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Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Konzepte, Praktiken, Poetizität

2022
978-3-7720-5748-9
A. Francke Verlag 
Mark Chinca
Manfred Eikelmann
Michael Stolz
Christopher Young
10.24053/9783772057489

Die im Band vereinten Beiträge untersuchen das Phänomen des Sammelns als grundlegende Voraussetzung sozialer und kultureller Entwicklung in literarischen Textzeugnissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei gerät ein breites Spektrum an Texten, Gattungen, Diskursen und kulturellen Umfeldern in den Blick. Schwerpunkte bilden die in mittelalterlichen Handschriften erkennbaren Sammelpraktiken, das Aufzählen und Anhäufen als literarische Themen sowie das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis.

ISBN 978-3-7720-8748-6 ISBN 978-3-7720-8748-6 Die im Band vereinten Beiträge untersuchen das Phänomen des Sammelns als grundlegende Voraussetzung sozialer und kultureller Entwicklung in literarischen Textzeugnissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei gerät ein breites Spektrum an Texten, Gattungen, Diskursen und kulturellen Umfeldern in den Blick. Schwerpunkte bilden die in mittelalterlichen Handschriften erkennbaren Sammelpraktiken, das Aufzählen und Anhäufen als literarische Themen sowie das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit XXVI. Anglo-German Colloquium Ascona 2019 Mark Chinca · Manfred Eikelmann Michael Stolz · Christopher Young (Hrsg.) XXVI. Anglo-German Colloquium Ascona 2019 Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz, Christopher Young (Hrsg.) Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Konzepte, Praktiken, Poetizität XXVI. Anglo-German Colloquium, Ascona 2019 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung und der Burgergemeinde Bern. DOI: https: / / doi.org/ 10.24053/ 9783772057489 © 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor: innen oder Herausgeber: innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-7720-8748-6 (Print) ISBN 978-3-7720-5748-9 (ePDF) ISBN 978-3-7720-0179-6 (ePub) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 9 11 23 47 61 75 99 121 143 161 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young Einleitung: Konzepte, Praktiken und Poetizität des Wort- und Textsammelns in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken Julia Frick Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung. Pragmatik und epistemische Logik des Sammelns am Beispiel des Murbacher Bibliothekskatalogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sarah Bowden Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben. Die Vorauer Sündenklage in der Sammelpraxis des 12. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Almut Suerbaum Singen und sammeln. Geistliche Liedersammlungen des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph Weltgeschichte sammeln - am Beispiel einer deutschsprachigen illustrierten Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (München, UB, Cim. 102) . . . . . . . . . . . . . . . . Linus Möllenbrink Sammeln zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds handschriftliche Schwanksammlung Roldmarsch Kasten (1608) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Wolf Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Werk - Handschrift - Sammlung - Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Texte in literarischen Sammlungen Cornelia Herberichs ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer. Dynamiken des Sammelns als kreative Memoria im Legendar Der Heiligen Leben, Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Weitbrecht Sammeln als literarische und religiöse Praxis: Das Lichtenthaler Bůch der heilgen megde und frowen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 191 209 229 253 269 293 311 333 355 371 Nikolaus Henkel Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte. Recht, Theologie, Bibel und Literatur in Sebastian Brants Marginalien zur Stultifera navis (1497) . . . . . . Rabea Kohnen Poetik des Inventars. Zur multimodalen Lesbarkeit von Sigmund Feyerabends Heldenbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literarische Texte als ‘Sammlungen’ Stephen Mossman Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Herweg Aufzählen im Erzählen. Der Roman als genus colligens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silvia Reuvekamp Sprichwörter des Teufels. Zur literarischen Produktivität von Sprichwörterkollektionen in der Historia von D. Johann Fausten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Wolf Die literarische Wunderkammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sammeln als literarisches Thema Elke Brüggen Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach . . . . Stefan Abel Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns im fiktionalen Raum der matière de Bretagne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Robert Schöller Frau Minnes groteske Schau-Stücke. Sammlungen von Eros und Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Am Beispiel von (Pseudo-)Frauenlob GA-S V, 204 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Volfing Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufzählen als poetisches Prinzip Christoph Pretzer Kataloge ‚heidnischer‘ Heere in der mittelhochdeutschen Literatur als Sammlung zwischen Ordnung und Entgrenzung. Wolframs von Eschenbach Willehalm und Ottokars aus der Gaal Buch von Akkon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 393 415 441 461 479 501 509 511 515 Franz-Josef Holznagel Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . Beate Kellner Poetik der Liste. Rabelais’ Gargantua in Fischarts Geschichtklitterung . . . . . . . . . . . . . . Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis Freimut Löser Gesammelte Sammlungen. Hadlaubs Loblied auf das (Lieder-)Sammeln und Meister Eckharts gesammelte Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Simone Kügeler-Race Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht. Die Offenbarungen der Katharina Tucher und Texte ihrer Büchersammlung als Literatur im Kloster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caroline Emmelius Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis. Sammeln und Ordnen in Job Fincels Wunderzeichen-Chronik (Tl. I, Jena 1556) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit der Tagung Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“. Fazit zur Tagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachruf Nigel F. Palmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Inhalt Monte Verità, Ascona (Ticino), Tagungsort des XXVI. Anglo-German Colloquium 2019. Vorwort Vom 26. bis 30. August 2019 fand im Zentrum Congressi Stefano Franscini, Monte Verità, Ascona, das XXVI. Anglo-German Colloquium statt. Die Fachtagung, deren Beiträge in diesem Band vorgelegt werden, hatte sich zum Ziel gesetzt, die Rezeption, Produktion und selbstbezügliche Reflexion von Literatur im Kontext kultureller Sammelpraktiken zu betrachten. Und so stellte sich die Aufgabe, das literarische Sammeln nicht nur als rezeptive, sondern als kreative Tätigkeit in den Blick zu nehmen. Wie die Beiträge zeigen, schließt diese Zielsetzung nicht zuletzt auch die Arbeit an literaturwissenschaftlichen Grundfragen ein. Zwischen Entstehung und Vollendung kann der Kontrast kaum krasser sein. Als sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Anglo-German Colloquiums in der letzten Augustwoche 2019 in der Schweiz versammelten, strahlte die Sonne noch - metaphorisch so wie aus heiterem Himmel. Der auf den Hügeln über Ascona und dem Lago Maggiore wunderschön gelegene Monte Verità bot traumhafte, in der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der Veranstaltung sicherlich unübertroffene Rahmenbedingungen für mehrere Tage regen Austausches und geselligen Beisammenseins. Thema dieses XXVI. Treffens des Kreises war ‚Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit‘, und alles ging seinen gewohnten harmonischen Gang. Die Welt, in der die Ergebnisse der Tagung für den Druck vorbereitet werden sollten, sah allerdings weniger freundlich aus. Knapp sechs Monate nach der Konferenz und wenige Wochen, bevor die überarbeiteten Beiträge in den Händen der Herausgeber liegen sollten, wandelte sich mit dem Anfang der Corona-Pandemie unsere vertraute Welt schlagartig in eine drastisch andere, vorher nicht erahnbare. Dass auch der wissenschaftliche Alltag von dem global zirkulierenden Virus tief betroffen wurde, dürfte kaum überraschen. Die für September 2021 in Cambridge anberaumte Folgetagung musste abgestimmt mit anderen mediävistischen Gesellschaften zunächst einmal um ein Jahr verschoben und dann wegen der ständig wechselnden Reiseregelungen vorsichtshalber nach Münster verlegt werden. Wegen der Schließung der Bibliotheken und des zeitraubenden Umstiegs auf die digitale Lehre verspätete sich die Fertigstellung dieses Bandes ebenfalls um ein Jahr. Dass er trotz allem, dem Anspruch unseres Kreises gemäß, rechtzeitig bis zur Folgetagung erscheinen kann, verdankt sich der Beflissenheit aller Teilnehmenden: In der Tat fehlt kein einziger Aufsatz, so dass der Band das volle Spektrum der in der Schweiz gehaltenen und wie immer intensiv diskutierten Referate lückenlos wiedergibt. Mögen künftige Leser dieses Bandes darin nicht nur die Erträge des XXVI. Anglo-German Colloquiums finden, sondern auch an die unermüdliche Bereitschaft der altgermanistischen Gemeinschaft in Großbritannien und den deutschsprachigen Ländern erinnert werden, trotz der ungünstigsten Umstände, die zwischen dem XXVI. und XXVII. Colloquium herrschten, mit ihrer Forschung pflichtbe‐ wusst und hoffnungsvoll weiterzumachen. In Ascona sahen wir eine andere zwar nicht tödliche, aber immerhin schwere Wolke über uns drohen. Der 2016 entschiedene, 2019 kurz bevorstehende und inzwischen endgültig vollzogene Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union überschattete viele Gespräche. Diese jedem britischen Mitglied des Kreises schmerzvolle und von jedem deutschen ebenso bereute Situation steht in eklatantem Widerspruch zu der langjährigen konstruktiven Zusammenarbeit der Mediävisten beider Länder, die bis ins Jahr 1966 zurückreicht. Dass die Arbeit am Band und die Planung der nächsten Tagung während der Corona-Pandemie beständig fortgeführt worden sind, legt unverkennbares Zeugnis von den Banden ab, die uns in Freundschaft und gemeinsamen Forschungsinteressen verbinden und über politische Entscheidungen hinweg noch lange verbinden werden. Denn der Brexit bedeutet keinen Bruch. Die in letzter Zeit entstandenen Partnerschaften - u. a. zwischen Oxford und Berlin, Cambridge und der LMU München, dem Imperial College London und der TU München, Cardiff und Bremen, Oxford und den Westschweizer Universitäten - zeigen, dass Kooperation und Austausch für wissenschaftliche Innovation unerlässlich sind und trotz Brexit erfolgreich und reibungslos weitergeführt werden können. In diesem Kontext ist die Rolle des Anglo-German Colloquiums als internationaler Fachtagung wertvoller denn je, und als Herausgeber danken wir im Namen aller vergangenen und künftigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Colloquiums allen Institutionen und Geldgebern, die die Fortführung unserer Treffen unterstützen. Für die Tagung 2019 und den daraus hervorgegangenen Band gilt unser aufrichtiger Dank: Elena Brandazza (Bern) für tatkräftige Mithilfe bei der Organisation und den Erstkorrekturen; Helen Hunter (Cambridge), die sich an den Erstkorrekturen engagiert beteiligt hat; Simon Aschemeier (Bochum) und Leila Gäumann (Bern) für die Mitarbeit an der Erstellung des Registers. Gerne danken wir auch dem Arbeitskreis ‚Poetiken des Sammelns‘ (Bochum), der wertvolle Anregungen zur inhaltlichen Konzeption beigesteuert hat. Die Herausgeber danken last not least den Congressi Stefano Franscini (ETH Zürich), dem Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften, der Fondation Johanna Dürmüller-Bol und der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügige Unterstützung der Tagung sowie der Burgergemeinde Bern und der Fritz Thyssen Stiftung für die gewährte Druckbeihilfe. Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz, Christopher Young 10 Vorwort 1 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt am Main 2018 (Walter Benjamin, Gesammelte Schriften V,1), S. 271 [H 1 a, 2]. 2 Ebd. S. 274 [H 2, 7; H 2 s a, 1]. 3 Ulrich Stadler und Magnus Wieland, Gesammelte Welten. Von Virtuosen und Zettelpoeten, Würzburg 2014, S. 191; vgl. zur Einordnung der Sammel-Reflexionen Benjamins in den Werkkontext Hannah Arendt, „Walter Benjamin“, in: Arendt und Benjamin. Texte, Briefe, Dokumente, hg. von Detlev Schöttker und Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1795), S. 85-97. 4 Auch neuere Beschreibungen von Sammelpraktiken setzen hier an, heben jedoch auf das Kontextuali‐ sieren und Ausstellen des Gesammelten im Museum sowie auf dessen Funktion als Bedeutungsträger ab; vgl. dazu Boris Groys, Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, München/ Wien 1997 (Edition Akzente); Krzystof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998. Einleitung: Konzepte, Praktiken und Poetizität des Wort- und Textsammelns in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young Nach den Praktiken des Sammelns und der Sammlung als ihrem Ertrag zu fragen, ist nicht neu. Die Frage wird seit den 1990er Jahren gerade in kulturwissenschaftlichen Diskussionen gestellt und unterschiedlich beantwortet. Zu erinnern ist dafür aber an Überlegungen, die Walter Benjamin schon in den 1930er Jahren für sein Passagen-Projekt notiert hat: Es ist beim Sammeln das Entscheidende, daß der Gegenstand aus allen ursprünglichen Funktionen herausgelöst wird um in die denkbar engste Beziehung zu seinesgleichen zu treten. Diese ist der diametrale Gegensatz zum Nutzen und steht unter der merkwürdigen Kategorie der ‚Vollständigkeit‘. 1 Man mag davon ausgehen, daß der wahre Sammler den Gegenstand aus seinen Funktionszusam‐ menhängen heraushebt. Aber das ist kein erschöpfender Blick auf diese merkwürdige Verhaltungs‐ weise. […] Man muß nämlich wissen: dem Sammler ist in jedem seiner Gegenstände die Welt präsent und zwar geordnet. 2 Benjamins Aufzeichnungen geben bis heute den Anstoß, das Sammeln von Dingen wie von Worten und Texten als Handeln und Prozess zu betrachten, so dass es sich „als eigenständige Produktionsweise“ 3 begreifen lässt. Dazu gehört der leitende Gedanke, dass planvolles Sammeln die gesammelten Dinge aus ihrem geläufigen funktionalen Kontext herauslöst und in neue Nachbarschaften rückt. 4 Eng verbunden mit diesem Aspekt der Dekontextualisierung ist die weitere These von der das Sammeln kennzeichnenden Zurichtung des Gesammelten, die konzeptionell so weit reicht, dass Sammlungen das 5 Den Aspekt der Weltrepräsentanz des Sammelns erschließt die neuere Forschung zur Geschichte der Kunst- und Wunderkammer; vgl. Christel Meier, „Virtuelle Wunderkammern. Zur Genese eines frühneuzeitlichen Sammelkonzepts“, in: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur, hg. von Robert Felfe und Angelika Lozar, Berlin 2006, S. 29-74. 6 Erinnert sei dafür nur an die großen unabgeschlossenen und wohl unabschließbaren Sammlungspro‐ jekte des Codex Manesse (um 1300-1330) und der Adagia des Erasmus von Rotterdam (1500-1536). Die Entstehung der Heidelberger Liederhandschrift ist zusammenfassend dargestellt bei Anna Kathrin Bleuler, Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder, München 2018, bes. S. 11-54. Erasmus hat die Unabschließbarkeit und den provisorischen Charakter seiner Adagia explizit reflektiert; vgl. dazu Manfred Eikelmann, „Erasmus von Rotterdam: Exzerptsammlungen“, in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon, hg. von Franz Josef Worstbrock, Bd. 1, Berlin/ New York 2008, Sp. 703- 712, hier Sp. 704. 7 Vgl. die mit Blick auf das poetologisch gedeutete Bienengleichnis begründete Unterscheidung zwischen verba- und res-Sammeln bei Stadler/ Wieland (wie Anm. 3), S. 15-25. 8 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2021), S. 9-26, hier S. 14. Die nötigen begrifflichen Differenzierungen bieten Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1606), insbes. S. 17-32; Aleida Assmann, „Sammeln, Sammlungen, Sammler“, in: Erleben, Erleiden, Erfahren. Die Konstitution Ganze der Welt repräsentieren, 5 doch ebenso das soziale Prestige des Sammlers und seinen ästhetischen Anspruch zum Ausdruck bringen können. Benjamin ist besonders an der Figur des Sammlers interessiert und fragt danach, wie sich das Sammeln und der Sammelnde wechselseitig beeinflussen und sogar hervorbringen. In seinem Verständnis vereint der Sammler zwar, was als Gleiches zusammengehörig scheint, doch ist seine Sammlung niemals vollständig. Die Sammlung ist insofern als ein offenes, prinzipiell unabschließbares Projekt konzeptualisiert, in dem Ähnliches ausgewählt und zusammengestellt wird. Wie die Beiträge des vorliegenden Tagungsbandes zeigen, kommt dem Spannungsverhältnis von Vollständigkeit und Offenheit der Sammlung für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bis hin zur Frage einer Poetik des Sammelns einige Bedeutung zu. 6 Dabei verfolgt der Band neben der systematischen insbesondere eine historische Perspektive, die den Blick auf das Sammeln als genuine literarische Praxis richtet. Drei Grundannahmen bestimmen den auf diese Weise anvisierten Forschungsansatz: Erstens, dass literarisches Sammeln wesentlich auf Worte und Texte bezogen ist, die als Fund- und Sammelstücke immer schon mit eigener sprachlicher Bedeutung aufgeladen sind; 7 zweitens, dass kulturelles und literarisches Sammeln wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen, insofern politisch-kulturelle Einrichtungen wie die Schatz- und Wunder‐ kammer als Modelle für literarische Sammlungen dienen oder auch eine Kontrastfolie für Spezifika der Literatur bieten; schließlich drittens, dass literarische Sammlungskonzepte in hohem Maße durch Verfahren und Strategien poetischer Wort- und Textgestaltung geleitet sind, und dies auch insofern, als das Sammeln häufig zum Bezugspunkt für poetologische Reflexionen wird. Unter diesen Vorzeichen lässt sich unter ‚Sammeln‘ das produktive Auswählen, Ge‐ stalten und Aneinanderfügen von Worten, größeren Texteinheiten und Texten verstehen, eine Tätigkeit, die auf je spezifischen Konzepten der thematischen Kohärenzbildung, der Gattung und der Autorschaft basiert. Entsprechend ist auch die ‚Sammlung‘ nicht eine nur anhäufende Zusammenstellung disparater Fundstücke, sondern Ergebnis eines planvollen Handelns, das einen „distinkte[n] Ordnungszusammenhang“ 8 und „neue Sinn‐ 12 Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, hg. von Kay Junge, Daniel Suber und Gerold Gerber, Bielefeld 2008, S. 345-353. 9 Strohschneider (wie Anm. 8), S. 14. 10 Die Differenz zwischen dem Sammeln als praktisch-ökonomischer und ästhetischer Tätigkeit erörtern instruktiv Sommer (wie Anm. 8), S. 30-32, und Umberto Eco, Die unendliche Liste, München 2011, S. 113-129. 11 Vgl. dazu die methodischen Vorüberlegungen in Almut Suerbaums Beitrag zum vorliegenden Band. 12 Die literaturwissenschaftliche Forschung hat ihren Schwerpunkt bisher in Beiträgen zur deut‐ schen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; vgl. den Band Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns, hg. von Sarah Schmidt, Paderborn 2016; außerdem Günter Häntzschel, Sammel(l)ei(denschaft). Literarisches Sammeln im 19. Jahrhundert, Würzburg 2014; Ulrike Vedder, Poetik des Sammelns bei Adalbert Stifter, Walter Benjamin und Stefan Zweig, in: Sammeln - eine unzeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017, S. 173-185; Carlos Spoerhase, Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018. horizonte, Funktionsbezüge, definierte Zwecke“ 9 hervorbringt. Wie man dabei allerdings präzisieren muss, greift die grundsätzliche Unterscheidung zwischen funktionsbestimmter und ästhetisch freigesetzter Kontextualisierung des Gesammelten 10 bei sprachlich konsti‐ tuierten Gegenständen wie Worten und Texten zu kurz, weil sich hier zweckgebundenes Bevorraten, auf Nützlichkeit bedachtes Anhäufen und ästhetisch-poetisches Sammeln als Momente der Sammlung überlagern können. Dies gilt nicht zuletzt auch für die materielle Erscheinungsform der gesammelten Worte und Texte, die durch die mise en page und die Gestaltung des Buchkörpers so eindrücklich hervortreten kann, dass statt der Vermittlung von Wissensinhalten die ästhetische und sinnliche Wirkung überwiegt. 11 Fragt man, was das Wort- und Textsammeln spezifisch ausmacht, gilt es darüber hinaus die Verfahren und Strategien der Kohärenzbildung in den Blick zu nehmen. Es geht hierbei um die textlichen Mittel der Verknüpfung des Gesammelten, wie sie durch paratextuelle Rahmung, die katalog- und listenartige Bildung von Wortclustern und Textreihen, das Herstellen intratextueller Bezüge in Form von Pro- und Analepsen oder die Beigabe von Bildern und Kommentaren geleistet wird. Für die Analyse der Konzepte und der inhärenten Poetik des Sammelns ist daher insbesondere das syntagmatische Arrangieren des Gesammelten als zentraler Gesichtspunkt in Anschlag zu bringen. Obwohl Praktiken und Poetik des Sammelns die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit vielfältig prägen, 12 fehlt es in der germanistischen Mediävistik an einer Diskussion, die eine Verständigung über den Gegenstand selbst, doch auch über grundlegende Begrifflichkeiten und Fragestellungen ermöglichen würde. Das literari‐ sche Sammeln als eigenständiges Forschungsfeld der volkssprachlichen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zu etablieren, erscheint jedoch schon deswegen geboten, weil Analysen von Sammelhandschriften und Textsammlungen ohne Zweifel zum disziplinären Kern der germanistischen Mediävistik gehören. Dies schließt die Frage danach ein, ob und wie das Sammeln als literarische Praxis adäquat zu vermessen ist. Um das literarische Sammeln als Forschungsfeld erschließen zu können, muss man bereits auf der Gegenstandsebene differenzieren. Formen und Praktiken des Sammelns begegnen nämlich einerseits als Teilelemente literarischer Texte, wie es bei Aufzählungen, 13 Einleitung 13 Listen und Kataloge sind inzwischen ein international und interdisziplinär ausgerichtetes For‐ schungsgebiet, das sich auch dadurch auszeichnet, dass anthropologische ebenso wie kultur-, literatur- und medienwissenschaftliche Fragestellungen der Sammelforschung zusammengeführt werden; vgl. Jack Goody, „What’s in a List? “, in: ders., The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977, S. 74-111; Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2002; Robert Belknap, The List. Uses and Pleasures of Cataloguing, New Haven 2004; Madeleine Jeay, Le commerce des mots. L’usage des listes dans la littérature médievale (XIIe-XVe siècles), Genf 2006 (Publications romanes et françaises 241); Eco (wie Anm. 10); Die Liste, paradigmatisch, hg. von Matthias Schaffrick und Niels Werber, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwis‐ senschaft und Linguistik 187 (2017); Eva von Contzen, „Namen auf der Liste. Aufzählen und Erinnern in der Troja-Tradition“, in: Poetica 51 (2020), S. 312-332. 14 Die neuere Forschung zu den epischen Katalogen und Listen, die geradezu als konstitutives Merkmal der höfischen Epik gelten, muss bilanziert und neu bewertet werden; vgl. Michael Müller, Namenka‐ taloge. Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Hildesheim/ Zürich 2003; Hans Jürgen Scheuer, „Götterinventare. Zur topischen und allegorischen Formation der paganen Antike in mythologischen Namenskatalogen des Mittelalters“, in: Zeitschrift für Germanistik 32 (2022), S. 19-40; weiterhin im vorliegenden Band die Beiträge von Christoph Pretzer, Franz-Josef Holznagel und Beate Kellner. 15 Vgl. Gert Hübner, Lobblumen. Studien zur Genese und Funktion der ‚Geblümten Rede‘. Tübingen/ Basel 2000 (Bibliotheca Germanica 41), hier S. 160-218; Susanne Reichlin, „Vom Sammeln der Lobblumen Marias“, in: Sammeln - eine unzeitgemäße Passion (wie Anm. 13), S. 63-94; Christina Lechtermann, „Könemanns von Jerxheim Sunte Marien wortegarde“, erscheint in: Literatur im mittelniederdeut‐ schen Sprachraum (1200-1600). Produktion und Rezeption, hg. von Franz-Josef Holznagel, Berlin (Wolfram-Studien 25). 16 Die Diskussion um eine sachgerecht differenzierte Kategorisierung der ‚Sammelhandschrift‘ kann hier beiseite bleiben; vgl. aber die Beiträge von Jürgen Wolf und Freimut Löser in diesem Band. Katalogen und Listen der Fall ist; 13 andererseits treten sie als selbstständige Formen wie Anthologien, Kompilationen oder Mosaik-Traktate auf, die ganze Texte zur Sammlung machen. Beste Beispiele für Praktiken des Sammelns, die als Teilelement in einen Text inseriert sind, bieten die Namen-, Ding- und Personenlisten in den höfischen Epen. 14 Als exemplarisch können zugleich auch die textlich eingebundenen Apostrophen-Reihen mit Lobpreisungen der Gottesmutter gelten, wobei sie fließend in Mariendichtungen übergehen. 15 Selbstständige Formen manifestieren sich dagegen bevorzugt als schriftliche Sammlungen, 16 an deren Fülle und Vielfalt ablesbar ist, wie stark bei aller Konstanz der gesammelten Texte die Prinzipien des Sammelns fast von Einzelfall zu Einzelfall variieren. Abhängig vom jeweiligen Konzept und Kontext tun sich hier nur wenig begrenzte Gestaltungs- und Funktionsspielräume auf. Welche Perspektiven, doch auch Probleme sich aus dieser Sammelpraxis speziell im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit ergeben, hat namentlich die Forschung zu den Klein- und Kleinstformen der Literatur zeigen können: Sehr wichtig für die große Kontinuität vieler Texte und Typen waren zweifellos auch die schriftlichen Sammlungen. Sie stellen tradiertes Material in immer neuer Auswahl, in immer neuen Arrangements und mit immer neuen Zielsetzungen zusammen, stabilisierten aber auch immer neue Rückgriffe auf ältere Sammlungen, die ja oft lange präsent blieben, die Tradition. Eine Literaturgeschichte der Sammlungen ist im Prinzip möglich. Bezieht man aber die lateinische 14 Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young 17 Burghart Wachinger, „Kleinstformen der Literatur. Sprachgestalt, Gebrauch, Literaturgeschichte“, in: Kleinstformen der Literatur, hg. von dems. und Walter Haug, Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 1-37, hier S. 20. 18 Weiterführend sind die neueren Forschungen zu den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mären-, Novellen und Schwanksammlungen, in denen die Materialität und Medialität der Samm‐ lungen in den Blickpunkt rückt; vgl. Nicola Zotz, „Sammeln als Interpretieren. Paratextuelle und bildliche Kommentare von Kurzerzählungen in zwei Sammelhandschriften des späten Mittelalters“, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 143 (2014), S. 349-372; Margit Dahm-Kruse, Versnovellen im Kontext. Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften, Tübingen 2018 (Biblio‐ theca Germanica 68); Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch. Transformationen eines sequentiellen Erzählparadigmas, hg. von Seraina Plotke und Stefan Seeber, Heidelberg 2019 (Germanisch-romanische Monatsschrift. Beihefte 96). 19 Wachinger (wie Anm. 17). 20 Vgl. Anthony Grafton, „Der Humanist als Leser“, in: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm, hg. von Roger Chartier und Guglielmo Cavallo, Frankfurt am Main/ Paris 1999, S. 263-312; Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, hg. von Frank Büttner, Markus Friedrich und Helmut Zedelmaier, Münster 2003 (Pluralisierung & Autorität 2). 21 Gilbert Hess: „Florilegien. Genese, Wirkungsweisen und Transformationen frühneuzeitlicher Kom‐ pilationsliteratur“, in: Wissensspeicher der Frühen Neuzeit, hg. von Frank Grunert und Anette Syndikus, Berlin/ Boston 2015, S. 97-138, hier S. 106. 22 Die longue durée dieser humanistischen Sammel- und Schreibpraxis untersucht Elisabeth Décultot, Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Berlin 2014. Tradition mit ein, wie es wegen der Schichtenproblematik unerläßlich ist, so ist die Masse des Überlieferten so unermeßlich, daß eine Realisierung in absehbarer Zeit nicht erreichbar ist. 17 Kleine Formen wie Sprichwort, Exempel, Fabel und Märe gibt es also als traditionsfähige Literatur nur deshalb, weil sie als Texte gesammelt und durch Sammlungen in Schrift und Buch verfügbar gehalten und autorisiert werden. 18 Dass sich aber seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wiederholt Konstellationen formieren, in denen Texte auf verschiedenen kulturellen Niveaus gesammelt und tradiert werden, fordert eine „Literaturgeschichte der Sammlungen“ 19 geradezu heraus, auch wenn dafür die sachlichen Voraussetzungen noch erst geschaffen werden müssen. Das Textsammeln erweist sich hier als Möglichkeitsbedin‐ gung für das Entstehen und den Status von Literatur im philologischen Verständnis. Nicht zufällig sammeln humanistische Autoren Texte nun professionell im Zeichen ihrer philo‐ logischen, kulturpädagogischen und theologisch-philosophischen Interessen. 20 Gegenüber mittelalterlichen Sammlungen, die der Vermittlung der auctoritates dienstbar waren, rückt die Figur der Sammlerin oder des Sammlers jetzt in die Position einer Autorinstanz, die aus eigener Kompetenz eine neue Textgrundlage schafft: Sammlungen sind damit einem Textverständnis verpflichtet, bei dem „der Leser als potentieller Schreiber“ 21 gilt und ex‐ zerpierendes Wort- und Textsammeln fließend in eigenes literarisches Schreiben übergeht. Daher wird es den Sammlungen nicht gerecht, tut man sie als bloße ‚Hilfsmittel‘ ab. In ihrer Text- und in der Buchgestaltung zeigen sie vielmehr, wie die ästhetisch-poetische Qualität der Sammelstücke freigesetzt und ausgestaltet wird. 22 Und so eröffnet sich eine epochale Perspektive, unter der Sammlungen als Literatur spezifisches Eigenprofil gewinnen. Vor diesem Hintergrund schicken sich jüngste Forschungen an, am Beispiel der Kunst- und Wunderkammer des 16. und 17. Jahrhunderts die vielfältigen „konkreten Relationen 15 Einleitung 23 Felfe, „Einleitung“, in: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur (wie Anm. 5), S. 22. 24 Vgl. Microcosmos in Macrocosmo: die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. von Andreas Grote, Opladen 1994; Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 1993; Klaus Minges, Das Sammlungswesen in der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung, Münster 1998. 25 Wegweisend ist Meier (wie Anm. 5); vgl. auch den Beitrag von Gerhard Wolf in diesem Band. 26 Vgl. James Clifford, The Predicament of Culture, Cambridge 1988, insbes. S. 215-251; Sammler, Bibliophile, Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998; Andreas Urs Sommer, Dagmar Winter, Miguel Skirl, Die Hortung. Eine Philosophie des Sammelns, Düsseldorf 2000; Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, hg. von Barbara Marx und Karl-Siegbert Rehberg, München/ Berlin 2006; Alois Hahn, „Soziologie des Sammlers“, in: ders., Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt am Main 2000 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1505). 27 Vgl. Microcosmos in Macrocosmo (wie Anm. 24); Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissens‐ kompilatorik in der Frühen Neuzeit, hg. von Frank Büttner, Markus Friedrich, Helmut Zedelmaier, Münster 2003 (Pluralisierung & Autorität 3); Ulrike Vedder, „Museum/ Ausstellung“, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. von Karlheinz Barck u. a., Stuttgart/ Weimar 2005, S. 148-190; Dietmar Rieger, Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur, Paderborn 2002; Dirk Werle, ‚Copia librorum‘. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630, Tübingen 2007. 28 Vgl. André Malraux, Das imaginäre Museum, mit einem Nachwort von Ernesto Grassi, Frankfurt am Main/ New York 1987; frz. Originalausgabe: Le musée imaginaire, Genf 1947; Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1990 (Cambridge Studies in Medieval Literature 10); Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Christian Moser, „Erinnerung als Sammlung. Zum Zusammenhang von Mnemographie und Dingkultur (Augustinus, Rousseau, Benjamin, Calvino)“, in: Comparatio 1 (2009), S. 87-111. zwischen Sammlungspraxis und Literatur in der Frühen Neuzeit“ 23 im Schnittpunkt kultur-, kunst- und literaturgeschichtlicher Ansätze herauszuarbeiten. Denn obwohl die Geschichte der Wunderkammer bereits gut untersucht ist, 24 kann gerade deren mittelalterliche Vor‐ geschichte in naturkundlichen Sammelhandschriften und Mirabilien-Sammlungen des Mittelalters 25 auch das Sammeln als literarische Praxis um neue Perspektiven bereichern. In den fächerübergreifenden Kulturwissenschaftlichen finden Sammelpraktiken und Sammlungen schon seit den 1990er Jahren breite Aufmerksamkeit. Fragt man angesichts der stark diversifizierten Diskussion nach Anschluss- und Berührungspunkten zu Analysen des literarischen Sammelns in Mittelalter und Früher Neuzeit, so sind drei Forschungsrich‐ tungen besonders relevant: - Ansätze zu Konzepten, Modellen und Typologien des Sammelns in Ethnologie, Kultur‐ soziologie und Philosophie; 26 - kultur- und wissenshistorische Analysen zu historischen Sammelpraktiken und Samm‐ lungstypen wie Schatz- und Wunderkammern, zu realen und imaginären Bibliotheken und Museen; 27 - kulturgeschichtliche Untersuchungen zum Zusammenhang von Sammeln und Ge‐ dächtniskunst sowie Praktiken des kulturellen Gedächtnisses. 28 Mit Blick auf diese Richtungen lässt sich der Theorierahmen unseres Tagungsbandes näher beschreiben. So sind in jüngerer Zeit die Praktiken des Sammelns und Sammlungen aus philosophischer, kultur- und wissensgeschichtlicher Sicht so eingehend erörtert worden, dass sich für die Literaturwissenschaft generell, doch spezifisch auch für die Literatur 16 Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young 29 Andreas Urs Sommer, Die Kunst des Zweifelns. Anleitung zum skeptischen Denken, München 2008, S. 96. 30 Vgl. Pomian (wie Anm. 4). 31 Exemplarische Überlegungen dazu bietet Peter Strohschneider, „Das neue Alte. Museum und Archiv, Sammeln und Forschen”, in: Jahrbuch der Schillergesellschaft 60 (2016), S. 635-651. 32 Konkrete sachliche Bezüge ergeben sich hier zum Interesse an ‚Dingen‘ und ‚Dingkulturen‘ in der jüngeren mediävistischen Forschung, wobei erst noch näher zu klären ist, wie die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur das Dinge-Sammeln darstellt und selbstbezüglich thematisiert. Vgl. die Aufsatzbände The Power of Things and the Flow of Cultural Transformations: Art and Culture Between Europe and Asia, hg. von Lieselotte Saurma-Jeltsch und Anja Eisenbeiß, Berlin/ München 2010; Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin/ Boston 2016 (Literatur - Theorie - Geschichte 9). des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wichtige Ansatzpunkte ergeben. Auszumachen sind sie insbesondere dort, wo das Sammeln als produktive Tätigkeit und mehr noch als „Welterschaffungs- und Weltordnungskompetenz“ 29 verstanden wird. Doch auch dort, wo neben Nützlichkeits- und Zweckbeziehungen der Eigenwert der gesammelten Stücke als Bedeutungsträger mit ästhetischer Wirkung zur Diskussion steht, erweisen sich Theorien über das Sammeln für Analysen der literarischen Praxis als besonders aufschlussreich. Bei näherer Betrachtung korrespondiert das Wort- und Textsammeln in der Literatur mit kulturellen Praktiken in mehrfacher Hinsicht: Enge Zusammenhänge bestehen mit den Anfängen und der Entwicklung des Museums als zivilisatorischem Konzept, da in musealen Sammlungen die einzelnen Sammelstücke den Status ausstellungswerter Bedeu‐ tungsträger (‚Semiophoren‘) 30 erhalten und sich im Vergleich die Frage stellt, wie die Valenz gesammelter Worte und Texte innerhalb spezifischer Traditionen, Gattungen und Diskurse verändert wird. Dabei erlaubt es dieses Verständnis, einerseits die wissensgenerierende Funktion des Sammelns, andererseits die Relevanz von Sammelpraktiken für das kulturelle Gedächtnis zu akzentuieren - dies insofern, als die Betrachtung gesammelter Objekte die Erinnerung an Vergangenes hervorruft und damit einer elementaren Leistung von Literatur zuarbeitet. Berührt sind damit auch die Bezüge des Sammelns zur Dimension von Zeit und Zeitlichkeit. Denn grundsätzlich schließt die Sammeltätigkeit stets die Potenziale einer vergangenheitsbezogenen ‚Aura‘ und einer zukunftsgerichteten ‚Latenz‘ ein: Sammelstücke einer vergangenen Welt rufen die Aura eines entfernten Ursprungs hervor, bergen zugleich aber die Latenz künftiger Nutzung, deren Bedeutung den Sammlern selbst entzogen bleibt. 31 Darüber hinaus verweisen literarische Texte auf den Prozess des Sammelns, der zeitlich strukturiert ist, und sie unterliegen selbst der Zeitlichkeit, insofern sie dem temporalem Wandel, doch auch dem Verfall und der Zerstörung ausgesetzt sind. Sammlungen sind zudem nicht nur durch archivierende und bewahrende Funktionen bestimmt, da sie in der Überlieferung verloren oder vergessen, erweitert oder ergänzt werden können. 32 Aus einer übergeordneten Perspektive erweisen sich die Konzepte, Praktiken und Poetiken des Sammelns damit als aussagekräftige Indikatoren kultureller Veränderungen und sogar epochaler Umbrüche. Eine Standortbestimmung zum ‚Sammeln als literarische Praxis‘ ist eine Aufgabe, die aus Sicht der germanistischen Mediävistik und Frühneuzeitforschung erst noch zu leisten ist. Diesem Desiderat haben sich das 2019 auf dem Monte Verità durchgeführte 17 Einleitung 33 Vgl. den Tagungsbericht von Daniel Pachurka, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 140 (2021), S. 127-134. Anglo-German Colloquium 33 und der daraus resultierende Tagungsband in ersten Schritten gestellt. Die darin vereinten Beiträge verfolgen das Ziel, die Bedeutung des Sammelns in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur in Fallstudien exemplarisch zu erkunden. Sie konzentrieren sich auf die Relevanz des Sammelns als kultureller Praxis für die Literatur im genannten Zeitraum. Sammeln wird dabei als produktives Aneinanderfügen von Worten und Texten betrachtet, während die Sammlung als Ergebnis des Sammelns auf Konzepte des Speicherns, Bewahrens und ästhetisch-poetischen Gestaltens verweist, auf Funktionsweisen, die in Zusammenhang mit dem individuellen und kulturellen Gedächtnis stehen. Der Band ist systematisch in sechs Sektionen unterteilt, die das Thema ‚Sammeln und Sammlung‘ als Forschungsfeld der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wie folgt strukturieren: 1. Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken 2. Texte in literarischen Sammlungen 3. Literarische Texte als ‚Sammlungen‘ 4. Sammeln als literarisches Thema 5. Aufzählen als poetisches Prinzip 6. Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis Die erste Sektion rückt die hand- und druckschriftliche Überlieferung von Sammlungen unter wechselnden Gesichtspunkten ins Zentrum. Zunächst zeigen die materialreichen Studien von Julia Frick und Sarah Bowden, wie das am Murbacher Bibliothekskatalog und an der Vorauer Handschrift Cod. 276 fassbare Buch- und Textsammeln in übergeordnete Diskurskontexte führt. An geistlichen Liederhandschriften arbeitet sodann der Beitrag von Almut Suerbaum heraus, was es heißt, dass für Entstehung und Verbreitung schriftlicher Sammlungen Kollektive und soziale Netzwerke verantwortlich zeichnen. Wie dagegen das Interesse einzelner Sammler kreative Sammelprojekte ermöglicht, führen detailliert die Analysen von Klaus Kipf und Pia Rudolph zur illustrierten Handschrift Cim. 102 der Münchener Universitätsbibliothek (3. Viertel 15. Jh.) sowie von Linus Möllenbrink zu der handschriftlich erhaltenen Schwanksammlung des Roldmarsch Kasten von Dietrich Marold (1608) vor. Die Reihe dieser Beiträge wird von Jürgen Wolfs systematischen Überlegungen abgeschlossen, die den Begriff der ‚Sammelhandschrift‘ im Kontext grundlegender litera‐ turwissenschaftliche Kategorien - Autor, Werk, Gattung - zur Debatte stellen. Den Ausgangspunkt zur zweiten Sektion ‚Texte in literarischen Sammlungen‘ bilden Fallstudien zu spätmittelalterlichen Legendaren: Cornelia Herberichs weist am Beispiel des Legendars Der Heiligen Leben schlüssig nach, wie die gesammelten Einzeltexte durch den Sammlungskontext spezifischen Mehrwert erhalten. Julia Weitbrecht vermag für die im Bůch der heilgen megde und frowen (um 1460) enthaltenen Legenden ein überlegtes Verweissystem nachzuzeichnen, das mit seinem intertextuellen Sinngeflecht für die klös‐ terliche Gemeinschaft identitätsstiftend wirken konnte. Aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte untersucht dagegen Nikolaus Henkel die Marginalien in Sebastian 18 Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young Brants Stultifera navis (1497); dabei ermittelt er nicht nur die reichen Quellen des Werkes, sondern es gelingt auch, die im Hintergrund mitgeführte Büchersammlung zu erschließen. Alternativ setzt Rabea Kohnen bei der Multimodalität gedruckter Textsammlungen mit der Frage nach dem Bildinventar des Druckerverlegers Sigmund Feyerabend an, um in ihrer Analyse der Heldenbuch-Ausgabe von 1560 einerseits die kohärenzstiftende Wirkung der Buchillustration, andererseits aber deren Leistung für die intertextuelle Vernetzung der bei Feyerabend gedruckten und verlegten Werke herauszuarbeiten. Dass literarische Texte als selbständige Sammlungen angelegt sein können, steht sodann als leitender systematischer Aspekt im Zentrum der dritten Sektion. Stephen Mossman nimmt eine Neubewertung der deutschen Mosaik-Traktate des 14. Jahrhunderts vor, indem er die Traktate mit Blick auf die Gattung des Cento als Produkte einer spezifischen kompilatorischen Kunstpraxis analysiert und das Entstehen der mosaikartig komponierten Textsammlungen der avancierten deutschen Scholastik zuweist. Gattungspoetische und literaturgeschichtliche Perspektiven öffnen auch die weiteren Beiträge dieser Sektion: Mathias Herweg skizziert ein Analysekonzept, das den Roman - vom späten 13. Jahrhun‐ dert bis ins 16. und 17. Jahrhundert - als genus colligens anvisiert, als gleichsam enzyklo‐ pädisches Genre, dessen Offenheit sich in Wissenseinlagerungen und Inszenierungen von Sammler-Figuren zeigt. Unter dezidiert narratologischer Perspektive erörtert Silvia Reuvekamp die Produktivität der Sprichwort-Inserate der Historia von D. Johann Fausten (1587), wobei ihre Analyse insofern neue Wege geht, als der Diskursbezug des Textes zu Luthers Rechtfertigungstheologie ins Zentrum rückt und die Historia als Reflexionsmedium der Theologie wie des Umgangs mit literarischen Texten erscheint. Abschließend stellt Gerhard Wolf die Hauschronik der Grafen von Zimmern (Zimmersche Chronik, Mitte 16. Jh.) neu zur Diskussion, indem er die Chronik in die Tradition der Kunst- und Wunderkammer verortet, die Bezüge zwischen Sammlungspraxis und literarischem Werk aufdeckt und das Ausstellen der gesammelten Dinge thematisiert. Die Beiträge der vierten Sektion behandeln das ‚Sammeln als literarisches Thema‘ und gehen auf Beschreibungen von Sammlern, sowie auf die literarische Inszenierung von Sammelpraktiken und Sammlungen ein. Elke Brüggen richtet den Blick auf die wiederholend erzählten Dinge in Wolframs Parzival (1203-1210) und fundiert umsichtig die These, dass Wolframs Erzählen eine den Text übergreifende ‚Dingsammlung‘ konstituiert. Wie vom Artushof als Ort des Sammelns erzählt und das Sammeln zum literarischen Thema wird, zeigt Stefan Abel in differenzierten Textanalysen, die am Beispiel des Rappoltsteiner Parzifal (1331-1336) das Zusammenspiel von Dichten und Sammeln aus Freude erkennen lassen. Gestützt auf reiches Text-Bild-Material demonstriert Robert Schöller die Vielfalt der Minneopfer-Sammlungen des deutschsprachigen Mittelalters und legt dabei besonderes Augenmerk auf die breite Rezeption des Frauenlob zugeschriebenen Spruchstrophe Adam, den ersten menschen, den betrog ein wib, die, wie er sagt, „ein Panoptikum des universalen Minneverhängnisses“ entwirft. In den Schwellenbereich von realer und imaginierter Hofwelt führt schließlich der Beitrag von Annette Volfing: Am Beispiel der Bücherliste im Ehrenbrief des Püterich von Reichertshausen (1462) arbeitet sie ein als Self-fashioning konzipiertes Sammlungsszenario heraus, in dem Püterich und Hermann von Sachsenheim als begeisterte Literatur- und Büchersammler auftreten und Mechthild von der Pfalz als literarische Figur einer vergangenen höfischen Erzählwelt agiert. 