als Bestandteil einer Strategie des Einfordems. Diese Befunde sind im Rahmen gesprächsrhetorischer Untersuchungen einzuordnen. Sie lassen sich z.B. mit anderen Durchsetzungsverfahren in Verbindung bringen und können dabei zur Entwicklung einer Typologie solcher Verfahren beitragen. 508 Werner Kallmeyer Die Analysen können auch belegen, wie grammatische Strukturen, Basisstrukturen der Interaktionskonstitution und gesprächsrhetorische Verfahren aufeinander zu beziehen sind. Grammatische Strukturen gehören zum Repertoire der Konstruktionsmittel, mit denen die Anforderungen der Einheitenkonstitution in der sprachlichen Interaktion bewältigt werden. Für die interaktive Einheitenkonstitution gelten bestimmte Basismechanismen wie z.B. der oben dargestellte Zusammenhang von Projektion und Einlösung, weiter Prinzipien wie z.B. das Recht auf Vervollständigung von relevant gesetzten (und damit erwartbar gemachten) Aktivitäten und auch Präferenzen wie z.B. die Präferenz für „Vollendung vor Neuanfang“. Die Betrachtung des Zusammenspiels von Grammatik, Mechanismen der Interaktionskonstitution und gesprächsrhetorischen Verfahren eröffnet auch einen Zugriff auf Prozesse der Grammatikalisierung komplexer pragmatischer Muster bzw. der Pragmatikalisierung grammatischer Elemente, z.B. bei der Abtrennung von konstruktionseröffnenden Ausdrücken von der Kemkonstruktion und ihrer Funktionalisierung als projektionstragende Formen. 6. Erläuterung der Transkriptionszeichen: |xxx| - Überlappung (xxx) vermuteter Wortlaut xx: - Dehnung LACHEND - Kommentar mit Extension (...) unverständlich xx“ auffällige Akzentuierung *, ** kurze, längere Pause xxx=x - Wortverschleifung <xxx>, >xxx< lauter, leiser -, T,sl gleich bleibende Stimmhöhe, steigender/ fallender Grenzton 7. Literatur Auer, Peter (1991): Vom Ende deutscher Sätze. In: Zeitschrift für Germanistische Linguistik 19, S. 139-157. Auer, Peter (1996a): The Pre-Front Field in Spoken German and its Relevance as a Grammaticalization Position. 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Nicht umsonst sind wir bei diesem Zeitpunkt ungefähr am Ende des 30jährigen Krieges; ein so dramatischer Einschnitt in alle Bereiche des Lebens betrifft ohne jeden Zweifel auch die Sprache. Aber dennoch: der sprachliche Wechsel bereitet sich schon vor. 1 Schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts ist die Zeit Luthers und Kaiser Maximilians, von denen die große Umbruchzeit des Frühneuhochdeutschen um 1500 geprägt worden war, eigentlich schon Vergangenheit. Deutschland verliert im Verlaufe des 16. Jahrhunderts an europäischer Bedeutung, mit Beginn des 17. Jahrhunderts kommt eine Reihe von Entwicklungen in Bewegung, die alle darauf gerichtet zu sein scheinen, den eigenen Wert des Deutschen als einer europäischen Schrift- und Kultursprache zu fördern. Eine eigentliche europäische Kultursprache zu werden heißt für diese Zeit für das Deutsche, den arrivierten Sprachgemeinschaften Frankreichs, Italiens (und vielleicht Englands) nachzueifem. Dazu gehört auch, dass die Regeln gesucht und formuliert werden sollten, die dem Deutschen seine europäische Gestalt gäben zumindest was das kulturelle repräsentative Feld der Literatur betrifft. Den institutionellen Ort für solche Tätigkeiten, Bestrebungen und Überlegungen bieten die so genannten Sprachgesellschaften die deutsche Antwort auf eine Reihe sprachpflegerischer und sprachplanerischer Aktivitäten in der europäischen Nachbarschaft. Die Regeln des angemessenen Deutschen der deutschen Büchersprache sie waren zu finden und niederzuschreiben. Und wenn auch die Mehrzahl der Mitglieder dieser Gesellschaften andere Interessen hatte, es finden sich in Ihnen denn auch doch die Namen, die für die sprachwissenschaftliche Behandlung des Deutschen in diesem Jahrhundert die entscheidenden werden sollten, von Gueintz und Harsdörffer über Schottel und Stieler zu Zesen, um nur die wesentlichsten und die in alphabetischer Reihenfolge zu nennen. 1 Und er wird noch dauern: bis 1750 muss man mindestens noch mit Übergängen rechnen. 514 Ludwig M. Eichinger 1.1 Die Aufgabe des Grammatiker Welche Fähigkeiten braucht man, um die Regularitäten zu finden und Regeln niederzuschreiben? Das können offenbar verschiedene sein, wenn man betrachtet, wie sich die beiden großen Grammatiker in der bedeutendsten der Sprachgesellschaften präsentieren. Es geht um die fruchtbringende Gesellschaft, den Palmenorden, in dem Christoph Gueintz, der „Ordnende“, und Justus Georg Schottel, der „Suchende“, ihren durch diese Gesellschaftsnamen angedeuteten Aufgaben nachgingen. Der symbolische Platz der Mitglieder in der Gesellschaft schlägt sich in der Wahl der Gesellschaftsnamen ebenso nieder wie in der genauen Ausführung der emblematischen Präsentation, die jedem Mitglied zugeordnet ist. In diesen Darstellungen ist ein Wahlspruch einer bildlichen Darstellung zugeordnet, die eine Pflanze zeigt, deren Nutzen in einer emblematisch lesbaren Weise mit der Art zu verbinden ist, in der sich das damit bedachte Mitglied in der Fruchtbringenden Gesellschaft nützlich zu machen verspricht. Eine jeweils achtzeilige Dichtung erläutert diesen Bezug. „Jedes an seinen Ort“ heißt in diesem Kontext das Motto, das den „offiziellen“ Gesellschaftsgrammatiker, Gueintz, kennzeichnen soll: (1) Jedes an seinen Ort Der Ordnende Mechoacana weis an ihrer Wurtzel ist! Und der Rabarbar gleich! die innre glieder bringet In Ordnung wiederumb! drumb Ordnend mir erkiest Der Nähme billich ward! weil mein sinn darnach ringet Zu ordnen unsre sprach'! in deren man vergistl Oft aus Unachtsamkeit! was sonsten nicht wol klinget! Noch deren eigen ist: Die Deutsche Sprachlehr' hab' Ich nun gezieget vor: wie ihr gebrauch mir gab. C.G. 2 Als der „Ordnende“ stellt sich hier Christoph Gueintz vor, über das emblematische Bild, auf dessen Darstellung hier verzichtet wurde, wird diese seine Tätigkeit mit einer Pflanze verbunden, deren weiße Wurzel von verborgener Klarheit ebenso kündet, wie ihre heilsame Wirkung, die darin bestünde, die „inneren Glieder“ des Menschen wiederum in Ordnung zu bringen; es han- 2 Nr. 361 in v. Anhalt-Köthen (1644 [1971], Zzzz iij). Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 515 delt sich um eine mittelamerikanische Pflanze, der eine purgierende Wirkung zugeschrieben wird. Wenn man in generellerer Weise zu umschreiben versucht, was sich der „Ordnende“ im Hinblick auf das Deutsche vorgenommen hat, so ist es das Streben um Wohlklang und das Bemühen um Reinigkeit, das sich in der Vermeidung von Fremdwörtern bei weitem nicht erschöpft. Dabei ist ein in der Kürze solch einer subscriptio notwendigerweise nicht genauer explizierter Usus die Leitlinie dafür, was dargestellt werden soll. Die Beschreibung mag als treffend gelten, gehört doch Gueintz unstrittig zu der Reihe von Grammatikern, für die der Sprachgebrauch in einer als kulturell dominant angesehenen Region das Muster für das zu bildende Deutsche darstellt. Ganz anders akzentuiert die emblematische Darstellung Schottels Vorgehen und Aufgabe. So ist schon sein Motto weitaus weniger handwerklich bezogen: „Reine Dünste“ spricht von der Klärung von Sachverhalten, die über die Niederungen des Gebrauchs hinausgeht. Es ist die abstraktere Ausleuchtung dessen, was dem Deutschen eigentümlich ist. (2) Reine Dünste Der Suchende Die Gemsenwurzel wird auch Schwindelkraut genant! Von Jägern die dem thier' in bergen hoch nachsteigen: Die reinen dünst' ich such'! und mache sie bekannt! Die unsrer Deutschen Sprach' in ihrer art seind eigen! Recht aufdem gründe geh'! und drin bleib' unverwand Heiß Suchend! auch willfort! was ich drin finde zeigen! Zu bringen frucht! die wol dem Vaterlande nutzt! Und mit der Deutschen Zung' all' andre fremde trutzt. J.G.S. 3 Der dabei notwendigen Abstraktion entspricht die Zuordnung einer Hochgebirgspflanze, die auf die klare Luft der Erkenntnis weist. 4 Nach den auf dem Grunde der deutschen Sprache liegenden Strukturen sucht der „Suchende“, in dieser strukturellen Kenntnis liegt eine Frucht, die dem nationalkulturellen Anspruch Rechnung zu tragen verspricht, das Deutsche auf gleicher Höhe 3 Nr. 397 in v. Anhalt-Köthen (1644 [1971], Jjjjj iij). 4 Zur botanischen Klärung s. Trommsdorff, Johann Bartholomä ( 3 1822): Handbuch der pharmaceutischen Waarenkunde. Gotha, S. 100, wo die Gemsenwurzel (Doronici radix), dort auch Schwindelgemswurzei genannt, beschrieben und eingeordnet wird. 516 Ludwig M. Eichinger den anderen (europäischen) Sprachen gegenüberzustellen. Und diesem Ziel widmet und wird er seine Tätigkeit widmen, er wird mit seiner Idee von einer gebildeten Ausgleichssprache letztlich den Boden legen für die Möglichkeit, sich im späten 18. Jahrhundert über die verschiedenen Regionen hin auf eine einheitliche grammatische Form des Deutschen zu verständigen. Er versucht, das, was er vorfindet, vor dem Hintergrund der dem Deutschen eigentümlichen Merkmale zu beschreiben und unternimmt zu diesem Ziele eine nationale Spracharbeit von bemerkenswertem Ausmaße. 5 2. Die Aufgabe am Beispiel 2.1 Ein programmatischer Text Wie auch immer die Aufgaben unserer beiden Protagonisten im Einzelnen dargestellt sein mögen, sich um die Verbesserung des Deutschen zu bemühen war des Schweißes der Edlen wert. Darauf weist schon die eher ungelenke Form der gerade zitierten Emblem-Gedichte wobei man hier dem Formzwang Einiges nachsehen mag. Aber selbst wenn man ein sprachpflegerisch programmatisches Stück Text nimmt wie den 1646 erschienenen kurzen Bericht „Von der Fruchtbringenden Gesellschaft Zwecke und Vorhaben“, sieht man ohne jeden Zweifel, dass hier noch ein weiter Weg zu einer einigermaßen gelenkigen Prosa vor den Autoren liegt. Auf allen Ebenen scheinen wir uns im mehr oder minder üppigen Stadium einer einigermaßen leer wuchernden rhetorischen Hyperbolik zu befinden. Der Sinn des Textes, er wird uns eher durch kunstvolle Verzögerungen vorenthalten denn durch den Aufbau und die Struktur des Textes nahe gebracht. Er lautet folgendermaßen (3) Kurtzer Bericht Von der Fruchtbringenden Geselschaft Zwecke und Vorhaben Nach dem ihrer viel von der Fruchtbringenden Geselschaft! was dero eigentlicher Zweck! auch wie und worzu sie aufgerichtet! und angestellet! bericht zu haben begehren; Als ist gut befunden worden! nachfolgendes kürtzlich! zu iedes begerenden unterricht! zu verfassen. Ist also zuwissen/ das im Jahre 1617. den 24. Augustmonats bey einer vornemen! wiewol traurigen Fürstlicher und Adelieher Personen zusammenkunfft! zu etwas erget- 5 Vgl. Hundt (2000), zur Rolle insbesondere der „Fruchtbringenden Gesellschaft“, S. 108ff. Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 517 zung vorgangenen leides! und anreitzung der löblichen Jugend! zu allerley hohen Tugenden! unterschiedenen Academien! die in frembden Landen! beydes zu erhaltung guten Vertrauens! erbauung wolanständiger Sitten! als nützlicher ausübung jedes Volckes Landes ^Sprachen! aufgerichtet: erwenung geschehen: Darbey aber ferner erwogen worden! weil unsere weitgeehrete hochdeutsche Muttersprache so wol an alter! schönen und zierlichen Reden! als auch am Überflüsse eigentlicher und wölbedeutlicher Wort! so jede Sachen besser! als die frembden recht zuverstehen geben können! einen nicht geringen Vorzug hat: Das ebener gestalt darauf möchte gedacht werden! wie eine sothane Gesellschaft zu erwecken und anzustellen! darinnen man in gut rein deutsch reden! schreiben! auch anders! so beydergleichen Zusammensetzung und erhebung der Muttersprache! (darzu ieder von Natur verpflichtet) gebräuchlich und dienlich! vornemen möchte, (v. Anhalt-Köthen 1644 [1971], ii) 6 Zu dem Eindruck, es hier mit einem eher verwirrenden Stück Text zu tun zu haben, tragen Merkmale der verschiedensten sprachlichen Ebenen bei. 2.2 Der strukturelle Kern Am deutlichsten zeigt sich das wohl an den Eigenheiten der Verknüpfung der sentenzialen Einheiten und Kerne zu einem textuellen Ganzen, das weniger einem Textabschnitt als einem hyperbolischen Gesamtsatz ähnelt. Wenn man den Abschnitt um die grammatisch verzichtbaren Teile reduziert, wird der Aufbau klar: (4) Nach dem ihrer viel von der Fruchtbringenden Geselschaft Bericht zu haben begehren, als ist gut befunden worden nachfolgendes zu verfassen. Ist zu wissen; das unterschiedenen Academien: erwenung geschehen: darbey erwogen, dass darauf möchte gedacht werden wie eine Gesellschaft anzustellen, darinnen man deutsch reden, schreiben auch anders vornemen möchte. 6 Nach Ausweis des Kommentars in v. Anhalt-Köthen (1644 [1971], IV) gegenüber dem Erstdruck von 1622 unverändert; zur Weiterentwicklung mit geringfügigen Änderungen s. Schöne (1988, S. 38); signifikante Veränderungen im Hinblick auf die im Folgenden besprochenen Erscheinungen sind der Wegfall des Dativ -e bei Zweck, die Zusammenschreibung von nachdem und die <ß>-Schreibung der Konjunktion dass. 518 Ludwig M. Eichinger 3. Verknüpfung sentenzialer Einheiten 3.1 Diffuse Abhängigkeiten Wir haben ein einleitendes Bedingungssatzgefuge, das den Anlass für das Schreiben dieses Textes erläutert. Dieses syntaktisch unkomplizierte Bedingungssatzgefüge das mit einem Semikolon untergliedert und mit einem Punkt abgeschlossen wird zeigt allerdings auch schon typische Eigenheiten. (5) Nach dem [...] begehren, als ist gut befunden worden [...] So gelten Konstruktionen als typisch, in denen der Nebensatz in dem die Voraussetzungen dessen geschildert werden, um das es eigentlich geht an erster Position steht, und so das Verständnis hinauszögert. 7 Der folgende Hauptsatz hat eigentlich rein kataphorischen Charakter: er sagt nur, dass jetzt etwas kommt. (6) Ist zu wissen In der anschließenden untergeordneten - Struktur werden ununterbrochen Abhängigkeitssignale gegeben, bis dann das Ganze irgendwo und unvermutet endet. Daher ist die restliche Struktur auch weitaus unübersichtlicher. Einigermaßen klar ist, dass wir zu Beginn den Matrixsatz Ist zu wissen haben, ihm folgt eine Konstruktion, die durch den Konnektor das eingeleitet wird und in dem (infiniten) Prädikat erwenung geschehen ausläuft. Dabei finden sich vor und nach diesem Prädikat Kola. Nun ist das vielleicht eine irreführende Beschreibung. Denn unmittelbar vor diesem Prädikat endet ebenfalls in einem infiniten Prädikat ein längerer Relativsatz (die in frembden landen [...] aufgerichtet). Bei dieser Konstellation spricht Einiges dafür, die Kola als ein strikteres Grenzsignal innerhalb der Konstruktion zu lesen: „abgeschlossenere“ syntaktische Einheiten werden so markiert. Die Intensität der zu setzenden Zeichen Punkt, Kolon, Semikolon deutet eine Hierarchie an, von der die Vagheit der im engeren Sinn syntaktischen Instruktionen in gewissem Umfang kompensiert wird. In dem derzeit behan- 7 Das aufgeklärte 18. Jahrhundert wird auch daran Kritik üben, vgl. aus Gottscheds „Redekunst“: „Wollen die Materien gar zu sehr aneinanderhängen, so trenne man sie mit Gewalt. Dieses geschieht, wenn man im Anfänge die Bindewörter weil, wenn, dafern, nachdem, demnach, obwohl etc. und in der Mitte die Formeln sintemal, in Maßen, angesehen, vornehmlich, hervorab, ungeachtet n. dgl. sorgfältig vermeidet“ (Gottsched 1736, S. 332). Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 519 delten untergeordneten Gefüge finden sich ansonsten als untergliedernde Zeichen ausschließlich Virgeln; sie haben offenbar zum Teil zwar einen entsprechend hierarchisierenden Charakter so wenn sie Hintergrundinformation einschließen, wie gleich im ersten Satz zum Teil aber identifizieren sie offenbar nur Einheiten des Sprechens. Von einer gewissen Ambivalenz der syntaktischen Konstruktion spricht auch die orthografische Identität zwischen neutralem definitem Artikel das und dem Konnektor das^s). Da auch das vorausweisende formale Subjekt nicht gesetzt wird, lässt sich die folgende Konstruktion als eine Art airö koivod- Fügung lesen: Es ist das zu wissen, dass. Nebenher sei angemerkt, dass nicht zuletzt in Anbetracht der vielen nominalen Konstruktionen in diesem Text, so z.B. dem unmittelbar daneben stehenden unterricht begeren die Konstruktionen mit dem Infinitiv eher nominal als verbal zu lesen sein werden. Wenn man aber den gesamten Text von etwa zwei Druckseiten Länge durchsieht und die extreme Verbendstellung und die infinite Form des Prädikats einbezieht, ist diese Konstruktion sicherlich als abhängig zu lesen. Komplizierter ist das bei der nächsten Phrase. Hier lässt sich weder über den pronominaladverbialen Anschluss noch über die Serialisierung etwas Vernünftiges über den Haupt- oder Nebensatzcharakter sagen: Abhängigkeitshinweis ist wiederum die Infmitheit, während die Untergliederung durch die Kola eher eine gewisse Eigenständigkeit den Beginn einer eigenen behauptbaren Proposition signalisiert. Klar ist dann aber immerhin, dass die folgende Struktur mit dem weil-SaV/ . eine Volte schlägt, die den Fortgang des Gedankens hemmt. Auch hier signalisiert jedoch der oben bereits geschilderte Gebrauch des Kolons die Stelle, an der die eingeschobene sentenziale Einheit endet. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch die Großschreibung des Konnektors. Intern geht die damit begonnene Konstruktion mit dem durch ein Korrelat und den Konnektor wie eingeleiteten Objektsatz dann zügig auf ihr Ziel zu, auch wenn das Ende durch das zweimalige Auslaufen in eingebettete Relativsätze undurchsichtig und verdunkelt wird. 3.2 Wortstellungskomplikationen Die oben in (4) „rekonstruierte“ Grobfassung reduziert die Satzstrukturen auch auf die Elemente, die den jeweiligen propositionalen Rahmen bilden. So würden wir in modernem Deutsch, selbst wenn wir eine Art Prädikat Bericht begehren annehmen, auf jeden Fall etwas wie die Ausklammerung des mit was eingeleiteten Teils erwarten, d.h. in irgendeiner Form die Realisie- 520 Ludwig M. Eichinger rung der Satzklammer und eine Anordnung gemäß den Gesetzmäßigkeiten der Mittelfeldbesetzung (also eher: einen Bericht von der Fruchtbringenden Gesellschaft erwarten). Daraus kann man schließen, dass der vorliegende Text sehr viel direkter nach thematischen Abfolgen und nach Vorder- und Hintergrundstrukturen geordnet ist. Unter diesem Strukturierungsprinzip ist es logisch, dass das Thema „Fruchtbringende Gesellschaftt“ so weit wie möglich nach vorne rücken soll; dieses Thema wird dann durch die eingeschobene Hintergrundkonstruktion des vmv-Satzes erläutert, bevor es in die syntaktische Hauptlinie zurückgeht. In ähnlicher Weise lässt sich die Reihenfolge in der Infmitivkonstruktion in dem folgenden Hauptsatz erläutern. Auch hier wären die strukturell und rhematisch natürlich aneinander tretenden Elemente nach moderner Grammatik Nachfolgendes zu verfassen, bzw. genauer dann noch zur Unterrichtung von allen, die das möchten, kurz Nachfolgendes zu verfassen. Auch hier kann man sehen, dass die adverbialen (finalen und modalen) Bestimmungen nach dem Aufruf des syntaktischen Ziels („Objekts“) quasi nachgetragen werden im syntaktischen Hintergrund verlaufen. Ähnliches ließe sich für die finalen zw-Phrasen in der folgenden und den weil-Satz in der darauf folgenden syntaktischen Einheit feststellen, ja auch für den Relativsatz zu Academien. Typisch ist also das Hin- und Herschalten zwischen dem Fokus der jeweiligen Aussage und im Hintergrund laufenden zusätzlichen Spezifizierungen. Die Reihenfolge ist von einem Wechsel dieser Perspektiven bestimmt, und nicht von formalen Abfolgeregeln, die sich an einer Mischung von formalen Vorgaben und Thema-Rhema-Struktur orientierten, wie wir das späterhin kennen. 3.3 Beiläufige Strukturen Komplexe Schriftlichkeit, so hat Wolfgang Raible (1992, S. 193ff.; vgl. Eichinger 1995, S. 317) einmal festgestellt, setze Traditionen veralteter Mündlichkeit fort. In diesem Lichte kann man manche Eigenheit dieses Textes erklären. Schon die heutzutage auf eine beschränkte Menge von Textsorten mit deutlich deiktischer Vereindeutigung reduzierte Nicht-Setzung des pronominalen Subjekts spricht von solchen Eigenheiten. Auch in der zweiten Argumentationseinheit (ab darbey erwogen) kann man den Einschub des weil-Satzes vor dem Subjektsatz der passivischen Konstruktion als eine im Hintergrund laufende parenthetische Konstruktion verstehen, wie für mündliche Argumentationsführung typisch ist. Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 521 In diesen Kontext passt auch, dass syntaktische Abhängigkeitssignale in unterschiedlicher Dichte und Kombination gewählt werden. Unklar ist schon, wie gesagt, auf welche Weise genau die mit darbey eingeleitete Konstruktion anzuschließen ist. Führt diese infinite Struktur, die auf diese Weise jedenfalls ihre Abhängigkeit deutlich macht, den ufcm-Satz weiter? Oder setzt hier eine neue Einheit an, und die Infmitheit würde nur bedeuten, dass wir uns noch im selben argumentativen Kontext befanden? Wahrscheinlich ist, wenn man sich das so als Alternativen vorstellt, eine Genauigkeit postuliert, die gar nicht intendiert ist. Dieser Klärung bedarf es in solch einem Text vermutlich gar nicht. So sind denn die Abhängigkeitsmarkierungen unterschiedlich deutlich und eindeutig. Die einzige im modernen Sinne gänzlich „normale“ Nebensatzkonstruktion findet sich bei dem wie angedeutet eingesetzten we/ 7-Satz; er ist durch die „eigentlich“ erwartbare Endstellung des Finitums gekennzeichnet. Aber gerade er ist syntaktisch gesprochen etwas überraschend, so dass er weiterer Klärung bedarf. Durch die Wahl der Satzzeichen wird (rückwirkend) klargemacht, dass es sich bei diesem Nebensatz praktisch um so etwas wie eine beiseit gesprochene Erläuterung dazu handelt, warum Erwägungen deren Ziel erst anschließend genannt werden wird sinnvoll und erwartbar gewesen seien. Dass es um ein Räsonnement über die Sprachen geht, ist aus den im vorherigen Satzteil ausgeführten Gedanken inferierbar. Man kann das für eine Realisierung von Efintergrundinformationen halten, die in dieser Form und in dieser subjektiven Art der Begründung eigentlich Strategien mündlicher Interaktion verdankt sind. Auch diese Beschreibung deutet an, dass sich dieser Text sehr viel mehr auf Grundannahmen über Verlässlichkeit in der Kommunikation stützt als auf die Erwartbarkeit einer gänzlich geordneten und in dieser Weise auf Übersichtlichkeit zielenden Struktur. 8 Wir werden auf die genaueren Strukturen gleich zurückkommen. Auch bei dem folgenden Objektsatz tritt immerhin ein Verb in finiter Form recht spät im Satz auf allerdings wird die Forderung nach Endstellung nicht erfüllt. Von dem Korrelat ist ein präpositionales Komplement abhängig, das sich als eine Infinitkonstruktion mit einem modalen Infinitiv entpuppt. Der mit dem Relativadverb darinnen eingeleitete Relativsatz endet letztlich in einer normalen finiten Konstruktion. Die hier intendierte Verlässlichkeit (zum Konzept vgl. Brandom 2001, S. 130ff.) kann sich noch nicht auf die weitgehende Analogisierbarkeit der sprachlichen Mittel berufen hierzu wird Schottel einen entscheidenden Schritt machen sie lebt vom Nachvollzug einer üblichen Kodierungstradition anderer Art, in der Mittel einer rituellen Schriftlichkeit mit den Abläufen einer unkoordinierten Mündlichkeit koordiniert sind. 522 Ludwig M. Eichinger Unangesehen aller weiteren Einzelheiten kann man feststellen, dass die Gesamtkonstruktion ihren Kem gleich ganz weit links hat, und sich in einer Reihenfolge, die nicht (nur) von der syntaktischen Hierarchie gesteuert ist, nach rechts ausbreitet und strukturell vertieft. Schon seit längerem spricht man in diesem Kontext gemäß einem terminologischen Vorschlag von Wladimir Admoni von abperlenden Konstruktionen (vgl. Eichinger 1995, S. 302). Und wenn man den Aufbau dieser Textpartie noch genauer betrachtet, erscheint eine solche Vorstellung noch fast zu viel Idee von Zusammenhang herzustellen. 4. Die Auffüllung des Schemas 4.1 Strukturelles Dieser Eindruck wird noch einmal dramatisch verstärkt, wenn man die bisher im Sinne der syntaktischen Reduktion ausgelassenen Teile wieder mit berücksichtigt. Unter diesen Umständen wird die Rechtserstreckung der einzelnen strukturellen Einheiten noch klarer betont, indem durch verschiedene syntaktische und stilistische Techniken das Ende der jeweiligen Konstruktionsteile hinausgezögert wird. Das beginnt schon bei der Wahl der obersten Konstruktionsebene. Im Unterschied zu der heute notwendigen Setzung eines formalen es, das auf den kommenden Subjektsatz vorausweist und so in gewissem Ausmaß für ein strukturelles Gleichgewicht zwischen den Teilen der Aussage sorgt, wird man hier unmittelbar auf die rechts in der Konstruktion stehende satzförmige Ergänzung verwiesen. Intern ist dieser Subjektsatz dann extrem gedehnt, da nacheinander temporale, modale und finale Angaben in Form von komplexen Präpositionalphrasen auftauchen. Die Form dieser Phrasen ist zudem so gestaltet, dass ihre interne Struktur und ihr Ende nicht in jedem Fall klar sind. Besonders auffällig ist das etwa an der Übergangsstelle zu der Dativergänzung dieses Satzes, die dann als Signal dient, dass wir uns dem Ende der sentenzialen Konstruktion nähern. (7) zu allerley hohen Tugenden! unterschiedenen Academien Die modale Phrase zeigt zudem zwei Elemente, die in typischer Weise zu komplexen Linkserweiterungen führen. (8) bey einer vornemen/ wiewol traurigen Fürstlicher und Adelicher Personen zusammenkun/ ft Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 523 Der systematische Fall daran ist, dass das genitivische Attribut links von seinem Bezugsnomen steht, und dass dadurch auch die Determiniertheitsanforderungen in den Nominalphrasen anders erfüllt werden. Das hat zur Folge, dass hier die rezeptive Erwartungsrichtung, die durch die flexivischen Markierungen auf das Substantiv ausgerichtet sind, durch den vorangestellten genitivus subjectivus nochmals unterbrochen wird. Das ist ein Beleg dafür, dass trotz entsprechender Systematisierungsansätze zu dieser Zeit noch nicht davon gesprochen werden kann, die nominale Klammer funktioniere als den Kongruenzbereich der Nominalphrase in erwartbarer Weise systematisierende Technik. Die adversative Reihung der beiden Adjektive entspricht eher einer typischen stilistischen Anforderung. 4.2 Stilistisches Der eher stilistische Dehnungseffekt tritt dadurch auf, dass im ganzen Text durchweg Doppelformen gewählt werden: das betrifft in diesem Fall die in der realen Reihenfolge unmittelbar hintereinander kommenden Adjektivattribute zum Kernnomen und zum Kern des Genitivattributs. (9) vornemen! wiewol traurigen [...] Zusammenkunft (10) Fürstlicher und Adelicher Personen Die finalen Präpositionalphrasen (mit der Präposition zu) sind ebenfalls selbst schon in entsprechender Weise doppelt strukturiert. (11) zu etwas ergetzung vorgangenen leides! und anreitzung der löblichen Jugend! Das gilt auch für die entsprechenden Phrasen in der Relativkonstruktion, die an das Bezugswort Academien anschließt; sie werden explizit als verdoppelt eingeführt (beydes), wobei das erste der angekündigten Elemente asyndetisch verbunden noch einmal verdoppelt ist. (12) beydes zu erhaltung guten Vertrauens! erbauung wolanständiger Sitten! als nützlicher ausübungjedes Volckes Landes=Sprachen Exakt denselben linksverzweigten gestuften Verdoppelungstyp finden wir im weil-Satz der folgenden sentenzialen Einheit wieder. Dabei wird hier wie dann wiederum im folgenden Satz das letzte dieser paarig gedachten Elemente durch einen mit dem Konnektor so eingeleiteten Relativsatz abge- 524 Ludwig M. Eichinger schlossen, was den nach rechts abperlenden Charakter dieser Konstruktionen, die samt und sonders den rechtsorientierten Ausbau von deverbalen Nominalisierungen darstellen, noch erhöht und damit das rechte Ende dieser Konstruktionen diffus macht. (13) so wol an alter! schönen und zierlichen Reden! als auch am Überflüsse eigentlicher und wolbedeutlicher Wort! so [...]. Man kann auch sehen, dass sich, obwohl es zuweilen an der Oberfläche so aussieht, die Struktur der Satzfelder bzw. die Verlässlichkeit der linken und rechten Elemente der Satzklammer noch nicht so recht eingestellt hat. 9 5. Unterordnungssignale 5.1 Infinite Konstruktionen Die systematische Verwendung von infiniten Konstruktionen ist zweifellos eines der auffälligsten syntaktischen Merkmale dieses Textes: man kann also sagen, dass Abstufungen von Finitheit stärker grammatikalisiert sind. Am einfachsten zu sehen ist das bei den Konstruktionen mit Partizip II, bei denen eine .se/ Vi-Prädikation impliziert ist. Sie können die Funktion eines passivischen Perfekts haben: (14) wie und worzu sie aufgerichtet! und angesteilet (15) die in frembden Landen! [... ] aufgerichtet Es kann sich aber auch um .ve/ V-Perfekte handeln: (16) das [... ] erwenung geschehen Die infinite Form reicht nicht aus, wenn sie ambivalent sein könnte; deswegen ist im folgenden Beispiel das Hilfsverb eingefügt und damit die passivische Ausrichtung klargestellt worden: (17) Darbey aberferner erwogen worden Auch modale Passive erlauben offenbar diese infinite Formulierung, da sie einfach rekonstruierbar sind: 10 9 Das passt zu der in Eichinger (1995) vorgelegten Analyse. 10 Natürlich gilt auch in diesem Text die Grundregel, dass der propositionale Gehalt bei solchen Struktur-Ellipsen rekonstruierbar bleiben muss. Vgl. die Ausführungen in der IDS- Grammatik (Zifonun et al. 1997, S. 434ff.) zu den Reduktionsmechanismen, die zu Struktur-Ellipsen fuhren. Dabei ist die Wahl von deverbalen Nomina und Nominalformen des Verbs ein Untertyp dessen, was dort (S. 434/ 435) Univerbierung genannt wird. Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 525 (18) wie eine sothane Gesellschaft zu erwecken und anzustellen Der Unterschied zu späteren Regelungen ist allerdings, dass offenkundig solche Abhängigkeitszeichen als systematisch normal anzusehen sind. Sie entsprechen strukturell eindeutig einem frühneuhochdeutschen Zustand. 11 In den einschlägigen Abhandlungen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts wird sich hier eine wesentliche Änderung erkennen lassen. Der Großgrammatiker dieser Zeit, Johann Christoph Gottsched, wird in seinen rhetorischen Schriften als eines der Merkmale einer „schlechten Schreibart“ die Undeutlichkeit benennen, die von diesem Konstruktionstyp kommt: (19) ferner giebt es eine Dunkelheit, wenn man die Hilfs- und Schlußwörter ausläst“ (Gottsched 1736, S. 299). 5.2 Konnektoren Was die Koordination und Subordination von verbhaltigen Einheiten angeht, so funktionieren nach dem „neuhochdeutschen“ Muster vor allem Konjunktionen und pronominale Einleitungselemente für die Subjekt- und Objektsätze. (20) [...] was dero eigentlicher Zweck! auch wie und worzu sie aufgerichtet! und angestellet! bericht zu haben begehren (21) Ist also zuwissen! das [...] unterschiedenen Academien! [...] erwenung geschehen (22) Darbey aber ferner erwogen worden [...]: Das ebener gestalt darauf möchte gedacht werden! wie eine sothane Gesellschaft zu erwecken und anzustellen Das zeigt sich an den beiden mit das eingeleiteten Konstruktionsteilen. 12 Auch wenn die entsprechenden Konstruktionen die Merkmale von Nebensätzen zeigen (‘Verbendstellung’, allerdings kein Finitum), so ist denn die kataphorische Funktion dieser Partikel als eines Elements zwischen Konjunktion und Pronomen noch deutlich erkennbar und auch angedeutet durch die Parallelität durch die Einführung einer entsprechenden Infmitivkonstruktion in Objektfunktion: 11 Vgl. die entsprechenden Hinweise in Ebert et al. (1993, §§ 256/ 257). 12 Nicht umsonst wird dann von Schottel (1663) dezidiert die Unterscheidung von Artikel/ Pronomen und Konjunktion in der Orthografie gefordert; vgl. Forsgren (2003, S. 16). 526 Ludwig M. Eichinger (23) [...] nachfolgendes kürtzlich! zu iedes begerenden unterricht! zu verfassen Schwieriger ist die Lage bei den adverbialen Nebensätzen und verwandten Konstruktionen (v.a. weiterleitenden, beiordnenden, vergleichenden, oder folgernden Elementen): ihre Häufung und unübersichtliche Anordnung und Einleitung wird im 18. Jahrhundert ein wichtiger Kritikpunkt der Sprache des „Kanzleystils“ sein. Das zeigt sich auch an dem vorliegenden Text. So finden sich mehr oder minder vom heutigen Gebrauch abweichende Konjunktionen: (24) Als ist gut befunden worden! nachfolgendes [...] zu verfassen. Ist also zuwissen [...] Hier sieht man in den beiden Fällen, dass die beiden Konjunktionaladverbien als und also nur sehr schwer auseinander zu halten sind, so dass sie vermutlich beide nur eine Verstärkung von so darstellen, was zu also („all so“) historisch passt, und was zumindest für als im Adelungschen Wörterbuch als eine veraltete Marotte des Kanzleystils gilt (1811, S. 232). Hier wird allmählich eine Differenzierung eingeleitet. Gänzlich unauffällig, was ihre Konstruktionsweise angeht, ist allerdings die Konjunktion weil, die in dem vorliegenden Text deutlich in ihrem zentralen Bereich verwendet wird, eingeschoben oder nachgetragen eine Proposition zu bringen, die dem Sprecher geeignet erscheint, die Bezugsproposition wohl begründet erscheinen zu lassen. (25) weil unsere weitgeehrete hochdeutsche Muttersprache so wol an alter! schönen und zierlichen Reden! als auch am Überflüsse eigentlicher und wolbedeutlicher Wort! so jede Sachen besser! als die frembden recht zuverstehen geben können! einen nicht geringen Vorzug hat Das ist anders in dem Fall eines begründend genutzten Satzes, nämlich jener mit nach dem eingeleiteten Einheit, mit der unser Text beginnt: hier wird durch eine Ausdrucksweise, die sich zumindest der sprachlichen Mittel für zeitliche Relationierung bedient, in der Rekonstruktion der zeitlichen Begründung eine Art objektiven Grundes gegeben. In dem Fall der Einleitung mit nach dem ist zudem noch deutlich sichtbar, wie sich eine temporale syntaktische Phrase allmählich grammatikalisiert: (26) Nach dem ihrer viel von der Fruchtbringenden Geselschaft [...] bericht zu haben begehren Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 527 Attributsätze zeigen noch ein sehr eigenes Profil, neben den „normalen“ Relativsätzen finden sich Anschlüsse, die entweder nur die Abhängigkeit signalisieren, wie das so, das aber nicht selbst die entsprechende syntaktische Rolle im Nebensatz einzunehmen vermag, oder eine Beziehung zu einem nominalen Element, bei dem die syntaktische Abhängigkeit dann über die Wortstellung geklärt wird, wobei hier gemäß der Semantik des Bezugssubstantivs der Bezug über die lokale Charakteristik des Pronominaladverbs geleistet wird. Die nicht durch semantisch-formale Kongruenz mit einem Bezugsobjekt und syntaktische Einbettung in den Nebensatz gekennzeichneten lockereren Bezugstypen verändern ihre Funktion oder verschwinden ganz aus dieser Verwendung: (27) Academien! die [...] aufgerichtet (28) Wort! so [...{können (29) Gesellschaft [...] darinnen man [...] möchte 6. Binnenstruktur der Phrasen 6.1 Vorbemerkung Zwei Dinge sind auf dieser Ebene zumindest auffällig: die im Vergleich zu den modernen Verhältnissen weniger grammatikalisierte Verbindung von Elementen einerseits und der üppige, durch Gegenläufigkeit und Parallelismen gekennzeichnete Ausbau in einem Text, der erkennbar dem Genus grande der rhetorischen Vorgaben zu entsprechen hat. 6.2 Redundanzen Ein Beispiel für die lockerere, wenn man so will auch syntaktisch explizitere Fügung stellt gleich die Zeitbestimmung zu Beginn des Textstücks dar: (30) Im Jahre 1617. den 24. Augustmonats Nacheinander werden die beiden temporalen Bestimmungen aufgeführt, die weitere, grobe mit der Präposition in, die punktuelle Angabe mit dem adverbialen Akkusativ, gefolgt noch nicht von einer Zähleinheit „Monat“ im absoluten Kasus, sondern von einem partitiven Genitiv, eine merkwürdig umständliche Konstruktion, der man das beiläufig nacheinander Gesprochene ihres Ursprungs noch leicht ansieht. Ähnliches gilt auch an anderen Stellen, wo die Konstruktion nicht einfach nachzuvollziehen ist; oben unter (12) wurde schon die Stelle zitiert, bei der 528 Ludwig M. Eichinger vermutlich die beiden Elemente, die durch beydes angekündigt werden, durch die Partikel als voneinander getrennt werden. Wie ist dann aber das Verhältnis der beiden Nominalgruppen vor diesem verbindenden Element zu sehen? Analoges würde auch gelten, wenn sich die Quantifikation beydes auf die beiden Phrasen vor dem als beziehen sollte. 