19 Einleitung In der fünften Sektion ‚Aufzählen als poetisches Prinzip‘ rücken mit Listen, Katalogen und Reihungen die literarischen Praktiken enumerativen Sammelns ins Zentrum. Den Aufschlusswert dieser Praktiken zeigt zuerst Christoph Pretzers Studie zur Heerschau in epischen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts, da die narrativ eingebundenen Listen mit ihren Namenreihen und Zahlenangaben einerseits zwar Vollständigkeit und Ordnung suggerieren, andererseits aber auch die Grenzen des Darstellbaren und der Weltrepräsen‐ tanz wirkungsvoll vor Augen führen. Wie das Aufzählen als poetisches Prinzip ganzer Texte und Textgruppen wirkt, macht sodann Franz-Josef Holznagel an den in Reimpaarversen gedichteten Registerreden deutlich, insofern Listen und Reihen analoger Einzelelemente deren makrostrukturelle Bauformen bestimmen und damit einen eigenständigen Texttyp konstituieren. Beate Kellner weist darüber hinaus das Aufzählen als durchgehendes, doch auch unterschiedlich umgesetztes Prinzip der poetischen Textgestaltung in François Rabelaisʼ Gargantua (1534/ 1535) und Johann Fischarts Geschichtklitterung (1575, 1582, 1590) nach. Bei Fischart parodieren die Listen und Kataloge zeitgenössische Wissensordnungen so nachhaltig, dass die Textkohärenz verloren geht und sich eine neue Poetik der Liste formiert. Die letzte Sektion gilt dem ‚Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis‘ und bündelt noch einmal Ansätze und Perspektiven der Tagung. Freimut Löser erörtert in seinem Beitrag, systematisch wie historisch ansetzend, die für mittelalterliches Textsammeln charakteristischen Formen und Funktionen in ihren spezifischen Rahmenbedingungen. Seine Beispiele sind die Entstehung des Codex Manesse und das Manesse-Lied des Johannes Hadlaub sowie die Überlieferung der Werke Meister Eckharts. Mit klösterlichen Praktiken des Buch- und Textsammelns befasst sich Simone Kügeler-Race, wobei sich im kontrastiven Vergleich der Privatbibliothek der Katharina Tucher und der Bibliothek des Nürnberger Katharinenklosters das breit gefächerte Sammlungsinteresse der Schwestern an verschie‐ denen Typen religiöser Literatur besonders deutlich zeigt. Im Schlussbeitrag stellt Caroline Emmelius zwei bisher kaum beachtete Wunderzeichen- und Exempelsammlungen der Frühen Neuzeit vor: das Phänomen der ‚Sammelwut‘ des 16. Jahrhunderts verbindet sie dabei treffend mit einer konfessionellen, hier lutherischen Programmatik des Sammelns. Den Band beschließt das ausführliche, an den auf dem Monte Verità gehaltenen Vorträgen orientierte Tagungsfazit, das Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden besorgt haben. Als literarische Praxis, so zeigen es die Fallstudien dieses Bandes insgesamt, haben das Sammeln und die Sammlung erhebliche Bedeutung für die Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Jüngere ethnologische, kultursoziologische und philosophische Forschungen geben dabei den Anstoß, die Rezeption, Produktion und Reflexion von Literatur im Kontext kultureller Sammelpraktiken zu betrachten. Für künftige historische Analysen stellt sich daher die Aufgabe, das literarische Sammeln als kreative Tätigkeit, nicht jedoch als etwas bloß Rezeptives zu verstehen. Wie sich immer wieder zeigt, schließt dies die Diskussion zentraler Begriffskategorien wie Autor, Werk und Gattung ein, so dass literaturwissenschaftliche Grundlagenarbeit zu leisten ist. 20 Mark Chinca, Manfred Eikelmann, Michael Stolz und Christopher Young Literarische Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken * Für intensive Diskussion danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Anglo-German- Colloquiums. Wichtige Hinweise verdanke ich außerdem Carmen Cardelle de Hartmann, Ulrich Eigler, Fabian Zogg (alle Zürich) sowie Felix Heinzer (Freiburg). 1 Zur Untersuchung und Edition vgl. Wolfgang Milde, Der Bibliothekskatalog des Klosters Murbach aus dem 9. Jahrhundert. Ausgabe und Untersuchung von Beziehungen zu Cassiodors ‚Institutiones‘, Heidelberg 1968 (Beihefte zum Euphorion 4), hier: nach Nr. 14/ nach Nr. Vb. Zur kritischen Diskussion siehe Karl-Ernst Geith und Walter Berschin, „Die Bibliothekskataloge des Klosters Murbach aus dem IX. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 83 (1972), S. 61-87. - Vgl. auch die ältere Darstellung bei Hermann Bloch, „Ein karolingischer Bibliothekskatalog aus Kloster Murbach“, in: Strassburger Festschrift zur XLVI. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, hg. von der Philologischen Fakultät der Kaiser-Wilhelms-Universität, Straßburg 1901, S. 257-285. 2 Zur Diskussion der Forschung siehe grundlegend The Power of Things and the Flow of Cultural Transformations. Art and Culture between Europe and Asia, hg. von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch und Anja Eisenbeiß, Berlin/ München 2010. Vgl. auch Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin/ Boston 2016 (Literatur - Theorie - Geschichte 9). Zum Konzept des Objekts als Bedeutungsträger (Semiophor) vgl. Krzystof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988 (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 9), bes. S. 49. 3 Vgl. in überlieferungsgeschichtlicher Perspektive die Ergebnisse der Tagung ‚Habent sua fata libelli. Auswahlprozesse in der lateinischen Literatur des Mittelalters‘ (2016, Zürich), publiziert im Mittellateinischen Jahrbuch 53/ 54 (2018). In monastischer Perspektive siehe Klösterliche Sammelpraxis in der Frühen Neuzeit, hg. von Georg Schrott und Manfred Knedlik, Nordhausen 2010. Für die volks‐ sprachige Literatur vgl. Nikolaus Henkel, „Wann werden die Klassiker klassisch? Überlegungen zur Wirkungsweise und zum Geltungsbereich literarisch-ästhetischer Innovation im deutschen Hoch‐ mittelalter“, in: Tradition, Innovation, Invention. Fortschrittsverweigerung und Fortschrittsbewusstsein Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung Pragmatik und epistemische Logik des Sammelns am Beispiel des Murbacher Bibliothekskatalogs * Julia Frick I Dynamik und Statik der Sammlung Reliquos eius libros adhuc quaerimus […] Alios plures invenire desideramus. ‚Seine übrigen Bücher suchen wir noch […] Mehrere andere wünschen wir zu finden.‘ Bemerkungen wie diese, die in z.T. variierendem Wortlaut den Murbacher Bibliothekskatalog systematisch durchziehen, 1 dokumentieren die besondere Relevanz von Büchern als Objekten des Sammelns im kulturellen Kontinuum. 2 Sie spiegeln, zumal als Medien der Wissenssicherung und Wissensvermittlung, institutionelle Praktiken, die durch den in einer Bibliothek repräsentierten ‚Lektürekanon‘ auf je spezifisch geprägte Wertevorstellungen und die darin eingeschriebenen epistemischen Dimensionen rekurrieren. 3 Innerhalb des in einem im Mittelalter, hg. von Hans-Joachim Schmidt, Berlin/ New York 2005 (Scrinium Friburgense 18), S. 441-467. 4 Zur Sachordnung mittelalterlicher Bibliothekskataloge vgl. Frank Fürbeth, „Sachordnungen mittelal‐ terlicher Bibliotheken als Rekonstruktionshilfe“, in: Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken. Neue Formen der Handschriftenpräsentation, hg. von Andrea Rapp und Michael Embach, Berlin 2008 (Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften 1), S. 87-103. Siehe mit Fokus auf die Frühe Neuzeit Martin Wagendorfer, „Bücherverzeichnisse“, in: Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.-16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, hg. von Jan-Hendryk de Boer, Marian Füssel und Maximilian Schuh, Stuttgart 2018, S. 67-82. 5 Michael Embach, „Die Bibliothek des Mittelalters als Wissensraum. Kanonizität und strukturelle Mobilisierung“, in: Karolingische Klöster. Wissenstransfer und kulturelle Innovation, hg. von Julia Becker, Tino Licht und Stefan Weinfurter, Berlin/ Boston 2015 (Materiale Textkulturen 4), S. 53-69. 6 Zu diesem Aspekt des Sammelns vgl. Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, „Einleitung“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, Tübingen 1998 (Literatur und Anthropologie 1), S. 7-19, bes. S. 12. Vgl. grundsätzlich Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 8 2018. 7 Vgl. das Repertorium MBK (Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, hg. von Bernhard Bischoff u. a., 4 Bde., München 1969-2009), digitale Version: www.mbk.badw.de/ publikat ionen.html [Zugriffe hier und im Folgenden am 8.4.2020]. Vgl. auch (mit weiterführender Literatur) Becker, Licht und Weinfurter (wie Anm. 5). - In globaler Perspektive vgl. Uwe Jochum, Geschichte der abendländischen Bibliotheken, Darmstadt 2 2012. 8 Justin Stagl, „Homo collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker (wie Anm. 6), S. 37-54, hier S. 41. 9 Adrian Stähli, Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im antiken Rom, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker (wie Anm. 6), S. 55-86, hier S. 57. 10 Christine Blättler und Ulrike Vedder, „Dynamik und Ordnung der Sammlung - Strategie, Spiel und Verlust. Zur Einleitung“, in: Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns, hg. von Sarah Schmidt, Paderborn 2016, S. 199-204, hier S. 203. Bibliothekskatalog ausgewiesenen Symbolsystems, das eine thematische Markiertheit der Bestände und damit eine hierarchisch gegliederte Ordnung des gesammelten Materials anzeigt, 4 generieren sie einen „Wissensraum“, 5 der als Referenzgröße für die kollektive Identitätsbildung dient. 6 Sammeln erweist sich in dieser Hinsicht, das zeigen die frühesten erhaltenen Bibliothekskataloge der Karolingerzeit, 7 als kulturelle Konstante im Umgang mit der Tradierung gelehrter Bildungsinhalte. Mittelalterliche Bibliothekskataloge erschließen nicht nur den konkreten Raum (d. h. die Aufstellungsorte der Bücher) in einem ordnenden, heilsgeschichtlich perspektivierten Zugriff, sondern konservieren die in ihnen fixierten Wissensstrukturen über die Zeit: als Sammlungen, die die Erinnerung einer Institution maßgeblich prägen und insofern zu „materialisierte[n] Gedächtnisse[n]“ 8 transzendieren. Als Funktionstyp für die Speicherung des gesammelten Wissens unterliegen sie einem mar‐ kanten Spannungsverhältnis, das auf einer synchronen und diachronen Ebene historisch beobachtbar wird: Zur Zeit ihrer Anlage als erweiterbare, offene Verzeichnisse verweisen Büchersammlungen auf bewegliche Prozesse strukturierter Wissensklassifizierung, in denen sich ein diffiziles Geflecht dynamischer ‚Netzwerke‘ konstituiert; in zeitlicher Re‐ trospektive hingegen gerinnen die schriftlich fixierten Verzeichnisse im Akt der Rezeption aufgrund des ihnen inhärenten Prinzips „der Bewahrung und Rekonstruktion von [kollek‐ tiver] Geschichte“ 9 zu Objekten von ‚monumentalem‘ Charakter, deren Sinnzentrum in der Funktion eines „Zeitspeicher[s]“ 10 liegt: einer statischen Dokumentation (vergangener) intellektueller Formationen. 24 Julia Frick 11 Vgl. zu diesem Aspekt Christine Blättler, „Die Serie als Ordnungsmuster“, in: Sprachen des Sammelns (wie Anm. 10), S. 205-217. 12 Zur Metathematik des Sammelns vgl. Assmann, Gomille und Rippl (wie Anm. 6), S. 17. 13 Zu diesem Spannungsverhältnis vgl. die Einleitung, in diesem Band. 14 Zum Begriff bei Schelling im Sinne einer ‚Ganzheitlichkeit des Wissens‘ siehe in philosophischer Perspektive Brian O’Connor (übers. v. Carola von Villiez), „III. System und Methode. 3. Schelling“, in: Handbuch deutscher Idealismus, hg. von Hans Jörg Sandkühler, Stuttgart/ Weimar 2005, S. 67-72, hier 71. 15 Vgl. Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Univer‐ sität“, in: Denkströme 8 (2012), S. 9-26. Siehe in anderem Zusammenhang Ines Detmers und Michael Ostheimer, „Das temporale Imaginäre. Von der Latenz des Zeitlichen zur Emergenz kultureller Zeit“, in: Geschichte - Latenz - Zukunft. Zur narrativen Modellierung von Zeit in der Gegenwartsliteratur, hg. von Anna-Katharina Gisbertz und Michael Ostheimer, Hannover 2017 (Ästhetische Eigenzeiten 7), S. 15-28. 16 In medienhistorischer Perspektive Christian Kiening, Fülle und Mangel. Medialität im Mittelalter, Zürich 2016. 17 Assmann, Gomille und Rippl (wie Anm. 6), S. 18. 18 Beide Zitate Blättler (wie Anm. 11), S. 207. Für diese dem Funktionstyp des Bibliothekskatalogs eigene Ambivalenz des Sammelns kann das Murbacher Bücherverzeichnis als exzeptioneller Vertreter der Gattung gelten: Einerseits, weil seine Überlieferungsgeschichte einen für die Frühe Neuzeit zeittypischen Umgang mit dem ins 9. Jahrhundert datierten Bücherverzeichnis indiziert, an dem sich Spezifika seiner ‚Reaktivierung‘ ablesen lassen; 11 andererseits weil das Sammeln im Katalog als Medium seiner Repräsentation selbst thematisch wird. Die Sammlung reflektiert nämlich ihre eigene Entstehung von entschiedener Intentionalität: 12 Die oben zitierte Formulierung invenire desideramus bezeichnet eine zielgerichtete Suche zur Ergänzung des Bücherbestandes, die zugleich die charakteristische Dialektik von momenthafter Doku‐ mentation und konzeptioneller Offenheit eindrücklich einfängt. 13 Die damit beschriebene Prozessualität des Sammelns wird durch das temporale Adverb adhuc intensiviert, das die gegenwärtig vorliegende Sammlung als ein ‚Noch-nicht‘ und insofern gewissermaßen als fragmentarisch (im Sinne einer auf Vollständigkeit zielenden ‚epistemischen Totalität‘ 14 ) erweist. Die Tendenz zur Unabschließbarkeit der Sammlung zeigt sich denn auch in einer symptomatischen Latenz, 15 die zwischen sichtbar registrierter Inventarisierung des ‚zu Findenden‘ und dessen tatsächlichem Status als ‚fehlend‘ (non habemus) changiert. Diese paradoxe Simultaneität von „Fülle und Mangel“, 16 die zugleich eine von Unabgeschlossen‐ heit des Materials und Endlichkeit des Mediums ist, gereicht selbst „zum Motor des Sammelns“: 17 Indem die Sammlung zu vervollständigende Werkreihen bestimmter Autoren entwirft, setzt sie eine „Progressionslogik“ frei, die eine potentielle Unendlichkeit der intellektuellen „Ordnungsnetze“ evoziert. 18 Der vorliegende Beitrag fragt - ausgehend von einer knappen Skizzierung des Gegen‐ standsbereichs - nach der Pragmatik und epistemischen Logik des Sammelns im Murbacher Bibliothekskatalog: zwei Parameter, in denen sich systematische Strukturphänomene, me‐ diale und temporale Aspekte, mentale Konzepte, aber auch historische (Wissens-)Diskurse verdichten. Jenseits einer besonders im Zeitalter des Humanismus zu beobachtenden Fokussierung auf imaginierte Bibliotheken, die die kaum zu beherrschende raum-zeitliche Verbreitung von Wissen im Modus fiktiv-utopischer Entwürfe teilweise destruktiv-paro‐ 25 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 19 Imaginierte Bibliotheken sind ein literarisches Phänomen, das vor allem auf die Copia librorum in der Frühen Neuzeit Bezug nimmt. Vgl. grundlegend Dirk Werle, Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630, Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 119). Siehe auch Dietmar Rieger, Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur, München 2002. 20 Vgl. Martin Schubert, „Einleitung“, in: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien - Werke - Mäzene, hg. von Martin Schubert, Berlin/ Boston 2013, S. 15. Zur wechselhaften Geschichte des Klosters Murbach siehe Andreas Gatrio, Die Abtei Murbach in Elsaß. Nach Quellen bearbeitet, 2 Bde., Straßburg 1895; Philippe Legin, Die Abteikirche von Murbach im Oberelsass, Colmar 1980. 21 Vgl. den Überblick mit weiterführender Literatur bei Sonja Glauch, „St. Gallen“, in: Schreiborte des deutschen Mittelalters (wie Anm. 20), S. 493-512; Walter Berschin, Eremus und Insula. St. Gallen und die Reichenau im Mittelalter. Modell einer lateinischen Literaturlandschaft, Wiesbaden 1987; Ursula Begrich, „Reichenau“, in: Helvetia Sacra III, Bd. 1/ 2, Bern 1986, S. 1059-1100; Tino Licht, „Beobachtungen zum Lorscher Skriptorium in karolingischer Zeit“, in: Karolingische Klöster (wie Anm. 5), S. 145-162; Angelika Häse, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung, Edition und Kommentar, Wiesbaden 2002 (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42). 22 Vgl. die Zusammenstallung in Becker, Licht und Weinfurter (wie Anm. 5). Siehe im Einzelnen Johannes Duft, „Die Klosterbibliotheken von Lorsch und St. Gallen als Quellen mittelalterlicher Bil‐ dungsgeschichte“, in: Lorsch und St. Gallen in der Frühzeit. Zwei Vorträge, Konstanz 1965 (Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte. Sonderband 4), S. 21-45; Günter Glauche und Hermann Knaus, Bistum, Freising, Bistum Würzburg, München 1979 (MBK 4,2); Bernhard Bischoff, Die Abtei Lorsch im Spiegel ihrer Handschriften, Lorsch 2 1989. 23 Vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 106-109. 24 Vgl. die Aufarbeitung des Materials in ebd., S. 129f. 25 Vgl. den Überblick bei Katharina Colberg, „Meisterlin, Sigismund O.S.B.“, in: 2 VL, Bd. 6, Berlin/ New York 1987, Sp. 356-366, u. 2 VL, Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 988. Meisterlin hatte auch im Rahmen seiner Tätigkeit als Novizenmeister in St. Gallen im Jahr 1462 die dortige Bibliothek ausgewertet. dierend reflektieren, 19 öffnet der karolingerzeitliche Bibliothekskatalog den Blick auf einen als ideal konzipierten Wissensfundus von institutionell-kollektiver Relevanz. Ziel des Beitrags ist es, die synchronen wie diachronen Konstellationen des Sammelns mit ihren Spielräumen divergierender Bedeutungskonstitution exemplarisch zu erfassen. II Diachrone Ebene: Restitution und Archivierung Der Murbacher Bibliothekskatalog repräsentiert einen Bücherbestand, der mit rund 340 verzeichneten Werken - darunter einer umfangreichen Abteilung der christlichen Patristik, aber auch antiker Klassiker - die im Jahr 727 gegründete Benediktinerabtei als geistiges und kulturelles Zentrum des 9. Jahrhunderts ausweist. 20 Unter den zeitgenössischen Bibliothekskatalogen der weiteren Klöster im deutschen Südwesten (z. B. St. Gallen, Reichenau, Lorsch) 21 zeichnet er sich aufgrund seiner außergewöhnlich umfangreichen Liste an ‚gesuchten‘ Büchern durch ein einzigartiges Profil aus: Zwar enthalten die Bibliothekskataloge anderer karolingischer Klöster (z. B. Freising, Lorsch), 22 durchaus auch Hinweise auf fehlende, gleichwohl freilich: nicht gesuchte, Bücher, 23 doch bleiben diese Angaben weit hinter der Zahl von insgesamt 76 spezifischen Desiderata und 15 allgemeinen Suchhinweisen im Murbacher Katalog zurück. 24 Er spiegelt damit als Denkmal des geistigen Lebens des Klosters eine Sammelpraxis, die eine Erweiterung des Bücherbestandes nach einem thematisch orientierten Prinzip intendiert. Der Katalog ist in einer Abschrift von 1464 überliefert, die der aus Augsburg stammende Benediktiner und Humanist Sigismund Meisterlin 25 bei seinem Aufenthalt in Murbach 26 Julia Frick Vgl. Wolfgang Milde, Zur bibliothekarischen Tätigkeit des frühhumanistischen Geschich(t)sschreibers Sigismund Meisterlin O.S.B., Florenz 1976. Siehe ferner Harald Müller, „Der Beitrag der Mönche zum Humanismus im spätmittelalterlichen Augsburg. Sigismund Meisterlin und Veit Bild im Vergleich“, in: Humanismus und Renaissance in Augsburg. Kulturgeschichte einer Stadt zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, hg. von Gernot M. Müller, Berlin/ New York 2010, S. 389-406. 26 Zu Bartholomäus von Andlau (Abt in Murbach seit 1457) vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 16-19; Gatrio (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 3-48. Siehe auch Albert Bruckner, „Untersuchungen zur älteren Abtreihe des Reichsklosters Murbach“, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch 16 (1937), S. 31-56. 27 Die Annahme des Zeitraums beruht auf handschriftlich datierten Notaten des Abtes, die er in einige Handschriften der Klosterbibliothek eingetragen hat. Vgl. dazu weiter unten S. 29f. 28 Vgl. Theodor von Liebenau, „Murbacher Annalen“, in: Anzeiger für Schweizerische Geschichte N. F. 14 (1883), S. 167-176, hier S. 167. 29 Zur Anlage des Kartulars durch Bartholomäus von Andlau vgl. Bloch (wie Anm. 1), S. 260. Die Abschrift des Murbacher Bibliothekskatalogs befindet sich auf S. 86-96 (Paginierung in arabischen Ziffern von jüngerer Hand, vermutl. um 1900). Nähere Details bei Milde (wie Anm. 1), S. 8. 30 Vgl. Bloch (wie Anm. 1), S. 258f. 31 Colmar, Cartulaire Abbaye Murbach Nr. 1, S. 101-104. Meisterlins Brief wird im Folgenden zitiert nach dem Abdruck bei Eduard Zarncke, „Analecta Murbacensia“, in: Philologus 49 N. F. 3 (1890), S. 613-628, hier S. 626-628. 32 Übersetzungen lateinischer Zitate hier wie im Folgenden: J.F. in den Jahren 1463/ 64 im Auftrag des Abtes Bartholomäus von Andlau (um 1400-1476) angefertigt hatte. 26 Sie ist im Kontext der Sichtung und Dokumentation der historischen Zeugnisse des Klosters zu verorten, die der literatur- und kulturbeflissene Abt zum Zwecke institutioneller Selbstvergewisserung vor allem in der Zeit zwischen 1452 und 1464 betrieb. 27 Dazu zählt einerseits die Meisterlin zugeschriebene Abfassung der Murbacher Annalen, die die „grosse[ ] Vergangenheit“ des Konvents in einer bis zur Lebenszeit des Bartholomäus von Andlau reichenden ‚Ursprungshistorie‘ überliefern, der die Liste der Äb‐ tereihe beschließt. 28 Dazu zählt andererseits die Anlage eines Kartulars (Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin, Cartulaire Abbaye Murbach Nr. 1), 29 in dem der rechtskräf‐ tige Charakter der Klosterprivilegien mittels einer Sammlung von kaiserlichen Diplomen und päpstlichen Urkunden festgehalten wird. 30 Diese systematisch strukturierte, auf Be‐ wahrung des Erinnernswerten für die Nachwelt zielende Zusammenstellung bietet neben zentralen Quellen zur Klostergeschichte (z. B. Gründungs- und Schenkungsurkunden) einen schriftlichen Reflex materieller Artefakte des Klosters von hohem Symbolcharakter. So enthält das Kartular ein Schreiben Meisterlins an Bartholomäus von Andlau (Epistola de Tapecijs antiquis), 31 das eigentlich die Beschreibung zweier Wandteppiche aus dem 13./ 14. Jahrhundert zum Inhalt hat, die Darstellungen der Klosterprivilegien visualisieren, aber zugleich wertvolle Einblicke liefert in die Bemühungen des Murbaches Abtes um den Erhalt der von seinen Vorgängern überkommenen ‚Denkmäler‘ (omnia predecessorum tuorum monimenta, S. 626, Z. 5). Darunter fällt auch der klösterliche Buchbestand: Denn dieser befand sich offensichtlich zur Abfassungszeit des Textes (die Epistola ist auf den 7. März 1464 datiert) infolge von Feuchtigkeitsschäden und anderen äußeren Einflüssen in einem solch desolaten Zustand, dass er einen Wunsch des Verfassers nach ‚Errettung’ der Bände provozierte: Et o vtinam et illa [i.e. opera] que de tot supersunt tuas ad manus deuenissent integra ac aluuione minime attrita (S. 626, Z. 13-15; ‚Ach, wären doch auch jene [Werke], die von so vielen übrig geblieben sind, unversehrt und von der Nässe möglichst wenig abgenutzt in deine Hände gelangt! ‘). 32 Der Verweis auf die ehemals 27 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 33 Assmann, Gomille und Rippl (wie Anm. 6), S. 8. 34 Vgl. den Überblick bei Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 84; Milde (wie Anm. 1), S. 8-11. - Das Substantiv rotulus wird in Meisterlins Schreiben im Neutrum verwendet (rotulum). Zum durchaus üblichen Genuswechsel bei Substantiven vgl. Peter Stotz, Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, 5 Bde., München 1996-2004, bes. Bd. 4, S. 144-147 (mit weiteren Belegen). 35 Iskar stand dem Kloster vermutlich im dritten Viertel des 9. Jh.s vor. Vgl. Bruckner (wie Anm. 26), S. 54. Der Iskar-Katalog ist im Kartular auf S. 97 eingetragen. Siehe den Abdruck bei Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 66-68. 36 Die Überschrift des Iskar-Katalogs impliziert, dass er nur solche Bücher verzeichnet, die im älteren Katalog noch nicht vorhanden gewesen sind (obmissis his qui in registro continentur pro parte). Die Forschung nimmt an, dass diese Überschrift von Meisterlin stammen dürfte, sodass dieser Katalog als Exzerpt derjenigen Werke zu verstehen ist, die in der umfangreicheren Sammlung zum Teil (pro parte) fehlten. Zur Überlieferungsproblematik siehe Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 65 (dort das Zitat). Der aus den Angaben „zu erschließende ursprüngliche Umfang des Katalogs spricht aber dafür, daß dem Iskar-Katalog eine Bücherliste der gesamten Bibliothek zugrundelag.“ (Ebd., S. 87). 37 Colmar, Cartulaire Abbaye Murbach Nr. 1, S. 98. Vgl. den Abdruck bei Bloch (wie Anm. 1), S. 273f. Blochs Annahme, dass der Index von Meisterlin stamme (vgl. ebd, S. 261), schließen sich Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 85, an: „[E]s ist sehr schwer vorstellbar, daß nach den zeitlich auseinanderliegenden Aufzeichnungen der beiden Kataloge im 9. Jahrhundert jemand ein Autorenverzeichnis zu diesen Katalogen angefertigt hätte.“ so zahlreich in der Murbacher Bibliothek verwahrten Werke (tot [i.e. opera]) etabliert eine Opposition zwischen glorreicher Vergangenheit und dem als defizitär empfundenen gegenwärtigen Status des Klosters, den die Absenz eines gewichtigen Teils des ehemals reichen Bücherfundus als intellektuellen ‚Kapitals‘ impliziert. Das hier artikulierte „Medienproblem“ 33 geht auf eine Entdeckung zurück: Denn die von Bartholomäus von Andlau und Sigismund Meisterlin betriebene Revision der Klosterbiblio‐ thek brachte einen Rotulus zutage, der ein Verzeichnis der ehemals in Murbach verwahrten Bücher umfasste. Davon berichtet der Humanist in dem bereits zitierten Schreiben: Profecto verum experti sumus quod vetustas omnia consummit, ac tinea antiquitatis conficit vniuersa, idque licuit videre in tot codicibus magna cura et ingenio partum in loco illo sanctissimo ac vetustissimo tibi commisso repositis, prout hesternum quod reuoluebamus ostendit rotulum, quod tot describit iam proch deperdita opera, ut numerum repertorum excedant. (S. 626, Z. 8-13) Denn wir haben tatsächlich erfahren, dass die lange Zeit alles vernichtet und der Wurm des Alters das Ganze aufgezehrt hat; dies ließ sich an zahlreichen Codices beobachten, die mit großer Sorgfalt und Sachverstand der Vorfahren an jenem überaus heiligen und alten, dir überantworteten Ort aufbewahrt worden sind, wie der gestrige Rotulus, den wir entrollten, zeigte, der leider schon so viele verlorene Werke verzeichnet, dass sie die Zahl der aufgefundenen übersteigen. Die Forschung hat plausibel machen können, dass der von Meisterlin beschriebene Rotulus zwei Verzeichnisse enthalten hat: 34 1. den vermutlich um 840 angelegten umfangreichen Bibliothekskatalog des Klosters Murbach; 2. ein im 3. Viertel des 9. Jahrhunderts unter dem Murbacher Abt Iskar entstandenes kürzeres Bücherverzeichnis (Breviarium librorum Isghteri abbatis), 35 vermutlich eine „Zuwachsliste der Murbacher Bibliothek“; 36 3. einen von Meisterlin angelegten Index auctorum: eine Liste der in den beiden Verzeichnissen enthal‐ tenen Autorennamen (Auctorum librorum qui in isto rotulo continentur hec sunt nomina). 37 Die Aufnahme der Murbacher Kataloge in das Kartular belegt einen durchaus funktionalen 28 Julia Frick 38 Das Vorgehen lässt sich beispielhaft an einem Beda-Codex verfolgen (vgl. Milde [wie Anm. 1], Nr. 188-190; heute Genève, Bibliothèque de Genève, Ms. lat. 21). Der Text im Beda-Teil ist an einigen Stellen von der Hand des Abtes ergänzt, da die Handschrift stark durch Nässe und Wurmfraß beschädigt gewesen ist (vgl. MBK, Bd. 1, S. 241). Die Bartholomäus von Andlau zugewiesene Eintragung lautet: Legentes orent pro reverendo domino Bartolomeo de Andolo abbate Morbacensi, qui hunc et alios plures renovavit et comparavit MCCCCLXIII. (Bl. 195 r , vgl. dazu MBK, Bd. 1, S. 240f.; ‚Mögen die Lesenden für den verehrungswürdigen Herrn Bartholomäus von Andlau beten, den Murbacher Abt, der diesen [i.e. Codex] und andere mehr erneuert und wieder instandgesetzt hat. 1463.‘). 39 Die Handschrift befindet sich heute in Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf 41.1 Aug. 2˚. Zur Überlieferung des Bellum civile Lucans vgl. Lucanus. De bello civili, ed. D. R. Shackleton Bailey, Stuttgart 1988, S. I-XII. Eingehender in M. Annaei Lucani belli civilis libri decem, ed. A. E. Housman, Oxford 1927, S. vi-xxxvi. Der Wolfenbütteler Codex ist vor allem wegen der darin verzeichneten Scholien, die ins 12. Jh. datiert werden, von Bedeutung für die historische Lucan-Kommentierung. Vgl. Supplementum adnotationum super Lucanum, Bd. I, Libri I-V, ed. G. A. Cavajoni, Mailand 1979, bes. S. Xf.; Shirley Werner, The Transmission and Scholia to Lucan’s Bellum civile, Hamburg 1988 (Münsteraner Beiträge zur Klassischen Philologie 5), bes. S. 124-169. 40 Dieses Beispiel dokumentiert Meisterlins Interesse an antiker Historiographie. Zu seiner Tätig‐ keit als Chronist vgl. exemplarisch Paul Joachimsohn, Die humanistische Geschichtsschreibung in Deutschland, Heft 1: Die Anfänge. Sigismund Meisterlin, Bonn 1895, S. 21-25; Dieter Weber, Geschichtsschreibung in Augsburg. Hector Müller und die reichsstädtische Chronistik des Spätmittel‐ alters, Augsburg 1984 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 30), bes. S. 36f.; Peter Johanek, „Geschichtsschreibung und Geschichtsüberlieferung in Augsburg“, in: Literarisches Leben in Augsburg während des 15. Jahrhunderts, hg. von Johannes Janota und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1995, S. 160-183. - „Schon immer habe er [i.e. Meisterlin] nichts lieber getan, als ‚alt historien zu lesen und auch heidnisch meister pücher, die vor christi gepurt gemacht sind.‘“ Zitat nach Edith Feistner, „Vom Kloster zur Stadt. Sigmund Meisterlin und die Gründungsnarrationen von Augsburg, Nürnberg und Regensburg“, in: Reformen vor der Reformation. Sankt Ulrich und Afra und der monastisch-urbane Umkreis im 15. Jahrhundert, hg. von Gisela Drossbach und Klaus Wolf, Berlin/ Boston 2018 (Studia Augustana 18), S. 169-186. Charakter der Dokumente, der für Bartholomäus von Andlau offenbar von Bedeutung gewesen ist: Indem sie die Reihe der Klosterprivilegien gewissermaßen ‚komplettieren‘, werden die Bücherverzeichnisse pragmatisch als Inventare der materiellen Besitztümer des Klosters semantisiert, die durch die schriftliche Fixierung in der Urkundensammlung für die Nachwelt gesichert werden sollen. Die folgenden Überlegungen zur Pragmatik und epistemischen Logik des Sammelns stellen den unter 1. angeführten älteren Murbacher Bibliothekskatalog ins Zentrum. Der Intention, die monimenta der Vorgänger durch den Akt rechtskräftiger Dokumen‐ tation zu restituieren, dienten aber auch konkrete Ordnungsarbeiten an der Murbacher Klosterbibliothek: Sie zeichnen sich an einigen Codices ab, in denen Bartholomäus von Andlau zwischen 1452 und 1464 eigenhändige Eintragungen vorgenommen hat, die auf die Tätigkeit des Abtes (v. a. die Besserung unlesbar gewordener Stellen) Bezug nehmen. 38 Ebenso lassen sich handschriftliche Notate Meisterlins für die Jahre 1463/ 64 in einigen ehemals in Murbach verwahrten Manuskripten nachweisen: Zum Beispiel findet sich in einem Codex, der das Bellum civile des kaiserzeitlichen Epikers Lucan enthält, 39 der Vermerk: vidi legi ego frater Sigismundus anno MCCCCLXIII ac sequenti istum et alios orate pro me (Bl. 102 v ; ‚Ich, Bruder Sigismundus, habe im Jahr 1463 und im folgenden diesen [i.e. Codex] und andere durchgesehen und gelesen; betet für mich‘). 40 29 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 41 Vgl. die These bei Zarncke (wie Anm. 31), S. 615: Hoc tantum repetere volo constare catalogum e duabus partibus, quarum altera ab ipso Sigismundo composita contineat libros manuscriptos qui anno 1464 in monasterii Murbacensis bibliotheca adservati sint exceptis nimirum libris liturgicis et tabulario. (‚Dies möchte ich nur wiederholen, dass der Katalog aus zwei Teilen besteht, von denen der eine, der von Sigismund selbst zusammengestellt ist, Handschriften enthält, die im Jahr 1464 in der Murbacher Klosterbibliothek verwahrt worden sind, ausgenommen die liturgischen Bücher und Archivalien.‘). 42 Vgl. den Überblick in Alkuin von York und die geistige Grundlegung Europas. Akten der Tagung vom 30. September bis zum 2. Oktober 2004 in der Stiftsbibliothek St. Gallen, hg. von Ernst Tremp und Karl Schmuki, St. Gallen 2010 (Monasterium Sancti Galli 5). 43 Vgl. mit weiterführender Literatur Hrabanus Maurus. Profil eines europäischen Gelehrten. Beiträge zum Hrabanus-Jahr 2006, hg. von Norbert Kössinger, St. Ottilien 2008. 44 Vgl. einschlägig Fidel Rädle, Studien zu Smaragd von Saint-Mihiel, München 1974 (Medium aevum: Philologische Studien 29). 45 Die unsachgemäße Einordnung dieser drei Autoren veranlasste Bloch, sie als Nachträge zu interpre‐ tieren, die Meisterlin an „unrichtiger Stelle in der Abschrift eingeschoben“ habe. Damit zieht er die Möglichkeit in Betracht, dass der Murbacher Bibliothekskatalog sogar noch älter sein könnte als bisher angenommen. Vgl. Bloch (wie Anm. 1), Zitat S. 261, dazu auch S. 275 mit Anm. 5. 46 Zu Hrabans exegetischen Schriften und deren Überlieferung vgl. Roberto Gamberini, „Hrabanus Maurus“, in: C.A.L.M.A. Compendium Auctorum Latinorum Medii Aevi (500-1500), Bd. 6, Florenz 2018/ 19, S. 249-279. 47 „Hingegen wird der Jeremiaskommentar im Breviarium Iskers schon genannt.“ Bloch (wie Anm. 1), S. 275. 48 Vgl. die Zusammenstellung bei Bernard de Montfaucon, Bibliotheca bibliothecarum manuscriptorum nova, ubi quae innumeris pene manuscriptorum bibliothecis continentur ad quodvis literaturae genus spectantia et notatu digna describuntur et indicantur, Paris 1739, hier Bd. 2, Nr. 13: Codices Monasterii Murbacensi in Alsatia, S. 1175. - Andererseits verzeichnet der Bibliothekskatalog auch Bücher, die sich im 15. Jahrhundert nachweislich nicht mehr in Murbach befunden haben (und damit von Meisterlin als ‚gesucht‘ hätten klassifiziert werden können). Vgl. die Zusammenstellung in Elias A. Lowe, Codices Latini Antiquiores. A paleographical guide to latin manuscripts prior to the ninth century, Bd. 9: Germany: Maria Laar-Würzburg, Oxford 1959, S. X, 16-19, 56 f. Vgl. auch die Liste der erhaltenen Murbacher Handschriften in MBK, Ergänzungsbd. 1: Handschriftenerbe des deutschen Mittelalters, Teil 2: Köln-Zyfflich, München 1989, S. 592-594. Die von der älteren Forschung in Anschlag gebrachte Position, die im Kartular enthaltene Abschrift des Murbacher Bibliothekskatalogs bilde einen Bücherbestand aus deren Ent‐ stehungszeit 1464 ab, 41 hat sich durch eine Reihe begründeter Argumente als unhaltbar erwiesen. So ist erstens evident, dass nicht ein einziges der als vorhanden oder gesucht markierten Werke des Katalogs der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts oder einer späteren Zeit angehört; Alcuin, 42 Hrabanus Maurus 43 und Smaragdus von St. Mihiel 44 sind die ‚jüngsten‘ Autoren, die Werke Alcuins sind gar mit der Rubrik versehen: Libri […] moderni magistri (Milde [Anm. 1], vor Nr. 243), d. h. Bücher eines ‚Gelehrten unserer Zeit‘. 45 Gerade im Hinblick auf die zahlreichen Kommentare des Hrabanus Maurus zur Hl. Schrift 46 verzeichnet der Katalog einen Großteil von Hrabans vor 840 verfassten Werken, jedoch keine einzige seiner später entstandenen Arbeiten. 47 Hierzu passt zweitens, dass alle Schriften nachkarolingischer Gelehrter wie des Ivo von Chartres, Vincenz von Beauvais, Thomas von Aquin u. a. fehlen, die in einem 1738 angelegten Verzeichnis der Murbacher Bibliothek zugeordnet werden und die wohl zumindest teilweise schon zum Bestand des 15. Jahrhunderts gezählt haben dürften. 48 Drittens lassen sich sachliche Mängel an den Katalogeinträgen im Kartular nachweisen, die auf eine inkorrekte Übernahme einiger Titel bei der Abschrift zurückzuführen sind - von solcher Art, dass sie eine Unkenntnis des Ab‐ 30 Julia Frick 49 Zu den Eigenheiten der Beda-Einträge (v. a. den Formulierungen in der 1. Pers. Sg.) siehe weiter unten S. 34. Mitten unter den Desideraten der gesuchten Werke Bedas finden sich der Einschub: Auctor huius registri (Milde [wie Anm. 1], nach Nr. LXVIII). Die Forschung nimmt an, dass Meisterlin die in der ersten Person vorgenommenen Titeleinträge dem ursprünglichen Verfasser des Katalogs zugeordnet habe, ohne zu wissen, dass diese aus Bedas eigenem Werkverzeichnis übernommen worden sind. Vgl. eingehend Milde (wie Anm. 1), S. 13f. 50 Zum Archiv vgl. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwis‐ senschaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen 2005 (Studien und Texte zur Kulturgeschichte der Literatur 1); Markus Friedrich, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013. 51 Stähli (wie Anm. 9), S. 67. 52 Vgl. Bloch (wie Anm. 1), S. 279. Siehe zur Edition der Kataloge MBK, Bd. 1, S. 66-82 (St. Gallen), S. 240-266 (Reichenau); Häse (wie Anm. 21), S. 78-101 (Lorsch). 53 Zu Hierarchie und Bewertung von Wissen im Kontext von Bibliothekskatalogen vgl. Fürbeth (wie Anm. 4), S. 93. 54 Vgl. die Aufstellung bei Milde (wie Anm. 1), S. 36-45. schreibers bezüglich der Spezifika mancher Werke bzw. deren Bezeichnungen offenlegen. Besonders signifikant in diesem Zusammenhang ist der sog. „Beda-Irrtum“. 49 Wie zumal der briefliche Verweis auf das hohe Alter des im rotulus aufgefundenen Verzeichnisses nahelegt, repräsentiert der Murbacher Bibliothekskatalog daher keinen frühneuzeitlichen Bücherbestand des Klosters, sondern einen, der in die karolingische Periode, um oder nicht lange nach 840, zu datieren ist. Der Katalog bzw. dessen im 15. Jahrhundert angefertigte Abschrift steht also im Schnitt‐ punkt unterschiedlicher temporal ausdifferenzierter Funktionalisierungstendenzen und In‐ teressen. Während sich der Bibliothekskatalog zur Zeit von dessen Anlage im 9. Jahrhundert als Speichermedium von dezidierter Offenheit versteht, dessen intendierte Erweiterung sowohl in den Desiderata-Listen als auch dem Bestand des Iskar-Katalogs greifbar wird, eignet der Eingliederung der Abschrift in das Kartular durch Bartholomäus von Andlau eine archivalische Dimension, 50 die das institutionelle Gedächtnis in einem Akt rechtsverbind‐ licher Dokumentation festschreibt und „als authentische[s] Zeugnis[ ] der Vergangenheit“ für die Nachwelt konserviert. 51 III Synchrone Ebene: Ordnungs- und Strukturmuster Der Grundbestand der im Murbacher Bibliothekskatalog verzeichneten Literatur entspricht im Wesentlichen, was elementare Komponenten wie die Sachordnung betrifft, anderen karolingerzeitlichen Bibliothekskatalogen (z. B. Lorsch, Reichenau, St. Gallen), 52 bildet jedoch eine markante eigene ,Physiognomie‘ aus. Die nach ,klassischen‘ Ordnungskate‐ gorien hierarchisch organisierten Wissensbestände (Patristik, weitere Theologica, Rechts‐ sammlungen, Legendare, Homilien, Kern der Artes liberales) spiegeln ein systematisches Interesse an den Werken der Kirchenväter: 53 Etwa zwei Drittel aller Titel entfallen auf die patristische Literatur, die das Verzeichnis eröffnet (in der Reihenfolge: Cyprian, Am‐ brosius, Hieronymus, Augustinus u.w.m.). 54 Dabei fehlt die in anderen zeitgenössischen Bibliothekskatalogen in der Regel vorangestellte Abteilung der Bibeln, Bibelkommentare und z.T. der Liturgica sowie generell die Gruppe pragmatischer Schriftlichkeit (z. B. Recht, Verwaltung, Regeln) - möglicherweise wurden diese Sachgruppen an anderen 31 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 55 Für Lorsch und St. Gallen vgl. Duft (wie Anm. 22), S. 36. 56 Vgl. die Übersicht zur Überlieferung in L. D. Reynolds, „Livy“, in: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hg. von L. D. Reynolds, Oxford 1983, S. 205-214. 57 Vgl. R. H. Rouse u. a., „Cicero“, in: Texts and Transmission (wie Anm. 56), S. 54-142. Als Schullektüre im Mittelalter sind v. a. Ciceros De inventione, De oratore und die unter seinem Namen überlieferte Rhetorica ad Herennium belegt. Vgl. Nikolaus Henkel, Deutsche Übersetzungen lateinischer Schultexte. Ihre Verbreitung und Funktion im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Mit einem Verzeichnis der Texte, München 1988 (MTU 90), S. 57. 58 Vgl. L. D. Reynolds, „Lucretius“, in: Texts and Transmission (wie Anm. 56), S. 218-222. Die Forschung gibt zu bedenken, dass es sich um diejenige Lukrez-Handschrift handeln könnte, die Poggio Bracciolini während des Konstanzer Konzils abschrieb und an seinen Freund Niccolò Niccoli nach Florenz schickte. Dazu schon Bloch (wie Anm. 1), S. 282f.; Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 75. 59 Vgl. allgemein L. D. Reynolds: „Virgil“, in: Texts and Transmission (wie Anm. 56), S. 433-436. Zur Überlieferung der Appendix Vergiliana und dem Stellenwert des Murbacher Katalogs vgl. Fabian Zogg, „Die Appendix Vergiliana avant la lettre. Martial, Donat, Servius und der Murbach-Katalog zu Vergils angeblichen Jugendwerken“, in: Antike und Abendland 62 (2016), S. 74-85, bes. S. 82; Fabian Zogg, „Carmina Virgilii mitte minora, precor. Die Überlieferung der Appendix Vergiliana im Mittelalter“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 53 (2018), S. 27-45, bes. S. 31-33. 60 Milde teilt die Suchhinweise nach vier Gruppen, jedoch wirkt die formale Trennung der eigentlich zusammengehörenden Gruppen B und C (allgemeine Suchhinweise [B], die Listen gesuchter Werke einleiten [C]) etwas umständlich, daher ist sie hier unter 2) aufgehoben, vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 64-71. 61 Ebd., nach Nr. 14. 62 Am Ende solcher Desideratenlisten findet sich oftmals eine allgemeine Angabe zu weiteren ge‐ suchten Werken: z. B. zu Ambrosius: Alios plures invenire desideramus. Vgl. Milde (wie Anm. 1), nach Nr. Vb. Orten als der Bibliothek verwahrt (etwa in der Sakristei, Abtsstube, Infirmarie etc.), wie dies vielfach aus anderen Klöstern bezeugt ist. 55 Darauf ist später zurückzukommen. Im zeitgenössischen Vergleich herausragend ist der Bestand an Werken paganer Autoren, dar‐ unter überlieferungsgeschichtlich bedeutsame Texte wie das Geschichtswerk des Livius, 56 mehrere rhetorische Schriften Ciceros (unter dem Sammelbegriff Rhetorica) sowie dessen philosophische Abhandlung De officiis, 57 ferner das naturphilosophische Werk des Lukrez (De rerum natura) 58 sowie ein Vergil-Codex, der die drei Hauptwerke des Dichters (Bucolica, Georgica, Aeneis) sowie eine für diese Zeit ungewöhnlich umfangreiche Sammlung der Vergil zugeschriebenen kleineren Dichtungen, die sog. Appendix Vergiliana, enthielt. 59 Seinen exzeptionellen Status verdankt der Katalog gleichwohl der gewichtigen Abteilung der Patres, denen sich der Großteil der Desiderata-Vermerke zuordnen lässt: Gesucht werden Bücher des Cyprian, Ambrosius, Hieronymus, Augustinus, Origenes, daneben des Beda Venerabilis und, in geringerem Umfang: Isidor, Prosper, Primasius - ein Hinweis darauf, dass das Vermittlungspotential dieser Werke zum Verständnis des göttlichen Wortes in der Hl. Schrift für die Ausrichtung des intellektuellen Profils des Klosters zentralen Stellenwert besaß. Die Suchhinweise lassen sich, wie Wolfgang Milde gezeigt hat, formal folgendermaßen gruppieren: 60 1) Allgemeine Suchhinweise ohne genaue Titelangaben, z. B. der Eintrag Reliquos eius libros / adhuc quaerimus (‚seine übrigen Bücher suchen wir noch‘) am Ende der 14 Titel zählenden Liste zu den Libri Beati Cecilij Cipriani. 61 2) Listen zur vollständigen Erfassung ganzer Autorencorpora, eingeleitet mit einer Suchformel (z. B. Adhuc quaerimus quae secuntur ‚wir suchen noch die [i.e. Werke], die folgen‘). 62 3) Angaben 32 Julia Frick 63 Vgl. die Angabe zu Prosper Aquitanus: Quinquaginta psalmorum nouissimorum exposicio / centum anteriorum adhuc quaerimus. Vgl. Milde (wie Anm. 1), Nr. 208. 64 Vgl. ebd., S. 106f. 65 Siehe dazu auch den Beitrag von Freimut Löser, in diesem Band. In anderem Kontext vgl. Freimut Löser, „Mittelalterliche Sammelhandschriften: gesammelte Bemerkungen,“ in: Sammeln - eine (un-)zeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017 (Würzburger Ringvorlesungen 12), S. 95-113. 66 Blättler (wie Anm. 11), S. 217. 67 Dazu Bloch (wie Anm. 1), S. 258. 68 Vgl. dazu weiter unten, S. 37-40. 69 Vgl. CSEL 36, S. 1-6. Die Capitula in der aus Mainz stammenden, heute in München aufbewahrten Handschrift der Retractationes (München, Bayer. Staatsbibl., Clm 8107, 9. Jh.) wurden nachweislich als ‚Inventarliste‘ verwendet. Vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 85f. 70 Istos [i.e. libros] habemus de primo libro retractationum ceteros adhuc quaerimus id est […] (‚Diese Werke haben wir gemäß dem ersten Buch der Retractationes, die übrigen suchen wir noch, diese sind […]‘). Milde (wie Anm. 1), nach Nr. 80. 71 De 2˚ libro retractationum istos habemus […] (Milde, ebd., Nr. 81-115); Ceteros adhuc quaerimus […] (Milde, ebd., Nr. XX-LI). „Dazu kommen als dritte Abteilung vorhandene Schriften Augustins, die in seinen ‚Retractationes‘ nicht aufgeführt sind“, nämlich die Briefe und Predigten. Zitat ebd., S. 81. 72 Ebd., S. 87. zu vorhandenen, aber unvollständigen Werken 63 - ein Phänomen, das der Murbacher mit anderen zeitgenössischen Bibliothekskatalogen gemeinsam hat (z. B. Freising). 64 Die Desiderata-Listen des Murbacher Bibliothekskatalogs entwerfen (zu ergänzende) Serien von Werkprofilen, die geradezu als Verzeichnis der ‚gesammelten Schriften‘ eines Autors fungieren. 65 Die sprachlich-syntaktisch aufeinander rekurrierenden Suchhinweise bilden kombinatorische Korrelationen, die das einzelne gesuchte Werk sowohl im Ganzen der Serie als auch in der Gesamtheit des Katalogs sinnvoll aufgehen lassen. „Die serielle Ordnung exponiert eine Spannung zwischen Teil und Ganzem“, 66 die auf eine konzeptio‐ nelle Offenheit der (Bücher-)Sammlung im Sinne einer im Wachsen begriffenen Bibliothek verweist. 67 Ihre kulturhistorische Bedeutung gründet vor allem auf der Beobachtung, dass die Desiderata nicht unmittelbar aus pragmatischen Konstellationen, z. B. als Ergebnis von Austauschprozessen, hervorgehen. 68 Vielmehr reflektieren sie eine spezifische Wissensor‐ ganisation, die nachweislich schriftliterarischen Quellen entnommen ist. Dieses Faktum sei knapp am Beispiel der Werkverzeichnisse des Augustinus und Beda Venerabilis umrissen, denen sich insgesamt 62 der 76 Desiderata zuordnen lassen. Die zweiteilige Gliederung des Eintrags zu Augustinus orientiert sich im Hinblick auf Wortlaut und Abfolge der Titel an der von ihm selbst vorgenommenen Aufteilung seiner Werke in zwei Bücher, die als Capitula in einer Liste den Retractationum libri duo in der zeitgenössischen Überlieferung in der Regel vorangestellt sind. 69 Diese Quelle liegt der Strukturierung des Katalogeintrags sowohl für die vorhandenen als auch für die insgesamt 39 gesuchten Bücher zugrunde: Zunächst werden Angaben nach dem ersten Buch der Retractationes gemacht, 70 danach der Bestand sowie Desiderata nach dem zweiten Buch erfasst. 71 Auch die 23 Desiderata-Vermerke für Beda Venerabilis sind einer Werkliste entnommen, die er selbst 735, „etwa 3 oder 4 Jahre vor seinem Tode […] zusammengestellt hat“ 72 und die 33 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 73 Die Reihenfolge der Titel im Murbacher Katalog stimmt mit dem von Beda angelegten Verzeichnis genau überein; im Wortlaut lassen sich nur geringfügige Abweichungen nachweisen. Siehe für Details Milde (wie Anm. 1), S. 87-97. 74 Vgl. z. B. In apostolum quoque in opusculis sancti Augustini expositas [! ] cuncta per ordinem transcribere curaui (Milde [wie Anm. 1], Nr. LXII); siehe dazu den weitgehend identischen Eintrag in der Edition: In apostolum quaecumque in opusculis sancti Augustini exposita inueni, cuncta per ordinem transscribere curaui (Beda, Historia ecclesiastica gentis Anglorum, hg. von Charles Plummer, Oxford 1896, S. 358). 75 Darauf deuten auch zahlreiche „sinnlose[ ] Akkusative“ im Werkverzeichnis hin, die sich nur durch eine wörtliche Übernahme aus einer schriftlichen Quelle erklären lassen (und von einem entsprechenden Einleitungssatz abhängen, der im Katalog freilich fehlt). Vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 94. 76 Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe: Cassiodori Senatoris Institutiones, ed. by R. A. B. Mynors, Oxford 1937. Siehe auch Cassiodorus Senator. Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissen‐ schaften (Institutiones divinarum et saecularium litterarum), eing., übers. und erl. von Andreas Pronay, Hildesheim u. a. 2014 (Spudasmata 163). 77 Vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 109-121. 78 Ebd., S. 124. 79 Per quos [i.e. libros istos], sicut aestimo, et Scripturarum divinarum series et saecularium litterarum compendiosa notitia Domini munere panderetur (Inst. div., S. 3, Z. 19-21; ‚durch diese Bücher soll, wie ich meine, sowohl die Reihe der göttlichen Schriften als auch eine umfangreiche Kenntnis der weltlichen Literatur durch die Gabe Gottes eröffnet werden‘). 80 Milde (wie Anm. 1), S. 101. 81 Felix Heinzer, „Schreiblandschaften an Oberrhein und Bodensee. Entwicklungsdynamiken früh- und hochmittelalterlicher Buch- und Schriftkultur im deutschen Südwesten“, in: Grenzen, Räume am Ende von seinem Geschichtswerk Historia ecclesiastica gentis Anglorum überliefert ist. 73 Ein Spezifikum dieses Verzeichnisses sind Kommentare in der ersten Person Singular zu einzelnen Texten (z. B. Konstruktionen mit den Verben inveni, curavi, correxi), welche die Angaben aufgrund ihrer Länge zu teilweise unübersichtlichem Format anschwellen lassen und sich daher eigentlich nur eingeschränkt für die Übernahme in einen Bibliothekskatalog eignen. 74 Sie dokumentieren nachdrücklich, dass nicht nur die Anlage der Desideratenlisten, sondern auch das Verzeichnis der vorhandenen Schriften auf der Grundlage von Bedas eigenem Werkverzeichnis gearbeitet sind. 75 Für die übrigen 14 Desiderata spielen die zwischen 551 und 562 verfassten Institutiones divinarum et saecularium litterarum des Cassiodor eine herausragende Rolle. 76 Beinahe sämtliche der gesuchten Werke des Ambrosius, Hieronymus, Origenes, Prosper und Primasius sind dem ersten Buch von Cassiodors ‚Einführung in die geistlichen und weltlichen Wissenschaften‘ entnommen, 77 die „als Katalog seiner Bibliothek zu Vivarium“ 78 gilt und die auch im Murbacher Katalog inventarisiert ist (Nr. 201). Cassiodor bestimmt die programmatische Funktion seines Werkes als umfassende Ausbildung seiner Mönche, die sowohl die Einsicht in das Erlangen des Seelenheils (salus animae, S. 3, Z. 24) als auch eine profunde weltliche Bildung vermitteln soll (saecularis eruditio, ebd.). 79 Da es an öffentlichen Lehrern für die geistlichen Schriften mangele (ut Scripturis divinis magistri publici deessent, S. 3, Z. 5), sollen die Institutiones geradezu an deren Stelle treten (ad vicem magistri, ebd., Z. 17). Ziel ist die Sicherung des Verständnisses der Hl. Schrift, der Basis allen Wissens (S. 6, Z. 18-22). Im Sinne eines gelehrten Cursus entwickelt das erste Buch eine „empfehlende Bibliographie christlicher Autoren“, 80 während das zweite Buch die litterae saeculares nach den septem artes liberales behandelt und damit als „Voraussetzung für einen informierten Umgang mit der Heiligen Schrift“ dient. 81 Aber auch das Ordnungssystem innerhalb der 34 Julia Frick und Identitäten. Der Oberrhein und seine Nachbarregionen von der Antike bis zum Hochmittelalter, hg. von Sebastian Brather und Jürgen Dendorfer, Ostfildern 2017 (Archäologie und Geschichte 22), S. 303-322, hier S. 307. 82 In den Bibliothekskatalogen von St. Gallen und der Reichenau eröffnen jeweils Augustinus, Hier‐ onymus sowie Papst Gregor der Große das Verzeichnis der patristischen Literatur. Vgl. MBK (wie Anm. 52). 83 Vgl. die Reihenfolge in den Institutiones (Inst. div., S. 58-61): Hilarius, Cyprian, Ambrosius, Hier‐ onymus, Augustinus. Im Murbacher Katalog sind lediglich die Plätze der ersten beiden Autoren vertauscht. - Darüber hinaus bietet der Eintrag zu einem im Murbacher Katalog als unvollständig geführten Werk des Hieronymus ein signifikantes Indiz für die Verwendung der Institutiones bei der Abfassung des Katalogs. Es handelt sich um den Kommentar In Iheremiam libri VI mit dem Zusatz: alios desideramus (Milde [wie Anm. 1], Nr. 45, dazu S. 79). Das ist freilich unzutreffend, da diese von Hieronymus unvollendet gebliebene Schrift nur sechs Bücher umfasst (vgl. CCSL 74). Der Hinweis, dass es 20 Bücher des Kommentars gegeben habe, entstammt Cassiodors Institutiones, worin diese (wie im Murbacher Katalog) als gesucht markiert sind: […] quem [sc. Jeremiam] etiam sanctus Hieronymus viginti libris commentatus esse monstratur; ex quibus sex tantum nos potuimus invenire, residuos vero adhuc Domino iuvante perquirimus (Inst. div., S. 19, Z. 8-11). 84 Die Formulierungen weisen charakteristische Parallelen auf, die nicht nur die Verben, sondern auch Adverbialkonstruktionen betreffen (z. B. magno bzw. summo studio, sedula cura). Diese Ähnlichkeiten seien „zu groß, um zufällig zu sein“. Milde (wie Anm. 1), S. 115. Außerdem wird im ersten Buch der Institutiones Augustins Schrift Retractationes gewissermaßen als Bibliographie zum Erfassen seiner Werke empfohlen (Inst. div., S. 54, Z. 24-55,5) - eine Angabe, an die sich der Verfasser des Murbacher Katalogs offensichtlich gehalten hat. 85 Die zeitgenössischen Bibliothekskataloge von Freising und Lorsch verzeichnen je nur den Teil einer Schrift als nicht vorhanden mit den Formulierungen: non habemus bzw. desunt nobis libri. Vgl. Milde (wie Anm. 1), S. 117. 86 Felix Heinzer, „Klösterliche Netzwerke und kulturelle Identität. Die Hirsauer Reform des 11./ 12. Jahr‐ hunderts als Vorläufer spätmittelalterlicher Ordensstrukturen“, in: Kulturtopographie des deutsch‐ sprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte, hg. von Barbara Fleith, Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 1), S. 127-140, hier: S. 106. 87 Vgl. Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Bd. 1, München 1965, S. 43-45. Abteilung der Patres im Murbacher Katalog, das sich markant von den Gliederungstypen zeitgenössischer Bibliothekskataloge unterscheidet (z. B. St. Gallen, Reichenau), 82 ist wohl von Cassiodors Schrift beeinflusst: Die Hierarchisierung der patristischen Literatur nimmt die Strukturprinzipien der Institutiones nahezu unverändert auf. 83 Diese enthalten darüber hinaus wie der Murbacher Bibliothekskatalog Angaben zu gesuchten Büchern, die nicht zuletzt in ihrer sprachlichen Form (z. B. der Verwendung der Verben quaerere, desiderare) als Muster für die Anlage der umfangreichen Desideratenlisten gewirkt zu haben scheinen 84 und die sich von einer reinen Klassifizierung der Bücher als fehlend deutlich absetzen. 85 Die Fokussierung auf Werke der Kirchenväter als essentiellen Leittexten zum korrekten Verständnis der Hl. Schrift verweist auf ein „Kulturprogramm“ von „prononciert intellektu‐ elle[r] Ausrichtung“, 86 wie es in Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum entworfen wird. Der Murbacher Katalog ist damit auch ein bemerkenswertes Zeugnis für die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Schrift im Hinblick auf die Etablierung einer Wissensordnung, die umfassende Kenntnisse in den divinae litterae und deren Auslegung vermitteln will. 87 Die Desiderata-Listen stellen, basierend auf einem systematischen Rückgriff und einer akkuraten Auswertung der vorliegenden schriftliterarischen Quellen, die an einer thema‐ tischen Kohärenz orientierte Prozesshaftigkeit des Sammelns von Literatur vor Augen, 35 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 88 Zur Epistemik vgl. Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeu‐ tung, hg. von Anke te Heesen und Emma C. Spary, Göttingen 2001; Sammeln, Ordnen, Veranschauli‐ chen. Zur Wissenskompilatorik in der frühen Neuzeit, hg. von Frank Büttner, Markus Friedrich und Helmut Zedelmaier, Münster 2003 (Pluralisierung & Autorität 2). 89 Vgl. zu diesem Problemfeld exemplarisch Sprachen des Sammelns (wie Anm. 10). 90 Vgl. Alois Walde und Johann B. Hofmann, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 3 Bde., Heidelberg 6 2008, hier: Bd. 1, S. 780. 91 Assmann, Gomille und Rippl (wie Anm. 6), S. 10. 92 Vgl. Sarah Schmidt, „Sprachen des Sammelns. Zur Einleitung“, in: Sprachen des Sammelns (wie Anm. 10), S. 16. die für das kulturelle Selbstverständnis der Institution und der sie konstituierenden Ord‐ nungszusammenhänge von substantieller Bedeutung ist. Neben einer räumlichen Ordnung der Bibliothek als realem Wissensraum wird eine epistemische Ordnung erfahrbar, 88 deren ‚innere‘ Struktur das Einzelne im Ganzen aufgehen lässt und die Konstanten ihrer Selbst‐ referentialität zugleich mitreflektiert. Insofern eignet dieser bewusst als offen markierten ‚Sammlung‘ in synchroner Perspektive eine eigentümliche ‚Bipolarität‘, indem die inven‐ tarisierten Objekte über sich selbst hinaus abstraktere Deutungsdimensionen abbilden, für die eine immanente Spannung von Präsenz und Absenz konstitutiv ist. So entfaltet sich im Vorgang ‚abschreitender‘ Lektüre ein nach den zeitgenössischen Prinzipien organisiertes Kontinuum ‚totalen‘ Wissens, das auf ein spezifisches Bildungskonzept ausgerichtet ist. IV Semantiken des Sammelns: Suchen und Finden Ein Blick auf die Objekt- und Beobachtungsebene offenbart signifikante Differenzen. Während die analytische Begriffsbildung den systematischen Status des Funktionstyps Sammlung und deren Prozeduren in distinkten Nuancierungen fokussiert (Archiv, Inventar, Katalog, Liste etc.), 89 bildet die historische Semantik gewissermaßen qualitative Aspekte des Sammelns als Vorgänge von je spezifischer Modalität ab. Das einschlägige Lexem für die Tätigkeit des ‚Sammelns‘ ist - in latinistischer Perspektive gewissermaßen als locus classicus - das Verb legere mit seinen Derivaten, 90 die die Vorstellung eines prozesshaften Zusammenstellens evozieren, der Prinzipien der Distinktion und Selektionierung, der Dislozierung und (Neu-)Ordnung des jeweils ‚Gesammelten‘ inhärent sind. „Im Prinzip des legere“ 91 manifestiert sich ein Konzept kultureller Praktiken des Sammelns, das auf einer dichotomischen Struktur von Produktion (‚Sammeln‘ als Tätigkeit) und Rezeption (‚Wahrnehmung des Gesammelten‘ als kognitiver Prozess) basiert. 92 Diese Aspekte liegen den lat. Komposita zugrunde wie colligere (‚zusammenziehend sammeln, verdichten‘), eligere (‚auswählen‘ [aus einer größeren Menge herausnehmen]), diligere (‚auserwählen‘ [herausheben]) und anderen mehr. Auch räumliche und zeitliche Evokationen können dabei zum Tragen kommen: So verweist das Verb relegere auf den iterativen Charakter des Sammelns, der sowohl lokal (‚an einen Ort zurücklegen‘) als auch temporal (‚von Neuem lesen‘) zu denken ist; die Verben perlegere (‚genau betrachten, lesen‘) und mehr noch lectitare (‚mit Eifer sammeln‘) fungieren als Intensiva, die mit den Kategorien der Konzentration und (Aus-)Dauer eine repetitiv-kontinuierliche Prozesshaf‐ tigkeit implizieren. Dass mit dem semantischen Feld von legere Dimensionen kognitiver Strukturierung, Hierarchisierung und qualitativer Bewertung des mental ‚gesammelten‘ 36 Julia Frick 93 Walde und Hofmann (wie Anm. 90), S. 352. 94 Milde (wie Anm. 1), S. 69. 95 So Milde, ebd.: Es handele sich „nur um eine Variation des Ausdrucks, ohne innere Beziehung zu dem jeweiligen Titel.“ 96 Vgl. Walde und Hofmann (wie Anm. 90), Bd. 2, S. 396f. 97 Vgl. den Eintrag zu Cyprian in Milde (wie Anm. 1), nach Titel Nr. 14, bzw. zu Augustinus in ebd., zwischen Titel Nr. 80 und Nr. XIII Materials unmittelbar verbunden sind, dokumentiert sich signifikant in den Abstrakta intellegere bzw. intellectus: Die Grundbedeutung verweist auf die charakteristische Unter‐ scheidungsfähigkeit, die das kognitive Modell des ‚Sammelns‘ im Sinne eines ordnenden Zugriffs auf die vielfältigen Sinneswahrnehmungen und deren Bewältigung bestimmt (wörtlich: intellegere, ‚dazwischen wählen‘). 93 Enger auf die Buchproduktion bezogen erscheinen die Substantive collectio (‚das Zusammenlesen‘) und florilegium (‚Blütenlese‘), die zur Bezeichnung von jeweils nach bestimmten Parametern geordneten Sammlungen verwendet werden. Darin konstituiert sich ein kompilatorisches Konzept von Vorfinden, Dislozieren und Einordnen in alternativ strukturierte (literarische) Arrangements. Die hier freilich nur skizzenhaft angedeutete Semantik des Sammelns lässt eine spezifische Metaphorik sichtbar werden, die die Prozesse des Suchens und Findens, der Ordnung und Strukturierung, der Selektion und Archivierung mit kognitiven Konstanten kombiniert. Die semantischen Konturen des Sammelns erweisen sich insofern in ihrer jeweils historischen Ausprägung als Reflexionsmedien kultureller Praktiken, die einen zeitgebundenen Umgang mit den vorhandenen Wissensbeständen repräsentieren. Deren Realisierung im Murbacher Bibliothekskatalog gelten die folgenden Beobachtungen. Auch wenn in den Desiderata-Vermerken keine der beschriebenen Lexeme enthalten sind, sondern sich die sprachliche Form in erster Linie auf Vorgänge des Suchens und insofern auf kompilatorische Konzepte des Zusammenstellens, der Auswahl und Rekombination konzentriert, partizipieren diese ganz grundlegend an den kulturellen Sinnbildungsprozessen, die sich um das semantische Feld des ‚Sammelns‘ gruppieren. Milde konstatiert einen „erstaunlich großen Reichtum von Ausdrücken für das im Grunde nur formale Anmerken von fehlenden Büchern“, die der Verfasser des Murbacher Katalogs „in seiner Klosterbibliothek haben wollte.“ 94 Damit sind zwei Aspekte benannt, die die Semantik des Sammelns im exemplarischen Fall des Funktionstypus Katalog kennzeichnen: die auf Bestandsergänzung gerichtete Intentionalität, die sich schriftlich-formal in diffe‐ rierenden sprachlichen Konstruktionen manifestiert. Gleichwohl scheint sich hinter der vordergründig inhaltskonformen, nur ‚äußerlich‘ variantenreich ausgeführten Formalisie‐ rung 95 eine Bedeutungsebene abzuzeichnen, die Einblicke in das zugrundeliegende Konzept des Sammelns erlaubt. Denn gerade die Ausdrucksfülle lässt sich als Hinweis auf mentale Sinnhorizonte verstehen, in denen sich semantische ‚Netze‘ des Sammelns formieren. Die wohl am häufigsten im Murbacher Bibliothekskatalog anzutreffende Suchformel stellen Konstruktionen mit dem Verb quaerere dar - ein Lexem, in dem der aktive Akt der Suche mit dem Ziel des Erwerbs thematisch wird 96 -, die in der Regel das folgende Muster z.T. minimal variieren: reliquos bzw. ceteros eius libros (adhuc) quaerimus. 97 Daneben erscheint bisweilen in der gleichen Satzkonstruktion das Verb desiderare, das von seiner Grundbedeutung her einen Moment intensiven ‚Sich-Umsehens‘ nach etwas Absentem 37 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 98 Milde (wie Anm. 1), S. 69. 99 Vgl. den Eintrag zu Prosper in Milde (wie Anm. 1), nach Nr. LXXV. 100 Vgl. den Eintrag zu Augustinus in ebd., nach Nr. 132. 101 Eintrag zu Beda in ebd., nach Nr. 199. 102 Eintrag zu Origenes in ebd., Nr. 139. 103 Milde (wie Anm. 1), S. 70. markiert und insofern eine gewisse Polarität des Sammelns zwischen Vorhandenem und Abwesendem sprachlich konturiert. Solche Suchhinweise sind also nur vermeintlich „gleichen Inhalt[s]“; 98 vielmehr drückt sich darin eine Tendenz zu subtiler semantischer Nu‐ ancierung aus, die sich mit Blick auf die weiteren Wendungen bestätigt. Als Ausdruck eines zielgerichteten Interesses fungiert neben der Junktur summo studio (‚mit höchstem Eifer‘, z. B. summo studio quaerimus) 99 das Verb cupere: Istis plures addere cupimus, si inveniuntur. 100 Dieses Beispiel dokumentiert den potentialen Charakter des auf Wissensakkumulation ausgerichteten Sammelns (addere cupimus), an den das Ergebnis des Suchvorgangs: das Auffinden, relational gebunden ist (si inveniuntur). Über diese Einträge hinaus lässt sich im Murbacher Katalog die Verwendung von Verben des Fehlens nachweisen: z. B. Sequentes libros adhuc non habemus  101 bzw. anteriores vero XIII nobis adhuc desunt. 102 Sie indizieren im Gegensatz zu den ausdrücklich auf eine prozesshafte Suche weisenden Desiderata-Ver‐ merken einen unvollständigen Status der Sammlung, der wiederum zum Movens für deren Komplettierung gereicht. Die unterschiedlichen sprachlichen Formen der Desiderata-Vermerke unterliegen keiner regelhaften Verteilung auf die den Autoren zugeordneten Suchlisten. Sie sind Ausweis dafür, „daß dem Murbacher Katalogverfasser ein gewandter schriftlicher Ausdruck zu Gebote stand“ 103 - aber mehr noch: Gerade aus dem kompetenten Verfügen über das mit der Semantik des Sammelns korrelierende Formenspektrum des Suchens lassen sich Rückschlüsse auf kulturell bzw. institutionell geprägte Sammelkontexte erkennen: Die sprachlich modellierte ‚Suche‘ nach dem Medium Buch bildet eine Unabgeschlossenheit und intendierte Erweiterbarkeit der Sammlung ab, deren zeitlicher Horizont sich insbeson‐ dere in dem Adverb adhuc konkretisiert, das zahlreichen Suchhinweisen beigegeben ist (vgl. das obige Beispiel: reliquos eius libros adhuc quaerimus). Damit steht der Vorgang des Sammelns in einem charakteristischen Spannungsverhältnis zwischen dem Status quo und einem in die Zukunft weisenden idealen Konstrukt, dem ‚Bis-Jetzt‘ und einem ‚Noch-nicht‘, das die an spezifische Konditionen gebundene Abschließbarkeit der Sammlung in eine unspezifische temporale Dimension prozessiert. V Pragmatik und epistemische Logik des Sammelns: ‚Innen‘ und ‚Außen‘, Fragment und Idealität In der Sammlung, die der Murbacher Bibliothekskatalog enthält, ist eine eigentümliche Interferenz zwischen einer prinzipiell materialitätsbasierten Funktionsorientierung nach Außen und einem ‚inneren‘ Konzept zu beobachten, das ein mentales Modell von Wissen evoziert. Betrachtet man die pragmatische ‚Außenperspektive‘ der Wissensakkumulation durch Bücher, scheint die Sammelintention, so die zunächst naheliegende Vermutung, auf eine Bestandsergänzung ausgerichtet, die im Rahmen der klösterlichen Netzwerke 38 Julia Frick 104 Zum „gemeinsamen Ursprung aus dem Klosterverbande Pirmins, des frühen Mönchsreformers des achten Jahrhunderts“ vgl. Wolfgang Haubrichs, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, Bd. 1: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter, Teil 1: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700-1050/ 60), Tübingen 2 1995, S. 202. Vgl. auch Franz Beyerle, „Bischof Perminius und die Gründung der Abteien Murbach und Reichenau“, in: Zeitschrift für Schweizerische Geschichte 27 (1947), S. 129-173. 105 Heinzer (wie Anm. 81), S. 311. 106 Vgl. grundlegend (mit Angaben zum Forschungsstand sowie weiterführender Literatur) Libri vitae. Gebetsgedenken in der Gesellschaft des Frühen Mittelalters, hg. von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig, Köln u. a. 2015, und Dieter Geuenich, „Verbrüderungsbücher“, in: Südwestdeutsche Archivalienkunde, URL: www.leo-bw.de/ themenmodul/ sudwestdeutsche-archivalienkunde/ archivaliengattungen/ amt sbucher/ verbruderungsbucher. Noch immer einschlägig Karl Schmid und Joachim Wollasch, „Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters“, in: Frühmittelalter‐ liche Studien 1 (1967), S. 365-405; Karl Schmid und Otto G. Oexle, „Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny“, in: Francia 2 (1974), S. 71-122; Karl Schmid und Joachim Wollasch, Societas et Fraternitas. Begründung eines kommentierten Quellenwerkes zur Erforschung der Personen und Personengruppen des Mittelalters, Berlin/ New York 1975, zugleich in: Frühmittelalterliche Studien 9 (1975), S. 1-48. 107 Dieter Geuenich und Uwe Ludwig: „Einleitung“, in: Libri vitae (wie Anm. 106), S. 9-13, hier S. 9. 108 Vgl. Dieter Geuenich, „Das Reichenauer Verbrüderungsbuch“, in: Libri vitae (wie Anm. 106), S. 123- 146. 109 Die im ältesten Teil des Reichenauer Codex enthaltenen Namen aus 17 Mönchsgemeinschaften liegen wohl Namenlisten zugrunde, die aus der Zeit des Gebetsbundes von Attigny stammen dürften und nachträglich in das Verbrüderungsbuch übertragen worden sind, „obwohl sie zu diesem Zeitpunkt - um 824 - nicht mehr ‚aktuell‘ waren.“ Geuenich (wie Anm. 108), S. 129. Zu Voraussetzungen und Wirkung des Gebetsbundes von Attigny vgl. Schmid und Oexle (wie Anm. 106), bes. S. 92. 110 Zu Abt Sigimar vgl. Bruckner (wie Anm. 26), S. 34. 111 Dazu Manitius (wie Anm. 87), Bd. 1, S. 304: „An Abt Sigimar von Murbach hat er [i.e. Walahfrid Strabo] mit kurzer Widmung wohl Dichtwerke übersendet, mit dem Bemerken, daß er Äbte kenne, die an solchen Werken kein Interesse hätten.“ Zum Gedicht an Sigimar vgl. ebd., S. 308. Zur Edition siehe Poetae Latini aevi Caroloni, Bd. 2, ed. Ernst Dümmler, Berlin 1884, S. 359. des deutschen Südwestens verortet werden könnte und eine Art interbibliothekarischer Sammelkontexte voraussetzt. Hinweise auf eine intensive institutionelle wie personelle Vernetzung im 9. Jahrhundert sind insbesondere für Murbach und die Reichenau zahlreich belegt. 104 Sie werden ablesbar an der Gebetsverbrüderung als „grundlegende[m] Instrument[ ] der identitätsstiftenden Verbindungspflege und damit auch der Selbstvergewisserung als Gruppe“. 105 Dokumente solchen Gebetsgedächtnisses sind die sog. Libri vitae bzw. confraternitatis: 106 „Mit der Einschreibung des Namens in den Liber vitae einer religiösen Gemeinschaft verband sich für den Gläubigen die Hoffnung, durch Gebet und Fürbitte Aufnahme in jenes Buch des Lebens zu finden, das der Herr am Jüngsten Tag öffnen würde.“ 107 Das zwischen 823 und 825 angelegte Reichenauer Gedenkbuch (Zürich, Zentralbibl., Ms. Rh. Hist. 27) 108 enthält innerhalb der Verzeichnisse von 56 Kommunitäten eine Doppelseite mit Einträgen zum Murbacher Konvent (p. 44/ 45); die dort gelisteten Namen indizieren eine bis ins 8. Jahrhundert zurückreichende Gebetsverbrüderung der beiden Klöster. 109 Personelle Netzwerke sind über den Reichenauer Liber vitae hinaus in der brieflichen Kommunikation zwischen Walahfrid Strabo (808/ 09-849) und dem Murbacher Abt Sigimar nachweisbar, der dem Konvent zwischen 829 und 840 vorstand; 110 ihm soll Walahfrid eigene Dichtungen übersandt haben. 111 Die Forschung hat sogar vermutet, „dass dieser [i.e. Walahfrid] während 39 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 112 Zogg, Carmina Virgilii (wie Anm. 59), S. 32f. So auch Paul von Winterfeld, „Nachrichten“, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 27 (1901), S. 528. 113 Vgl. Bloch (wie Anm. 1), S. 277 mit Anm. 4-6. So ist neben einigen auf der Reichenau geschriebenen Bänden im Murbacher Bibliotheksbestand ein Katalog erhalten, der - im in Anm. 38 genannten Beda-Codex überliefert (vgl. Milde [wie Anm. 1], Nr. 188-190; heute Genève, Bibliothèque de Genève, Ms. lat. 21) - einen Reichenauer Bücherbestand um 821/ 822 erfasst, der wohl in oder für Murbach abgeschrieben worden ist; sein genauer Verwendungszweck ist allerdings nicht geklärt. Vgl. MBK, Bd. 1, S. 240f. Auch die Überlieferung der ‚Murbacher Hymnen‘ (heute: Oxford, Bodleian Library, MS Junius 25) zeugt von der engen Verbindung der beiden südwestdeutschen Klöster. Vgl. Stefan Sonderegger, „Murbacher Hymnen“, in: 2 VL, Bd. 6, Berlin/ New York 1987, Sp. 804-810 und 2 VL, Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 1043; Haubrichs (wie Anm. 104), S. 202f. Außerdem sollen die 816 verfassten ‚Murbacher Statuten‘ auf den Reichenauer Abt und Bischof von Basel Heito (+ 836) zurückgehen. Dazu Haubrichs (ebd.), S. 197-199. 114 Vgl. die Kommentare zu den einzelnen Titeln bei Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 68-84, bes. S. 69, 71 f.; 83 f. zu Nr. 4, 11, 50, 53. - Hinweise darauf, dass eine interbibliothekarische Fernleihe auch zwischen Murbach und dem Kloster Lorsch bestanden hat, lassen sich anhand eines Abgleichs der aus beiden Klöstern stammenden Bibliothekskataloge vermuten. Vgl. Geith und Berschin (wie Anm. 1), S. 73 mit Anm. 43. Siehe in allgemeinerer Perspektive Bernhard Bischoff, „Panorama der Handschriftenüberlieferung aus der Zeit Karls des Großen“, in: Das geistige Leben, hg. von Bernhard Bischoff, Düsseldorf 1965 (Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben, Bd. 2), S. 233-254. 115 Heinzer (wie Anm. 81), Zitate S. 311 u. S. 312. 116 Im Widmungsbrief Ad Hugonem Sedunensem Episcopum spricht Notker davon, dass die Rückgabe der aus St. Gallen entliehenen Bücher (für die andere als Pfand hinterlassen wurden) durch den Reichenauer Abt noch nicht erfolgt sei: Libros vestros, id est Philippica et Commentum in Topica Ciceronis, petiit a me abbas de Augia pignore dato, quod maioris pretii est. Pluris namque est Rhetorica Ciceronis et Victorini nobile commentum, quae pro eis retineo; et eos non nisi vestris repetere <non> valet. Alioquin sui erunt vestri, et nullum damnum erit vobis. (‚Der Abt von Reichenau hat Eure Bücher, nämlich die Philippica und den Kommentar zur Topik Ciceros, von mir erbeten und dafür ein Pfand gegeben, das von größerem Wert ist. Denn die Rhetorik Ciceros und Victorins gediegener Kommentar, die ich an ihrer Stelle in Händen habe, sind kostbarer; und er kann sie nicht zurückverlangen, ohne Eure Bücher herauszugeben. Andernfalls gehören die seinigen Euch, und Euch entsteht kein Schaden.‘). Text und Übersetzung nach Frühe deutsche Literatur und lateinische Literatur in seines Aufenthaltes in Speyer (840-842), als er durch Ludwig den Deutschen kurzzeitig aus dem Kloster Reichenau vertrieben worden war, das Kloster Murbach besucht und dort die Katalogisierung angeregt haben könnte.“ 112 Diese Hypothese basiert auf dem Faktum, dass sich zahlreiche Buch- und Textimporte im Bestand des älteren Murbacher Katalogs nachweisen lassen, die auf einen regen Austausch mit der Reichenau hindeuten. 113 Ferner gibt es Indizien dafür, dass Murbach Vorlagen für einige weitere im Iskar-Katalog des rotulus verzeichnete Bücher von der Reichenau erhielt. 114 Aufgrund dieser Anhaltspunkte ist die Existenz von Austauschbeziehungen zwischen Murbach und der Reichenau innerhalb eines auf personell grundierten, institutionellen Verbindungen basierenden interbibliothekarischen ‚Fernleihsystems‘ anzunehmen, das im 9. Jahrhundert Bestand hatte. Dass solche Netzwerke auch zwischen anderen Klöstern zum Usus innerhalb der Verbindungspflege gehörten, bezeugen „konkrete[ ] Indizien im Reichenauer Bestand“, die auf eine „zumindest zeitweilig ziemlich regelmäßige Ausleih‐ praxis“ 115 zwischen dem Bodenseekloster und der fränkischen Königsabtei Saint-Denis hindeuten. Einen schriftlichen Reflex der interbibliothekarischen Kontakte zwischen der Reichenau und St. Gallen bietet - aus etwas späterer Zeit - z. B. Notkers III. Übersetzung der Consolatio Philosophiae des Boethius. 116 Ähnliches lässt sich - über den Raum des deutschen 40 Julia Frick Deutschland 800-1150, hg. von Walter Haug und Benedikt K. Vollmann, Frankfurt a. M. 1991 (Bibliothek des Mittelalters 1/ Bibliothek deutscher Klassiker 62), S. 264-267. 117 Vgl. Haubrichs (wie Anm. 104), S. 173f. 118 Heinzer (wie Anm. 86), S. 127. 119 Heinzer (wie Anm. 81), 312. 120 So z. B. im St. Galler Bibliothekskatalog. Vgl. MBK, Bd. 1, S. 66-82. Südwestens hinaus - auch im Hinblick auf den „Leihverkehr“ des Klosters Fulda mit den Klöstern Montecassino oder Lorsch nachweisen. 117 In dieser Hinsicht ließe sich die Funktion der Murbacher Desiderata-Listen als pragma‐ tisches Instrument im Dienste einer systematischen Bestandsergänzung bestimmen, die vor dem Hintergrund der Vernetzung südwestdeutscher Klöster ihre historische Relevanz gewinnt. Sammeln erschiene insofern als kommunikative Praxis der Wissensakkumula‐ tion, die sich insbesondere an Büchern als Transfermedien von Wissen und „Übermitt‐ lungsträger[n] kultureller Impulse“ vollzieht. 118 Dieser Befund dokumentiert den in der Forschung diskutierten eminenten Status des Buches im Kontext der Austauschprozesse „zwischen den wichtigen Skriptorien“ des Frühmittelalters. 119 Doch vermag dieser Aspekt die Ausrichtung der Desiderata an einem prononciert kulturellen Bildungsprogramm, wie es sich an der Orientierung an Cassiodors Institutiones divinarum et saecularium litterarum abzeichnet, nur vordergründig zu erklären. Denn neben einer funktionalen Dimension wird im Murbacher Bibliothekskatalog ein ideeller Sinnho‐ rizont etabliert, demzufolge der Katalog als Medium der Strukturierung von Wissen über den darin fixierten Bestand hinaus auf eine Sammelpraxis verweist, deren Implikationen jenseits eines zweckgebundenen Prinzips von Suchen und Finden liegen. Damit ist ein ideengeschichtlicher Aspekt benannt, der sich in den Einträgen als einer ‚inneren‘ Matrix konstituiert: Die Auflistung von vorhandenem Material und Desiderata konstruiert eine literarische ‚Topographie‘, die ein ‚Wissensnetzwerk‘ sichtbar werden lässt. Vergleicht man den Murbacher Bibliothekskatalog als Funktionstyp nämlich mit den er‐ haltenen zeitgenössischen Bücherverzeichnissen, so spiegelt er eine grundsätzlich andere, im 9. Jahrhundert singuläre Konzeption, die das Prinzip einer systematischen Auswertung schriftliterarischer Quellen für die Desideratenlisten erkennen lässt. Als Suchmittel von konkret funktionaler Qualität im Kontext interbibliothekarischer Netzwerke erscheint er insofern - trotz aller Hinweise auf die Existenz einer solchen Praxis - doch einigermaßen ineffizient: Nicht nur fehlen sachbezogene Angaben etwa zur Anzahl der Bände, zu den Ausleihen etc., wie sie in der Regel zu erwarten wären, 120 sowie Texte mit einer dezidiert pragmatischen Funktion (z. B. leges, Verwaltungsliteratur, consuetudines u. a. m.), sondern die Desiderata-Vermerke selbst sind derart in die als vorhanden verzeichneten Bestände eingeschachtelt, dass sie zur raschen Auffindung (etwa im Rahmen eines ‚Tauschverkehrs‘) wenig geeignet sind. Gerade durch die Orientierung der Sammelpraxis an Cassiodors Institutiones als Maßstab eines idealen Wissenssystems fungiert der Murbacher Bibliothekskatalog als Abbild einer epistemischen Ordnung, die zwar in einer engen Relation zum Bücherbestand des Klosters steht, jedoch über eine reine Inventarisierung mit pragmatischer Funktion hinaus einen Reflex der Bildungsinteressen des Konvents bildet, der die Bibliothek als Garant der göttlich fundierten Wissensordnung ausweist. Insofern ist der im Murbacher Katalog 41 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 121 In anderem Kontext vgl. Jürgen Wolf, in diesem Band. 122 Ich danke Ulrich Eigler (Zürich) für diesen Hinweis. 123 Vgl. Embach (wie Anm. 5), S. 53-69. 124 Vgl. zum Aspekt des Auratischen der Sammlung Peter Strohschneider, „Das neue Alte. Museum und Archiv, Sammeln und Forschen“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 635-651, bes. S. 645. 125 Beide Zitate Strohschneider (wie Anm. 15), S. 16. 126 Vgl. Georg Schrott, „Klösterliche Sammelpraxis in der Frühen Neuzeit. Typologie, Geschichte, Funktionen und Deutungen“, in: Klösterliche Sammelpraxis in der Frühen Neuzeit, hg. von Georg Schrott und Manfred Knedlik, Nordhausen 2010, S. 7-71, hier: S. 63. 127 Diesen Aspekt dokumentieren etwa die im Iskar-Katalog nicht lange nach der Entstehungszeit des älteren Murbacher Katalogs verzeichneten ‚Neuanschaffungen‘, von denen sich der Großteil nicht in den Desiderata-Listen finden lässt. Vgl. dazu Geith und Berschin (wie Anm. 1) S. 65f. greifbare Funktionsakzent der Speicherung mit den zeitgenössischen Vertretern dieser Gattung nicht vergleichbar: Es geht nicht um eine ‚bloße‘ Archivierung des vorhandenen Wissens zum Zwecke von dessen Ordnung, Strukturierung oder auch Realisierung etwaiger Nutzungsmodalitäten; vielmehr reflektiert das Murbacher Bücherverzeichnis den gemein‐ samen kulturellen Bildungskanon der Klostergemeinschaft und damit einen historischen Wissensdiskurs, den der Katalog als ‚Ein-Buch-Bibliothek‘ 121 schriftlich fixiert. Er erhält damit gewissermaßen den Status eines Liber vitae bibliothecae: 122 Ein Dokument, mittels dessen das Memorieren der als zentral erachteten, zu einem Wissensraum kondensierten Literaturbestände ermöglicht wird. 123 Die vorhandenen und gesuchten Bücher gruppieren sich zu intellektuellen ‚Netzen‘, innerhalb derer die Simultaneität von Präsenz und Absenz eine intellektuelle Aura generiert. 124 Die Funktionsbestimmung des Murbacher Bibliothekskatalogs unterliegt also differie‐ renden Relationen, die jeweils unterschiedliche Aspekte der schriftlich verzeichneten Sammlung akzentuieren. Aus einer anwendungsbezogenen Außenperspektive suggerieren die zahlreichen Desiderata-Vermerke des Katalogs einen fragmentarischen Charakter des Bücherbestandes, in dem sich eine Prozesshaftigkeit und prinzipielle Offenheit des Sam‐ melns mit dem Ziel kontinuierlichen (Bücher-)Zuwachses konstituiert. Dieser Dimension inhärent ist zugleich eine epistemische Logik, wonach die Sammlung eine Universalität des Wissens repräsentiert, die über die einzelnen Gegenstände hinauswächst und unabhängig vom tatsächlich vorhandenen Material als Sinnbild einer idealen Bibliothek fungiert. Die als vorhanden wie gesucht verzeichneten Bücher erscheinen dabei als „Kristallisati‐ onspunkte [ ] des Wissens“, die sich in der Bibliothek als Abbild „einer epistemischen Ordnung“ 125 der Zeit zu einer Abbreviatur von Weltbzw. Heilswissen verdichten. 126 Sie referentialisieren einen ‚totalen‘ Wissensraum, dessen einzelne, tendenziell erweiterbare Bestandteile eine geradezu enzyklopädische Dimension ausbilden, die den Impetus des Sammelns theoretisch ad infinitum perpetuiert. 127 Die im Murbacher Katalog greifbare institutionalisierte Sammelpraxis changiert damit zwischen einer theoretisch als möglich zu denkenden pragmatischen Funktion innerhalb nachweisbarer Klosterverbindungen und der Konstituierung einer symbolischen Ordnung - zwei Pole, in denen das vielschichtige Sinnpotential des Sammelns symptomatisch beobachtbar wird. Gerade diese Interferenz von Fragmentstatus und Idealität weist die Sammlung des Katalogs als Muster eines auf das Verstehen des göttlichen Wortes in der Hl. Schrift zielenden mentalen Modells aus, das 42 Julia Frick 128 Stähli (wie Anm. 9), S. 58. 129 Bärbel Küster, Armin Schäfer und Susanne Scholz, „Taxonomien des Menschen - Archive des Humanen. Zur Einleitung“, in: Sprachen des Sammelns (wie Anm. 10), S. 315-325, hier S. 325 130 Vgl. exemplarisch The Reception of Antiquity in Renaissance Humanism, hg. von Manfred Landfester, Leiden 2017 (Brill’s New Pauly. Supplements 8). Für den deutschsprachigen Bereich siehe Dieter Mertens, „Deutscher Renaissance-Humanismus“, in: Humanismus in Europa, hg. von Stiftung ‚Hu‐ manismus Heute‘ des Landes Baden-Württemberg, Heidelberg 1998 (Bibliothek der klassischen Al‐ tertumswissenschaften, N. F., Reihe 2), S. 187-210. Zu den studia humanitatis siehe August Buck, „Die ‚studia humanitatis‘ im italienischen Humanismus“, in: Humanismus im Bildungswesen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Wolfgang Reinhard, Weinheim 1984 (Deutsche Forschungsgemeinschaft. Mitteilungen der Kommission für Humanismusforschung 12), S. 11-24. - Das Konkurrenzverhältnis zwischen humanistischen Interessen und Ordenszugehörigkeit ist aufgearbeitet bei Harald Müller, Habit und Habitus. Mönche und Humanisten im Dialog, Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reforma‐ tion, Neue Reihe 32). in der Vielfalt der verzeichneten Einzelwerke den als vorbildlich erachteten intellektuellen Horizont als Ganzes vergegenwärtigt. VI Dimensionen von Zeit und Raum: Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung Am Murbacher Bibliothekskatalog lassen sich, das sollte deutlich geworden sein, zwei historisch differente Modalitäten des Sammelns studieren: erstens, ein zur Zeit seiner Entstehung im 9. Jahrhundert offensichtlich aktuell relevantes Streben nach Erweiterung des Bücherbestandes bzw. der Konstruktion eines idealen Wissenskosmos, der der Her‐ ausbildung eines „kulturellen Bedeutungssystems“ 128 dient; zweitens, eine zur Zeit der Abschrift des rotulus durch Sigismund Meisterlin erfolgte Archivierung - und zwar nicht des noch vorhandenen Bücherbestandes als solchen (auch wenn Tendenzen zu dessen Neuordnung nachweisbar sind), sondern des Mediums, das sie inkorporiert. Primäres Ziel der von Bartholomäus von Andlau in einem Kartular angelegten Sammlung ist die Sicherung der für die Abtei Murbach rechtsverbindlichen Dokumente. Damit kommen zwei einander diametral entgegengesetzte temporale Perspektiven in den Blick: Während die Anlage des Katalogs und mit ihr die Semantik der Suchhinweise eine Offenheit der Sammlung markieren, die auf einen zukunftsorientierten Prozess mit möglichen Filiationen verweist, erscheint das Einschreiben des Katalogs ins Murbacher Kartular als Inventarisierung ehemaliger Besitztümer des Klosters von explizitem Vergan‐ genheitswert. Zwar bietet auch das Archiv durchaus „Rekursionsmöglichkeiten“ für eine spätere Leserschaft, 129 doch lässt es das dynamische Moment des Sammelns hinter einem eher statischen Konzept der Sammlung als solcher zurücktreten. Diese ‚dokumentarische‘ Funktion reagiert auf zentrale historische Konstellationen: Denn die von Bartholomäus von Andlau und Sigismund Meisterlin betriebene restitutio des Bücherbestandes gehört in den Kontext des zeitgenössischen humanistischen Interesses an der ‚Errettung‘ der ad fontes weisenden Quellen innerhalb der klösterlichen Bibliotheken. Die humanistische Sammel- und Restituierungsaktivität ist von spezifischen kulturellen Implikationen getragen, die in den studia humanitatis als des idealen humanistischen Bildungsprogramms prägnant Ausdruck finden. 130 Das Sammeln im 15. Jahrhundert referiert damit auf alternative kulturelle Diskurse als das im Murbacher Bibliothekskatalog sich formierende monastische Lektüreprogramm. Nicht zuletzt der mediale Transfer vom rotulus zum Codex (Kartular) 43 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 131 Rotuli wurden häufig für Urkunden, Inventare etc. aus dem Grund verwendet, weil sie einfach zu verlängern waren. Ich danke Carmen Cardelle de Hartmann (Zürich) für diesen Hinweis. Zum Stellenwert der Werke des Alcuin, Hrabanus Maurus und Smaragdus von St. Mihiel als Nachträge im Murbacher Katalog vgl. Anm. 45. „Abt Smaragdus hat die Einreihung unter die Heiden erdulden müssen“ (Bloch [wie Anm. 1], S. 261). - Die Überführung der rotuli in Codex-Form gehört zum gängigen Umgang mit diesen ‚unfesten‘ Medien. Vgl. dazu Norbert Kössinger, Schriftrollen. Untersuchungen zu den deutschsprachigen und mittelniederländischen Rotuli, Wiesbaden 2020 (MTU 148). 132 Strohschneider (wie Anm. 15), S. 20. 133 Stähli (wie Anm. 9), S. 67. 