6.3 Genitive Der Genitiv findet sich, wie oben schon angedeutet, einerseits noch an ungewohnter, aus der vorherigen Sprachgeschichte aber wohlbekannten, Stelle, nämlich unmittelbar links von dem nominalen Kem der Konstruktion. (31) bey einer vornemen! wiewol traurigen Fürstlicher und Adelicher Personen Zusammenkunft (32) zu iedes begerenden unterricht Dabei gibt es auch pronominale Formen: (33) dero eigentlicher Zweck Erkennbar ist auch, dass in diesem Kontext die Bedingungen für die Determination und Kasusflexion noch anders geordnet sind; es handelt sich bei Zwecke im folgenden Beleg um einen Dativ; wie zu sehen sein wird, ist der Kasus von Landes=Sprachen in (35) völlig unklar. (34) der Fruchtbringenden Geselschaft Zwecke und Vorhaben (35) jedes Volckes Landes=Sprachen Zum Teil finden sich auch noch Funktionen des Genitivs, die seither eigentlich nicht mehr erkennbar sind, wie zum Beispiel partitive Konstruktionen: (36) ihrer viel Andererseits erkennt man über weite Phasen Genitive als Teile von Nominalisierungen, die den Zwischeneinschub weiterer Prädikationen erlauben: (37) zu etwas ergetzung vorgangenen leides! und anreitzung der löblichen Jugend! zu allerley hohen Tugenden (38) Zusammensetzung und erhebung der Muttersprache (39) beydes zur erhaltung guten Vertrauens! erbauung wolanständiger Sitten! als nützlicher ausübung jedes Volckes Landes= Sprachen Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 529 Diese Genitive stehen offenkundig systematisch rechts von N. Aber auch bei diesen Mitteln zur Erzeugung sprachlicher Verdichtung finden sich Fälle, bei denen die Abhängigkeit eher angedeutet als eindeutig signalisiert wird. So bleibt im letzten Beleg die Abhängigkeit von Landes=Sprachen unbezeichnet. 6.4 Adjektive Die Konstruktion von attributiven Adjektiven zeigt im Prinzip keine größeren Besonderheiten. Auffällig sind allerdings die Koordinierungen und sonstigen Doppelungen vor allem im attributiven Bereich, durch die der Weg zum nominalen Kern hin länger - und man könnte sagen windungsreicher wird; darauf wurde oben schon bei den Beispielen (9) und (10) hingewiesen. (40) schönen und zierlichen; eigentlicher und wolbedeutlicher; gebräuchlich und dienlich Die Beispiele unter (40) können als besonders typisch gelten, sind sie doch in ihrer hendiadyoinartigen Gestaltung praktisch Entfaltungen eines jeweils einheitlichen Bedeutungsfeldes, des ‘Gefälligen’, des ‘Charakteristischen’ und des ‘in Gebrauch befindlichen’. Bei den Adjektiven schlägt sich auch nieder, dass die in den infiniten Formen enthaltenen impliziten Prädikationen umfänglichere Verwendungsmöglichkeiten zeigen. (41) iedes begerenden unterricht! Dieses Beispiel zeigt das in besonders klarer Weise; die nominale Form des Partizips I erlaubt diese Konstruktion im Normalfall nicht mehr; wir können das in modernem Neuhochdeutsch eigentlich nur in ganz ungefährer Weise paraphrasieren: ‘zur Unterrichtung von jedem, der das will’. 6.5 Nominalisierungen Von diesem Sachverhalt sind auch viele der Nominalphrasen geprägt, in deren Kem ein deverbales Substantiv steht. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass der Übergang zwischen Verbalität und Nominalität durchgängiger ist, als das im späteren Neuhochdeutschen der Fall ist. Dafür gibt es eine Reihe von Indizien. Die Finitheits-Infinitheitsabstufungen haben offenbar einen anderen Wert. Zwar sind offenbar satzmodushaltige Einheiten nur mit finiten Verbformen realisierbar, abhängige verbhaltige Elemente können diese kom- 530 Ludwig M. Eichinger munikative Unselbstständigkeit offenbar aber auch über die Verwendung einer infiniten Form kennzeichnen - und tun das in unserem Text zumeist. Von da fuhrt offenbar ein direkterer Weg zu den eigentlichen Nominalisierungen. Einerseits kommen sie auffällig häufig als Bestandteile von Prädikaten vor: (42) bericht zu haben; erwenung geschehen; Vorzug hat Dafür erlauben andererseits offenbar die eindeutig im substantivischen Umfeld gebrauchten Nominalisierungen einen weitgehenden Bezug auf die Konstruktionsmöglichkeiten der verbalen Basis. Sie sind offenbar stärker als im heutigen Deutsch von ihrer verbalen Basis geprägt, und nutzen intensiv die Integration fast aller Satzelemente. (43) anreitzung der löblichen Jugend! zu allerley hohen Tugenden Dadurch ergibt sich ein deutlich verbaler orientierter Charakter der entsprechenden nominalen Fügungen. Man kann sich bei dieser Gelegenheit auch fragen, welchen Sinn es hat, dass alle diese deverbalen Nomina mit kleinen Anfangsbuchstaben geschrieben werden. (44) beydes zu erhaltung guten Vertrauens! erbauung wolanständiger Sitten! als nützlicher ausübung jedes Volckes Landes= Sprachen ln diesen Fällen ist es so, dass nicht nur die Substantive ungewöhnlich sind, sondern auch eine Verbbedeutung weitertragen, die so nicht mehr gängig ist. 7. Folgerungen Nach dieser Analyse weiß man nicht so recht, in welcher der beiden oben emblematisch angedeuteten Grammatikerrollen man sich lieber belande. Erkennbar ist, dass das Ordnen der vorfmdlichen Erscheinungen sicher eine Voraussetzung dafür ist, um überhaupt etwas Übersicht zu gewinnen. Aber was wäre auf dieser Basis als dem Deutschen eigen anzusehen? Ganz offenkundig mangelt es ja nicht an grammatischen Mitteln. Dennoch hat man, und haben in der längeren Frist auch die Zeitgenossen den Eindruck gehabt, dass solcherart den wachsenden schriftsprachlichen Ausdrucksbedürfnissen nicht nachgekommen werden kann. Der Konsens der Gebildeten beginnt eigentlich erst zu wachsen. Grammatik als Frucht bringende Ergötzung 531 Bloß: was heißt das für die Grammatik? Manche Dinge sind offenbar wirklich im grammatischen Wandel verschwunden; sie gehören zweifellos nicht mehr zum grammatischen System des Deutschen. So sind die Fragen der Determination in Nominalphrasen deutlich anders geregelt: das ist insbesondere gekennzeichnet durch die andere systematische Rolle der vorangestellten Genitivattribute. Auch die Abhängigkeitssignalisierung in abhängigen verbhaltigen Einheiten ist systematisiert; die Setzung finiter Verbformen wird obligatorisch. Dazu gehört auch eine gewisse Systematisierung und Umordnung im Feld der Konnektoren und verwandter Erscheinungen, nicht zuletzt die Reduktion der Möglichkeiten relativer Anschlüsse. Geändert haben sich auch bestimmte formale Eigenheiten: so verschwindet etwa eine eigene Form für das Adjektivadverb („kürtzlichen“), Flexionseigenheiten werden ausgeglichen („dero“). Die funktionale Gliederung in die Stellungsfelder des Satzes wird eigentlich erst eingeführt. Die Abfolge der Sätze entspricht einem „Nacheinandersagen“, die interne Struktur einer Fokus-Flintergrund-Wechsel-Perspektive. Anderes stellt vielleicht eher die Folge der Veränderung von textuellen und strukturellen Präferenzen dar. So scheinen zumindest in diesem Text deverbal verdichtete Nominalphrasen das bei weitem präferierte Einbettungsmittel für entsprechende Propositionen zu sein, und das unabhängig von der Menge der angebundenen Elemente, während heutzutage mit der Komplexität die Neigung zu verbaleren Strukturen wächst. Vielleicht ist das aber doch auch der Reflex eines deutlicheren morphosyntaktischen Unterschieds. Durch die gängige Infmitheit in abhängigen verbhaltigen Elementen ist der Weg zu diesen Konstruktionen nicht so weit, ihr verbonominaler Charakter scheint deutlicher hervor. Unter diesen Umständen ist es für den Grammatiker sicherlich sinnvoll, nicht nur zu beobachten und zu ordnen, was er sieht, sondern, wie von Schottel gesagt wird, darauf zu sehen, dass das Deutsche im Vergleich mit anderen Sprachen „hochvemünftig untersuchet/ erwogen“ und dann in der Beschreibung „grundfest gesetzet“ (Neumark 1668 [1970], S. 99) werde. 532 Ludwig M. Eichinger 8. Literatur Adelung, Johann Christoph (1811): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, revidirt und berichtiget von Franz Xaver Schönberger. Erster Theil, von A-E. Wien: Bauer. Anhalt-Köthen, Fürst Ludwig v. 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(= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7.1-7.3). Beate Henn-Memmesheimer Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 1. Beispiele Eine Reihe von nicht in Kodifikationen des Standards aufgenommenen sprachlichen Mustern wird im Blick auf ihre Karrieren in verschiedenen mündlichen und schriftlichen Texten in einer Flut von Veröffentlichungen thematisiert, meist in der Hoffnung hier grammatische Entwicklungen und die Basis für eine Orientierung der Grammatikschreibung an der Pragmatik zu entdecken. (1) Ich kann das. (2) Ich will ein Eis. 1 (3) Zur Bildhauerei komm ich seit Jahren nicht mehr, weil Bildhauerei und Romanschreiben das schließt sich aus [...], weil beides als Arbeitsprozess zu ähnlich ist. 1 (4) [Über Prüfungsmodalitäten] A: ... den profs wars eigentlich im grund genommen auch scheißegal; weil phh -ja; also das geht denen halt au am arsch vorbei: (5) A: ich hab das buch schon fast aus. B: echt? A: mhm. B: und? Wars schön. A: super. 4 (6) Jetzt glaube ich, daß die Logik fast fertig ist, wenn sie's nicht schon ist. - Also, denken Sie wirklich über das nach, was ich gesagt habe! 5 (7) Ich habe gerade einen Teil von Moores Principia Ethica gelesen und [...] mag es gar nicht. (Wohlgemerkt, ganz abgesehen davon, daß ich mit dem meisten darin nicht übereinstimme.) 6 1 Feilke/ Kappest/ Knobloch (2001, S. 5). 2 Günter Grass 1963 in einem Schulklassengespräch. In: Sieger et al. (Hg.) (1971, S. 161), Umschrift vereinfacht (He-M.). 3 Beispiel nach Auer/ Günthner (2003, S. 5f), Umschrift vereinfacht (He.-M.). 4 Beispiel nach Auer/ Günthner (2003, S. 4), Umschrift verändert (He.-M.). 5 Wittgenstein, Briefe (1980, S. 54). Außer in den Beispielsätzen wurden Zitate der neuen Orthografie angepasst. Wittgenstein, Briefe (1980, S. 17). 6 534 Beate Henn-Memmesheimer (8) Skotos: *S\’y knuffäl* Sys: *reknuffääääääääääl* Skotos: *an Sys anschleich* Sys: *unschuldigguck* Sys: aaaaaaaaaaaaaaaaaahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh *bewußtlosumfall * 7 (9) Scholi: *malsohinweis** 2. Minimaleinheiten und Erklärungsversuche Alle genannten Beispiele belegen Syntagmen, die kommunikative Funktion haben im Sinne „kommunikativer Minimaleinheiten“ der Grammatik von Zifonun et al. (1997, S. 86), bzw. aus solchen zusammengesetzt sind. Die „Erklärungen“ sind meist Beschreibungen aus der Perspektive der Standardgrammatik. Viele Autoren sehen in den genannten Beispielen „Reduktionen“ oder „Prozesse syntaktischer und morphologischer Reduktion“. Eine funktionale Begründung wird dann meist auch gleich mitgeliefert: Sprachliche Ökonomie, geforderte Geschwindigkeit. Dies ist zu differenzieren. Feilke/ Kappest/ Knobloch (2001, S. 5) zitieren zu Recht in kritischer Absicht „ellipsophile Grammatiker“, die in den Beispielen (1) und (2) Reduktionen oder Ellipsen von ich kann das machen und ich will ein Eis haben sehen. Solche Fälle als Reduktionen zu interpretieren, ist eine Folge der Orientierung an der normativen Grammatik. Es werden Entwicklungen gesehen, wo es lediglich um längst Vorhandenes geht. So ist die Verwendung von können und wollen als Vollverben die vorgängige (Diewald 1997, S. 24-29). Mit einem entsprechend ahistorischen Blick begegnet ein Journalist Mustern, wie sie die Beispiele (3) und (4) belegen, und diagnostiziert: „Statt hinter ‘weil’, ‘obwohl’ und ‘wobei’ einen Nebensatz zu bilden, fangen viele einen neuen Flauptsatz an. [...] Es ist eine neue Entwicklung, die mit den Regeln der Grammatik bricht.“ 9 Die Sache selbst ist so neu nicht, auffallend aber ist der heutige Einsatz des Musters zu stilistischen Zwecken nur das sieht der Autor nicht. Auch das Beispiel (5) belegt keine Innovation. Lediglich die Beispiele (8) und (9) zeigen eine neue, zeitlich begrenzbare Entwicklung. 7 Spinchat, Bayern (2002/ 09/ 21, 20: 54: 03-20: 58: 52). 8 Spinchat, Hessennetz (2002/ 09/ 16, 19: 35: 59; Teilnehmer anonymisiert). 9 Sick (2005) in einem Spiegel-Online-Artikel. Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 535 Im Folgenden soll Sprache nicht „konzeptuell schriftlich“ gedacht und „sozusagen literal idealisiert“ (Feilke 2001, S. 109) werden. Es soll argumentiert werden für eine einheitliche, mit Sprachgeschichte, ontogenetischem Spracherwerb und Variantenbildung verträgliche Erklärung nicht-standardisierter sprachlicher Muster im Rahmen einer Grammatikalisierungstheorie. 3. Gerichtetheit von Grammatikalisierungsprozessen und Darstellungen deutscher Sprachgeschichte Grammatikalisierungstheorien liefern einen Rahmen zur Beschreibung von Sprachentwicklungen. Unter paradigmatischem Aspekt wird ein Prozess rekonstruiert, an dessen Beginn ein Zeichen steht, das zu einem losen Wortverband gehört, und in dessen prototypischem Verlauf das Zeichen zum Bestandteil eines hochintegrierten Paradigmas wird. Unter syntagmatischem Aspekt wird ein Prozess rekonstruiert, an dessen Beginn ein Zeichen steht, das relativ frei Syntagmen zugeordnet oder in Syntagmen eingebaut werden kann, am Ende des Prozesses stehen Elemente, die nur an wohldefmierten Stellen eines Syntagmas eingebaut werden können. Ich orientiere mich an den Lehmannschen Kriterien (1985, 1995a und 2003) für Grammatikalisierung und den damit weitgehend kompatiblen, die Gimth für die Analyse innersprachlicher Varianz entwickelt hat. 10 Schematisch: Lexikon/ Diskurs —> Syntax —> Morphologie —> Morphonologie —> Null Syntaktisierung Morphologisierung Demorphemisierung Schwund Lexikalische Bedeutung Grammatische Bedeutung Beispiel: Haben als Lexem, als Vollverb —> haben als Tempusmorphem Dieser Prozess kann als paradigmatische Strukturveränderung auf der grafischen/ phonetischen Ebene als zunehmende phonetische Reduktion, auf der morphosyntaktischen Ebene als Paradigmatisierung und Obligatorifizierung, auf der semantischen Ebene als semantische Reduktion (Gimth 2000, S. 103) 10 Gimth (2000), vgl. Henn-Memmesheimer (2004). 536 Beate Henn-Memmesheimer beschrieben werden. Unter Paradigmatisierung wird die Einbindung in zunehmend geschlossenere Paradigmen, unter Obligatorifizierung die Einschränkungen von Kookkurrenzen, unter semantischer Reduktion die Reduktion auf die Bedeutung, die sich aus dem Einbau in ein Paradigma ergibt, verstanden. Unter syntagmatischem Aspekt sind insbesondere wenn man Grammatikalisierungen in statu nascendi beobachtet und bezogen auf mein Material analog die folgenden Prozesse zu beschreiben (vgl. ebd.): auf der grafischen/ phonetischen Ebene: Fusion, auf der morphosyntaktischen Ebene: Koaleszenz und Topologisierung, auf der semantischen Ebene: Synsemantisierung. Mit Fusion werden Prozesse erfasst, an deren Ende die grammatikalisierten Elemente ausdrucksseitig im Extrem bis zu 0 verkürzt sind. Der Prozess der Koaleszenz umfasst Phasen zunehmender Fügungsenge: Juxtaposition, Klitisierung, Agglutination, Fusion im morphologischen Sinne." Mit Topologisierung ist Reduktion der Stellungsfreiheit im Syntagma, Fixiertheit in einer bestimmten Umgebung gemeint. Gimths Terminus Synsemantisierung ist überzeugender als die sonst verwendete Terminologie: Desemantisienmg, Verblassen der Bedeutung. Diese beruhen auf unzureichend geklärten und vagen semantischen Konzepten. 12 Mit Synsemantisierung ist die mit Grammatikalisierungsprozessen einhergehende zunehmende Paradigmenbzw. Umfeldabhängigkeit von Bedeutungen einheitlich beschrieben. Definiert man Grammatikalisierung in dieser Weise, lassen sich in der deutschen Sprachgeschichte Phasen ausmachen, in denen es kumulierte Grammatikalisierungsschübe gab. Viele Entwicklungen des „teilweise künstlichen“ (v. Polenz 1991/ 1994/ 1999, 4.3, S. 153) Systems der neuhochdeutschen Standardsprache werden in Sprachgeschichten als „Konsolidierungen“ auf der Ebene der Syntax, der Morphologie, der Wortbildung und der Lexik dargestellt und sind damit auch als Grammatikalisierung beschreibbar. Die Standardisierung ging vom Schreibgebrauch aus mit dem Ziel größerer Leseverständlichkeit. Standard war ausgerichtet auf die „Erfordernisse modernisierender, hochkomplexer Strukturen und Praktiken des Schreibens, Dru- 11 Benennung der Phasen der Koaleszenz nach Lehmann (2003). 12 Ungeklärt ist, wann eine Bedeutung „abstrakter“ ist als eine andere, wann Bedeutungserweiterung, wann Bedeutungsverengung anzunehmen ist. Explizit dazu: Lehmann (1999, S. 493), in der Rezension zu Diewald (1997). Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 537 ckens und Lesens [...]“ professioneller Textsorten (v. Polenz 1991/ 1994/ 1999, 5.9, S. 239). Die meisten aus diesen Satzbautendenzen resultierenden Merkmale gelten bis heute als spezifisch schreibsprachlich oder bildungssprachlich. „Sie sind nicht oder nur schwach entwickelt vorhanden in den deutschen Dialekten, in alltäglicher spontaner Umgangssprache, im Jiddischen und Niederländischen und anderen eng verwandten Sprachen“, wie v. Polenz (ebd., 5.9A, S. 240) formuliert. Standard steht also, handlungstheoretisch formuliert, in spezifischen Diskurstraditionen. 13 Daneben bestehen andere, vor allem mündliche Diskurstraditionen weiter, auch wenn sie in Anerkennung des Standards und von den vermittelnden Institutionen wie der Schule als „Jargon“, „schlechtes Deutsch“ u.Ä. abgewertet und negativ sanktioniert werden. 4. Grammatikalisierung: Diskurselemente, Adverbien, Subjunktoren, Konjunktoren Es gehört zu den Topoi der Sprachgeschichtsschreibung, im Anschluss an W. Admoni die „strukturellen Festigungstendenzen [...]: die immer fester werdende unterschiedliche Verbstellung im Haupt- und Nebensatz und damit die weitgehende Ausnutzung des Satzrahmenbaues im Hauptsatz und Satzgefüge“ (v. Polenz 1991/ 1994/ 1999, 5.9A, S. 241) zu nennen: Der immer konsequenteren Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebensatz [...] dienten auch folgende Tendenzen: den mit hypotaktischen Konnektoren (Subjunktionen) eingeleiteten Nebensätzen den Vorzug vor den nichteingeleiteten zu geben, die Konnektoren immer mehr zu monosemieren und konsequenter auf Haupt- und Nebensatz zu verteilen, die unpräzisen Satzgefugestrukturen des Frühneuhochdeutschen zu vermeiden, (ebd.) „Die Entwicklung ist nicht bei allen Stilgattungen und bei allen Sozialgruppen gleich verlaufen“ (Ebert/ Reichmann/ Solms et al. 1993, S. 435). Barbara Sandig beschreibt bereits 1973, dass Nebensätze mit Verbzweitstellung, die normativ diskriminiert sind, textsortenspezifisch selbst in geschriebener Sprache kontinuierlich nachweisbar sind. Anne Betten belegt die „Herkunft einiger Satzverknüpfungsmittel“ vom Althochdeutschen an, sie zeigt, dass 13 Ich verwende den Begriff Diskurs systematisch mehrdeutig, aber durch Zusätze disambiguiert: in der Rede von Diskursmarkern geht es um Gespräche und Markierungen in Gesprächen, in der Rede von Diskurstraditionen geht es um Texte, schriftliche oder mündliche, die aufeinander bezogen sind und das ausmachen, was in einem weiten Sinne im Anschluss an Foucault mit Diskurs gemeint ist. 538 Beate Herrn-Memmesheimer „nicht nur bei den Konnektoren die Grenze zwischen Adverbien und Konjunktionen teilweise fließend war, sondern dass auch viele Subjunktionen aus Adverbien entstanden.“ 14 Subjunktionen wurden für die Bedürfnisse schriftsprachlicher Situationsentbundenheit entwickelt, sie explizieren Zusammenhänge, 15 die in der gesprochenen Sprache mit anderen Lexemen, vor allem mit Adverbien oder mit nicht grammatikalisierten Syntagmen vermittelt oder als Implikaturen dem Hörer anheim gestellt werden. Normativ reguläre Konstruktionen mit Subjunktoren erfordern eine relativ hohe Konzentration auf die sprachliche Form und „werden daher von der gesprochenen Sprache nicht begünstigt“ (Lehmann 1995b, S. 1205). weil, obwohl Dass unterschiedliche Stadien der Grammatikalisierung gleichzeitig, aber in unterschiedlichen Diskurstraditionen zu beobachten sind, will ich am Beispiel von weil zeigen. Weil ist ein in den letzten Jahren unter syntaktischen und semantischen Aspekten 16 und unter dem Aspekt eines sozialen Stils 17 behandeltes Thema. Pasch/ Brauße/ Breindl et al. beschreiben zwei Varianten in der Verwendung von weil. Die durch weil gebildete Subjunktorphrase kann syntaktisch integriert: (10) Ich komme, weil du das willst. Weil du das willst, komme ich. oder desintegriert sein: (11) Weil du gerade hereinschaust, wir müssen einen Bericht über den Stand unserer Arbeiten vorlegen. (Pasch/ Brauße/ Breindl et al. 2003, S. 391) (12) Ich kann dir kein Geld leihen, weil bin ich Krösus? Ich kann dir kein Geld leihen, weil greif mal 'nem nackten Mann in die Tasche! (ebd., S. 404) (13) Hast Du gestern Willy gesehen? Weil: ich muss dir noch was erzählen, (ebd., S. 405) 14 Betten (1987, S. 80f.); vgl. den ganzen Abschnitt S. 80-100. 15 Feilke (2001, S. 111); Lehmann (1995b, S. 1205). 16 In Pasch/ Brauße/ Breindl et al. (2003, S. 410) findet sich eine ausführliche Literaturübersicht zu weil und Verbzweit. 17 Dittmar/ Bredel (1999), diese Funktion bleibt im Folgenden ausgeklammert. Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 539 In Fällen wie (3) liegt nach Pasch/ Brauße/ Breindl et al. „Subjunktor als parataktischer Konnektor“ vor (ebd., S. 403f.). Ebenso in (12), wo der auf den Konnektor folgende Satz als rhetorische Frage oder Imperativ zu interpretieren ist. In Beispielen wie (13) ist die Desintegration auch prosodisch bzw. orthografisch gekennzeichnet. „Der auf weil folgende Verbzweitsatz [kann] kraft der Bedeutung des Konnektors [...] einen Grund für die kommunikative Funktion der vorausgehenden Äußerung [bezeichnen]“ (ebd., S. 405). Beispiel (4) zitieren Auer/ Günthner um eine noch weitere Desintegration des weil zu belegen, um es möglichst weit vom Subjunktor zu differenzieren. Die kommunikativen Einheiten sind asyndetisch gereiht, mit eingestreuten Diskursmarkem, mit lexikalischen Elementen, die frei flottieren können. Der Anschluss mit weil kann mehrfach interpretiert werden. Nach Auer/ Günthner wird „mit weil [...] keine Begründung für den vorausgehenden Sachverhalt gegeben [...]. Vielmehr lassen sich diesem weil im Vor-Vorfeld diskursorganisierende Funktionen zuschreiben“ (2003, S. 6). Man kann statt dessen der Meinung sein, dass weil auch hier kausale Bedeutung hat: die mit das geht denen halt am arsch vorbei gekennzeichnete Haltung ist durchaus eine Begründung dafür, dass jemandem etwas scheißegal ist. Die kausale Verbindung ist dann entweder auf der Ebene der Propositionen zu lesen: die mit der einen Proposition gekennzeichnete Haltung der „Profs“ ist der Grund für ihre Einstellungen zu Einzelfällen, oder epistemisch: der Sprecher begründet seine Annahme mit dem Hinweis darauf, dass er weiß, dass „denen“ das „halt am Arsch vorbei“ geht. Die kausalen Interpretationen schließen nicht aus, dass weil außerdem eine gesprächsstrukturierende Funktion hat. Nach Auer/ Günthner steht diese Funktion allerdings in striktem „Gegensatz“ zur „klassischen Funktion von Konjunktionen, nämlich eine propositionale Verknüpfung auf der referenziell-denotativen Ebene herzustellen“ (ebd.). „Im vorliegenden Fall dient [...][weil] vor allem als konversationeiles Fortsetzungssignal, d.h. der Sprecher nutzt das projektive Potential von weil, um das Rederecht über einen möglichen Abschlusspunkt hinweg zu behalten“ (ebd.). Weil, als Diskursmarker verwendet, soll offenbar eine ausschließlich pragmatische Funktion haben: es „fuhrt eine metapragmatische Ebene ein, die den Inhalt des so eingeleiteten Syntagmas mit dem vorausgehenden Syntagma in indirekter Weise verknüpft. Typisch metapragmatische Funktionen von weil sind die epistemischen und sprechaktbezogenen Verwendungweisen“ (ebd.). In der schlüssigen Darstellung von Zifonun et al. (1997, S. 2296) sind diese Funktionen als semantische aufgenommen und in einem 540 Beate Henn-Memmesheimer Modell erklärt, das zwischen propositionaler Ebene und Ebene des Modus dicendi unterscheidet. Mit weitergehendem Bezug auf Äußerungsfunktionen wird zu Beispiel (13) in Pasch/ Brauße/ Breindl et al. gesagt, dass der auf weil folgende Verbzweitsatz die „kommunikative Funktion der vorausgehenden Äußerung“, hier „einen Grund“ für die vorausgegangene Frage bezeichnet. 18 Genereller formuliert: weil, obwohl und wobei leiten Begründungen bzw. Relativierungen dessen ein, was mit der vorausgegangenen Äußerung getan wurde. In (4) liegt nicht nur kein Subjunktor im engeren Sinne vor, der Sprecher stellt sich auch mit anderen sprachlichen Formen {isch, Enklitika, Wortwahl etc.) in eine spezifische, mündlich geprägte Diskurstradition. 1973 behandelte Sandig parataktische Konstruktionen mit dem Interesse, generell auf die „historische Kontinuität normativ diskriminierter Muster“ hinzuweisen, auf Muster, „die heutiger gesprochener Sprache und dem Mittelhochdeutschen bzw. dem Frühneuhochdeutschen (teilweise auch schon dem Althochdeutschen) gemeinsam sind“ (S. 37). „Im Mittelhochdeutschen konnte wände, das die semantische Entsprechung von heutigem denn und weil bildet, sowohl mit Zweitwie auch mit Endstellung des Prädikates konstruiert werden“ (ebd., S. 42). Sandig zieht, in Anlehnung an Behaghel (1923-32, § 1630-1634) den Schluss, das Mittelhochdeutsche und die heutige spontane Sprechsprache hätten die Tendenz zur Parataxe gemeinsam, die in Frage stehenden Formen seien in den Mundarten immer verbreitet gewesen, die normsetzenden Grammatiken dagegen eng an die Tradition der Lateingrammatik gebunden (ebd., S. 51). Die wile! weil kommt, zieht man die Belege bei Behaghel heran, bereits im Mittelalter mit Verbendstellung wie mit Verbzweitstellung vor: (14) si klagete zu an ir ende, die wile werte ir Up (Nibelungenlied, hg. Bartsch, 1105,3) (15) swaz er halt guoter dinge bigat, die wile er an dem unrecht stat, daz is vor got verfluchet (Heinrich von Melk, Erinnerung, hg. Heinzei, 93) 19 In kausaler Bedeutung ist es vor dem 15. Jh. kaum nachweisbar, ‘kausal’ ist als Implikatur möglich, danach wird die Implikatur konventionalisiert und 18 Pasch/ Brauße/ Breindl et al. (2003, S. 404; vgl. auch S. 369 und S. 370). 19 Beispiele 14 und 15: Behaghel (1923-32, § 339). Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 541 zwischen 1400 und 1550 schnell verbreitet (Ebert/ Reichmann/ Solms et al. 1993, S. 473, § S 306). Für weil wird Verbendstellung kodifiziert. Dass sich daneben auch die Möglichkeit der Verbzweitstellung erhalten hat, ist aus schriftlichen Quellen wenig belegt und in Grammatiken per defmitionem nicht aufgenommen. In Dialektsyntaxen finden sich Beispiele: (16) Mei ewei eemol krut ech dann e gelungent Gefill an dMokeilchen, well di ganz Saach huet sech guer net ongefeierlech uge- ■ 20 sin. für das Luxemburgische mit dem Hinweis auf die „größere Variationsmöglichkeit“ in der Wortstellung. Labouvie stellt für Dillingen fest: „Nicht selten werden auch Hauptsätze [...] durch die subordinierende Konjunktion weil an andere Hauptsätze angeschlossen, und zwar nicht nur in Fällen, wo man sich erst nachträglich (nach einer Pause) auf einen Grund besinnt; z.B.: (17) Ich kann heute nicht aus dem Haus fort, weil ...es ist sonst keiner daheim. 21 Für weil mit Verbzweit nennt Baumgärtner verschiedene Beispiele aus der Leipziger „Umgangssprache“: (18) Was hasd-n dü, wail de sö gugsd? 21 (19) Ich dzte hTr, derwaile schibsde! 22, Beispiel (18) stellt Baumgärtner explizit in den Zusammenhang mit Mündlichkeit allgemein: „In der Sprechsituation ist außerordentlich häufig eine formal wie inhaltlich freie Fügung von Sätzen zu verzeichnen. [...] Konkrete Sachverhalte werden zueinander gestellt ohne jenen deutlichen Bezug, der stets über die einzelnen Situationen hinaustrüge; aufgezeichnet müssen sie als lückenhaft erscheinen“. Dies lässt sich im vorliegenden Rahmen dahingehend interpretieren, dass in der mündlichen Diskurstradition die weniger grammatikalisierten Formen dort erhalten sind, wo sich die Grammatikalisierungen den Bedürfnissen der schriftlichen Texte verdanken. Noch deutlicher wird diese Tendenz, wenn man (19) einbezieht: Derweil erscheint in einer 20 Schmitt (1984, S. 107), zitiert aus einer schriftlichen Quelle und übersetzt: ‘Mehr als einmal verspürte ich dann ein seltsames Gefühl in der Magengegend, weil die ganze Angelegenheit sich nicht ungefährlich ansehen ließ.’ (mit Verbendstellung! ) 21 Labouvie(1938, S. 156). 22 Baumgärtner (1959, S.105) [‘Was hast denn du, weil du so guckst? ’ H.-M.]. 23 Baumgärtner (1959, S. 98) [‘Ich zieh' hier, derweil schiebst du.’ H-M.]. 542 Beate Henn-Memmesheimer wenig reduzierten Form, das Syntagma, in dem es vorkommt, hat nicht die spezifische Topologie, es hat nicht die ihm aus dem Paradigma der Subjunktoren zukommende kausale Bedeutung. 24 Gegenüber Diskursmarker, Substantiv und Adverb ist der Subjunktor stärker grammatikalisiert. Dies gilt nicht nur für das hier explizierte Beispiel weil und die weniger grammatikalisierten vorgängigen Lexeme und Syntagmen. Beschrieben unter paradigmatischem Aspekt ist der Subjunktor zu charakterisieren als Teil einer geschlossenen Klasse von Subjunktoren (Paradigmatisierung); - Kookkurrenzen sind eingeschränkt: die Form des mit dem Subjunktor eingeleiteten Syntagmas ist festgelegt, es wird in traditioneller Terminologie mit Satzgliedfunktion, hier als Satzadverbiale, in einen Hauptsatz eingebunden; die Bedeutung ist reduziert auf die Bedeutung, die sich aus dem geschlossenen, wenn auch nicht sehr hoch integrierten Paradigma der kausalen, konzessiven, konsekutiven, finalen und anderen Subjunktoren ergibt. Beschrieben unter syntagmatischem Aspekt sind Syntagmen mit dem Subjunktor topologisiert: der Subjunktor steht als Einleitung des Syntagmas oder Nebensatzes am Anfang, das Verb am Ende; semantisch konstituiert der kausale Subjunktor Begründungszusammenhänge 25 zwischen den Dikta des Haupt- und des Nebensatzes und in Abhängigkeit von diesen Dikta, der konzessive Subjunktor konstituiert entsprechend Gegengründe und Einräumungen ebenfalls in Abhängigkeit von den Dikta, und d.h. entweder bezogen auf die Propositionen oder die Modi dicendi. Insofern liegt Synsemantisierung vor. Analog lässt sich die Semantik konsekutiver und finaler Subjunktoren beschreiben. 26 Wie Auer/ Günthner (2003, S. 5) in Verkennung der Historie im Titel: „Entstehung von Diskursmarkem ein Fall von Grammatikalisierung? “ formulieren und Subjunktionen als „wichtige Quelle für vorangestellte Diskurs- 24 Zum Subjunktor derweilien) im Standard vgl. Pasch/ Brauße/ Breindl at al. (2003, S. 354), zum Adverbkonnektor ebd., S. 506. 25 Zifonun et al. (1997, S. 2296), in dieser entgegen den Traditionen der Kategorialgrammatik - Ontologisierungen vermeidenden Formulierung. 26 Zifonun et al. (1997, S. 2293-2294 und 2294-2296), wo freilich nicht explizit auf den Aspekt der Synsemantisierung abgehoben wird. Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 543 marker“ sehen, setzen auch Pasch/ Brauße/ Breindl et al. (2003, S. 403) mit der Abschnittüberschrift „Subjunktoren als parataktische Konnektoren“ die Subjunktorfunktion von weil als die primäre. Die Bemerkung allerdings, dass „durch die Verbreitung süddeutscher Umgangssprache im gesamten deutschen Sprachraum [...] weil mit nachfolgendem Hauptsatz zunehmend [...] denn zwischen zwei Hauptsätzen“ verdrängt (ebd., S. 406), ist in meinem Zusammenhang zumindest als weiterer Hinweis auf eine ältere Tradition zu lesen, die nie ganz verschwunden war, die immer wieder von Sprechern aufgenommen wurde. In jüngster Zeit wurde weil als parataktischer Konnektor neben anderen sprachlichen Mustern (darunter die Partikel halt, die ebenfalls zu mündlichen Diskurstraditionen gehört) als Markierung eines so stellten es manche Sprecher in einer Befragung selbst dar spezifisch „westlichen“ Stils in Berlin genutzt, wie Dittmar/ Bredel (1999, S. 164-173) zeigen konnten. Auer/ Günthner fordern eine „Diskursgrammatik“, die die Entwicklung von Diskursmarkem als Degrammatikalisierung beschreiben kann. Das Postulat einer „Diskursgrammatik“ eröffnet zweifellos ein weites Feld, zumal sich Grammatikalisierungen auf Interessen in je spezifischen Diskursen (Gesprächen), auf Implikaturen und andere prozedural konstituierte Bedeutungen zurückführen lassen, die habituell und dann konventionalisiert werden. Wenn eine solche Grammatik jedoch Diskursmarker als aus Konjunktionen entstanden erklärt, wie der Titel dieses Artikels und auch schon der Titel von Gohl/ Günthner (1999) versprechen, so wird sie weder phylogenetisch noch ontogenetisch 27 angemessen sein. Was von der Standardgrammatik aus gesehen als Degrammatikalisierung erscheint, ist der Erhalt älterer diskursiver und d.h. weniger grammatikalisierter Elemente, die nie in die normativen Grammatiken aufgenommen, sehr wohl aber in historischen Grammatiken und unterschiedlichen Grammatiken gesprochener Sprachvarianten beschrieben wurden. Und Und ist in Standardgrammatiken Konjunktor, der Syntagmen koordiniert und zwischen den koordinierten Syntagmen steht (Pasch/ Brauße/ Breindl et al. 2003, S. 457ff). Beschrieben wird und in Funktionen wie in Beispiel (5) sel- 27 Lena Naumenko in einem laufenden Mannheimer Dissertationsprojekt: Der Erwerb verschiedener Merkmale der Subjunktoren ist eng mit dem Erwerb der Schrift verbunden. 544 Beate Henn-Memmesheimer ten, ausführlich jedoch bei Pasch et al. (ebd., S. 459). Sie stammen aus Diskurstraditionen, in denen vor allem mündliche Äußerungen stehen. Baumgärtner zeigt Beispiele für Leipzig, Schiepek für das Egerländische. 28 Ontogenetisch ist auch hier die eingeschränkte Verwendung von und später und an schriftliche Texte gebunden. Man denke an Anweisungen im Aufsatzunterricht, dass man keine Sätze mit und beginnen lassen könne, dass die mit und verbundenen Syntagmen gleiche syntaktische Funktion haben müssen etc. Also Also ist im Handbuch der Konnektoren der Klasse der „nicht positionsbeschränkten“ Konnektoren zugeordnet, die „vorfeldfahig“ sind neben allenfalls, allerdings, anders gesagt, übrigens (Pasch/ Brauße/ Breindl et al. 2003, S. 550). Fast alle Konnektoren dieser Klasse können in der von Pasch/ Brauße/ Breindl et al. so genannten Nullposition, d.h. außerhalb der Satzkonstruktion, bzw. in deren „Vorfeld“ stehen (ebd., S. 487). Die Beispiele: (20) Es wurden viele Vorschläge gemacht. Allerdings: Der gute Wille allein genügt nicht. (21) Sie lesen meine Bücher nicht. Also wie können Sie meine Gedanken beurteilen? 2 ^ (22) [...] Tornister hing denn auch auf dem Buckel; also: es war alles gut gegangen. 30 Nach Behaghel (1923-32, § 851, § 988) verstärkt also so: ,^o setzt ein Glied eines Satzes gleich mit einem Glied eines vorhergehenden Satzes“, „nimmt Vorhergehendes auf‘ (ebd., §991), ist beiordnend und unterordnend. Behaghel beschreibt auf 43 Seiten die vielfältige Einsetzbarkeit. Im vorliegenden Zusammenhang ist relevant, dass die Präzisierungen von also über die ‘Gleichsetzung’ hinaus, die Verwendung wie lat. ergo und itaque, in einem späten philosophischen Diskurs entwickelt wurde. Behaghel erscheint es „kaum zweifelhaft, dass es sich hier um eine Nachbildung des lat[einischen] itaque handelt, deren Vater vielleicht [Christian] Wolff [1679-1754] selber ist“ (ebd., § 851). Behaghel zitiert: ‘ Baumgärtner et al. (1959, S. 98); Schiepek (1899-1908). 29 Pasch/ Brauße/ Breindl et al. (2003), letztes Beispiel aus Der Spiegel, 9.2.1991, S. 248). 30 Bethge (1970, S. 37), mit dem Hinweis, hier läge ein „loser Anschluss“ vor. Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 545 (23) wer sich seiner und anderer Dinge bewusst ist, der ist. Wir sind uns unserer und anderer Dinge bewusst. Also sind wir. (ebd.) Auch hier ist die grammatikalisiertere Form, die Form, die Kontexte in spezifischer Weise verbindet, die jüngere. 5. Grammatikalisierung: Verbgruppen Beispiel (7) belegt ein grammatikalisiertes Syntagma aus einer Verbform (Partizip Perfekt gemerkt) mit Adverb (wohl). Das Ergebnis der Grammatikalisierung ist nach Pasch/ Brauße/ Breindl et al. (2003, S. 509) ein so genannter nicht positionsbeschränkter Adverbkonnektor. Andere Beispiele für grammatikalisierte Verbgruppen sind: (24) Scheints hats ... hats na besser geklappt na, 3{ (25) Der is scheints fort} 1 (26) Des is glaub zeejohr her} 1 (27) glaawich 14 . (28) das hab ich auch schon richtig lange [...] hab ich auch glaub zwei Jahre im Sommer nur angehabt. (29) Mir scheint das auch weiß ich nicht viel zu hoch [...]. (30) Ik=sach=mal=so (31) ... sehen Sie ..., ... wissen Sie ... } b (32) Komm, seijetzt vernünftig! Komm, lass das! Komm, geh weg} 1 Von einem gesprächsanalytischen Standpunkt aus werden diese Beispiele punktuell interpretiert: als Einleitung einer prekären, z.B. politisch inkorrekten Äußerung, als Fleckenausdrücke, bzw. „Unschärfemarkierer“ (Auer/ Günthner 2003, S. 11), „Verzögerungsmarker“ (ebd.). Beispiele wie in (31) 31 Werner (1964, S. 43) [literarische Umschrift von mir modifiziert]: ‘offenbar hat's ... hat's nachher besser geklappt.’ 32 Hörbeleg, pfälzisch, vereinfachte Wiedergabe in literarischer Umschrift: ‘der ist offenbar weg’). 33 Hörbeleg, pfälzisch, vereinfachte Wiedergabe in literarischer Umschrift: ‘das ist glaub ich zehn Jahre her’. 34 Böttger (1904, S. 164): ‘glaub ich’. 35 Zu den Beispielen (28)-(30) vgl. Auer/ Günthner (2003, S. 1 lf, Beispiel (8)-(10); hier vereinfacht wiedergegeben). 36 Hanke (1913, §§ 113-116). 37 Hörbeleg, pfälzisch; auch mehrfach feuilletonistisch beschrieben. 546 Beate Henn-Memmesheimer markieren dann die Wichtigkeit der Äußerung, der sie zugeordnet sind. Ein besonders deutliches Beispiel ist (32): Komm ist nicht die Aufforderung sich auf den Sprecher zu zu bewegen, sondern vermittelt eine ablehnende Einstellung des Sprechers zu etwas zuvor Thematisiertem bei gleichzeitiger Bereitschaft, mit dem Hörer in Kontakt zu bleiben. Die Termini „markieren“ oder „vermitteln“ sind insofern angebracht, als es bei diesen Syntagmen nicht mehr um explizite, lexikalische Bedeutungen geht, sondern um partiell synsemantisierte Bedeutungen, um hoch kontext- oder situationsabhängige Hinweise. In der neueren Literatur zu innersprachlicher Varianz und Grammatikalisierung wird verallgemeinernd von „Subjektivierung“ gesprochen, bzw. von Markierungen der Sprechereinstellungen (Gimth 2000, S. 68). Mit der Erläuterung „Fragesätze werden zu adverbialen Bestimmungen, die nur in der mündlichen Sprache verwendet werden können“ zitiert Weise: (33) Er streifte das Schurzfell nunter, und hast du nicht gesehen? {ging's) die Gasse vor. (Weise 1900, S. 28) Auch dies kann man mit Subjektivierung und Hörerbezug beschreiben. All diese Beispiele belegen geradezu prototypische Grammatikalisierungsvorgänge. Unter paradigmatischem Aspekt: - Phonetische Reduktion liegt vor bei den Klitika wie in scheints, dort wo das Pronomen nicht mehr erscheint wie in glaab und glaub, intonatorisch erscheinen die Syntagmen als Einheit, grafisch wird dies uneinheitlich, vielfach durch Zusammenschreibung angedeutet. - Morphosyntaktisch liegt Paradigmatisierung vor, Übergang von Syntagmen zu je nach Terminologie - Adverbien, Adverbkonnektoren oder Diskursmarkem. Mit Obligatorißzierung ist Ähnliches beschrieben wie mit feste Fügung in älterer Terminologie, sie zeigt sich an der Nichtaustauschbarkeit und Nichteliminierbarkeit einzelner Teile mancher Syntagmen. - Semantisch werden die Syntagmen weitgehend auf die Funktion der Einstellungsvermittlung reduziert. Unter syntagmatischem Aspekt: - Prototypisch für phonetische Fusion sind die Klitika und die Formen, wo Teile des Syntagmas 0-gesetzt werden. Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 547 - Auf der morphosyntaktischen Ebene sind Klitika prototypisch für Koaleszenz: scheint es > scheints, das Beispiel glaab ich > glaab zeigt noch weitergehende Koaleszenz, glaawich lässt ich als Juxtaposition oder als Klitisierung deuten. - Synsemantisierung zeigt sich besonders deutlich an komm, das mehr oder weniger vorwurfsvoll kritisch ist. Die genannten Syntagmen markieren Unterschiedliches aus ihrer Umgebung und in Abhängigkeit davon. Die Grammatikalisierungen der Subjunktoren aus Nominal- oder Adverbialphrasen erschienen ganz aus den Bedürfnissen der Schriftlichkeit motiviert, in den oben genannten Fällen von Subjektivierung zeigten sich Grammatikalisierungen in mündlichen Diskurstraditionen. Eine weitere Entwicklung ganz aus der Schrift sind Grammatikalisierungen, die sich überaus häufig in so genannten Chattexten 38 finden, die nur ganz sporadisch in mündlicher Rede eingebracht werden und dann meist zitierend. Es geht um Formulierungen wie in den Beispielen (8) und (9). Syntagmen wie *Sys knuffäl*, *reknuffääääääääääl*, *an Sys anschleich*, *bewußtlosumfall*, *malsohinweis* konstituieren virtuelle Handlungen der im Chat Schreibenden. Sie werden durchgängig in Asteriske gesetzt. Extreme Weiterentwicklung sind Ikonogramme/ Akronyme wie *g* (‘grins’), */ g* (‘frech grins’). 39 - Wir haben auf der grafischen Ebene Syntagmen, die bis zur Zusammenschreibung fusioniert oder auf ihre Anfangsbuchstaben reduziert und durch Asteriske gekennzeichnet sind. Sie können als Paradigmen von in gleicher Weise reduzierten Wortformen mit Asterisken gesehen werden. - Auf der morphosyntaktischen Ebene entspricht dem die Koaleszenz der Morpheme über Klitisierung bis zur Nullsetzung oder Akronymenbildung. Damit einher geht die Notwendigkeit der Topologisierung: je reduzierter die Morpheme, desto fester werden die Regeln der Morphemabfolge. Das Verb steht am Ende des Syntagmas, die Stellung der Konstituenten ist fixiert. 40 Es konstituiert sich das neue Paradigma der Asteriskausdrücke. Möglicherweise ist dieses Paradigma vergleichbar dem Paradigma der Wortbildung aus Komposita mit Innenflexion. 38 Zur Institution Chat und zu unseren Korpora vgl. Henn-Memmesheimer (2004, S. 84f.). 39 Englischsprachige Akronyme wie *lol* (‘laughing out loud’) sind zwar in das Paradigma der Asteriskausdrücke eingebaut, folgen aber anderen internen Regeln. 40 Vgl. Henn-Memmesheimer (2004). 548 Beate Henn-Memmesheimer - Die semantische Autonomie der Teile des Syntagmas ist eingeschränkt, die Bedeutung der koaleszenten Verbmorpheme wird über die Asteriske vermittelt bzw. ergibt sich aus dem Kontext. Das zwischen die Asteriske Gestellte wird als virtuelle Handlung gekennzeichnet, die dem automatisch auf dem Bildschirm erscheinenden Chattemamen zugeordnet wird. Die Grammatikalisierungsrichtung ist die in der Theorie vorhergesagte, 41 auch bei diesen Syntagmen, die es in dieser Einheitlichkeit in Korpora von 1999 noch nicht gab und deren Regularitäten in Korpora von 2004 wieder weniger strikt erscheinen. 6. Von einem handlungstheoretischen Standpunkt Sieht man die besprochenen sprachlichen Muster aus einer sprachgeschichtlichen Perspektive, so zeigen sie alle eine Entwicklungsrichtung entlang den von der Theorie vorgesehenen Grammatikalisierungsparametem. Die grammatikalisierten Muster diffundieren in Diskursen oder werden abgeblockt, nicht aufgenommen. Äußerungen mit so genannten Diskursmarkem fehlen per defmitionem in den Diskursen, die an Schriftsprache und deren normierenden Grammatiken orientiert sind. In verschiedenen, von der normativen Grammatik wenig beeinflussten Diskurstraditionen dagegen haben sich „Diskursmarker“ erhalten (Sandig 1973, S. 49). Sie mussten sich nicht erst durch Degrammatikalisierung entwickeln. Nachweislich haben wir es mit konventionalisierten Elementen verschiedener Traditionen zu tun, die nebeneinander existieren und die unterschiedliche Funktionen haben. Mit den Beispielen aus dem Chat wird einerseits der Vorgang einer „beschleunigten Grammatikalisierung“ (Haspelmath 2002, S. 13) belegt, bei der die Absicht sprachlicher Stilisierung relevant ist, und andererseits zeigt sich, dass Grammatikalisierungen wieder aufgegeben werden können, wenn sich die entsprechenden Effekte nivellieren, bzw. wenn sie nicht mehr intendiert sind; vgl. Henn-Memmesheimer (2004). Am Postulat einer handlungsorientierten Grammatik festhaltend kann man die Beschreibungen so anlegen, dass sich die Annahme der grundsätzlichen Irreversibilität von Grammatikalisierungsvorgängen bestätigt sowie die Annahme, dass verschiedene Stadien der Grammatikalisierung nebeneinander stehen. Unterschiedliche Diskurse sind von unterschiedlich weit entwickel- 41 Vgl. u.a. Haspelmath (1999). Grammatikalisierungen in verschiedenen Diskurstraditionen 549 ten Grammatikalisierungen geprägt. Am Beispiel des Chats lässt sich zeigen, dass Grammatikalisierungen „inszeniert“ und auch wieder aufgegeben werden können. Die Grammatikalisierungstheorie liefert so den Rahmen für eine einheitliche, Varianz und historische Entwicklungen konsistent erklärende Beschreibung. 7. Literatur Auer, Peter/ Günthner, Susanne (2003): Die Entstehung von Diskursmarkem im Deutschen ein Fall von Grammatikalisierung? (InList No. 38, http: / / www. uni-potsdam.de/ u/ inlist). Baumgärtner, Klaus (1959): Zur Syntax der Umgangssprache in Leipzig. Berlin: Akademie Verlag. Behaghel, Otto (1923-32): Deutsche Syntax. Heidelberg: Carl Winter's Universitätsbuchhandlung. Bethge, Wolfgang (1970): Riesenbeck Kreis Tecklenburg. Tübingen: Niemeyer. (= Phonai. Lautbibliothek der europäischen Sprachen und Mundarten. Deutsche Reihe. 6. Monographien 1). Betten, Anne (1987): Grundzüge der Prosasyntax. Tübingen: Niemeyer. 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(= Schriften des IDS, Bd. 7.1- 7.3). Ursula Brauße Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 1. Vom Image der Grammatik Gisela Zifonun hat 1994 in der für eine interessierte Öffentlichkeit vom IDS herausgegebenen Zeitschrift „Sprachreport“ den möglichen Interessenten die „Grammatik des heutigen Deutsch“ angekündigt. Sie entstand unter ihrer Leitung und erschien 1997 in drei Bänden unter dem Titel „Grammatik der deutschen Sprache“. Im Subtitel ihres Zeitschriftenbeitrags von 1994 bewertet sie Arbeiten zur Grammatik meiner Ansicht nach zu Recht als „Erkundungen zu einem verkannten Wissensgebiet“. Die Beschäftigung mit Sprache und Sprachen wird in ihrer Bedeutung von der Öffentlichkeit sehr wohl erkannt, sowohl im Schulunterricht, wie man bei der PISA-Diskussion beobachten kann, als auch in der Erwachsenenbildung. Die vielen Anfragen bei Einrichtungen, die Beratung bei Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache bieten, sprechen dafür, dass ein Beratungsbedarf durchaus besteht. Literatur zu den neueren Erscheinungen der deutschen Sprache war immer gefragt, und das Buch von Bastian Sick: „Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ hat gerade kürzlich den Sprung in die Bestsellerlisten geschafft. Interesse für die Kenntnis von Fremdsprachen zeigt sich in der Vielzahl der Sprachkurse bei den Volkshochschulen. Obwohl aber die Sprache, ihr Erwerb und ihre korrekte Beherrschung eine so große Rolle spielen, ist es doch allgemeiner Konsens, dass die Grammatik, wenn sie auch grundlegendes Wissen über Sprache umfasst, ein staubtrockenes, kompliziertes, praxisfernes und zudem absolut langweiliges Wissensgebiet ist. Schülern jedenfalls ist der Grammatikunterricht ein Horror, von dem sie sich auch als Erwachsene oft nicht mehr erholen. Sie können den Sinn dieses Lehrstoffs nicht erkennen. Das ist auch erklärlich. Anders als die Kenntnisse, die Schüler in Fächern wie den Naturwissenschaften, Geschichte u.a. in der Schule erwerben, erscheinen ihnen die Grammatikkenntnisse nicht als nützlich für die Beantwortung von Fragen, die sich aus dem jeweiligen Unterrichtsgegenstand ergeben können. In den ersten Klassen muss das Hauptgewicht im Deutschunterricht auf dem Erwerb der Schriftkompetenz liegen, dem Lesen und der Orthografie, außerdem auf der Verbesserung der Ausdrucksfähigkeit. Dies 554 Ursula Brauße ist für Schüler einsehbar. Probleme macht ihnen jedoch, dass man sie veranlasst, gewaltige grammatische Klassifikations- und Regelsysteme auswendig zu lernen, deren Beherrschung ihnen für die Korrektur kleiner Fehler, etwa beim Gebrauch der Kasus oder der Pluralformen, nicht notwendig erscheint. Da auch die Grundschüler bereits in einem Alter sind, in dem sie ihre Muttersprache weitgehend vollständig beherrschen, folgen sie bei ihrem Gebrauch den Regeln, die dieser Sprache zugrunde liegen. Dies allerdings unbewusst und ohne diese Regeln als solche ausdrücken zu können, wie es beim Erwerb der Muttersprache der Fall ist. Wie soll man ihnen also glaubhaft machen, dass es nützlich ist, nachträglich trotzdem die Kategorien- und Regelsysteme zu lernen, ohne die sie ihre Sprache doch schon sehr gut sprechen. Es ist sicher, so wie Gisela Zifonun in dem erwähnten Artikel schreibt, und wie man es aus dem eigenen Schulunterricht kennt, dass die Grammatik als ein System äußerer Formen und unreflektierter Regeln gelehrt und gelernt wird. Über diese Fragen wird seit langem diskutiert, ohne dass offenbar an dem schlechten Image der Grammatik viel geändert werden konnte. Grammatik gilt nach wie vor als langweilige Beschäftigung mit unverständlichen Kategorien und verwirrenden syntaktischen Regeln. Seit etwa 1970 wurden von Didaktikern Einsichten in den Bau der Sprache und Reflexionen über Sprache als Ziel modernen Grammatikunterrichts anvisiert. Boettcher/ Sitta (1978) warben für einen situationsorientierten und funktionalen Grammatikunterricht, den auch Ulrich (2001) noch favorisiert mit dem Zusatz, dass dieser keinen Gegensatz zu systematischem Grammatikunterricht bedeuten darf, sondern dass beide Methoden sich ergänzen müssen. Unter dem Titel „Wieviel Grammatik braucht der Mensch? “ veranstaltete die Evangelische Akademie Loccum 1982 eine Tagung mit dem Ziel, Aufgaben, Konzeptionen und Probleme der Sprachdidaktik im Deutschunterricht zu diskutieren (Ermert 1982). Wolfgang Eichler (1994) macht einen (recht anspruchsvollen) Curriculumvorschlag für die Grundstufe und die Sekundarstufen I und II. Dieser umfasst für die Grundstufe elementare Kenntnisse über Wortarten, grammatische Funktionen, Kasus, Numeri, Tempora, Satzarten, Wortbildung und Lautlehre. In der Sekundarstufe I (5.-6. Schuljahr) ist die Beschäftigung mit Pragmatik, einfacher Syntax, Wortformen, Wortbildung und Semantik vorgesehen. Diese Gebiete sollen in einem zweiten, systematischen Durchgang im 7. und 8. Schuljahr detaillierter behandelt werden. Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 555 Die Diskussionen der letzten Jahre zur Reform des Grammatikunterrichts sind nicht abgeschlossen. Ziele dieses Unterrichts sieht man sowohl in der möglichst guten Kenntnis des Regelsystems der Muttersprache als auch darin, zu Einsichten in den Bau der Sprache und zu Reflexionen über Sprache zu gelangen. In der Diskussion sind nach wie vor die Fragen: - Welcher Lehrstoff ist für welche Altersgruppe geeignet? - Was aus dem Wissensgebiet ist als notwendiges Wissen zu werten? - Was ist angesichts knapper Zeit zu vermitteln möglich? - Was soll Ziel des Unterrichts sein? Da mein Anliegen an dieser Stelle die Frage ist, aus welchem Grunde die Motivation von Schülern im Durchschnitt sehr gering ist, sich mit Fragen zur Sprache bzw. zu Sprachen zu beschäftigen, gehe ich hier nicht ausführlicher auf die vielen oft sehr lesenswerten sprachkritischen Bücher für Interessierte ein. Diese richten sich an Leser, deren berufliche Tätigkeit es oft mit sich bringt, dass Zweifelsfälle bei der Textproduktion oder der Textinterpretation auftreten. Für diese Kategorie von Sprachinteressierten ist der Nutzen von Informationen zu vielen Teilgebieten sprachlichen Wissens offenkundig. Unter anderem an diese Zielgruppe richtet sich auch das Informationssystem GRAMMIS, das seit 1997 am IDS Mannheim erarbeitet wird und auf das via Internet zugegriffen werden kann. Ziel von GRAMMIS ist eine relativ vollständige Online-Grammatik des Deutschen, die für einen breiten Rezipientenkreis nutzbar ist. GRAMMIS richtet sich primär an Studierende, Lehrende und Sprachwissenschaftler, aber auch an sprachinteressierte Laien. Für die Beantwortung der Fragen Letzter wird an der Komponente „Grammatik in Fragen und Antworten“ gearbeitet. Im Folgenden soll der Aspekt im Vordergrund stehen, wie bereits in frühem Alter Interesse an Sprachfragen entstehen kann und wie demotivierende Erfahrungen im Schulalter vermieden werden können. 2. Grammatik der Muttersprache Deutsch Schüler werden mit Grammatik zuerst im Deutschunterricht konfrontiert. Wie lässt sich der Unterrichtsstoff in diesem Fach mit Fragen zur Sprache, die auch Kinder im Grundschulalter schon haben, verbinden? Wie kann man ihr Interesse auf weitere Fragen lenken, so dass sie wirkliche Einsichten in 556 Ursula Brauße die Grammatik und Verständnis für den Aufbau der Sprache bekommen? Interesse an diesen Fragen kann im Schulalter entstehen, wenn es sich von den Fragen der Kinder ableitet. Manche Fragen entstehen spontan, z.B Fragen zu orthografischen Regeln; zu anderen Fragen können Lehrende ihre Schüler im Unterricht hinführen und mit ihnen gemeinsam die Lösung erarbeiten. Bekanntlich führt eine solche Methode, nach der Erkenntnisse selbstständig erworben werden, zu tragfähigerem Wissen, als wenn Lehrstoff unproblematisiert als eine Gegebenheit auswendig gelernt wird. Für eine solche Lehr- und Lemmethode, mit der eine größere Motivation für Sprachbeobachtungen und Experimente im Grammatikunterricht erreicht werden könnte, werben in jüngerer Zeit Didaktiker wie Wolfgang Menzel (1999). An dem bisherigen Grammatikunterricht kritisiert er u.a., dass ein großer Teil der Begriffe zu früh, nämlich schon in der Grundschule eingeführt wird, wenn die Kinder sie noch nicht anders denn als Worthülsen lernen können. Im 5./ 6. Schuljahr werden sie noch einmal aufgenommen, aber auch hier wird eher grammatisches Wissen angesammelt, als dass Erfahrungen mit dem Aufbau der Sprache gemacht werden können. In den höheren Schuljahren kommt es dann auch nicht dazu, Grammatik durchsichtig zu machen, weil grammatisches Wissen als „bekannt“ vorausgesetzt wird. Zu einem Zeitpunkt also, wenn die kognitiven Fähigkeiten der Lernenden für einen induktiven Unterricht herausgebildet sind, ist dieser nicht mehr vorgesehen. Auf diese Weise werde Grammatik nur als sporadisches Einzelwissen oder als ein Repertoire oder besser Potpourri von mehr oder weniger zusammenhängenden Bezeichnungen für grammatische Begriffe gelernt, kaum aber als begriffliche Erfahrungen selbst. Menzel (1999, S. 9ff.) bemängelt, dass die Schulgrammatik fast durchweg mit dem 7. Schuljahr endet, und er bedauert das Fehlen eines Spiral-Curriculums, das die Erkenntnisse allmählich ausdifferenziert. So bleiben die Grammatikkenntnisse oberflächlich. Sprachprobleme der Kinder werden selten in den Grammatikunterricht einbezogen. Außerdem sei irreführend, dass Schulgrammatiken Sprache als ein feststehendes System darstellen, anstatt zu demonstrieren, dass sie sich in ständiger Bewegung befindet. Neue Entwicklungen werden schlicht als Fehler abgetan, statt dass man zeigt, was hier z.B. im Flexionssystem oder in der Syntax von weil- und anderen Nebensätzen geschieht. Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 557 Menzel bleibt nicht bei der Kritik stehen, sondern er stellt seine Ideen zu einer neuen Schulgrammatik vor. Sie sollte eine sein, die sich am Erkenntnisinteresse der Schüler orientiert, welches ein funktionales ist. Wie eine solche Grammatik aussehen könnte, hatte er bereits 1995 in Zusammenarbeit mit Menzel und Peter Eisenberg demonstriert. Beide sprechen von einer Grammatik-Werkstatt, um zu unterstreichen, dass grammatische Systeme nicht von jeher feststehen, sondern dass sie von Menschen gemacht sind, deren Systematisierungsbemühungen zu verschiedenen Grammatiken führten. Die Grammatik-Werkstatt soll zu systematisierendem Handeln anregen, dessen Resultat eine Grammatik sein kann. Grammatikunterricht wollen sie als Arbeit in der Grammatik-Werkstatt betrachten. Das Material in dieser Werkstatt ist die Sprache, die Werkzeuge sind die Operationen und das Resultat sind Einsichten in den Aufbau und das Funktionieren von Sprache. Eine der Operationen kann „Einfügen von Wörtern in Sätze“ heißen. Sie kann genauer bestimmt werden, indem die Art des Satzes als Aussagesatz festgelegt wird. Als Beispiel soll Satz (1) gelten. Eingefügt werden Wörter wie auch, sogar, nur, schon, gern, oft, selten, usw. Es kann geprüft werden, an welchen Stellen in einem Satz (la) diese Wörter eingefügt werden können. (1) a. Inge liest den Spiegel. b. Auch Inge liest den Spiegel. c. Inge liest auch den Spiegel. d. Inge liest den Spiegel auch. Wird dieselbe Operation mit den Wörtern sogar, nur, gern, oft ausgeführt, stellen die Schüler fest, dass mit sogar und nur analoge Sätze zu (1b) und (lc), nicht aber zu (Id) gebildet werden können. Gern und oft dagegen sind an die Stelle von auch in die Sätze (lc) und (Id) integrierbar, nicht aber in (lb). Sie erkennen daraus, dass diese Wörter, die sie wahrscheinlich als Adverbien kennen, offenbar verschiedenen Teilklassen angehören, da sie unterschiedlich verwendet werden. Wie schwierig die Kategorisierung von Wörtern manchmal ist, erfahren Kinder, wenn sie sich an dieser Aufgabe selbst versuchen und feststellen, dass ein Teil der Wörter gut in die betreffenden Kategorien passt, einige aber weniger gut. Menzel und Eisenberg setzen sich also für die induktive und prozessorientierte Methode beim Erlernen der Grammatik ein. Die Schüler 558 Ursula Brauße sollen sich an der Aufstellung der grammatischen Kategorien beteiligen und nicht nur die Resultate dieser Prozesse kennen lernen. Der Unterricht sollte wie bei den Naturwissenschaften in die Wissenschaft der Sprache einfuhren und nach der Methode Vorgehen: beobachten, beschreiben, vergleichen, zusammenfassen, kategorisieren. So kann ein kritisches Bewusstsein von Sprache entstehen. Schüler erhalten so Einsichten in die Methoden, die zu den Teilsystemen einer Grammatik führen, und mit deren Kontrolle auch die Möglichkeit, selbstständig grammatische Zweifelsfälle zu klären. Auf dem gleichen Wege des Entdeckens können in der Grundschule Satzglieder ermittelt werden. Für das 7./ 8. Schuljahr werden Übungen zur Stellung der Satzglieder im Satz vorgeschlagen, um sich der Bedeutung der Positionen im Satz bewusst zu werden. Dabei können Schüler im Kontext von Frage und Antwort unterschiedliche Hervorhebungsstrategien erkennen. 3. Grammatik im Vergleich der Sprachen Um die Motivation für eine Beschäftigung mit den Regeln der eigenen sowie der fremden Sprachen zu fördern, ist der Fremdsprachenunterricht, der ja heute schon relativ früh einsetzt, eine geeignete Hilfe. Besonders dann, wenn so oft wie möglich und notwendig darauf hingewiesen wird, wann Sprachen zum Ausdruck gleicher Inhalte bzw. gleicher grammatischer Funktionen gleiche Mittel verwenden und wann sie andere Möglichkeiten haben. Ein guter Fremdsprachenlehrer hat das schon immer getan. Eine solche vergleichende Methode schärft den Blick dafür zu erkennen, welche Eigenschaften den Sprachen gemeinsam sind und welche spezifische Eigenschaften einer einzelnen Sprache, z.B. des Deutschen oder des Französischen, sind. Zu erkennen, dass die Sprache als ein Mittel menschlicher Kommunikation in ihren verschiedenen Ausprägungen weitgehend gleiche Funktionen zu erfüllen hat, dies aber mit unterschiedlichen Mitteln tut, ist eine wichtige theoretische Erkenntnis, die sich aus der praktischen Beschäftigung mit den Fremdsprachen ergibt. Es ist deshalb kein Argument gegen den Grammatikunterricht (Ingendahl 1999, S. 229), wenn die einzelnen Sprachen nach unterschiedlichen Regeln für die gleiche grammatische Kategorie, z.B. die Kongruenz, strukturiert sind, s. Beispiel (3). Im Fremdsprachenunterricht zeigt sich, dass die Sprachen sich nicht nur in ihrem Wortschatz unterscheiden. Andererseits stellen die Schüler auch fest, dass die anderen europäischen Sprachen, mit denen sie in der Schule in Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 559 Kontakt kommen, in vieler Hinsicht vergleichbar aufgebaut sind. Man trifft auf die gleichen Wortarten: Substantiv, Verb, Adjektiv, Artikel, Pronomen etc. Der einfache Aussagesatz besteht aus einem Subjekt und einem Prädikat, er ist erweiterbar zu einem komplexen Satz, und es gibt verschiedene Satzarten wie den Aussagesatz, verschiedene Fragesatztypen sowie den Aufforderungssatz und den Ausrufesatz. Indem sie eine fremde Sprache lernen, wird den Lernenden vor Augen geführt, dass neben den Gemeinsamkeiten im Aufbau von Sprachen diese sehr unterschiedliche Möglichkeiten haben, wie die einzelnen Elemente sich zu einer sinnvollen Äußerung verbinden. Dies ist nun der Moment, in dem Schülern der praktische Nutzen der Kategorienbildungen, die sie bisher eher theoretisch im Grammatikunterricht gelernt haben, bewusst werden kann. Es ist nützlich zu wissen, was ein Nomen, ein Verb, ein Adjektiv, ein Adverb etc., was ein Subjekt, ein Prädikat etc. ist. Man muss es z.B. wissen, wenn man die Satzstellungsregeln der Fremdsprache lernen will. So ist im Zusammenhang mit dem Adjektiv, dessen Funktionen aus dem deutschen Grammatikunterricht schon bekannt sind, für das Französische zu lernen, dass abweichend vom Deutschen und auch vom Englischen die meisten attributiv gebrauchten Adjektive nach dem Nomen stehen, z.B. (2) frz. une chanson frariQaise dt. ein französisches Lied engl, a French song Zu lernen ist weiterhin als Ausnahme die Gruppe der französischen Adjektive, die vor dem Nomen stehen, wie grand, petit, jeune, vieux, bon, mauvais, beaujoli, gros, haut. Eine weitere Gruppe kann entweder voran- oder nachgestellt werden, wobei der Stellungswechsel mit einer Bedeutungsveränderung verbunden ist. Dazu gehören ancien, eher, grand, nouveau, pauvre u.a. Abweichend vom Deutschen ist auch die Kongruenzregel für das französische Adjektiv. Es richtet sich nicht nur im attributiven, sondern auch im prädikativen Gebrauch in Genus und Numerus nach dem Nomen, das es näher charakterisiert. Dabei hat das Adjektiv, das sich auf mehrere Nomen mit verschiedenem Genus bezieht, die maskuline Form Plural, also: (3) a. Laurent, Sophie et Yasmina sont gentils. b. Sophie et Yasmina sont gentilles. 560 Ursula Brauße An diesen einfachen Fällen elementarer Satzbildung zeigt sich bereits, dass Fremdspracheniemende im Unterricht nicht ohne ein grammatisches Grundwissen auskommen. Es ist jedenfalls hilfreich. Methoden, die ohne die Beschreibung fremdsprachiger Strukturen auskommen wollten, werden heute verworfen. Die Beschreibung des Gebrauchs der Adjektive im Französischen erfordert bereits mindestens die Verwendung der Begriffe Adjektiv, Nomen, attributiver Gebrauch, prädikativer Gebrauch sowie Genus und Numerus, um zu bestimmen, in welchen Punkten der Gebrauch französischer Adjektive von dem deutscher Adjektive abweicht. Wenn im Fremdsprachenunterricht die Adverbien behandelt werden, erfahren die Schüler, dass bereits die Klassifikation der Grundwortarten für die verschiedenen Sprachen nach unterschiedlichen Kriterien erfolgt. Im Französischen wie auch im Englischen wird der Form nach zwischen ursprünglichen und abgeleiteten Adverbien unterschieden. Abgeleitete Adverbien sind diejenigen, die im Französischen durch das Anhängen von -ment, im Englischen von -ly aus Adjektiven abgeleitet werden (5b) und (6b). Im Deutschen wird gefährlich sowohl in (4a) als auch in (4b) als Adjektiv kategorisiert. In beiden Verwendungen ist es der Form nach gleich. Die Differenzierung erfolgt auf Grund unterschiedlicher Funktionen, in (4a) wie ein Adjektiv zur näheren Charakterisierung der Nominalphrase, in (4b) wie ein Adverb zur näheren Charakterisierung der Verbalphrase. (4) a. Dieser Mann ist gefährlich. b. Er lebt gefährlich. (5) a. Cet komme est dangereux. b. II vit dangereusement. (6) a. This man is dangerous. b. He lives dangerously. Wenn den Schülern vielleicht im Grammatikunterricht für das Deutsche die Unterscheidung zwischen dem Gebrauch dieser Wörter als Adjektive und als Adverbien als rein theoretisch und überflüssig erscheinen mag, dann erkennen sie im Fremdsprachenunterricht die Wichtigkeit und Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung. Ein anderes sprachliches Ausdrucksmittel, dessen Bedeutung Schülern auch im Vergleich des Deutschen mit anderen Sprachen veranschaulicht werden kann, ist die Hervorhebung. Dieses Mittel steht nicht so sehr im Zentrum des deutschen Grammatikunterrichts, es wird aber zum Thema, wenn die Mittel Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 561 der Hervorhebung im Französischen behandelt werden. Während im Deutschen die Stellung im Satz und der Satzakzent bzw. die Betonung die Mittel zur Hervorhebung sind, haben im Französischen die Hervorhebungselemente c'est ... qui, c'est ... que diese Funktion. (7) a. Jean wohnt in Paris. b. C'est Jean qui habite ä Paris. In diesem Zusammenhang lassen sich die Funktionen des Satzakzents, die dem Muttersprachler nicht so deutlich zum Bewusstsein kommen, leichter veranschaulichen. Auch die Mittel zur Kennzeichnung der Satzarten differieren zwischen den Sprachen. So lernen Französischschüler z.B. häufiger die Satzmuster des französischen Fragesatzes, ohne die korrespondierende Satzintonation zu treffen, was auch schwieriger ist. Im Vergleich zum Deutschen ist die Inversion von Subjekt und Prädikat in Kombination mit der steigenden Frageintonation nicht so häufig. Der häufigste Fragetyp zum Ausdruck einer neutralen Gesamtfrage ist die sogenannte Intonationsfrage mit Frageintonation und der Wortstellung des Aussagesatzes: (8) a. Wird Luc Paris verlassen? b. Luc va quitter Paris? Dieser französische Fragesatztyp hat eine formale Entsprechung im Deutschen mit Aussagesatzstellung und Frageintonation: (8) c. Luc wird Paris verlassen? Dazu muss man aber deutlich machen, dass die formale Gleichheit von französischem (8b) und deutschem Fragesatztyp (8c) nicht mit einer inhaltlichen Übereinstimmung korrespondiert. Der deutsche Fragesatztyp mit Aussagesatzstellung drückt anders als im Französischen keine neutrale Frage aus, sondern eine Frage, die in der Annahme gestellt wird, dass eine positive Antwort zu erwarten ist, also (9) Ja, Luc wird Paris verlassen. Eine Frage dieses Typs, die schon eine Annahme in der einen oder anderen Richtung voraussetzt, wird meist als tendenzielle Frage bezeichnet. Für die neutrale Frage wird eine solche Annahme, dass die Jabzw. Nein-Antwort wahrscheinlicher ist, nicht gemacht. 562 Ursula Brauße 4. Sprachdidaktik und Grammatikforschung Die oben genannten Beispiele dafür, dass der Nutzen von Grammatikkenntnissen beim Spracherwerb nicht nur erkannt ist, sondern dass auch seit ca. 1970 verstärkt daran gearbeitet wird, Ergebnisse der Grammatikforschung für den Schulunterricht und damit über den engen Fachbereich hinaus bekannt zu machen, können doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine wünschenswerte Zusammenarbeit von Sprachdidaktik und Linguistik, insbesondere Grammatikforschung, weiterhin ein Desiderat ist. Die Ursachen für das zu beobachtende Auseinanderdriften von linguistischer Forschung einerseits und Sprachunterricht in der Schule bzw. Sprachdiskussion in der Öffentlichkeit andererseits wurden z.B. in Peyer/ Portmann (1996) diskutiert. In diesem Sammelband werden vorrangig die Defizite auf Seiten der linguistischen Forschung zum Thema gemacht. So wird festgestellt, dass Sprachdidaktik von der Linguistik aus gesehen nicht den Status so genannter Bindestrich-Linguistiken wie z.B. Sozio- oder Psycholinguistik erreicht hat. „Ein entsprechender genuin linguistischer Forschungsbereich, der sich mit Fragen von Sprache und Kommunikation im Schulbereich befasst etwa unter der Bezeichnung Schul-Linguistik existiert nicht.“ (Peyer/ Portmann 1996, S. 37-38). Zwar gibt es Berührungspunkte zwischen Linguistik und Schule, aber bezeichnenderweise werden sie nicht als forschungsrelevant anerkannt. Außerdem ist die Beziehung zwischen Linguistik und schulischer Praxis asymmetrisch. Schulbücher z.B. orientieren sich am jeweiligen Stand des linguistischen Wissens. So tauchen linguistische Gegenstände wie textlinguistische und pragmatische Fragestellungen in Lehrbüchern auf. Es entsteht aber der Eindruck, dass bei der Erarbeitung der Lehrbuchkonzepte zu häufig der Beitrag von Fachleuten der Wissenschaft und dem von Fachleuten der Praxis ungenügend verzahnt ist. Auch der Einfluss der wissenschaftlichen Linguistik auf die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte für den Deutschunterricht sowie auf die Ausarbeitung der Lehrpläne ist oft problematisch. Breindl (2003) und andere weisen darauf hin, dass im DaF-Unterricht wie im muttersprachlichen Deutschunterricht übrigens auch ein Wechsel zu einem kommunikativen Paradigma erfolgt ist zu Ungunsten der systematischen Grammatik, die allenfalls als „Dienerin“ kommunikativer Intentionen eine Rolle spielen darf. Die Folge Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 563 sei ein methodologisches und modelltheoretisches Stückwerk, das viele Lehrer verunsichert hat. Gibt es auf der anderen Seite einen Forschungsgegenstand, den die schulische Praxis in die Linguistik einbringen kann? Was könnten mögliche Gegenstände einer Schul-Linguistik sein? Peyer/ Portmann (1996) nennen einige mögliche Fragestellungen im Rahmen einer Schul-Linguistik zur Sprache als Lemgegenstand und zum Spracherwerb: - Wie wirken sich konkurrierende linguistische Modelle, z.B. von grammatischen Kategorien, auf das Verständnis aus? - Was tragen Alltagstheorien über Sprache zur schulischen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Sprache bei? - Gibt es für einzelne Bereiche des Sprachunterrichts linguistisches Basiswissen, das als anerkannt gelten kann? - Was ist gesichertes Wissen über den Verlauf des gesteuerten wie ungesteuerten Zweitspracherwerbs in der Schulzeit, insbesondere in der Adoleszenz? Wie verhält er sich zum frühen Spracherwerb? - Was ist bekannt über die Entwicklung von language awareness oder über die Fähigkeit zu Abstraktion und Reflexion über die unmittelbar gegebene sprachliche Situation? Da es nicht nur um eine vereinfachende Darstellung der wissenschaftlichen Fragestellungen geht, sondern um die Überwindung der Verständnisschwierigkeiten zwischen Linguistik und Schulpraxis, um die bessere Verbindung der konkreten Fragen, die sich im Schulalltag stellen, mit theoretischen Erörterungen und Reflexionen über Sprache, steht die Entwicklung des Gegenstandsbereichs Schul-Linguistik noch vor einer großen Aufgabe. Als ein Beispiel dafür, wie kompliziert selbst die Verständigung zwischen den verschiedenen Richtungen innerhalb des umfassenderen Forschungsbereichs Linguistik ist, kann das Buch von Ingendahl (1999) angesehen werden. Ingendahl wendet sich dezidiert gegen Grammatikunterricht in der Schule, weil damit kein dauerhaftes Wissen erworben werde, auch Anwendungsmöglichkeiten dafür nicht bekannt seien, der Unterricht zudem unangenehm sei. Wenn Befragte eine positivere Einstellung zu grammatischen Kenntnissen äußerten, merkten sie seiner Meinung nach nicht, wie diese ihren eigenen Erfahrungen widerspricht. 