134 Dazu einschlägig Philip R. Hardie, Virgil, Cambridge 1998 (Greece & Rome. New Surveys in the Classics 28); Philip R. Hardie, Virgil’s Aeneid. Cosmos and Imperium, Oxford 1986. zeigt den Übergang von der tendenziellen Prozessualität des Sammelns 131 zum gewisser‐ maßen ‚urkundlich-statischen‘ Charakter der (schriftlich niedergelegten) Sammlung an. Der Murbacher Bibliothekskatalog verkörpert insofern einen Erfahrungsraum, an dem die Relevanz des Sammelns als kultureller Praxis in einem Spannungsverhältnis divergierender Zeitdynamiken ablesbar wird: Im medialen Ensemble des Buches sind die einzelnen Ele‐ mente so kombiniert, dass sie in ihrem Anspruch auf Vollständigkeit eine ideale Bibliothek repräsentieren, in der das Singuläre innerhalb der Sammlung in einer epistemischen Totalität aufgeht. Auf diese Weise konstituiert sich eine Wissenstopographie, die das Buch als Inbegriff der (geistig konzipierten und durch spirituelle Lektüre rezipierbaren) Welt semantisiert. Mit dem im 15. Jahrhundert als defizitär erkanntem Status der Gegenwart konfrontiert, eröffnet sie einen Erinnerungsort für die Größe der antiquitas. Aus dieser Perspektive kommt dem von Sigismund Meisterlin und Bartholomäus von Andlau im rotulus vorgefundenen Verzeichnis des Bibliotheksbestandes als Repräsentant einer ver‐ gangenen Denkordnung ein „auratische[s] Moment[ ]“ zu. 132 Indem der Katalog zeichenhaft auf einen entfernten Ursprung rekurriert, monumentalisiert er die in ihm aufgehobenen Wissensbestände als Medien institutioneller Erinnerung. Hinter seiner Aufnahme in die (Urkunden-)Sammlung des Klosters wird damit ein gegenüber der Entstehungszeit explizit anders gelagertes Funktionsmotiv erkennbar: Die ‚neue‘ Sammlung von rechtsverbindli‐ chem Anspruch zielt auf die Etablierung eines authentischen „Gedächtnisraum[es]“, 133 der die Summe der intellektuellen Potenz der monastischen Institution vergegenwärtigt und so der Sicherung ihrer Geltungsansprüche dient. Im Zentrum steht nicht mehr die im Katalog konkret fixierte Sammlung selbst; sie tritt zurück hinter ihrer Wirkung im Ensemble der ‚Denkmäler‘, die der Codex (das Kartular) archiviert. Ihre Wahrnehmung als monumentum der Vergangenheit distanziert sie von dem prozesshaften Ereignis des Sammelns, das ihre Entstehung einst motiviert hatte. Die restitutio der vergangenen ‚Aura‘, in der sich eine kollektiv-institutionelle Sammel‐ praxis verdichtet, wird aber zugleich überlagert vom Aspekt der Stiftung überzeitlichen individuellen Gedächtnisses, das sich in der persönlichen Profilierung des Abtes als ordnender und archivierender Instanz konkretisiert. Als deren Trägermedium fungiert symptomatischerweise das humanistische Bildungsgut. So rühmt Sigismund Meisterlin die Verdienste des Bartholomäus von Andlau mit einer Allusion an die Aeneis des antiken Dichters Vergil, 134 die die temporalen Konstanten Zeitlichkeit und Ewigkeit in einem Bedingungsmodell poetischer Geltungsansprüche präsentiert: 44 Julia Frick 135 Si quid mea carmina possunt, / nulla dies umquam memori vos eximet aeuo […] (Aen. 9, 446 f., zitiert nach P. Vergilii Maronis Opera, hg. von R. A. B. Mynors, Oxford 1969). Den Kontext bildet die Klage des Dichters über den Tod der Trojaner Nisus und Eurialus, deren Andenken das carmen Vergils bis in Ewigkeit bewahren soll. Ob quem tuum conatum quanta assequaris preconia aput homines nostri evi quantaque premia a largitore omnium bonorum Deo, […] quem nil latet. Fama tamen eciam tua, laus nomen que nulla vmquam eximet vetustas posteris, s i q u i d m e a c a r m i n a p o s s u n t . (Zarncke [Anm. 31], S. 626, Z. 15-19; Hervorhebung: J.F.) 135 Welch große Ruhmesworte wirst du aufgrund deiner Bemühung bei den Menschen unseres Zeitalters erlangen, welch großen Lohn von Gott, dem Spender aller Güter, dem nichts verborgen ist. So werden auch dein Ruhm, Lob und Name, die niemals das Alter bei der Nachwelt schmälern wird, bestehen bleiben, wenn meine Dichtung etwas vermag. 45 Die ‚Monumentalisierung‘ der Sammlung 1 Vgl. Seth Lerer, „Medieval English Literature and the Idea of the Anthology“, in: PMLA 118 (2003), S. 1251-1267, hier S. 1255. 2 Ebd., S. 1263: „The mark of any culture’s literary sense of self lies in the way in which it makes anthologies.“ 3 Ebd., S. 1255. 4 Vgl. James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge, MA/ London 1988, S. 220. 5 Vgl. auch Jürgen Wolf, „Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile“, in: Überlie‐ ferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. von Horst Brunner, Freimut Löser und Dorothea Klein, Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter 52), S. 69-82. Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben. Die Vorauer Sündenklage in der Sammelpraxis des 12. Jahrhunderts Sarah Bowden In einem Aufsatz über die mittelenglische Literatur argumentiert Seth Lerer, dass die Idee der Anthologie das Verständnis des Literarischen im Mittelalter ,kontrolliere‘. 1 Seine Argumentation basiert auf der Problematik der Kanonizität in der Literaturgeschichte: Sie ziele nicht darauf, die Signifikanz von Autoren wie Chaucer oder Gower in Frage zu stellen, sondern setzte voraus, dass eine Fokussierung auf einzelne Werke und Autoren den anthologischen Impuls im Zentrum der literarischen Produktion verschleiere. Die Art und Weise, in der ,anthologies‘ zu verschiedenen Zeitpunkten zusammengestellt würden, so behauptet er, lasse den „sense of self “ der jeweiligen literarischen Kultur erkennen. 2 Auch wenn der genaue Kontext der Beauftragung oder Produktion einer Anthologie unbekannt bleibe, lasse die in der Anthologie fassbare „controlling literary intelligence“ 3 den der Textsammlung unterliegenden historischen, sozialen und literarischen Impuls und die Art und Weise, in der sich Textüberlieferung mit Textinterpretation überschneide, erkennen. In diesem Beitrag nehme ich Lerers Thesen als Ausgangspunkt. Ich zeige nicht nur, dass Anthologien - in der Gestalt von Sammelhandschriften - für bestimmte kulturelle Konfigurationen repräsentativ sind, sondern auch, dass diese Repräsentativität nur bis zu einem bestimmten Punkt reicht. Der repräsentative Charakter einer Sammelhandschrift kann, so behaupte ich, unvollständig oder sogar illusorisch sein - in dieser Hinsicht folge ich der These des Anthropologen James Clifford, der zufolge eine Sammlung eine „illusion of adequate representation“ sei. 4 Der deutsche Begriff ,Sammelhandschrift‘ ist hier von entscheidender Bedeutung. In diesem Beitrag geht es nicht darum, genau zu definieren, was unter dem breit gefassten Begriff Sammelhandschrift zu verstehen ist oder verschiedene Typen der Sammelhandschrift zu klassifizieren - diese wichtige Arbeit wird von Jürgen Wolf in diesem Band geleistet -, 5 vielmehr geht es darum, den hermeneutischen 6 Vgl. https: / / handschriftencensus.de/ 1432 [Zugriffe hier und im Folgenden am 16.12.2020]. 7 Vgl. Charlotte Ziegler, Zisterzienserstift Zwettl. Katalog der Handschriften des Mittelalters. Teil I: Codex 1-100, Wien/ München 1992, S. 137-139. 8 Edition in: Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts, hg. von Werner Schröder, Bd. 2, Tübingen 1972 (Altdeutsche Textbibliothek 72), S. 193-222. Implikationen zu folgen, welche die Terminologie uns bietet. Der Begriff ‚Sammelhand‐ schrift‘ umfasst wohl eine Vielzahl von Sammlungskonzepten oder -praxen, welche die Produktion und Rezeption der jeweiligen Handschrift - sowie deren Behandlung in der Literaturgeschichte - beeinflussen können. Die Signifikanz der Unterscheidung zwischen dem Gegenstand (der Sammlung) und dem aktiven Prozess dahinter (dem Sammeln) kann in diesem Zusammenhang gar nicht überbewertet werden: Der Begriff Sammelhandschrift ermuntert dazu, eine Handschrift sowohl in Bezug auf ihre Struktur und Form als auch in Bezug auf den Prozess, d. h. die Dynamik von Sammlungspraktiken, die zu ihrer Herstellung oder ihrem Aufbau geführt haben, zu betrachten. Gerade diese prozessuale Dimension soll in den folgenden Ausführungen im Fokus stehen. Als Ausgangspunkt dient die sog. Vorauer Handschrift, Vorau, Stiftsbibl., Cod. 276, die uns einen ziemlich ungewöhnlichen Einblick in die ihr eigenen Sammlungspraktiken bietet. 6 Da die Entstehungsumstände der Handschrift umrisshaft bekannt sind, insbeson‐ dere deren spezifische Schreibpraktiken, ist es möglich, Hypothesen über die Verwendung von Schreibvorlagen zu formulieren, und die Art und Weise zu untersuchen, in der sich Texte im 12. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum bewegten und wie sie verwendet wurden. Wie ich zeigen möchte, macht eine Untersuchung der Sammelpraxis hinter der Vorauer Handschrift aber vor allem deutlich, was wir n i c h t wissen. Die ungewöhnliche Menge an konkreten Informationen, die diese Handschrift bietet, verstärkt paradoxerweise die Wahrnehmung der Lücken unseres Wissens über die Überlieferung und Rezeption deutscher Texte im 12. Jahrhundert. Der Status der Handschrift a l s S a m m l u n g deutet darauf hin, dass sie nur Teil eines komplexen Bildes ist, denn eine Sammlung bietet von Natur aus oft nur die partielle Repräsentation eines größeren Ganzen. Der vorliegende Beitrag stellt sich dieser Problematik, indem die Vorauer Handschrift zusammen mit einer zweiten Handschrift aus dem niederösterreichischen Zisterzienser‐ stift Zwettl, Cod. 73, betrachtet wird, welche die Forschung im Gegensatz zur Vorauer Handschrift weitgehend übersehen hat. 7 Die Verbindung zwischen den zwei Handschriften besteht darin, dass sie die einzig bekannten Zeugnisse der sogenannten Vorauer Sündenklage sind. 8 Im Folgenden soll zunächst der in der Vorauer Handschrift erkennbare Sammelpro‐ zess beschrieben werden, ehe anhand der Zwettler Handschrift ein Teil der breiteren literarischen Kultur zu erkunden ist, den die Vorauer Sammlung sichtbar macht. I Der Sammelprozess von Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276 Höchstwahrscheinlich um 1200 im Augustiner-Chorherrenstift Vorau hergestellt, spielt Cod. 276 eine grundlegende Rolle in der Handschriften- und Literaturgeschichte des deut‐ 48 Sarah Bowden 9 Und zwar seit langem: „Die Vorauer hs. XI., über deren bedeutung keine worte zu verlieren sind“; Albert Waag, „Die zusammensetzung der Vorauer handschrift. (Mit einer tabelle.)“, in: PBB 11 (1886), S. 77-158, hier S. 77. 10 Die Handschrift liegt jetzt als Teil des Projekts Kaiserchronik - digital digitalisiert vor: http: / / digi.ub .uni-heidelberg.de/ diglit/ stav_ms276? ui_lang=ger. Für einen detaillierten Überblick der Handschrift vgl. Kurt Gärtner, „Vorauer Handschrift 276“, in: 2 VL, Bd. 10, Berlin/ New York 1989, Sp. 516-521. 11 Gesta Fridarici imperatoris. QueÞav Wolfcangus scripsit. iubente Bernhardo preposito / Qui ea sancte marieÞav. sancto thomeÞav et uorowensi ecclesie abstulerit. anathema sit. Vgl. Gärtner (wie Anm. 10), Sp. 517; sowie Karin Schneider, Gotische Schriften in deutscher Sprache. 1. Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, S. 37, die behauptet, dass die Hand dieses Vermerks „etwas jünger[…]“ als die Hand des Hauptschreibers des lateinischen Texts sei. 12 Vgl. Gernot Schafferhoher und Martin Schubert, „Vorau“, in: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien - Werke - Mäzene, hg. von Martin Schubert, Berlin/ Boston 2013, S. 513-535, bes. S. 519- 535. Dazu auch Klaus Grubmüller, „Die Vorauer Handschrift und ihr Alexander. Die kodikologischen Befunde: Bestandsaufnahme und Kritik“, in: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbe‐ stimmung im Kontext literarischer Beziehungen, hg. von Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram, Göttingen 2000, S. 208-221. 13 Vgl. Pius Fank, „Kam die Vorauer Handschrift durch Propst Konrad II. aus dem Domstift Salzburg nach Vorau? “, in: PBB (Tüb.) 78 (1956), S. 374-393. 14 Vgl. Schneider (wie Anm. 11), S. 38-40. Vgl. dagegen Pius Fank, Die Vorauer Handschrift. Ihre Entstehung und ihr Schreiber, Graz 1967, und Peter Wind, „Die Entstehung des Vorauer Evangeliars in der Steiermark“, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 86 (1995), S. 45-61, die argumentieren, Bernhard sei der Hauptschreiber des deutschen Faszikels. 15 Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008, S. 210: „Da Einrichtung, Ausstattung und schen Mittelalters, 9 ja der europäischen Kultur; dank ihren klaren Strukturprinzipien gilt sie in der Forschung in vielerlei Hinsicht als Sammelhandschrift par excellence. Die Handschrift besteht aus zwei Faszikeln: Der erste Faszikel enthält die Kaiserchronik und dreizehn weitere deutschsprachige Texte, die lose chronologisch von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht angeordnet sind; der zweite Faszikel enthält Ottos von Freising Gesta Friderici imperatoris. 10 Die Bindung, welche die Faszikel heute verknüpft, stammt aus dem 15. Jahrhundert; es ist unklar, ob diese schon vorher zusammen gehörten. Ein Randvermerk dokumentiert, dass der lateinische Faszikel in Vorau selbst im Auftrag des Propstes Bern‐ hard I. (1185-1202) von dem Schreiber Wolfcangus geschrieben worden ist. 11 Die Herkunft des deutschen Faszikels ist unklar, aber es besteht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass dieser ebenfalls in Vorau entstanden ist, möglicherweise wiederum unter der Bernhards I. Leitung. 12 Das Stift Vorau, 1163 vom Markgrafen Ottokar III. gegründet, war zum Zeitpunkt der Entstehung der Handschrift noch relativ jung. Es entwickelte sich jedoch schnell und gewann unter Bernhard I., der zuvor die wichtige Schreibschule der Augustinerabtei Seckau und höchstwahrscheinlich die Vorauer Bibliothek gegründet hatte und das Skriptorium erweiterte (oder gar ründete), besondere kulturelle Bedeutung. 13 Das Vorauer Skriptorium hatte daher sicherlich technisch die Möglichkeit, den deutschen Faszikel herzustellen. Obwohl es unmöglich ist, den Hauptschreiber des deutschen Faszikels eindeutig in einem bestimmten Skriptorium zu lokalisieren, 14 fällt auf, dass der deutsche Faszikel genau die gleiche Größe wie der lateinische Faszikel hat, auf ähnlichem Pergament geschrieben ist und die gleiche Anzahl von Linien aufweist. Auch wenn nicht behauptet werden kann, dass die Faszikel Teil desselben Schreibvorhabens seien, 15 können diese 49 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben vor allen das außergewöhnliche Format von 42,5 x 32,5 cm Blattgröße bei beiden Teilen bis ins Detail übereinstimmen, ist an einer einheitlichen Gesamtkonzeption der Sammlung nicht zu zweifeln.“ 16 Die These Hermann Menhardts, dass der deutsche Faszikel im Auftrag Heinrichs des Löwen in Regensburg hergestellt wurde, gilt mittlerweile als bloße Vermutung: Vgl. Hermann Menhardt, „Zur Herkunft der Vorauer Handschrift. Abhandlung III“, in: PBB 80 (1958), S. 48-66; Schafferhoher und Schubert (wie Anm. 12), S. 522-523. 17 Laut Grubmüller (wie Anm. 12), S. 213, sollte die Handschrift „als Zeugnis fürstlicher Ostentation oder auch laikalen Orientierungsbedürfnisses“ verstanden werden. Vgl. auch Wolf (wie Anm. 15), S. 210-11. 18 Vgl. Lerer (wie Anm. 1), S. 1255. Diese literarische Intelligenz unterscheidet die Anthologie von der ‚miscellany‘, einer eher zufälligen, regellosen Sammlung von Texten. Der Unterschied zwischen ‚anthology‘ und ‚miscellany‘ in der Altanglistik ist aber nicht unkontrovers. Vgl. Julia Boffey and John J. Thompson, „Anthologies and Miscellanies. Production and Choice of Texts“, in: Production and Publishing in Britain, 1375-1475, hg. von Jeremy Griffiths und Derek Pearsall, Cambridge 1989, S. 279-315. 19 Vgl. zur Rolle der Alexander-Dichtung in der Vorauer Handschrift bes. Grubmüller (wie Anm 12). Ähnlichkeiten auf dasselbe Skriptorium hinweisen - insbesondere angesichts der Tatsache, dass es keine wahrscheinlichere Alternative gibt. 16 Vorau ist (besonders im 12. Jahrhundert) kein bekannter Ort der deutschsprachigen Handschriftenproduktion, unterhielt aber enge Beziehungen zu der Familie ihres Gründers Ottokar III.; im Allgemeinen wird angenommen, dass der Codex im Kontext dieses klösterlich-aristokratischen Nexus entstanden ist. 17 Wenn der deutsche Faszikel im Hinblick auf Sammelprozess oder -praxis untersucht wird, können Beobachtungen sowohl auf organisatorischer als auch auf schriftlicher Ebene gemacht werden. Auf organisatorischer Ebene bietet die Handschrift Hinweise für einen Sammelprozess, bei dem bestimmte Textsorten zusammengebracht und thematisch geordnet wurden. Der Inhalt der Handschrift wurde wahrscheinlich zum Teil durch Zufälle wie die Verfügbarkeit von Texten bestimmt, aber das Material an sich wurde sorgfältig nach weitgehend chronologischen Strukturprinzipien organisiert: hier war ganz offensichtlich jene kritische literarische Intelligenz am Werk, die für Seth Lerer den Charakter einer Anthologie ausmacht. 18 Abgesehen von der Kaiserchronik sind die Texte (in ziemlich lockerer Weise) heilsge‐ schichtlich-chronologisch von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht geordnet. Die Handschrift folgt einem (etwas eigenwilligen, aber insgesamt doch) konsequenten Weg, der sich vom Alten Testament (mit Texten über Baalam, Salomo, Judith und die drei Jünglinge im Feuerofen) über Alexander den Großen (heilsgeschichtlich relevant als Anfangspunkt des griechischen Zeitalters) zum Neuen Testament (Frau Avas Leben Christi) und zum Ende der Welt erstreckt. Die Kaiserchronik selbst, auch wenn unchronologisch ganz am Anfang positioniert, passt zu diesem Interesse an Universal- und Heilsgeschichte. 19 Zeitgenössische Handschriften sind nach ähnlichen Prinzipien aufgebaut, so etwa die Wiener und Millstätter Sammelhandschriften, die gewisse inhaltliche und strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen (Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2721; Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6/ 19), ohne dass sich hier wechselseitige Einflüsse gegenüber dem Vorauer Codex nachweisen lassen. Es ist darüber hinaus äußerst plausibel, dass es weitere, ähnlich aufgebaute Handschriften gegeben haben könnte. Die Vorauer Handschrift passt außerdem auch in das gesamteuropäische Interesse an universeller Geschichtsschreibung im 12. Jahr‐ 50 Sarah Bowden 20 Vgl. Waag (wie Anm. 9). 21 Vgl. Gärtner (wie Anm. 10), Sp. 519. Die Summa theologiae, Lob Salomons, Ältere Judith und Drei Jünglinge weisen allesamt rheinfränkische, der Alexander ripuarische Merkmale auf. Vgl. Schneider (wie Anm. 11), S. 40f. 22 Vgl. Eberhard Nellmann, „Kontamination in der Epiküberlieferung. Mit Beispielen aus der Vorauer Kaiserchronik-Handschrift“, in: ZfdA 130 (2001), S 377-391; sowie Wolf (wie Anm. 15), S. 299f. 23 Grubmüller (wie Anm. 12), S. 219. 24 Ebd., S. 211f.; vgl. auch Ernst Hellgardt, „Seckauer Handschriften als Träger frühmittelhochdeutscher Texte“, in: Mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des internationalen Symposiums, Schloß Seggau bei Leibnitz 1984, hg. von Fritz Peter Knapp und Anton Schwob, Graz 1988, S. 103-130. Anders Christine Glaßner und Karl Heinz Keller, „Heinrichs Litanei. Neue Befunde zur Überlieferung und Funktion“, in: Liturgie und Literatur. Historische Fallstudien, hg. von Cornelia Herberichs, hundert (und zwar nicht nur in Bezug auf die Produktion von Texten, sondern auch in Bezug auf den Aufbau von Handschriften). Eine genauere Untersuchung von Sprache und Schrift erklärt eine weitere Dimension der im Vorauer Codex fassbaren Sammelpraxis. Seit den grundlegenden Forschungen von Albert Waag im 19. Jh. hat sich gezeigt, dass der Hauptschreiber verschiedene Vorlagen benutzte, die möglicherweise aus verschiedenen Teilen des deutschsprachigen Raums stammten. 20 Es ist keine einheitliche Schreibsprache zu erkennen; 21 alle Indizien deuten darauf hin, dass der Schreiber seine Vorlagen sorgfältig und genau kopiert hat. Wenn er diese für unzureichend hält, lässt er, wie besonders Eberhard Nellmann für die Kaiserchronik nachgewiesen hat, stets Platz für Korrekturen; etwas später schließt er selbst diese Lücken (und fügt einige marginale Korrekturen hinzu), indem er eine zweite Vorlage benutzt. 22 Bei den Vorauer Büchern Mosis gibt es einige Nachträge von einer etwas späteren Hand und ab Bl. 96r, mit dem Beginn der kürzeren Gedichte, ändert sich der Schreibvorgang erneut. Vermutlich aus Unzufriedenheit mit seinen Vorlagen hinterlässt der Hauptschreiber weiterhin einige Lücken (vor allem beim Lob Salomons und der Älteren Judith), doch bringt er keine weiteren Nachträge oder Korrekturen an. Grubmüller, der diese Sachlage detailliert analysiert hat, gelangt zu dem plausiblen Schluss, dass die Vorlagensituation für die einzelnen Teile der Handschrift unterschiedlich war: (mindestens) zwei Vorlagen müssten für die Kaiserchronik und die Vorauer Bücher Mosis schon länger verfügbar gewesen sein, aber bei den anderen Gedichten habe sich „die Vorlagensituation stellenweise drastisch verschlechtert“. 23 Die Sammelpraxis der Vorauer Handschrift 276 legt es nahe, die Handschrift als Teil eines Prozesses statt als einen eher statischen Gegenstand zu betrachten. Und in diesem Sinne wird deutlich, dass es verschiedene Netzwerke gegeben haben muss, in denen sich volkssprachige Texte bewegten. So ist zum Beispiel vorgeschlagen worden, dass Texte in das am östlichen Rand des deutschen Sprachraums befindliche Vorau aufgrund der Verbindung mit dem etwas zentraler in der Steiermark gelegenen Augustiner-Chorherrenstift Seckau gelangten. Letzteres wurde etwa zwanzig Jahre früher als Vorau gegründet und stellte dessen ersten Pröpste Leopold (1163-1185) und Bernhard, die als mögliche ‚literarische Intelligenz‘ hinter der Handschrift namhaft gemacht werden können. Seckau, wo sich auch ein erfolgreiches, ehemals von Bernhard geleitetes Skriptorium befand, unterhielt enge Verbindungen zu anderen Einrichtungen - insbesondere zu St. Florian in Niederösterreich und zum Salzburger Domkapitel. Damit lassen sich weitere Kanäle identifizieren, durch die sich Handschriften und Texte wahrscheinlich bewegten. 24 Unabhängig davon, woher 51 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben Norbert Kössinger und Stephanie Seidl, Berlin/ Boston 2015 (Studien und Quellen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 10), S. 63-90, hier S. 67f., die bezweifeln, dass die Seckauer Handschriften in Seckau selbst hergestellt wurden. Stattdessen, so behaupten sie, wurden sie anderswo in der Passauer Diözese angefertigt und dann nach Seckau gebracht - eine These, die noch weitere Netzwerke eröffnet, über die sich Texte bewegen könnten. 25 Vgl. Stephan Müller, „Fragmente, die keine sind: Zu einem besonderen Status von Teilüberlieferung deutscher Texte im frühen Mittelalter“, in: Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissen‐ schaften, hg. von Kay Malcher u. a., München 2013 (MittelalterStudien 28), S. 69-73. 26 Grubmüllers Untersuchung der Schreibpraxis der Vorauer Handschrift (wie Anm. 12) hat gezeigt, dass die kürzeren religiösen Gedichte in der zweiten Hälfte der Handschrift besonders im Vergleich zur Kaiserchronik eine andere Vorlagensituation hatten - und vielleicht daher auch andere Überlieferungs‐ tendenzen im Allgemeinen. genau die Texte ursprünglich stammten, deutet die Vorauer Handschrift (wie andere zeitgenössische Sammelhandschriften) auf eine gut vernetzte monastische Landschaft hin, in der die Texte über weite Strecken hinweg zirkulieren konnten. Das sich in der Vorauer Handschrift abzeichnende Sammelkonzept deutet also darauf hin, dass diese (wie auch andere Sammelhandschriften) literarische Kultur nur sehr partiell zur Darstellung bringt. Es zeigt sich, was zugleich fehlt: Netzwerke, die nur unvollständig rekonstruierbar, Überlieferungsformen, die nur erahnbar, literarische Praktiken, die nur hypothetisch erschließbar sind. Diese Handschrift bildet nur einen Teil eines jeden Textes, den sie überliefert, ab. Unter diesen gegebenen Voraussetzungen soll nunmehr zum Fallbeispiel der sog. Vorauer Sündenklage übergeleitet werden und damit zu der anderen Handschrift, in der dieser Text überliefert ist: dem bereits erwähnten Zwettler Codex. Dieses Überliefe‐ rungsmuster einer vollständigen Form in einer Sammelhandschrift und einer unvollständigen oder fragmentarischen Gestalt als Nachtrag in einer etwas älteren lateinischen Handschrift ist für kürzere religiöse Gedichte der sog. frühmittelhochdeutschen Zeit nicht ungewöhnlich. 25 Das soll freilich nicht heißen, dass der Fall der Vorauer Sündenklage als solcher repräsentativ ist - und natürlich auch nicht, dass die vom Schreiber der Vorauer Handschrift benutzte Vorlage so wie die Zwettler Handschrift aussah (denn letztere kann auf keinem Fall als Vorlage des Vorauer Codex angesehen werden). 26 Wie schon angedeutet, ist die in der Vorauer Handschrift fassbare Sammelpraxis nur ein Knotenpunkt auf dem vermutlich sehr gewundenen Weg der Geschichte eines einzelnen Textes. Eine detaillierte Untersuchung der Zwettler Handschrift sollte mithin dabei helfen, ein vollständigeres Bild der literarischen Landschaft zu erstellen, von der die Vorauer Handschrift nur einen Teil bildet. II Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 73 Cod. 73 ist eine viel benutzte Hrabanus Maurus-Handschrift des späten zwölften Jahrhunderts aus dem Zisterzienserstift Zwettl mit verschiedenen Notizen und Federproben auf den leeren Blättern am Anfang und Ende (alle in Händen des 12. Jhs.). Die Federproben sind hauptsächlich - wie erwartet - eine Sammlung von Buchstaben, einzelnen Wörtern, Kritzeleien, aber es gibt auch ein Salve Regina, zwei Iterationen eines lateinischen Verstexts (Dives ait) in zwei verschiedenen Händen und drei Iterationen der Anfangsverse der Vorauer Sündenklage in drei verschiedenen Händen, was ein äußerst interessantes Überlieferungsphänomen darstellt. In beiden Handschriften, in denen der Text überliefert ist, bildet die Vorauer Sündenklage also in 52 Sarah Bowden 27 Die Unterschiede zwischen Hand 1 und dem Text der Vorauer Handschrift sind folgendermaßen: gestate (Zw) vs. nu gestade (V, V. 2); ensliuz vs. insliuz (V. 4); biten chunne vs. bitten kunne (V. 6), gimmir vs. gib du mir (V. 6); du bist vs. du da bist (V. 8); reiniu muter wariu maget vs. wariu muoter reiniu maget (V. 9); hilphe wis du vs. helve wis (V. 10); wand ich von vs. ich han von (V. 11); han verworht vil harte vs. verlorn also harte (V. 13). 28 Abkürzungen aufgelöst. gewisser Hinsicht den Teil einer ,Sammlung‘: Auf der einen Seite steht sie in der sorgfältig geplanten, kohärenten Zusammenstellung der Vorauer Handschrift; auf der anderen Seite unter den eher regellosen Federproben des Zwettler Codex, wo ,Sammlung‘ als eine loses Konglomerat von Aufzeichnungen unterschiedlicher Hände zu gelten hat. Weil diese Handschrift in der Forschung bislang kaum Berücksichtigung gefunden hat, lohnt es sich, die drei Federproben der Vorauer Sündenklage detailliert zu beschreiben. Oben auf Bl. 117r - dem hinteren-Spiegelblatt - findet sich die längste Fassung des deutschen Textes, von Hand 1 geschrieben (Abb. 2). Dieser Text, der sich nur geringfügig von jenem in der Vorauer Handschrift unterscheidet, wird fortlaufend über die Seite geschrieben. 27 Es gibt keine Majuskeln, aber die Enden der Verse werden mit punctus markiert: D(omi)ne labia mea aperies . gestate herre mir des . daz din lop gesprechen mege . minen munt ensliuz un(d) phlege . der werche miner zungen . daz ich dich biten chunne . daz gimmir heiliger crist . s(an)c(t)a maria du bist . v.reiniu muter wariu maget . in mine hilphe wis du geladet . wand ich von minen schulden . des oberosten hulde . han ver worht vil harte .  28 Von derselben Hand wurde unten die längere Fassung des lateinischen Textes Dives ait eingetragen, auch mit punctus, aber hier mit einer Majuskel am Anfang eines jeden Verses. Die zweite Fassung des deutschen Textes befindet sich direkt unter diesem lateinischen Hymnus (Abb. 2). Sie wurde von Hand 2 geschrieben und umfasst die ersten zwei Verse, hier ohne punctus. Der Text ist ansonsten identisch mit jenem von Hand 1, außer dass im ersten Vers anders abgekürzt wurde: Domine labia mea ap(er)ies gestate herre mir des Die Fassung von Hand 3 folgt ganz unten am Bl. 116v (Abb. 1): Hier sieht der Text anders aus. Es gibt den punctus vor und nach dem zweiten Vers, aber ansonsten wird der Text in Versen geschrieben: D(omi)ne labia m(e)a aperies . geste herre mir des . daz ich din lop gesprechen mege mit mine(m) munt entsliuz und phlege der wergh Diese Präsentation, zusammen mit der Einführung der Präposition ,mit‘, ändert die Be‐ deutung des Textes in Nuancen. Während man den Text von Hand 1 folgendermaßen übersetzen könnte: ,Herr, öffne meine Lippen! / Herr, gib mir das, / dass [ich] dein Lob aussprechen mag. / Öffne meinen Mund und pflege / die Werke meiner Zunge‘, wäre eine passendere Übersetzung des Textes von Hand 3: ,Herr, öffne meine Lippen! / Herr, gib mir das, / dass ich dein Lob aussprechen mag mit meinem Mund. / Öffne und pflege die Werke […].‘ Eine solche visuelle Trennung in Versen wie bei Hand 3 ist zu dieser Zeit für 53 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben 29 Vgl. Nigel F. Palmer, „Manuscripts for Reading. The Material Evidence for the Use of Manuscripts Containing Middle High German Narrative Verse“, in: Orality and Literacy in the Middle Ages. Essays on a Conjunction and its Consequences in Honour of D.H. Green, hg. von Mark Chinca und Christopher Young, Turnhout 2005 (Utrecht Studies in Medieval Literacy 12), S. 67-102, bes. S 77; ders., „Vernacular Manuscripts II: Germany“, in: The European Book in the Twelfth Century, hg. von Erik Kwakkel und Rodney Thomson, Cambridge 2018, S. 327-344, bes. S. 336f. 30 Für Ausgaben der verschiedenen Versionen des Gedichts vgl. Ludwig Bertalot, Studien zum italieni‐ schen und deutschen Humanismus, hg. von Paul Oskar Kristeller, Bd. 1, Rom 1975 (Storia e Letteratura 129), S. 159f. Alle Handschriften, die das Gedicht beinhalten, werden von Walter aufgeführt: Hans Walther, Alphabetisches Verzeichnis der Versanfänge mittellateinischer Dichtungen, Göttingen 2 1969 (Carmina Medii Aevi Posterioris Latina 1), Nr. 4614, Dives ait: Si nobilitas mea magna, quid inde? . Laut Bertalot (S. 159) befindet sich die älteste Version des Gedichts in München, Bayer. Staatsbibl., Clm 17212 (12. Jh.; Catalogus codicum latinorum Bibliothecae Regiae Monacensis, hg. von Karl Halm u. a., Bd. 4,3, München 1878, S. 87-89). Er kennt weder die Zwettler Handschrift noch die Version des Gedichts, die sich als Federprobe in Oxford, Bodleian Library, MS 342 (Bl. 218v) in einer Hand der ersten Hälfte des 12. Jh.s befindet. Vgl. Erik Kwakkel, „Hidden in Plain Sight: Continental Scribes in Rochester Cathedral Priory, 1075-1150“, in: Writing in Context. Insular Manuscript Culture 500-1200, hg. von Erik Kwakkel, Leiden 2003 (Studies in Medieval and Renaissance Book Culture), S. 230-261, hier S. 250. Kwakkel behauptet, dass der Schreiber dieser Federprobe, der in Rochester arbeitete, ursprünglich aus Deutschland kam. 31 Vgl. Palmer, „Vernacular Manuscripts“ (wie Anm. 29), S. 341: „[T]he dominant twelfth-century phenomenon of a bilingual literary culture becomes most immediately visible“ in lateinischen Handschriften mit deutschen Nachträgen. Ferner Christine Putzo, „Mehrsprachigkeit im europäi‐ schen Kontext. Zu einem vernachlässigten Forschungsfeld interdisziplinärer Mediävistik“, in: Mehr‐ sprachigkeit im Mittelalter. Kulturelle, literarische, sprachliche und didaktische Konstellationen in europäischer Perspektive. Mit Fallstudien zu den ‘Disticha Catonis’, hg. von Michael Baldzuhn und Christine Putzo, Berlin/ New York 2011, S. 3-34. 32 Vgl. Bernhard Bischoff, „Elementarunterricht und Probationes Pennae in der ersten Hälfte des Mittelalters“ in. ders., Mittelalterliche Studien. Ausgewählte Aufsätze zur Schriftkunde und Literaturge‐ schichte, Bd. 1, Stuttgart 1966, S. 74-87, hier S. 77; ferner Kurt Gärtner, „Der Anfangsvers des Gregorius Hartmanns von Aue als Federprobe in der Trierer Handschrift von Konrads von Würzburg Silvester“, einen deutschen Text höchst ungewöhnlich - vielleicht sogar einzigartig. 29 Für lateinische Verstexte ist ein solches Layout aber durchaus üblich und es fällt auf, dass die zweite, von einer vierten Hand geschriebene, Iteration des lateinischen Dives ait ebenfalls in Versen geschrieben ist (Bl. 116v, Abb. 1). Auf diesen Blättern exisitiert also kaum ein Unterschied zwischen dem Status von Deutsch und Latein. Es gibt aber auch keinen klaren thematischen Zusammenhang zwischen den deutschen Versen und dem lateinischen Dives ait; bei letzterem handelt es sich um ein kurzes Versgedicht über die Nichtigkeit weltlichen Reichtums, das in verschiedenen Formen in Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts vorkommt, jedoch an keiner anderen Stelle zusammen mit einem deutschen Text. 30 Die Kombination und gemeinsame Behandlung des lateinischen und des deutschen Textes in diesem Zusammenhang verdeutlichen jedoch die Mehrsprachigkeit des monastischen Lebens im 12. Jahrhundert. 31 Obwohl es nicht überraschend ist, einen deutschen Text in untergeordneter Position in einer lateinischen Handschrift zu finden, erstaunt es hier, ihn als Federprobe zu finden, zumal in drei verschiedenen Händen. Federproben bieten in der Regel Ausschnitte aus der Liturgie, aus Psalmen, Sprichwörtern oder anderen bekannten Textstücken, die der Schreiber im Kopf hatte und in Erinnerung rufen konnte, um seine Feder zu testen oder seine Schrift zu üben. 32 In dieser Hinsicht ist es wichtig, dass der erste Vers des deutschen 54 Sarah Bowden in: Literatur - Geschichte - Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrup, Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 105-112. 33 Vgl. Robert Stroppel, Liturgie und geistliche Dichtung zwischen 1050 und 1300, Frankfurt 1927 (Deutsche Forschungen 17), S. 67f. 34 Vgl. Oskar Pausch, „Am Beispiel Zwettl: Beiträge zur deutschen geistlichen Literatur des Mittelalters im Stift Zwettl“, in: Kuenringer-Forschungen, hg. von Andreas Kusternig und Max Weltin, Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N. F. 46/ 47 (1980/ 81), S. 400-423, hier S. 402-406. 35 Es gibt drei Zwettler Handschriften, die deutsche Glossen des 12. Jhs beinhalten (Cod. 1, Cod. 49, Cod. 95); eine Handschrift, auf deren Bindung Fragmente einer deutschen Homilie des 12. Jhs. geschrieben wird (Cod. 285); und eine Handschrift mit einer deutschen Federprobe in einer Hand von ca. 1200 (Cod. 293). Vgl. Rolf Bergmann und Stefanie Stricker, Katalog der althochdeutschen und altsächsichen Glossenhandschriften, Bd. 4, Berlin/ New York 2005, S. 1925-1931 (Nr. 1020, 1021, 1022a); Charlotte Ziegler, Zisterzienserstift Zwettl: Katalog der Handschriften des Mittelalters. Teil III: Codex 201-300, Wien/ München 1989, S. 208-211; 227-231. Zu Cod. 285 auch Pausch (wie Anm. 34), S. 407. 36 Vgl. Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 1992. Textes sowohl hier als auch in der Vorauer Handschrift ein lateinisches Psalmenzitat (Ps 50,17) enthält und außerdem ein Zitat, das auch in der Tagzeitenliturgie als versus apertionis verwendet wird: Domine labia mea aperies. 33 Dieser Vers erscheint noch zweimal für sich auf Bl. 116v und ist in beiden Fällen teilweise ausgerieben oder herausgekratzt worden; das Wort domine (oder dominus) kommt darüber hinaus mehrmals in verschiedenen Händen auf Bl. 116v-117r vor. Es ist also sicher plausibel, dass es einem Schreiber einfiel, den Psalmvers als eine Federprobe zu benutzen, und dass dieser Vers dann als Gedächtnisauslöser für den deutschen Text fungierte. Aber warum werden die deutschen Verse von drei verschiedenen Händen geschrieben? Eine mögliche Erklärung hierfür ist die Tatsache, dass die längste Fassung sowohl des deutschen Textes als auch des Dives ait in derselben Hand (Hand 1) geschrieben ist. Welche der vielen Hände der Federproben die früheste war, lässt sich nicht feststellen, aber möglicherweise war Hand 1 - mit der längsten Fassung - die erste, deren beide Texte dann von anderen Schreibern kopiert wurden. Die leicht abweichende Fassung von Hand 3 lässt diese Hypothese jedoch bereits wieder in Zweifel ziehen: Denn warum sollte man den Text so ändern, wenn dieser nur zum Testen einer Feder oder als Schreibübung kopiert wurde? Jedenfalls deuten diese Federproben darauf hin, dass der Text in der ein oder anderen Weise aktiv in Zwettl verwendet wurde. Wie genau, bleibt dabei unsicher. Es gab ein große Anzahl von Laienbrüdern und adligen conversi im Zisterzienserorden, aber ihr Status ist unklar und über die pastoralen Pflichten der Zwettler Mönche zu dieser Zeit relativ wenig bekannt. 34 Die Produktion von volkssprachigen Texten in Zwettl im späten 12. Jahrhundert ist außerdem relativ schlecht belegt. 35 Doch waren diese Verse mindestens einem und vielleicht sogar drei Schreibern im Gedächtnis. Die Unterschiede zwischen den Fassungen der Hände 1 und 3 zeigen, dass der Wortlaut dieser deutschen Verse flexibel und im ständigen Fluss war: Entweder hatten die Schreiber divergierende Vorstellungen vom Text oder ihre Praxis des Kopierens schloss die gleichzeitige Überarbeitung des Textes mit ein. Wie Mary Carruthers überzeugend gezeigt hat, war die Praxis der memoria in mittelalterlichen Klostergemeinschaften keinesfalls unkreativ. 36 Möglicherweise erlernten die Zwettler Mönche den deutschen Text, um ihrerseits die Laien zu belehren, doch impliziert ein solcher Prozess, dass die Mönche über den Text nachgedacht haben. In diesem 55 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben 37 Vgl. ähnlich Pausch (wie Anm. 34), S. 403. 38 Das Anegenge, hg. von Dietrich Neuschäfer, München 1969 (Altdeutsche Texte in Kritischen Ausgaben 1), V. 1-8: Domine, labia mea aperîes! / nû gestate mir hêrre got des, / daz ich dîn lop gesprechen mege. / habe mîne zunge in dîner phlege / und die rede von mînem munde: / wan ob ich illiu buoch chunde, / sô wære mir der rede ze vil, / der ich hie beginnen wil. 39 Vgl. dazu Stephan Müller (wie Anm. 25), S. 69-73. 40 Vgl. Clifford (wie Anm. 4), S. 214-251. Sinne bieten die Zwettler Federproben Beweis für die Institutionalisierung und kreative Bearbeitung eines volkssprachigen Textes innerhalb einer lateinischen Gemeinschaft. Mit dieser Beobachtung ist ein weiterer wichtiger Punkt verknüpft: Obwohl sich insbeson‐ dere der Text von Hand 1 wenig vom Anfang der Vorauer Sündenklage in der Vorauer Hand‐ schrift unterscheidet, ist nicht automatisch davon auszugehen, dass es sich hier um Versionen des ,gleichen Textes‘ handelt. Die Verse, die von den Händen 1 und 3 geschrieben wurden, könnten durchaus als eigenständige Einheiten fungieren, z. B. als ein kurzes Einführungsgebet, das an eine Vielzahl verschiedener Äußerungen angehängt werden konnte. 37 Es fällt auf, dass die ersten drei Verse der Texte in beiden Handschriften am Anfang eines (wahrscheinlich etwas späteren) frühmittelhochdeutschen Gedichts, des Anegenge, wieder auftauchen. 38 Es ist also anzunehmen, dass die Texte der Hände 1 und 3 nicht als ,Fragmente‘ oder als ,Teil‘ einer Version der Vorauer Sündenklage zu verstehen sind, sondern eher als vollständige Äußerungen für sich, die einen kreativen und flexiblen Umgang mit der Volkssprache belegen. Diese Verse sind fast unendlich anpassungsfähig, und es ist durchaus möglich, dass sie als Ausgangspunkt für volkssprachige Gedichte oder Predigten gedient haben, die möglicherweise wie die Vorauer Sündenklage aussahen und höchstwahrscheinlich eine didaktische Funktion hatten. Die Tatsache, dass sie hier in leicht abweichender Form niedergeschrieben sind, beweist diese Art der kreativen Praxis in der Schriftlichkeit: Bei diesen Federproben handelt es sich nicht um eine Form des Schreibens, die darauf abzielt, einen Text für ein künftiges Publikum aufzubewahren oder aufzuzeichnen, sondern eher um Spuren einer aktiven, flexiblen Praxis volkssprachiger Textproduktion. 39 III Schlussbetrachtung Der Anthropologe James Clifford diskutiert die kulturelle Sammelpraxis von Kunst und kulturellen Objekten - insbesondere im ethnografischen Kontext - hinsichtlich der Art und Weise, in der Sammlungen Formen von Inklusion bzw. Exklusion abstecken und damit Gruppen und Gemeinschaften bilden. 40 Es sei problematisch einfach, so argumentiert er, eine Sammlung als eine ,Illusion einer angemessenen Repräsentation‘ („illusion of adequate representation“) zu betrachten, ohne zu beachten, dass eine Sammlung immer auch als eine Art der Sinnstiftung funktioniert. Ein Museum etwa sei a scheme of classification […] elaborated for storing or displaying the object so that the reality of the collection itself, its coherent order, overrides specific histories of the object’s production and appropriation […] The making of meaning in museum classification and display is mystified as 56 Sarah Bowden 41 Ebd., S. 220. In dieser Argumentation folgt er Susan Stewart, On Longing. Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Durham/ London 1993, S. 151-169. 42 Vgl. https: / / handschriftencensus.de/ 5700. Die Handschrift beinhaltet auch als Nachtrag ein deutsches memento mori-Gedicht. 43 Vgl. Eckart Conrad Lutz, „Literaturgeschichte als Geschichte von Lebenszusammenhängen: Das Beispiel des Ezzo-Liedes“, in: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisième Cycle Romand 1994, hg. von Eckart Conrad Lutz, Freiburg (Schweiz) 1997 (Scrinium Fiburgense 8), S. 95-145; Stephan Müller, „Willkomm und Abschied: Zum problematischen Verhältnis von ,Entstehung‘ und ,Überlieferung‘ der deutschen Literatur des Mittelalters am Beispiel von Ez‐ zolied, himelrîche und ,Vorauer Handschrift‘“, in: Regionale Literaturgeschichtsschreibung. Aufgaben, Analysen und Perspektiven, hg. von Helmut Tervooren und Jens Haustein, Sonderheft zum ZfdPh 122 (2003), S. 230-245, hier S. 231-234; Norbert Kössinger, „Neuanfang oder Kontinuität? Das Ezzolied im Kontext der deutschsprachigen Textüberlieferung des Frühmittelalters. Mit einem diplomatischen Abdruck des Textes nach der Vorauer Handschrift“, in: Deutsche Texte der Salierzeit. Neuanfänge und Kontinuitäten im 11. Jahrhundert, hg. von Stephan Müller und Jens Schneider, München 2010 (MittelalterStudien 20), S. 129-160. 44 Die Verwendung der Pluralform ist hier wichtig (Zusammenhängen), da dies impliziert, dass das ,Leben‘ von Texten instabil und veränderlich ist und dass jede Version entsprechend den spezifischen (inkonstanten) Kontexten, in denen sie existiert, gelesen werden sollte. adequate representation. The time and order of the collection erase the concrete social labor of its making. 41 Auch wenn Handschriften keine Museen sind und sie in der Regel keine ethnografische Identitätsbildung gewährleisten, kann Cliffords Betrachtungsweise dabei helfen, zu be‐ greifen, dass der Status bestimmter Handschriften als Sammlungen diesen einen beson‐ deren Sinn verleiht, der fälschlich als Indiz des kulturellen Moments der handschriftlichen Produktion angesehen wird. Eine Analyse der Überlieferung der Vorauer Sündenklage führt zu dem Schluss, dass es unmöglich ist, Text und Überlieferung zu trennen. Dies ist freilich kein radikal neuer Schluss, erst recht nicht für die religiösen Dichtungen der frühmittelhochdeutschen Zeit. Im Fall des Ezzolieds etwa, das in zwei Fassungen in der Vorauer Handschrift und in einer Handschrift der Moralia in Job aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms. 1) 42 überliefert ist, hat man den Versuch aufgegeben, ein ,Original‘ wiederherzustellen. Stattdessen wird argumentiert, dass jede Handschrift eine autonome, kontextbezogene Fassung des Textes enthält, die als eigenstän‐ diges Artefakt zu verstehen ist 43 - mit einem von Eckart Conrad Lutz geprägten Terminus geht es darum, Texte nach ihren ,Lebenszusammenhängen‘ zu interpretieren. 44 Wie in den vorliegenden Ausführungen gezeigt worden ist, erweist sich ein solcher Interpretationsmodus als noch dringender, wenn man Handschriften wie den Vorauer Codex im Hinblick auf die dahinterliegende Sammelpraxis untersucht. Wenn auf diese Weise Sammelpraxis betont wird, ermutigt dies dazu, Handschriften synchron und dia‐ chron zu betrachten - nicht nur als statische, sondern als in den Lauf der Geschichte eingebundene Objekte. Die Vorauer Handschrift ist in ihrer Eigenart zeitlich sowohl vorwärts als auch rückwärts gerichtet: sie weist zurück auf die Verfassung, Bewegung und Sammlung von Texten, steht aber gleichzeitig am Beginn der Tradition der volkssprachigen Handschriftenproduktion und weist damit voraus auf einen neuen literarischen Status der Volkssprache. Sie wirkt als Ausgangspunkt der Tradition einiger Texte, die sie überliefert 57 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben - der Kaiserchronik, des Alexanders -, aber auch als Endpunkt der meisten anderen, die in keinen späteren Handschriften mehr zu finden sind. Sammeln bedeutet also, Texte sowohl quasi archivarisch zu erhalten als auch neu zu gestalten und ihnen neue Impulse zu verleihen, indem sie in die kohärente Organisation und Struktur der Handschrift einbezogen werden. Im Vergleich dazu stellen die Federproben der Zwettler Handschrift eine viel direktere Form von ,Sammlung‘ dar, indem sie die Präsenz einer literarischen Praxis unmittelbar darstellen. Die in diesem Beitrag vorgenommene Konfrontation der repräsentativen Vorauer Handschrift mit den Federproben der abgenutzten Zwettler Hand‐ schrift bietet nicht nur einen Einblick in zwei verschiedene literarische Sammelpraktiken, sondern wirft auch Fragen der textuellen Identität auf. Abbildungen Abb. 1: Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 73, Bl. 116v. 58 Sarah Bowden Abb. 2: Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 73, Bl. 117r. 59 Vorauer Sammlung und Zwettler Federproben 1 Vgl. dazu Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, aus dem Frz. von Gustav Roßler, Berlin 1988; James Clifford, The Predicament of Culture. Twentieth-Century Ethnography, Literature, and Art, Cambridge, MA 1988; und Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 2 Vgl. „Bücherverzeichnis der Elisabeth von Volkenstorff ”, in: Ladies, Whores, and Holy Women. A Sourcebook in Courtly, Religious, and Urban Cultures of Late Medieval Germany, hg., übersetzt und kommentiert von Ann Marie Rasmussen und Sarah Westphal-Wihl, Kalamazoo 2010, S. 97-109. Singen und sammeln Geistliche Liedersammlungen des Spätmittelalters Almut Suerbaum I Sammelhandschriften als Sammlungen Sammeln gehört, so konstatierte das Exposé dieser Tagung im Einklang mit kulturwissen‐ schaftlichen, vor allem aber auch anthropologischen Forschungen, zu den „grundlegenden menschlichen Aktivitäten“. 