564 Ursula Brauße Er gibt Beispiele für misslungenen Unterricht in der Schule, für das Konzept der Grammatik-Werkstatt hat er nur Spott übrig (S. 7f.), und was die Grammatikforschung betrifft, so erklärt er, dass die Grammatiker sich ihre Probleme selbst schaffen müssten, denn bei Fragen der Sprachpraxis könnten sie nicht helfen. Wie sich zeigt, ist sein Bild dieses Wissensgebietes geprägt von einem Gegensatz zwischen Grammatikern und durch diese beeinflussten Deutschlehrern, die eine „stupide Grammatik-Indoktrination“ betrieben (S. 76), und der von ihm befürworteten theoretischen Sprachreflexion. Merkwürdig, dass auch unter Wissenschaftlern ein so eingeengter Begriff von Grammatik als Sammlung stupider Regeln überlebt hat, wo doch seit jeher Grammatik auch als Synonym für weit gefasstes Wissen über Sprache gebraucht wird. Dass außerdem dieses Wissen für Fachwissenschaftler in anderer Form erscheinen muss als für Grundschulkinder, sollte ja nicht so erstaunlich sein. Eine Kritik an linguistischen Forschungsergebnissen des Inhalts, dass sie nicht in Schullehrbücher passen, ist doch überraschend. Seine Konzeption von Sprachreflexion versteht Ingendahl als Gegenmodell zum Grammatikunterricht, wie er ihn sieht. Seine Beispiele für Ansätze theoretischer Sprachreflexion (S. 153ff.) machen jedoch den Eindruck, als ginge es ihm dabei um eine kindgerechte und nach Alter gestaffelte Einführung in die Reflexion über Sprache, die schließlich auch zu sprachwissenschaftlichen Fragestellungen hinführt und zu grammatischen Begriffen wie Wortart, Nebensatz und darüber hinaus zu Fragestellungen der Pragmatik, der Gesprächsanalyse u.a. Das gleiche Ziel aber verfolgen auch Grammatiker und Sprachdidaktiker, die Ingendahl kritisiert hatte; sein Konzept ist daher als Gegenentwurf nicht recht erkennbar. Es wird vielmehr deutlich, dass es eine beträchtliche Zahl von Ansätzen gibt, den in der bisherigen Form ungeliebten Grammatikunterricht in der Schule in dem Sinne zu reformieren, dass er Schülern einen Erkenntnisgewinn bringt, dass sie den Nutzen mindestens für den Fremdsprachenunterricht erkennen und darüber hinaus möglichst einige Einsichten in das Funktionieren von Sprache gewinnen. Es wäre sogar möglich, Schülern in geeigneter Form Einblick in den Forschungsgegenstand wissenschaftlicher Linguistik zu geben. Sie könnten erfahren, warum detailliertere Kenntnisse vom Funktionieren der Sprache als Grundlagenwissen, z.B. für didaktische Zwecke, für Computeranwendungen und für die kognitive Psychologie, gebraucht werden. Sie wüssten dann. Grammatik, ein verkanntes Wissensgebiet 565 welche Eigenschaften von Sprache noch zu wenig bekannt sind und warum Forscher sie untersuchen. Der auch bei interessierten Laien verbreiteten Unkenntnis über den Gegenstand der Sprachwissenschaft könnte so entgegengewirkt werden. 5. Literatur Boettcher, Wolfgang/ Sitta, Horst (1978): Der andere Grammatikunterricht. München: Urban & Schwarzenberg. Breindl, Eva (2003): Lemergrammatik: Und was ist mit den Lehrern? In: Wolff, Armin/ Riedner, Ursula Renate (Hg.): Grammatik - Vermittlung - Literaturreflexion - Wissenschaftspropädeutik - Qualifizierung für eine transnationale Kommunikation. Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache. (= Materialien Deutsch als Fremdsprache 70). S. 202-223. Eichler, Wolfgang (1994): Grammatikunterricht. In: Lange, Günter/ Neumann, Karl/ Ziesenis, Werner (Hg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts, Bd.l. Baltmannsweiler: Schneider. S. 252-284. Eisenberg, Peter/ Menzel, Wolfgang (1995): Grammatik-Werkstatt. In: Praxis Deutsch 129, S. 14-66. Ermert, Karl (Hg.) (1982): Wieviel Grammatik braucht der Mensch? Aufgaben, Konzeptionen und Probleme der Sprachdidaktik im Deutschunterricht. Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum vom 5. bis 7. November 1982. Loccum: Evangelische Verlagsanstalt. (= Loccumer Protokolle 27). GRAMMIS. Grammatisches Informationssystem des IDS Mannheim. http: / / www. ids-mannheim.de/ grammis. Ingendahl, Werner (1999): Sprachreflexion statt Grammatik. Ein didaktisches Konzept für alle Schulstufen. Tübingen: Niemeyer. Menzel, Wolfgang (1999): Grammatik-Werkstatt. Theorie und Praxis eines prozessorientierten Grammatikunterrichts für die Primär- und Sekundarstufe. Seelze- Velber: Kallmeyer. Peyer, Ann/ Portmann, Paul R. (Hg.) (1996): Norm, Moral und Didaktik. Die Linguistik und ihre Schmuddelkinder. Tübingen: Niemeyer. Sick, Bastian (2004): Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod. Ein Wegweiser durch den Irrgarten der deutschen Sprache. Köln: Kiepenheuer & Witsch und Hamburg: SPIEGEL ONLINE GmbH. Ulrich, Winfried (2001): Didaktik der deutschen Sprache. Ein Arbeits- und Studienbuch in drei Bänden. Bd. 3: Grammatikunterricht/ Sprachbetrachtung/ Sprachreflexion. Stuttgart: Klett. S. 9-100. 566 Ursula Brauße Zifonun, Gisela (1994): Die „Grammatik des heutigen Deutsch“. Erkundungen zu einem verkannten Wissensgebiet. In: Sprachreport 1/ 94, S. 1-3. Zifonun, Gisela/ Hoffmann, Ludger/ Strecker, Bruno et al. (1997): Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für deutsche Sprache 7.1-7.3). Klaus Vorderwülbecke Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 1. Vorspann Der Untertitel „Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik“ ist eigentlich nicht explizit genug. Es geht hier um ein Plädoyer für mehr Berücksichtigung der Prosodie und allgemeiner der gesprochenen Sprache. Das Ziel ist, die Beschreibung von Sprachsystem und Sprachverwendung enger aufeinander zu beziehen und so beide Aspekte von sprachlichen Erscheinungen umfassender und adäquater zu beschreiben. Prosodie umfasst die lautliche Strukturierung (Tonhöhenverläufe, Akzente) von Intonationsphrasen und den durch Pausen, Lautstärke und Sprechgeschwindigkeit entstehenden Sprechrhythmus. Unter gesprochener Sprache soll Folgendes verstanden werden: Gesprochene Sprache bezeichnet die verbalsprachlichen Anteile der mündlichen Kommunikation einschließlich aller bedeutungstragenden stimmlichen und prosodischen Erscheinungen. (Duden 2005, S. 1182) Ich möchte zunächst in zwei Sprüngen einen kurzen Blick zurückwerfen auf frühere Grammatiken bzw. Beschreibungen des Deutschen, um zu sehen, ob und wie die gesprochene Sprache berücksichtigt wurde oder ob zumindest etwas zur „Lautlehre“, also zu Phonetik und Phonologie enthalten ist. Dann möchte ich exemplarisch einige grammatische Erscheinungen beschreiben, die durch Untersuchungen der prosodischen oder intonatorischenVerhältnisse die Schriftsprache-Grammatik ergänzen, präzisieren oder auch korrigieren können. Schließlich soll diskutiert werden, ob eine integrative oder eher eine additive Beschreibung der gesprochenen Sprache im Rahmen einer Grammatik des Deutschen möglich bzw. besser ist. 2. Was bisher geschah Die Grammatiken, die nach 1945 erschienen sind, haben manchmal ein eigenes Kapitel zum Bereich Laut/ Lautstruktur/ Lautlehre, das sich aber i.d.R. auf die Segmentalia beschränkt und damit nur einen kleinen Teil dessen berücksichtigt, was gesprochene Sprache ausmacht. In der Duden-Grammatik erscheint ein solches Lautkapitel seit der ersten Nachkriegsauflage. (Wenn im Folgenden zwei Auflagen angegeben werden, wird aus der neuesten zitiert.) 568 Klaus Vorderwülbecke In „Die innere Form des Deutschen“ (1952) diskutiert Hans Glinz im vorbereitenden Teil das Gegensatzpaar Langue und Parole, versucht aber nicht, die Grenzen zwischen beiden zu definieren, „weil es uns nicht um die Grenze der Langue gegenüber der Parole geht, sondern um die Stellung der Grammatik innerhalb der Langue“ (S. 39). Obwohl er immerhin den Satz als „kleinste Sprecheinheit“ (S. 74) bezeichnet, liefert für ihn die Beobachtung des Klanges nur „Einheiten der Parole, noch nicht der Langue. Sie fuhren noch nicht an den Kern der Sprache selbst“ (S. 46). Für ihn ist der Gegenstand der Grammatik „die Erforschung und Deutung der sprachlichen Zeichen nach ihrer Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien und nach ihrer Funktion in Zeichenverbindungen“ (S. 40). Das 1971 in der 2. Auflage (1. Aufl. 1962) erschienene Werk „Die deutsche Sprache“ von Henning Brinkmann enthält nicht nur im Rahmen der Satzbeschreibung ein Unterkapitel zur Intonation, sondern auch ein großes Hauptkapitel „Die Rede“ mit einem Umfang von 183 Seiten. Dort tauchen sehr modern klingende Einheiten wie „Redefolge“, „Sprechsituation“, „Gesprächswörter“, „Der Aufbau eines Gesprächs“, und „Kontaktgespräche“ auf. Auch wenn sich das Buch stark auf dialogische Teile in literarischen Texten bezieht, die wir heute nicht zur gesprochenen Sprache, sondern zur sekundären Mündlichkeit rechnen würden, enthält das Quellenverzeichnis doch eine stattliche Zahl von Beispielen der Alltagskommunikation (z.B.: „Unterhaltung am Neujahrsabend 1965 bei einer Feuerzangenbowle“, „Kaufgespräch in einem Warenhaus“ und ein Femsehinterview zwischen Friedrich Luft und Max Frisch). In der „Deutschen Grammatik“ (1970) von Helbig/ Buscha spielt weder die Lautlehre noch die gesprochene Sprache eine Rolle, obwohl das für die Zielgruppe („Ein Handbuch für den Ausländerunterricht“) sicher sehr hilfreich gewesen wäre. Auch in Erbens „Deutsche Grammatik - Ein Abriß“ (1972) ist die segmentale und die suprasegmentale Phonologie vollkommen ausgespart. Das trifft auch auf Engels „Syntax der deutschen Gegenwartssprache“ (1977) zu, was aufgrund des Titels nicht anders zu erwarten ist; allerdings auch auf seine „Deutsche Grammatik“ (Engel 1988). Das 1981 erschienene Werk „Grundzüge einer deutschen Grammatik“ (Heidolph/ Flämig/ Motsch) beschäftigt sich ausführlich mit der segmentalen Phonologie (88 Seiten). Das in unserem Kontext Wichtigste ist aber, dass auch Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 569 die suprasegmentale Phonologie im Kapitel „Phonologie: Intonation“ (57 Seiten) behandelt wird. Es werden nicht nur die phonetisch-phonologischen Bedingungen der Intonation beschrieben, sondern auch „Die Beziehungen zwischen Intonation und Syntax“ (S. 857-879), sowie „Spezifische syntaktische Funktionen der Intonation“ (S. 879-897). Das ist ein großer Schritt vorwärts auf dem Weg zur Inkorporation der gesprochenen Sprache in den Beschreibungskanon von Grammatiken, der aber in späteren Grammatiken nur teilweise aufgenommen wurde. Hentschel/ Weydt („Handbuch der deutschen Grammatik“, 1990, 3 2003) diskutieren in einem einleitenden Kapitel („Was ist Grammatik? “) die einzelnen Ebenen der Beschreibung vom Laut bis zum Text und generell den Gegenstandsbereich der Grammatik. Sie bleiben in ihrer Beschreibung aber doch bewusst bei den „primären Formen des Deutschen im traditionellen Sinn (...)“, also bei der Satzgrammatik (10). Die „Textgrammatik der deutschen Sprache“ (1993) von Harald Weinrich u.a. beschäftigt sich ausführlich mit der „Syntax des Dialogs“, weil der Dialog als „prototypisch für den Gebrauch der Sprache in mündlichen Sprachspielen“ angesehen wird. Im Einzelnen werden behandelt: der Dialogkontakt (Gruß und Anrede, Höflichkeitsformeln, ...), Affirmation und Negation (nein, nicht, kein, Negationspronomen, -Adverbien, -Junktoren, ...), Frage und Antwort (Geltungsfragen, rhetorische Fragen, ...) und Redewiedergabe (indirekte Rede, erlebte Rede). Bei den verwendeten Belegen überwiegen hier jedoch die expositorischen und literarischen gegenüber den dialogischgesprochensprachlichen (fünf gegenüber zwei). Die vielen Beispiele sind allerdings gut gewählt und haben oft durchaus spontansprachlichen Charakter. Die zweibändige Ausgabe von Eisenbergs „Grundriß der deutschen Grammatik“ enthält im Teilband „Das Wort“ (1998) neben Kapiteln zur Flexion, Wortbildung und Orthografie eine umfangreiche (110 Seiten) Beschreibung des Deutschen auf segmentaler Ebene (Die phonetische Basis, Segmentale Phonologie: Phoneme) und einen Teil des suprasegmentalen Bereichs (Silben, Fußbildung, Wortakzent). Dieser Band bleibt damit aber gemäß dem Titel im Bereich der systematischen Grammatik und lässt sich nicht weiter auf die gesprochene Sprache ein. Auch der zweite Teilband „Der Satz“ (1999) bleibt mit der ausschließlichen Beschreibung der Morphosyntax der geschriebenen Sprache verpflichtet. Die einbändige Ausgabe (1986) enthält kein Kapitel zur Lautlehre. 570 Klaus Vorderwülbecke Die „Grammatik der deutschen Sprache“ (GDS) (Zifonun et al. 1997) geht in der Inkorporation des Beschreibungsgegenstandes gesprochene Sprache deutlich über die vorangegangenen Grammatiken hinaus. Die GDS reklamiert für sich, die gesprochene Sprache angemessen zu berücksichtigen (S. 2). So wird z.B. die Intonation als grammatisches Mittel betrachtet und bei der Bestimmung der Satztypen mit einbezogen. Durchgängig werden immer auch Beispiele aus Korpora der gesprochenen Sprache verwendet. Der auffälligste Unterschied zu allen anderen vorangegangenen Grammatiken ist die explizite Beschreibung der gesprochenen Sprache im Kapitel „Diskurs und Mündlichkeit“, in dem die „Inventare des Sprechens“ Laut und Silben und Intonation (mit den Untereinheiten Töne und Tonmuster, Akzent, Pausen und Grenzsignale) ausführlich (86 Seiten! ) beschrieben werden. Die zu didaktischen Zweck erstellten (Pädagogischen) Grammatiken, z.B. für den DaF-Unterricht, sind ähnlich wie die Grammatik von Helbig/ Buscha - Schriftsprache-Grammatiken geblieben, obwohl seit Ende der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts unter dem Schlagwort der kommunikativen Kompetenz die gesprochene Sprache als oberstes Lemziel etabliert ist. Die neueste untersuchte Grammatik, nämlich die 7. Aufl. der Duden-Grammatik von 2005, stellt eine grundsätzliche Neuerung in Bezug auf ihre inhaltliche Tradition dar: sie enthält neben einem Kapitel zu Phonem und Grafem sowie zur Intonation ein eigenes Kapitel zur gesprochenen Sprache. In diesem Kapitel (Autor: Reinhard Fiehler) werden folgende Bereiche behandelt, die auch den Versuch darstellen, genuin gesprochensprachliche Kategorien (als Gliederungseinheiten) zugrunde zu legen: - Grammatik gesprochener Sprache - Das Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache - Grundbedingungen mündlicher Verständigung - Methodik der Untersuchung gesprochener Sprache - Besonderheiten gesprochener Sprache - Das Gespräch - Der Gesprächsbeitrag - Die Gesprächsform - Mündliche Varietäten - Entwicklung der gesprochenen Sprache Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 571 Trotz dieser von schriftsprachlichen Kategorien deutlich abweichenden Einteilung wird einleitend konstatiert: Viele sprachliche Regularitäten insbesondere im Bereich des Wortes, aber auch der Verknüpfung von Wörtern (Syntax) gelten sowohl für die geschriebene wie für die gesprochene Sprache. Dieses Kapitel beschränkt sich darauf, die spezifische Funktionsweise mündlicher Verständigung und die Besonderheiten gesprochener Sprache darzustellen, (ebd., S. 1175) Unter den Besonderheiten gesprochener Sprache werden ohne erhobenen Zeigefinger u.a. Erscheinungen wie die Verbzweitstellung nach weil, obwohl, wobei beschrieben oder Eigennamen mit Artikelwort (Da kommt der Hans\ ebd., S. 1218ff, 1226). Zentral ist aber die Beschreibung von Gespräch, Gesprächsbeitrag und Gesprächsform mit vielen authentischen gesprochensprachlichen Belegen. So weit der Überblick über die Zeit nach 1945. Geht man weiter zurück in der Geschichte der Beschreibung des Deutschen, dann stößt man auch schon vor über hundert Jahren bei Grammatikern auf Interesse an der gesprochenen Sprache. Otto Behaghel (1900) setzt sich in einem Festvortrag vor dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein mit dem Thema „Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch“ auseinander. Zu Beginn beklagt auch er eine lang andauernde, mangelnde Berücksichtigung der gesprochenen Sprache, die er zunächst als Mundart und später als Umgangssprache bezeichnet: Wenn in den letzten Jahrhunderten von deutscher Sprache geredet wurde, wenn angesehene Gesellschafften [sic! ] der deutschen Sprache ihre Pflege widmeten, wenn Lehrgebäude und Wörterbücher der deutschen Sprache entstanden, so war es die vornehme, würdevolle, streng abgemessene Sprache der Schrift, des Buches, die man im Auge hatte, die Sprache derer, die vielbewundert auf den Höhen der Litteratur [sic! ] sich bewegten. Nur selten geschieht es in früheren Zeiten, dass einmal ein Forscher dem seine Aufmerksamkeit schenkt, was tief unten in den Niederungen sich zuträgt, dass er auf das Leben der Mundart achtet, von ihren Lauten und Formen, ihren seltsamen Wörtern im Vorbeigehen Kunde gibt. (S. 213) In Behaghels Beschreibung der Umgangssprache kommen schon sehr modern klingende Themen vor wie z.B. Körpersprache (S. 215), die Rede als gemeinsames Erzeugnis von Sprecher und Hörer (S. 217), die Rolle des Gedächtnisses in der mündlichen Rede (häufige Wiederholungen oft formgleich häufige thematische Änderungen, S. 217), ein besonderer Gebrauch 572 Klaus Vorderwülbecke von Indikativ- und Konjunktivformen sowie der Zeitenfolge, das Verschwinden des Genitivs, eine Zurücknahme von Nebensätzen zugunsten gereihter Hauptsätze (S. 222), eine andere Wortstellung bei „den Bestimmungen des Zeitworts“ (als er auf dem Gipfel des Berges ankam —> als er ankam auf dem Gipfel des Berges, S. 223). All das veranlasst ihn zu der bissigen Bemerkung: „So lässt sich denn in syntaktischen Dingen gelegentlich wahrnehmen, dass die Weisheit der Grammatiker um Jahrhunderte nachhinkt hinter dem, was wirklich Sprachgebrauch ist“ (S. 219). Von diesen Überlegungen ist in sein Buch „Die deutsche Sprache“ (1886) auch in späteren Auflagen nach 1900 in einem kleinen Kapitel („Die sachlichen Verschiedenheiten zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache“) nur relativ wenig (vier Seiten) eingeflossen. Einige Jahre vor Behaghels Festvortrag hatte Hermann Wunderlich sein Buch „Unsere Umgangssprache in der Eigenart ihrer Satzfügung“ (1894) veröffentlicht. Obwohl Wunderlich überwiegend dialogische Beispiele aus der Literatur vor allem aus Theaterstücken zugrunde legt, „wo diese Fügungen des täglichen Lebens darzubieten“ schienen, kommt er trotz dieser aus heutiger Sicht problematischen Datenbasis zu Gegenständen und Erkenntnissen, die durchaus modern sind. Im Rahmen des Kapitels „Die Eröffnungsformen des Gesprächs“ (! ) behandelt er die Interjektionen und beschreibt in blumiger Sprache die Probleme, die die Grammatiker damit haben: „sind es doch Fremdlinge, die dem lebendigen Fluss der Rede entspringen und nur gelegentlich auch in den Ziergarten der Schrift gespült werden“ (S. 24). Weitere Themen sind: ja und nein, Anredeformen, Grußformeln, redebegleitende oder -ersetzende Gestik/ Mimik, Einsparungen bei Verb und Pronomen sowie Wiederholungen und Neuansätze. Diese und ähnliche Gegenstandsbereiche der gesprochenen Sprache haben offensichtlich in der Folgezeit nicht mehr viel Beachtung gefunden. Hermann Paul nimmt im ersten Band seiner „Deutschen Grammatik“ (1916) nur die Lautlehre auf, allerdings mit 239 Seiten sehr umfangreich. Die Unterthemen sind neben Vokalen und Konsonanten u.a.: Orthografie, Silbentrennung und Akzent (inklusive Satzakzent! ). Auch die im zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts einsetzende inhaltsbezogene Sicht der Sprache bzw. der amerikanische Strukturalismus haben sich für die gesprochene Sprache kaum interessiert. Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 573 Fazit: Der Rückblick hat ein sehr uneinheitliches Bild ergeben. Es gab Grammatiken, die weder die Lautseite noch allgemeiner die gesprochene Sprache zum Gegenstand gemacht haben, und solche, die nur einen der beiden Bereiche, aber nur ganz wenige, die beide berücksichtigt haben. Wenn Laute und Phonologie beschrieben wurden, hieß das aber meist nicht, dass die Grammatiken auf expliziten Untersuchungen der gesprochenen Sprache oder gar auf authentischen Daten beruhten. Dort, wo Aspekte der gesprochenen Sprache aufgenommen werden, wurden prosodisch-intonatorische Erscheinungen meist nicht mit einbezogen. Die Ausnahme sind wie oben beschrieben die GDS und die entsprechenden Kapitel der Duden-Grammatik von 2005. In aller Regel waren die Beschreibungen der gesprochenen Sprache in den Grammatiken, die sich umfassender mit ihr beschäftigt haben, in eigenen Kapiteln ausgelagert. Das wirft die Frage auf, ob und wie weit die Beschreibung beider Erscheinungsformen der Sprache integrativ geleistet werden kann. Zunächst folgen aber einige Beispiele dafür, wie eine stärkere Berücksichtigung der Prosodie und damit auch von rhythmischen Erscheinungen die grammatische Beschreibung bereichern und präzisieren kann. 3. Was in Zukunft geschehen könnte Hier sollen einige Phänomene beleuchtet werden, die z.T. in Grammatiken erscheinen, die aber durch die Einbeziehung von Prosodie und Intonation m.E. teilweise besser beschrieben werden könnten. 3.1 Modalpartikeln Die Stellung der Modalpartikeln bzw. Abtönungspartikeln (möglichst weit links im Mittelfeld, aber nach dem Subjektausdruck bzw. nach sich) ist von Thurmair (1989) und in Anlehnung daran in der GDS (S. 1541-1545) beschrieben worden. Es gibt aber offensichtlich auch prosodische Einflüsse auf das Stellungsverhalten. Manuela Moroni (ersch.) untersucht, ob und wie weit die Stellung der Modalpartikeln durch prosodische Gegebenheiten gesteuert wird. Von den untersuchten 348 Vorkommen der elf häufigsten Modalpartikeln waren 85% unakzentuiert und 15% akzentuiert. Für die unakzentuierten gilt, dass die meisten nachgestellten topikbezogen sind und die meisten vorangestellten fokusbezogen. Soweit diese Regularitäten mit den bisher formulierten Stellungsregeln übereinstimmen, bedeuten sie eine Stärkung der Regel. Aber es gibt auch Beispiele, bei denen die prosodiebasierte Regel genauer ist bzw. eine Erklärung für prima facie abweichende Positionen bietet. 574 Klaus Vorderwülbecke 3.2 Kurz vor lang Das Prinzip „kurz vor lang“ (was sich auf die Vokalquantität oder auf die Silbenzahl bezieht) ist ein genuin prosodisches. Es wird in Grammatiken kaum erwähnt, in der GDS (S. 1519f.) im Kapitel Wortstellung aber mit einigen Beispielen vorgestellt. Zusätzlich zur Regel Pronomen vor Nomen im Mittelfeld ist dieses rhythmische Prinzip eine weitere oder vielleicht sogar eine stärkere Erklärungshilfe. Das gilt vor allem, wenn zwei Pronomen adjazent stehen. Dann sind meist beide thematisch, was zwar ihre Stellung vor den rhematischen Teilen erklärt, nicht aber ihre Stellung untereinander. Die dann eintretende syntaktische Regel Akkusativ vor Dativ gilt für die Vollformen (Sie gibt es dir morgen.), nicht aber bei Klitisierung (Sie gibt dir's morgen.). Hier ist also das Prinzip kurz vor lang insofern besser, weil sie dir’s als eine Einheit ansieht. Weiter taucht dieses Prinzip auch bei der Abfolge von mehreren Adverbialia auf: gestern um halb elf, dort in Bremen und auch oft in festen Paarformeln wie Kind und Kegel, frank undfrei, gang und gäbe, pro und kontra, Wind und Wetter, Berg und Tal, er oder ich. 3.3 Die Besetzung des Mittelfeldes Die Feststellung, dass die meisten Satzkomponenten im Mittelfeld stehen, wird seit langem in Grammatiken tradiert und stimmt sicher auch für die geschriebene Sprache. Susanne Uhmann hat sich den Verhältnissen in der gesprochenen Sprache zugewandt und „Das Mittelfeld in Gesprächen“ (1993) untersucht. Sie hat dabei eine starke Tendenz zur Entleerung des Mittelfeldes zugunsten des Vorfelds und teilweise von Nachträgen im Nachfeld festgestellt. Damit wird die o.e. Aussage vieler Grammatiken relativiert. Und weiter: Wenn man diese Tatsache in der Grammatikschreibung berücksichtigte, müsste man vielleicht auch noch genauer Zahl und Abfolge der Elemente in Vor- und Nachfeld in mündlicher Kommunikation untersuchen und käme möglicherweise auch hier zu neuen Ergebnissen. 3.4 Ge- oder nicht ge- Richard Wiese (1992) hat eine Regel dafür gefunden bzw. phonologisch begründet, wann ein Partizip II mit dem Präfix gegebildet wird und wann nicht. Zunächst stellt er fest, dass weder die Herkunft des Wortes, noch semantische oder morphologische Faktoren den Ausschlag geben können (S. 131). Bei einer Gegenüberstellung von zwei Formenreihen wird das entscheidende Kriterium offenbar klar: Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 575 (1) geredet (2) diskutiert gepredigt gearbeitet gesucht gefallen versucht entfallen krakeelt palavert Verbformen mit Akzent auf der ersten Silbe haben gein der Partizip II- Form. Das wird auch deutlich bei Verben mit schwankendem Wortakzent: Die Position des Wortakzents ist aber nicht das entscheidende Kriterium, sondern das „phonologische Wort“ und der „Fuß“. Der Fuß ist „eine metrische Einheit (...), deren erste Silbe stärker betont werden muss als eventuell folgende“ (S. 131). Die Silbenabfolge stark schwach {predigt) stellt also einen Fuß dar, die Abfolge schwach stark {versucht) aber zwei einsilbige Einheiten. Aus der Liste oben erkennt man, wie die genaue Regel lauten muss: „Wenn das phonologische Wort aus einem Fuß besteht, wird mit gepräfigiert, sonst nicht“ (S. 132). Die Validität dieser Regel zeigt sich daran, dass sie auch für neu entlehnte Verben aus dem Englischen zutrifft: computed aber getriggert. Eine Grammatik muss also deutlich machen, dass die morphologische Veränderung durch ge-Präfigierung nur stattfinden kann, „nachdem eine phonologische Regel einem Wort eine prosodische Struktur zugewiesen hat“. 3.5 Nachfeld In den Grammatiken geht es hier i.d.R. darum, welche Elemente im Nachfeld stehen können und ob diese Stellung grammatikalisiert oder von einer bestimmten Sprecherintention geleitet ist. Obwohl einige Grammatiken (insbesondere die GDS, S. 1669ff.) die Relevanz der gesprochenen Sprache für die Funktion des Nachfelds erkennen, wird kaum auf die Spezifika des Mündlichen eingegangen, z.B. auf die intonatorischen Verhältnisse. Anthony Fox (1982) hat sich genau mit diesem Problem des Zusammenhangs von Intonation und „Ausrahmung“, wie er die Nachfeldfunktion nennt, beschäftigt. Dabei geht es ihm um die „durch die Sprecherintention bedingte Ausrahmung“ (Helbig/ Buscha 1991, S. 568). Fox hält die Erklärung der Ausrahmung als stilistisch motiviert für zu vage. Er sucht nach allgemeineren Prinzipien, die der Ausrahmung und ihrer intonatorischen Gestaltung zugrunde liegen (S. 90). Er stellt zunächst fest (wie geliebkost liebkost (ebd.) 576 Klaus Vorderwülbecke andere vor ihm), dass Sätze mit Ausrahmung meist zwei intonatorische Gipfel haben, dass das ausgerahmte Element syntaktisch zum Satz gehört, aber eine eigene kommunikative Einheit bildet. Ausrahmung und Akzentstruktur teilen sich sozusagen die kommunikative Aufgabe, eine Äußerung in verarbeitbare Portionen anzuordnen (S. 95). Fox postuliert zwei Klassen von Tongruppen: eine große („major“) und unabhängige und eine kleine („minor“) und abhängige, wobei die kleine immer der großen untergeordnet ist (S. 96). Dabei ist das progrediente (nicht finale) Tonmuster oft, aber nicht automatisch identisch mit einer kleinen Tongruppe und die finalen Tonmuster fallend und steigend sind oft, aber nicht immer, identisch mit einer großen Tongruppe. Zweipolige Ausrahmungskonstruktionen haben i.d.R. die Struktur klein vor groß (Tongruppen stehen zwischen zwei Schrägstrichen, betonte Silben sind fett): / Der Dichter war errötet / bis an seine weißen Haare! (progredient+fallend) / Sind Sie in diesem Grad abgehärtet / durch zerrüttete Zeitläufte? (progredient+steigend) (S. 97) Es gibt aber auch Muster mit einem fallenden Ton in der ersten Tongruppe, was dann meist einen fallenden Ton in der zweiten nach sich zieht: leine meiner Schwestern hat sich beworben / für Krankengymnastik! Bei zwei Tongruppen mit fallendem Ton besteht keine Hierarchie mehr. Wir haben es also hier mit koordinativen Strukturen zu tun, die nur große, also unabhängige Tongruppen enthalten (S. 98f.). Auch Sätze mit einem steigenden Ton in der finalen Tongruppe können mit zwei steigenden Tönen gesprochen werden. Koordinierte Sequenzen zeigen also eine „Ton-Harmonie“ (S. 99). Daraus folgert Fox, dass man bei Sätzen mit Ausrahmung die Wahl hat zwischen verschiedenen Intonationsstrukturen, nämlich einer subordinierenden oder einer koordinierenden. Die subordinierende Struktur zeitigt Teile mit unterschiedlichem kommunikativem Gewicht und die koordinierende fuhrt zu zwei (annähernd) gleichgewichtigen Teilen. Die Wahl der Intonationsstruktur ist aber nicht vollkommen frei, sie wird von bestimmten syntaktischen Gegebenheiten des Satzes (mit) gesteuert. Folgende syntaktischen Strukturen präferieren offensichtlich eine koordinierende Intonationsstruktur: Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 577 Appositionen: Ifrag' mal Nora / die Schottin! nicht restriktive Relativsätze: / ich mache nur Hausarbeit / die mich eigentlich nicht interessiert! weiterfuhrende Relativsätze: ler kann Chinesisch! was mir ungeheuer imponiert! Hier wird die syntaktische Unabhängigkeit der Teile durch die intonatorische und damit kommunikative Unabhängigkeit gestützt und verstärkt (Fox 1982, S. 100). Sein allgemeines Fazit lautet: Die Syntax gibt nicht vor, ob Sätze mit Nachfeldbesetzung aus einer oder aus zwei Tongruppen bestehen und auch nicht, ob die Nachfeldelemente subordinativ oder koordinativ zu verstehen sind. So kann z.B. eine syntaktische Einheit durch eine zweipolige Intonation in zwei Teile geteilt werden: lieh fahre morgen ! nach Berlin! Und eine aufgespaltete syntaktische Struktur kann durch eine einpolige Intonation (mit Akzentgipfel im Nachfeld) zusammengefügt werden: / sie nutzt mich aus für ihre Machtgier! (ebd., S. 104f.) Es zeigt sich also, dass die Einbeziehung der Intonationsstruktur in die grammatische Beschreibung genauere Auskunft darüber gibt, wie die Linearisierung von konkreten syntaktischen Strukturen in der Kommunikation verläuft und wie damit eine bestimmte Äußerungsbedeutung erzielt wird. Das Plädoyer für eine solche Ausweitung der Beschreibungsdimension soll Fox mit seinem abschließenden Satz übernehmen: This view of the relationship between Ausrahmung and intonation offers more than just a descriptive framework for certain superficial aspects of utterances; it provides a fruitful approach to a better understanding of how language communicates, (ebd., S. 105) 4. Haupt- oder Nebendarsteller? Dadurch, dass die Grammatiken, die die gesprochene Sprache mit einbeziehen, dies weitgehend in einem ausgelagerten Kapitel tun, kann man nicht umhin, die Beschreibung der gesprochenen Sprache als Anhang an die 'eigentliche’ Grammatik anzusehen. 578 Klaus Vorderwülbecke Bei einer integrativen Beschreibung der geschriebenen und der gesprochenen Sprache müsste man zunächst das Problem der unterschiedlichen Einheiten in den Griff bekommen. Man kann die Phänomene der gesprochenen Sprache sicher teilweise im Rahmen der an der Schriftsprache gewonnenen Kategorien beschreiben, vor allem das Wort, wie es Eisenberg (1998) in seinem „Wort“-Band vorgeführt hat. Die Unvergleichbarkeit der höheren Einheiten der gesprochenen Sprache (funktionale Einheit, Gesprächsbeitrag und Gespräch) mit den schriftsprachlichen Einheiten Satz und Text ist aber gravierend. Dazu kommt der grundlegende Unterschied zwischen Produktorientierung der geschriebenen und Prozessorientierung der gesprochenen Sprache. Das hat zur Folge: Gesprochene und geschriebene Sprache, oder genauer: die mündlichen und die schriftlichen kommunikativen Praktiken, haben weitgehend unterschiedliche Domänen und Funktionen. (Fiehler u.a. 2004, S. 20) Insofern hat die Lösung der Duden-Grammatik, die gesprochene Sprache abgetrennt „in it's own right“ zu beschreiben, einiges für sich. Allerdings ist das bisherige Verfahren, die gesprochene Sprache hin und wieder als „Besonderheit“ mit zu berücksichtigen, auch nicht zufrieden stellend. Der Leser muss daraus den Schluss ziehen, dass überall dort, wo das nicht geschieht, die jeweilige Beschreibung auch für die gesprochene Sprache zutrifft. Das ist aber nicht immer der Fall. Eine Lösung dieses Dilemmas sehe ich am ehesten im neuen Medium Internet: In einer elektronischen Grammatik im Hypertextformat könnte folgendes Verfahren zu einer Quasi-Integration führen: Die Grammatiken der geschriebenen und der gesprochenen Sprache werden in zwei Angängen und nach ihren je spezifischen Kategorien gegliedert beschrieben. Wenn es beim jeweiligen Phänomen Relevantes in der jeweils anderen Sprachform gibt, wird darauf mit einem Link verwiesen. Auf diese Weise hat man zwei Grammatiken auf einer Plattform mit vielen Verbindungen zur jeweils anderen, die wie man heute so schön sagt nur einen Klick entfernt sind. (Zur besseren Unterscheidung könnte man für jede eine eigene Hintergrundfarbe wählen.) Natürlich gäbe es dann Doppelungen, aber diese könnten schneller und eleganter nebeneinander gestellt werden, um so zu sowohl ökonomischeren wie auch umfassenderen Beschreibungen des jeweiligen Phänomens zu kommen. Umfassender und medienadäquater wäre diese Produktform auch, weil man problemlos akustische oder audiovisuelle Daten einfugen kann, um die Multimodalität der Verständigung äugen- und ohrenfällig zu machen. Da ist Musik drin - Prosodie, gesprochene Sprache und Grammatik 579 Nach diesem Muster könnten die Interjektionen in der Schriftsprache-Grammatik in einer Restklasse der Wortarten behandelt werden und zwar mit einem Link zu funktionalen Einheiten, „die eine emotional-bewertende Stellungnahme ausdrücken“ (Fiehler 2003, S. 162) in der „mündlichen“ Grammatik. Lind von der Beschreibung der Zeichensetzung kann es Links zur Beschreibung der funktionalen Einheiten geben, da Satzzeichen Teile separieren (z.B. Anreden, Interjektionen, Satzaugmente wie gell oder nicht wahr), die Kandidaten für funktionale Einheiten sein können (ebd., S. 160). Weiterhin könnte ein Teil der Abtönungspartikeln in der Schriftsprache- Grammatik unter den Wortarten oder den Angaben/ Supplementen behandelt werden mit Link zu Sprechereinstellungen in der „mündlichen“ Grammatik. Mein Vorschlag ist also, die gesprochene Sprache neben der geschriebenen mit vielen gemeinsamen Auftritten als zweite Hauptrolle zu besetzen. 5. Abspann Die rückblickende Untersuchung über die Berücksichtigung von gesprochener Sprache in Grammatiken bzw. Sprachbeschreibungen der letzten 100 Jahre hatte sehr uneinheitliche Ergebnisse. Mein Plädoyer, dies zu verbessern, habe ich an einigen Beispielen aufgezeigt. Ziel war es, der Musik in der Sprache einen festeren Platz in grammatischen Beschreibungen einzuräumen. Wenn bei meinem Lösungsvorschlag zur Frage einer integrativen oder einer additiven Darstellung das neue Medium Internet als deus ex machina erscheint, ist diese Hoffnung möglicherweise überhöht. Wenn dieses Medium sie aber zumindest teilweise erfüllt, wäre das nach der enttäuschten Euphorie in Bezug auf E-learning wieder eine Bestätigung für seine Funktionstüchtigkeit. 6. Literatur Behaghel, Otto (1900): Geschriebenes Deutsch und gesprochenes Deutsch. In: Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins 17/ 18,8.214-284. Behaghel, Otto ( 13 1958): Die deutsche Sprache. Halle/ S.: Niemeyer. (1. Aufl. 1886). Brinkmann, Hennig ( 2 1971): Die deutsche Sprache. Gestalt und Leistung. Düsseldorf: Schwann. (1. Autl. 1962). Duden ( v 2005): Die Grammatik. Mannheim: Dudenverlag. Eisenberg, Peter (1986): Grundriß der deutschen Grammatik. Stuttgart: Metzler. 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Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle Bei der morgendlichen Zeitungslektüre stutze ich, als ich folgende Bildunterschrift lese: Die DRK-Kreisvorsitzende Diemut Theato dankte Alfred Nennstiel im Beisein dessen Nachfolgers Thomas Lochner [...]