1 Zugleich aber wird, wenn man die jüngere Forschung kon‐ sultiert, diese Tätigkeit für die europäischen Kulturen des Westens fast immer über ein Narrativ beschrieben, das im genauen Gegensatz zur anthropologischen Grundkonstante des Sammelns steht: die Epoche, in der Formen des Sammelns professionalisiert, sozialisert und zugleich auch säkularisiert werden, ist in diesem Narrativ die Renaissance, und der Sammler par excellence ist der Humanist. Ich benutze die Formulierung hier bewusst, denn in Diskussionen über das Sammeln wird erstaunlich wenig darüber reflektiert, dass in anthropologischen Konstanten auch die Kategorie Sammeln gegendert ist. Sammeln Frauen? Sammeln Frauen anders? Gibt es ‚feminines‘ und ‚maskulines‘ Sammeln? Die spätmittelalterlichen Bücherverzeichnisse der Margarethe von der Pfalz oder Elisabeth von Volkersdorf erinnern daran, dass wir durchaus historische Zeugnisse für weibliche Sammeltätigkeit haben: Frauen besitzen nicht nur Bücher, sondern sammeln sie auch gezielt, begreifen sie als Sammlung, indem sie sie systematisieren, über Verzeichnisse sichern und ordnen. 2 Diese Fragen nach der Kontextbezogenheit von Sammeln spielen daher für diesen Beitrag eine zentrale Rolle und sollen anhand von drei Beispielen exemplarisch vorgestellt werden. Zunächst einige Vorüberlegungen zum Phänomen des Sammelns. Festzuhalten ist erstens, dass das Untersuchen von Sammeltätigkeit, zumal literarischer Sammeltätigkeit, immer ein Meta-Unterfangen ist, das zwar mit dem Sammeln von so genannten ‚Dingen‘, anhand dessen anthropologische und kulturwissenschaftliche Studien in der Regel das Sam‐ meln beschreiben, durchaus Analogien aufweist, sich aber auch wesentlich unterscheidet, 3 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität”, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26. 4 Vgl. den Beitrag von Jürgen Wolf in diesem Band. Zur Terminologie und Typologie der unterschied‐ lichen Formen von Sammelhandschrift Erik Kwakkel, „Towards a Terminology for the Analysis of Composite Manuscripts”, in: Gazette du Livre Médiévale 41 (2002), S. 12-19. 5 Zu den materiellen Überlieferungsbedingungen kleiner Formen vgl. Einleitung und Beiträge des Bandes Die Kunst der ,brevitas‘. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014, in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel und Jan Cölln, Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24). 6 Zu mittelalterlichen Vorstellungen von Salomon als Autor vgl. Mishtooni Bose, „From Exegesis to Appropriation. The Medieval Solomon“, in: Medium Aevum 65 (1996), S. 187-210. da etwa die für James Clifford und Krzysztof Pomian signifikante Unterscheidung zwischen funktionsbestimmten Dingen und gesammelt ausgestellten Semiphoren oder Bedeutungst‐ rägern sich an Zeichengebilden wie Texten nicht ohne Weiteres treffen lässt. 3 Das gilt auch dann noch, wenn Texte nicht deswegen gesammelt werden, weil sie bestimmtes Wissen vermitteln oder thematisch kohärent sind, also als Zeichenträger, sondern weil sie als ‚Ding‘ eine ästhetische oder sinnliche Dimemension haben. Dabei gibt es vielleicht fast so viele Sammlungsprinzipien wie Sammelhandschriften, denn zwischen den lose zusammengebundenen Deckeln einerseits und der durch die Lesegewohnheiten eines Einzelnen bestimmten, individuell zusammengestellten Sammelhandschrift andererseits können je nach Sammlern, gesammelten Texten und Kontext ganz unterschiedliche Formen von Sammlungen entstehen. 4 Bei den in diesem Beitrag vorgestellten Sammelobjekten handelt es sich um Texte, genauer: geistliche Liedtexte, die hier, weil zum Teil wenig bekannt, kurz vorgestellt werden sollen. Lieder gehören zu den so genannten kleinen Formen, was nicht nur ästhetische Qualitäten beschreibt, sondern auch Konsequenzen für die materielle Überlieferungslage hat, denn kleine Formen sind besonders verlustanfällig und haben sehr viel bessere Über‐ lebenschancen, wenn sie in einen größeren Verbund eingeschlossen sind. 5 Schon einer der Gründungstexte westlicher Zivilisationen demonstriert das, die Bibel, dieses Konglomerat unterschiedlichster literarischer Formen und Gattungen. Dort gibt es durchaus Einzellieder: Das alte Testament etwa erzählt im Buch Exodus nicht nur davon, dass die Israeliten nach dem Durchzug durch das rote Meer ein Loblied anstimmen, sondern überliefert auch das Lied (Ex 15); im neuen Testament sind der Lobgesang des Simeon bei der Darstellung im Tempel (Lc 2,29-32) oder der Lobgesang Mariens bei der Verkündigung (Lc 1,46-55) als Liedtexte in die Erzählberichte eingebettet - auch wenn diese Liedtexte seit dem Mittelalter in der Regel in einer aus genau diesem Erzählzusammenhang wieder herausgelösten Re-Kontextualisierung in der Liturgie als Nunc dimittis und Magnificat bekannt sind. Wirkmächtiger als diese Einzellieder sind die Liedsammlungen der Bibel, vor allem das Buch der Psalmen und das Hohe Lied. Beide werden in mittelalterlichen Kommentaren als Liedersammlungen bezeichnet; beide werden zudem einem einzelnen Autor zugeschrieben, der über seine Prominenz auch die Bedeutung der Lieder garantiert - als Lieder Davids oder Salomons. 6 Für die weltliche Liebeslyrik des Hochmittelalters ist bekannt, dass es Prozesse einer vielleicht schrittweisen Zusammenfassung von mehreren Liedern zu Aufführungs- oder später wohl auch Autorrepertoires gegeben haben muss, auch wenn sich diese materiell 62 Almut Suerbaum 7 Gisela Kornrumpf, Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhandschrift. Aspekte der Überlieferung, Formtraditionen, Texte. Bd. 1: Untersuchungen, Tübingen 2008 (MTU 133); vgl. auch Ursula Peters, Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volkssprachigen Bilderhandschriften des 13. bis 16. Jahrhunderts, Köln 2008; Sylvia Huot, From Song to Book. The Poetics of Writing in Old French Lyric and Lyric Narrative Poetry, Cornell 1987, sowie die Beiträge in Manuscripts and Medieval Song. Inscription, Performance, Context, hg. von Eva Elizabeth Leach und Helen Deeming, Cambridge 2015. 8 Die Jenaer Liederhandschrift. Codex - Geschichte - Umfeld, hg. von Jens Haustein und Franz Körndle, Berlin 2010. 9 Vgl. dazu Lorenz Welker, „Die Jenauer Liederhandschrift im Kontext großformatiger liturgischer Bücher des 14. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum“, in: Die Jenaer Liederhandschift (wie Anm. 8), S. 137-148. kaum nachweisen lassen, da uns die Texte meist nur dann vorliegen, wenn sie in größere Sammlungen zusammengefasst worden sind. Wir wissen zudem, dass die Art und Weise, wie solche Korpora weltlicher Lyrik zu Liederhandschriften zusammengefasst werden, im europäischen Kontext je nach Sprache und Zeit ganz unterschiedlich aussehen, zudem auch, dass solche Sammlungen nach je unterschiedlichen Prinzipien strukturiert sind. Das im Codex Manesse und der Weingartner Liederhandschrift bezeugte Prinzip einer Ordnung nach Autorœuvres, die zudem jedenfalls in einem zweiten Schritt der Handschriftenplanung auch nach sozialem Rang angeordnet wurden, unterscheidet sich deutlich von anderen europäischen Literaturen des Mittelalters: französische Chansonniers ordnen ihren Bestand nach Genre beziehungsweise alphabetisch; die okzitanischen Sammlungen kennen keine Bilder, interkalieren allerdings biographische Erzählungen über das Leben der Sänger; die Carmina Burana-Handschrift präsentiert weniger ein Archiv von Texten als eine gezielt zusammengestellte und profilierte Auswahl. 7 Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Romania und der Überlieferung im Mittelhochdeutschen ist zudem, dass es im Deutschen zwar Hinweise auf die Singbarkeit der Texte gibt, aber keine Notation, so dass Melodien wohl als bekannt vorausgesetzt wurden. Anders präsentiert sich eine der großen Handschriften, die man als einen Typ einer geistlichen Liedersammlung an den Anfang dieser Reihe setzen könnte: die Jenaer Lieder‐ handschrift, die in ihrem noch erhaltenen Umfang mit einer geistlichen Kontrafaktur auf Walthers Leich einsetzt und Liedsammlungen des Sangspruchs nach Tönen geordnet aufzeichnet. 8 Anders als die Sammlungen weltlicher Lieder des Hoch- und Spätmittelalters ist sie durchgehend notiert, auch wenn es durchaus Forschungskontroversen über die Bedeutung dieser musikalischen Notation gibt. Es mag verlockend sein, aus dem Vorhan‐ densein von Noten auf den Gebrauch zum Singen zu schliessen - doch musikwissenschaft‐ liche Untersuchungen sind mit solchen Schlussfolgerungen eher vorsichtig und weisen darauf hin, dass die durchgehende Notierung im Zusammenhang mit dem Großfolioformat möglicherweise primär Statusmerkmal und nicht Ausweis von Gebrauchsfunktionen sein kann. 9 Allerdings ist zu bemerken, dass die Notierung der ausnahmslos einstimmigen Melodien extrem sorgfältig ist und zudem in der Unterlegung der Texte unter die Melodien auch dort, wo es umfangreiche Melismen gibt, mit großer Sorfgalt und Expertise vorge‐ nommen wurde. Wir haben es also mit einer Sammlung zu tun, deren Prestige auf einen 63 Singen und sammeln 10 Zu möglichen Gönnern vgl. Jürgen Wolf, „J und der Norden. Anmerkungen zu einigen kodikologi‐ schen und paläographischen Indizien“, in: Die Jenaer Liederhandschift (wie Anm. 8), S. 149-162. 11 Vgl. dazu Welker (wie Anm. 8). 12 Johannes Janota, Studien zu Funktion und Typ des deutschen geistlichen Liedes im Mittelalter, München 1968 (MTU 23). hochstehenden Gönner verweist und ohne beträchtliche Infrastruktur nicht realisierbar gewesen wäre. 10 In ihrer Organisation und sozialen Verankerung unterscheidet sich daher die Jenaer Liederhandschrift von den weltlichen Liedersammlungen, doch sind die Ähnlichkeiten ebenfalls offensichtlich. Zwar ist vorauszusetzen, dass dem Concepteur der Jenaer Lie‐ derhandschrift großformatige liturgische Handschriften bekannt gewesen sind, da die Ausstattung und Einrichtung der Handschrift zu ihnen die größte Nähe aufweist. 11 Zudem weist der regionale Interessensschwerpunkt mit Dichtern aus dem norddeutschen Raum und Strophen, die in die unmittelbare Gegenwart der Handschrift fallen, auf andere Schwerpunkte als die der Manessehandschrift mit ihrem ausgeprägt archivalischen Inter‐ esse daran, Liedbestände einer deutlich vergangenen Generation zu sichten und sammeln. Doch dürfte der Auftraggeber der Jenaer Handschrift sozial nicht wesentlich anders zu verorten sein als die Aufraggeber der weltlichen Liedersammlungen - ein weltlicher Hof mit ausreichenden Mitteln und Verbindungen, um Material, Textvorlagen und Schreiber zu finanzieren. Wir haben in der Jenaer Liederhandschrift daher ein Objekt vor uns, das nicht allein aus der Entscheidung eines individuellen Sammlers zu erklären ist, sondern sehr deutlich soziale Netzwerke voraussetzt und reflektiert. Allerdings ist die Jenaer Liederhandschrift zwar eine Liedersammlung, doch durchaus nicht ohne Weiteres eine geistliche Liedersammlung, denn ihr Interessensschwerpunkt ist der Spruchsang. Viele Strophen thematisieren geistliche Fragen, sei es theologischer, sei es allgemein moraldidaktischer Natur, doch eint sie eher die ästhetische Form der komplexen Spruchstrophe als der Inhalt - und diesen formalen Schwerpunkt reflektiert auch die Organisation der Handschrift, die die Lieder nach Tönen und nicht etwa thematisch ordnet. Um die Anfänge der im engeren Sinne geistlichen volkssprachigen Liedersammlungen dagegen gibt es seit Beginn der Germanistik Auseinandersetzungen, die in ebenfalls cha‐ rakteristischen Bahnen verlaufen: Luther selbst, ein Champion der Selbstinszenierung und Gründungsmythen, insinuiert einen Kontrast zwischen volkssprachigem und lateinischem Gesang und beansprucht, mit seinen singbaren Psalmübersetzungen der Begründer des deutschen Gemeindeliedes zu sein. Dass das so nicht stimmt, ist jedem bewusst, der einmal eine spätmittelalterliche Sammelhandschrift in der Hand gehalten oder aber in einem geist‐ lichen Spiel geblättert hat. Johannes Janota hatte eine Untergruppe, nämlich volkssprachige Lieder, von denen er plausibel macht, dass sie liturgisch verwendet worden sind, untersucht und nach Typen beschrieben. 12 Darauf aufbauend hat die Arbeit Judith Thebens eine andere, ebenfalls spezielle Untergruppe gesichtet, nämlich Lieder, die sie aufgrund ihres Vokabulars oder der Themen als ‚mystisch‘ bezeichnet. In beiden Fällen kommen die Untersuchungen dieser Spezialfälle zu dem Ergebnis, das sehr viele Lieder mehrfach überliefert sind, es sich also nicht um spontane Kompositionen isolierter Einzelner handelt. Um solchen Überlieferungskontexte besser in den Griff zu bekommen, möchte ich im Folgenden drei ganz unterschiedliche Typen von Sammlungen aus dem Umfeld geistlicher 64 Almut Suerbaum 13 Basel, Universiätsbibl., B XI 8; Digitalisat https: / / www.e-codices.unifr.ch/ en/ list/ one/ ubb/ B-XI-0008 [Zugriffe hier und im Folgenden am 18.4.2020]. Vgl. Peter Kesting, „Die deutschen lyrischen Texte in der Basler Handschrift BXI 8“, in: Überlieferungsgeschichtliche Editionen und Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters. FS Kurt Ruh, hg. von Konrad Kunze. Johannes G. Meyer und Bernhard Schnell, Tübingen 1989 (Text und Textgeschichte 31), S. 32-58, und demnächst Almut Suerbaum, Vom Lied der Liebe zur Lyrik. Freiburger Gastprofessur für Germanistische Mediävistik 2017 (Scrinium Friburgense, in Vorbereitung). Liedproduktion vorstellen: eine Handschrift aus Basel, das so genannte St. Katharinentaler Liederbuch sowie das so genannte Liederbuch der Anna von Köln. II Die Basler Liedersammlung Mein erstes Beispiel ist die in Teilen um 1300 enstandene so genannte Basler Liedersamm‐ lung, welche recht heterogenes Material miteinander verbindet. 13 Es handelt sich dabei nicht ausschließlich um Lieder, sondern auch geistliche Prosa. Nach Ausweis der Signatur befand sie sich spätestens im 15. Jahrhundert in der Kartause Basel, auch wenn sie dort nicht entstanden ist, und war seit dem 17. Jahrhundert Teil der Büchersammlung des Remigius Fäsch in Basel. Bekannt ist die Handschrift unter Germanisten, weil sie einzelne mittelhochdeutsche Strophen im Rahmen eines sonst deutlich lateinisch geprägten Überlieferungsumfeldes ent‐ hält, darunter eine Waltherstrophe sowie eine Spruchstrophe Konrads von Würzburg. Ko‐ dikologisch handelt es sich um eine kohärente, von höchstens zwei Schreibern ausgeführte, kleinformatige Handschrift. Wenn sie als Basler Liedersammlung bezeichnet wird, dann hebt das hervor, dass die Handschrift nicht nur, wie die weltlichen Liedersammlungen des Codex Manesse, Texte überliefert, sondern auch Melodien, deren Notation Spezialkenntnisse in der Verschriftlichung erfordert. Die Bezeichnung als Liedhandschrift macht allerdings auch deutlich, dass für moderne Betrachter das hervortretende Kohärenzmerkmal der Sammlung die Verwendung liedhafter Formen ist, wogegen bei der Zusammenstellung der Texte und Handschriftenteile womöglich thematische Schwerpunkte im Vordergrund standen: der Band versammelt Weltabsage in Lied, Prosa und Merkvers; reflektiert über Buße und Beichte in deskriptiven sowie performativen Modi. Zudem setzt die Handschrift in ihrer Anlage Vertrautheit mit lateinischen sowie volkssprachigen Formen voraus. Wir wissen, dass die Handschrift im 15. Jahrhundert Aufnahme in die Bibliothek der Basler Kartause gefunden hat, wohl, weil sie in ihrer Organisation, aber auch im Mitein‐ ander lateinischer und volkssprachiger Liedformen, dortigen Schwerpunktsetzungen ent‐ sprach. Durch die Zusammenstellung liedhafter Formen mit geistlicher Thematik stiftet die Sammlung Kohärenz über thematische Bedeutungszusammenhänge, etwa im Komplex der Texte zur Buße. Zugleich aber zielt sie auf ästhetische Wirkung, indem sie Liedformen und Merkverse als Formen der Verdichtung nutzt. Sie ist somit erkennbar Produkt einer Kultur, in der sowohl lateinische, vorrangig liturgische wie auch volkssprachige Texte verfügbar sind, und verbindet beide Elemente zu neuen Formen. Sammeln ist im Rahmen dieser Handschrift ein ästhetisches Prinzip, das sich nicht einer einzelnen Autorfigur zuschreiben lässt, dennoch aber Bedeutung stiftet, indem es neu profiliert und zusammenstellt. Sammeln 65 Singen und sammeln 14 Ruth Mayer, Das St. Katharinentaler Schwesternbuch. Untersuchung, Edition, Kommentar, München 1995 (MTU 104); Gisela Kornrumpf bereitet eine Edition des Liederbuches vor. In Ermangelung von Ausgabe oder Digitalisat hat die Forschung die Sammlung bisher weitgehend übersehen; vgl. zur Übersicht über die Liedersammlung Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen - Texte - Repertorium, Berlin/ New York 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2), S. 120-123. 15 St. Katharinentaler Schwesternbuch (wie Anm. 14), Vita 22: Adelheit die Rittrin, S. 106f., hier S. 106. 16 Ebd., Vita 27d, anonym, S. 110. ist auch in dieser Handschrift nicht das Archivieren inerter Traditionsbestände, sondern vielmehr Ausweis eines kulturell geformten Umgangs mit Texten und Melodien. III Die St. Katharinentaler Liedersammlung Unter den geistlichen Liedern gelten solche, die sich im Hinblick auf Inhalt und Diktion im Umfeld mystischer Theologie verorten lassen, als Sonderfall, bieten aber zugleich ein interessantes Beispiel dafür, wie literarische Netzwerke funktionieren. Die Dominikaner‐ innenkonvente spielen dabei eine besondere Rolle, auch wenn sie nach neueren Ergebnissen vielleicht nicht der Enstehungsort der in ihrem Umkreis zahlreich überlieferten geistlichen Lieder sind, wie noch Ruth Mayer vermutete. 14 Diese Konvente stellen einen wichtigen Überlieferungsschwerpunkt dar, an dem sich klösterliche Sammeltätigkeit beobachten lässt. Ruth Meyer hat untersucht, wie in St. Katharinental ein Prozess der Identitätsstiftung verlief, in dem über das Schwesternbuch und die Aufzeichnung der Viten einzelner Schwestern eine Gemeinschaft als Sammelinstanz auftritt. Die auf das erste Drittel des 15. Jahrhunderts zu datierende Sammlung dokumentiert die Distanz zur Vergangenheit, indem sie eine Gründungsgeschichte des Konventes über die Viten der ersten Priorinnen entwirft, zugleich aber betont das Schwesternbuch, dass sich diese Aura der Vergangenheit bis in die Gegenwart erstreckt. Als Einzeltexte sind diese Viten oft belächelt und als schlicht und literarisch anspruchslos eingeschätzt worden. Dennoch dokumentieren sie eindrucksvoll, dass in einer Sammlung die Summe mehr ist als die Addition der Einzelteile, denn die Kumulation von Viten erlaubt es, zentrale Anliegen der Ordensgemeinschaften zu artikulieren und inszenieren. Dazu gehören das Leben im Gehorsam sowie die Ausein‐ andersetzung mit Eucharistie und Visionsbzw. Auditionsbegnadungen. Doch deutlich ist auch, welch große Bedeutung das gemeinsame Singen hat, das immer wieder im Rahmen der kurzen Vitenerzählungen thematisiert wird. Dabei sind unterschiedliche Funktionen zu beobachten: liturgischer Gesang dient der Einordnung in die gemessene Zeit des Kirchenjahres, so zum Beispiel, wenn ein Ereignis datiert wird an dem andern sunnentag in dem advent do man den respons sang in der metti ‚Ecce dominus protector‘. 15 An anderen Stellen wird das Singen in seiner Klangschönheit gewürdigt und zugleich in einem Visionsbild als ästhetisches Erlebnis inszeniert: An dem heiligen tag ze winnehten in der metti do sah ein swester, das ein guldini schib herab kam von dem himel in den kor, vnd alle die swestran, die da vssen sungen, die wurden alle dar an geschriben. Vnd do die metti vss kam, so gie die schib wider vff in den himel.  16 66 Almut Suerbaum 17 Frauenfeld, Kantonsbibl. Thurgau, Y 74 (Digitalisat https: / / www.e-codices.unifr.ch/ en/ list/ one/ kbt/ y 074); vgl. Ruth Meyer, „Die St. Katharientaler Liedersammlung. Zu Gehalt und Funktion einer bislang unbeachteten Sammlung geistlicher Lieder des 15. Jahrhunderts”, in: Lied im deutschen Mittelalter. Überlieferung, Typen, Gebrauch. Anglo-German Colloquium Chiemsee 1991, hg. von Cyril Edwards, Ernst Hellgardt und Norbert H. Ott, Tübingen 1996, S. 295-307. 18 Vgl. Almut Suerbaum, „‚Es kommt ein Schiff, geladen‘. Mouvance in geistlichen Liedern“, in: Schreiben und Lesen in der Stadt. Literaturbetrieb im spätmittelalterlichen Straßburg, hg. von Stephen Mossman, Nigel F. Palmer und Felix Heinzer, Berlin/ New York 2012 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 4), S. 99-116. 19 Almut Suerbaum, „Zu einer Poetik geistlicher Sammelhandschriften am Beispiel von Yale, Beinecke Library, Ms. 968”, in: Holznagel/ Cölln (wie Anm. 5), S. 283-298. Wie in den weltlichen Gralserzählungen ist die goldene Scheibe nicht nur visueller Ausweis des Festglanzes am Weihnachtstag, sondern Indiz einer besonderen Gnade, denn sie verewigt die Namen der im Chor singenden Schwestern. Wo andere Texte Demonstrationen des klösterlichen Gehorsams oder aber Akte der Frömmigkeit herausstellen, sind es hier die Stimmen der im Chorraum singenden Nonnen, welche ihnen über die verhallenden Töne ihres Gesangs hinaus eine in der Schrift garantierte Präsenz im Himmel gestatten. Diese besondere Hochachtung des Singens wird in der handschriftlichen Aufzeichnung des St. Katharinentaler (früher: Diessenhofener) Schwesternbuchs nicht nur als Motiv inner‐ halb der Vitenerzählungen inszeniert, sondern manifestiert sich auch als Text, denn eine der Handschriften überliefert im Anschluss an das Schwesternbuch eine Sammlung von geistlichen Liedern, die offenbar in engem Zusammenhang mit dem Schwesternbuch stehen. Wie Ruth Meyer nachgewiesen hat, enthält die Handschrift Y 74 der Thurgauischen Kantonsbibliothek in Frauenfeld nicht nur den ältesten Textzeugen des St. Katharinentaler Schwesternbuches, sondern auch neunzehn Lieder, unter ihnen „zwei Marienlieder, zwei Lieder in Albrecht Leschs Ton des ‚Kurzen Reihen‘, ein geistliches Mailied, sowie eine bislang unbekannte Fassung des bis heute gebräuchlichen Lieds ‚Es kommt ein schiff geladen‘.“ 17 Charakteristisch ist allerdings, dass diese Lieder durchaus nicht alle erst in St. Katharinental entstehen - etliche sind mehrfach überliefert. Ruth Meyer hatte auf die engen literarischen Beziehungen zwischen den oberdeutschen Reformkonventen hingewiesen, die sich auch in der Mehrfachüberlieferung der St. Katharinentaler Liedersammlung spiegeln - so die Dominikanerinnenklöster St. Nikolaus in undis in Straßburg oder Unterlinden in Colmar, aber auch das Augustinerinnenkloster Inzikofen, das mit den Dominikanerinnenkonventen eng vernetzt war. In einigen Fällen allerdings dürften diese Beziehungen über das institutionell etablierte Netz der Reformklöster hinausgehen, denn die ältesten Fassungen einiger Lieder verweisen in städtische Kontexte des 14. Jahrhunderts, auch wenn sie sicher nicht, wie das von späteren Herausgebern vermutet wurde, direkt auf Tauler zurückgehen. 18 Ein Vergleich mit einer von mir an anderer Stelle vorgestellten Sammelhandschrift mit Liedtexten (New Haven, Conn., Yale University, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, MS 968), die aus dem Katharinenkloster in Nürnberg stammt, macht die Besonder‐ heiten der St. Katharinentaler Liedersammlung deutlich. 19 Im Gegensatz zur Nürnberger Sammlung, in der Kohärenz über inhaltliche Verbindungen gestiftet wird, handelt es sich bei der Handschrift aus St. Katharinental um eine Liedersammlung im engeren Sinne, da in ihr die Form als Lied das primäre Kriterium für die Aufnahme in die Sammlung ist. Während 67 Singen und sammeln 20 Claire Taylor Jones, Ruling the Spirit. Women, Liturgy, and the Dominican Reform in Late Medieval Germany, Philadelphia 2018, hier S. 128, unter Rückgriff auf Christian Seebald, „Schreiben für die Reform. Reflexionen von Autorschaft in den Schriften des Dominikaners Johannes Meyer“, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, hg. von Christoph Jürgensesn und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, S. 33-53. daher in der Nürnberger Sammlung liedhafte mystische Texte zwischen Auszügen aus den Revelationes der Birgitta, Dorothea von Montau und Mechthild von Hackeborn eingeordnet sind, enthält die St. Katharinentaler Handschrift im entsprechenden Teil ausschließlich strophische Lieder. Wie zentral das Singen in den Dominikanerinnenkonventen ist, beweisen nicht nur die erhaltenen Handschriften, sondern auch die Zeugnisse zur Bedeutung der Liturgie im Konventsalltag. Der Mitvollzug des Stundengebets und der liturgischen Gesänge setzt Lateinkenntnisse voraus, und noch die Regelungen für Schwestern, welche erst im fortge‐ schrittenen Alter in den Orden eintreten, so dass ein Lateinunterricht nicht mehr sinnvoll oder möglich erscheint, unterstreichen, dass ausreichende Lateinkenntnisse als Regelfall gelten und zum Selbstverständnis der Ordensgemeinschaft gehören. 20 Erkennbar ist anhand der Handschriftenüberlieferung zudem die Bedeutung der Ordensgemeinschaft für die Sammlertätigkeit, da die erhaltenen Textsammlungen wie im Fall der St. Katharinentaler Liedersammlungen nicht einer einzelnen Autorin oder Sammlerin zugeschrieben werden, sondern der Gemeinschaft. Es ist dieses Kollektiv, welches die Voraussetzungen für die Herstellung der Sammlung schafft - und sich zugleich über die Sammlung als Gemeinschaft konstituiert, präsentiert und performativ vergewissert. Dieses Prinzip einer kollektiven Identitätsstiftung durch Sammlertätigkeit ist noch dort wirkmächtig, wo es Generationen später in der Reformbewegung des 15. Jahrhunderts rezipiert wird. Wenn etwa der Reformer Johannes Meyer (1422/ 23-1485) die Schwestern‐ bücher sammelt, redaktioniert und so in überarbeiteter Form für die Nachwelt sichert, bearbeitet er sie mit Blick auf ein Reformprogramm hin. Doch wie Claire Taylor Jones nachweisen konnte, lässt er bei dieser Bearbeitung erstaunlich oft Passagen stehen, die in ihrer Betonung affektiver Frömmigkeitspraktiken eigentlich den Zielen der Reform widersprechen. Wir sehen also die Überlieferung der Lieder in den Dominikanerinnen‐ konventen vornehmlich durch das Prisma der frühneuzeitlichen Sammler wie Johannes Meyer oder Daniel Sudermann, die zu konventionellen Autorzuschreibungen, so etwa an Johannes Tauler, zurückkehren, ohne dass dies der Überlieferungslage entspräche. Wie wirkmächtig dieses Prinzip sein kann, ist noch in der Rezeptionsstufe in der Reform nachweisbar: Johannes Meyer sammelt und redaktioniert die Schwesternviten, indem er sie auf ein reformatorisches Programm von Gehorsam, Regelbeachtung und kollektiver liturgischer Praxis hin redaktioniert. Trotz seiner Tendenz, Szenen individueller Begnadung und Visionsdarstellungen zu streichen, hebt Claire Taylor Jones hervor, wie zentral die affektiven Frömmigkeitspraktiken bleiben, auch wenn sie im Sinne der Reform als kollektiv verstanden werden: „For Meyer, the Office engages the whole community in a collaborative 68 Almut Suerbaum 21 Taylor Jones (wie Anm. 20), S. 159. Zur Bedeutung affektiver Praktiken vgl. Eva Schlotheuber, Gelehrte Bräute Christi. Geistliche Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaft, Tübingen 2018 (Spät‐ mittelalter, Humanismus, Reformation 104). 22 Berlin, Staatsbibl. Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. oct. 280; Digitalisat Medieval Music Manusc‐ ripts Online (MMMO) http: / / musmed.eu/ source/ 8814, und digital.staatsbibliothek-berlin.de/ werkan sicht/ ? PPN=PPN719304008. 23 Ebd. Bl. 18v. 24 Vgl. ebd. Bl. 18v: Uns ist geborn ein kyndelyn, d. h. eine volkssprachige, metrische und damit singbare Übertragung des lateinischen Puer nobis nascitur, sowie Bl. 19v: Nun suesse lieff al eynich. performance that strengthens and defines their communal identity within their cloister, within their city, and within the Dominican order.“ 21 Innerhalb dieser recht ambivalenten Auseinandersetzung mit mystischer Praxis kommt den Liedern eine herausragende Bedeutung zu: zwar verpflichtet Johannes Meyer die refor‐ mierten Konvente auf die vorgesehene Liturgie und beschneidet den Wildwuchs affektiver Frömmigkeit und individueller Begnadung, doch finden sich in Handschriften reformierter Kreise immer wieder auch Lieder. Als sekundäres Sammelobjekt der Reformbewegung sind sie allerdings selten wie in der St. Katharinentaler Handschrift zu einer Sammlung vereint, sondern finden sich meist innerhalb der Handschriften versprengt. IV Das Liederbuch der Anna von Köln Was mein drittes Beispiel mit dem ihm vorangehenden teilt, ist das ungewöhnlich kleine Handschriftenformat: wie die Basler Liedersammlung ist auch die Berliner Handschrift Ms. germ. oct. 280 nur handtellergroß. 22 In der Literatur wird sie als Liederbuch der Anna von Köln bezeichnet, was wie viele solcher Bezeichnungen so schlagkräftig wie problematisch ist, da die Handschrift zwar nach dem Besitzvermerk auf dem Vorsatzblatt einer Anna von Köln gehört hat, aber sicher nicht von ihr geschrieben oder zusammengestellt ist. Wie in der älteren Basler Handschrift mischen sich lateinische mit volkssprachigen - hier meist: ripuarischen, gelegentlich auch mittelniederländischen - Texten; anders als in der St. Katharinentaler Sammlung, aber vergleichbar mit der Basler Sammlung werden einige der Lieder mit Noten aufgezeichnet. Für zwei lateinische Stücke ist zudem eine zweistimmige Fassung notiert, und zwar so, dass erst der Tenor, dann der Conductus in einem anderen Schlüssel aufgezeichnet wird. Trotz des kleinen Formats und der geringen Ausstattung haben wir es also mit einer Schreiberin zu tun, die mit der spezialisierten Technik des Notenschreibens ausreichend vertraut war. Auch dort, wo keine Noten beigegeben sind, ist die Melodie an einigen Stellen zu erschließen, wenn am Ende des Liedes auf die zu benutzende Melodie mit einem lateinischen Incipit hingewiesen wird - so etwa wenn nach dem Text des als carmen bezeichneten Strophenliedes Magnum nomen domini auf die Melodie mit dem folgenden Vermerk hingewiesen wird: Sub nota Puer nobis nascitur. 23 Es folgen weitere lateinische und deutsche Lieder, die ebenfalls auf diese Melodie zu singen sind. 24 Thematisch bewegen sich die gesammelten Lieder im ersten Teil der Handschrift im Umkreis des Weihnachtsfestes. Sie beziehen sich formal meist auf bekannte lateinische Gesänge und fokussieren inhaltlich die affektive Beziehung zum Jesuskind, so etwa, wenn die braunen Augen des Kindes in Formulierungen aus der Liebeslyrik gepriesen werden: 69 Singen und sammeln 25 Vgl. Carolyn Walker Bynum Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages, Berkeley/ Los Angeles 1982. Jhesus had bruyn ougel gyn benympt myr alle myne synne. (Bl. 37v) An anderer Stelle verweist das Bild des zum Himmel aufsteigenden Adlers auf die Intensität der affektiven Bindung: Het ich die vlogelen eins aren grois Ich sold so hoge vleigen dor boven int dz paradis (Bl. 52r) Auf diese Gruppe von Weihnachtslieder folgen Lieder, die auf ein geistliches Leben, aber auch auf Frauen als Rezipientinnen hinweisen: ich hort das kloickelgen luden zer kirchen steit myn syn dat doen ich alle dar omme want Jhesus wont daryn (Bl. 37r) Während in diesem Fall die Wendung an Leserinnen nur aus dem Kontext der sonstigen Überlieferung geistlicher Lieder möglich ist, in denen die affektive Bindung an das in der zugleich real-architektonisch wie figural verstandenen Kirche beheimatete Jesuskind zu‐ meist im Kontext von Frauenkonventen überliefert ist, verweisen andere Lieder deutlicher auf dieses Milieu, wenn sie in einem mehrstrophigen Dialog zwischen Christus und Braut eine vom Hohenlied inspirierte Bildlichkeit evozieren: Czo Jherusalem dar woent myn lieff Dar na steit myn begeren. (Bl. 54r) Zwar lässt sich angesichts der komplexen Auslegungstradition des Hohenliedes aus der Sprechinstanz der Braut, deren ersehnter Bräutigam in Jerusalem ist, nicht eindeutig auf weibliche Rezipientinnen schließen, da in der Frühzeit der mittelalterlichen Hoheliedtradi‐ tion die Stimme der Braut auch und gerade von Mönchen eingenommen wird. 25 Doch in der Überlieferung aus dem deutschsprachigen Raum liegt im 15. Jahrhundert der Schwerpunkt der Hoheliedrezeption in Frauenkonventen. Unterstützt wird diese Annahme im Liederbuch der Anna von Köln durch die Verwendung brautmystischer Formen der Anrede: Hyff op dyn cruytz myn alrelieffste bruyt volge mir na vnd ganck dyns selffs was wart ich gedragen have vur dich (Bl. 59r) In einem der die Sammlung beschließenden mehrstrophigen Lieder schließlich richtet sich die brautmystisch inspirierte Begegnung mit Christus an eine geistliche Schwester, die sich in der von Eckhart und Seuse geleiteten Kunst der Gelassenheit übt: 70 Almut Suerbaum 26 Vgl. Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hase‐ brink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17). Auf dominika‐ nisches Milieu verweist auch die Schlussstrophe eines Liedes zur Gertrudsminne, Bl. 41v: Der ritter bedechet sich ze stont / […] in he ginch in ein closter. / Dat kloster dat was woel bekant / der prediger orden was it genant. 27 Liederbuch der Anna von Köln (um 1500), hg. von Walter Salmen und Johannes Koepp, Düsseldorf 1954 (Denkmäler rheinischer Musik). Gelassen had eyn sustergen ind sy ginck in ir kemmerkyn Ihesus quam zo ir gegaen ind wold eyn koesen myt ir haen. Nu ganck her Jhesus ganck nu ganck ich han lassen min ich byn kranck. Versus. Hastu gelaissen goit swestergyn so wil ich schier dyn schencker syn Inde schencken dir den kuperen wyn der vloysset ws der syden myn. Nu ganck her Jhesus etc. Versus. Hastu gelaissen goit swestergyn so wil ich selver dyn speilman syn Vnd speilen dir den seiden klanck der vorder was der gotheit swanck Nu ganck her Jhesus nu etv. Versus. Hastu gelaissen goit swestergyn So will ich sever dyn trost syn [ynd gestrichen] goesen troist will ich dir geven Want ich byn dat ewiche leven. Nu koempt her Ihesus gait in Ynd iubeliert yn der sele myn. (Bl. 91v-92r) Vieles wäre allein zu diesem Lied zu sagen: Gott als Schenke, der den Wein aus seiner Seitenwunde ausschenkt, ist aus den Passionstraktaten bekannt; Gott als Musiker, dessen Seitenspiel einen swanck, also wohl Tanz anregt, gibt es im deutschsprachigen Raum vermutlich erstmals bei Mechthild von Magdeburg, auch wenn damit hier kein Quellen- und Vorlageverhältnis behauptet werden soll. Zudem verweisen die Diktion von Gelassenheit und der verinnerlichte Jubilus auf dominikanisches Milieu. 26 Wichtig ist im Kontext dieses Beitrages, dass sich die Bestandteile dieser Sammlung keine Unikate sind, denn bereits der Musikwissenschaftler Walter Salmen konnte nachweisen, dass viele der enthaltenen Lieder in Parallelüberlieferung im Niederdeutschen, vor allem in Handschriften aus Deventer existieren. 27 Ulrike Hascher-Burger stellte daher die Handschrift in den Kontext der Devotio moderna, doch scheint das angesichts des Gesamtbefundes der Handschrift unwahrschein‐ lich, denn es gibt, wie in der Basler Handschrift, deutliche Indizien für eine Vertrautheit mit 71 Singen und sammeln 28 Ulrike Hascher-Burger, „Religious Song and Devotional Culture in Northern Germany“, in: A Companion to Mysticism and Devotion in Northern Germany in the Late Middle Ages, hg. von Elizabeth Andersen, Henrike Lähnemann und Anne Simon, Leiden/ Boston 2014, S. 261-284, hier S. 273. 29 Vgl. Kwakkel (wie Anm. 3), S. 12-19. den lateinischen Liedtexten, zudem sind immer wieder auch Aufzeichnungen lateinischer liturgischer Stücke mit Notation inseriert. 28 Zudem ist die Handschrift zwar für unsere Augen wenig repräsentativ, da aus unterschiedlichen Papiersorten zusammengestellt, doch spricht die Tatsache, dass etliche Lieder über Lagengrenzen hinaus geschrieben sind, für eine geplante Anlage und unterscheidet sich damit wesentlich von den Rapiarien der Devotio moderna, die eher geistlichen Zettelsammlungen vergleichbar sind. Selbst wenn also die Handschrift selbst nicht notwendigerweise der Devotio moderna verpflichtet ist, zeugt ihre Verwendung unterschiedlicher, aus anderen Kontexten bezeugter Lieder von einer gezielten Sammeltätigkeit. Schon der kodikologische Befund deutet also auch in diesem Fall darauf hin, dass die Zusammenstellung der Texte geplant ist und zudem von formal-ästhetischen Kriterien wie der Liedform und Melodiegleichheit sowie im Anfangsteil der Handschrift vom liturgischen Anlass geleitet wird. Allerdings lässt sich, wie in den zuvor besprochenen Sammlungen, diese Ordnung und Auswahl nicht einer individuellen Sammlerfigur zuschreiben. V Sammeln als Identitätsstiftung geistlicher Netzwerke Was bedeuten die hier vorgestellten Einzelfälle für eine Untersuchung geistlicher Lied‐ sammlungen und spätmittelalterlicher Sammlungen allgemein? Die hier angestellten Überlegungen haben deutlich gemacht, dass eine Typologie spätmittelalterlicher Sammel‐ handschriften, wie sie der Paläograph und Kodikologe Kwakkel vorgelegt hat, wichtig, aber auch unbefriedigend ist, da sie im Letzten Handschriften als inerte Objekte behandelt, ohne ihre Entstehungskontexte zu untersuchen. 29 Genau diese Entstehungskontexte aber sind es, die uns bei den Liedersammlungen greifbar werden. Sie präsentieren sich uns als materielle Spur von Kollektiven und Netzwerken, in denen Schreiben und Schriftlichkeit eine zentrale Rolle im Selbstverständnis spielen, zugleich aber auch dezidiert literarisches Interesse an liedhaften Formen. Zugleich stellen sie eine Herausforderung an die seit der Frühneuzeit beliebten Entstehungsmythen dar, welche das Vorhandensein einer Sammlung an eine individuelle, oft herausragende Sammlerfigur knüpfen. Nach dem hier vorgeführten Befund ist es reduktiv, diese Handschriften als Werk einer einzelnen Redaktorin oder Sammlerin zu verstehen, da damit ein für diese Zeit und dieses Milieu anachronistischer Autorbegriff über die Hintertür wieder eingeführt würde. Charakteristisch für die hier vorgeführte Sammeltätigkeit ist es vielmehr, dass kollektiv vermittelte Praktiken, aber auch gemeinschaftliche Interessen die Bildung von Sammlungen beeinflussen. Allerdings dürfte im Vergleich der drei Beispiele auch deutlich geworden sein, dass diese Kontexte selten so eindeutig zu beschreiben sind, wie die Forschung das zunächst nahegelegt hatte. Denn dann wäre nur schwer nachvollziehbar, dass eine bisher der Devotio moderna zugerechnete Handschrift deutlichere Ähnlichkeiten mit einem Produkt der viel früheren Basler Handschrift hat als mit anderen mittelniederdeutschen oder ripuarischen Handschriften. In dem Milieu, das wir über die geistlichen Liedersammlungen greifen, 72 Almut Suerbaum 30 Zum Phänomen von ‚voicing‘ und ‚re-voicing‘ vgl. Suerbaum (wie Anm. 19), S. 297f. ist offenbar viel weitergehend die Vertrautheit mit Formen des Lateinischen vorauszu‐ setzen. Diese Vertrautheit fördert ganz offensichtlich die Produktion von Texten, die dann Gegenstand der Sammlung werden, so etwa singbare deutsche Versionen lateinischer Hymnen und metrische Bearbeitungen lateinischer Vorlagetexte. Zugleich aber trägt sie zur Strukturierung der Sammlung bei, wenn sie über die liturgischen Bezugspunkte im Kirchenjahr Ordnungscluster fördert. Sammlung und Sammeltätigkeit präsentieren sich damit im Umfeld der Liederhand‐ schriften als Praktiken, die sich nicht über moderne Kategorien wie Autor, Geschmack oder Intention greifen lassen. Sie demonstrieren zugleich, dass das Re-Kontextualisieren von Einzeltexten in einen größeren Zusammenhang für dieses Milieu geistlich interessierter Laien und Konvente konstitutiv ist. Dass nicht nur Frauen an solchen Netzwerken beteiligt waren, dürfte ebenfalls deutlich geworden sein, auch wenn die südwestdeutschen Domini‐ kanerinnenkonvente eine wesentliche Rolle in der Entwicklung einer deutsch-lateinischen Sammelkultur gespielt haben. Zu zeigen, dass im Umfeld klösterlicher Praktiken des Umgangs mit Texten neue, distinktive Formen des Sammelns entstehen, war Ziel diese Beitrags. Die Sammlungen sind als Sammelhandschriften nie allein über ihre Funktion beschreibbar - das Format der Jenaer Liederhandschrift etwa verdankt sich nicht dem Umstand, dass man aus ihr gemeinsam singen musste, sondern eher der Tatsache, dass Größe und Layout Anschluss an das Prestige lateinischer liturgischer Handschriften bieten; das Kleinformat der Basler Liedersammlung und des Liederbuchs der Anna von Köln dagegen macht das Potenzial einer Sammlung sozusagen handgreiflich, betont den geschlossenen Charakter einer Sammlung zwischen zwei Buchdeckeln, auch wenn die Überlieferungslage textgeschichtlich offen ist. Geistliche Liedersammlungen entwickeln somit Verfahren der Ordnung, die weder allein dem Kopf oder Geschmack einer einzelnen Sammlerin entspringen, noch dem einer einzelnen Interpretin. Sie produzieren zudem Ordnungsmuster, die sich nicht, wie Sammlungen liturgischer Lieder oder frühneuzeitliche Gesangbücher, an der liturgischen Zeitordnung orientieren. Vielmehr schaffen sie Kohärenzen, die nicht als Form der Archi‐ vierung konzipiert sind, deren Ziel auch nicht ein schneller Zugriff auf Gespeichertes ist, sondern die auf performativen Vollzug abzielen. Sie sind zudem in Vielem genuin literarisch, da sie diese Kohärenzen auf Bedeutungsebene, aber auch - trotz ihrer ganz anderen Ästhethik - auf formal-literarischer Ebene über Klang und Melodie stiften und so das erzielen, was ich an anderer Stelle die ‚Stimme‘ einer Handschrift genannt habe. 30 73 Singen und sammeln 1 Den Anstoß zu diesem Aufsatz gab die Beschäftigung mit dieser Handschrift während eines Forschungsseminars zur Überlieferung und zur digitalen Edition der Kaiserchronik, das Johannes Klaus Kipf im Sommer 2018 gemeinsam mit Magdalena Butz durchführen konnte, und in dessen Rahmen für vier Tage drei Gastdozenten (Uta Goerlitz, Mathias Herweg und Jürgen Wolf) einge‐ laden werden konnten. Die beiden oben genannten Autoren verantworten den gesamten Text gemeinsam. Die Vorstellung der Handschrift nach äußeren Daten und Inhalt wurde von Johannes Klaus Kipf konzipiert; Pia Rudolph nahm die stilkritische Eingrenzung zur Entstehungsregion der Illuminationen vor. Die Einleitung, die Überlegungen zur Identifizierung von Auftraggeber und Schreiber der Handschrift sowie die abschließenden Beobachtungen zu den Sammlungspraktiken dieser illuminierten Handschrift sind gemeinsam verfasst. 2 Eckart Conrad Lutz hat den Begriff ‚Concepteur‘ für den Schreiber oder die Schreiberin großer Sammelhandschriften eingeführt, um die kreativen und konzeptionellen Aspekte von deren Tätigkeit abzubilden; vgl. ders., Arbeiten an der Identität. Zur Medialität der ‚cura monialium‘ im Kompendium des Rektors eines reformierten Chorfrauenstifts. Mit Edition und Abbildung einer Windesheimer ‚Forma investiendi sanctimonialium‘ und ihrer Notationen, Berlin/ New York 2010 (Scrinium Friburgense 27), S. 3, 5, 11 u. ö.; vgl. ähnlich, aber ohne Bezug auf Lutz, Margit Dahm-Kruse, Versnovellen im Kontext. Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften, Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica 68), S. 57-64. Weltgeschichte sammeln - am Beispiel einer deutschsprachigen illustrierten Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (München, UB, Cim. 102) Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph Die Frage nach einer möglichen inneren Logik von Sammelhandschriften, in denen ein Großteil der mittelalterlichen Literatur überliefert ist, da sie die Normalform des hand‐ schriftlichen Buchs im Mittelalter ausmachen, bildet ein umfangreiches und prominent bearbeitetes Forschungsfeld im Umkreis des Themas ‚Sammeln als literarische Praxis‘. In diesem Kontext ist die Handschrift Cim. 102 der Universitätsbibliothek München (früher 2 o Cod. ms. 688) aus mehreren Gründen bemerkenswert. So enthält sie die einzige komplett erhaltene illustrierte Version der gesamten Kaiserchronik-Tradition. 1 Da sie durchgehend von einer Hand geschrieben und von einer Werkstatt illustriert sowie nahezu zeitgenössisch eingebunden ist, bietet sie aber auch ein Beispiel für ein spätmittelalterliches Buch, das nach dem Willen eines Sammlers, seines ersten Besitzers bewusst, als geschlossene Sammlung zusammengestellt und ausgestattet wurde. 2 Zwar fehlen direkte Zeugnisse für diesen Stifterwillen, doch der kodikologische und paläographische Befund sprechen eindeutig für eine Anfertigung der Handschriften in einem Zug bzw. ‚aus einem Guss‘. Die Poetik der spätmittelalterlichen Sammelhandschrift ist seit geraumer Zeit Gegen‐ stand philologischer Forschung, doch lässt sich nach ersten Ansätzen seit den 1970er 3 Vgl. die Editionsreihe Deutsche Sammelhandschriften des späten Mittelters, hg. von Rolf Max Kully und Heinz Rupp, innerhalb der Bibliotheca Germanica, u. a.: Codex Karlsruhe 408, bearb. von Ursula Schmid, Bern/ München 1974 (Bibliotheca Germanica 16). 4 Vgl. exemplarisch Franz-Josef Holznagel, „‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘. Plädoyer für einen Per‐ spektivenwechsel in der Literaturgeschichte kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen“, in: Überlieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte, hg. von Thomas Bein ( Jahrbuch für Internationale Germanistik 34/ 2), Bern u. a. 2002, S. 127-145; Freimut Löser, „Mittelalterliche Sammelhandschriften. Gesammelte Bemerkungen“, in: Sammeln. Eine (un-)zeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017 (Ringvorlesungen der Universität Würzburg), S. 95-113; Dahm-Kruse (wie Anm. 2), S. 65-80; vgl. auch den Beitrag von Jürgen Wolf in diesem Band. 5 Vgl. etwa Monika Studer, Exempla im Kontext. Studien zu deutschen Prosaexempla des Spätmittelalters und zu einer Handschrift der Straßburger Reuerinnen, Berlin/ Boston 2013 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 6); Michael Schwarzbach-Dobson, Exemplarisches Erzählen im Kontext. mittel‐ alterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation, Berlin/ Boston 2018 (Literatur - Theorie - Geschichte 13), bes. S. 238-266 (zu London, BL, Add. 24946). Die berühmtesten Sammelhandschriften des deutschen Mittelalters, etwa der Codex Manesse, das Hausbuch des Michael de Leone oder die Vorauer Sammelhandschrift, haben seit den Anfängen der Germanistik Aufmerksamkeit, häufig in monographischer Form, gefunden. 6 Vgl. exemplarisch Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 1999, 6. Aufl. Frankfurt am Main 2004, S. 17-32; zur Alltagspraxis des Sammelns trivialer Gegenstände Denise Wilde, Dinge sammeln. Annäherungen an eine Kulturtechnik, Bielefeld 2015 (Edition Kultur‐ wissenschaft 62), bes. S. 36-39; vgl. auch die Einleitung der Herausgeber zu diesem Band. 7 Vgl. Erik Kwakkel, „Towards a Terminology for the Analysis of Composite Manuscripts”, in: Gazette du livre médiéval 41 (2002), S. 12-19, bes. S. 13f.; zur Typologie und Terminologie der Sammelhandschriften ferner Löser (wie Anm. 4); Jürgen Wolf, „Sammelhandschriften - mehr als nur die Summe der Einzelteile”, in: Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. von Dorothea Klein u. a., Wiesbaden 2016 (Wissensli‐ teratur im Mittelalter 52), S. 69-81; Dahm-Kruse (wie Anm. 2), S. 65 Anm. 1. 8 Wolf (wie Anm. 7), S. 70 u. ö.; Löser (wie Anm. 4), S. 97-99. 9 Ebd., S. 73. In der Terminologie der Richtlinien zur Handschriftenkatalogisierung (Richtlinien Handschriftenkatalogisierung. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuß für Handschrif‐ tenkatalogisierung, 5. erw. Aufl., Bonn 1992) sind die ‚Buchbindersynthesen‘ „Sammelbände“ (S. 12). Jahren 3 gerade in der Germanistischen Mediävistik seit 2000 ein erneuertes Interesse feststellen 4 - auch in Verbindung mit Themen wie Medienwandel und Intermedialität -, das in jüngerer Zeit vermehrt zu monographischen Untersuchungen einzelner Handschriften geführt hat. 5 Dieses Forschungsinteresse lässt sich im Rahmen eines übergreifenden philosophischen und anthropologischen Interesses am Sammeln als einer grundlegenden menschlichen Eigenschaft in größere Zusammenhänge stellen. 6 Exemplarisch untersucht werden kann eine implizite Programmatik von Sammelhandschriften am besten an solchen Gegenständen, deren äußere Kennzeichen auf einen zugrundeliegenden Sammelwillen schließen lassen, da bei ihnen Produktions- und Gebrauchseinheit zusammenfallen. 7 Es handelt sich bei einer solchen Sammelhandschrift folglich nicht um eine neuzeitliche „Buchbindersynthese“, 8 sondern um eine Sammlung, deren Texte „aufeinander bezogen sind und die Textfolge im Sinne eines festen Programms ‚verbinden‘.“ 9 Exemplarisch soll im Folgenden die Handschrift Cim. 102 der Universitätsbibliothek München behandelt werden. Sie wird in einem ersten Schritt nach äußeren Daten und nach ihrem Inhalt vorgestellt. Anschließend gilt es, die versammelten Texte sowie ausgewählte Illustrationen zu präsentieren und zu erläutern, dies im Verbund mit Überlegungen zur Identifizierung von Auftraggeber und Schreiber der Handschrift. Zuletzt sollen die suppo‐ 76 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph 10 Vgl. die wichtigsten Handschriftenbeschreibungen und Kataloge: Hans Fromm und Hanns Fischer, „Mittelalterliche deutsche Handschriften der Universitätsbibliothek München (I)“, in: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag, Berlin 1961, S. 109-131, hier S. 112-115; Gisela Kornrumpf und Paul-Gerhard Völker, Die deutschen mittelalterlichen Handschriften der Universitätsbibliothek München, Wiesbaden 1968 (Die Handschriften der Universitätsbibliothek München 1), S. 63-65; Wolfgang Müller, Die datierten Handschriften der Universitätsbibliothek München, Text- und Tafelband, Stuttgart 2011 (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundes‐ republik Deutschland 6), Textbd., S. 7f., Tafelbd., Abb. 130; Katalog der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, begonnen von Hella Frühmorgen-Voss, fortgeführt von Norbert H. Ott (= KdiH), Bd. 6: Heiligenleben. Brandan, von Ulrike Bodemann, München 2005, S. 190f., Nr. 51.6.2., u. Abb. 11; KdiH, Bd. 7: Historienbibeln, von Ulrike Bodemann, München 2008, S. 155, Nr. 59.9.3., u. Abb. 42; KdiH, Bd. 8: Lucidarius, von Pia Rudolph, München 2020, S. 564-566, Nr. 81.0.6., u. Abb. 174. Für weitere Hinweise zum handschriftlichen Teil (nicht zur Inkunabel) vgl. https: / / handschriftence nsus.de/ 6440 [Zugriffe hier und im Folgenden am 15.7.2020]. 11 Sicher von einer zweiten Hand geschrieben ist das nachträglich eingeklebte Bl. 221. Die Unterschei‐ dung einer zweiten Hand für einen Nachtrag auf Bl. 82rb (Kornrumpf/ Völker, wie Anm. 10, S. 64: „untere Hälfte“; Fromm/ Fischer, wie Anm. 10, S. 113: „nur eine halbe Spalte“) erscheint dagegen diskutabel und könnte auf einen flüchtigeren Duktus der Haupthand zurückzuführen sein. Fromm/ Fischer (wie Anm. 10) unterscheiden vier Schreiber (S. 113), doch ihre Unterscheidung der Schreiber von Bl. 1ra-83vb bzw. Bl. 83vb-396va wurde nicht akzeptiert und erscheint tatsächlich unplausibel. Vgl. zuletzt Bodemann, Heiligenleben. Brandan (wie Anm. 10), Nr. 51.6.2. 12 Vgl. zum Druck Klaus Graf, Exemplarische Geschichten. Thomas Lirers ‚Schwäbische Chronik‘ und die ‚Gmünder Kaiserchronik‘, München 1987 (Forschungen zur Geschichte der älteren Literatur 7), S. 25-34; zu Cim. 102 S. 40f.; Peter Amelung, Der Frühdruck im deutschen Südwesten. 1473-1500, Tl. 1: Ulm, Stuttgart 1979, S. 211-216, Nr. 110. 13 Vgl. Müller (wie Anm. 10), Textbd., S. 7. 14 Vgl. Fromm/ Fischer (wie Anm. 10), S. 112. 15 Vgl. ebd. („15. Jh. (2. Hälfte)“); Kornrumpf/ Völker (wie Anm. 10), S. 63 („3. Viertel 15. Jh.“); Müller (wie Anm. 10), Textbd., S. 7 („3. Viertel 15. Jh.“). nierten Sammlungskonzepte, die sich in dieser illuminierten Handschrift gleichermaßen auf Text und Bild zu erstrecken scheinen, in den Kontext übergreifender Fragestellungen zum Sammeln als einer literarischen Praxis gestellt werden. I Die illustrierte Papierhandschrift Cim. 102 der UB München - äußere Daten Die im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts im schwäbischen Sprachgebiet zusammenge‐ tragene Handschrift Cim. 102 (früher 2 o Cod. ms. 688) lässt eine klare Sammelintention erkennen. 10 Sie vereint handschriftliche und typographische Bestandteile, ist (im hand‐ schriftlichen Teil) durchgehend in zwei Spalten größtenteils von einer Hand geschrieben 11 und von einer Werkstatt illustriert und koloriert worden. Die Papierhandschrift umfasst 401 Blätter im Folioformat; eine beigebundene Inkunabel, die erste datierte Ausgabe von Thomas Lirers Schwäbischer Chronik mit der Gmünder Kaiserchronik im Ulmer Druck Conrad Dinckmuts vom 12. Januar 1486 (HC 10117, GW M18412, ISTC il00226000), zählt weitere 64 Blätter. 12 Der handschriftliche Teil des Sammelbands enthält keine explizite Datierung. 13 Aufgrund kodikologischer Kriterien, besonders der Wasserzeichen des verwendeten Papiers, das andernorts zwischen 1444 und 1475 nachzuweisen ist, 14 wird die Handschrift in das dritte Viertel des 15. Jahrhunderts datiert. 15 Mit Textverlust fehlen eine Lage und ein Blatt vor dem heutigen Bl. 1, jeweils ein Blatt vor den Bll. 58 und 59, zwei Blätter nach 220, für die ein Ende des 15. Jahrhunderts 77 Weltgeschichte sammeln 16 Kornrumpf/ Völker (wie Anm. 10), S. 64. 17 Vgl. ebd., S. XIV, 13 (zu München, Universitätsbibl., 2 o Cod. ms. 147, mit Verweis auf elf weitere Bände). 18 Vgl. ebd., S. XV, 64. 19 Eine ansprechende Vermutung ist, dass sie 1573 mit der Schenkung Johann Egolphs von Knöringen (1537-1575), des in Dillingen/ Donau geborenen Rates Herzog Albrechts V., der seine rund 6000 Bände umfassende Büchersammlung, darunter „eine beachtliche Zahl altdeutscher Handschriften“, etwa das Hausbuch des Michael de Leone, nach seiner Wahl zum Bischof von Augsburg der Universitätsbibliothek Ingolstadt vermachte, dorthin gelangte (vgl. ebd., S. XIII-XV, Zitat S. XIV). Sein Exlibris fehlt im Band, doch ist dies angesichts der verlorenen ersten Lage nicht verwunderlich. Ein handschriftlicher Katalog von 1598 (2 o Cod. ms. 525), der weiteren Aufschluss hätte geben können, ist seit 1944 Kriegsverlust (vgl. ebd., S. XIV Anm. 4). 20 Das C ist moderne Ergänzung, durch eckige Klammern in Blei kenntlich gemacht. Zwei Zahlen (lxxxxvj und Cvj) sind doppelt gesetzt. 21 Für die Inkunabel wäre die Fortführung der Lagenzählung nicht nötig gewesen, da sie gedruckte Lagensignaturen enthält. beschriebenes Ersatzblatt (221) eingefügt wurde. Der Einband („Holzdeckel mit blindge‐ preßtem Schweinslederrücken, der 10 cm auf die Deckel übergreift“) 16 stammt aus dem 16. Jahrhundert und gehört zu einer Gruppe von Bänden, die in der Universitätsbibliothek Ingolstadt Ende des 16. Jahrhunderts in gleicher Weise restauriert wurden. 17 Auch die älteste Signatur (Bl. 1r: LL 116) verweist auf die Zugehörigkeit zu dieser Bibliothek um 1600, in der sie über die Relokationen der Universität nach Landshut und schließlich München kam. Die Handschrift ist in zwei historischen Bibliothekskatalogen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verzeichnet, 18 ihr Weg in die Universitätsbibliothek bleibt unklar. 19 Es existieren zwei alte Foliierungen, die von einer Hand stammen. Die erste, die auf Bl. 1r mit xiii einsetzt und bis [C]liij (Bl. 141r) 20 fortgesetzt wird, bezeugt, dass am Beginn zwölf Blätter der alten Zählung verloren sind und dass die ersten beiden Texte, das Buch der Könige alter und niuwer ê, bereits im 15. Jahrhundert zusammengehörten. Verloren sind zu Beginn eine komplette Lage und das erste Blatt der zweiten. Die zweite Foliierung setzt für die Gesta Romanorum mit ij (Bl. 323r) ein und läuft bis lxxxxj (Bl. 398r) auf dem letzten Blatt des handschriftlichen Teils; einbezogen ist eine verbundene Lage mit den zwölf Blättern lxxij bis lxxxiij (Bl. 275r-286v), die zum Text der Gesta Romanorum gehört, aber heute inmitten des Lucidarius eingebunden ist. Die alten Foliierungen, die in anderen Teilen der Handschrift verloren sein könnten - auch die erhaltenen Blattzahlen (etwa Bl. 11) sind teils beschnitten -, bezeugen die Zusammengehörigkeit der beiden Teile des Buchs der Könige einerseits sowie der Gesta Romanorum mit der integrierten Version der Sieben weisen Meister andererseits. Die Lirer-Inkunabel ist dagegen nicht in die Foliierungen einbezogen. Zusätzlich ist mit Tinte mittig unten auf der Recto-Seite des ersten Blatts jeder Lage über die gesamte Handschrift eine Lagenzählung in arabischen Ziffern des 15. Jahrhunderts angebracht. Sie setzt ein mit der Lagenzählung 3 auf Bl. 12r der modernen Foliierung und wird fortgesetzt bis zur Nr. 35 (Bl. 393r). Die vorletzte Lage (Nr. 34) ist versehentlich nach Bl. 274 statt nach Bl. 392 eingebunden, zehn Lagen zu weit vorne. Die zeitgenössische Lagenzählung macht zusätzlich wahrscheinlich, dass zumindest der handschriftliche Teil als Ganzes geplant und einheitlich angelegt wurde. 21 Insgesamt weist die kodikologische Gliederung auf eine planvolle Anlage zumindest des handschriftlichen Teils als einer einheitlichen Sammlung. Im Folgenden soll dargelegt werden, dass auch die beigebundene 78 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph Inkunabel als integraler Teil der Sammlung aufgefasst werden muss und dass daher nicht mehr nur eine Sammel-Handschrift vorliegt, sondern vielmehr ein Sammel-Buch, in dem die überwiegenden handschriftlichen und die typographisch gedruckten Teile gleichbe‐ rechtigt nebeneinander stehen. Damit erweist sich dieses Sammelbuch als ein Zeuge des evolutionären Medienwandels im 15. Jahrhunderts, der keineswegs ein revolutionärer Medienwechsel ist. II Die im Band enthaltenen Texte Die in dem Band vereinten handschriftlichen Texte wurden bislang nur als Einzeltexte untersucht; eine Analyse, die den Band in seiner Vielfalt und übergeordneten Intention in den Blick nimmt, steht aus. Vorangestellt sei das Inhaltsverzeichnis des Bandes mit den heute gebräuchlichen Zitiertiteln und ggf. der Sigle dieser Handschrift in der Forschung zu den einzelnen Texten: Bll. 1ra-56ra Buch der Könige (alter ê) (unvollständig) Bll. 56va-141rb Prosakaiserchronik (M2) Bll. 142r-230v Historienbibel (Gruppe IV) Bll. 230vb-260rb Brandans Meerfahrt (obd. Reise-Fassung; m) Bll. 261ra-274vb, 287ra-321rb Lucidarius (M10) Bll. 275ra-286vb, 322ra-396va Gesta Romanorum, dt. (Redaktion g; M11) darin Bll. 322ra-369va Sieben weise Meister (Prosafassung b; M) Bll. 400r-463v (Ps.-)Thomas Lirer, Schwabenchronik und Gmünder Kaiser‐ chronik, Ulm: Conrad Dinckmut, 12.1.1486 (HC 10117, GW M18412, ISTC il00226000) Vorzuschlagen ist die Deutung, dass hier Weltgeschichte von der Schöpfung über die biblische Geschichte beider Testamente bis zum römischen Reich gelesen, versammelt und bewahrt werden sollte. Mit der in Ulm 1486 gedruckten Chronik von allen Königen und Kaisern des sog. Thomas Lirer wird eine Inkunabel beigebunden, die das Corpus abschließt und chronologisch (bis 1462) in die Zeit des Auftraggebers heranführt. Um diese These zu untermauern, seien im Folgenden die einzelnen Texte charakterisiert und ausgewählte Illustration aus dem übergreifenden Zyklus vorgestellt. III Buch der Könige alter ê und Prosakaiserchronik Am Beginn der Handschrift steht das Buch der Könige alter ê, ein im Umfeld der Augsburger Franziskaner Ende des 13. Jahrhunderts entstandenes und häufig gemeinsam mit der 79 Weltgeschichte sammeln 22 Vgl. grundlegend Gisela Kornrumpf, „Das Buch der Könige. Eine Exempelsammlung als Histori‐ enbibel“, in: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger, hg. von Johannes Janota, Bd. I, Tübingen 1992, S. 505-527; zur unabhängigen Entstehung von Buch der Könige (alter ê) und der Prosakaiserchronik, die erst spät, im 15. Jahrhundert, zum Buch der Könige (alter und niuwer ê) vereint wurden, vgl. Christa Bertelsmeier-Kierst, Kommunikation und Herrschaft. Zum volkssprachlichen Verschriftlichungsprozeß des Rechts im 13. Jahrhundert, Stuttgart 2008 (ZfdA-Beiheft 9), S. 169-172. 23 Dieser Hinweis ist Jürgen Wolf zu verdanken; vgl. Stephan Müller, „Schwabenspiegel und Prosa‐ kaiserchronik. Textuelle Aspekte einer Überlieferungssymbiose am Beispiel der Geschichte Karls des Großen (mit einem Anhang zur Überlieferung der Prosakaiserchronik)“, in: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters, in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder hg. von Eckart Conrad Lutz, Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 233-252, hier S. 250 Nr. 8. 24 Vgl. zur Illustration der (Vers-)Kaiserchronik KdiH, Bd. 7: Kaiserchronik, von Kristina Freienhagen-Baum‐ gart, München 2017, S. 329-334, Nr. 64.0.1-3.: Erhalten sind zwei Fragmente (Düsseldorf, Universitäts- und Landesbibl., Ms. fragm. K 3: F 53 [um 1300]; München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 5249/ 70b [Anfang 14. Jh.]) sowie eine Handschrift mit 68 Bildlücken (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 37). 25 Der künige buoch. Altiu E, hg. von Hans Ferdinand Massmann, in: Land- und Lehenrechtbuch, hg. von Alexander von Daniels, Bd. 1, Berlin 1860, Sp. [XXXIII]-XLVIII. Prosakaiserchronik überliefertes historisches Summarium über das Alte Testament. 22 In gemeinsamer Überlieferung werden beide Texte, obwohl ursprünglich separat entstanden, zum vollständigen Buch der Könige. Die erst seit dem 15. Jahrhundert häufig zusammen überlieferten Weltchronikteile mit alter und niuwer ê sind gemeinsam in insgesamt sieben Handschriften des 15. Jahrhunderts bezeugt. Cim. 102, eine der spätesten Handschriften dieser Gruppe, ist die einzige, die das Buch der Könige gemeinsam über alte und niuwe ê, aber ohne den Schwabenspiegel überliefert. 23 Es handelt sich zudem um die einzige Hand‐ schrift der Prosakaiserchronik und des gesamten Kaiserchronik-Komplexes, die durchgängig illustriert erhalten ist. 24 Sonst existieren nur noch zwei illustrierte Fragmente der Vers-Kai‐ serchronik, die jeweils auf den Beginn des 14. Jahrhunderts datiert werden. Da am Beginn der Handschrift eine komplette Lage und ein Blatt der zweiten (der ersten erhaltenen) Lage abhanden gekommen sind, ist auch ein Teil der Illustrationen verloren. Insgesamt sind 115 Bilder zum Buch der Könige enthalten, 56 zum Alten sowie 59 Illustrationen zum Neuen Testament. Jedem Herrscher werden in der Prosakaiserchronik üblicherweise ein, manchmal auch mehrere Bilder zugewiesen. Die Bedeutung Konstantins wird durch vier Abbildungen zu seinem Text unterstrichen. Dabei fällt auf, dass der ausführliche Bericht zu Karl dem Großem nur eine Illustration enthält, zudem sind in Karls Teil - von Karl bis zu Ludwig dem Frommen bzw. Karls Tod - die Initialen nicht ausgeführt worden, was in der gesamten Handschrift kein zweites Mal vorkommt. Überdies machen es die erwähnten Blatt- und Lagenzählungen wahrscheinlich, dass das Buch der Könige alter ê ursprünglich vollständig war. Der erhaltene Teil beginnt mit dem Kapitel zu Helisaeus und Noeman (4 Rg 5); die gesamte Vor- und Vätergeschichte, die Richter- und die frühe Königszeit (fünf Kapitel in der Ausgabe Massmanns) 25 fehlen. Im alttestamentlichen Teil zeigen die Illustrationen, dass der Illustrator entweder selbst gute Textkenntnis besaß oder mit dem Schreiber bzw. auch mit dem Auftraggeber der Handschrift zusammengearbeitet hat. So stellt die Illustration zum vierten Kapitel (Abb. 1) Von Nabuchodonosor dar, wie der babylonische König die schönsten und klügsten vier Jünglinge, darunter Daniel, auswählen lässt, um diese die kaldeischen buoch zu leren (Bl. 80 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph 26 Ein zweites Mal sind hebräische Schriftzeichen auf den Gesetzestafeln abgebildet, die die Gottesfurcht des Königs Oza (Aza, Asa) illustrieren sollen (Bl. 23ra; Massmann, wie Anm. 25, Sp. LXXIV; vgl. I Rg 15,9-15). 27 Da sich dieses Register auf die Blattzahlen der durchgängigen Foliierung bezieht, ist anzunehmen, dass auch das Buch der Könige alter ê mit einem solchen Register begann. 28 Vgl. Meinolf Schumacher, Ärzte mit der Zunge. Leckende Hunde in der europäischen Literatur. Von der patristischen Exegese des Lazarus-Gleichnisses (Lk. 16) bis zum ‚Romanzero‘ Heinrich Heines, Bielefeld 2003 (ohne das Buch der Könige als Beispiel). 23rb) und sie an seinem Hof erziehen zu lassen. Einer der Jünglinge hält eine Tafel mit hebräischen Buchstaben in der Hand, deren Schriftzeichen nicht willkürlich gesetzt sind, sondern eine gängige hebräische Quadratschrift bieten. 26 Der Illustrator zeigt somit ein gehobenes Bildungsniveau. Die Prosakaiserchronik ist durch ihre Illustrationen, die in der sonstigen Überlieferung keine Parallele haben, bemerkenswert. Der Übergang von der alten ê zum neuen Bund ist durch ein Register der Kapitel der Prosakaiserchronik (Bll. 56va-57ra), das einzige des gesamten Bandes, markiert 27 und mit einem Wappen geschmückt, das einen kaiserlichen bekrönten Doppeladler (schwarz auf Gold) mit grün-rotem Band umschlungen zeigt. Das Register lässt eine gewisse Eigenständigkeit des Teils zur niuwen ê erkennen, die übergreifende Blattzählung und der Beginn dieses Teils mitten in der Spalte (Bl. 56va) zeigen seine Zusammengehörigkeit mit der alten ê. Dieses Wappen mit dem rot-weißen Wimpel verweist wohl weniger auf einem bestimmten Herkunftsort (etwa eine Reichsstadt wie Memmingen, Kempten oder Augsburg) als auf die Reichsgeschichte, die für die Kaiserchronik immer schon zentral war. So führt bereits Julius Caesar (Abb. 2), der in der Prosakaiserchronik aus Trier stammt, zuerst über tütschez lant herrscht und erst danach in Rom durch die Mithilfe der tütschen (Bl. 58ra) als Herrscher installiert werden kann, ein ähnliches Wappen (einköpfiger Adler mit rot-weißem Band) in dem Kapitel Von Julio. Zu Beginn der Prosakaiserchronik findet sich regelmäßig etwa eine Illustration pro Kapitel, die auch mit einer Rubrik ausgestattet ist. Dabei ist der Bildinhalt zumeist sehr genau auf den Inhalt bzw. die Überschrift des Kapitels abgestimmt. So illustriert ein Geistlicher im Habit und mit Tonsur, der einen übergroßen Zirkel in der Hand hält (Abb. 3), das Kapitel Wie ain phaff die land vßzaichen sol, in dem es um ein wunderbares Signalsystem in Rom für Aufstände in allen Reichsteilen geht (Bl. 57va). Das Kapitel Von tütschen landen wannen sie kommen sind (Bl. 58va) wird mit einem Segelschiff illustriert, das im Text von der Aussage gestützt wird, dass Alexander der Große vor seinem Tod ein Herr in kielen über mer in Asia gesandt habe, das nach seinem Tod siglos geblieben und mit 24 von 300 Schiffen nach Deutschland geflüchtet sei (Bl. 58vb). Auf ähnliche Weise nehmen zahlreiche Illustrationen einzelne Elemente oder Szenen des Textes auf: Im Kapitel zu Vitellus (Bl. 60vb) ist zu sehen, wie der Aufständische Otnatus freiwillig seine Hand verbrennt, mit der er einen Meineid geschworen hat; im Kapitel zu Lazarus, das wie eine Vorausschau im Kontext des Alten Bundes erzählt wird (Bl. 14vb), sind die Hunde zu sehen, die Lazarus’ Wunden lecken (nach Lc 16,21), als „Ärzte mit der Zunge“. 28 Allerdings ist im folgenden Kapitel des Buchs der Könige von den Wunden leckenden Hunden gar nicht die Rede; von ihnen erzählen allein das Lukas-Evangelium und die ihm folgenden theologischen Quellen. Der Illustrator muss dieses Motiv seinem 81 Weltgeschichte sammeln 29 Im Hintergrund steht die - etwa im Vespasianus des Wilden Mannes - tradierte Vorstellung, Vespasian (in anderen Versionen Tiberius) habe an einem Wespennest im Kopf gelitten, von dem ihn die heilige Veronika mit dem Schweißtuch geheilt habe. 30 Der Text entspricht Massmann (wie Anm. 25), Sp. CLI. 31 Vgl. zum textgeschichtlichen Status Hans Vollmer, Ober- und mitteldeutsche Historienbibeln, Berlin 1912 (Materialien zur Bibelgeschichte und religiösen Volkskunde des Mittelalters I/ 1), S. 181, Nr. 80; Wilfried Schouwink, „Eine deutsche Historienbibel des XV. Jahrhunderts“, in: Walter Berschin u. a., „Heidelberger Handschriften-Studien des Seminars für Lateinische Philologie des Mittelalters (II): Fragmenta Salemitana“, in: Bibliothek und Wissenschaft 20 (1986), S. 1-48, darin S. 29-34, hier S. 31-34. 32 Vgl. zum Inhalt Vollmer (wie Anm. 31), S. 36, 176-181. ikonographischen oder seinem Text-Wissen entnommen haben. In ähnlicher Weise ist Kaiser Vespasian dargestellt, welcher der Sage nach eine Latrinensteuer einführen ließ und daraufhin das geflügelte Wort pecunia non olet geprägt haben soll, wie er sich die von Fliegen oder Bienen umschwirrte Nase hält (Bl. 61rb). 29 Interessanterweise berichtet der sehr kurze Absatz der Prosakaiserchronik davon nichts: Es ist lediglich zu erfahren, dass Vespasian der Kaiser war, der im Jahre 70 Jerusalem zerstören ließ und dass er ungern an daz rych gekommen sei (Bl. 61va), weil er fürchtete, ermordet zu werden. Mehrfach hat der Illustrator Details aus dem Allgemeinwissen über die jeweiligen Personen und ihre Erzählungen eingebaut, die in den häufig sehr kurzen Versionen des Buchs der Könige nicht aufscheinen. Justinian, von dem es im Text heißt, er erniuete alle lanntrecht, die vor im gemacht waren, wird mit seinem Buch gezeigt, im Text genannt: von lanntrecht ain buoh, daz haisset Instituta, daz sprichet‚ der keisere gesetze (Bl. 79rb). 30 Dies lässt den Schluss zu, dass der Illuminator ein gutes Überblickswissen über die ikonographische Tradition der im Buch der Könige erzählten Stoffe besitzt. Umgekehrt sind besonders in der Prosakaiserchronik, die ja keine eigene ikonographische Tradition besitzt, häufig genaue Bezugnahmen auf den Inhalt der Erzählungen zu beobachten. Innerhalb der Prosakaiserchronik lässt die Häufigkeit der Illustrationen im Verlauf der Erzählung nach, setzt aber nicht aus. Nach einer längeren Passage ohne Illustration, die etwa mit dem Ende der Spätantike einsetzt, zu Helius (Helvius Pertinax) und seinem Kampf gegen den Fürsten Julian in einem spilehus (Bl. 68ra), setzt sie nach 68 Spalten ohne Illustration erst wieder ein mit Pippin (Bl. 102ra) und Ludwig (dem Deutschen) sowie dessen Besuch an Karls Grab (Abb. 4), dessen Kopf skelettiert dargestellt ist. Durch das Prinzip ‚eine Illustration pro Herrscher‘ bleiben zum Ende der Prosakaiserchronik hin längere Strecken ohne Bebilderung, da die Ausführungen zu jeder Person immer umfangreicher werden. IV Die Historienbibel Das Buch der Könige deckt sich in seinem alttestamentlichen Teil weitgehend mit dem Stoff der Historienbibel. Dies könnte der Grund dafür sein, dass in dem auf die Prosakaiserchronik folgenden Text eine Redaktion der Historienbibeln gewählt wird, die von Vollmer so genannte Redaktion IV, 31 welche nur alttestamentliche Bücher (einschließlich einiger Apokryphen) bis Esther enthält. 32 Auf die Historienbibel entfallen - im Gegensatz zu den 115 Illustrationen zum Buch der Könige - lediglich sieben Darstellungen. Allein der Teil zum Bericht zu König Salomo (vgl. III Rg 4-11), in den auch Inhaltsangaben der ihm zugeschriebenen Bücher Prediger und Hohelied integriert sind, wurde bebildert (Bll. 82 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph 33 Vgl. Bl. 209vb: Da sol ain figur sin mit zwelff richter vnd Salomon enmyten etc. 34 Die Illustration würde besser zum Kapitel mit der Überschrift Do kort sich Salomon von got vnd sündet etc. (Bl. 213vb) passen. 35 Vgl. Bodemann, Historienbibeln (wie Anm. 10), S. 155, Nr. 59.9.3. [http: / / kdih.badw.de/ daten‐ bank/ handschrift/ 59/ 9/ 3]. Lediglich auf Bl. 144va findet sich ein leerer Bildrahmen (zwischen dem Prolog und dem Beginn der Genesis); drei leere Zeilen zu Beginn von Bl. 153rb (in der Josephserzählung) könnten ebenfalls auf eine geplante Illustration hindeuten. 36 Vgl. Reinhard Hahn, „Zur Überlieferung der oberdeutschen Redaktion von Brandans Reise“, in: Septuaginta quinque. Festschrift für Heinz Mettke, hg. von Jens Haustein u. a., Heidelberg 2000 ( Jenaer Germanistische Forschungen NF 5), S. 147-169, bes. S. 159; Bodemann, Heiligenleben. Brandan (wie Anm. 10), S. 190f., Nr. 51.6.2. [http: / / kdih.badw.de/ datenbank/ handschrift/ 51/ 6/ 2]; Sebastian Holtzhauer, Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum. Untersuchungen ausgewählter Retextualisierungen des Brandan-Corpus von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert. Mit einer Edition der Münchener Prosafassung der ‚Reise des hl. Brandan‘ (Pm), Göttingen 2019, zur Handschrift S. 69-73, Ausgabe des Textes nach dieser Handschrift S. 527-562. 37 Vgl. zuletzt Holtzhauer (wie Anm. 36), S. 511-526. 209v-211v sowie Bl. 220vb. Dabei entspricht die erste Illustration - Salomo und eine seiner Frauen beten ein heidnisches Standbild an (vgl. III Rg 11, 1-8) - nicht der Anweisung in der Beischrift; 33 vielmehr wurde eine Illustration zu einer Episode vom Ende der Erzählungen über Salomo wohl versehentlich an deren Beginn gesetzt. 34 Darüber hinaus ist im Text von weiteren figuren die Rede (z. B. Bll. 181ra, 183vb), die aber nicht ausgeführt und für die auch keine Bildlücken freigelassen wurden. 35 Die Erwähnung weiterer anzubringender Darstellungen lässt den Schluss zu, dass man sich trotz der Nutzung einer Vorlage, die mehr Illustrationen enthielt, bewusst auf die Salomo-Bilder beschränkte. Mit dem Erzählabschnitt zu Salomo ist in der Historienbibel IV, die ja nur alttestament‐ liche Stoffe umfasst, jener Herrscher ausgezeichnet, der in der Geschichte Israels den Höhepunkt an Macht und Ausdehnung des Einflussgebiets markiert und der dadurch einen passenden Anschluss zum Buch der Könige alter und niuwer ê bildet. V Die Reise des heiligen Brandan Die auf die Historienbibel folgende Prosaversion der oberdeutschen Reisefassung von Brandans Meerfahrt kann als Ergänzung zur Kaiser- und Papstgeschichte der Prosakai‐ serchronik verstanden werden. 36 Sie fügt dieser den Aspekt der Christianisierung und Missionierung durch die seefahrenden iro-schottischen Mönche hinzu. Die abenteuerlichen und mit wunderbaren Elementen ausgestatteten Episoden der Reisefassung, die Brandan in die Gegenwelt der Antipoden reisen, ihn dem büßenden Judas begegnen lässt und zahlreiche weitere Episoden aus der Legenden- und Visionsliteratur (Lebermeer, Magnet‐ berg etc.) in die Vita des irischen Heiligen integriert, entwickelt entschieden imaginäre Züge, die diese Fassung des literarischen Komplexes in die Nähe des Alexanderromans und des Herzog Ernst rücken. 37 Die Insertion der oberdeutschen Reisefassung von Brandans Meerfahrt führt den Anspruch des unterhaltenden Erzählens von Heilsgeschichte an einem prominenten Beispiel frühchristlicher Mission vor, das sowohl aufgrund seiner aventiure-haften Erzählverfahren wie seiner Problematisierung der Rolle der Schrift und des Buches bei der Kodifizierung von Wahrheit/ Wissen eine große Nähe zum (höfischen) Roman des Mittelalters aufweist. 83 Weltgeschichte sammeln 38 Darin enthalten: Historienbibel IV (unvollständig); Irmhart Öser, Brief des Rabbi Samuel; Spruch der Engel; Memoria improvisae mortis, deutsch; Ps.-Nikolaus von Dinkelsbühl, Speculum artis bene moriendi, deutsch; Vom Nutzen der Messe; Fegfeuer des heiligen Patricius; Biblische Geschichten (Noah, Simson, Lot); Sankt Brandans Meerfahrt; Eusebius-Brief zum Leben des heiligen Hieronymus. Zur Handschrift siehe auch: Karin Zimmermann unter Mitwirkung von Sonja Glauch, Matthias Miller und Armin Schlechter: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 1-181), Wiesbaden 2003 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 6), S. 172-175. 39 Bodemann, Heiligenleben. Brandan (wie Anm. 10), S. 190f., Nr. 51.6.1. [http: / / kdih.badw.de/ daten‐ bank/ handschrift/ 51/ 6/ 1]. 40 Hans Wegener vermutet als Entstehungsort Ulm im Umkreis von Margarethe von Savoyen: Hans Wegener, Beschreibendes Verzeichnis der deutschen Bilder-Handschriften des späten Mittelalters in der Heidelberger Universitäts-Bibliothek, Leipzig 1927, S. 59-61. 41 Der deutsche Lucidarius. Kritischer Text nach den Handschriften, hg. von Dagmar Gottschall und Georg Steer, Bd. 1, Tübingen 1994 (Texte und Textgeschichte 35), S. 34f.; Christa Bertelsmeier-Kierst, „Fern An den 66 gerahmten Darstellungen zu Brandans Meerfahrt ist zu erkennen, dass die Rahmungen vorgegeben waren und die Illustratoren diese zu füllen hatten: Nahezu alle Bilder stehen sich paarweise gegenüber und zeigen jeweils eine Szene in zwei getrennten Feldern. Hierdurch ergibt sich, wohl eher unbeabsichtigt, eine interessante Distanzierung zwischen den wundersamen Wesen und Orten im einen und dem Protagonisten im anderen Bildfeld, indem letzterer die Diversität der göttlichen Schöpfung beobachtet und deren Bestandteile in dem von ihm zerstörten Buch wieder versammelt. Der Gestalter dieser Handschrift wird wohl bewusst auf einen Text zurückgegriffen haben, in dem sich die Geste des Sammelns widerspiegelt: Brandan muss auf Gottes Geheiß hin tätig werden und erkennt so die schöpferische Vielfalt erneut. Die Handschrift wiederum stellt Weltgeschichte zusammen, die so in ihrer - als göttlich verstandenen - Ordnung zutage tritt und den Leser zu neuen Kenntnissen führt. Die Vorlage für die Brandan-Darstellungen stammt vermutlich aus einer etwa 20 Jahre älteren Sammelhandschrift mit deutschsprachigen Texten, 38 die sich heute in Heidelberg befindet (Universitätsbibl., Cod. Pal. germ. 60). 39 In ihr sind die Illustrationen nicht wie in Cim. 102 geteilt dargestellt. Von den 138 kolorierten Federzeichnungen in der Heidelberger Handschrift entfallen 33 auf Brandans Meerfahrt, also genau halb so viel wie im Münchener Codex. Cod. Pal. germ. 60 stammt wahrscheinlich ebenfalls aus Schwaben, 40 aber nicht aus derselben Werkstatt. Die darin enthaltenen Darstellungen zur Historienbibel IV, die auch in der Münchener Handschrift überliefert ist, wurden nicht mit kopiert. Dadurch wird deutlich, dass die Werkstatt, die mit der Illustration von Cim. 102 betraut wurde, ein eigenständiges Konzept für die Handschrift hatte. Durch diese Geschlossenheit in der Herstellung wird beim Betrachter die Einheitlichkeit der Stoffe suggeriert, so dass die Sammelhandschrift wie ‚aus einem Guss‘ wirkt. VI Der Lucidarius Der dem Brandan-Text folgende Lucidarius fällt in mancher Hinsicht aus der Reihe: Als einer der wenigen Überlieferungsträger gibt Cim. 102 alle drei Teile des Lucidarius wieder, die erstens das Schöpfungswerk, zweitens die Lehre von der Erlösung und drittens die letzten Dinge umfassen, und konzentriert sich nicht, wie die meisten erhaltenen Texte, auf die naturkundlichen Aspekte im ersten Teil des Werks. 41 Als einziger Text in 84 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph von Braunschweig und fern von Herzogen Heinriche? Zum A-Prolog des Lucidarius“, in: ZfdPh 122/ 1 (2003), S. 20-47. 42 Rudolph, Lucidarius (wie Anm. 10), S. 564-566, Nr. 87.0.6., siehe auch die Einleitung zur Stoffgruppe, S. 551-556; Monika Unzeitig, „Ein Weltbild zwischen Popularisierung und Verwissenschaftlichung. Die illustrierten Drucke des Lucidarius im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Von Köchinnen und Gelehrten, von Adeligen und Soldaten. Interdisziplinäre Zugänge zum Erschließen menschlichen Daseins in der Vormoderne, hg. von Dessislava Stoeva-Holm und Susanne Tienken, Uppsala 2014, S. 17-32. 43 Helgard Ulmschneider, Der deutsche Lucidarius. Die mittelalterliche Überlieferungsgeschichte, Bd. 4, Berlin/ New York 2011 (Texte und Textgeschichte 38), S. 201. 44 Zur roten cappa und einem schweren, langen Mantel als Bekleidung der Universitätsgelehrten: Andrea von Hülsen-Esch, Gelehrte im Bild. Repräsentation, Darstellung und Wahrnehmung einer sozialen Gruppe im Mittelalter, Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 201), S. 99-107. 45 Vgl. Ulmschneider (wie Anm. 43), S. 199-202. Cim. 102 fiel dem Lucidarius nur eine Abbildung zu, die jedoch als einzige - von den Holzschnitten abgesehen - ganzseitig ist. Dabei folgte man nicht der handschriftlichen Bildtradition, den Lucidarius mit einer Weltkarte zu versehen, sondern entschied sich für eine dem Text vorangehende Szene mit einem Gespräch zwischen Meister und Schüler, die so wiederum nur für den Lucidarius-Druck überliefert ist (zuerst 1479 in Augsburg bei Anton Sorg; GW M09336, ISTC il00332200). 42 Dies könnte darauf hinweisen, dass die Handschrift nach 1479 abgeschlossen worden ist. Schon Helgard Ulmschneider zeigt sich über die Illustration, die sonst in keiner weiteren deutschsprachigen Lucidarius-Handschrift vorkommt, verwundert und nimmt an, dass die zahlreichen Abbildungen zu den weiteren Texten in Cim. 102 hier eine Darstellung praktisch eingefordert hätten, unter anderem zur leichteren Auffindbarkeit innerhalb der Kompilation. In Michell hal (Bl. 260v; Abb. 5), dessen Name im Band des Engels nachträglich eingetragen wurde, sei der Erstbesitzer zu vermuten. 43 Außerdem sei der Meister als Mediziner dargestellt worden, worauf neben seiner Kleidung 44 die prominente Stellung des Uringlases im Lesepult hinweise. 45 Dies würde wiederum bedeuten, dass es sich bei der Darstellung von Mediziner und Schüler im Gegensatz zu den zeitgleich entstandenen Druck-Illustrationen, in denen der Schüler die Worte des Meisters beim imaginierten Entstehungsvorgang des Lucidarius aufschreibt, bereits um eine weitere Rezeptionsstufe des Textes handelt. Dass diese Sammelhandschrift belehren und möglichst umfassendes Wissen vermitteln soll, wird auch durch die Aufnahme dieses Textes und dem dazugehörenden Bild deutlich. Die Illustration zu diesem Text könnte symbolisch für den gesamten Codex stehen, in dem Kenntnis durch das Lesen der (biblischen) Geschichte, die Erfahrung der göttlichen Ordnung oder durch weise Meister gewonnen wird. Da der Lucidarius vollständig überlie‐ fert ist, wurde hier kein Thema, zu dem sich der Meister äußert, favorisiert, sondern ein thematisch möglichst breites Spektrum in den Blick genommen. Wird im Brandan die Welt über direkte Anschauung erfahren, wird im Lucidarius der Dialog zur Vermittlung der Kenntnisse des Meisters gewählt und der Leser so „erleuchtet“, wie es der Titel verspricht. VII Die Gesta Romanorum mit den Sieben weisen Meistern Auf den Lucidarius folgen in der Handschrift die Gesta Romanorum in der Redaktion g, die - wie mehrere Fassungen - eine Kurzversion der gerahmten Erzählsammlung 85 Weltgeschichte sammeln 46 Vgl. Brigitte Weiske, Gesta Romanorum, 2 Bde., Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 3), Bd. 1: Untersu‐ chungen zu Konzeption und Überlieferung, S. 111f.; Detlef Roth, „Überlieferungskontexte als Zugang zu mittelalterlichen Texten am Beispiel der Sieben weisen Meister“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 122 (2003), S. 359-382, bes. S. 363-366. 47 Udo Gerdes, „Gesta Romanorum“, in: 2 VL, Bd. 3, 1981, Sp. 25-34, hier Sp. 27. 48 Weiske (wie Anm. 46), Bd. 1, S. 1. 49 Vgl. Gerdes (wie Anm. 47), Sp. 30. 50 Vgl. zum Inhalt und Duktus der Vorrede Roth (wie Anm. 46), S. 366f. 51 Vgl. ebd., S. 366 Anm. 35. der Sieben weisen Meister (in ihrer Redaktion b, einer Prosa-Übersetzung der Historia septem sapientum) integriert. 46 Die Gesta Romanorum sind eine Exempelsammlung, die Begebenheiten aus der Antike, besonders ihrer Herrscher, im christlichen Sinne allego‐ risch ausdeutet - wie dies bereits in den variierenden Titeln Gesta Imperatorum, Roman‐ orum historia, teils ergänzt durch die Zusätze moralizata oder mistice, anklingt. 47 Diese „beliebteste Exempelsammlung des Mittelalters“, 48 die in der vorliegenden Version jene Erzählsammlung integriert, die zur erfolgreichsten der Frühen Neuzeit werden sollte, treibt den Anspruch, antike Geschichte theologisch und moralphilosophisch auszudeuten, auf die Spitze. Zwar treten insbesondere in den Gesta Romanorum mit ihren theologischen Allegoresen die namentlichen und historischen Referenzen auf konkrete Herrscher in den Hintergrund, doch verschwinden diese Bezüge nie ganz: Immer wieder erscheinen die Namen von Kaisern (Curtius, Zaleucus, Jovinianus, Tiberius u. a.). Und auch wenn die Protagonisten der Episoden namenlos bleiben, wie im Gros der Exempel, handeln die Einzelerzählungen doch vorwiegend von Kaisern, Königen, Fürsten oder auch Rittern. Dies schlägt sich auch in den Illustrationen nieder, die immer wieder den Typus des Kaisers bzw. Königs mit Krone und Zepter in den Mittelpunkt stellen (etwa Bll. 383ra, 391ra-b, 392va, 394rb u. ö.). Insofern stellen die Gesta Romanorum in diesem Sammelkontext eine geeignete Fortsetzung der Prosakaiserchronik dar, die ebenfalls zahlreiche merkwürdige Geschichten von römischen Herrschern enthält. Die Integration einer Redaktion der Sieben weisen Meister, die sich erneut - obwohl stofflich wohl aus Persien stammend - als Geschichte rund um einen römischen Kaiser (Diocletian und seinen Vater Pontianus) inszenieren, zeigt, dass innerhalb von Cim. 102 eine Erzählsammlung innerhalb einer weiteren Erzählsammlung integriert werden kann. Der Sammlungsgedanke potenziert sich damit mehrfach. Doch handelt es sich innerhalb der verzweigten Überlieferung der deutschen Fassungen der Gesta Romanorum keineswegs um eine Ausnahme. Die Redaktion g ist vielmehr die verbreitetste, die in acht (ober- und niederdeutschen) Drucken (zwischen 1473 und etwa 1530) auch ins typographische Zeitalter Einzug hält. 49 Der Illustrator nimmt auch in diesem Teil überlegt Bezug auf die Texte. In der vorlie‐ genden Redaktion wird die Übersetzung der Sieben weisen Meister von einer predigthaften Vorrede eingeleitet, 50 die zentrale theologische Anliegen der geistlichen Auslegungen zu den Erzählungen wiederaufnimmt und im Gedanken der Gewissenserfoschung für die Sündenerkenntnis bündelt. Die auch in anderen Handschriften dieser Redaktion überlie‐ ferte Vorrede ist in dieser und zwei weiteren Textzeugen überschrieben mit Da predigt ain maister dem volk (Bl. 322ra). 51 Illustriert wird diese Überschrift mit der Darstellung eines 86 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph 52 Vgl. Graf (wie Anm. 12), S. 55-69. 53 Ebd., S. 83. 54 Vgl. die „quellenkundliche[n] Bemerkungen“ ebd., S. 158-182. 55 KdiH, Bd. 3: Lokal-, Territorial- und Herrschaftschroniken. Schwaben: Thomas Lirer, Schwäbische Chronik - Gmünder Chronik, von Norbert H. Ott, S. 315-317, Nr. 26A.17.b. [http: / / kdih.badw.de/ datenbank/ druck/ 26A/ 17/ b], siehe auch die Einleitung, Nr. 26A.17. 56 Anhand anderer kolorierter Exemplare der Lirer-Chronik, kann man deutlich die Unterschiede zur Kolorierung im Druck in Cim. 102 aufzeigen. In vielen Exemplaren lässt die Kolorierung schnell nach und nur noch einzelne Partien werden mit Farbe versehen (vgl. Budapest, Evangelisch-lutherische Zentralbibl., EOK R 1.480/ 1). Die Farben Blau und Lila, die in Cim. 102 nicht verwendet wurden, gibt es in anderen Exemplaren der Lirer-Chronik durchaus (vgl. Stuttgart, Württemb. Landesbibl., Inc.fol.10117). Zur Kolorierung von Holzschnitten im 15. Jahrhundert: Doris Oltrogge, „Illuminating the Print. The Use of Color in Fifteenth-Century Prints and Book Illumination”, in: The woodcut in fifteenth-century Europe, hg. von Peter Parshall, New Haven u. a. 2009, S. 299-316; Thomas Primeau, „The Materials and Technology of Renaissance and Baroque Hand-Colored Prints”, in: Painted prints. Lehrers mit rotem Barett und in vornehmer Kleidung an einem Lesepult, unter dem u. a. ein Harnglas steht. VIII Thomas Lirers Schwäbische Chronik Die am Ende beigebundene Inkunabel der Schwäbischen Chronik des vermutlich pseud‐ onymen Thomas Lirer nimmt in der Sammlungskonstellation von Cim. 102 den chronika‐ lischen Anspruch des Bandes auf und konzentriert ihn abschließend auf seine Ursprungs‐ region, indem nun die (wenngleich fabulöse) Geschichte einzelner schwäbischer und alemannischer Adelsgeschlechter von der Ur- und Frühzeit bis zur Gegenwart erzählt wird. Der Druck und mit ihm der Sammelband schließt mit der sog. Gmünder Kaiserchronik, die sich eng an das Geschichts- und Erzählkonzept der älteren Kaiserchronik anlehnt und so eine Brücke zum Buch der Könige bildet, mit dem der handschriftliche Teil des Bandes eröffnet wird. Die gelehrte, aber höchst fabulöse Schwäbische Chronik Lirers - bereits der Name könnte auf einen Leierspieler und Fabulierer sowie den „Schelm oder Schalk“ verweisen - 52 wurde von Klaus Graf in seiner grundlegenden Untersuchung als „ein unterhaltsames Geschichtenbuch“ charakterisiert, das sich als „historische Darstellung ausgibt“, „das literarische Erzählstoffe mit in die graue Vorzeit der Christianisierung Schwa‐ bens zurückdatierten und bewußt verfremdeten geschichtlichen Fakten mischt“. 