. Nach meinem Sprachgefühl stimmt hier etwas nicht mit der Verwendung von dessen. Dieser kleine Bericht über eine Sprachirritation findet sich zu Beginn einer Abhandlung von Gisela Zifonun über die Syntax von dessen (Zifonun 2003). Die Autorin berichtet hier in dankenswerter Offenheit über ein Motiv, das für sie der erste Ansatzpunkt einer linguistischen Analyse gewesen ist: Eine zunächst völlige dunkle, noch ganz unbegriffene Verblüffung bei der Rezeption schriftlicher Sprache regte dazu an, einem sprachlichen Detail auf den Grund zu gehen. Bildlich kann man das auch so sehen, dass ein sprachsensibles Organ („Sprachgefühl“, vgl. Zifonun 2001, S. 2) eine automatische Warnmeldung von sich gab und zu einer rationalen Untersuchung aufforderte. In dem Satz existiert demnach etwas, was irgendwie nicht in Einklang mit der gewohnten Sprache steht und die Leserin an der sprachlichen Richtigkeit der Formulierung zweifeln lässt. Die linguistische Analyse erscheint in dieser Sicht als ein Versuch, ein erstes Gefühl mit rationalen Mitteln einzuholen und zu explizieren. Sie thematisiert einen sprachlichen Zweifelsfall. Derartige Szenen der Sprachirritation kommen im Sprachalltag immer wieder vor. Allerdings werden sie nur selten regelrechte linguistische Analysen in Gang setzen. Denn schließlich gibt es in einer Sprachgemeinschaft relativ wenige Linguisten und selbst von denen würde sicher nicht jeder eine entsprechende Gefühlslage zum Ausgangspunkt einer Analyse machen. Allerdings zeigen diese Überlegungen, dass sich die linguistische Arbeit in der Reflexion über sprachliche Zweifelsfälle mit dem alltäglichen Sprachbewusstsein trifft. Das lässt sich sogar erheblich verschärfen: Angesichts der immer wieder beklagten Spannung zwischen dem öffentlichen, nichtlinguistischen Sprachbewusstsein und der sprachwissenschaftlichen Arbeit wäre es sinnvoll, die Analyse sprachlicher Zweifelsfälle systematisch und möglicherweise auch institutionell zu einem Verbindungsglied zwischen öffentlichem Sprachbewusstsein und linguistischer Analyse zu erheben. 582 WolfPeter Klein Man könnte an diesem Punkt einwenden, dass eine solche Verbindung gar nicht hergestellt werden muss, weil sie ja schon (lange) besteht. Daran ist sicher richtig, dass in größeren Perspektiven gedacht die Reflexion über sprachliche Zweifelsfalle ein Impuls ist, der die europäische Sprachwissenschaft seit jeher maßgeblich geprägt hat, wenn sie nicht überhaupt daraus entstanden ist. Die systematische Beschäftigung mit Sprache ist demnach immer schon mit dem öffentlichen Sprachbewusstsein verbunden, weil ihre Existenz zumindest in bestimmten Punkten auf dem Nachdenken über Zweifelsfälle beruht. Das gilt einerseits schon für die antik-mittelalterliche Überlieferung generell (Cherubim 2001), andererseits für die germanistische Tradition i.e.S. (Jellinek 1913/ 1916). Allerdings übersieht man vor einem solchen Hintergrund die besondere Konstellation der gegenwärtigen Lage. Denn seit der historistisch-romantischen Profdierung der Sprachgermanistik durch Jacob Grimm stellt die rationale Analyse von Zweifelsfällen faktisch keine Tätigkeit mehr dar, bei der die wissenschaftliche Sprachanalyse und das öffentliche Sprachbewusstsein wirklich glücklich zueinander finden würden (Dieckmann 1991, Klein 2003: Teil II). Seit Grimm steht man immer im Verdacht, Sprache lediglich als pedantischer „Schulmeister“, nicht als wirklicher Sprachwissenschaftler zu analysieren, wenn man Nicht-Linguisten in Zweifelsfallen beraten möchte und dazu (klare) synchrone Regularitäten, nicht nur das (dunkle) „Sprachgefühl“ thematisiert. Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass in den letzten Jahren aber doch verschiedentlich sog. „grammatische Telefone“ als Instanzen wissenschaftlicher Sprachberatung im o.g. Sinn gegründet wurden (z.B. Bünting/ Pospiech 1996, Cölfen 1996, Kühn/ Almstädt 1997). Dahinter steckt offensichtlich ein Interesse an der öffentlichkeitsrelevanten Klärung sprachlicher Zweifelsfälle! Betrachtet man allerdings das wissenschaftsinteme Echo dieser Einrichtungen, so muss man konstatieren, dass der Gang der (germanistischen) Sprachwissenschaft von diesen Einrichtungen nicht wirklich geprägt worden ist. So fehlen beispielsweise anspruchsvollere (statistische) Auswertungen der Anfragen (und Antworten) bei Sprachberatungsstellen. Es existieren lediglich einige ausgebautere Berichte, die meistens nur speziellen (orthografischen) Problemhorizonten gewidmet sind (z.B. Mackowiak/ Steffen 1991, Höhne 1991). Dazu kommen einige interessante Werkstattberichte, deren empirische Fundierungen jedoch lediglich einen impressionistischen Charakter besitzen (z.B. Kühn 2003). Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 583 Wenn sie denn überhaupt die letzten Budgetstreichungen und linguistischen Moden überlebt haben, so sind die universitären Sprachberatungsinstitutionen lediglich lockere Anhängsel der sprachwissenschaftlichen Abteilungen geblieben. Keineswegs fungierten sie als richtungsgebende Kraftzentren, die den Gang der linguistischen Lehre und Forschung bestimmt hätten. 1 Projekte, in denen die erhobenen Daten in allen Details (z.B. auch sprachtypologisch, sprachhistorisch, psycho- und soziolinguistisch) reflektiert und zum Grundstein einer einschlägigen Sprachtheorie gemacht worden wären, gibt es nicht. Aus einer anderen Perspektive nimmt sich dieselbe Situation dann so aus, dass avancierte Sprachwissenschaftler normalerweise mit der alltagsrelevanten Reflexion über Zweifelsfälle überhaupt nichts am Hut haben, von der Mitarbeit bei praktischer Sprachberatung ganz zu schweigen. Vor dem skizzierten Hintergrund möchte ich in diesem Text die Grundzüge eines Modells zur Untersuchung sprachlicher Zweifelsfälle vorstellen. Es soll zeigen, dass und wie die Analyse derartiger Fälle ein umfangreiches linguistisches Projekt darstellt. Denn für die allermeisten Zweifelsfälle sind noch viele Fragen offen. Die planmäßige Analyse sprachlicher Zweifelsfälle müsste auf verschiedenen Feldern (empirisch, systemlinguistisch, soziolinguistisch, didaktisch, historisch) je spezifische Probleme lösen und die daraus resultierenden Ergebnisse am Ende wieder aufeinander beziehen. Angesichts dieser Perspektiven plädiere ich auch in lockerer Anknüpfung an Zifonun (2001, 2003) dafür, die öffentlichkeitszugewandte Reflexion über sprachliche Zweifelsfälle stärker als zuvor (wieder) zum Angelpunkt der (germanistischen) Sprachwissenschaft zu machen. Darüber hinaus besitzt die Beschäftigung mit sprachlichen Zweifelsfällen sicher auch einen linguistischen Wert an sich. Sie ist nämlich hervorragend dazu geeignet, neue Einblicke in die Architektur und den Wandel des Sprachsystems zu liefern sowie die methodologischen Probleme seiner Erforschung zu reflektieren. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei freilich vorweg eingeräumt, dass ich mit dem Analyse-Modell nicht beanspruche, Neuland zu betreten. In den 1 Es spricht im übrigen für sich, dass diejenige Institution, die im öffentlichen Sprachbewusstsein immer noch primär mit der Klärung sprachlicher Zweifelsfälle verbunden ist, wie seit Jahrzehnten in der Verlagswirtschaft, nicht an einer Universität angesiedelt ist (Duden-Redaktion). Mehr noch, die Haupt-Konkurrenz zur Duden-Redaktion kommt mittlerweile nicht mehr von den grammatischen Telefonen der sprachwissenschaftlichen Universitätsabteilungen, sondern von einem anderen Privat-Untemehmen, der Wahrig-Redaktion (Bertelsmann). 584 WolfPeter Klein meisten Punkten knüpfe ich unmittelbar an gängige methodologische Überzeugungen der modernen Sprachwissenschaft an. Das Neue des Modells liegt lediglich darin, dass hier einige Vorgaben im Zusammenhang vorgetragen und systematisch aufeinander bezogen werden. Insofern sich manche Überlegungen mit Beispielen besser illustrieren lassen, werde ich bei Gelegenheit das Wortpaar vergebens/ vergeblich heranziehen. Damit ist wiederum nicht der Anspruch verbunden. Erschöpfendes zu diesem Zweifelsfall zu sagen. Es handelt sich, wie gesagt, lediglich um einige exemplarische Ausführungen, die die methodologischen Überlegungen zur systematischen Analyse von Zweifelsfällen veranschaulichen sollen. Bei der linguistischen Analyse eines Zweifelsfalls stehen fünf Fragenkomplexe im Raum. Sie müssen im Idealfall der Reihe nach von 1) bis 5) abgearbeitet werden, um ihn erschöpfend zu untersuchen: 1) Identifikation des Zweifelsfalls 2) Sprachgebrauchsanalyse 3) Sprachsystemanalyse 4) Analyse der metasprachlichen Thematisierung 5) Sprachgeschichtliche Analyse 1. Identifikation des Zweifelsfalls Wenn man Zweifelsfälle analysieren möchte, muss man zunächst klären, welche es überhaupt gibt. Man muss sie also identifizieren können. Das ist keineswegs trivial. Denn dahinter verbirgt sich mindestens zweierlei: die definitorisch-sprachtheoretische Frage, wie der Begriff „sprachlicher Zweifelsfall“ sinnvoll gefasst werden kann, und das empirische Problem, wie sich auf der Basis einer solchen Definition Zweifelsfälle identifizieren lassen. Diesbezüglich habe ich an anderer Stelle (Klein 2003, Teil 1) bereits folgende Definition vorgestellt und näher expliziert: Ein sprachlicher Zweifelsfall ist eine sprachliche Einheit (Wort/ Wortform/ Satz), bei der kompetente Sprecher im Blick auf (mindestens) zwei Varianten (a, b...) in Zweifel geraten können, welche der beiden Formen (standardsprachlich) korrekt ist. Was den empirischen Zugang zur Identifikationsproblematik angeht, so existiert sozusagen ein Königsweg, auf dem sprachliche Zweifelsfälle bestimmt werden können. Er besteht darin, sich direkt auf Situationen des sprachlichen Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 585 Zweifelns zu beziehen. Dazu bieten Institutionen, die in einem solchen Falle konsultiert werden können, einen unmittelbaren Zugang. Kann man nämlich nachweisen, dass ein spezielles Variationspaar in den Sprachberatungsstellen immer wieder genannt wird, so liegt darin ein untrügliches Zeichen für die Existenz eines Zweifelsfalls. Insofern lassen sich die einschlägigen Sammlungen, die nach Auskunft ihrer Verfasser aus der praktischen Sprachberatung entstanden sind, als wichtige Hilfsmittel bei der Identifikation von Zweifelsfällen lesen (v.a. DUDEN Bd. 9, WAHRIG Bd. 5, Dückert/ Kempcke 1989). Auf derselben Linie kann man mittlerweile auch entsprechende Internet-Sammlungen konsultieren (Babel 2004, Digmayer 2004, Sick 2004, FAQs deutsche Sprache 2004). Holzschnittartig gesagt: taucht ein Variationspaar in derartigen Sammlungen als Stichpunkt immer wieder auf, so handelt es sich um einen Zweifelsfall. So wichtig die genannten Nachschlagewerke sind, so sehr sollte man sie aber mit einer gewissen Vorsicht rezipieren. Da die Sammlungen nämlich im Zuge der öffentlichen Sprachkritik seit dem 19. Jahrhundert eine Texttradition darstellen, die eine beträchtliche Eigendynamik entwickelt hat (Cherubim 1983, S. 178-183), muss man immer damit rechnen, dass darin auch Pseudo- Zweifelsfälle enthalten sein können, die heutzutage gar nicht mehr als solche zu identifizieren wären. Über die genauen Prozeduren, mit denen Zweifelsfälle in den Werken aufgenommen (und ggf. wieder entfernt! ) werden, wird der Leser ja leider so gut wie gar nicht informiert. Außerdem geht aus den Darstellungen in den Zweifelsfallsammlungen nicht immer eindeutig hervor, welches konkrete Problem, also welcher Zweifelsfall, an einem bestimmten Punkt tatsächlich Vorgelegen hat. So lässt sich etwa in puncto vergebens/ vergeblichaus den einschlägigen Werken (DUDEN 9, S. 883f, Dückert/ Kempcke 1989, S. 496f.) nicht völlig klar ermitteln, was denn der ursprüngliche Anlass für eine Konsultation der Sprachberatung gewesen ist. Dafür kommen mindestens drei Probleme infrage: zum einen die semantische Frage, ob die beiden Wörter Synonyme sind (a), zum anderen zwei syntaktische Fragen: (b) ob die adverbiale Verwendung von vergeblich neben vergebens standardsprachlich korrekt sein kann bzw. (c) ob beide Wörter unterschiedslos in prädikativer Verwendung gebraucht werden können. Darüber hinaus ist es gut denkbar, dass diese Fragen in einem gegebenen Kontext miteinander verbunden sind. 586 WolfPeter Klein Nicht nur angesichts solcher Probleme sollte man also stets nach Möglichkeiten suchen, Zweifelsfälle flankierend auch mit anderen Methoden zu identifizieren als durch Nachweis in den Zweifelsfallsammlungen. Dazu bieten sich beispielsweise empirische Erhebungen (Fragebogenuntersuchungen, Experimente u.Ä.) sowie Konsultationen einschlägiger linguistischer Literatur (z.B. Muthmann 1994, Ammon u.a. 2004) an, sicher auch Bezüge auf das eigene Sprachgefühl. Ein besonders ergiebiges, aber meistens auch schwer realisierbares Verfahren liegt in der Suche nach Situationen, in denen ein sprachliches Variationspaar in der natürlichen Kommunikation als solches thematisiert wird. Dabei sind sowohl mündliche als auch schriftliche Belege denkbar. Im ersten Fall könnte man sich beispielsweise vorstellen, dass ein Zweifelsfall im schulischen Unterricht, in der Büro-Kommunikation oder bei einem Party-Gespräch thematisiert wird. In der schriftlichen Kommunikation ist etwa an diejenige Literatur zu denken, in der Prozesse des Schreibens als solche thematisiert werden, sei es in literarischer oder in alltagsnäherer Form (z.B. Tagebuch, Brief, journalistischer Text). Ein entsprechender Befund ergibt sich beispielsweise aus einem satirischen Text, in dem neu entwickelte Zeitschriften aus Deutschland besprochen und mit dem angeblichen amerikanischen Vorbild, dem New Yorker, verglichen werden: Die Themenspektren aller deutschen New Yorker sind einheitlich und breit gestreut (z.B. Politik, Kunst usw.), wirklich interessante Themen wie Tattoo- Tips, Schwedenrätsel und Islam-Bashing sucht man dagegen vergeblich. Oder heißt es vergebens? (Schmitt 2004, S. 31) Auf der Basis eines solchen Belegs, der idealerweise durch viele andere zu unterstützen wäre, kann man also in Ergänzung der erstgenannten Befunde davon sprechen, dass dem Schreiber zweifelhaft war, ob man den Ausdruck vergebens statt vergeblich in adverbialer Funktion benutzen muss bzw. kann. Damit könnten auch semantische Zweifel hinsichtlich der Synonymie von vergeblich/ vergebens verbunden gewesen sein. 2. Sprachgebrauchsanalyse Hat man nun gemäß 1. einen Zweifelsfall identifiziert, so müssen zur weiteren Analyse objektsprachliche Daten erhoben werden, die seiner Klärung dienen können. Das beinhaltet insbesondere eine Gebrauchsanalyse zu den beiden sprachlichen Varianten eines Zweifelsfalls. Im gegebenen Fall wäre also auf möglichst breiter Basis zu ermitteln, wie die Ausdrücke vergebens und vergeblich gebraucht werden. Das kann in ausgebauter Form am besten Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 587 im Rahmen einer Korpusanalyse erfolgen. Idealerweise würde man einerseits ein Korpus schriftsprachlicher Daten heranziehen, andererseits eine Sammlung gesprochener Sprache. Dabei steht die Beantwortung folgender Hauptfrage im Vordergrund: Gibt es syntaktische, semantische und/ oder pragmatische Unterschiede beim Gebrauch der Ausdrücke vergeblich/ vergebens? Es wären also mindestens die folgenden Unterfragen zu klären, die z.T. bereits Analysehorizonte der Sprachsystemanalyse (s. unten Kap. 3.) vorbereiten: 1) Werden beide Ausdrücke unterschiedslos adverbial, attributiv und prädikativ gebraucht? Existieren bestimmte Tendenzen, den einen Ausdruck in einer bestimmten syntaktischen Umgebung eher zu verwenden als in einer anderen? 2) Werden die Ausdrücke möglicherweise in bestimmten pragmatischen Kontexten eher gebraucht als in anderen? Ohne an dieser Stelle auf alle statistischen Verteilungen und Details eingehen zu können, lassen sich für diese Fragen einige Antworten festhalten. In einem großen deutschsprachigen Korpus 2 finden sich für den Gebrauch von vergeblich insgesamt 21.232, für vergebens 5.723 Belege. Die erheblich höhere Anzahl von Belegen für vergeblich hängt damit zusammen, dass dieser Ausdruck anders als vergebens auch in attributiver Funktion vorkommt. Demnach werden beide Ausdrücke sowohl prädikativ als auch adverbial benutzt, während in attributiver Funktion lediglich vergeblich auftaucht. Auffällig ist ferner, dass in beiden Fällen neben diesen traditionellen Verwendungen auch zahlreiche Belege in Ellipsen auftauchen, z.B.: (1) a. Im vergangenen Jahr hat Kathrin über 200 Bewerbungen geschrieben. Vergeblich. (Frankfurter Rundschau, 26.7.1997, S. 5) b. Jeden Kniff versuchte das Paar, alle Möglichkeiten der Wissenschaft probierte man aus. Vergebens. (Berliner Morgenpost, 13.8.99,8. 11) Semantisch lässt sich für sämtliche Gebräuche die Bedeutung ‘erfolglos, ohne die erwartete oder erhoffte Wirkung’ ansetzen. Angesichts des insgesamt häufigeren Gebrauchs von vergeblich sind ferner diejenigen Faktoren 2 Die Angaben beruhen auf einer Recherche im Korpus „public alle öffentlichen Korpora geschriebener Sprache“ des INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE vom 20.12.04. 588 WolfPeter Klein bemerkenswert, die vermehrt zu vergebens fuhren. Da ist zum einen die deutliche Tendenz, in prädikativer Funktion eher vergebens als vergeblich zu nutzen. 3 Außerdem wird in literarischen Texten generell eher vergebens als vergeblich genutzt. 4 Letzteres weist daraufhin, dass vergebens in pragmatischer Perspektive mit der Konnotation „literarisch, stilistisch tendenziell höher als vergeblich“ zu verbinden ist. Wenn also die beiden Ausdrücke semantisch dieselbe Bedeutung besitzen, so könnten sie doch im Blick auf pragmatische Faktoren gewisse Unterschiede besitzen. 3. Sprachsystemanalyse In Rücksicht auf die unter Kap. 2. erhobenen Daten ist im dritten Stadium der Zweifelsfallanalyse die Stellung der beiden Varianten im Sprachsystem näher zu bestimmen. Dieser Punkt kommt in vielen Teilen einer traditionellen grammatischen Analyse gleich. Allerdings gibt es hier bestimmte Problemkomplexe, die besonders aufmerksam beachtet werden müssen, um einen Zweifelsfall gerade als Zweifelsfall zu beleuchten. Denn es geht an dieser Stelle vor allem um die Beantwortung der Frage, warum denn eigentlich zwei bestimmte Varianten den Sprechern immer wieder als Zweifelsfall zu Bewusstsein kommen (können). Mit anderen Worten, die Analyse muss hier klären, inwiefern die Varianten eines Zweifelsfalls sprachsystematisch einen besonderen Status einnehmen, der sie mehr oder weniger eindeutig von den zweifellos grammatischen bzw. zweifellos ungrammatischen Fällen abhebt. Um derartige Ergebnisse zutage zu fördern, sind methodologisch sicher unterschiedliche Wege möglich. Einige Konzepte bieten sich hier freilich vor allen Dingen an, da mit ihnen der spezifische Status von Zweifelsfallen besonders gut analysiert werden kann. So wird es beispielsweise oft sinnvoll sein, das Sprachsystem einerseits von seinem Zentrum her, andererseits von seiner Peripherie her in den Blick zu nehmen. Damit kann auch das Konzept verbunden sein, für sprachliche Erscheinungen unterschiedliche Grade gram- 3 Für die Zeichenkombinationen „ist [bzw. sind/ war/ waren] vergebens.“ gibt es im Korpus insgesamt 161 Belege, für „ist [bzw. sind/ war/ waren] vergeblich.“ nur 61. 4 Anders als in den journalistischen Teilkorpora überwiegt in den literarischen Teilkorpora deutlich der Gebrauch von vergebens: Belletristik/ Trivialliteratur {vergebens: \Mlvergeblich 44), Goethe (135/ 11), vgl. dagegen z.B. Züricher Tagesanzeiger 1996-2000 (384/ 1.789), Österreichisches Zeitungskorpus (2.668/ 10.966), Computerzeitung 1993-1998 (16/ 63), Berliner Morgenpost 1997-1999 (138/ 521), Frankfurter Rundschau 1997-1999 (890/ 3.416). Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 589 matischer Prototypikalität und Produktivität festzumachen. Mit solchen Ausblicken können systematisch Übergangsfelder, Grauzonen und Regelkonflikte dingfest gemacht werden. Und das sind genau diejenigen methodologischen Begriffe, die man braucht, um Zweifelsfalle innerhalb des Sprachsystems eben als Zweifelsfälle zu bestimmen. Das Zweifelhafte dieser Phänomene muss also angesichts des vielen Unzweifelhaften im Sprachsystem geklärt werden, um seine Natur angemessen grammatisch zu beleuchten. Das Paar vergebens/ vergeblich wäre insofern zunächst vor dem Hintergrund der bekannten Abgrenzungsproblematik zwischen Adjektiven und Adverbien zu erörtern (Eisenberg 2002). Generell gilt zunächst, dass Adjektive und Adverbien morphologisch trennscharf voneinander zu unterscheiden sind: Adjektive (vergeblich) sind flektierbar (und komparierbar), Adverbien (vergebens) nicht. Von der syntaktischen Funktion her gesehen gibt es freilich Überschneidungen. Beide Wortarten können in adverbialer und in prädikativer Funktion auftreten. Was morphologisch gut differenzierbar ist, verliert an Profd, wenn die syntaktische Funktionalität in den Vordergrund rückt: (2) a. Die vergebliche Arbeit/ Die Arbeit ist vergeblich/ Er arbeitet vergeblich. b. *Die vergebens Arbeit/ Die Arbeit ist vergebens/ Er arbeitet vergebens. Ferner verfügt das Deutsche zwar nicht, wie andere Sprachen, über ein Suffix, mit dem man systematisch Adverbien aus Adjektiven ableiten kann. Allerdings existieren Wortpaare, die qua Form deutlich aufeinander zu beziehen sind und so zumindest zum Teil die syntaktische Spannung zwischen den flektierbaren und den nicht-flektierbaren Wortarten reflektieren. Orientiert man sich rein synchron an der bloßen Formseite von vergebens/ vergeblich, so gehören dazu im gegebenen Fall die Paare, die auf der einen Seite einen Ausdruck auf -ens bzw. -5, auf der anderen Seite einen Ausdruck auf -lieh enthalten. Von den Wortarten her gesehen, würde man im ersten Fall also wie bei vergebens ein Adverb, im letzten Fall wie bei vergeblich ein synonymes Adjektiv 5 erwarten: 5 Nicht attributiv verwendbare Adverbien auf -lieh kommen zwar vor (z.B. kürzlich, freilich, sicherlich, wahrlich), sie stehen aber eher am Rande des Systems. Für Bildungen mit -lieh ist Flektierbarkeit als prototypisch anzusehen. 590 WolfPeter Klein (3) letztens/ letztlich, erstens/ erstlich, abends/ abendlich, eigens/ eigentlich, morgens/ morgendlich, namens/ namentlich, seitens/ seitlich, willens/ willentlich, rechtens/ rechtlich. Vergleicht man nun die Paare unter (3) mit dem Paar vergebens/ vergeblich, so kommt man zu dem Ergebnis, dass sie trotz der ähnlichen Formseite syntaktisch und semantisch keineswegs dasselbe sprachliche Profd besitzen wie die beiden Varianten unseres Zweifelsfalls. Das zeigt schon die offensichtlich unterschiedliche Basis der Wortbildungen. Während vergebens/ vergeblich zumindest rein formseitig 6 noch relativ deutlich auf ein (partizipiales) Verb {vergeben) beziehbar sind (genauer: Fleischer/ Barz 1995, §4.4.2.1), findet sich in keinem anderen Fall eine solche verbale Basis. Ferner existieren bei den formähnlichen Paaren Wörter, die schon von ihrer Wortart aus dem Gefüge von Adjektiv/ Adverb herausfallen. So sind etwa namens und seitens als Präpositionen zu kategorisieren, nicht als Adverbien. In anderen Fällen finden sich mehr oder weniger deutlich semantische Differenzen, so etwa bei rechtens (‘juristisch nicht zu beanstanden’) und rechtlich (‘juristisch gesehen’). Und auch wenn die Wortartenkategorisierung zunächst mit der Struktur von vergeblich/ vergebens überein zu stimmen scheint, so ergibt ein Blick auf die syntaktische Verwendung doch Differenzen, die sich wiederum in semantischen Unterschieden manifestieren können. Man vergleiche beispielsweise die Verwendung von morgens/ morgendlich: (4) a. Die morgendliche Arbeit/ *Die Arbeit ist morgend! ich/ *Er arbeitet morgendlich. b. *Die morgens Arbeit/ Die Arbeit ist morgens/ Er arbeitet morgens. c. Die Stimmung ist morgendlich, (‘wie am Morgen’) Anders als bei vergebens/ vergeblich (2) sind bei morgens/ morgendlich also keine (semantisch) äquivalenten Verwendungen in prädikativer und adverbialer Funktion möglich. Zumindest für die prädikative Verwendung zeigt sich, dass die unterschiedliche syntaktische Funktion mit einer veränderten Semantik (4c) einhergeht. Die offensichtliche Formdifferenz der beiden Ausdrücke verkörpert sich also auch in einer deutlichen syntaktisch-semantischen Differenz. 6 Semantisch ist freilich der Bezug auf das Verb nicht mehr transparent, da er kaum auf die heutigen Bedeutungen des Verbs vergeben abbildbar ist. Lediglich phraseologisch (vergebene Müh) oder sehr vermittelt (eine Chance vergeben) ist noch eine zugleich form- und inhaltsorientierte Brücke denkbar. Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 591 Insbesondere eine genauere satzsemantische Betrachtung könnte vermutlich noch weitere Erkenntnisse zutage fördern, die den peripheren Systemstatus des Paars vergebens/ vergeblich belegen. Auch die Frage, inwiefern es ein systemlinguistisches Gegenstück zu den angesprochenen literarischen Konnotationen von vergebens gibt etwa mit Blick auf die Unproduktivität und den eher archaischen Charakter des Suffixes -{en)s -, muss hier unbehandelt bleiben. In Anbetracht der skizzierten Perspektiven ist freilich eine deutliche Tendenz festzuhalten. Es gibt klare Anzeichen dafür, dass in der Morphosyntax und Semantik von vergebens/ vergeblich etwas vorliegt, das gerade nicht prototypisch zu sein scheint. Wenn nämlich ein morphologisch ähnlich strukturiertes Paar existiert, so sind die einzelnen Wörter im Normalfall syntaktisch und/ oder semantisch sehr viel stärker voneinander getrennt als im Falle von vergebens/ vergeblich. Von daher ist es eigentlich kein Wunder, dass die Sprecher gelegentlich darüber in Zweifel geraten, ob vergebens und vergeblich tatsächlich dieselbe Bedeutung besitzen und sich syntaktisch wirklich austauschen lassen. Warum sollte für die beiden Wörter etwas gelten, was sich in ähnlichen Fällen so kaum wieder finden lässt? 4. Analyse der metasprachlichen Thematisierung Im vierten Schritt der systematischen Analyse von Zweifelsfällen ist ihre metasprachliche Thematisierung in der Sprachgemeinschaft zu untersuchen. Damit werden die vorangehenden objektsprachlichen Perspektiven um eine wesentlich neue Dimension erweitert. Diese Perspektiverweiterung lässt sich disziplinär als soziolinguistisch charakterisieren. Denn nun geht es darum, die Tatsache zu berücksichtigen, dass in der Sprachgemeinschaft zu vielen Zweifelsfällen mehr oder weniger bewusst Stellung bezogen wird. Das ist auch gar nicht anders zu erwarten. Denn schließlich beruht die Existenz von Zweifelsfallen ja gerade auf ihrer metasprachlichen Thematisierung (vgl. Kap. 1.). Ferner verlangen die sprachpraktischen Problemzusammenhänge, in denen Zweifelsfalle sehr oft zum Bewusstsein kommen und eine Entscheidung fordern (z.B. in Schreibsituationen), nach einer einigermaßen stabilen Regelung. Sie kann nur mit metasprachlichen Handlungen erfolgen, die in ihren normierenden Konsequenzen oft gesellschaftlich breit akzeptiert sind und sogar institutionell abgesichert sein können. In diesem Analysestadium werden also die realen Konsequenzen der Existenz von Zweifelsfallen in der Sprachgemeinschaft analysiert. Ich möchte ausdrücklich festhalten, dass hiermit natürlich nicht die linguistische Thematisierung von Zweifels- 592 WolfPeter Klein fällen gemeint ist, sondern die gesamte nicht-linguistische Sprachdebatte. Freilich gibt es von Fall zu Fall Übergangsfelder zwischen der linguistischen und der nicht-linguistischen Sprachthematisierung, die je nach den Gegebenheiten eines einzelnen Zweifelsfalls berücksichtigt werden müssen. Welche Diskussionskontexte kommen hier, prinzipiell gesehen, infrage? Zunächst ist der ganze Bereich der sog. „Laienlinguistik“ (Antos 1996) zu nennen. Konkrete Texte, in denen sich diese Form der Sprachthematisierung verkörpert, sind beispielsweise alle Arten von Sprach-, Schreib-, Stil- und Sprechratgebem. Weil sie teils in sehr hohen Auflagen in der Sprachgemeinschaft kursieren, können sie von Fall zu Fall das metasprachliche Bewusstsein von Zweifelsfällen erheblich prägen, wenn sie es nicht sowieso erst schaffen. Daneben ist an alle Formen der pädagogisch-didaktischen Thematisierung (und Bewertung) von Sprache in Schul-, Lehr- und Arbeitsbüchern zu denken. Auch in diesen Werken wird in der einen oder anderen Weise zu vielen Zweifelsfällen Stellung bezogen. Eine ähnlich relevante Form der Sprachthematisierung liegt in den journalistischen Sprachglossen vor. Sie verstehen sich bekanntlich oft als Formen der „Sprachkritik“. Daneben kommen durchaus auch mündliche Kommunikationskontexte infrage, etwa Femsehdiskussionen und Radiofeatures. Im Blick auf die neuen Medien sollte auch an die zunehmende Bedeutung von Internet-Foren und -Diskussionsgruppen gedacht werden. Bei der Analyse eines einzelnen Zweifelsfalls ist also stets zu ermitteln, ob und, wenn ja, in welcher Art und Weise und mit welchen Empfehlungen und Konnotationen er in den genannten Texten und Kontexten gegebenenfalls behandelt wird. Da diese Untersuchungsdimension angesichts der traditionellen, objektsprachlichen Perspektiven auf Zweifelslalle eher eine Neuerung darstellt, ist kurz zu erörtern, worin denn ihr Sinn und Zweck liegen soll. Die metasprachliche Analyse zielt vor allem darauf, dass Sprache nicht nur als unbewusstes, sozusagen problemlos funktionierendes kommunikatives Fundament jeder Gesellschaft zu gelten hat, sondern ihre Reflexion von Fall zu Fall auch ganz spezifische soziale Konsequenzen nach sich ziehen kann. So ist beispielsweise für die jüngere deutsche Sprachgeschichte überzeugend gezeigt worden, dass und wie Standardsprache seit dem 19. Jahrhundert semiotisch erheblich aufgeladen und im gesellschaftlichen Diskurs zu einem sozialdistinktiven Symbol mit beträchtlicher Reichweite ausgebaut wurde (Mattheier 1991, Linke 1996). ln diesen hoch relevanten Sprachthematisierungen wurden und werden auch viele Zweifelsfalle reflektiert und nicht Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 593 selten in autoritativer Manier „entschieden“. Im Zuge derartiger Prozesse mit normierenden Konsequenzen können die Varianten von Zweifelsfällen gewisse soziale Werte bekommen. Diese symbolischen Geltungen sind keineswegs von geringerer Bedeutung als die systemlinguistischen Bestimmungen. Die Realität aller sprachlichen Gebilde wurzelt ja nicht nur in ihrer Grammatik, sondern auch in ihrer sozialen Symbolhaftigkeit, die in metasprachlichen Diskursen hergestellt und tradiert wird. Um die sprachliche Realität von Zweifelsfällen linguistisch zu erfassen, ist es also unbedingt nötig, auch diese metasprachlichen Gehalte zu identifizieren und zu analysieren. Nur so kann die gesamte Tragweite der Existenz von Zweifelsfallen angemessen in den Blick kommen. Die metasprachlichen Stellungnahmen zielen im Fall von vergebens/ vergeblich hauptsächlich darauf, einerseits die Synonymie der beiden Wörter, andererseits ihre Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Wortarten festzuhalten (z.B. DUDEN 9, S. 883f, ähnlich Dückert/ Kempcke 1989, S. 496f.)). Stilistische Unterschiede oder weitergehende grammatische Klärungen findet man dagegen nicht. Der korrekte Hinweis auf die semantische Identität der Ausdrücke wird vermutlich viele Auskunft Suchende in angemessener Art und Weise zufrieden stellen. Interessanter ist demgegenüber der Bezug auf die Wortarten. Denn hier kann die an und für sich plausible Auskunft vergeblich = Adjektiv, vergebens = Adverb zu einem Beispiel dafür werden, wie in der metasprachlichen Thematisierung von Zweifelsfällen (offen oder verborgen) sozialsymbolische Gehalte anwesend sein können. Setzt man einmal voraus, dass die metasprachliche Thematisierung meistens auf eine klärende Sprachberatung aus ist, so erhebt sich bei der genannten Auskunft das Problem, auf welche Frage sie überhaupt als Antwort begriffen werden könnte. Diejenigen Personen, die im Falle von vergebens/ vergeblich zweifeln, werden ja keinesfalls unmittelbar von wortartentypologischen Problemen geplagt! Schon von daher ist der Wert dieser wortartbezogenen Auskunft zurückhaltend einzuschätzen. Der etwas großspurig daher kommende Hinweis auf die unterschiedlichen Wortarten vertuscht aber auch nur den Kern des Problems, das ja gerade in der problematischen Zuordnung von Wortarten und syntaktischen Funktionen sowie im peripheren Systemstatus des fraglichen Wortpaars besteht. Wer also lediglich die beiden Ausdrücke unterschiedlichen Wortarten zuordnet, gibt im Grunde nur vor, dass er eine relevante Antwort zur Klärung dieses Zweifelsfalls besitzt. 594 WolfPeter Klein Wenn der Leser dann noch Informationen zur Unflektierbarkeit von vergebens erhält, die allen deutschen Sprechern überaus trivial erscheinen müssen, 7 so suggeriert der Autor einer solchen Thematisierung, dass die bei vergebens/ vergeblich Zweifelnden praktisch als kleine Dummköpfe behandelt werden können. Denn ihnen ist etwas unklar, so die implizite Annahme, was für alle Sprachversierten überaus klar ist. Damit verfehlt der Schreiber aber gerade die Lösung des Problems. Denn zum Kern des Zweifelsfalls wird man nämlich gerade nicht kommen, wenn man es für die zentrale Auskunft hält, vergeblich ein Adjektiv und vergebens ein Adverb zu nennen. Er gibt Antworten, die zwar unmittelbar einsichtig sind, aber keine relevante Information zur Lösung des Zweifelsfalls darstellen. Der Effekt dieser Strategie liegt dann freilich darin, dass die Angelegenheit als eine Trivialität behandelt wird, die nur für Dumme aufzuarbeiten und mit entsprechend simplen Beispielen zu illustrieren ist. In diesem Muster, das im Laiendiskurs immer wieder zum Tragen kommt, wird so die sozialsymbolisch relevante Differenz zwischen den (vorgeblich) Sprachkundigen und den (vorgeblich) Sprachunkundigen geschaffen. Tatsächlich ist am Ende aber keine der beiden Seiten wirklich schlauer, nur der imaginäre Graben zwischen Sprachkundigen und Sprachunkundigen wurde gefestigt und ist nun sozialsemiotisch für ähnliche metasprachliche Thematisierungen verfügbar. In etwas größeren Perspektiven gesehen handelt es sich bei dem Wortpaar vergebens/ vergeblich ferner um einen Gegenstand, der seit dem 19. Jahrhundert in der metasprachlichen Literatur zu den Zweifelsfällen oft behandelt wurde. Denn die Abgrenzung zwischen Adjektiven und Adverbien und die Bewegungen zwischen diesen Wortarten waren schon immer ein Feld, auf dem normative Feststellungen formuliert wurden. Sie ergaben sich insbesondere daraus, dass man bestimmte syntaktische Funktionen nur von einer Wortart erfüllt sehen wollte. Vor diesem Hintergrund, der wissenslogisch in der traditionellen europäischen Wortartengrammatik wurzelt, mussten Wörter, deren Status (zumindest vorübergehend) zwischen den üblichen morphosyntaktischen Grenzziehungen lag, irritieren. Entsprechende Fälle konnten zu teilweise harschen Bewertungen mit deutlich sozialsymbolischer Dimension Anlass geben. Wer „Adverbien als Adjektive“ benutzte, so die normative Sprechweise, galt als sprachunkundig oder -nachlässig und musste folg- 7 „Wer heute noch vergeblicher bettelt als gestern, der bettelt zwar vergeblicher, nicht aber ‘vergebenser’. Die vergebliche Bettelei kann auch keine ‘vergebense’ Bettelei sein.“ (Sick 2004, s.v. vergeblich/ vergebens). Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 595 lieh mit den Sanktionen rechnen, die im Sprachdiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für die „Verächter“ des „guten (bzw. richtigen) Deutsch“ vorgesehen waren. Entsprechendes wurde etwa für Bildungen mit -weise und vergleichbare Fälle immer wieder formuliert (Engel 1922, S. 157-159; Andresen 1923, S. 178-184, Matthias 1930, §11, 13, 86; Schneider 1931, S. 9Iff.). 5. Sprachgeschichtliche Analyse In der sprachgeschichtlichen Dimension ist auf breiter Front der Faktor Zeit in die Analyse der Zweifelsfälle aufzunehmen. Da dies in systematischer Flinsicht keine neuen Gesichtspunkte mit sich bringt, möchte ich mich auf einige wenige Bemerkungen zu diesem Feld beschränken. Sprachgeschichtlich ist natürlich bei gegebenen Zweifelsfällen zunächst von Interesse, wann sie entstanden sind und wie sie sich mit der Zeit entwickelt haben. Für das Wortpaar vergebens/ vergeblich wäre also zu ermitteln, seit wann und aus welchen Gründen das synonyme Paar im Deutschen besteht. Summarisch kann hier insofern nur festgehalten werden, dass die Konkurrenz zwischen vergebens/ vergeblich mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Der Zusammenfall ergab sich insbesondere daraus, dass mhd. vergebens (Gen. des Part. v. vergeben), das zunächst nur adverbial verwendet wurde, mit der Zeit auch prädikativ auftaucht, während mhd. vergeb(en)lich gleichzeitig als Adjektiv erschien (Paul 1992: s.v. vergeben, DW Bd. 25, s.v. vergebens, vergeblich). So schwierig derlei sprachhistorische Spurensuche von Fall zu Fall sein mag, so sehr verblasst eine solche Aufgabe hinter dem Projekt, für verschiedene Zeiträume synchrone Querschnitte anzusetzen. Man müsste dann der Reihe nach wieder genau die obigen Fragen von Kap. 1. bis 4. durchgehen, die der Analyse der gegenwärtigen Situation zugrunde gelegen haben. Demnach könnte etwa für das 17., 18. und 19. Jahrhundert anhand von Originaldokumenten der Zeit analysiert werden, ob das Paar vergebens/ vergeblich schon damals als Zweifelsfall in den Blick kam (1. Identifikation). Es wäre zu ermitteln, wie die Wörter im jeweiligen Zeitraum tatsächlich gebraucht wurden (2. Sprachgebrauchsanalyse) und wie sich ihr damaliger Systemstatus bestimmen ließe (3. Sprachsystemanalyse). Zuletzt könnte auch hier wieder in den Blick kommen, in welcher Art und Weise in den zeitgenössischen Sprachdiskursen zum betreffenden Zweifelsfall Stellung genommen wurde 596 WolfPeter Klein (4. Analyse der metasprachlichen Thematisierung). Wenn man sich dann noch vorstellt, dass die verschiedenen synchronen Schnitte in einer diachronen Linie angeordnet werden könnten, so wäre es auf dieser Basis möglich, einen Zweifelsfall umfassend sprachgeschichtlich zu verorten. Man könnte sicher am Ende bestimmte Entwicklungstendenzen festmachen. Derlei Linien würden sich sowohl in systemlinguistischer Sicht ergeben als auch in sprachkulturell-gesellschaftlicher Dimension, wenn man die verschiedenen metasprachlichen Thematisierungen miteinander vergleicht. 6. Fazit Ich wollte mit meinen Ausführungen zeigen, dass und wie die Untersuchung aller sprachlichen Zweifelsfälle ein groß angelegtes linguistisches Unternehmen darstellen kann. Auch wenn die Überlegungen sicher an einigen Punkten noch unscharf, vielleicht sogar unbedarft geblieben sind, so hoffe ich doch zumindest in Umrissen meinen Plan erfüllt zu haben. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Anzahl der Zweifelsfälle im Deutschen vermutlich irgendwo im höheren dreistelligen Bereich liegen dürfte, so könnte man sogar zu dem Schluss verleitet werden, dass ein solches Unternehmen uferlos zu werden droht. Dem möchte ich zum Schluss mit einem Hinweis auf die geforderte Typologisierungsarbeit begegnen. Denn so fruchtbar es ist, jeden einzelnen Zweifelsfall erst einmal für sich umfassend zu behandeln, so wichtig dürfte es auch sein, verwandte Zweifelsfalle nach eindeutigen Kriterien in Gruppen zusammenfassen und dann im Zusammenhang zu erforschen. So sind beispielsweise, wie beim Paar vergeblich/ vergebens, ähnliche wortartenbezogene Fälle heranzuziehen, insbesondere im Spannungsfeld zwischen Adjektiven und Adverbien. Andere Klassen könnten sich um flexionsmorphologische Varianten gruppieren, beispielsweise im Zusammenhang der diversen Syn- und Apokopierungsprozesse des Deutschen. Auch aus Aussprache- und Schreibvarianten wären sicherlich viele interessante Gruppen zusammenzustellen. Auf syntaktischem Feld bieten etwa Rektions- und Kongruenzphänomene Ansätze für sinnvolle Typisierungen. Variationslinguistisch dürften Sprachkontakterscheinungen, dialektale Differenzen und fachsprachliche Entwicklungen immer wieder bestimmte Typen sprachlicher Zweifelsfälle konstituieren. Vergebens oder vergeblich? Ein Modell zur Analyse sprachlicher Zweifelsfälle 597 Insgesamt könnte aus solchen Untersuchungen ein lebendiges Panorama der Entwicklung und des gegenwärtigen Lebens der deutschen Sprache entstehen. Flankiert würde es von einem Einblick in wesentliche Selbstreflexionsprozesse der Sprachgemeinschaft. Die Projekte könnten das Profil der germanistischen Linguistik nach innen schärfen und nach außen vielfältige Anschlussmöglichkeiten für Iransbzw. interdisziplinäre Forschungsprojekte bieten. Die Arbeit wäre also sicher nicht vergeblich. Und auch nicht vergebens. 7. 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Einleitung Sprachwissenschaftliche Kompetenzen und Methoden haben im Verlauf der letzten Jahre erfreulicherweise Zug um Zug Eingang in die praktische wissenschaftliche Arbeit benachbarter Disziplinen gefunden. Nicht zuletzt als Folge der zunehmenden Verbreitung digitaler Medien entstanden darüber hinaus neue, oft interdisziplinär ausgerichtete Forschungsschwerpunkte. Die Texttechnologie teilt sich mit der allgemeinen Sprachwissenschaft den gemeinsamen Untersuchungsgegenstand, nämlich die Beschäftigung mit natürlicher Sprache. Allerdings konzentriert sie sich dabei primär auf deren elektronische Manifestation in Form digitaler Texte. Das Erkenntnisinteresse betrifft gleichermaßen Syntax, Bedeutung und Verwendung: Wie lassen sich Textstrukturen und Referenzbeziehungen mit Flilfe spezieller Grammatiken modellieren, welche Repräsentationsmodelle unterstützen eine effiziente Informationsextraktion usw. Entsprechend breit gefächert sind die Anknüpfungspunkte an andere linguistische Teildisziplinen. Um einen grundlegenden Eindruck davon zu vermitteln, ob - und wenn ja: wo wechselseitig profitable Verbindungen zur Grammatikforschung bestehen, will der vorliegende Beitrag einige zentrale texttechnologische Themen sowie deren Anwendungsrelevanz genauer ausleuchten. 2. Markup-Sprachen Markup-Sprachen (auch: Annotations- oder Auszeichnungssprachen) spielen seit längerem eine wichtige Rolle bei der Planung und Durchführung zahlreicher sprachwissenschaftlicher Forschungsvorhaben. Als prototypische Anwendungsbereiche lassen sich die Erschließung von Korpora, die Erstellung von Wörterbüchern, oder auch die Modellierung von Wort- und Wissensnetzen benennen. In praxi können alle Projekte vom Einsatz adäquater Auszeichnungsmechanismen profitieren, die sich mit der Erfassung, Analyse und algorithmischen Weiterverarbeitung digitalisierter Sprache beschäftigen. 602 Roman Schneider Definition: Das Prinzip der Markup-Technologie beruht auf einer formal standardisierten Einbettung unterschiedlichster Meta-Informationen in digitale Dokumente. Vokabular und Syntax von Markup-Sprachen werden mit Hilfe kontextfreier Grammatiken festgelegt. Ziel ist eine eindeutige Identifizierung und Charakterisierung der Dokumentsegmente, idealerweise unabhängig von nachfolgenden Verarbeitungsschritten. In der Realität lässt sich dieser hohe Anspruch nicht immer konsequent umsetzen, denn jede Annotation erfolgt naturgemäß stets in Abhängigkeit von der jeweils eingenommenen Perspektive und den Zielen, die sich der Bearbeiter gestellt hat. Um die grundlegenden Arbeitsschritte transparenter zu machen, sollte deshalb zwischen einer Annotations- und einer Beschreibungsebene unterschieden werden: Während auf der Annotationsebene die konkrete Auszeichnung vollzogen wird, muss vorher auf der Beschreibungsebene entschieden werden, aus welcher Perspektive und mit welchen Ansprüchen die Analyse der Dokumente durchgefuhrt werden soll. Beispielsweise wird eine morpho-syntaktische Analyse andere Anforderungen an die Auszeichnung stellen als eine Analyse semantischer oder pragmatischer Relationen, eine spätere kontrastive Untersuchung wird andere Basisinformationen benötigen als die Informationsextraktion aus homogenen, einzelsprachlichen Texten. Alle diese Überlegungen und Entscheidungen fuhren schließlich im optimalen Fall zu einem adäquaten Datenmodell. Für jede Beschreibungsebene lassen sich ein oder mehrere Annotationsformat(e) formulieren; umgekehrt kann ein Annotationsformat grundsätzlich für eine oder mehrere Beschreibungsebenen einsetzbar sein. Generell lassen sich zwei Typen von Markup-Sprachen unterscheiden: Deskriptive Markup-Sprachen 1 dienen der Repräsentation struktureller Informationen. Sie beschreiben den formalen Aufbau von Dokumenten, getreu der Devise der strikten Trennung von äußerer Form, Struktur und Inhalt mit den Worten der Bauhaus-Maxime: „form follows function“. Prozedurale Markup-Sprachen 2 hingegen legen primär fest, in welcher Form einzelne Inhaltsbestandteile auf der medialen Präsentationsebene, d.h. auf Bildschirmen oder Druckern, dargestellt werden sollen. Analog hierzu werden auch 1 Beispielsweise LaTeX oder die Angehörigen der SGMLbzw. XML-Familie, zu der XHTML, SVG, VRML, MathML oder auch die am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim eingesetzte Markup-Sprache grammisML gehören. 2 Prominente Beispiele sind TeX, Postscript oder PDF. Texttechnologie und Grammatik 603 die Begriffe „Generic Markup“ respektive „Visual Markup“ verwendet. Im Folgenden wird ausschließlich von der erstgenannten Kategorie die Rede sein. Für die Annotierung syntaktischer Strukturen in digitalen Textsammlungen wurde im Verlauf der letzten Jahrzehnte eine Vielzahl verschiedener Ansätze entwickelt. Die beiden bekanntesten Markup-Lösungen sind sicherlich das in SGML beschriebene Regelwerk der Text Encoding Initiative (TEI) sowie der Corpus Encoding Standard (CES) bzw. dessen XML-basierter Nachfolger XCES. 3 Allerdings weist das TEI-Format neben seiner nicht gerade geringen Komplexität den gravierenden Nachteil auf, dass keinerlei Regeln für das Einfügen von morpho-syntaktischen bzw. morphologischen Angaben vorgesehen sind. XCES erscheint in dieser Hinsicht erheblich leistungsfähiger und unterstützt sogar den Einsatz unterschiedlicher Annotationsebenen. Derzeit liegt es noch in einer Beta-Version vor und wird dementsprechend spärlich in aktuellen linguistischen Projekten genutzt. Verbreitet sind weiterhin projektspezifische Beschreibungssprachen, beispielsweise der Tübinger TUSNELDA-Standard 4 , das TigerXML-Format des Tiger-Korpus 5 oder das Corpus Document Interchange Format (CD1F) des British National Corpus (BNC) 6 . Das Gesamtbild wird abgerundet durch eher tabellarisch organisierte Lösungen, z.B. das NEGRA-Format 7 oder das Tagset der „Penn TreeBank“ x . Wie die vorstehende grobe Übersicht bereits vermuten lässt, erscheint das Spektrum relevanter Markup-Sprachen für die linguistische Annotation breit gefächert. 9 Es ist daher wenig verwunderlich, dass bereits seit längerem eine Diskussion über den Nutzen eines theorie- und perspektivenunabhängigen Standards geführt wird. Um die dabei auftretenden Problematiken und den 3 Die TEl-Homepage ist unter http: / / www.tei-c.org erreichbar. Zu CES und XCES, die Bestandteile der Richtlinien der Expert Advisory Group on Language Engineering Standards (EAGLES) und beide grundsätzlich auch TEI-konform sind, vgl. http: / / www.es. vassar. edu/ CES/ bzw. http: / / www.xml-ces . org. 4 Vgl. http : / / www. sfb441 .uni-tuebingen.de/ tusnelda.html. 5 Vgl. http : / / www. ims . uni - Stuttgart. de/ proj ekte/ TIGER/ . 6 Vgl. http: / / www. natcorp. ox. ac . uk/ . 7 Vgl. http: / / www. coli . uni-sb. de/ sfb3 78/ negra-corpus/ . 8 Das zugehörige Tagset orientiert sich an den Vorarbeiten zum „Brown Corpus of Standard American English“; vgl. http: / / www. cis .upenn.edu/ ~treebank/ . 9 Vgl. hierzu auch Naumann (2000) und Ule/ Hinrichs (2004). Einen guten Online-Überblick bietet z.B. http: / / www. Idc .upenn.edu/ annotation/ . 604 Roman Schneider potentiellen Beitrag der Linguistik zu diesem Prozess besser abschätzen zu können, soll nachfolgend kurz auf die sprachtheoretische Einordnung von Markup-Sprachen eingegangen werden. Für die Klassifizierung von Sprachen aus formaler Sicht hat sich in der einschlägigen Forschung die 1956 von Noam Chomsky vorgeschlagene Sprach- und Grammatik-Hierarchie etabliert. Ursprünglich aus dem Verlangen heraus entstanden, natürliche Sprachen mit formalen Mitteln zu beschreiben, ist diese Einteilung seither nicht nur in der Sprachwissenschaft, sondern insbesondere in der theoretischen Informatik äußerst populär geworden. Im Einzelnen unterscheidet die Chomsky-Hierarchie folgende Sprachbzw. Grammatiktypen: unbeschränkte, rekursiv aufzählbare Sprachen (Typ-O-Grammatik) kontextsensitive Sprachen (Typ-1-Grammatik) kontextfreie Sprachen (Typ-2-Grammatik) reguläre Sprachen (Typ-3-Grammatik) Zwischen diesen Typen besteht ein echtes Teilmengen-Verhältnis, d.h., jede reguläre Grammatik erfüllt auch sämtliche Anforderungen an eine kontextfreie Grammatik, jede kontextfreie Grammatik erfüllt sämtliche Anforderungen an eine kontextsensitive Grammatik usw. Charakteristisch für die Hierarchie sind eine mit der Erhöhung der Typenbezeichnung einhergehende Beschränktheit der Syntaxregeln sowie sinkende maschinelle Implementierungshürden. Markup-Sprachen auf der Basis von SGML und XML erfordern die Mächtigkeit von kontextfreien Grammatiken; den Anforderungen an reguläre Sprachen genügen sie nicht. Für die Verwaltung der jeweils zugehörigen Grammatikregeln d.h. für die Festlegung, welche Elemente und Konstrukte innerhalb einer Markup-Sprache zulässig sind ist eine sogenannte Document Type Definition (DTD) zuständig. Eine solche DTD besteht, analog zu Grammatiken für natürliche Sprachen, aus Symbolen plus Regeln und kann als Quadrupel G = (V N , V T , P, S) beschrieben werden mit: V N = endliches Alphabet der Nichtterminalsymbole V T = endliches Alphabet der Terminalsymbole P = endliche Menge der Produktionsregeln S = Startsymbol aus V N Texttechnologie und Grammatik 605 Für das Verhältnis von V N und V r gilt V N n V T = 0 sowie V N u V r = V. Die Produktionsregeln sämtlicher in der Flierarchie beschriebenen Sprachen entsprechen der Form a —> ß, wobei a e V*V N V* und ß e V*. Für die Regeln in kontextfreien Sprachen gilt einschränkend a e V N . Exemplarisch lässt sich der Aufbau einer kontextfreien Grammatik auf XML-Basis also einer DTD anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen: (1) Der Autor arbeitet aufeiner alten Schreibmaschine. Die Konstituentenstruktur dieses Satzes kann mit Flilfe der Baumansicht in Abbildung 1 visualisiert werden: Eine zu diesem Satz - und zu allen anderen Sätzen mit exakt der gleichen Struktur passende DTD käme mit einigen wenigen Syntaxregeln aus, die in ihrer Form an die aus Transformationsgrammatiken bekannten Phrasenstrukturregeln (also z.B. Satz NP+VP) erinnern. 10 Um das Beispiel ein wenig anspruchsvoller zu gestalten, sollen jedoch neben der reinen Konstituentenstruktur noch weitere grammatische bzw. morphologische Kategorien einge- 10 Vgl. z.B. Lobin (2004). Daneben besteht eine Ähnlichkeit zur Backus-Naur-Form (BNF) bzw. Erweiterten Backus-Naur Form (EBNF). Seit ihrer Einführung Anfang der sechziger Jahre werden diese Konventionen für die Syntaxbeschreibung kontextfreier Sprachen (z.B. höherer Programmiersprachen) eingesetzt. 606 Roman Schneider fügt werden. Adjektive, Artikel und Nomen erhalten teilweise optionale - Attribute für Kasus, Numerus und Genus; Verben erhalten Attribute für Person und Numerus." Artikel sollen definit oder indefinit sein können. Für Präpositionen soll angegeben werden, ob das Folgeelement im Dativ oder im Akkusativ steht: <! ELEMENT satz <! ELEMENT np <! ELEMENT vp <! ELEMENT pp <! ELEMENT adj <IATTLIST adj kasus genus numerus <! ELEMENT art <IATTLIST art typ kasus genus numerus <! ELEMENT n <IATTLIST n kasus genus numerus <! ELEMENT p <IATTLIST p verlangt <! ELEMENT v <IATTLIST v person numerus (np,vp)> (art,adj ? , n) > (v,pp)> (p,np)> (#PCDATA)> (nom|gen|dat|akk) (mask|fern|neutr) (sg|pl) (#PCDATA)> (def indef) (nom gen|dat|akk) (mask|fern|neutr) (sg|pl) (#PCDATA)> (nom|gen|dat|akk) (mask|fern|neutr) (sg|pl) (#PCDATA)> (akk|dat) (#PCDATA)> (11 2 | 3) (sg|pl) #REQUIRED #REQUIRED #REQUIRED> #REQUIRED #REQUIRED #REQUIRED #REQUIRED> #IMPLIED #REQUIRED #REQUIRED> #REQUIRED> #REQUIRED #REQUIRED; Eine Auszeichnung des Beispielsatzes (1) gemäß der in dieser XML-DTD eingeführten Elementtypen und Syntaxregeln sähe nun folgendermaßen aus: <satz> <np> <art typ="def" kasus="nom" genus="mask" numerus="sg">Der</ art> <n kasus="nom" genus="mask" numerus="sg">Autor</ n> </ np> <vp> <v person="3" numerus="sg">arbeitet</ v> <pp> ii Diese Auswahl deckt natürlich nicht sämtliche charakteristischen Attribute der beschriebenen Wörter ab, sondern ist als exemplarische Auswahl zu sehen. Texttechnologie und Grammatik 607 <p verlangt="dat">auf</ p> <np> <art typ="indef" kasus="dat" genus="fem" numerus="sg">einer</ art> <adj kasus="dat" genus="fem" numerus="sg">alten</ adj> <n genus="fem" numerus="sg">Schreibmaschine</ n> </ np> </ pp> </ vp> </ satz> Die Vorzüge einer solchen XML-basierten Kodierung linguistischer Informationen liegen in der Flexibilisierung der weiteren Anwendung. Alle standardisierten Hilfsmittel, die mittlerweile für die XML-Sprachenfamilie verfügbar sind, können unmittelbar genutzt werden, um Inhalte bei jederzeit garantierter Datenintegrität zu bearbeiten. Editoren, Parser und Transformationswerkzeuge erleichtern den Austausch mit anderen Quellen und Anwendungen. Außerdem helfen sie bei der Erweiterung bestehender DTD-Modelle um zusätzliche Elementtypen oder beim Anlegen von Verknüpfungen. Im Übrigen lassen sich Markup-Texte, verglichen mit anderen Repräsentationsformen wie z.B. Tabellen oder Klammerstruktur-Formaten, bis zu einem gewissen Komplexitätslevei nicht nur durch Computer verarbeiten, sondern erschließen sich auch dem menschlichen Betrachter. Neben der bislang betrachteten integrierten Repräsentation linguistischer Angaben in der XML-Quelle bietet sich in manchen Fällen eine verteilte Repräsentation an. Diese kann bereits dann nützlich erscheinen, wenn die schiere Menge und Schachtelung der Elementtypen sowie die Anreicherung um Attribute die Grenze dessen überschreitet, was mit zumutbarem Aufwand noch von einem menschlichen Nutzer erfasst werden kann. Eine Verteilung der Meta-Informationen auf verschiedene Dateien wird spätestens dann unvermeidlich, wenn verschiedene Modelle oder Perspektiven zu berücksichtigen sind; in diesem Zusammenhang ist oft auch von „Stand-Off Markup“ und „Multi-Level Annotation“ die Rede. Angenommen, die obige XML-Instanz sollte um die Ergebnisse einer automatischen Lemmatisierung ergänzt werden. Die integrierte Lösung bestünde darin, für die betroffenen Elementtypen ein zusätzliches Attribut zu definieren und dieses dann entsprechend aufzufüllen. Dies lässt sich anhand des Verb-Elements demonstrieren: <v lemma="arbeiten" person="3" numerus="sg">arbeitet</ v> 608 Roman Schneider Eine verteilte Lösung, wie sie etwa auch XCES unterstützt (vgl. Ide/ Romary 2003), würde dagegen zunächst lediglich die rudimentären Strukturinformationen, also z.B. Absatz- und Satzgrenzen, direkt in die Primärdaten einbetten: <satz id="sl">Der Autor arbeitet auf einer alten Sehreibmaschine</ satz> Alle weiterführenden Angaben könnten dann mittels XLink-Verknüpfungen und XPointer-Adressen in separaten Dateien vorgehalten werden: 12 <chunk xml: base="http: / / www.ids-mannheim.de/ test.xml#"> <struct id="t3" xlink: href="xptr(substring(/ / s [id="sl"]/ text () ,11,8))"> <feat type="cat">v</ feat> <feat type="lemma">arbeiten</ feat> <feat type="person">3</ feat> <feat type="numerus">sg</ feat> </ struct> </ chunk> Eine derartige Verbindung normierter Markup-Sprachen auf XML-Basis mit den flankierenden Standards zur Verknüpfung und Datenextraktion dürfte zukünftig einen bedeutenden Einfluss auf Projekte haben, die sich mit der Anreicherung digitaler Sprachdaten um linguistische Informationen beschäftigen insbesondere dann, wenn mehrere verschiedene Perspektiven bzw. Beschreibungsebenen unterschieden werden müssen. Die Primärdaten lassen sich auf diese Weise aufgrund ihrer flachen und einfachen Struktur für verschiedene Zwecke wiederverwenden und ebenso leicht zwischen kooperierenden Forschergruppen austauschen. 3. Wissensorganisation und -repräsentation Wie bereits in der Einleitung des vorigen Abschnitts angesprochen, spielen Markup-Sprachen unter anderem bei der Organisation und Repräsentation digitalisierten Wissens eine zentrale Rolle. Und in der Tat konstituiert gerade die Auseinandersetzung mit diesem Zusammenwirken einen gleichermaßen innovativen wie ertragreichen Forschungsgegenstand der Texttechnologie. Im Mittelpunkt des Interesses stehen dabei die Standards und Methoden für eine explizite systematische Festschreibung von Entitäten und bedeutungstragenden Relationen eines Fachgebiets mit dem Ziel, dieses geordnete „Wissen“ zur Erschließung digitaler Textsammlungen zu nutzen. 12 Zu XLink und XPointer vgl. z.B. Behme/ Mintert (2000). Texttechnologie and Grammatik 609 Noch vor wenigen Jahren erschien der Kreis derjenigen, die sich für den Aufbau digitaler Wissensrepräsentationssysteme interessierten, als vergleichsweise übersichtlich: In den Forschungen zur Künstlichen Intelligenz (KI) und zur Verarbeitung natürlicher Sprache beschäftigte man sich mit der Funktion von Sprache als Vermittler zwischen Mensch und Umwelt und modellierte in diesem Zusammenhang beispielsweise unterschiedlich komplexe semantische Netze — zumeist für klar umgrenzte Anwendungsdomänen, gelegentlich auch zur Abbildung fachübergreifenden Weltwissens. Mittlerweile kommen verwandte Systeme und Technologien auf breiterer Basis zum Einsatz. Im Kontext der maschinellen Informationserschließung haben sich insbesondere Thesauri und Ontologien als leistungsfähige Instrumente erwiesen. Da beide Begriffe häufig synonym, gelegentlich sogar in widersprüchlicher Weise verwendet werden, empfiehlt sich zunächst eine kurze defmitorische Klarstellung. Definition: Als Thesaurus bezeichnen wir ein Klassifikationssystem, in dem ausgewählte Terme (auch: Ausdrücke oder Deskriptoren) einer Sprache bzw. eines Fachgebiets als kontrolliertes Vokabular dargestellt werden. Zusätzlich erfasst ein Thesaurus hierarchische Relationen (Hyponymie und Hyperonymie) und lexikalische Relationen (Synonymie, Antonymie, verwandte Ausdrücke). Thesauri sind als Ordnungs- und Recherchehilfsmittel somit mächtiger als einfache Taxonomien, die beispielsweise von Internet-Verzeichnissen wie Yahoo! verwendet werden, oder Kataloge für Angebotsplattformen wie Amazon. Sowohl Taxonomien wie auch Kataloge erfassen zwar ebenfalls kontrollierte Vokabularien, bilden allerdings bestenfalls einfache, nicht typisierte Hierarchiebeziehungen ab. Thesauri können darüber hinaus zumindest ein begrenztes Inventar aussagekräftigerer Beziehungen kodieren, was wiederum eine Grundvoraussetzung für ihren Einsatz im Rahmen einer anspruchsvollen automatischen Informationserschließung ist. 13 Exemplarisch für diesen Einsatzbereich stehen Fragestellungen, die mit der Auflösung von Synonymie- und Polysemieproblemen verbunden sind. Strukturierungsvorschläge für Thesauri liegen mittlerweile in Form einschlägiger Richtlinien vor. 180-2788: 1986 und ANSI Z39.19-1993 sowie das 13 Daneben werden Thesauri auch als stilistische Hilfsmittel in modernen Textverarbeitungsprogrammen eingesetzt oder dienen der manuellen Erschließung von Sachgebieten wie z.B. der deutschsprachige „OpenThesaurus“ unter http: / / www.openthesaurus .de. 610 Roman Schneider deutsche Pendant DIN-1463-1 definieren Benennung, Abkürzung und Verwendung der möglichen Relationen für monolinguale Thesauri; entsprechende Vorgaben existieren für multilinguale Systeme. Darauf aufbauend wurden in der Vergangenheit eine Reihe von Lösungsvorschlägen gemacht, die eine normierte Implementierung von Thesauri unterstützen. Neben RDFbasierten Ansätzen 14 erscheinen in diesem Zusammenhang hauptsächlich XML-Sprachen interessant, die neben einer konsequenten Umsetzung der Grundlagen auch Erweiterungen zur Erfüllung individueller Projektbedürfnisse erlauben. Exemplarisch können hier die Thesaural Markup Language (TML), die Schemata des Open University Thesaurus oder die Zthes- Spezifikation genannt werden. 15 Letzte soll im nachfolgenden Beispiel genutzt werden, um den möglichen Aufbau eines sprachwissenschaftlichen Thesaurus aufzuzeigen: <term> <termld>10</ termld> <termName>Nominalphrase</ termName> <relation> <relationType>BT</ relationType> <termld>l</ termld> <termName>Phrase</ termName> </ relation> <relation> <relationType>RT</ relationType> <termld>22</ termld> <termName>Nomen</ termName> </ relation> <relation> <relationType>UF</ relationType> <terinld>ll</ termld> <termName>Nominalgruppe</ termName> </ relation> </ term> Beschrieben wird hier eine ausgewählte Menge von Beziehungen 16 für den Term Nominalphrase. Zum Relationstyp BT („Broader Term“), der eine hierarchische Überordnung des Terms Phrase ausdrückt, existiert in der 14 Hierzu zählen beispielsweise die für das zukünftige „Semantic Web“ erarbeiteten Entwürfe; Vgl. http: / / www. w3 . org/ 2 0 01/ sw/ Europe/ reports/ thes/ rdfthes . html. 15 Vgl. Lee/ Baillie/ Dell'Oro (1999) sowie http: / / guardians .open.ac.uk/ schemas/ thesaurus/ und http: / / zthes.z3 950.org. 16 Die Zthes-konforme Benennung der Relationstypen BT, NT, RT, UF und USE folgt den Vorgaben von ISO-2788; DIN-Entsprechungen wären OB („Oberbegriff“), UB („Unterbegriff“), VB („Verwandter Begriff“), BF („Benutzt für“) und BS („Benutze Synonym“). Texttechnologie und Grammatik 611 Strukturspezifikation das konverse Gegenstück NT („Narrower Term“). Der Relationstyp RT („Related Term“) verweist auf den verwandten Term Nomen, wobei Art oder Begründung dieser Verwandtschaft nicht weiter ausgeflihrt sind. Der Relationstyp UF („Use For“) kennzeichnet eine Äquivalenzrelation zum Synonym Nominalgruppe; zur Kennzeichnung einer bevorzugten Äquivalenzrelation könnte use verwendet werden. 17 Das Beispiel verdeutlicht eine prinzipielle Beschränkung von Thesauri, nämlich die fehlende Möglichkeit zur Formulierung komplexerer Beziehungen. Während sich der Zusammenhang zwischen Phrase und Nominalphrase mit Hilfe der Allgemeiner-Spezifischer-Relation noch angemessen ausdrücken lässt, ist dies für den Zusammenhang von Nominalphrase und Nomen nicht mehr möglich. Das Nomen ist ja eben nicht „eine Art von Nominalphrase“, sondern möglicher in Einzeltallen sogar alleiniger - Bestandteilteil einer Nominalphrase. An dieser Stelle setzen mächtigere Repräsentationssysteme mit einer höheren Aussagekraft an. Im Folgenden soll für diese Systeme der Begriff „Ontologien“ verwendet werden. 8 Definition: Unter einer Ontologie verstehen wir die konsistente formale Beschreibung ausgewählter Konzepte (auch: Klassen) einer Anwendungsdomäne. Charakteristisch ist die Vererbung von Eigenschaften (auch: Attribute oder Slots) von allgemeineren auf speziellere Konzepte. Wechselseitige Beziehungen unterschiedlichster Art werden präzise vermittels explizit benannter Relationstypen beschrieben. Eine solche Definition schließt übrigens auch lexikalisch-semantische Wortnetze wie das Princeton WordNet oder dessen deutsches Gegenstück 17 Eine Diskussion darüber, wann ein Ausdruck als Synonym eines anderen Ausdrucks anzusehen ist, soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Für die Zwecke der maschinellen Informationserschließung dürfte in den meisten Fällen eine allzu enge Auslegung totale Synonymie bei uneingeschränkter Austauschbarkeit eher hinderlich sein, und die Austauschbarkeit in einem bestimmten Kontext als ausreichendes Kriterium bevorzugt werden. 18 Aus wissenschaftstheoretischer Sicht mag dieser Begriff „ein paar Nummern zu groß“ (Ferber 2003, S. 59) gewählt sein. In der KI-Forschung - und in der Folge auch in texttechnologischen Anwendungen zur Informationserschließung wird darunter jedoch nicht die „Lehre vom Sein“ verstanden, sondern ganz pragmatisch eine nicht notwendigerweise vollständige - Sammlung von Fakten, die mit Hilfe eines Computers modelliert werden sollen; vgl. z.B. Guarino (1998). 612 Roman Schneider GermaNet ein. 19 In dieses Netzen übernehmen so genannte „Synsets“ - Zusammenfassungen von bedeutungsgleichen Begriffen zu einer elementaren Repräsentationseinheit die Rolle von Konzepten. Die Aussagekraft von Ontologien wird bei einer Betrachtung der komplexen Beziehungen deutlich, die in Abbildung 2 skizziert sind: - Relation ©: Der Zusammenhang zwischen Nominalphrase und Phrase kann, analog zum Vorgehen im obigen Thesaurus-Beispiel, durch eine Hyponymie-Beziehung (Teilmengen-Beziehung) ausgedrückt werden. - Relation ©: Nomen und Nominalphrase lassen sich dagegen adäquater durch eine Meronymie-Beziehung (Teil-Ganzes-Beziehung) verbinden. Nomen ist Meronym zu Nominalphrase und Nominalphrase das Holonym zu Nomen. - Relation (D: Zwischen Nominalphrase und Nominalgruppe besteht eine Synonymie-Beziehung. - Relation ©: Jede Phrase besitzt einen lexikalischen Kopf. Dies lässt sich durch Zuweisung einer entsprechenden Eigenschaft ausdrücken, die an alle Hyponyme vererbt wird. - Relation ©: Buch ist eine Instanz des Konzepts Nomen und mit diesem über eine Element-Beziehung verbunden. Buch Abb. 2: Modellierung komplexer Relationen 19 Zu WordNet vgl. z.B. Fellbaum (1998); zu GermaNet vgl. z.B. Kunze (2001). Texttechnologie und Grammatik 613 Der Mehrwert einer solchen Modellierung liegt insbesondere in der Präzisierung der Allgemeiner-Spezifischer-Relation mit Hilfe der Hyponymie-, Meronymie- und Element-Beziehungen. Auch das Anlegen von Kreuzklassifikationen, d.h. die Unterordnung eines Konzepts unter verschiedene übergeordnete Konzepte, ist möglich, da sich das Modellierungsinventar nicht auf monohierarchische Strukturen beschränkt. Zwar kann das Ziel jeder Modellierung nur die Abstraktion (sprich: Vereinfachung) und keine umfassende Erklärung eines Fachbereichs sein. Trotzdem erlaubt eine konsistente Konzeptionalisierung prinzipiell auch die Anbindung an Inferenzsysteme und damit die Ableitung impliziten Wissens. Voraussetzung hierfür ist die Beschreibung von Ontologien mit Hilfe ausdrucksstarker Auszeichnungssprachen. In den letzten Jahren hat in diesem Bereich, neben konkurrierenden Standards wie XML Topic Maps (XTM), der XML-Based Ontology Exchange Language (XOL) oder DAML+OIL, 20 die Web Ontology Language (OWL) von sich reden gemacht. OWL gehört zur Familie der Beschreibungslogiken, verwendet das Vokabular von RDFS (RDF Schema) und liegt in den drei unterschiedlich expressiven Varianten OWL Lite, OWL DL (Description Logics) und OWL Full vor. 21 Um einen Eindruck der Funktionsweise von OWL zu vermitteln, sollen abschließend zwei kurze und prägnante Beispiele folgen. Relation © also Nominalphrase c Phrase ließe sich folgendermaßen umsetzen: <owl: Class about = "#Nominalphrase"> <rdfs: subClassOf rdf: resource = "#Phrase" / > </ owl: Class> Die Eigenschaft, dass jede Phrase genau einen lexikalischen Kopf besitzt (Relation ©), lässt sich in OWL durch Formulierung einer entsprechenden Restriktion ausdrücken. Ergänzend dürften an anderer Stelle weitere Relationen festgelegt werden, etwa dass sich dieser Kopf aus dem Inventar einer feststehenden Wortklassenliste rekrutieren muss. Vgl. http : / / mm. topicmaps . org, http: / / xml. coverpages .org/ xol .hml, http: / / www.daml.org. 21 Die Empfehlung des World Wide Web Consortiums zu OWL findet sich unter http: / / www.w3.org/ TR/ owl-features/ . Im Zusammenhang mit dem „Semantic Web“ vgl. auch http: / / www.semanticweb.org sowie Bemers-Lee/ Hendler/ Lassila(2001). 614 Roman Schneider <owl: Class about = "#Phrase"> <rdfs: subClassOf> cowl: Restriction cowl: onProperty rdf: resource = #hatKopf / > cowl: cardinality>lc/ owl: cardinality> c/ owl: Restriction> c/ rdfs: subClassOf> c/ owl: Class> 4. Anwendungen und Ausblick Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wurde versucht, verschiedene Ebenen aufzuzeigen, auf denen es einen fruchtbaren Austausch von Methoden und Erkenntnissen zwischen Texttechnologie und Grammatik geben kann. Einerseits profitiert die Grammatikforschung vom Einsatz texttechnologischer Verfahren: Der Einsatz von Markup-Sprachen bei der Anreicherung digitaler Textsammlungen um linguistische Meta-Informationen oder bei der Strukturierung grammatischer Wörterbücher erhöht deren praktischen Nutzwert, erleichtert die statistische Auswertung von Korrelationen und ermöglicht dadurch die Evaluierung von Theorien. Für das Anwendungsgebiet der automatischen Informationsverarbeitung ließe sich gegebenenfalls untersuchen, ob Inhalte aus bestimmten syntaktischen Einheiten (z.B. Nominalphrasen) einen anderen informativen Stellenwert besitzen als die Inhalte sonstiger Wortgruppen. Elektronische Thesauri und Ontologien befördern darüber hinaus die terminologische Konsistenz und Erschließung von Fachpublikati- 22 onen. Andererseits bietet sich der Linguistik die Chance, eigene Erfahrungen und Kompetenzen in die Entwicklung anwendungsrelevanter texttechnologischer Standards einfließen zu lassen. Exemplarisch kann hier der Umgang mit diskontinuierlichen Strukturen bei der Erstellung von Markup-Grammatiken genannt werden. Die Problematik überlappender Elemente, aus Grammatik und Intonation hinreichend bekannt, zählt zu den Hauptschwierigkeiten beim Einsatz von Markup-Sprachen. Interessant erscheint weiterhin die Frage, ob sich der enorme intellektuelle Aufwand für die Formulierung von DTDs durch eine automatisierte Herleitung von Strukturregeln aus Textkorpora reduzieren ließe. 22 In diesem Zusammenhang haben z.B. Herbermann/ Gröschel/ Waßner (2002) bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet. Texttechnologie und Grammatik 615 Ein erfolgreiches Beispiel für das Zusammenspiel von Texttechnologie und Grammatikforschung stellt das am Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim beheimatete grammatische Informationssystem grammis dar. 23 In Anknüpfung an die in Printform vorliegende „Grammatik der Deutschen Sprache“ 24 wurde hier zunächst an einer hypermedialen Umsetzung und Erweiterung gearbeitet. Dabei galt es, den klassischen Spagat zwischen Analyseaufwand und Trennschärfe zu bewältigen: Die Repräsentation, d.h. die Grammatik der maßgeschneiderten Markup-Sprache grammisML, sollte mächtig genug sein, sämtliche als relevant erachteten Strukturen ausdrücken zu können - und gleichzeitig so einfach wie möglich, um eine manuelle Annotation und automatische Analyse nicht unnötig zu erschweren. Später rückten weitere texttechnologische Aspekte ins Blickfeld: Die in der Wissensbank hinterlegten Informationen wurden mit Hilfe eines fachgebietsspezifischen Thesaurus umfassend erschlossen, das Auffinden von flektierten Wortformen und Phrasen ermöglicht, und die Recherche-Komponente um einen Erkennungsmechanismus für typische Tippfehler bereichert. 5. Literatur Behme, Henning/ Mintert, Stefan (2000): XML in der Praxis. Professionelles Web- Publishing mit der Extensible Markup Language. Bonn: Addison-Wesley. Bemers-Lee, Tim/ Hendler, James/ Lassila, Ora (2001): The Semantic Web. In: Scientific American. May 2001, S. 23-43. Fellbaum, Christiane (Hg.) (1998): WordNet - An Electronical Lexical Database. Language, Speech, and Communication. Cambridge, MA/ London: MIT Press. Ferber, Reginald (2003): Information Retrieval. Suchmodelle und Data-Mining-Verfahren für Textsammlungen und das Web. Heidelberg: dpunkt.verlag. Guarino, Nicola (1998). Formal Ontology and Information Systems. 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Horst Schwinn Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt - Zur Drei-Welten-Theorie von Fritz Mauthner Fritz Mauthner (1849-1923) war im 19. Jahrhundert nicht nur als Journalist bekannt, sondern wurde auch und hauptsächlich als Autor unterschiedlichster Romane und Essays geschätzt. Seine umfangreichen sprach- und erkenntniskritischen Arbeiten vom Erscheinen der „Beiträge einer Kritik der Sprache“ (1902) bis zu den 1925 posthum herausgegebenen „Die drei Bilder der Welt“ 1 wurden allerdings nur partiell von der wissenschaftlichen Welt wahrgenommen. Dies mag daran liegen, dass kulturpsychologische sprachkritische Arbeiten zu diesem Zeitpunkt nicht mehr von Interesse waren, es mag außerdem sein, dass die damalige Wissenschaft den Außenseiter als Autodidakten nicht akzeptieren wollte; völlig auszuschließen ist auch nicht, dass von Mauthner vermutete antisemitische Ressentiments dazu beigetragen haben, dass er in dieser Zeit nicht angemessen rezipiert wurde. 