53 Lirers Schwäbische Chronik wurde stets gemeinsam mit der Gmünder Kaiserchronik gedruckt, die einen Abriss der Geschichte der deutschen Könige und Kaiser von Pippin bis Karl IV. bietet 54 und die anders als die Lirer-Chronik auch handschriftlich überliefert ist. Diese Konstellation lässt sich als kohärente Fortsetzung der Sammlungsidee des handschriftlichen Teils von Cim. 102 begreifen: Auch in diesen Texten werden historische Stoffe unterhaltsam und lehrreich in volkssprachigem Text und Bild präsentiert. Der Druck (Ulm: Konrad Dinckmut, 12.1.1486; HC 10117, GW M18412, ISTC il00226000) enthält insgesamt 23 ganzseitige Holzschnitte, die durchgehend koloriert worden sind. 55 Aufgrund des einheitlichen Farbauftrags im Sammelcodex mit den einfachen Farben Gelb, Rosa, Grün, Braun, Grau und dem sehr deckenden Lackrot kann man davon ausgehen, dass die Kolorierung nicht in der Druckerwerkstatt angebracht worden ist; vielmehr ist sie der Werkstatt zuzuordnen, in der die Handschrift entstand (Abb. 6a/ b). 56 Demnach kann der 87 Weltgeschichte sammeln The revelation of color in Northern Renaissance & Baroque engravings, etchings & woodcuts, hg. von Susan Dackerman, University Park, Pa. 2002, S. 49-78. 57 Vgl. Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert, Köln u. a. 2003 (Pictura et poesis 16), S. 245f. 58 Vgl. Fromm/ Fischer (wie Anm. 10), S. 114; Kornrumpf/ Völker (wie Anm. 10), S. 65; Müller (wie Anm. 10), Textbd., S. 7; Bodemann, Heiligenleben, Brandan (wie Anm. 10), Nr. 51.6.2. 59 In der Diskussion in Ascona wurde darauf hingewiesen, dass auch Ps 90,12 anklingen könnte. 60 Vgl. Müller (wie Anm. 10), Textbd., S. XI: „[E]rstaunlich ist es, dass dabei fast keine Überschneidungen mit den dort [scil. den Katalogen datierter Hss., JKK/ PR] bisher enthaltenen Personen zu beobachten sind.“ 61 Augsburg, Staats- und Stadtbibl., 2 o Cod. Aug. 72. Druck nicht als Nachtrag gelten, der später zu der Handschrift hinzugebunden worden ist. Es ist davon auszugehen, dass er ursprünglich zur Sammlung gehört hat, so dass man einen Abschluss des gesamten Codex im Jahr 1486 oder kurz danach annehmen darf. Außerdem verweisen die einfache Kolorierung und die zahlreichen Illustrationen darauf, dass der Auftraggeber zwar ein reich ausgestattetes Bildprogramm erwartete, die Kosten dafür aber soweit beschränken musste, dass auf teures Blau oder Gold verzichtet wurde. Eine günstige Anschaffung war der Codex deshalb jedoch nicht, vergleichbare Handschriften hat beispielsweise der Augsburger Bürgermeister besessen. 57 IX Schreiber, Illustrator und Auftraggeber Der Schreiber des handschriftlichen Teils - es ist davon auszugehen, dass es (bis auf das Nachtragsblatt) nur einer ist -, nennt sich am Ende der Gesta Romanorum (Bl. 396ra): Von mir etc. ioha|t ler: wns. Bis auf Details wie dem Doppelpunkt zwischen ler und wns ist die Lesung dieser Schreibernennung in allen bisherigen Handschriftenbeschreibungen gleichbleibend; 58 doch hat bislang niemand eine schlüssige Deutung dieser Buchstaben‐ kombination, die eine verschlüsselte Namensnennung zu sein scheint, vorgeschlagen. Dass der Schreiber Johannes hieß, scheint durch die ersten vier durch Hochpunkte getrennten Buchstaben · i · o · h · a · gesichert, die untere Zeile dagegen bereitet Kopfzerbrechen. Gisela Kornrumpf, die 1968 die Handschrift beschrieben hat und die für den vorliegenden Beitrag nochmals um ihre Expertise gebeten worden ist, hat auch keine weitere Handschrift, die mit dieser Schreiber-Signatur versehen ist, ausgemacht. Sie schlägt vor, die Nennung aufzulösen als ‚Johannes (ioh) von T. (a t.)‘ und liest die folgenden Worte ler wns (= uns) als Bitte an Gott bzw. den Leser zum Umgang mit der Handschrift. 59 Dieser Schreiber konnte bisher in keiner anderen Handschrift nachgewiesen werden, weder durch Nennung noch durch Händevergleich, ähnlich wie bei zahlreichen Schreibern aus dem Bestand der Universitätsbibliothek Ingolstadt. 60 Wenn man den Duktus des Johannes (a T.), der eine leicht nach rechts geneigte, häufig schlaufenlose Bastarda schreibt, gern die Oberlängen der ersten Zeile einer Spalte oder die Unterlängen der letzten zu kleinen Ornamenten auszieht, mit namentlich bekannten Schreibern vom Ende des 15. Jahrhunderts vergleicht, dann ließe sich an eine besondere Nähe zu Georg Mülich oder dem ungenannten Schreiber der Augsburger Handschrift der Chronik von dessen Bruder Hektor Mülich 61 denken. Auch Konrad Bollstatter steht nicht fern, aber mit keinem der drei Genannten ist jener Johannes identisch. Des Weiteren stellt sich die Frage, wer das Bildprogramm von Cim. 102 zu 88 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph 62 Norbert H. Ott, „Frühe Augsburger Buchillustration“, in: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Helmut Gier und Johannes Janota, Wiesbaden 1997, S. 201- 241, hier S. 217; KdiH, Bd. Bd. 2: Jacobus de Theramo, Belial, deutsch, von Norbert H. Ott, München 2006, S. 71-74, Nr. 13.0.21. [http: / / kdih.badw.de/ datenbank/ handschrift/ 13/ 0/ 21]. Außerdem sind die Christus-Darstellungen in der Belial-Handschrift vergleichbar mit einer geistlichen Sammelhand‐ schrift, die Christine Stöllinger-Löser aufgrund der Schreibsprache nach Schwaben verortet (vgl. Wrocław, Biblioteca Uniwersytecka, Akc. 1948/ 208, Bl. 10v, und Augsburg, Universitätsbibl., Cod. III.1.4 o 27, Bl. 1r). Auffällig übereinstimmend ist der stark nach oben hin verlängerte Kreuznimbus, der Bart und die Gesichtszüge von Jesus, ebenso die Wunden Christi und die Gestaltung der Zehen und Füße. Abgesehen vom Rasenstück gibt es keine farbigen Hintergründe oder Landschaftsdetails, die Figuren stehen raumgreifend im Zentrum; vgl. KdiH, Bd. 7: Katechetische Literatur. Symbolum apostolicum, deutsch, von Christine Stöllinger-Löser, München 2017, S. 446f., Nr. 67.6.1. u. Abb. 93 [http: / / kdih.badw.de/ datenbank/ handschrift/ 67/ 6/ 1]. 63 KdiH, Bd. 8,1/ 2: Leben Jesu und Passion. Ludolf von Sachsen / Michael de Massa, Vita Christi, deutsch, von Kristina Domanski, München 2019, S. 106-112, Nr. 73.10.11. verantworten hatte: Es gibt keine konkreteren Hinweise auf die ordnende Hand, allerdings gab der Schreiber in den Gesta Romanorum genaue Anweisungen, wo jeweils keine Bilder angebracht werden sollten: HJe sol kain figur stan (Bl. 331vb). Er könnte folglich für die Konzeption des Bildprogramms verantwortlich gewesen sein. Die Werkstatt, in der die Sammelhandschrift bebildert und koloriert worden ist, zeichnet sich durch einen sehr distinguierenden Stil aus. Sie arbeitet mit einfachen, schwarzen Rahmen; kräftigen, schwarzen Umrisslinien und wenigen, parallelen Binnenschraffuren; einer einfachen, aber kräftigen Farbgebung, die die Schraffuren manchmal überlagert. Die Figuren werden auf einen grünen Untergrund platziert, ansonsten wird kein Hinter‐ grund (z. B. ein blauer Himmel oder ähnliches) angebracht. Über stilistische Vergleiche können dieser Werkstatt weitere Handschriften zugeordnet werden, die entweder in den Augsburger oder Ulmer Raum gehören, ohne dass sich eine endgültige Entscheidung treffen lässt. Besonders auffällig sind die Ähnlichkeiten zu einer Belial-Handschrift aus Breslau (Wrocław, Biblioteca Uniwersytecka, Akc. 1948/ 208), nicht nur in den oben genannten Merkmalen, sondern auch im Detail. Markant ist beispielsweise die Gestaltung der Augen‐ partien der Figuren (stark nach oben schwingende Augenbrauen über eher runden Augen mit kleinen schwarzen Punkten als Pupillen, die Nase entsteht aus der verlängerten Linie einer Augenbraue) oder jene von nackten Frauen (eine Brust frontal, eine von der Seite, der Bauchnabel ist durch einen relativ großen Schwung gebildet, darunter zieht sich eine schwarze Linie zur Scham hin) (Abb. 7a/ b). Praktisch identisch ist die Sitzhaltung der Könige, ihre Kronen und Zepter. Bei allen Figuren fällt das Haar entweder in leichten, parallelen Schwüngen nach unten oder wird stärker gelockt gezeigt, wobei die Locken dennoch streng geordnet wirken. Ott vermutet die Entstehung der Belial-Handschrift im östlichen Schwaben, in der Augsburger Gegend. 62 Die klaren, schwarzen Linien sowie der gleichmäßige Farbauftrag der Werkstatt nehmen visuell Bezug zu gedruckten Bildern der Zeit, wie Domanski für ein weiteres vergleich‐ bares Illustrationsprogramm in einem Wolfenbütteler Codex festgestellt hat (Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. Guelf. 1.11 Aug. 2 o ). Die Handschrift von 1471 überliefert eine deutsche Vita Christi und ist mit 284 Darstellungen ausgestattet. 63 Domanski bemerkt die Nähe der Abbildungen zu den Holzschnitten bei Johann oder Günther Zainer und geht 89 Weltgeschichte sammeln 64 Speculum humanae salvationis ([Augsburg: Günther Zainer, um 1473, nicht nach 1475]; GW M43054, ISTC is00670000). Exemplar der Universitätsbibliothek München, Cim. 52a, Bl. 179v. 65 Auslegung des Lebens Jesu Christi ([Ulm: Johann Zainer d. Ä., nicht vor 1478]; GW 3084, ISTC ia01399000). Exemplar der Staatsbibliothek München, BSB-Ink G-63, Bl. 23r. 66 Ausführlich zu Zainer und dem Augsburger Buchdruck: Augsburg macht Druck. Die Anfänge des Buchdrucks in einer Metropole des 15. Jahrhunderts, hg. von Günter Hägele und Melanie Thierbach, Augsburg 2017. 67 KdiH, Bd. 2: Biblia pauperum, von Norbert H. Ott, München 1996, S. 308-311, Nr. 16.0.20. [http: / / kdih.badw.de/ datenbank/ handschrift/ 16/ 0/ 20]. 68 Vgl. Christine Beier, „Missalien massenhaft. Die Bämler-Werkstatt und die Augsburger Buchmalerei im 15. Jahrhundert“, in: Codices Manuscripti 48/ 49 (2004), Textbd., S. 55-72, hier S. 63-71, Tafelbd., S. 66-78. 69 Hinweis von Jürgen Wolf. 70 In Augsburg ist ab 1489 für einige Jahre ein Meister Michel als Augenarzt (Okulist) bezeugt; vgl. Gerhard Gensthaler, Das Medizinalwesen der Freien Reichsstadt Augsburg bis zum 16. Jahrhundert. Mit Berücksichtigung der ersten Pharmakopöe von 1564 und ihrer weiteren Ausgaben, Augsburg 1969 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 21), S. 48 mit Anm. 225. Dass er mit Michell hal daher von einer Entstehung der Handschrift, die einen schwäbischen Dialekt aufweist, in Ulm oder Augsburg aus (Abb 8a-c). 64 Ein genauer Vergleich kann zeigen, dass der Wolfenbütteler und damit auch der Münchener Codex stilistisch größere Ähnlichkeit mit den Holzschnitten der Augsburger Werkstatt von Günther Zainer aufweisen. Besonders in den einfachen Umrisslinien und Parallelschraffuren, den praktisch leeren Hintergründen, der Gestaltung der Nacktheit oder in der Sitzhaltung der Könige und ihrer Kronen fallen die Gemeinsamkeiten zwischen den Miniaturen und gedruckten Darstellungen auf. Dagegen sind die Holzschnitte bei Johann Zainer in Ulm sehr viel detailreicher, mit deutlich mehr Binnenschraffuren oder Hintergrund, der beispielsweise mit Wolken angedeutet wird (Abb. 8a-c 65 ). Neben der Nähe der Darstellungen von Cim. 102 zu den Augsburger Drucken von Zainer 66 ist außerdem festzustellen, dass es interessante Überschneidungspunkte mit anderen Werkstätten gibt, die gesichert in Augsburg tätig waren. Wie bereits erwähnt, ist der Stil des Schreibers mit dem von Bollstatter oder Mülich zu vergleichen. Auch die Illustratoren, die häufig die Handschriften Bollstatters ausgestattet haben, weisen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Werkstatt von Cim. 102 auf, auch wenn der Stil der Bollstatter-Werkstatt als aufwendiger und subtiler zu bewerten ist, was ein Vergleich mit den Darstellungen einer Biblia pauperum  67 aus Prag von 1481 anschaulich machen kann (Abb. 9). Die Initiale auf Bl. 4r der Biblia pauperum wird inzwischen dem Schreiber, Drucker und Illuminator Johann Bämler zugewiesen, der zeitweise auch für Zainer gearbeitet hat. 68 Es zeigt sich also eine gewisse Nähe der beiden Werkstätten. Hinzu kommt die schon nachgewiesene Kenntnis der hebräischen Schrift, die im Umkreis von Augsburger Werkstätten besteht. Das Wissen um die hebräischen Zeichen ist ausgehend von Mülich sowohl in Cim. 102 als auch bei Bollstatter zu beobachten. Somit wäre die Illustratorenwerkstatt eher in Augsburg oder der näheren Umgebung anzusiedeln, was nicht bedeutet, dass der Auftraggeber unbedingt in Augsburg ansässig war. Die beigebundene Ulmer Chronik, die kein Augsburger Bürger in seine Sammelhandschrift aufgenommen hätte, spricht zumindest dagegen. 69 Eventuell war der von Ulmschneider vermutete Auftraggeber, Michell hal, wirklich Arzt und zumindest zeitweise in Augsburg tätig. 70 Auf den Beruf des Mediziners weisen einige Darstellungen in Cim. 102 hin. Zum einen 90 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph identisch ist, ist nicht sehr wahrscheinlich, da die Augenärzte, deren Hauptaufgabe das Starstechen war, meist nicht über eine akademische Bildung verfügten. 71 Ortrun Riha, „Medizin für Nichtmediziner: Die Popularisierung heilkundlichen Wissens im Mittelalter“, in: Medizin, Gesellschaft, Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung 13 (1994), S. 9-34, hier S. 17f.; Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln u. a. 2009. 72 Zur Handschrift: Birgitt Weimann, Die mittelalterlichen Handschriften der Gruppe Manuscripta Germa‐ nica, Frankfurt am Main 1980 (Kataloge der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main 5,4), S. 31f. 73 Zur Handschrift: Nicole Eichenberger und Christoph Mackert, Überarbeitung und Online-Publikation der Erschließungsergebnisse aus dem DFG-Projekt zur Neukatalogisierung der ehemals Donaueschinger Hand‐ schriften in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, unter Mitarbeit von Ute Obhof und Annika Stello sowie unter Einbeziehung von Vorarbeiten von Wolfgang Runschke und Sabine Lütkemeyer, 2012/ 2013 [http: / / www.manuscripta-mediaevalia.de/ dokumente/ html/ obj31576113]; Welterfahrung und Innova‐ tion. Epochenwandel in der Buchmalerei des 15. Jahrhunderts, hg. von Mathias Herweg und Annika Stello, Luzern 2015 (10 Stationen zur mitteleuropäischen Buchmalerei des 15. Jahrhunderts 2), S. 48f. 74 Vgl. Löser (wie Anm. 4), S. 99. die schon erwähnte Abbildung zum Lucidarius, in der der als Michell hal gekennzeichnete Gelehrte durch seinen Mantel und die cappa als Universitätsgelehrter ausgewiesen wird, das in seinem Lesepult aufbewahrte Uringlas bezeichnet ihn genauer als Arzt. Auf das Harnglas als signifikantes Attribut für Mediziner haben beispielsweise Ortrun Riha und Michael Stolberg aufmerksam gemacht. 71 Dass die Handschrift für einen Arzt bestimmt war, würde auch erklären, warum auffällig häufig Mediziner in der Handschrift abgebildet worden sind. Insgesamt gibt es acht Darstellungen von Ärzten bzw. medizinischen Szenen, wie der Urinschau oder dem Aderlass (zwei im Buch der Könige, Bll. 59ra, 63rb und sechs in den Gesta Romanorum zu den darin enthaltenen Sieben weisen Meistern Bll. 279vb, 284va, 342ra, 345vb, 394rb, 394vb). Vergleichbar bebilderte Handschriften, die die Sieben weisen Meister überliefern, beinhalten nicht derart viele Ärztedarstellungen. Es sind eher eine, wie in Frankfurt 72 (Universitätsbibl., Ms. germ. qu. 12, Bl. 55r), oder maximal drei derartige Abbildungen zu finden, wie einer Handschrift aus Karlsruhe 73 (Landesbibl., Cod. Donaueschingen 145, Bll. 24vb, 95ra, 95va). Zudem kommt die Abbildung einer Urinschau im Vergleich mit anderen illustrierten Sieben weisen Meister-Handschriften ausschließlich im Münchener Codex vor, so dass das Harnglas als bedeutendes Attribut für diesen Besitzer wahrscheinlich ist. Die materiell einfache, aber klug durchdachte Ausstattung des Buchs könnte ein zusätzliches Argument sein, den Auftraggeber im universitären Umfeld zu vermuten. X Fazit und Ausblick In Ermangelung von expliziten Äußerungen von Sammlern oder Auftraggebern zur Konzep‐ tion von literarischen Sammlungen ist die Forschung auf Hypothesen angewiesen, wenn sie Sammlungskonzepte für Handschriften und andere Objekte des Sammelns rekonstru‐ ieren möchte. 74 Versucht man die in Cim. 102 versammelten Texte in eine hypothetische Ordnung zu bringen, so lässt sich der Beginn mit den häufig (seit dem 15. Jahrhundert) gemeinsam überlieferten und in ihrer Entstehung (im Kreis Augsburger Franziskaner um 1274/ 75) verwandten Prosa-Chroniken (dem Buch der Könige alter und niuwer ê) als ein weltchronistischer Beginn deuten, der mit der Prosakaiserchronik reichsgeschichtlich bis 91 Weltgeschichte sammeln 75 Kornrumpf (wie Anm. 22), Untertitel. 76 Ähnlich interpretiert Lieselotte E. Saurma-Jeltsch den Sammler von Wissen im Buch der Natur als „neuen Prometheus“: Lieselotte E. Saurma-Jeltsch, „Vom Sachbuch zum Sammelobjekt: Die Illustrationen im Buch der Natur Konrads von Megenberg“, in: Konrad von Megenberg (1309-1374) und sein Werk. Das Wissen der Zeit, hg. von Claudia Märtl u. a., München 2006 (Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte, Beiheft 31, Reihe B), S. 421-484, 539-553. an die Gegenwart (des späteren 13. Jahrhunderts) heraufgeführt wird. Die gemeinsame Überlieferung von Buch der Könige alter ê und Prosakaiserchronik ohne ein nachfolgendes Rechtsbuch ergibt in dieser Sammelhandschrift einen guten Sinn: Auf diese Weise beginnt die Handschrift mit einer sehr knappen, teils auf bloße Inhaltsangaben zusammengefassten Weltchronik, die über weite Strecken wie eine volkssprachige Bibelparaphrase wirkt und mit der Prosa-Auflösung der Kaiserchronik vom antiken Rom zum mittelalterlichen Imperium überleitet. Diese Kompilation gilt auch als „Exempelsammlung als Historienbibel“ 75 . Auf den so bezeichneten Chronikkomplex folgen in dieser Handschrift eine ‚echte‘ Historien‐ bibel sowie eine oberdeutsche Prosaversion der verbreiteten Heiligenlegende von Brandans Meerfahrt, die den irischen Heiligen als Repräsentanten der Mission Europas in abenteuerli‐ chen Episoden darstellt. Die christlich-theologische bzw. weisheitliche Interpretation von Geschichte findet sich in den beiden ineinander gearbeiteten exemplarischen Erzählsamm‐ lungen, den Gesta Romanorum mit den Sieben weisen Meistern, die zwar Erzähltraditionen orientalischen Ursprungs einbinden, aber doch immer noch vorgeben, Geschichten aus dem antiken Rom oder dem mittelalterlichen Reich zu erzählen und auszulegen. Mit der Schwäbischen Chronik des vorgeblichen Thomas Lirer, die als Inkunabeldruck integraler Teil des spätmittelalterlichen Buches ist, wird diese unterhaltende Weltgeschichte an die Gegenwart des Kompilators und seiner primären Rezipienten herangeführt. Der fabulöse Charakter von Lirers Kompilation passt dabei bestens zu unterhaltenden Erzählsammlungen, die dennoch historische Information zu bieten vorgeben. Der präsentierte Sammelband zeichnet sich zugleich durch die Diversität der zusammen‐ getragenen Stoffe und Medien, aber auch durch die Geschlossenheit in der Herstellung aus. Zudem besteht der Anspruch auf vollständige Überlieferung der Texte sowie auf den Geschichtsverlauf von Adam und Eva bis in die Zeit des Sammlers. Das Illustrationspro‐ gramm setzt den Fokus auf die Darstellung von Übermittlung und den Repräsentanten von Weisheit (in der Historienbibel: Konzentration auf Salomo), auf das Vor-Augen-Stellen von Exempla (Sieben weise Meister) sowie dem Erlangen und Versammeln von Wissen (Brandans Meerfahrt). Es existieren zahlreiche Leseszenen, Begegnungen mit Fremden und Belehrungen von Königen, Schülern oder dem Leser. Durch diese Verwendung gleicher Motive in verschiedenen Kontexten schlagen die Bilder Brücken zwischen den Texten und verleihen der auf den ersten Blick willkürlich erscheinenden Sammlung ein einheitliches Gepräge. Nicht zuletzt gibt der Schreiber vielleicht mit seinem ler wns einen Hinweis auf das übergreifende Thema des Codex. Der Besitzer könnte sich hier als ‚neuer Lucidarius-Meister‘ oder ‚neuer Brandan‘ inszeniert haben, der Wissen versammelt und nach Weisheit strebt (neben dem Teil des Brandan ist jener der Sieben weisen Meister am stärksten abgegriffen). 76 Möglicherweise sollte dieses Wissen in Form des Lehrbuchs an einen Schüler weitergegeben werden. In seiner Einheitlichkeit lässt der Sammelband eine zu erschließende Logik des Versammelns, Ordnens und Strukturierens erkennen. Die Geste 92 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph des Bewahrens und Deutens von bekannten Texten in einem neuen Zusammenhang sollte an diesem Fallbeispiel von germanistischer und kunstgeschichtlicher Seite zur Anschauung gebracht werden. Allerdings erweist sich Cim. 102 als Einzelfall: als singuläres Buch, das sich mangels Besitzeinträgen nur näherungsweise in einen Entstehungskontext, nicht aber in einen kon‐ kreten Sammlungskontext stellen lässt; eine Identifizierung des Schreibers und des Besitzers, die sich (verschlüsselt bzw. verkürzt) nennen, jedoch nicht in anderen Büchern der Zeit wiederfinden, ist unmöglich. Als ein solcher Einzelfall illustriert Cim. 102 freilich die Vielfalt eines mehrere Medien, Handschrift und Typographie, Text und Bild, umgreifenden Sammel‐ willens, den zumindest stilbzw. schriftgeschichtlich in einen Kontext der volkssprachigen Buchproduktion des ausgehenden 15. Jahrhunderts im östlichen Schwaben, wahrscheinlich in Augsburg und Umgebung, gestellt werden kann. Das illustrierte Buch zeigt sich einer kohärenten Interpretation zugänglich, derzufolge Schreiber, Illustratoren und vielleicht auch der Auftraggeber geplant und koordiniert vorgegangen sind. Abbildungen Abb. 1: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 6vb. 93 Weltgeschichte sammeln Abb. 2: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 57vb. Abb. 3: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 57va. 94 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph Abb. 4: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 106ra. Abb. 5: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 260v. 95 Weltgeschichte sammeln Abb. 6a/ b: München, Universitätsbibliothek, Cim. 102, Bl. 102ra und Bl. 400v. Abb. 7a/ b: Wrocław, Biblioteka Uniwersytecka, Akc. 1948/ 208, Bl. 14v; München, Universitätsbiblio‐ thek, Cim. 102, Bl. 11rb. 96 Johannes Klaus Kipf und Pia Rudolph Abb. 8a-c: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.11 Aug. 2 o , Bl. 210rb; Augsburg, [Günther Zainer, um 1475/ 76]; [Ulm: Johann Zainer d. Ä., nicht vor 1478]. Abb. 9: Praha, Národní Knihovna České republiky, Cod. XVI A 6, Bl. 24r. 97 Weltgeschichte sammeln 1 Hans-Joachim Ziegeler, „Schwank 2 “, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ New York 2003, S. 407-410, hier S. 410. 2 Hermann Bausinger, „Schwank“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 12, Berlin/ New York 2007, Sp. 318-332, hier Sp. 319. 3 Ziegeler (wie Anm. 1), S. 409. Siehe auch Horst Thomé und Winfried Wehle, „Novelle“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin/ New York 2000, S. 725-731, hier S. 727. 4 Zu frühneuzeitlichen Schwankbüchern als „Thesauri“ und „Sammlungen von Geschichten zur Wiederverwendung“ etwa Klaus Grubmüller, „Inszeniertes Erzählen - Thesauriertes Erzählen. Über das Verhältnis von Buchdruck und Erzählsituation“, in: Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch. Transformationen eines sequentiellen Erzählparadigmas, hg. von Seraina Plotke und Stefan Seeber, Heidelberg 2019 (Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 96), S. 123-133, hier S. 123. Zum Sammeln in der frühen Neuzeit weiterhin Christian Meierhofer, Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht, Würzburg 2010 (Episte‐ mata. Reihe Literaturwissenschaft 702), im vorliegenden Zusammenhang bes. S. 19-79. - In der neueren Forschung wird dabei zunehmend gefordert, gegenüber den einzelnen Erzählungen stärker den Kontext der jeweiligen Sammlung zu fokussieren. So betonen etwa Plotke und Seeber, „wie problematisch sich der (pragmatische) Zugang der älteren Forschung erweist, sich steinbruchhaft auf Einzeltexte zu konzentrieren, ohne die Sammlungskontexte zu berücksichtigen. Die Forderungen nach einer Betrachtung der Kurzerzählungen im Überlieferungszusammenhang sowie nach der Bewertung des medialen Status ihrer Ko- und Kontexte ist unhintergehbar.“ (Seraina Plotke und Stefan Seeber, „Ko- und Kontexte. Kurzerzählungen zwischen Handschrift und Buchdruck“, in: Schwanksammlungen [so unten, Anm. 9 u. ö.] [wie oben], S. 3-12, hier S. 12). In Bezug auf die mittelal‐ terliche Versnovellistik, aber mit einem Seitenblick auch auf frühneuzeitliche Schwanksammlungen außerdem Margit Dahm-Kruse, Versnovellen im Kontext. Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften, Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica 68), S. 12: „Unabhängig von der Frage planvoller Komposition ist der Sammlungskontext in mehrfacher Hinsicht wesentliches Element der Sinnkonstitution des versnovellistischen Einzeltextes. Jede Sammlung fügt den Einzeltext in Sammeln zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds handschriftliche Schwanksammlung Roldmarsch Kasten (1608) Linus Möllenbrink Für das Phänomen des Sammelns als literarischer Praxis bieten die frühneuzeitlichen Schwankbücher einen geradezu paradigmatischen Untersuchungsgegenstand. Es gehört es zu den allgemeinen Merkmalen schwankhaften Erzählens, dass hier keine neuen Ge‐ schichten erfunden, sondern bekannte Stoffe aus „interkulturell verbreiteten, mündlichen und schriftlichen Traditionen“ 1 zusammengetragen werden. Dabei steht die Präsentation der gesammelten Stoffe gegenüber ihrer narrativen und formalen Gestaltung oft im Vordergrund. 2 Weiterhin tauchen Schwänke in der Regel nicht isoliert auf, sondern als „plurale tantum“ 3 , das heißt als Teil größerer Sammlungen. Vor allem die Schwankbücher des 16. Jahrhunderts bieten umfangreiche Archive internationalen Erzählmaterials. 4 Die den übergeordneten Sinnhorizont ihrer Gesamtkonzeption ein und beeinflusst, indem sie je neue, individuelle Lektürezusammenhänge gestaltet, dessen Rezeption.“ Siehe dazu bes. S. 65-83 („Samm‐ lung als Kontext“); zu Kontinuitäten und Brüchen zwischen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kurzerzählung S. 320-349, bes. S. 338-347. Vgl. weiterhin Nicola Zotz, „Sammeln als Interpretieren. Paratextuelle und bildliche Kommentare von Kurzerzählungen in zwei Sammelhandschriften des späten Mittelalters“, in: ZfdA 143 (2014), S. 349-372. 5 Vgl. Bärbel Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 28), S. 125-127. Zur Inszenierung der ‚Sammler-Autor-Herausgeber‘-Instanz in den Vorreden von Johannes Pauli, Martin Montanus und Hans Wilhelm Kirchhof auch Stefanie Tegeler, „Schwankrecycling im 16. Jahrhundert“, in: Zitier-Fähigkeit. Findungen und Erfindungen des Anderen, hg. von Andrea Gutenberg und Ralph J. Poole, Berlin 2001 (Geschlechterdifferenz & Literatur 13), S. 56-70, hier 56-62; zu Pauli außerdem Stephanie Altrock, Gewitztes Erzählen in der Frühen Neuzeit. Heinrich Bebels Fazetien und ihre deutsche Übersetzung, Köln u. a. 2009 (Kölner Germanistische Studien. N. F. 10), S. 210f. 6 Zitiert nach Schimpf und Ernst von Johannes Pauli, hg. von Hermann Österley, Stuttgart 1966 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 85), S. 13f. 7 Zitiert nach Jakob Freys Gartengesellschaft (1556), hg. von Johannes Bolte, Tübingen 1896 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 209), S. 1. Das frühnhd. colligieren (aus lat. colligere ‚zusam‐ menlesen‘) bedeutet ‚etwas sammeln, zusammentragen‘, und wird besonders in Bezug auf schriftliche Quellen verwendet. Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, begr. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel und Oskar Reichmann, hg. von Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann und Oskar Reichmann, Bd. 1-11, Berlin u. a. 1989-2020, Bd. 8, Sp. 1277. Auch in der Widmungsvorrede beschreibt Frey, wie er sich bemüht habe, alte Geschichten zůsamen zů sůchen, zů beschreiben, inn ein klein büchlin zů verfassen (Freys Gartengesellschaft [wie oben], S. 3, Z. 20 f.). Hier nennt er außerdem die Fundstellen seiner Sammlung: Ferrers so sind ongeforlich bey zehen fablen under den andern eingefürt, so frater Johannes Pauli in dem Schimpff und ernst auch angeregt […]. Sunst sind mir der eingeschriben sachen vil selbs begegnet, dann ich auch etwann darnach gerungen; vil hab ich bey andern unnd allenthalben gesehen, gehört unnd erfaren. (ebd., S. 4, Z. 22-29). 8 Siehe unten, Anm. 33. 9 Vgl. zu Autor und Text Michael Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen. Beobachtungen zur Auto‐ risierung ‚niederen‘ Erzählens in der Gartengesellschaft (1557), in Maͤynhincklers Sack (1612) und im Roldmarsch Kasten (1608)“, in: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, hg. von Beate Kellner u. a., Berlin/ New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 303-328, hier S. 314-324; Michael Waltenberger, „Marolds Kreuz. Zur Adaptation des Buchtyps Schwanksammlung im Roldmarsch Kasten“, in: Schwanksammlungen (wie Anm. 4), S. 317-334; Linus Möllenbrink, „Retextualisierung, historische und intertextuelle Anspielungen. Dietrich Marolds handschriftliche Schwanksammlung Tätigkeit des Sammelns, also das Zusammentragen der verschiedenen Narrative, wird hier oft auch explizit in den Paratexten der jeweiligen Drucke zum Thema gemacht. 5 So heißt es zum Beispiel in der Vorrede von Johannes Paulis Schimpf und Ernst (1522), Pauli - der ausdrücklich nicht als Autor, sondern als samler dis bůchs bezeichnet wird - habe die darin versammelten Erzählungen zůsamen gelesen vsz allen büchern, wa er es funden hat. 6 Im Titel des Erstdrucks von Jakob Freys Gartengesellschaft (1556) ist ebenfalls die Rede davon, die enthaltenen Geschichten seien an vilen und mancherley orten zůsamen gesůcht vnd colligiert worden. 7 Diese Beispiele veranschaulichen, welche Bedeutung das Sammeln von literarischen Texten für die frühneuzeitlichen Schwankbücher besitzt. Das gilt auch für jenen späten Vertreter dieses Buchtyps, dem die folgenden Überle‐ gungen gewidmet sind: Dietrich Marolds handschriftliche Schwanksammlung mit dem Titel Schmahl vndt kahl Roldmarsch Kasten ist im Jahr 1608 (oder kurz danach 8 ) in Schmalkalden entstanden und in einer einzigen, autographen Handschrift überliefert. 9 100 Linus Möllenbrink Schmahl Vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN (1608)“, in: ebd., S. 281-316. Für die ältere Forschung Johannes Bolte, „Ueber die schwanksammlung Dietrich Mahrolds (1608)“, in: Freys Gartengesellschaft (wie Anm. 7), S. 265-275; Arthur L. Stiefel, „Zur Schwankdichtung im 16. und 17. Jahrhundert“, in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. N. F. [so Anm. 5] 12 (1898), S. 164-185, hier S. 181-185; Julius Hartmann, Das Verhältnis von Hans Sachs zur sogenannten Steinhöwelschen Decameronübersetzung, Berlin 1912 (Acta Germanica. Neue Reihe 2), S. 109-116. Erwähnung findet der Roldmarsch Kasten außerdem bei Erich Straßner, der den Text als eine von zwei nennenswerten Schwanksammlungen des 17. Jahrhunderts erwähnt, ohne allerdings näher auf ihn einzugehen, vgl. Erich Straßner, Schwank, Stuttgart 1968, S. 52. 10 Da keine Edition vorliegt, zitiere ich den Text unter Angabe der Seite nach der Handschrift Kassel, Universitätsbibl. / LMB, 2° Ms. poet. et roman. 21. Ein Digitalisat der Handschrift ist online verfügbar unter orka.bibliothek.uni-kassel.de/ viewer/ image/ 1392906188120/ 1/ [Zugriffe hier und im Folgenden am 8.4.2021]. 11 Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 7), Bd. 2, Sp. 1166-1168. Frühnhd. auslesen vereinigt dabei die Bedeutungsaspekte ‚auswählen‘ (‚auswählen, etwas Wertvolles herauslesen; auswählend zusammenstellen; Weinlese halten‘) und ‚lesen‘ (‚ganz, vollständig lesen‘). 12 Darauf verweist auch der als Motto in griechischer, lateinischer und deutscher Sprache zitierte Bibelvers (vgl. I Th 5,21) auf dem Titelblatt: Prüefft Alles, Vndt diß examinirt | Das guth behaltt, wie sichs gebüerth. (Bl. 1r). 13 Vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 7), Bd. 2, Sp. 589 f., zu aufraspeln als ‚zusammen‐ scharren, zusammenraffen, zusammensuchen‘; Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 14, Leipzig 1893, Sp. 141 f., zu raspeln als ‚raffen, scharren, auf einen Haufen kratzen (wie Verstreutes, Reste, Geld u. a.)‘. Zu denken wäre möglicherweise auch an den Begriff des Rapiariums/ Rapularius (zurückgeführt auf lat. rapere ‚raffen, rasch fassen‘), mit dem seit dem Spät‐ mittelalter ein nicht nur in der Devotio moderna verbreiteter Buchtyp thematisch unterschiedlicher Sammlungen bezeichnet wurde. Siehe dazu Nikolaus Staubach, „Diversa raptim undique collecta. Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna“, in: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien - Kompilationen - Kollektionen, hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 15), S. 115-147, bes. S. 115-123. 14 Darauf verweist auch die Bezeichnung als Roldmarsch Kasten, bei der es sich außerdem um ein Anagramm des Autornamens handelt. Auf das Sammeln weist auch hier schon das Titelblatt des Textes hin, auf dem Neun Vnndt Neuntzig Auserlesene[ ], Lustige[ ] Vnndt Zu Schwerer Zeit Kurtzweilige[ ] Historien Vnndt Boßirliche[ ] Schwenck Vnndt Geschicht (Bl. 1r) 10 angekündigt werden. Mit der Be‐ zeichnung der Geschichten als auserlesen wird dabei ein Vorgang der Sichtung und Auswahl vorliegenden Materials angedeutet, wie man ihn besonders von der Weinernte kennt: 11 Wie ein Winzer sammelt Marold seine Geschichten im Weinberg der frühneuzeitlichen Erzähltradition, wobei es - das legt die Formulierung nahe - nur die ‚guten‘ Fundstücke in seinen Roldmarsch Kasten schaffen. 12 Einen sehr viel weniger selektiven Vorgang ruft dagegen die ebenfalls im Titel benutzte Formulierung des zusammen raßpelns auf, das an eine eher undifferenzierte Anhäufung von Geschichten denken lässt. 13 In diesem Bild wird der titelgebende Kasten zu einem Behältnis für ganz unterschiedliches Erzählmaterial. Entsprechend heißt es auch in der Vorrede, Marold habe Altte geschicht […] Zu hauff in seinen wagen geraßpelt (Bl. 3r). Mit der Bezeichnung als wagen spielt der Text dabei auf Georg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555) an und schreibt sich damit in die Gattung der Schwankbücher ein. 14 Anders als bei Wickram ist der Wagen oder Kasten hier aber weniger als Ort zu verstehen, „an dem das Buch zur kurzweiligen Konversation verwendet werden 101 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 15 Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 323. Siehe auch Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 318, Anm. 69. Waltenberger versteht den Kasten dabei auch ganz konkret als „eine dem Leser unmittelbar evidente Bezeichnung für die materielle Gestalt des Manuskripts, dessen knapp 470 Blätter im Format 31 cm x 18 cm von einem zeitgenössischen Holzdeckeleinband zusammengehalten werden.“ (Waltenberger, „Marolds Kreuz“ [wie Anm. 9], S. 322). 16 Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 323. Marold selbst hat ein Traktat mit dem Titel Sechs Fragen vnd Antwort. Von allen Christlichen Bergwercken verfasst, das - als einziger seiner Texte - 1597 gedruckt wurde (vgl. VD 16 ZV 10408). Dazu und zu seinen persönlichen Beziehungen zum Bergbau vgl. ebd., S. 317-320. Zur wirtschaftlichen Bedeutung des Bergbaus für die Gegend um Schmalkalden vgl. Eckart Henning, Die gefürstete Grafschaft Henneberg-Schleusingen im Zeitalter der Reformation, Köln/ Wien 1981 (Mitteldeutsche Forschungen 88), S. 208-217. Die Verbindung der literarischen inventio mit dem Bildbereich des Bergbaus besitzt dabei auch eine rhetorische Tradition, wenn etwa Ovid die Argumente der Rede mit Gold vergleicht, das ausgegraben (fodere, eruere) werden müsse (De oratore, 2,41,174). Zitiert nach Marcus Tullius Cicero, De oratore. Über den Redner. Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007 (Sammlung Tusculum), S. 208-211. 17 Das wird umso deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass Marold die Vorrede nicht selbst erfunden, sondern zum größten Teil aus dem Cammerlander-Druck von Arigos Decameron (Straßburg: Jakob Cammerlander, 1535; VD 16 B 5821) übernommen hat, vgl. Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 318f.; Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 282, Anm. 9. Dort ist an der fraglichen Stelle nämlich - ganz im Sinne der Tradition novellistischen Erzählens - anstelle von altten geschichten ausdrücklich von neuwe[r] zeitung die Rede. Zitiert nach Claudia Bolsinger, Das Decameron in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. u. a. 1998 (Europäische Hochschulschriften 1687), S. 21. Zur Cammerlander-Ausgabe siehe unten, Anm. 37. 18 Für die vierte Erzählung (Ein Graff von Schwartzburgk bringt einem Altten vom Adel Zu wirtzburgk, ahn des Bischoffs hoffe, einen guthen Lutherischen trunck, Bl. 39r-40v) konnte in der Forschung bisher keine Vorlage identifiziert werden. Sie geht zurück auf eine Anekdote, die bei Johannes Manlius überliefert wird, vgl. Johannes Manlius, Libellus medicus variorum experimentorum […] (Basel: Johann Oporinus, 1563; VD 16 M 591), S. 46: Comes de Shuuarzenburg propina[n]s alicui Domini bonum haustum, dixit: Es gilt ein Lutherischen drunckh. Ille non satis dictum assequens, quærit de illo hausto. ibi Comes dixit: Die Lutherischen sehen auf den grundt. sic ego totum poculum exhauriam, biß ich den grundt lehr sehen khan. Zitiert nach dem Exemplar Halle a. S. [analog zu a. M.], Universitäts- und Landesbibl., AB 67 10/ e, 4 (2). Darauf bezieht sich dann etwa der katholische Theologe Johannes Nas im zweiten Band seiner Centurien. Vgl. Johannes Nas, Secunda Centuria, Das ist / Das ander Hundert / der Euangelische[n] warheit […] (Ingolstadt: Alexander und Samuel Weißenhorn, 1568; VD 16 N 99), Bl. 5rv. Zitiert nach dem Exemplar München, Bayer. Staatsbibl., Polem. 1934-1/ 2. Auf diesen Angriff reagiert wiederum Lucas Osiander d. Ä., Ableinung Der Lugen / Verkerungen vnnd Loͤ sterungen / mit denen Brůder Johann Naß könnte“, sondern steht vielmehr „metaphorisch für die Sammlung selbst.“ 15 Ausgehend von Marolds persönlicher Beziehung zum Bergbau denkt Michael Waltenberger bei dem Ausdruck an einen ‚Rollkasten‘, wie er um 1600 zum Transport von abgebautem Erz verwendet wurde, und erkennt darin eine poetologische Metapher „für Marolds eigenes Text-Produktionsverfahren“, welche im Gegensatz zu „gängigen Bildern des formenden Ein- und Umschmelzens oder der veredelnden Feinschmiedekunst“ vielmehr die „Ausbeu‐ tung von Rohstofflagern, das Heranschaffen, Anhäufen und die Rohbearbeitung von literarischem Material betont.“ 16 In diesem Bild steht also das Zusammentragen der Stoffe aus dem ‚Steinbruch‘ der Erzähltradition gegenüber ihrer poetischen Bearbeitung im Vordergrund. Mit der mehrfachen Hervorhebung der altten geschichten (vgl. Bl. 2r, 3r) setzt sich die Sammlung dabei programmatisch von dem Anspruch ab, neues Erzählmaterial zu präsentieren. 17 Tatsächlich findet sich im Roldmarsch Kasten keine einzige Erzählung, die nicht auf eine direkte Vorlage zurückzuführen ist. 18 Wie die stoffgeschichtlich interessierte 102 Linus Möllenbrink in seinen Centurijs der Euangelischen Warheiten (wie ers nennet) die Christlich Lehr der Augspurgischen Confession […] antastet (Tübingen: Erben Ulrich Morharts d. Ä., 1569; VD 16 O 1161), S. 55. Zitiert nach dem Exemplar München, Bayer. Staatsbibl., 4 Polem. 2274. Laut dem Deutschen Wörterbuch ist die Rede vom ‚lutherischen Trunk‘ schließlich für das 17. Jahrhundert als sprichwörtlich anzusehen, vgl. Deutsches Wörterbuch (wie Anm. 13), Bd. 22, Sp. 1383. 19 Vgl. Bolte (wie Anm. 9), S. 266-275; Hartmann (wie Anm. 9), S. 109-115. 20 Vgl. dazu Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 284-291. 21 Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 320. 22 Stiefel (wie Anm. 9), S. 185, 181. 23 Es handelt sich um die Erzählungen Nr. 3-5, 9-10, 14-15, 21, 25, 34, 37, 41, 43-44, 46, 48, 52, 58, 62-63, 65, 73, 75, 87-88, 90, 92-94, 96. Die Erzählung Nr. 54, für die Marolds Vorlage, Forschung des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat, bezieht sich Marolds Sammeltätigkeit in erster Linie auf die bekannten Klassiker des Genres: Zu den Quellen des Roldmarsch Kasten gehören neben Arigos deutschsprachiger Decameron-Übersetzung vor allem Jakob Freys Gartengesellschaft, Martin Montanus’ Wegkürzer, Wickrams Rollwagenbüchlein und die anonyme Schwanksammlung Schertz mit der Warheyt. 19 Auch wenn sich hier bei einem genauen Vergleich mit den fraglichen Prätexten noch neue Erkenntnisse gewinnen ließen, 20 interessiert mich in erster Linie Marolds Umgang mit dem gesammelten Material. Dabei lässt sich zeigen, dass es dem Autor des Roldmarsch Kasten seiner Inszenierung in den Paratexten zum Trotz nicht bloß um eine Archivierung und Präsentation von bekanntem Erzählmaterial geht. Dafür möchte ich im Folgenden die Bearbeitungstendenzen der Sammlung zunächst im Überblick betrachten (I.), bevor drei exemplarische Erzählungen des Roldmarsch Kasten im Fokus stehen (II.-IV.). Abschließend sollen die Beobachtungen unter dem Aspekt des Sam‐ melns zusammengefasst (V.) und mit Blick auf die Materialität der Sammlung kontextualisiert werden (VI.). I Auf den ersten Blick lässt sich erkennen, dass Marold seinen Vorlagen in der Regel sehr genau folgt und die Prätexte oft ohne große Änderungen in seine Sammlung übernimmt. Bis auf die Umsetzung der Prosavorlagen in Verse - Achtsillabige Verslin Vnndt eynfeltige Reumen, wie es im Titel der Handschrift heißt (Bl. 1r) - beschränkt sich die Retextua‐ lisierung im Roldmarsch Kasten in der Regel auf Amplifikationen und die Ausmalung erotischer Szenen. 21 Diese starke Abhängigkeit von den jeweiligen Quellen hat in der Forschung zu einer Geringschätzung der Sammlung geführt. So meinte etwa Arthur Ludwig Stiefel, Marold halte sich „sklavisch an seine Vorlagen“ und „[o]riginellen Wert“ besäßen „diese Schwänke nicht.“ 22 Abgesehen davon, dass solchen Bewertungen anachronistische Originaliätsvorstellungen zugrunde liegen, offenbart ein genauer Blick auf die Texte ein Bemühen um die Aktualisierung und Aneignung der gesammelten Geschichten, das sich in mehr oder weniger subtilen Änderungen gegenüber den jeweiligen Vorlagen niederschlägt. Diese Tendenz zur Aktualisierung zeigt sich bereits an einem grundlegenden Merkmal der Bearbeitung, nämlich der räumlichen Verortung der Geschichten: Bei rund einem Drittel der Erzählungen verlegt Marold den Schauplatz, wobei eine deutliche Präferenz für den ostmitteldeutschen Raum zu erkennen ist, also die (weitere) Umgebung des Autors in Schmalkalden. 23 Auf diese Weise holt Marold die überlieferten Geschichten wortwörtlich an 103 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten das Rollwagenbüchlein, keinen Schauplatz angibt (vgl. Georg Wickram, Sämtliche Werke, hg. von Hans-Gert Roloff, Bd. 7: Das Rollwagenbüchlein, Berlin/ New York 1973 [Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts], Nr. 94, S. 178), wird ebenfalls neu lokalisiert, allerdings gerade nicht im mitteldeutschen Raum, sondern im Welsch Landt, in der Stadt Ferrer (Bl. 184v). 