2 Wiederentdeckt wurde er zunächst in den 60er Jahren; in die sprachphilosophische und in die sprachwissenschaftliche Welt wurde er als Sprachkritiker erst zu Beginn der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts aufgenommen. Mit der „pragmatischen Wende“ in den 70er Jahren beriefen sich die linguistischen „Pragmatiker“ auf ihren Haussprachphilosophen Wittgenstein, der in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus in Satz 4.0031 Mauthner einen seiner Zeitgenossen in Parenthese erwähnt hatte: „Alle Philosophie ist ‘Sprachkritik’ (Allerdings nicht im Sinne Mauthners.)“. (Mauthner hat wiederum Wittgenstein, obwohl es zeitlich gerade noch möglich gewesen wäre, anscheinend nicht gekannt.) Ob diese „indirekte“ Chronologie für das Wiederaufleben Mauthners verantwortlich ist, kann ich nicht verifizieren; auf jeden Fall beschäftigte sich die Sprachwissenschaft in einem Teil der Pragmatik aufs Heftigste mit Sprachkritik, nachdem es galt, den „Streit um die Sprachkritik“ zu schlichten. Und seit dieser Zeit gilt Mauthner in einem Teilgebiet, der seitdem differenziert betrachteten Sprachkritik, genauer: der philosophischen Sprach- 1 Vgl. die ausführliche Bibliografie und auch Literatur zu unterschiedlichen Aspekten im Zusammenhang mit Mauthner in Leinfellner/ Schleichert (1995). 2 Vgl. z.B. die Briefe an Emst Mach (Briefe, S. 78ff). 618 Horst Schwinn kritik, als ihr prominentester Vertreter. Mit „Mauthner“ berief man sich dabei in der Regel auf sein „Hauptwerk“, die „Beiträge zu einer Kritik der Sprache“; die anderen sprachkritischen Arbeiten Mauthners wurden bis auf wenige Ausnahmen meist vernachlässigt. Erst in jüngster Zeit wird in verschiedenen Untersuchungen Mauthners sprachkritisches Gesamtwerk gewürdigt. Zu diesem zählen u.a. neben den „Beiträgen zu einer Kritik der Sprache“ in drei Bänden das ebenso in der zweiten Auflage dreibändige „Wörterbuch der Philosophie“ mit dem Untertitel „Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache“, darüber hinaus „Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande“ in vier Bänden und die oben erwähnten posthum herausgegebenen „Drei Bilder der Welt ein sprachkritischer Versuch“. Ein Thema durchzieht das gesamte Werk: Sprachkritik. Alle mauthnerschen Gedanken werden durch dieses Thema zusammengehalten, alle philosophischen Aspekte werden unter der Perspektive der Sprachkritik betrachtet. Sprachkritisch beleuchtet werden Sprache und Psychologie im ersten Band der „Beiträge“, die Sprachwissenschaft im zweiten, im dritten Band der „Beiträge“ werden Grammatik und Logik aus diesem Blickwinkel behandelt. Das „Philosophische Wörterbuch“ mit seiner ungewöhnlichen Lemmaliste beinhaltet hauptsächlich Wortkritik, einzig im „Atheismus“ der letzten umfangreichen Arbeit Mauthners scheint die Sprachkritik zugunsten einer Religionsgeschichte und deren Kritik vom Mittelalter bis zum ersten Weltkrieg zurückzustehen. Überlegungen zu den „Drei Bildern“ findet man schon in den „Beiträgen“; den jeweiligen Bildern ist darüber hinaus je ein Eintrag im „Philosophischen Wörterbuch“ gewidmet. Die posthume Publikation der „Drei Bilder“, eine Zusammenfassung seiner erkenntniskritischen Überlegungen, erweckt den Anschein eines unvollendeten Werkes. Dennoch findet man durch die Lektüre der „Drei Bilder“ einen besseren Zugang zu Mauthners Gesamtwerk. Nicht zuletzt scheinen „Die drei Bilder der Welt“ ein vielleicht aus einer gewissen Altersweisheit nach über 20 Jahren praktizierter (besser: „theoretisierter“) und publizierter Sprachkritik resultierendes Zugeständnis Mauthners an die Sprachgemeinschaft zu sein, nachdem er feststellen musste, dass selbst-entfachte Holzfeuer in hölzernen Öfen keine anhaltende Wärme produzieren können und nur der Befriedigung eigener pyromanischer Dispositionen dienen: Sprachkritik ist nicht mehr radikal und zerstörend, sie ist eher erklärend geworden. Die adjektivische, die substantivische and die verbale Welt 619 Die einzelnen Arbeiten Mauthners sind nicht klar voneinander abgegrenzt, alles ist mit allem verbunden, alles scheint fließend, die mehrere tausend Seiten lange Auseinandersetzung mit der Sprachkritik ist eng mit einer punktuellen Beschreibung einer über zweitausend Jahre dauernden Philosophiegeschichte verwoben. Seine oftmals ungeordnet wirkenden Gedanken als flössen sie ihm direkt in die Feder werden erst im Laufe der Lektüre, die aufgrund des oft aphoristischen Charakters der Texte kaum stringent sein kann, präzisiert; der Leser wird immer wieder über die Kritik der „Scheinbegriffe“ und der Metaphern zum Ausgangspunkt der mauthnerschen Kritik zurückgefiihrt, zur Kritik am Gottesbegriff, 3 die für Mauthner als Resultat allen Philosophierens in eine resignative, aber auch „heitere“, 4 „gottlose Mystik“ 5 mündet, in der als letzte Konsequenz entweder nur die Poesie oder wie auch bei Wittgenstein nur das Schweigen herrschen kann. Um Mauthners in vielen Bereichen kryptisches Werk in dieser knappen Darstellung nicht noch kryptischer zu machen, werde ich einige Grundvoraussetzungen für das Verständnis des schon fast manisch wirkenden Denkers und Schreibers (dass es sich bei diesen beiden Prädikaten um eine Einheit bzw. um eine Tautologie handelt, soll später gezeigt werden) anhand einiger ihm zuweisbarer Prädikate und Charakterisierungen klären. 1. Sprachkritik, Philosophie, Sensualismus, Erkenntniskritik, Nominalismus Mauthner war als Sprachkritiker Philosoph, Erkenntniskritiker, „sensualistischer“ Materialist, Empiriker, Nominalist, Atheist, und diese Prädikate sind unschwer von einander ableitbar: Alle Philosophie ist Sprachkritik. (Allerdings nicht im Sinne Wittgensteins.) Zu diesem Kopulasatz sagt Mauthner stereotyp vieles, exemplarisch mögen wenige Zitate seine Vorstellung von Philosophie und Sprachkritik verdeutlichen: Alle kritische Philosophie ist Kritik der Sprache. (Selbstdarstellungen, S. 15) [...] und so kann Philosophie, wenn man schon das alte Wort beibehalten will, nichts weiter sein wollen, als kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache. (Beiträge 1, S. 705) 3 Vgl. z.B. Selbstdarstellungen, S. 8, 19. 4 Vgl. Beiträge 3, S. 634. 5 Vgl. z.B. Selbstdarstellungen, S. 19, wobei das adjektivische Attribut im Gegensatz zum alltagssprachlichen Gebrauch positiv konnotiert ist und von Mauthner nicht ironisch verwendet wird. 620 Horst Schwinn Philosophie bzw. Sprachkritik bedeutet für Mauthner zunächst nur das Zusammenfuhren von „Wortgeschichten“ und „Begriffsgeschichten“, die die kritische Aufmerksamkeit auf die Sprache schärfen sollen. Wobei Begriffskritik Kritik an der Auffassung ist, „es müsse ein scheinbar lebendes Wort auch einen philosophischen Nutzen haben.“ 6 Denn in Wirklichkeit sind Wörter nur „Erinnerungszeichen“, die Erinnerungen an früher Wahrgenommenes in uns hervorrufen, und es gibt nur „Individualsprachen“, d.h., es gibt nur einen individuellen Gebrauch von Erinnerungszeichen. „Wortgeschichten“ sind diachrone Beschreibungen von Wortverwendungen, die den Bedeutungswandel dokumentieren, denn die „Geschichte ist die wahre Kritik jedes Wortes“. 7 Sprachkritik ist bei Mauthner Begriffsgeschichte, als gäbe es beim allerersten Gebrauch eines Wortes eine wirklich unmetaphorische Verwendung. Mauthners „Wort- und Begriffsgeschichten“ münden in der Regel und vor allem im „Philosophischen Wörterbuch“ in erkenntniskritischen Abhandlungen mit Bezug zur Menschheits- und Philosophiegeschichte. [...] die Philosophie ist Erkenntnistheorie, Erkenntnistheorie ist Sprachkritik; Sprachkritik aber ist die Arbeit an dem befreienden Gedanken, daß die Menschen mit den Wörtern ihrer Sprache und mit den Worten ihrer Philosophien niemals über die bildliche Darstellung der Welt hinaus gelangen können. (Wörterbuch 1, S. XII) Mit „bildliche Darstellung der Welt“ ist keine abbildtheoretische Auffassung von Sprache gemeint; auch existiert hier kein Bezug zu den „Drei Bildern der Welt“ die „bildliche Darstellung der Welt“ durch die Sprache ist eine rein sprach-metaphorische Darstellung der Welt. Diese Form der Abbildung steht im Fokus von Mauthners Überlegungen, da einerseits ursprüngliche Beziehungen zwischen Wort und Wirklichkeit vor allem bei Substantiven im Laufe der Zeit verloren gegangen sind, andererseits, weil er aufgrund seines sensualistischen Weltbildes nicht nur bei Abstrakta, sondern sogar bei Konkreta von einem unangemessenen Wortgebrauch ausgehen muss. Philosophie beginnt für Mauthner dort, wo das Erfahrungswissen und die damit verbundenen Erkenntnismöglichkeiten im sensualistischen Sinne aufhören. Dass wie oben erwähnt der erste Band der „Beiträge“ den Efntertitel „Zur Sprache und Psychologie“ trägt, mag zunächst befremdlich scheinen, erklärt sich aber aus Mauthners philosophischem Weltverständnis. Grundlage seiner 6 Wörterbuch 1, S. XIV. 7 Wörterbuch 1, S. XIII. Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 621 Sprachkritik ist eine sensualistisch-psychologistische Semantik, bei der die Bedeutung der Wörter eine sinnliche Vorstellung ist, bzw. bei der die gedankliche Vorstellung durch sinnliche Wahrnehmung - und zwar nur durch sinnliche Wahrnehmung hervorgerufen wird. Nihil est in intellectu quid non fuerit in sensu: Eine andere Erkenntnismöglichkeit als über die Sinne kann es für den Sensualisten nicht geben. Was darüber hinaus mit unserer „Gemeinsprache“ ausgesagt wird, kann nur metaphysisch sein. Es muss notwendigerweise außerhalb unserer Sinne liegen und ist dadurch für diese oder durch diese nicht zugänglich. Die Erkenntnisfähigkeit des Menschen wird noch zusätzlich erschwert, weil die Sinne des Menschen zufällig entstanden sind, entwicklungsgeschichtlich betrachtet sind es „Zufallssinne“. 8 [...] die Kritik der Sprache lehrt völlige Resignation: die menschliche Sprache, von den Zufallssinnen abhängig, kann zur Natur, die sie zu erforschen vorgibt, überhaupt niemals einen andern Standpunkt gewinnen als den beschränkt hoministischen. (Selbstdarstellungen, S. 16) Andere Sinne als die uns bekannten menschlichen Sinne sind für Mauthner durchaus vorstellbar und hätten sich womöglich bei anderen entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen auch entwickeln können; so erwähnt Mauthner mehrmals einen möglichen, aber dem Menschen nicht eigenen Sinn, nämlich die Fähigkeit, Elektrizität wahrzunehmen. Unsere Sinne sind also Zufallssinne; sie ermöglichen nur eine segmenthafte Wahrnehmung einer potenziellen Welt; das ist aber nicht das wesentliche Problem für Mauthner, da nur wenigen Menschen übersinnliche Kräfte nachgesagt werden können und der siebte Sinn sich phylogenetisch noch nicht gezeigt hat. Problematischer für Mauthner ist, dass Sinneswahmehmungen nicht genormt sein können; sie sind notwendig individuell, und die überindividuelle Bedeutungszuschreibung wird darüber hinaus dadurch erschwert, dass nicht alle sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften eines Gegenstandes bei jeder „sensitiven“ Auseinandersetzung mit ihm im individuellen Fokus der Wahrnehmung stehen können. Wäre es möglich, summarisch alle potenziellen Attribute eines Gegenstandes überindividuell zu kommunizieren, wäre Mauthner der Boden seiner skeptischen Sprachkritik entzogen. So aber gibt es für ihn nur Metaphern, Bilder, Erinnerungszeichen und Scheinbegriffe. Vgl. Beiträge 1, S. 327ff. 622 Horst Schwinn Wörter können also nur Namen sein, und die Namen sind nur Metaphern für sinnlich Wahrnehmbares; für sinnlich nicht Wahrnehmbares sind sie nicht einmal das. Es gibt also selbst bei empirischen, sinnlich wahrnehmbaren Objekten der gegenständlichen Welt keine Garantie für eine Deckungsgleichheit der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen innerhalb einer Sprachgemeinschaft. Die logische Konsequenz daraus ist, dass Mauthner davon spricht, dass es letztendlich nur Individualsprachen 9 geben kann. Der Hörer kann die Metapher des Redenden nur verstehen, wenn eine gleiche Seelensituation, ein gleiches Weltbild ihn befähigt, die angeregte Vergleichung ebenfalls vorzunehmen. Es gibt aber keine zwei gleichen Seelensituationen, und so wird die Metapher im Kopfe des einen sich mit der im Kopfe des andren nie vollständig decken. (Beiträge 3, S. 240) Durch die Verbalisierung der Erscheinungen können also nur Metaphern entstehen. Als Erinnerungszeichen verweisen Wörter auf schon einmal Erlebtes, erleichtern dadurch die Wahrnehmung komplexer Phänomene und auch die allerdings nur vermittelte - Kommunikation in der Sprachgemeinschaft. Nur als Erinnerungszeichen für Sinneseindrücke haben Worte überhaupt einen Wert. (Beiträge 2, S. 324) Als Erinnerungszeichen haben sie auch zumindest momentanen „Gebrauchswert“, 10 ohne diesen ist Kommunikation überhaupt nicht möglich. Und zusätzlich kommt der Aspekt der Zeit ins Spiel, der die allgemeine Erkenntnismöglichkeit und die Kommunikationsfahigkeit einschränkt. Erscheinungen verändern sich permanent, das ist das Gesetz der Zeit. Notgedrungen ist die Bedeutung der Wörter in der Zeit flüchtig: ‘Im Anfang war das Wort’; da, beim Aussprechen des fünften Wortes, verwandelt schon das erste Wort ‘im Anfang’ seinen Sinn. (Beiträge 1, S. 2) Auch der nächste Schritt in der Betrachtungsweise Mauthners ist leicht nachvollziehbar. Die Metaphern, Bilder, Scheinbegriffe, Erinnerungszeichen sind nur Namen für Gegenstände und Sachverhalte, die wir leider nicht anders als durch Sprache mit all ihren defizitären Aspekten darstellen können. Um die Sprachskepsis und die Desillusionierung über die Erkenntnisfahigkeit durch Sprache noch ein wenig zu verstärken, sei abschließend eine ei- 9 Vgl. Beiträge 1, S. 6, 185, 192ff, 196; Beiträge 2, S. 152. 10 Vgl. Beiträge 1, S. 24. Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 623 gentlich zuerst zu erwähnende allgemeine Voraussetzung, eine von Mauthner permanent wiederholte, unumstößliche Prämisse, die den Zugang zum mauthnerschen Werk ermöglicht, erwähnt: Sprache ist Denken. Was man aber das Denken nennt, das ist nur eitel Sprache. (Beiträge 3, S. 635) Manchmal scheinen in diesem Zusammenhang sogar pragmatische sprachphilosophische Erkenntnisse von Wittgenstein bis Searle vorweggenommen zu sein: Die Sprache wie die Vernunft ist niemals wirklich als in den einzelnen Sprechakten und Denkakten; Sprache und Vernunft sind ZWISCHEN den Menschen, sind soziale Erscheinungen, sind eine und dieselbe soziale Erscheinung als wie die Sitte. Vielleicht auch nur: als wie eine Spielregel. (Selbstdarstellungen, S. 15) Das bisher grob aufgestellte Gerüst 11 der mauthnerschen Philosophie hat erhebliche Konsequenzen für „Die drei Bilder der Welt“. 2. Die drei Bilder der Welt Der Grundirrtum, welcher allen philosophischen Systemen einerseits und der Volksmeinung andererseits das Leben läßt, der Grundirrtum also, welcher den Weisen wie den Toren das Leben so bequem und das Erkennen des Lebens so schwer macht, er besteht darin, daß der gesunde Menschenverstand naiv, die Philosophie auf künstlichen Umwegen dazu kam, ein Denken vorauszusetzen, welches den Verhältnissen oder den Kategorien der Wirklichkeit ähnlich oder kongruent sei. Da Denken nichts anderes ist als Sprechen, so sagt diese Annahme aus, die Sprache enthalte in ihren grammatikalischen oder logischen Kategorien ein richtiges Bild der Wirklichkeit, die Sprache sei der Wirklichkeit kongruent. (Beiträge 2, S. 21) Der Konjunktiv soll es ausdrücken: Mauthner ist kein Anhänger dieser „Volksmeinung“, „künstliche Umwege der Philosophie“ glaubt er nicht zu beschreiten. Er will die Relation zwischen Sprache und Welt etwas differenzierter analysieren. 11 Als Appendix zu den verschiedenen Mauthner (selbst)auferlegten Prädikaten verbleibt die Antwort auf die Gretchenfrage, die er kurz selbst beantworten möge: „Immerhin hatte mich die Frage [nach dem Gottesbegriff] ungefähr 60 Jahre lang beschäftigt, bevor ich meine Ansichten (1920) in meinem Buche ‘Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande’ niederzulegen begann. Ich glaube aber, daß ich erst viele Jahrzehnte nach den ersten inneren Kämpfen imstande war, meine religiösen Zweifel als eine bloße Abzweigung meiner Sprachkritik zu begreifen.“ (Selbstdarstellungen, S. 9) 624 Horst Schwinn Drei Betrachtungsweisen der Welt wie auch drei „Wörter“ sind für ihn ausgezeichnet, die Wirklichkeit bezeichnen zu „wollen“. Ihre jeweils herausragende Stellung leitet Mauthner aus der Geschichte, der menschlichen Vernunft und der Sprache ab, wobei freilich die menschliche Vernunft bezüglich der Betrachtungsweise der Welt die mauthnersche ist, was er ausführlich in seinen „Drei Bildern der Welt“ darlegt. Wir haben da Dingwörter, Eigenschaftswörter und die noch viel rätselhafteren sogenannten Zeitwörter. Jede dieser Wortgruppen gibt uns von der einen Welt ein anderes Bild, in diesem Falle darf man wirklich sagen: eine andere Weltanschauung; mehr als ein Bild nie, weil die Sprache überhaupt nur zu Bildern tauglich ist, nicht zur Erkenntnis, zum Begreifen eines Wirklichen. In diesem Sinne spreche ich um doch die geläufigen Schulausdrücke zu bemühen von einer substantivischen, einer adjektivischen, einer verbalen Welt. (Bilder, S. 25f.) 12 Mauthner nennt die seinen drei zu untersuchenden Bildern der Welt zugrunde liegenden Kategorien „die drei Kategorien der Welterkenntnis“ (Bilder, S. 3) 13 und lehnt sich damit bewusst an die Kategorienlehre Aristoteles' an: „[...] ich habe aber zureichende Gründe, den altersgrauen Begriff ‘Kategorie’ zu gebrauchen, in seinem ursprünglichen Sinne.“ (Bilder, S. 3), kritisiert ihn jedoch zugleich als ein Resultat der Analyse des griechischen Satzes unter grammatischem Gesichtspunkt mit einer Präferenz auf der ersten Kategorie, die die „ganze Tafel [der Kategorien des Aristoteles] in Unordnung“ bringe. Wir haben [...] gelernt, daß die Kategorienlehre des Aristoteles wie ich es ausdrücken möchte nur eine Analyse des einfachen griechischen Satzes ist; er hat eine werdende Grammatik logisch gedeutet und seine Hauptkategorien entsprechen den Redeteilen Substantiv, Adjektiv und Verbum. So durfte ich die drei Bilder der Einen Welt mit dem uralten Worte Kategorien bezeichnen, auf deutsch: Aussage-Möglichkeiten, kürzer: Aussäglichkeiten. (Selbstdarstellungen, S. 141; Hervorhebung von mir) 12 Spricht Mauthner hier von drei „Wörtern“ oder „Wortgruppen“, meint er die Redeteile bzw. die Wortarten. 13 Über das gesamte Werk sind andere Bezeichnungen verstreut, z.B.: „drei Gesichtspunkte“ (Bilder, S. 3; Selbstdarstellungen, S. 21, 23); „drei Kategorien der (Welt)erkenntnis“ (Bilder, S. 3; Beiträge 3, S. 7); „drei (sprachliche) Bilder der Welt“ (Beiträge 3, S. 102; Wörterbuch 2, S. 249; Bilder, passim); „drei Welten“ (Bilder, passim; Wörterbuch 1-3, passim); „drei Hypothesen“ (Bilder, S. 49); „die drei neuen Kategorien“ (Bilder, S. 1); die drei Aussäglichkeiten (Selbstdarstellungen, S. 21; Bilder, S. 7); „die drei Bildsprachen“ (Bilder, S. 169; Selbstdarstellungen, S. 22). Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 625 Dass die aristotelische Kategorie „Substanz“ für Mauthner keinen übergeordneten Stellenwert einnehmen darf und dass es sich lediglich um eine annähernde Bezeichnungsidentität bei Mauthner und Aristoteles handelt, wird deutlich, wenn man Mauthners umfangreiche, in seinem Lebenswerk verstreute Bemerkungen zu den drei Bildern der Welt näher betrachtet. Weil ich nun weder von der alten noch von irgend einer neuen Kategorientafel, weder von grammatikalischen noch von logikalischen Kategorien einen Nutzen für die Erkenntnis der Welt erwarte, sogar den schädlichen Einfluß von Grammatik und Logik durchschaut zu haben glaube, weil ferner ein veralteter Terminus am besten dadurch unschädlich gemacht wird, daß man an ihm einen Bedeutungswandel vollzieht und so die veraltete Bedeutung aufhebt, darum will ich die drei Aussage-Möglichkeiten, auf denen unsere drei allein möglichen Weltbilder beruhen, die drei Kategorien nennen. (Bilder, S. 4) Jawohl: die Kategorien oder Formen aller Erkenntnis sind nicht in der Wirklichkeit, sie sind im Denken, das heißt in der Sprache, dort allein. (Bilder, S. 7) Sprache ist Denken. Unter dieser von Mauthner ständig wiederholten Prämisse wird der Zugang zur außersprachlichen Welt so Mauthner über drei kognitive oder eben sprachliche Kategorien ermöglicht. Durch die drei „Kategorien der Welterkenntnis“ können wir uns drei verschiedene „Bilder der Welt“ machen. Diese Kategorien korrespondieren - und zwar nicht nur ausdrucksseitig mit grammatischen Kategorien, dürfen aber trotzdem mit diesen nicht gleichgesetzt werden, da z.B. rein sensualistisch wahrnehmbare Phänomene der außersprachlichen Welt durch unterschiedliche grammatische Kategorien ausgedrückt werden können. Mauthner nennt als Beispiel deadjektivische Substantiv- und Verbalderivationen. So schwanken die scheinbar festen Kategorien wirr durcheinander, wie Traumbilder von jeder Stimmung des Augenblicks abhängig. (Beiträge 3, S. 9f), und deshalb Decken sich also die allgemeinsten Formen der Wirklichkeit, ihre Kategorien, schon in den deutlichsten Fällen nicht mit den Redeteilen, den Kategorien der Sprache [...]. (Beiträge 3, S. II) 14 In Anlehnung an die grammatischen Kategorien gibt es für ihn drei sprachliche Bilder der einen „realen“ Welt: die adjektivische Welt, die substantivische Welt und die verbale Welt. 14 Vgl. auch: „Die Einteilung der drei Welten nach den wichtigsten Redeteilen der Grammatik ist also selbstverständlich nur cum grano salis zu verstehen.“ (Wörterbuch 3, S. 262) 626 Horst Schwinn 2.1 Die adjektivische Welt Nicht aus alphabetischen Ordnungsgründen, sondern aufgrund der ihr zugeschriebenen Wichtigkeit wird die adjektivische Welt von Mauthner bei der Aufzählung und Beschreibung der drei Welten immer an erster Stelle genannt. Die adjektivische Welt ermöglicht nämlich als einzige Welt den direkten Zugang zur tatsächlichen, zur empirischen Welt, da die adjektivische Welt die Welt der Sinne ist, getreu dem Credo „Nichts ist im Verstand, das nicht vorher durch die Sinne erfasst worden wäre“, das die Grundaussage nicht nur seiner sensualistischen Sprachauffassung ist. Ausschließlich die Gegenstände und Sachverhalte der Wirklichkeit, die sinnlich wahrnehmbar sind, können mittels Sprache in der ureigensten Wortbedeutung „sinnvoll“ abgebildet werden, alles andere ist Metaphysik oder bloßer „Schein“. Was ein Ding ist, das sagen mir seine Eigenschaften; was es außer seinen Eigenschaften noch sei, das ist eine metaphysische Frage. (Wörterbuch 1, S. 17) Gegenstände der realen „einen“ Welt nehmen wir also nur über deren Eigenschaften wahr. Diese Wahrnehmung kann kulturell determiniert sein, sie kann aber auch ganz individuell sein. Das empirische Objekt Apfel'' setzt sich in unserer individuellen Wahrnehmung aus seinen unterschiedlichsten Eigenschaften zusammen: Es ist süß, rund, saftig, rot, vielleicht verursacht es auch Magenschmerzen (Mauthner würde sagen: „Es schmerzt mich.“) etc. Das Bild des Apfels ist deshalb pointilliert aus seinen einzelnen Eigenschaften zusammengesetzt und nur über diese für uns wahrnehmbar. Das Wort Apfel fungiert in unserer „Gemeinsprache“ nur als Erinnerungszeichen für die schon einmal empfundenen Eigenschaften. Damit ist auch klar, dass das Wort Apfel als Erinnerungszeichen nur individuell sein kann, da kaum zwei Personen in der Summe völlig identische Eigenschaften mit dem Erinnerungszeichen erinnern werden. Außerdem sind Eigenschaften der Objekte der realen Welt flüchtig in der Zeit: Ein Apfel existiert trotz der unterschiedlichen Wahrnehmung zweier Personen für diese nur einmal; darüber hinaus verändert sich das Objekt in seiner Dauer auch für das Individuum. Appellativa 16 sind aus diesem Grunde nur Metaphern, sie sind nur Namen für Konkretes und können die Welt nur vermittelt abbilden. 15 Der immer wiederkehrende Apfel (Selbstdarstellungen, S. 140; Bilder, S. 36ff., 77, 100f.; Wörterbuch 1, S. 17, 294; Wörterbuch 3, S. 263) und das Feuer (Selbstdarstellungen, S. 139, 142; Bilder, S. 18 (in Anlehnung an Heraklit), 24ff.) veranschaulichen für Mauthner den sinnlichen Genuss und das sinnliche Leid bei einer tatsächlichen Konfrontation durch die mit den Ausdrücken gekennzeichneten „Gegenstände“. 16 Vgl. Beiträge 2, S. 259. Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 627 2.2 Die substantivische Welt Die substantivische Welt hat sich ihre Sprache aus der adjektivischen Welt heraus selbst geschaffen. Sie ist nicht wie die adjektivische Welt per se schon existent. Sie ist „die Welt der Götter und der Geister, die Welt der Dinge und der Kräfte“ (Wörterbuch 3, S. 262). Sie ist auch die Welt des Scheins und des bloßen Erscheinens, der Mystik, der Ismen und anderer Derivationen und der Ideen (durchaus im platonschen Sinne). Hauptsächlich den Substantiva gilt Mauthners sprachkritisches Augenmerk, sind sie doch zu einem großen Teil jene erwähnten Scheinbegriffe, und man dürfe „nicht müde werden, immer wieder die neuesten Scheinbegriffe zu bekämpfen, denen in der Wirklichkeitswelt nichts entspricht“, 17 da sie metaphorische Wörter ohne Sinn sind. 18 Scheinbegriffe sind also substantivische Begriffe, von denen irgendwelche adjektivischen Wirkungen nicht ausgehen. (Wörterbuch 1, S. CXXIX) Die substantivische Welt ist grob zweigeteilt. Einerseits finden wir in ihr die metaphorischen Konkreta, die „brauchbaren Begriffe“, andererseits die Abstrakta, das Heer der Scheinbegriffe. Auch wenn die meisten Konkreta Symbole oder Metaphern („Bilder von Bildern von Bildern“ (Beiträge 1, S. 115)) sind, Scheinbegriffe sind sie nicht. Sie sind der vehementen mauthnerschen Sprachkritik ausgesetzt, weil sie nur eine auf individueller sinnlicher Erfahrung gründende Bedeutung haben und dadurch gemeinsprachlich lediglich Symbolcharakter haben können sowie Substanzen nur Vortäuschen können. Sie sind im Gegensatz zu den Abstrakta „brauchbare“ Begriffe, da sie den Vorteil haben, „Erinnerungszeichen“ zu sein. Als Erinnerungszeichen können sie uns nämlich die Eigenschaften der mit ihnen bezeichneten Dinge der realen Welt wieder in das Gedächtnis rufen. D.h., dass bei der Verwendung eines Wortes/ eines Gedankens wie z.B. Feuer die pointilliert sinnlich wahrgenommenen Aspekte von Feuer wie z.B. heiß, hell, schmerzt (mich), ... das aus diesen Eigenschaften zusammengesetzte Bild in uns evozieren. Der konkrete Begriff der substantivi- 17 Wörterbuch 1, S. CXXX. 18 Vgl. Wörterbuch 3, S. 514, Anm. Die eher ungewöhnliche Gleichsetzung von „Wort“ und „Begriff* basiert auf Mauthners sprachkritischer Prämisse, dass Sprechen und Denken identisch sind. Vgl. auch: Briefe an Emst Mach (17.9.1895); (Briefe, S. 79) und Beiträge, S. 26Iff. 628 Horst Schwinn sehen Welt ist das Sammelbecken der potenziell mit ihm verbundenen Eigenschaften und ist dadurch einerseits nur vage, andererseits ermöglicht er aufgrund dieser Eigenschaft, dass Individualsprachen sprechende Individuen überhaupt kommunizieren können. Von Konkreta können immerhin meist „adjektivische Wirkungen“ ausgehen, und das ist für Mauthner das wesentliche Merkmal, durch welches sie sich von den Abstrakta unterscheiden. Alle Abstrakta gehören der substantivischen Scheinwelt an. Von ihnen kann keine adjektivische Wirkung ausgehen, da sie keine Abstraktionen aus sinnlich Wahrnehmbarem sind. Aus diesem Grunde können sie uns auch nichts bedeuten, sie haben keinen Sinn. Sie gehören in den Bereich der Metaphysik. 2.3 Die verbale Welt Das Wissen von der adjektivischen Welt, das Begriffsbilden, das Denken oder Sprechen ist verbal. (Wörterbuch 3, S. 360) Die verbale Welt ist die Welt des Handelns, Wirkens und des Werdens, der Zwecke, der Absichten und der Ziele, und sie ist dadurch auch die Welt der Wissenschaft. In ihr werden die „Relationen der Dinge zu uns und die Relationen der Dinge zueinander“ 19 hergestellt. Die verbale Welt stellt ein Bindeglied zwischen der sensualistisch erfahrenen adjektivischen Welt und der substantivischen Welt dar, indem sie die sensualistisch erfahrenen Gegenstände und Sachverhalte zueinander in Beziehung setzt. Die intentionale Auseinandersetzung mit der Welt ist verbal. Sie erfahrt ihre höchsten Weihen durch die wissenschaftliche Aneignung der Welt, in welcher z.B. die metaphorische substantivische Welt in atomistische Teilhandlungen und deren Beschreibung bzw. deren Analysen aufgelöst wird. Wärme z.B. um im semantischen Feld des von Mauthner oft gewählten Beispiels des Feuers zu bleiben wird in der Physik oder der Wärmetechnik als Bewegung von Elementarteilchen beschrieben. So werden in der verbalen Welt komplexe Handlungen, die als abstrakte Begriffe Teile der substantivischen Welt sind, als unterschiedliche Teilhandlungen, die zu „fortschreitenden Veränderungen“ fuhren, unter dem übergeordneten Zweckbegriff zusammengefasst. 19 Wörterbuch 3, S. 360. Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 629 2.4 Die Synthese der Welten Die drei mauthnerschen Bilder der unterschiedlichen Welten sind drei verschiedene Bilder der nur einen existierenden tatsächlichen Welt. Mit den drei korrespondierenden Sprachen der drei Welten drücken wir auf unterschiedliche Weise unsere Erfahrungen, unsere Vorstellungen, unser Wissen und unser Nichtwissen über die eine reale Welt aus. Die jeweilige Aufmerksamkeit, mit der wir uns der einen, der existierenden Welt zuwenden, bestimmt, welche der drei Welten die relevante, die ausgezeichnete ist. Es ist eine Frage der Perspektive auf die „einzige vorhandene reale Welt“, welche Sprache der Welt im Vordergrund unseres Interesses steht: die adjektivische Welt der Erfahrung als die „wirkliche Welt“, 20 die substantivische Welt des Seins und des Scheins oder die verbale Welt des Werdens, des Wirkens und des Wissens. Einzeln sind sie für das Erkennen unserer gesamten Welt nicht zu gebrauchen. Die Wahrheit aber ist bei keiner dieser Sprachen allein; sie müssen einander ergänzen (was man so ergänzen nennt, wir kennen kein Ganzes), sie müssen einander helfen, uns ein bißchen in der einen Welt zu orientieren. (Wörterbuch 3, S. 365) 21 Am Ende wird die Kategorienvermischung evident: Verschiedene Wortarten eines Wortstammes können nur einer Welt zugeordnet werden wie z.B. die Substantive Blitzen, Blitz und das Verb blitzen? 2 Sie gehören alle drei der verbalen Welt an. Andererseits kann eine Erscheinung/ ein Begriff/ ein Wort 23 wie z.B. Feuer allen drei Kategorien angehören: der adjektivischen, weil wir Feuer nur pointilliert sinnlich wahrnehmen können, der substantivischen aufgrund der symbolischen Darstellung der potenziellen Summe der Eigenschaften. Weil die Physik Feuer als „Tätigkeit der Elemente“ erkennt und weil bei der Wahrnehmung von Feuer beobachtet werden kann, dass in unserem Hirn Energiepotenziale auf- und abgebaut werden, darf Feuer so Mauthner auch der verbalen Welt der Wissenschaften zugeordnet werden. Oder: Das substantivische Wort {die) Röte gehört als Begriff zunächst einmal durch die Möglichkeit seiner sinnlichen Wahrnehmung der adjektivischen Welt an. ln der substantivischen Welt ist es der Sachverhalt oder nur 20 Bilder, S. 27. 21 Die „geheimnisvollen Beziehungen der Bilder“ sind selbst Mauthner nicht so recht klar. Vgl. Bilder, S. 2. 22 Vgl. Beiträge 2, S. 22 und Leinfellner (1992, S. 499). 22 Immer unter dem Aspekt Sprache = Denken betrachtet. 630 Horst Schwinn die Farbe, die durch das Wort bezeichnet werden; berücksichtigte man darüber hinaus noch die physikalisch messbaren Schwingungen, die zur optischen Wahrnehmung führen, bewegten wir uns schon in der verbalen Welt. 24 Nicht die Substanzen wie bei Aristoteles sind also das Wesentliche das Wesentliche, die einzig wirkliche Welt, ist die adjektivische. Substanzen sind nur Ableitungen aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt; für Aristoteles sind die wesentlichen Eigenschaften lediglich Epitheta der Substanzen. Unterstützt wird Mauthners Auffassung durch den Umstand, dass die Wortartenkategorisierung in den Sprachen nicht allgemein ist, die adjektivische Weltwahmehmung, substantivische Dingwelten und verbales Handeln und Verändern jedoch universal sind. 3. Resignation oder Altersweisheit? War zunächst für Mauthner die adjektivische die wichtigste der drei Welten, weil ausschließlich sie uns Zugang zur realen Welt erlaubt, scheint sie in seinen späten Arbeiten ebenfalls Ziel seiner Kritik geworden zu sein. Und die substantivische Welt der vehement zu kritisierenden Metaphern wird zur Welt der Mystik, der Kunst und der Poesie. Man vergesse jedoch nicht, daß auch die adjektivische Welt nicht in den Niederungen des materialistischen Sensualismus stecken zu bleiben braucht; der Idealismus, zu dem der mystische Instinkt, der substantivische, sich in außerordentlichen Menschen steigern kann, wandelt die normalen Täuschungen der adjektivischen Welt in die schönen Täuschungen der Kunst. (Selbstdarstellungen, S. 141) Pointilliertes Erkennen ohne Ordnung der Punkte, ohne Struktur, scheinen ihm nun nicht mehr ausreichend zu sein. Und vielleicht ist es die lebenslange Enttäuschung, als Wissenschaftler nicht angemessen anerkannt worden zu sein, die ihn die verbale Welt der Wissenschaften als die wichtigste Welt erscheinen lässt: Nun sind aber auch unsere Sinne geworden, durch den Zufall der Entwicklung geworden; wie also die scheinbaren Dinge draußen nur Symbole von Sinneswirkungen sind, so sind auch diese Sinneswirkungen wieder nur Symbole von einer unbekannten Wirklichkeit, von irgendwelchen Bewegungen, die in der Zeit stattfinden. Begreifen können wir die Welt weder in dem, was wir von ihr durch die Sinne erfahren, noch in ihrem vermeintlichen Sein, sondern allein in ihrem Werden. (Selbstdarstellungen, S. 141) 24 Das Beispiel ist in Anlehnung an Mauthners Spielfarbe „Rot“ gewählt. Vgl. Bilder, S. 50ff. Die adjektivische, die substantivische und die verbale Welt 631 Selbst die sinnlosen Scheinbegriffe werden nun umgewertet in durchaus positiv konnotierte „mystische Symbole“ (Selbstdarstellungen, S. 140), [...] die Dinge an sich bilden die Welt noch einmal, die schöne überflüssige Welt, die substantivische Welt, die in Feierstunden notwendige Welt der Mystik. (Wörterbuch 1, S. 54), wobei die „Feierstunden“ sofort von Mauthner sprachkritisch relativiert werden: Ist Mystik nur die Sehnsucht, das Unaussprechliche auszusprechen, so ist sie von dem Glauben an die Macht der Worte nicht zu trennen. (Wörterbuch 2, S. 419) 4. Literatur 4.1 Quellen und Siglen Mauthner, Fritz (1922): Fritz Mauthner. In: Schmidt, Raymund (Hg.) (1922): Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig: Meiner. S. 120-143. (= Selbstdarstellungen). Mauthner, Fritz (1925): Die drei Bilder der Welt. Ein sprachkritischer Versuch. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Monty Jacobs. Erlangen: Verlag der Philosophischen Akademie. (= Bilder). Mauthner, Fritz (1963): Der Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. Bd. 1- 4. Hildesheim: Olms. (= Nachdruck der 1. Aufl. 1920-23). (= Atheismus 1-4). Mauthner, Fritz (1966): Briefe an Emst Mach. In: Thiele, Joachim: Zur „Kritik der Sprache“. In: Muttersprache 76, S. 78-85. (= Briefe). Mauthner, Fritz (1982): Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. Frankfurt a.M./ Berlin/ Wien: Ullstein. (=Nachdruck der 3. Aufl. 1923). (= Beiträge 1-3). Mauthner, Fritz (1997): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1-3. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau. (=Nachdruck der 2. verm. Auflage 1923/ 24). (= Wörterbuch 1-3). 4.2 Sekundärliteratur Leinfellner, Elisabeth (1992): Fritz Mauthner. In: Dascal, Marcelo et al. (Hg.): Sprachphilosophie. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. Berlin/ New York: de Grayter. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 7.2). S. 495-509. Leinfellner, Elisabeth/ Schleichert, Hubert (Hg.) (1995): Fritz Mauthner. Das Werk eines kritischen Denkers. Wien/ Köln/ Weimar: Böhlau. Gisela Harras Vom Ringen um eine deutsche Grammatik Eine Valentinade in fünf Aufzügen Die auftretenden Personen sind Frau G. und Herr K. Frau G. ist Sprachwissenschaftlerin und weiß vieles (wenn nicht alles) über die deutsche Grammatik, Herr K. gehört zur Spezies der sprachinteressierten Laien und glaubt vieles (wenn nicht alles) über die deutsche Grammatik zu wissen; er ist allerdings, im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen, wirklich an Sprache interessiert. Frau G. und Herr K. sind Nachbarn in einer stillen Straße eines kleinen Dörfchens am Rande einer deutschen Universitätsstadt. Sie treffen sich morgens des Öfteren an einer Bushaltestelle. Aufzug I Frau G. und Herr K. treffen sich an der Bushaltestelle. Herr K.: Guten Morgen, Frau G.! Ich habe gehört. Sie haben eine neue Grammatik geschrieben. Frau G: Guten Morgen, Herr K.! Ja, aber das hab ich natürlich nicht alleine gemacht. HerrK.: Na, na, wie ich Sie kenne, haben Sie wahrscheinlich das Meiste geschrieben. Frau G.: Das kann sein. Aber: eine neue Grammatik haben wir aus guten Gründen nie zu schreiben gewagt. Herr K.: Aha, Sie haben keine neue Grammatik gewagt? Frau G.: Das kann man so nicht sagen. Herr K.: Wieso, Sie haben es eben doch selbst gesagt. Frau G.: Nein, ich meine: Sie können im Deutschen wagen nicht so einfach mit irgendeinem Nomen zusammen bringen. Herr K.: Aber man kann doch ganz korrekt sagen: „Wir haben letzte Woche eine Fahrt nach Moskau gewagt“. Frau G.: Wagen kann man ja nur eine Handlung, und Fahrt ist ein deverbales Nomen, mit dem auf eine Handlung referiert wird. HerrK.: Wie bitte? 634 Gisela Harras Frau G.: Das Substantiv Fahrt ist von dem Verb fahren abgeleitet und bezeichnet die Handlung des Fahrens. Herr K.: Ach so, ja, aber Grammatik hat doch auch was mit Handeln zu tun oder zumindest mit einem Produkt des Handelns. Grammatik denkt man sich doch aus, die gibt's doch sonst gar nicht. Frau G.: Sie meinen also: Grammatik ist eine Erfindung von Sprachwissenschaftlern, Philosophen oder sonst irgendwie dazu befähigten Menschen? HerrK.: Nun, sicher ist sie keine Erfindung wie Grimms Märchen oder Peter Pan. Eine Grammatik besteht doch hauptsächlich aus Regeln, oder? Frau G.: Ja, eine Grammatik wird im Allgemeinen als ein System von Regeln für eine bestimmte Sprache angesehen. HerrK.: Jetzt hab ich das gleiche Problem wie eben: Gibt's Regeln wie es Steine, Tiere und Flüsse gibt oder sind die nicht eine menschliche Erfindung? Frau G.: Mit dieser Auffassung befinden Sie sich erstaunlicherweise in guter sprachwissenschaftlicher Gesellschaft. Es gab und gibt Kollegen, die den Ausdruck Regel nur im Sinn von ‘Regelformulierung’ verstehen wollen, also als das Ergebnis einer, wenn Sie so wollen, erfinderischen Interpretation der Art und Weise, wie wir Sprache verwenden. Aber ... Herr K.: Entschuldigung, ich hab neulich im Fernsehen eine Sendung über einen berühmten österreichischen Philosophen, über Ludwig Wittgenstein, gesehen, da ging es auch um Regeln, und in diesem Zusammenhang wurde ein Satz zitiert, der ungefähr so lautet: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Von Regeln war dann gar keine Rede mehr. Frau G.: Dieser Satz des späten Wittgenstein ist immer schon und immer wieder anfällig für Missverständnisse aller Arten. Meiner Meinung nach besagt er, dass es eine kollektive Praxis eben den Gebrauch von Sprache geben muss, damit man von so etwas Abstraktem wie Regeln, die diese Praxis bestimmen, sprechen kann. Herr K.: Dann gibt es also doch Regeln und nicht nur Regelformulierungen? Frau G.: Entschuldigung, da kommt mein Bus. Bis dann! Vom Ringen um eine deutsche Grammatik - Eine Valentinade in fünfAufzügen 635 Aufzug II Herr K. und Frau G. treffen sich nach zwei Tagen wieder an der Bushaltestelle. HerrK.: Guten Morgen, Frau G. Ich habe die letzten zwei Tage intensiv über unser Gespräch neulich nachgedacht. Frau G: (für sich: Das hatte ich schon befürchtet.) Guten Morgen, Herr K., und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen? HerrK.: Wenn es also Regeln gibt, die unsere wie Sie es gesagt haben kollektive Praxis regeln, dann fragt es sich doch, wie kriege ich raus, ob das, was in einer Grammatik steht, tatsächlich die Formulierung einer Regel ist und nicht etwa die Beschreibung eines zufällig beobachteten sozialen Verhaltens? Frau G.: Sie meinen: Wie kann man zwischen der Beschreibung irgendeiner zufälligen Regularität und einer Regelformulierung unterscheiden? HerrK.: Ja. Vielleicht kann man ja durch intensives Beobachten und Aufspüren des Verhaltens dahinter kommen, zum Beispiel, wenn man feststellt, dass sich jemand plötzlich ganz anders verhält, als er es in der Vergangenheit unter genau den gleichen Umständen getan hat, dann kann man nur von einer nicht mehr bestehenden Regularität sprechen, keinesfalls von einer irgendwie geltenden Regel. Frau G.: Die Beobachtung hilft Ihnen da nicht weiter. Regeln sind keine Gesetze, deren Geltung man empirisch überprüfen kann, aber Regeln können Ausnahmen haben; das gehört geradezu zu ihrem Wesen. HerrK.: Ach, ich alter Esel! Das weiß man doch von der Schule: Keine Regel ohne Ausnahme. Frau G.: Ja. Aber damit man sagen kann, dass jemand gegen eine Regel verstoßen hat, muss man sie erst einmal gelernt haben. Der Unterschied zwischen Regularitäten und Regeln besteht darin, dass Letztere lernbar sind, dass man sie als Verhaltensvorschriften formulieren kann damit man sie lernen kann - und dass man sie in Situationen, in denen jemand nicht regelgemäß gehandelt hat oder handeln kann, zitieren kann: Z.B. kann man einem Ausländer gegenüber, der nicht weiß, wie man im Deutschen den Artikel gebraucht, die entsprechende Regel in verschiedenen Formulierungen zitieren: 636 Gisela Harras „Wir sagen die Grammatik und nicht Grammatik died „die steht vor dem Nomen und nicht danach.“ „Der Artikel steht vor dem Nomen und nicht danach.“ Herr K.: Und woher weiß ich jetzt, dass die Sätze drei Formulierungen einer Regel sind und nicht etwa drei Beschreibungen einer bisher ausnahmslos geltenden Regularität? Frau G.: Das ist nicht ganz einfach zu erklären. Aber erinnern Sie sich daran, dass man von Regeln nur sprechen kann, wenn man sie auf eine kollektive Praxis bezieht, und das heißt, wenn Regeln von den Mitgliedern einer Gemeinschaft auch befolgt werden, oder wie man auch sagt: wenn sie gelten. Eine Regelformulierung ist dann eine Formulierung einer Regel und nicht etwa einer Regularität, wenn das, was sie formuliert, in einer Sprachgemeinschaft als Regel gilt, und das heißt: richtig ist. HerrK.: Und wer sagt, was richtig ist? Der Grammatiker, der Philosoph oder wer? Frau G.: Der Witz ist gerade der, dass ein einzelner Mensch das von sich aus gar nicht sagen kann. Aber nehmen wir ein Beispiel: Im Deutschen wird das Perfekt unter anderem durch das Präfix gegebildet, also lieben, geliebt, singen, gesungen', schreiben, geschrieben und so fort. Von dieser Regel gibt es regelhafte Ausnahmen: z.B. haben Verben, die auf -ieren enden, keine ge-Präfigierung. Wir sagen: Er hat den Plan realisiert, aber nicht gerealisiert. HerrK.: Das würde doch keiner sagen! Frau G.: Na, ja. Im Niederländischen heißt es gerealizeerd. Sie sehen, Regeln gelten immer nur für ganz bestimmte Sprachen. Aber zurück zu Ihrer Frage nach der Berechtigung, von einer Formulierung zu sagen, sie sei eine Regelformulierung: Wenn jetzt jemand die erwähnte Regel nicht kennt oder missachtet und immerzu gephantasiert, geplaniert, gepausiert und ähnliches sagen würde, würde er mit Korrekturen konfrontiert werden etwa derart: „Im Deutschen sagt man nicht gephantasiert, sondern phantasiert.“ Und genau die Möglichkeit solcher Urteile wie „das ist falsch“ bzw. „das ist richtig“ ist die Berechtigung dafür, von Regeln und echten Regelformulierungen zu sprechen. Herr K.: Dann redet der Grammatiker immer als Sprecher einer Sprache und nie als Individuum? Frau G.: Jetzt haben Sie's fast begriffen. Aber da kommt mein Bus. Tschüss! Vom Ringen um eine deutsche Grammatik - Eine Valentinade infünfAufzügen 637 Aufzug III Frau G. und Flerr K. treffen sich nach längerer Zeit wieder an der Bushaltestelle. Herr K.: Guten Morgen, Frau G. Ich hab gestern Abend im Fernsehen einen Satz von Hildebrandt gehört, der mir doch ganz merkwürdig vorkommt. Frau G.: Guten Morgen, Herr K. Ich glaube, ich weiß, welchen Satz Sie meinen: „Vor Deutschland wird sich wieder gefürchtet.“ Herr K.: Ja, das ist der Satz. Verstehen kann man ihn ja. Er soll so was heißen wie: Es gibt wieder Leute, die sich vor Deutschland fürchten. Aber richtig grammatisch ist das doch nicht. Das sich muss raus. FrauG.: Vor Deutschland wird gefürchtet! ? Das ist ja nun vollkommen korrupt! Herr K.: Aber das sich hängt doch total in der Luft. Frau G.: Sie meinen, es gibt zu dem Reflexivum kein koreferentes Subjektkomplement? HerrK.: Häh? Versteh ich nicht. Dabei hab ich immer gedacht, ich kann Deutsch. Frau G.: Ja, die Beschreibungen von Sprache müssen systematisch sein und in einen theoretischen Rahmen passen; dazu gehören auch Fachtermini und bestimmte Redeweisen, die sich in der Wissenschaftlergemeinschaft durchgesetzt haben. Herr K.: Aha, ich verstehe: Deutsch reden und über das Deutsche reden oder sogar mitreden sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Aber was heißt das nun, was Sie eben über Subjektkomplimente gesagt haben? Frau G.: Komplemente bitte. Also jeder vollständige korrekte deutsche Satz enthält ein Verb und mindestens eine oder auch mehrere nominale Komponenten, also der Satz Hans liebt seine Tochter enthält das Verb lieben im Präsens und die beiden nominalen Bestandteile Hans und seine Tochter. Solche Bestandteile nennt man auch Komplemente, und in dem Beispiel ist Hans, der Eigenname, das Subjektkomplement und seine Tochter das Objektkomplement. HerrK.: Das habe ich verstanden. Aber was ist jetzt ein koherentes Subjektkomplement? 638 Gisela Harras Frau G.: Ein koreferentes Subjektkomplement! sich bezieht sich, wie Sie ja schon selbst gemerkt haben, auf nichts in dem Hildebrandt-Satz im Unterschied zu Sätzen wie Hans wäscht sich, wo sich sich auf Hans bezieht und beide Ausdrücke dieselbe Person bezeichnen, d.h. koreferent sind. In dem Hildebrandt-Satz gibt es aber kein Subjektkomplement. Diese Form des Passivs ist also der genuin grammatische Beitrag zu den im Deutschen relativ randständigen subjektlosen Konstruktionen. Wie in anderen subjektlosen Konstruktionen wird das finite Verb, hier also das Passivhilfsverb werden, in die unmarkierte 3. Person Singular gesetzt. Herr K.: Puh, da kann man ja von Glück sagen, dass solche Konstruktionen relativ randständig sind, also eher selten Vorkommen. Frau G.: Es gibt aber Sprachen, in denen es massenhaft subjektlose Konstruktionen gibt. Herr K.: Da hab ich ja noch mal Glück gehabt, dass ich Deutscher bin. Frau G.: Meinen Sie etwa, dass Konstruktionen, die kompliziert zu beschreiben sind, auch schwer zu lernen sind? HerrK.: Wenn ich's recht bedenke, nee. Kleine Chinesen oder Japaner reden ganz fließend ihre Sprachen, und die scheinen ja nun ziemlich kompliziert zu sein, oder? Frau G.: Das hängt vom Blickwinkel ab. Chinesisch, Japanisch oder auch Türkisch kommen uns kompliziert vor, wenn wir diese Sprachen lernen wollen, aber Kinder, die in der Umgebung dieser Sprachen aufwachsen, lernen sie genauso mühelos wie wir Deutsch. Herr K.: Ja, das scheint so zu sein. Aber, wie kommt das? Frau G.: Weil wir Menschen biologisch dazu disponiert sind, die Sprachen unserer Umgebung zu lernen. Wir können gar nicht anders. Deswegen ist auch lernen nicht ganz der richtige Ausdruck; es wäre angemessener von Aneignung im biologischen Sinn zu sprechen: uns wächst die Sprache wie uns Haare und Fingernägel wachsen. Herr K.: Aber mit der Sprache ist das doch was anderes. Wir sind die einzigen Wesen, die über Sprache verfügen und damit doch auch die Krone der Schöpfung. FrauG.: Dass wir die einzigen Wesen sind, die über Sprache verfügen, ist richtig. Mit der Krone der Schöpfung habe ich aber so meine Probleme. Oh, da kommt mein Bus. Vom Ringen um eine deutsche Grammatik - Eine Valentinade in fünfAufzügen 639 Aufzug IV Frau G. und Herr K. treffen sich wieder einmal an der Bushaltestelle. HerrK.: Frau G.: Herr K.: Frau G.: Herr K.: Frau G.: Herr K.: FrauG.: Herr K.: Frau G.: Herr K.: Frau G.: Herr K.: Guten Morgen, Frau G. Guten Morgen, Herr K. Stellen Sie sich vor, was ich gerade in der Zeitung gelesen habe. Da hat man einen Mann gefunden, der im Keller unter einem Fass gelegen hat und schon fünf Monate tot war. Das ist eine Schande! Fünf Monate unter einem Fass im Keller, wie grässlich! Im Keller unter einem Fass, stand in der Zeitung. Das ist ja nun dasselbe. Ach, ja? Nun, wenn man ganz genau sein will, gibt es natürlich einen Unterschied, aber für die Zeitungsmeldung ist das völlig irrelevant. Und welchen Unterschied gibt es? Im Fall von „im Keller unter einem Fass“ kann man umschreiben: „Man fand ihn in einer Region, die sich unter einem Fass befindet. Von allen Unter-Fass-Regionen kommt dabei nur eine im Keller befindliche in Frage.“ {stöhnt) Ich hab's geahnt, es wird wieder kompliziert. Und wie sieht Ihre Umschreibung im Fall von „unter einem Fass im Keller“ aus? Nun ja, Sie haben es selbst gewollt, entsprechend kompliziert: „Man fand ihn in einer Region, die sich im Keller befindet. Von allen Im-Keller-Regionen kommt dabei nur eine unter einem Fass befindliche in Frage.“ Der Unterschied der beiden Konstruktionen besteht darin, dass im Fall von „im Keller unter einem Fass“ das Denotat von unter einem Fass, d.h. das, was damit bezeichnet ist, das Grund-Denotat darstellt und das Denotat von im Keller die darauf operierende Modifikation. Im Fall von „unter einem Fass im Keller“ gilt das Umgekehrte. Also, wenn ich das richtig verstanden habe, kann ich eine spezifische Ortsangabe wie „unter einem Fass“ durch eine weniger spezifische Ortsangabe wie „im Keller“ näher bestimmen und umgekehrt eine weniger spezifische Angabe wie „im Keller“ durch 640 Gisela Harras eine spezifischere wie „unter einem Fass“. Ich kann also sowohl vom Hölzchen aufs Stückchen als auch vom Stückchen aufs Hölzchen kommen. Frau G.: Das ist gar nicht mal so schlecht ausgedrückt. Herr K.: Gibt es für die Abfolge von solchen Angaben auch Regeln? Frau G.: Bis zu einem gewissen Grad ja, aber die sind ganz anderer Art als grammatische Regeln wie Artikelgebrauch, Zeitenbildung oder Personalendungen. Man könnte sagen, sie haben etwas mit Kommunikation zu tun, mit dem, was ich meinem Gesprächspartner mitteilen will, wie ich ihn einschätze. Im Allgemeinen gilt eine Art Prinzip, nach dem man zuerst etwas bereits Bekanntes und dann das Neue sagen soll, also „in unserer Stadt in der Stiftstraße“ und nicht umkehrt. Aber solche Regeln sind keineswegs so verbindlich wie die grammatischen Regeln. Im Fall unserer Zeitungsmeldung kann man überhaupt keine Reihenfolge festlegen, da für den Leser alles neu sein dürfte. Huch, da kommt ja schon mein Bus! Aufzug V Herr K. und Frau G. treffen sich in einem Einkaufszentrum. Herr K.: Guten Tag, Frau G. Wie schön, Sie mal wieder zu sehen. Frau G.: Guten Tag, Herr K. Ein ungewöhnlicher Ort unseres Wiedersehens. Herr K.: Ja. Nun sehen Sie mal: outdoor-Jacken, sportswear, reality wear, Team Spirit, alles Englisch, ist ja grässlich, bald versteht man seine eigene Sprache nicht mehr. Frau G.: Das ist ja vielleicht ein bisschen übertrieben. Herr K.: Sie werden aber doch nicht leugnen wollen, dass das Englische in der deutschen Sprache auf dem Vormarsch ist. Frau G.: Die neuen englischen Wörter, die im öffentlichen Sprachgebrauch, in den Medien und in der Werbung, massiv Vorkommen, fallen natürlich auf, aber trotzdem kann man nicht sagen, dass sie das Deutsche dominieren. Von allen neuen Wörtern, die ins Deutsche kommen, machen die Anglizismen gerade mal zehn Prozent aus. HerrK.: Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Aber sie verändern doch unsere Grammatik, oder? Vom Ringen um eine deutsche Grammatik — Eine Valentinade in fünfAufzügen 641 Frau G.: Nein, sie werden in unser Sprachsystem integriert. Das heißt: auch die englischen Wörter werden den Regeln unserer deutschen Grammatik angepasst. Es ist also völlig falsch, den Untergang der deutschen Sprache zu beschwören. HerrK.: Vielleicht ist die Rede vom Untergang der deutschen Sprache ja auch übertrieben. Aber gehört es nicht doch zu den Aufgaben einer Sprachwissenschaftlerin, die Sprache zu beobachten und vor Schäden, die ihr drohen, zu warnen? FrauG.: Ersteres ganz sicher. Jeder Sprachwissenschaftler sollte auch Sprachkritiker im besten Sinn sein, das heißt die Sprache beziehungsweise ihre Verwendung analysieren und Missbräuche aufdecken. HerrK.: Zum Beispiel? Frau G.: Ein gutes Beispiel ist die Verwendung von Metaphern. Mit ihnen werden immer auch bestimmte Bilder transportiert; diese müssen Sprachwissenschaftler aufzeigen und fragen, ob sie für den jeweiligen Bezeichnungsbereich geeignet sind oder ob die Sichtweisen auf sie akzeptabel sind. In der Sprachwissenschaft ist häufig auf die Krankheitsmetaphem aufmerksam gemacht worden, mit denen die Nationalsozialisten von den Juden gesprochen haben. Da ist von Seuchen, Inkubationszeiten, Fieberkurven und Therapien die Rede. Mit solchen Bildern werden gesellschaftliche Entwicklungen und damit auch kollektive Handlungen und deren Ergebnisse auf die gleiche Stufe gestellt mit natürlichen oder physischen Ereignissen und damit wird auch versucht, entsprechende Einstellungen in einer Gesellschaft zu erzeugen. Es ist zum Beispiel noch nicht so lange her, dass von Asylantenschwemmen oder -strömen in den Medien gesprochen wurde. Naturereignisse wie Überschwemmungen muss man eindämmen. Oder atomare Endlager wurden Entsorgungsparks genannt, was besonders den amerikanischen Computerspezialisten Joseph Weizenbaum erboste, der gesagt hat, dass ein Volk, das einen solchen Ausdruck geprägt hat, sich eigentlich schon selbst aufgegeben habe. Aber natürlich macht es keinen Sinn, gegen die Ausdrücke als solche vorzugehen. Wichtig ist es, die Haltungen, die hinter solchen Sprachgebräuchen stehen, aufzudecken. Gegen bestimmte Haltungen zu argumentieren, ist dann nicht mehr eine Aufgabe des Sprachwissenschaftlers, sondern eine 642 Gisela Harras des Staatsbürgers. Es ist aber die Aufgabe beider, das kommunikative Fundament für eine solche argumentative Auseinandersetzung zu sichern. Der Philosoph Jürgen Habermas hat zwischen strategischer und verständigungsorientierter Kommunikation unterschieden, und nur letztere kann das Fundament für eine sprachkritische und politische Auseinandersetzung liefern. Herr K.: Das haben Sie sehr schön gesagt. Jetzt muss ich leider gehen. Übrigens bin ich umgezogen, so dass wir uns nicht mehr am Bus treffen können. Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Zukunft. Vielleicht sehen wir uns ja mal. Frau G.: Ich wünsche Ihnen auch alles Gute. (für sich: Eigentlich ist es doch schade, dass wir uns nicht mehr sehen, obwohl er manchmal schon genervt hat.) ENDE Schriftenverzeichnis Monographien 1973 Zur Theorie der Wortbildung am Beispiel deutscher Präfixverben. München: Hueber. (= Linguistische Reihe 13). 1980 [mit Hans Dieter Lutz, Genevieve Berry-Rogghe, Kurt Brommundt, Tobias Brückner, Martin Diestelmann, Werner Dilger, Hans-Peter Kehm, Monika Kolvenbach]: PLIDIS-Dokumentation. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. 1985 [mit Gerhard Strauß]: Die Semantik schwerer Wörter im Deutschen. Teil 1. Lexikologie schwerer Wörter. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 58.1). 1985 [mit Gerhard Strauß]: Die Semantik schwerer Wörter im Deutschen. Teil 2. Typologie und Lexikographie schwerer Wörter. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 58.2). 1987 Kommunikative Einheiten in der Grammatik. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 65). 1997 [mit Ludger Hoffmann, Bruno Strecker und Joachim Ballweg, Ursula Brauße, Eva Breindl, Ulrich Engel, Helmut Frosch, Ursula Hoberg, Klaus Vorderwülbecke]: Grammatik der deutschen Sprache. 3 Bde. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Schriften des Instituts für Deutsche Sprache 7.1-7.3). 2001 Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Der Relativsatz. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 3/ 01). 2001 Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich: Das Pronomen. Teil I: Überblick und Personalpronomen. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 4/ 01). 2003 Das Pronomen. Teil II: Reflexiv- und Reziprokpronomen. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 1/ 03). 2005 Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. Das Pronomen. Teil III: Possessivpronomen. Mannheim: Institut für Deutsche Sprache. (= amades - Arbeitspapiere und Materialien zur deutschen Sprache 3/ 05). 644 Schriftenverzeichnis Aufsätze 1971 [mit Sabine Pape]: Grammatik und Lateinunterricht. In: Linguistik und Didaktik 8, S. 262-278. 1972 Über die Unverträglichkeit verschiedener Valenzbegriffe und ihre Verwertbarkeit in semantischen Beschreibungen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 39, S. 171-205. 1976 Pragmatik der Negation. In: Kem, Rudolf (Hg.): Löwen und Sprachtiger. Akten des VIII. Linguistischen Kolloquiums Löwen, 19.-22.9.1973. Leuven: Editions Peeters. S. 99-109. 1977 Bereiche der Negation. In: Ballweg-Schramm, Angelika/ Lötscher, Andreas (Hg.): Semantische Studien. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 37). S. 9-55. 1977 Die Konstruktsprache KS. Entwurf eines Darstellungsmittels für natürlichsprachlich formulierte Information. In: Heger, Klaus/ Petöfi, Janos (Hg.): Kasustheorie, Klassifikation, semantische Interpretation. Hamburg: Buske. S. 305-322. 1978 [mit Werner Dilger]: The Predicate Calculus-Language KS as a Query Language. In: Gallaire, Herve/ Minker, Jack (Hg.): Logic and Data Bases. New York/ London: Plenum Press. S. 377-408. 1979 Formale Repräsentation natürlichsprachlicher Äußerungen. In: Kolvenbach, Monika/ Lötscher, Andreas/ Lutz, Hans Dieter (Hg.): Künstliche Intelligenz und natürliche Sprache. Sprachverstehen und Problemlosen mit dem Computer. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 42). S. 93-134. 1979 Die Konstruktsprache als Semantiksprache für einen Ausschnitt des Deutschen. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 5, S. 35-46. 1979 Tagungsbericht über das Kolloquium „Theorie der Frage“ (Bad Homburg 13.-15. November 1978). In: Deutsche Sprache 7, S. 180-188. 1979 [mit Genevieve Berry-Rogghe]: The Cooperative User: On the Role of User-Defined Heuristica in a Deductive Q-A System. In: Proceedings 7th Coling Bergen 1978. Bergen. Schriftenverzeichnis 645 1979 [mit Hanno Wulz]: Automatische Problemlösung und Sprachverarbeitung als Forschungsgegenstände. In: Kolvenbach, Monika/ Lötscher, Andreas/ Lutz, Hans Dieter (Hg.): Künstliche Intelligenz und natürliche Sprache: Sprachverstehen und Problemlosen mit dem Computer. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts tur deutsche Sprache 42). S. 15-38. 1980 Zu den Grundlagen des IdS-Forschungsprojekts PLIDIS: Formallogische Repräsentation für ein natürlichsprachliches Informationssystem, dargestellt am Beispiel der Quantifikation. In: Ballweg, Joachim/ Glinz, Hans (Hg.): Grammatik und Logik. Jahrbuch 1979 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann. (= Sprache der Gegenwart 50). S. 191-217. 1980 [mit Genevieve Berry-Rogghe]: Informationen-Gewinnen und Schlußfolgerungen mit heuristischen Hinweisen. In: Rollinger, Claus-Rainer/ Schneider, Hans-Jochen (Hg.): Inferenzen in natürlichsprachlichen Systemen der KI. Berlin: Einhorn. (= Künstliche Intelligenz 3). S. 225-250. 1980 Sprachverstehen mit dem Computer. Mensch-Maschine-Kommunikation über das Anwendungsgebiet ‘Abwasserüberwachung’. In: Kühlwein, Wolfgang/ Raasch, Albert (Hg.): Sprache und Verstehen, Bd. 1. Kongreßberichte der 10. 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In: Schreiben + Lesen 4, S. 5. 1982 [mit Gerhard Strauß]: Über den Umgang mit „schweren Wörtern“. In: Schreiben + Lesen 5, S. 5. 1982 [mit Gerhard Strauß]: Vom wissenschaftlichen Umgang mit ‘schweren Wörtern’. In: Kopenhagener Beiträge zur germanistischen Linguistik 19, S. 128-149. 1983 Man nehme: 3 doch, 4 denn „Würzwörter für Dialoge“. Zum Internationalen Kolloquium „Funktionen der Partikeln in dialogischer Interaktion“ (Berlin, 20.-24.9.1982). In: Deutsche Sprache 11, S. 78-86. 1983 [mit Gerhard Strauß]: Schwere Wörter in der Diskussion. In: Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 9, S. 65-78. 1983 [mit Gerhard Strauß]: Wortbedingte Verständigungsprobleme. In: Zeitschrift für Semiotik 5, S. 149-157. 1984 Politische Sprachkultur und Sprachkritik. In: Teubert, Wolfgang (Hg.): Aspekte der Sprachkultur. Mannheim: Institut für deutsche Sprache. (= Mitteilungen des Instituts für deutsche Sprache 10). S. 61-90. 1984 [mit Gerhard Strauß]: Versuch über ‘schwere Wörter’. Zur Frage ihrer systembezogenen Bestimmbarkeit. In: Wiegand, Herbert Emst (Hg.): Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms. (= Germanistische Linguistik 1-2/ 1983). S. 381- 452. 1985 Grammatische Verständigungsprobleme und wie deutsche Grammatiken damit umgehen (könnten) dargestellt an einem Beispiel. In: Deutsche Sprache 13, S. 193-206. 1985 Jubel über Bum Bum Becker. In: Sprachreport 0/ 85, S. 12. 1985 [mit Gerhard Strauß]: Sprachkultivierung als politische Aufklärung. In: Wimmer, Rainer (Hg.): Sprachkultur. Jahrbuch 1984 des Instituts für deutsche Sprache. Düsseldorf: Schwann. (= Sprache der Gegenwart 63). S. 211-222. 1986 [mit Gerhard Strauß]: Formen der Ideologiegebundenheit. Versuch einer Typologie der gesellschaftspolitischen Lexik (1982/ 83). In: Strauß, Gerhard (Hg.): Der politische Wortschatz. Zur Kommunikations- und Textsortenspezifik. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 60). S. 67-148. Schriftenverzeichnis 647 1986 Eine neue Grammatik des Deutschen. Konzept zu Inhalt und Struktur. In: Zifonun, Gisela (Hg.): Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 63). S. 11-75. 1986 Nominale Gruppen mit Zahladjektiven. In: Zifonun, Gisela (Hg.): Vor- Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 63). S. 280-300. 1989 [mit Gerhard Strauß]: Themen, Meinungen, Wörter der Zeit. In: Sprachreport 1/ 89, S. 35-42. 1992 Grammatik. In: Sprachreport Extra 3/ 92, S. 3. 1992 Das Passiv im Deutschen: Agenten, Blockaden und (De-)Gradierungen. In: Hoffmann, Ludger (Hg.): Deutsche Syntax. Ansichten und Aussichten. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1991). S. 250-275. 1993 Sprachkritische Momente in der Grammatik. In: Heringer, Hans Jürgen/ Stötzel, Georg (Hg.): Sprachgeschichte und Sprachkritik: Festschrift für Peter von Polenz zum 65. Geburtstag. Berlin/ New York: de Gruyter. S. 266-290. 1994 Die „Grammatik des heutigen Deutsch“. Erkundungen zu einem verkannten Wissensgebiet. In: Sprachreport 1/ 94, S. 1-3. 1995 Beitrag zur Podiumsdiskussion: Grammatik ja, aber meine. In: Agel, Vilmos/ Brdar-Szabö, Rita (Hg.): Grammatik und Grammatiken. Budapester Grammatiktagung 1993. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 330). S. 253-260. 1995 Die „Grammatik der deutschen Sprache“. In: Redder, Angelika/ Engel Ulrich (Hg.): Entwicklungslinien in der Linguistik für Deutsch als Fremdsprache. München: Judicium. (= Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 21). S. 357-366. 1995 Der meiste Mensch ist die Frau (Sprachglosse). In: Sprachreport 3/ 95, S. 7. 1995 Minimalia grammaticalia: Das nicht-phorische es als Prüfstein grammatischer Theoriebildung. 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Schriftenverzeichnis 649 2000 Die Peripherie der Verbalkategorien - Zentralitätsabstufungen in der „Grammatik der deutschen Sprache“ und ihre theoretische Fundierung. In: Eichinger, Ludwig M./ Leirbukt, Oddleif (Hg.): Aspekte der Verbalgrammatik. Hildesheim/ Zürich/ New York: Olms. (= Germanistische Linguistik 154). S. 35-61. 2000 Textkonstitutive Funktionen von Tempus, Modus und Genus Verbi. In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven F. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16.1). S. 315-330. 2001 Eigennamen in der Narrenschlacht. Oder: Wie man Walther von der Vogelweide in den Genitiv setzt. In: Sprachreport 3/ 01, S. 2-5. 2001 Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich, ln: Acta Universitatis Wratislaviensis 2296. Studia Linguistica XX, S. 171-186. 2001 Die „Grammatik der deutschen Sprache“: eine wissenschaftliche Grammatik als Schlüssel zu authentischem Gegenwartsdeutsch. In: Zickfeldt, A. Wilhelm/ Issel, Burkhard/ Ehlich, Konrad (Hg.): Deutsch in Norwegen. Neue Beiträge im Gespräch zwischen Germanistik, Lehrerausbildung und Schule. Regensburg: Fachverband Deutsch als Fremdsprache. (= Materialien Deutsch als Fremdsprache 62). S. 40-58. 2002 [mit Ulrike Haß-Zumkehr, Werner Kallmeyer]: Einleitung, ln: Haß- Zumkehr, Ulrike/ Kallmeyer, Wemer/ Zifonun, Gisela (Hg.): Ansichten der deutschen Sprache. Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 25). S. XI-XXII. 2002 Grammaticalization of Perspectivity. In: Graumann, Carl F./ Kallmeyer, Werner (Hg.): Perspective and Perspectivation in Discourse. Amsterdam/ Philadelphia: Benjamins. (= Human Cognitive Processing 9). S. 89-109. 2002 Neue Wege in der vergleichenden Grammatikschreibung. 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S. 135-152. 2005 Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: zur Analyse des adnominalen possessiven Dativs. In: d'Avis, Franz Josef (Hg.): Deutsche Syntax: Empirie und Theorie. Symposium in Göteburg 13.-15. Mai 2004. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis. (= Göteborger Germanistische Forschungen 46). S. 25-51. Rezensionen 1975 Eine Kritik der „Theorie der kommunikativen Kompetenz“. [Rezension zu: „Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz (= HabermasO“ und „Jürgen Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Aus-einandersetzung mit Niklas Luhmann (= Habermas 2 )“ in: „Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971“]. In: Linguistische Berichte 35, S. 57-70. 1976 [Zu: Hartmut Günther: Das System der Verben mit BEin der deutschen Sprache der Gegenwart. Ein Beitrag zur Struktur des Lexikons in der deutschen Grammatik. Tübingen: Niemeyer 1974. (= Linguistische Arbeiten 23)]. In: Zeitschrift für germanistische Linguistik 4, S. 248-253. 1981 Zu welchem Ende betreibt man Syntaxforschung heute? [Rezension zu: Heringer, Hans-Jürgen/ Strecker, Bruno/ Wimmer, Rainer: Syntax. Fragen - Lösungen - Antworten. München 1980: Fink. (= Uni-Taschenbücher 251)]. In: Linguistische Berichte 72, S. 68-76. 652 Schriftenverzeichnis 1983 [Zu: Joachim Jacobs: Syntax und Semantik der Negation im Deutschen. München 1982: Fink. (= Studien zur Theoretischen Linguistik 1)]. In: Germanistik 24, S. 261-262. 1984 [Zu: Heringer, Hans-Jürgen/ Strecker, Bruno/ Wimmer, Rainer: Syntax. Fragen - Lösungen - Antworten. München 1980: Fink. (= Uni- Taschenbücher 251)]. In: Kratylos 29, S. 134-137. 1987 Fünf Jahre im Leben einer Grammatik: [Rezension der „Grundzüge einer deutschen Grammatik“]. In: Sprache der Literatur 59, S. 19-34. 1987 Postgenerative Grammatik oder zurück zur Oberflächensyntax? 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Herausgebertätigkeit bei Sammelbänden 1986 Vor-Sätze zu einer neuen deutschen Grammatik. Tübingen: Narr. (= Forschungsberichte des Instituts für deutsche Sprache 63). 1996 [mit Ewald Lang]: Deutsch-typologisch. Berlin/ New York: de Gruyter. (= Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 1995). Schriftenverzeichnis 653 2002 [mit Ulrike Haß-Zumkehr, Werner Kallmeyer]: Ansichten der deutschen Sprache. Festschrift für Gerhard Stickel zum 65. Geburtstag. Tübingen: Narr. (= Studien zur deutschen Sprache 25). 2003 [mit Lutz Gunkel, Gereon Müller]: Arbeiten zur Reflexivierung. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 481). 2004 [mit Gereon Müller, Lutz Gunkel]: Explorations in Nominal Inflection. Berlin/ New York: Mouton de Gruyter. (= Interface Explorations 10). Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Ulrich Reitemeier Aussiedler treffen auf Einheimische Paradoxien der interaktiven Identitätsarbeit und Vorenthaltung der Marginalitätszuschreibung in Situationen zwischen Aussiedlern und Binnendeutschen Band 34, 2006, 496 Seiten, EUR 89,-/ SFr 146,- ISBN 3-8233-6200-3 Basierend auf Gesprächsaufnahmen, Beobachtungsprotokollen und Interviews untersucht die Studie, was die Identitätsarbeit von Aussiedlern in der Kommunikation mit Hiesigen erschwert bzw. unterstützt, wie sich die Betroffenen auf die Lebenswirklichkeit in Deutschland einstellen, welche Rolle institutionelle Eingliederungsmaßnahmen spielen und welche Probleme dabei der Identitätsentwurf»als Deutsche(r) unter Deutschen leben« bereitet. Kristel Proost / Gisela Harras / Daniel Glatz Domänen der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte Band 33, 2006, 178 Seiten, EUR 39,-/ SFr 67,50 ISBN 3-8233-6199-6 Der Band versammelt drei Beiträge zur Semantik von Sprechaktverben, die Aufschluss über die Art und Weise der Lexikalisierung kommunikativer Konzepte liefern. Volker Hinnenkamp / Katharina Meng (Hrsg.) Sprachgrenzen überspringen Sprachliche Hybridität und polykulturelles Selbstverständnis Band 32, 2005, 391 Seiten, geh., € 78,-/ SFr 131- ISBN 3-8233-6145-7 Diese reichhaltige Darstellung unterschiedlichster Aspekte von Sprachkontakten beschäftigt sich mit Mehrsprachigkeit als eigenständigem Diskurs, untersucht polykulturelle Selbstverständnisse und ihre diskursive Stilisierung und zeigt in Fallstudien, wie Mehrsprachigkeit als biografisches und gesellschaftliches Residuum fungiert. jgn Gunter Narr Verlag Tübingen Studien zur deutschen Sprache FORSCHUNGEN DES INSTITUTS FÜR DEUTSCHE SPRACHE Helmut Schumacher / Jacqueline Kubczak / Renate Schmidt / Vera de Ruiter VÄLBU - Valenzwörterbuch deutscher Verben Band 31, 2004, 1040 Seiten, geh., € 168,-/ SFr 266,- ISBN 3-8233-6064-7 VALBU ist ein einsprachiges Wörterbuch deutscher Verben. Es enthält eine umfassende semantische und syntaktische Beschreibung von 638 Verben mit ihrer spezifischen Umgebung, ferner Informationen zur Morphologie, Wortbildung, Passivfähigkeit, Phraseologie und Stilistik sowie zahlreiche Verwendungsbeispiele. Die Stichwortauswahl lehnt sich an den Verbbestand in der Wortschatzliste des “Zertifikats Deutsch” (ZD) an. Reinhard Fiehler / Birgit Barden / Mechthild Elstermann / Barbara Kraft Eigenschaften gesprochener Sprache Band 30, 2004, 548 Seiten, geb., € 98,-/ SFr 155,- ISBN 3-8233-6027-2 30 Jahre Forschung auf dem Gebiet der gesprochenen Sprache eine Bilanz. Zunächst wird die Spezifik gesprochener Sprache charakterisiert. Der zweite Teil behandelt die Frage, ob die Untersuchung gesprochener Sprache besondere Beschreibungskategorien erfordert. Die empirische Untersuchung der Operator- Skopus-Struktur steht im Zentrum des Schlussteils. Joachim Ballweg Quantifikation und Nominaltypen im Deutschen Band 28, 2003, 146 Seiten, € 39,-/ SFr 67,50 ISBN 3-8233-5158-3 Das Buch gibt eine Darstellung der Quantifikation im Deutschen. Vor allem wird das Zusammenspiel mit den Nominaltypen dargestellt, insbesondere mit Plural- und Substanznomina. Den syntaktischen Rahmen bietet eine in dem Buch entwickelte flexible Kategorialgrammatik. Diese enthält neben der üblichen Applikationsregel noch die Regel der funktionalen Komposition, der Kommutation und der Reduktion, sowie Verkettungsregeln. gllW Gunter Narr Verlag Tübingen ISBN 3-8233-6229-1