24 So heißt es in der ersten Novelle des zweiten Tages, die Geschichte spiele ‚nicht fern von hier‘ (non molto da questo lontano; zitiert nach Tutte le opere di Giovanni Boccaccio, Bd. 4: Decameron, hg. von Vittore Branca, Mailand 1964, S. 58). Auch die Novelle VIII,2 wird lokalisiert in Varlungo, ‚einem Dorf, das ganz in unserer Nähe liegt, wie ihr alle wisst oder gehört haben werdet‘ (villa assai vicini di qui, come ciascuna di voi o sa o puote avere udito; ebd., S. 674). In Decameron VIII,4 heißt es gar, die Geschichte hätte in Fiesole stattgefunden, ‚dessen Hügel wir von hier aus sehen können‘ (il cui poggio noi possiamo di quinci vedere; ebd., S. 691). Zu den „genauen, oft geradezu zwanghaft wirkenden Lokalisierungen“ des Decameron vgl. Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau - Märe - Novelle, Tübingen 2006, S. 271-273, 304, Zitat S. 272. Zu diesem „parfum de réalisme“ auch ebd., S. 307. 25 Vgl. zu Wickram: Johannes K. Kipf, „Das Schwankbuch als frühneuzeitlicher Buchtyp. Darsgestellt am Beispiel von Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555)“, in: Ordentliche Unordnung. Metamor‐ phosen des Schwanks vom Mittelalter bis zur Moderne. Festschrift für Michael Schilling, hg. von Bernhard Jahn, Dirk Rose und Thorsten Unger, Heidelberg 2014 (Beihefte zum Euphorion 79), S. 79-92, hier S. 90; Johannes K. Kipf, „Die humanistische Fazetiensammlung als Buchtyp. ‚Missing link‘ zwischen der spätmittelalterlichen Kleinepikhandschrift und dem gedruckten Schwankbuch? “, in: Schwanksammlungen (wie Anm. 4), S. 91-121, hier S. 113f.; zu Schumann schon Johannes Bolte, „Einleitung“, in: Valentin Schumanns Nachtbüchlein (1559), hg. von dems., Tübingen 1893 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 197), S. VII-XXIV, hier S. XIX; zu Frey: Karl Goedeke, „Einleitung“, in: Schwänke des sechzehnten Jahrhunderts, hg. von dems., Leipzig 1879 (Deutsche Dichter des sechzehnten Jahrhunderts 12), S. V-XXX, hier S. XXf. Zu den Lokalisierungen als charakteristischem Merkmal von Schwankbüchern in Bezug auf die ältere Forschung (Goedeke) auch Hans-Jörg Uther, „Schwankbücher“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 12, Berlin/ New York 2007, Sp. 332-335, hier Sp. 333. 26 Vgl. Bausinger (wie Anm. 2), Sp. 318, 330 f. In Bezug auf den Roldmarsch Kasten auch Straßner (wie Anm. 9), S 52: Marold versuche, „seine Schwänke dadurch glaubhaft zu machen, daß er Namen und Lokalitäten dazuerfinde.“ Kritisch zum „Ruf größerer Wirklichkeitsnähe“ des schwankhaften Erzählens: Ziegeler (wie Anm. 1), S. 408. Das Kriterium der Wirklichkeitsnähe wird auch direkt in den Schwankbüchern thematisiert. So führt etwa Valentin Schumann seine Erzählungen immer wieder auf eigene Erfahrungen zurück, vgl. etwa Nachtbüchlein, Nr. 4: Ich hab auff ein zeyt im 1549 jar mit einem gearbeytet, des namen ich nicht nennen will, er wer sonst zu bekandtlich. Zitiert nach Valentin Schumanns Nachtbüchlein (wie Anm. 25), S. 16, Z. 12-14. Für Waltenberger handelt es sich bei der grundsätzlich starken „Präsenz der Autorfigur“ im Nachtbüchlein um ein Mittel des „beglaubigenden Anschluss[es] des Fiktionalen an biographische ‚Realität‘“ (Michael Waltenberger, „Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im Nachtbüchlein des Valentin Schumann [1559]“, in: PBB 129 [2008], S. 286-312, hier S. 288 und Anm. 10). Etwas Vergleichbares lässt sich auch im Roldmarsch Kasten beobachten, wenn der Erzähler als Quelle einer Geschichte auf seine Magd verweist: diese Fabul […] | die dann einmahl erzehlet mihr, | Jnn meiner Schweren Zeit, mein Magd, | die sich mitt Nahmen nennen that | Lies Knoblochin (Nr. 72, Bl. 285r). Schon bei Kirchhof, von dem Marold die fragliche Erzählung vermutlich übernommen hat, die eigene Lebenswelt heran. Das ist freilich kein Alleinstellungsmerkmal des Roldmarsch Kasten: Schon Boccaccio lokalisiert seine Novellen bekanntlich oft in der unmittelbaren Umgebung von Florenz, worauf im Decameron immer wieder explizit hingewiesen wird. 24 Dasselbe Prinzip beobachten wir dann zum Beispiel auch bei Georg Wickram, Valentin Schumann oder Jakob Frey, die ihre Geschichten mit Vorliebe ins Elsaß beziehungsweise die Schweiz verlegen. 25 Man hat in solchen vermeintlichen Realitätsbezügen ein allgemeines Merkmal schwankhaften Erzählens gesehen, welches grundsätzlich um den Anschein von Glaubhaftigkeit und Wirklichkeitsnähe bemüht sei. 26 104 Linus Möllenbrink heißt es, er habe die Geschichte in mein kindischen jaren die spinnenden meidlein deß abendts […] hoͤren sagen (Wendunmuth, Bd. 1, Nr. 180). Zitiert nach Wendunmuth von Hans Wilhelm Kirchhof, hg. von Hermann Österley, Bd. 1, Stuttgart 1869 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 95), S. 218. 27 Zum Teil kommen diese Bezeichnungen dadurch zustande, dass Marold die italienischen Namen von Novellen aus dem Decameron eingedeutscht hat: So macht er aus Masetto da Lamporecchio (bei Arigo: Lampolechio) einen Matthes von Meißen (Nr. 44, Bl. 131v) und aus Alberto da Imola einen Albertus von Oppenheim (Nr. 46, Bl. 150r). Daneben werden aber auch neue Namen eingeführt beziehungsweise Nachnamen ergänzt, wo in der Vorlage nur ein Vorname genannt ist: aus Cuntz wird Cuntz Ries (Nr. 53, Bl. 182r), aus Lorentz wird Lorentz Kreid (Nr. 14, Bl. 78r). 28 Zur grundsätzlichen Typenhaftigkeit von Schwankfiguren vgl. Bausinger (wie Anm. 2), Sp. 327. - Auch dieses Phänomen lässt sich wiederum in Valentins Schumanns Nachtbüchlein (1559) beob‐ achten, dessen Protagonisten ähnlich ‚realistische‘ Namen tragen, etwa Jörg Schmid (Nachtbüchlein [wie Anm. 25], S. 42, Z. 27f.) oder Johannes Detzel (ebd., S. 204, Z. 23-25). Boccaccio orientiert sich bei der Namensgebung ebenfalls an Ort und Zeit der Handlung, wie bereits von Lodovico Castelvetro (gest. 1571) in dessen Poetik-Kommentar hervorgehoben wurde. Vgl. Lodovico Castelvetro, Poetica D’Aristotele vulgarizzata et sposta (Wien: Kaspar Stainhofer, 1570; VD 16 A 3572), Bl. 106v: Ma dee non dimeno riguardare il poeta in far cio all’ vsanza del luogo & del tempo, doue, & quando finge l’attione essere auenuta, accioche i nomi non sieno fuori dell’ vsanza del predetto luogo & tempo […]. Il che fu diligentemente osseruato da Giouanni Boccaccio nelle sue nouelle, imponendo i nomi alle persone, l’attione delle quali quiui si narrano, secondo i paesi & le stagioni. Zitiert nach dem Exemplar Wien, Österr. Nationalbibl., ALT 40.S.65. Vgl. dazu Hendrik Birus, „Vorschlag zu einer Typologie literarischer Namen“, in: LiLi 17 (1987), S. 38-51, hier S. 41. Zum Namengebrauch im Decameron weiterhin Grubmüller (wie Anm. 24), S. 273. Zum Umgang von Arigos Übersetzung mit den italienischen Orts- und Personennamen: Karl Drescher, Arigo, der Übersetzer des Decamerone und des Fiore di virtu. Eine Untersuchung, Straßburg 1900 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 86), S. 5-11; daran anschließend Joachim Theisen, Arigos Decameron. Übersetzungsstrategie und poetologisches Konzept, Tübingen/ Basel 1996 (Bibliotheca Germanica 37), S. 386. 29 So tauchen etwa ein Heinrich und ein Valentin Babst mehrfach in der Schmalkalder Stadtrechnung von 1568 auf. Vgl. Hans-Jochen Seidel und Ute Simon, Die Schmalkalder Stadtrechnung vom Jahre 1568. Mit dem vollständigen Quellentext aus dem ältesten Kirchenbuch Schmalkaldens über die Geburten, Sterbefälle und Hochzeiten für die Jahre 1567 und 1569. Ein quellenkundlicher Beitrag zur Stadtgeschichte von Schmalkalden, Schmalkalden 2003 (Schriftenreihe des Stadt- und Kreisarchivs Schmalkalden 1), S. 30, 43, 219 u. ö. Ein Johannes Bapst (gest. 1634) ist außerdem als Bürgermeister und ‚Gemeiner Vormund‘ der Stadt überliefert, vgl. Johann C. Geisthirt, Historia Schmalcaldica oder Historische Beschreibung der Herrschafft Schmalkalden, Bd. 1-6, Schmalkalden/ Leipzig 1881-1889 (Zeitschrift des Vereins für Hennebergische Geschichte und Landeskunde. Supplementheft 1-6), Bd. 3, S. 105, 107; Bd. 4, S. 47. Auch der Nachname von Lies Knoblochin, auf die der Erzähler in Nr. 72 als Quelle verweist (siehe oben, Anm. 26) ist mehrfach historisch bezeugt, vgl. Gudrun Clemen, Stadtrechnungen als Quelle zur Alltags- und Sozialgeschichte Schmalkaldens im 16. Jahrhundert auf Die Tendenz zur Aneignung der tradierten Erzählungen betrifft im Roldmarsch Kasten nicht nur die Namen der Schauplätze, sondern auch diejenigen der Figuren: Während die Akteure vieler (älterer) Schwankerzählungen keine oder nur sehr typisierte Namen tragen, heißen Marolds Figuren unter anderem Clas Bapst (Nr. 10, Bl. 67v), Hans Rolle (Nr. 64, Bl. 231r) oder Heinrich Welckerman (Nr. 73, Bl. 289v), tragen also mitunter Namen, wie man sie so oder ähnlich auch in der Lebenswirklichkeit des 17. Jahrhunderts erwarten könnte. 27 Durch solche Benennungen werden die typenhaften Schwankfiguren der Vorlagen individualisiert. 28 Ob damit tatsächlich auf historische Personen angespielt wird, muss allerdings offen bleiben, auch wenn sich einige der verwendeten Familiennamen in Schmalkalden nachweisen lassen. 29 105 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten der Grundlage der Rechnungsbücher 1543 und 1549 sowie - supplementär - 1546, Schmalkalden 2004 (Nova Historia Schmalcaldica 1), S. 182; Seidel und Simon (wie oben), S. 21f., 26, 152, 221. In die Reihe der historisch nachweisbaren Personen gehört weiterhin Fraw Katsche Köhlerin (vgl. Bl. 460r), auf deren Grabinschrift am Schluss des Roldmarsch Kasten verwiesen wird, vgl. Clemen (wie oben), S. 184; Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 334. 30 Vgl. dazu die Überlegungen bei Justin Stagl, „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998 (Literatur und Anthropologie 1), S. 37-54, hier S. 41: Sammlungen seien „wesensmäßig in die Biographien ihrer Besitzer und Benutzer eingeflochten: Sie haben ihren Sitz im Leben. Und darin sind sie engstens mit der wichtigsten identitätsstiftenden Instanz verwandt, dem Gedächtnis. Das Gedächtnis wird ja auch oft als ein Depot oder Schatzhaus aufgefaßt. Samm‐ lungen sind materialisierte Gedächtnisse, das Gedächtnis ist eine entmaterialisierte Sammlung.“ 31 Vgl. dazu Geisthirt (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 20-35; Heinrich Heppe, Die Einführung der Verbeßerungs‐ punkte in Hessen von 1604-1610 und die Entstehung der hessischen Kirchenordnung von 1657 als Beitrag zur Geschichte der deutsch-reformirten Kirche urkundlich dargestellt, Kassel 1849, Abt. 1, S. 113-154. Zur religiösen Reformpolitik des Landgrafen außerdem Gerhard Menk, „Die Konfessionspolitik des Landgrafen Moritz“, in: Landgraf Moritz der Gelehrte. Ein Kalvinist zwischen Politik und Wissenschaft, hg. von dems., Marburg 2000 (Beiträge zur hessischen Geschichte 15), S. 95-138; Werner Troßbach, „Landgraf Moritz und das Problem von Mobilisierung und Partizipation in der ‚zweiten Reforma‐ tion‘“, in: ebd., S. 139-158. 32 Vgl. Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 315-318. 33 Vgl. dazu Geisthirt (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 30-32; Heppe (wie Anm. 31), S. 137-139. Insofern diese Aktion erst gegen Ende des Jahres 1608 stattgefunden hat, ist die Handschrift möglicherweise tatsächlich erst im darauffolgenden Jahr fertiggestellt worden. 34 Darauf weist ebenfalls das auf Ps 105,15 Bezug nehmende Chronogramm auf dem Titelblatt hin (Daßt MeIn ProVeten ahn Io nICht | Die Heilgen mögten Zeichnen dich, Bl. 1r), auch wenn seine Interpretation nicht ganz eindeutig erscheint, vgl. dazu Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 316f. Jenseits solcher oberflächlichen Anspielungen kann man im Roldmarsch Kasten auch inhaltliche Bezugnahmen auf die außerliterarische Wirklichkeit erkennen. Diese zeigen sich vor allem dann, wenn man die Sammlung auf ihren ‚Sitz im Leben‘, 30 also den zeithistorischen Kontext im Umfeld des Autors bezieht: Es geht dabei um konfessionspolitische Spannungen, von denen Schmalkalden am Vorabend des Dreißigjährigen Kriegs geprägt war. Landgraf Moritz von Hessen versuchte hier, gegen den Willen der traditionell lutherischen Bevölkerung ein calvinistisches Reformprogramm durchzusetzen, was zu erheblichen Unruhen und Konflikten führte. 31 Dieser Zusammenhang, den Waltenberger als maßgebliche Folie für die Interpretation des Roldmarsch Kasten herausgestellt hat, 32 wird bereits auf dem Titelblatt der Handschrift angedeutet. Wenn es hier etwa heißt, die Sammlung sei in dem Jahr entstanden, do gleich die Öhlgötzen ihres feißten Öhls beraubt, Vnndt aus der großen Kisten gemustert wardten (Bl. 1r), dann spielt das auf eine reale Begebenheit an: Am 9. Dezember 1608 kam es in Schmalkalden zu einem ‚Bildersturm‘, bei dem auf Befehl des Landgrafen mit militärischer Gewalt die Kunstwerke aus der Stadtkirche entfernt wurden. Ausgerechnet Dietrich Marolds eigener Bruder Vinzenz war als Schultheiß maßgeblich an dieser Aktion beteiligt. 33 Obwohl der Autor also vermutlich zur Partei der Reformierten gehörte, entzieht er sich - wie wir sehen werden - einer eindeutigen Festlegung und wirbt für Toleranz zwischen den Konfessionen. 34 Wie in einzelnen Erzählungen des Roldmarsch Kasten auf die konfessionellen Spannungen in Schmalkalden Bezug genommen wird, möchte ich anhand von drei Beispielen ausführen. 106 Linus Möllenbrink 35 Vgl. Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 320-322. Siehe außerdem Sonja Zöller, „Abraham und Melchisedech in Deutschland oder: Von Religionsgesprächen, Unbelehrbarkeit und Toleranz. Zur Rezeption der beiden Juden aus Giovanni Boccaccios Decamerone in der deutschen Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts“, in: Askenas 7 (1997), S. 303-339, hier S. 333; Achim Aurnhammer, „Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland (1476 bis 1608)“, in: Die drei Ringe. Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur, hg. von Achim Aurnhammer, Giulia Cantarutti und Friedrich Vollhardt, Berlin/ Boston 2016 (Frühe Neuzeit 200), S. 113-138, hier S. 126-128, sowie Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 284-297. 36 Die Erzählung trägt im Roldmarsch Kasten den Titel Wie ein Listiger reicher Jud, genandt Melchisedech, mitt einer Natürlichen Historien, großer Sorg vndt Angst entwüscht, die ihm von einem grossen Herrn zugericht vndt bereidt war und findet sich auf Bl. 29r-32v. Eine Transkription des Textes bietet Aurnhammer (wie Anm. 35), S. 131-137. 37 Zitiert nach Decameron von Heinrich Steinhöwel, hg. von Adelbert von Keller, Stuttgart 1860 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 51), S. 32-35. Einige Indizien weisen darauf hin, dass Marold Arigos Text im populären Cammerlander-Druck von 1535 oder einer späteren, vergleichbaren Auflage benutzt hat. Dass stattdessen die Version des Schertz mit der Warheyt die maßgebliche Vorlage darstellte, wie in der Forschung mitunter erwogen wurde (vgl. Hartmann [wie Anm. 9], S. 111; Zöller [wie Anm. 35], S. 323; Aurnhammer [wie Anm. 35], S. 126; dagegen Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ [wie Anm. 9], S. 320), halte ich für unwahrscheinlich. Möglicherweise hat Marold den Schertz mit der Warheyt jedoch neben Arigo für seine Bearbeitung herangezogen. Zur Frage der Vorlage ausführlich Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 284-291. 38 Dazu passt auch, dass der Jude am Ende zum gheymen Rath (Bl. 32v) des Fürsten ernannt wird. 39 Für Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 324, handelt es sich dabei um die Auszeichnung von Einschüben oder Nebensätzen, die über den Versumbruch hinausgehen und auf diese Weise eingeklammert würden. Die Markierung findet sich allerdings auch bei einzelnen Versen (siehe das II Mein erstes Beispiel, auf das bereits Waltenberger aufmerksam gemacht hat, 35 stammt aus dem Beginn der Sammlung. Es handelt sich um die zweite Erzählung des Roldmarsch Kasten. 36 Hier wird ein bekannter Stoff retextualisiert, nämlich Boccaccios Erzählung von den drei Ringen (Decameron I,3). Grundsätzlich hält sich der Roldmarsch Kasten dabei eng an seine Vorlage, Arigos deutschsprachige Decameron-Übersetzung. 37 Es gibt aber einige kleinere Änderungen, die einen maßgeblichen Einfluss auf den Sinn der Erzählung haben: So lässt Marold anstelle von Arigos babylonischem Sultan einen namenlosen große[n] Herr[n] (Bl. 29r) auftreten; er eliminiert also das orientalische Setting der Vorlage und verlegt die Geschichte in die eigene Gegenwart. 38 Die entscheidende Änderung betrifft jedoch den Kern der Erzählung. Anstatt um die drei monotheistischen Religionen geht es in der Ringparabel des Roldmarsch Kasten um die christlichen Konfessionen. Die zentrale Glaubensfrage des Fürsten lautet hier: Welch von den Dreyn Religion Die mann ietzundter nennt gar schon Luthrisch, Bäpstisch, Caluinisch Letzt Die wahrhafftigst vndt best würdt gschetzt? (Bl. 30r) Dabei werden die beiden mittleren Verse des Zitats sowohl durch die Schriftart als auch, wie das in der Handschrift mitunter geschieht, durch einen Strich und zwei Punkte am Beginn beziehungsweise Ende der Zeile besonders herausgehoben. 39 107 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten Beispiel unten, S. 113) und scheint grundsätzlich an semantisch herausgehobenen Stellen eingesetzt zu werden. 40 Schon die älteste europäische Version der Ringparabel, eine lateinische Exempelgeschichte aus dem Tractatus de diversis materiis praedicabilibus des Dominikaners Étienne de Bourbon (um 1250), bezieht die Erzählung - ohne damit allerdings eine tolerante Botschaft zu verbinden - auf das orthodoxe Christentum und verschiedene Formen der Heterodoxie, bei denen man etwa an Albigenser und Waldenser denken kann. Zitiert nach Anecdotes historiques, légendes et apologues, tirés du recueil inédit d’Étienne de Bourbon, dominicain du XIII e siècle, hg. von A. Lecoy de la Marche, Paris 1877 (Publications de la Sociéte de l’histoire de France 185), Nr. 331, S. 281f. Vgl. dazu Hinrich Hudde, „‚Der echte Ring vermutlich ging verloren‘. Die ältesten Fassungen der Ringparabel: Überblick, Überlegungen, Deutungen“, in: Literatur. Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag, hg. von dems. und Udo Schöning in Verbindung mit Friedrich Wolfzettel, Heidelberg 1997 (Studia Romanica 87), S. 95-110; Wolf-Dieter Stempel, „Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version (Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio)“, in: Die drei Ringe (wie Anm. 35), S. 33-45, hier S. 33-38; Linus Möllenbrink, „Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? Michel Beheims Lied Nr. 294“, in: ebd., S. 87-123, hier S. 89f., 102. 41 Ein gleichnus Eines Juden der Religion (1605). Zitiert nach Theodor Hampe, „Zwei Parabeln von Meistersingern“, in: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893), S. 102-110, hier S. 102-104. Vgl. dazu Linus Möllenbrink, „Anon.: Ein gleichnus eines Juden der Religion. Handschrift von 1605“, in: Boccaccio in Deutschland. Spuren seines Lebens und Werks 1313-2013. Katalog zur Ausstellung im Goethe-Museum Düsseldorf, 5.-8. Mai 2013, hg. von Achim Aurnhammer, Nikolaus Henkel und Mario Zanucchi, Heidelberg 2013, S. 98f.; Aurnhammer (wie Anm. 35), S. 122f. 42 Hans Sachs, Der Jued mit den dreyen ringen (1545). Zitiert nach Hans Sachs, Sämtliche Fabeln und Schwänke. Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen, hg. von Edmund Goetze und Carl Drescher, Bd. 4, Halle a. S. 1903, Nr. 240, S. 1-3. Vgl. dazu bes. Sonja Zöller, „Die Ringparabel bei Hans Sachs“, in: ZfdA 136 (2007), S. 49-47; Aurnhammer (wie Anm. 35), S. 120-122. 43 So macht Marold aus Melchisedech ausdrücklich einen Konvertiten (gtaufft[en] Juede[n], Bl. 29v), womit die Erzähllogik - anders als im anonymen Meisterlied von 1605 - erhalten bleibt. 44 Zöller (wie Anm. 35), S. 333. Kritisch dazu Aurnhammer (wie Anm. 35), S. 128: „Mir scheint diese Aktualisierung keinesfalls ein Zeichen für den beliebigen Einsatz der Parabel im Konfessionalismus, sondern eine zeitgemäße Reaktion auf den Entscheidungsdruck konfessioneller Konflikte und Adaptionen der Toleranzidee am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges.“ 45 Vgl. Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 320, Anm. 83. Über die historischen Ereignisse informieren Heppe (wie Anm. 31), S. 124-128, und Geisthirt (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 27f. Marold bezieht die Ringparabel also auf die konfessionspolitisch angespannte Situation im Heiligen Römischen Reich und nutzt damit ein der Erzählung inhärentes Deutungsan‐ gebot. 40 Bereits drei Jahre vorher hatte ein anonymer Meistersänger in der Erzählung von den drei Ringen Kaiser Maximilian und einen Prager Juden auftreten lassen 41 und auch Hans Sachs’ Bearbeitung des Stoffes von 1545 wurde in der Forschung auf die historische Situation kurz vor Ausbruch des Schmalkaldischen Kriegs bezogen. 42 Nirgends ist die Aktualisierung aber so deutlich und auch erzähllogisch so konsequent umgesetzt wie bei Marold. 43 Für Sonja Zöller zeigt die Retextualisierung im Roldmarsch Kasten dagegen, „[w]ie beliebig diese Parabel […] im Zeitalter des etablierten Konfessionalismus eingesetzt wurde“ 44 . Beliebigkeit kann ich in Marolds Bearbeitung des Stoffes allerdings nicht er‐ kennen. Im Gegenteil lässt sich hier auch über die allgemeinen konfessionellen Spannungen hinaus ein ganz konkreter Bezug zu einem aktuellen Ereignis herstellen: Im Jahr 1608, dem mutmaßlichen Entstehungsjahr des Roldmarsch Kasten, veranlasste Landgraf Moritz nämlich eine ‚Gewissensbefragung‘, bei der die einflussreichen Schmalkaldischen Bürger und Beamte - zu denen als Lehrer auch Dietrich Marold gehört haben könnte - zu ihrer religiösen Überzeugung Stellung beziehen mussten. 45 Dabei sollen sich einige der 108 Linus Möllenbrink 46 Heppe (wie Anm. 31), S. 128. 47 Zum „herausgehobenen Status“ und der „rahmende[n] Funktion“ der ersten und letzten Texte der Sammlung Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 320. 48 Die fünfte Erzählung des Roldmarsch Kasten (Bl. 40v-48r) trägt die Überschrift Wie der Süeß Barthel, aus Thüringen, vorgab, wie er Lahm ahn allen seinen geliedern wehre, vndt wie ihn des Heiligen Clasen todter Leichnam gesundt macht, vndt darüber dapffer ding Zudroschen vndt abgewürtzt wardt. Zu Marolds Bearbeitungstendenzen auch Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 307-314. 49 Decameron von Heinrich Steinhöwel (wie Anm. 37), S. 54-59. Stiefel (wie Anm. 9), S. 181, hielt wiederum den Schertz mit der Warheyt für Marolds eigentliche Vorlage, wofür es aber keine belastbaren Indizien gibt. Mögliche Abweichungen gegenüber Arigo, die Marold mutmaßlich aus dem Schertz mit der Warheyt übernommen hat, lassen sich wiederum auf den Cammerlander-Druck zurückführen, vgl. Möllenbrink (wie Anm. 9), S. 307. 50 Der Ort Ziegenhain war um 1600 eine wichtige hessische Garnisonsstadt. Von hier verlegte Landgraf Moritz 1608 Truppen nach Schmalkalden, um einen möglichen Aufstand niederschlagen zu können. Vgl. Heppe (wie Anm. 31), S. 135. In Ziegenhain hatten außerdem drei Jahre zuvor, am 1. November 1605, der Rat und die Bürgerschaft Schmalkaldens dem Landgrafen eine Bittschrift zur Abwendung der calvinistischen Reform überreicht. Vgl. Geisthirt (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 24f. Auch hinter dieser Lokalisierung könnte man also eine Anspielung auf den konfessionspolitischen Kontext des Roldmarsch Kasten vermuten. Befragten durch rhetorisches Geschick und „zweideutige[ ] Redensarten“ 46 erfolgreich einer eindeutigen Festlegung entzogen haben. Es bedarf keiner großen interpretatorischen Anstrengung, um hier an die Rahmenhandlung der Ringparabel zu denken, wo ebenfalls von einer ‚Gewissensbefragung‘ durch einen Fürsten erzählt wird. Man kann also beobachten, wie Marold eine bekannte Geschichte mit wenigen Ände‐ rungen so aktualisiert, dass sie sich auf ein konkretes Ereignis beziehen lässt und damit beinahe zu einer Art Schlüsselerzählung wird. Insofern der Text als zweite Erzählung eine besonders prominente Stellung innerhalb der Sammlung einnimmt, ist damit möglicher‐ weise auch eine programmatische Aussage im Hinblick auf die folgenden Geschichten verbunden. 47 III Damit komme ich zu meinem zweiten Beispiel, das ebenfalls vom Beginn der Sammlung stammt. 48 Wieder handelt es sich um die Bearbeitung einer Novelle aus dem Decameron (II,1). Arigo, der hier erneut die Vorlage des Roldmarsch Kasten bietet, erzählt Folgendes: In Treviso lebt ein armer deutscher Tagelöhner, der bei seinem Tod als Heiliger verehrt wird. Martellino, ein Schauspieler aus Florenz, der gerade in der Stadt ist, tut so, als ob er gelähmt wäre, lässt sich zum Leichnam des Heiligen tragen und täuscht vor, geheilt zu werden. Sein Betrug kommt jedoch ans Licht und Martellino wird beinahe gelyncht. Nach einer fehlgeschlagenen Rettungsaktion seiner Freunde soll er dann sogar gehängt werden, kommt aber letzten Endes doch noch davon. 49 Unter den Veränderungen, die Marold vornimmt, fällt zunächst wieder die räumliche Aktualisierung der Geschichte ins Auge: Die Erzählung spielt in der Stadt Vlm im Schwaben landt, der Protagonist heißt Barthel und stammt aus Thüringen (Bl. 40v). Sein Bekannter, der den Betrug aufdeckt, wird als Einwohner von Zigenhan im Hessen landt (Bl. 43v) bezeichnet. 50 109 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 51 Vgl. Georg Gresser, „Heinrich v. Bozen“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 4, Freiburg i. Br. u. a. 1995, Sp. 1372 f. Das Decameron stimmt dabei in wesentlichen Punkten mit der (jüngeren) Vita des Heiligen überein, deren Autor Pierdomenico de Baone, einen Freund Petrarcas, Boccaccio möglicherweise persönlich gekannt hat. Vgl. Henricus Baucenensis, Tarvisii in ditione Veneta. Vita auctore Petro Dominico Episcopo Tarvisino, ex sua aliorumque certißima scientia, in: Acta Sanctorum Iunii, Bd. 2, Antwerpen 1698, S. 368-392. Vgl. dazu den Kommentar von Peter Brockmeier in Giovanni Boccaccio, Das Decameron. Mit den Holzschnitten der venezianischen Ausgabe von 1492. Aus dem Italienischen übers., mit Kommentar und Nachwort von Peter Brockmeier, Stuttgart 2012, S. 1045f. 52 Vgl. Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs, Bd. 1-6, hg. von Edmund Goetze und Carl Drescher, Halle a. S. 1893-1913 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des 16. und 17. Jahrhunderts 110/ 117-231/ 235), Nr. 267 (Bd. 2, S. 233-236), Nr. 244-248 und 501 (Bd. 4, S. 8-15 und 387 f.), Nr. 622 (Bd. 5, S. 35-37), Nr. 946 (Bd. 6, S. 160f.). 53 Die Geschichten von Clausz Nar finden sich in der Straßburger Ausgabe von Schimpf und Ernst aus dem Jahr 1533, Nr. 47-49. Zitiert nach Schimpf und Ernst (wie Anm. 6), S. 388-390. 54 Vgl. Georg Wickram, Rollwagenbüchlein, Nr. 105 (Wickram [wie Anm. 23], S. 193f.). Bei der Erzählung handelt es sich um eine Hinzufügung des Mühlhauser Drucks von Hans Schirenbrand und Peter Schmid (um 1557; VD 16 W 2394). Auch Kirchhof bietet im Wendunmuth mehrere historien von Claus Narr (Wendunmuth [wie Anm. 26], Nr. 412-415, S. 427-430). 55 Vgl. Heinz-Günther Schmitz, Wolfgang Büttners Volksbuch von Claus Narr. Mit einem Beitrag zur Sprache der Eisleber Erstausgabe von 1572, Hildesheim u. a. 1990 (Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken B 4), S. 7-22; Heinz-Günther Schmitz, Das Hofnarrenwesen der frühen Neuzeit. Claus Narr von Torgau und seine Geschichten, Münster 2004 (Dichtung - Wahrheit - Sprache 1), S. 65-77; Ruth von Bernuth, Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den ‚Historien von Claus Narren‘, Tübingen 2009 (Frühe Neuzeit 133), S. 66-89. 56 Verstärkend hinzu kommt noch, dass auch die Figur Claus Narr, die vor allem in protestantischen Kontexten eine Rolle spielt, selbst immer wieder explizite Kritik am Heiligenkult formuliert, vgl. von Bernuth (wie Anm. 55), S. 74-89. Auch für Schmitz fungiert die Figur als „Vertreter […] reformatorisch-protestantischer Auffassungen“ (Schmitz, Hofnarrenwesen [wie Anm. 55], S. 76). - Die Heiligenkritik ist freilich bei Arigo schon angelegt, wenn der Erzähler eher distanzierend von den Wundern des Heiligen berichtet: Ein gůter vnd heiliger götlicher mensche von yederman gehalten was, vmb des willen nach dem als die Teruisaner sprechen Es sey ware oder nicht ware; do er starbe vnd auß der welt schiede, in seinem tode sich alle die glocken die in Teruise waren vngezogen von in selbes leüten […]. (Decameron von Heinrich Steinhöwel [wie Anm. 37], S. 55, Z. 3-7). Bereits bei Boccaccio bleibt offen, „ob es sich überhaupt um ein Wunder handelt“ (Bolsinger [wie Anm. 17], S. 45). Überhaupt gehe es in der Novelle darum, dass „hier die Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit des Glaubens deutlich werden“ (ebd.). Vgl. auch den Kommentar von Brockmeier in Boccaccio (Anm. 51), S. 878: „Mit dieser Novelle mokieren sich die feinen Leute - die Erzählerinnen und Erzähler - über die Leichtgläubigkeit des einfachen Volkes; sie verbergen aber ihre skeptische Haltung gegenüber dem Daneben gibt es erneut inhaltlich relevante Veränderungen: So erzählt Boccaccio in seiner Novelle von einem realen Heiligen, nämlich Arrigo da Bolzano beziehungsweise Heinrich von Bozen (gest. 1315), der noch heute in Treviso verehrt wird. 51 Der Calvinist Marold ersetzt diesen Bezug: Anstatt vom heiligen Arrigo erzählt er von einem Heilg[en] Franck[en], der als der Nerrisch Clas (Bl. 40v) bekannt sei. Damit ist kein historischer Heiliger gemeint, vielmehr handelt es sich um eine der populärsten Schwankfiguren der frühen Neuzeit: Clas oder Claus Narr tritt in diversen Kontexten als literarische Figur auf, darunter bei Hans Sachs, 52 Johannes Pauli 53 und Georg Wickram. 54 Wolfgang Büttner machte ihn schließlich zum Protagonisten eines Schwankromans, der 1572 zum ersten Mal gedruckt und mit 29 Auflagen bis ins 18. Jahrhundert hinein gelesen wurde. 55 Marold ersetzt also den Heiligen durch einen Narren. Dass man darin eine Kritik an der katholischen Heiligenverehrung sehen kann, muss nicht eigens hervorgehoben werden. 56 110 Linus Möllenbrink Heiligenglauben hinter den Possen beruflicher Spaßmacher“. Noch deutlicher wird das im Schertz mit der Warheyt herausgearbeitet, wo der „Wunderglaube“ vollends „als überlebtes Relikt“ (Bolsinger [wie Anm. 17], S. 47) behandelt wird. 57 V. 4258-4294. Zitiert nach Bartholomäus Ringwaldt, Ausgewählte Werke, hg. von Federica Masiero, Bd. 2, Berlin/ New York 2007 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. 162f. Der Abschnitt steht hier unter der Überschrift Mit bußfertigen Suͤndern soll man Gedult haben innerhalb der 18. Application, Darinnen angezeigt / daß ein Christ den andern in seinem Fall nicht belachen soll (ebd., S. 158). 58 Zur Deutung der Erzählung im italienischen und deutschen Decameron siehe oben, Anm. 56. 59 Das Decameron von Heinrich Steinhöwel (wie Anm. 37), S. 57, Z. 6-8. Das ist jedoch nicht die einzige Änderung, die Marold vornimmt. Ein zweiter zentraler Unterschied zu Arigo besteht in der Tatsache, dass der Erzählung im Roldmarsch Kasten eine Auslegung nachgestellt wird. Auch diese angehängte moralisatio hat Marold allerdings nicht selbst erfunden, sondern an anderer Stelle gesammelt: Es handelt sich um eine beinahe wörtliche Übernahme aus der Lauteren Wahrheit (1585) des lutherischen Pfarrers Bartho‐ lomäus Ringwaldt. 57 Das spricht dem Epimythion aber keineswegs seine Aussagekraft ab. Vielmehr zeigt sich hier, wie gerade aus der Kombination tradierten Materials ein neuer Sinn erzeugt wird. Gegenstand des Epimythions ist das Thema der Selbsterkenntnis. Die Erzählung wird im Roldmarsch Kasten als Beleg für die biblische Weisheit verstanden, dass man sich zuerst selbst prüfen solle, bevor man andere kritisiert (Mt 7,3-5; Lc 6,41f.): Dann solchen Gsellen gahr recht geschicht, Die Alle Leuth verhöhnen wolln, Vndt ihrn Splitter ihn Vnverhohln Nur Zihen aus, vndt selbst nitt sehn Jhrn großen Knoden, welchen denn Sie vff dem Rück ihn schleppen nach. (Bl. 47r) Wie passt das zu der zuvor erzählten Geschichte? Anders als bei Boccaccio richtet sich die Kritik des Erzählers offenbar in erster Linie gegen den Protagonisten und nicht gegen den Heiligenkult. 58 Die Heiligenverehrung ist der sprichwörtliche Splitter im Auge der anderen, über den sich Barthel lustig macht, aber was ist der Balken in seinem eigenen Auge? Ein genauer Blick auf die Erzählung liefert einen Ansatzpunkt: In seiner Todesangst bittet der Scharlatan den wütenden Mob um Gnade. Bei Arigo heißt es: Der gůt arme Martellino an hube ze schreien, gnade lieben herren gnade vmb gottes willen.  59 Marold ergänzt die Stelle um ein entscheidendes Detail: [Barthel] grewlich rief: Jch bitt vmb Gnad, Zu Letzt auch Jemmerlich noch batt Vmb Gotts vndt Aller Heilgen willn. (Bl. 44v; Hervorhebung L.M.) Anders als im Decameron ruft Barthel in seiner Not also selbst die Heiligen an und wendet sich damit an jene Instanz, die er zuvor verspottet hatte. Bezieht man das angehängte Epimythion auf diese Stelle, dann lautet die Moral der Geschichte also: Du sollst dich nicht um die (möglicherweise irrigen) religiösen Überzeugungen der anderen kümmern, sondern deinen eigenen Glauben prüfen. Damit würde auch diese Erzählung zu einem Plädoyer für 111 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 60 Ähnlich bereits Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 322, Anm. 93. Man könnte das freilich auch als Kritik an den lutherischen Protagonisten lesen (Barthel und seine Freunde stammen aus dem überwiegend lutherischen Thüringen): Die Lutheraner kritisieren die Altgläubigen, sind aber selbst nicht viel besser als sie. Dieses Argument wurde in der konfessionellen Auseinandersetzung immer wieder vorgebracht, indem etwa die Reformierten die Lutheraner als ‚halbe Katholiken‘ bezeichnet haben, vgl. etwa Geisthirt (wie Anm. 29), Bd. 2, S. 24. In diesem Sinne lässt sich auch die Warnung vor der Wundermacht der Heiligen im Chronogramm des Roldmarsch Kasten (Bl. 1r: Daßt MeIn ProVeten ahn Io nICht | Die Heilgen mögten Zeichnen dich) interpretieren: Man kann darin im Streit um die ‚Götzenbilder‘ entweder eine Verteidigung des lutherischen Standpunktes erkennen oder diesen gerade durch die Annäherung an die katholische Position diskrediert sehen, vgl. Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 316f. 61 Die 64. Erzählung des Roldmarsch Kasten trägt die Überschrift Von gehorsam, Standthafftigkeit vndt geduldt Erbarer Frommer Frawen, ein Schön Exempel vndt Historia eines Margraffen, der Jhm eines Armen Bawren Tochter vermählet vndt ettwas zu hart versucht und befindet sich auf Bl. 228v-242r. Vgl. dazu Mario Zanucchi, „Boccaccios und Petrarcas Griselda in deutschen Schwanksammlungen (mit der Transkription der Griselda-Erzählung aus Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten)“, in: Schwank‐ sammlungen (wie Anm. 4), S. 243-280, hier S. 259-262. Die Transkription des Textes findet sich auf S. 265-280. Marold hat die Griselda-Novelle noch ein weiteres Mal bearbeitet. Diese zweite Bearbeitung findet sich in einer Handschrift aus dem Jahr 1622; diese enthält laut Titelblatt neben den Bücher[n] Salomonis Teutsch auch eine Schöne[ ] Vndt Tugentreiche[ ] Historie[ ], Von der Ehrn Vndt TugentVhesten, Ja Vber Alle Weiber der Weltt Demüthigen Vndt Züchtigen Frawen Grisilla […]. Auß Johannis Bocaty Wellischer Sprach Jnns Latin Vndt Teutsch, Jetzo aber sambt obgedachten Büchern Salomonis, Jnn Achstillabige Teutsche Versreumen transferirt vndt bracht, durch Theodorum Maroldum. Vgl. Kassel, Universitätsbibl. / LMB, 4° Ms. theol. 33, Bl. 1r. Die Erzählung findet sich auf Bl. 159r-204v. Die Bearbeitung unterscheidet sich deutlich von der Version im Roldmarsch Kasten und verdiente eine eigenstände Betrachtung, die hier allerdings nicht geleistet werden soll. 62 Schertz mit der Warheyt. Vonn gůttem Gespraͤche / Jn Schimpff vnd Ernst Reden (Frankfurt a. M.: Christian Egenolff d. Ä., 1550; VD 16 S 2760), Bl. 23v-28r: Von Gehorsam / Standthafftigkeit vnnd Gedult Erbarer frommen Ehefrawen / Ein schoͤn Exempel vnd Histori eins Marggrauen / der ihm eines armen Bawren Tochter vermaͤhelt / vnd hart versůcht. Zitiert nach dem Exemplar Wien, Österr. Nationalbibl., 36.B.31. Zu Marolds Vorlage: Zanucchi (wie Anm. 61), S. 260. Dieser geht aufgrund einzelner Formulierungen davon aus, dass Marold außerdem die lateinische Version Petrarcas gekannt habe, vgl. ebd. 63 Die Geschichte spielt zwar weiterhin in Salutz (Bl. 228v), wird aber zumindest zeitlich an die eigene Gegenwart herangeholt: Im ersten Vers heißt es, sie sei Vhnlengst (Bl. 228v) geschehen, wovon im Schertz mit der Warheyt nicht die Rede ist. Religionstoleranz. 60 Besonders deutlich wird das in den letzten beiden Versen des Textes: Darffst nicht Ein andtern reformirn | Mitt wietz ihm weib vndt kindt regirn (Bl. 48r). Liegt es nicht nahe, bei dem in der Handschrift durch die Schriftart hervorgehobenen Reim von reformirn und regirn auch an das Reformprogramm des hessischen Landgrafen zu denken? IV Ausgehend von diesen Beobachtungen möchte ich abschließend auf eine dritte Erzählung des Roldmarsch Kasten blicken, die aus der zweiten Hälfte der Sammlung stammt und erneut eine bekannte Erzählung des Decameron aufgreift, nämlich die Griselda-Novelle (Decameron X,10). 61 Die Vorlage bietet in diesem Fall jedoch nicht Arigo, sondern die Version des Schertz mit der Warheyt. 62 Inhaltliche Änderungen gegenüber dem Prätext sind dabei kaum zu erkennen. Auch eine Verlegung des Schauplatzes findet nicht statt. 63 Trotzdem lässt sich auch diesem Text eine spezifische Bedeutung abgewinnen, wenn man den Kontext 112 Linus Möllenbrink 64 Siehe oben, S. 108. 65 Von einem „frühabsolutistische[n] Profil“ spricht in Bezug auf die Reformpolitik des Landgrafen etwa Troßbach (wie Anm. 31), S. 156. Vgl. weiterhin den Titel von Gerhard Menk, „Absolutistisches Wollen und verfremdete Wirklichkeit - der calvinistische Sonderweg Hessen-Kassels“, in: Territorialstaat und Calvinismus, hg. von Meinrad Schaab, Stuttgart 1993 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen 128), S. 164-238. 66 Dass diese Deutungsperspektive bereits Boccaccio nicht fremd ist, zeigt möglicherweise der Bezug auf die historischen Markgrafen von Salutz, deren Herrschaft in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts durch „[d]ynastische Konflikte[ ]“ gefährdert war. Für Brockmeier bilden daher im Decameron „die Wahl einer angemessenen Ehefrau und der damit verbundene Erhalt der Familie“ sogar „das zentrale Problem der Novelle“, vgl. den Kommentar in Boccaccio (wie Anm. 51), S. 1002. Bei Arigo wird diese Tendenz noch verstärkt, vgl. Theisen (wie Anm. 28), S. 583f.: „Arigo […] formuliert seinen Vorwurf aus der Perspektive der Untertanen, der armen leuͤte, die bekanntlich unter einer ungeklärten Erbfolge am meisten zu leiden hatten.“ Zur Frage, inwiefern in der Griselda-Novelle feudal-aristo‐ kratische Werte verhandelt werden, auch Ulrich Schulz-Buschhaus, „Griseldas ‚Magnificenzia‘. Zur Interpretation von Decameron X,10“, in: Romanisches Mittelalter. Festschrift zum 60. Geburtstag von Rudolf Baehr, hg. von Dieter Messner und Wolfgang Pöckl, Göppingen 1981 (Göppinger akademische Beiträge 115), S. 285-303. 67 Vgl. Carl Knetsch, Die Erwerbung der Herrschaft Schmalkalden durch Hessen, Diss. Marburg 1898. der Sammlung berücksichtigt. Man kann die Griselda-Erzählung etwa als Beispiel für die einträchtige Herrschaft von Fürst und Untertanen lesen. So bitten seine Untergebenen und Räte den Markgrafen vntterthenig (Bl. 229r) zu heiraten, während sich der Souverän im Gegenzug ausdrücklich um die wohlfart der Landtschafft (Bl. 229v) bemüht zeigt. Gegenüber Griselda äußert er die Sorge, dass er auf Ritter- und Landschaft angewiesen sei, ohne die er kein Herr bleiben könne (Bl. 233r). Der entsprechende Vers ist in der Handschrift wieder auf die bereits erwähnte Weise ausgezeichnet. 64 Diese Darstellung einer konsensualen Herrschaft in der erzählten Welt bietet geradezu ein Gegenbild zu den quasi absolutistischen Bestrebungen des hessischen Landgrafen Moritz in der Realität. 65 Daneben weist vor allem das Ausgangsproblem der Geschichte Bezüge zur historischen Wirklichkeit in Schmalkalden auf. Die Motivation der Untertanen, den Markgrafen zur Ehe zu drängen, besteht in ihrer Angst, sie könnten nach dem Tod des kinderlosen Fürsten in Fremdherrschaft geraten: 66 Daß sich die gantze Landschafft doch Vndt seine Räth beschwerten hoch, Besorgents, mögt Letzt das Landt Ahn Frembte Herrschaft falln mittnandt, Darunter Sie bettrenglicher Dann bey Jhrm Jetzgen Herrn, der sehr Wahr gnedig, würdten gehaltten dann. (Bl. 229r) Um zu erklären, was das mit der schmalkaldischen Realität zu tun hat, ist ein kurzer Blick in die Geschichte des Territoriums nötig: Bei der Herrschaft Schmalkalden handelt es sich um eine hessische Exklave in Thüringen, die bis ins 16. Jahrhundert noch zur Hälfte unter hen‐ nebergischer Herrschaft gestanden hatte. Erst mit dem Tod des letzten, kinderlosen Grafen von Henneberg fiel Schmalkalden 1583 vollends an Hessen-Kassel, namentlich an Wilhelm IV., den Vater des Landgrafen Moritz. 67 Möglicherweise war also die begründete Angst vor einer Machtübernahme nach dem Tod eines kinderlosen Herrschers in Schmalkalden 113 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 68 Ebd., S. 13f. 69 Zur Kirchenpolitik in der Grafschaft Henneberg, wo erst mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 überhaupt die (erste) Reformation vollständig eingeführt wurde, vgl. Henning (wie Anm. 16), S. 170-198. 70 Hier kann man an die Überlegungen Krzysztof Pomians denken, wonach Objekte durch die Integration in eine Sammlung zu ‚Semiophoren‘ werden, die eine Bedeutung transportieren, vgl. Krzysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Rossler, Berlin 1988 (Kleine kulturwissenschaftliche Bibliothek 9). Freilich werden die literarischen Texte im vorliegenden Fall nicht erst durch den Sammlungskontext überhaupt zu Bedeutungsträgern, sondern vielmehr in der Sammlung mit zusätzlichen Bedeutungen aufgeladen. 71 Vgl. auch Dahm-Kruse (wie Anm. 4), S. 78: „Die Sammlung überschreibt nicht die prinzipielle Ei‐ genständigkeit und hermeneutische Erschließbarkeit der einzelnen inkorporierten Texte.“ Vielmehr stehe „die Gesamtaussage der Sammlung in divergenten Wechselwirkungen mit den Einzeltexten, die auch Spannungen und Widersprüche bedingen können“ (ebd., S. 79). 72 Siehe oben, Anm. 61. 73 So etwa die Interpretation von Zanucchi (wie Anm. 61), S. 261f. Überhaupt lassen sich in vielen Erzählungen des Roldmarsch Kasten misogyne beziehungsweise misogame Tendenzen beobachten. noch eine Generation später ganz konkret im kulturellen Gedächtnis präsent. Besonderen Nachdruck gewinnt dieser Bezug, wenn man vergegenwärtigt, welche Rolle Dietrich Marolds eigener Vater bei diesem Herrschaftswechsel gespielt hatte: Ortolph Marold war Leibarzt des letzten Hennebergers Georg Ernst, trat aber in die Dienste des hessischen Landgrafen, um für diesen hinter den Kulissen die Machtübernahme vorzubereiten. 68 Mit dem konfessionspolitischen Kontext des Roldmarsch Kasten stehen diese Vorgänge insofern in enger Verbindung, als die Herrschaftsübernahme in Schmalkalden eine entscheidende Voraussetzung für die Einführung des Calvinismus bildete. 69 Von diesem Punkt aus möchte ich noch einmal den Blick auf das Phänomen des Sammelns als literarische Praxis richten. V In verschiedenen Erzählungen des Roldmarsch Kasten lassen sich Bezüge zu den konfessi‐ onspolitischen Vorgängen in Schmalkalden am Anfang des 17. Jahrhunderts erkennen. Kaum etwas an Marolds Zusammenstellung ist dabei originell im eigentlichen Sinne, fast alles hat er aus vorliegenden Quellen zusammengetragen. Die vorgeschlagene Bedeutung der Geschichten ergibt sich erst über den Kontext der Sammlung. 70 Doch schon die Auswahl der jeweiligen Vorlage und die Komposition der Texte untereinander können aus dieser Perspektive als sinnstiftender Akt angesehen werden. Unter Berücksichtigung des Sammlungskontextes erhalten die betrachteten Erzählungen so eine neue, zusätzliche Sinnebene. Das gilt freilich nicht für alle Texte des Roldmarsch Kasten: Bei vielen der versammelten Geschichten handelt es sich lediglich um unterhaltsame Schwankerzählungen. Und auch dort, wo sich ein Bezug zur außertextlichen Realität herstellen lässt, wird damit nicht die ursprüngliche Bedeutung der Texte überschrieben. 71 Die Griselda-Erzählung etwa kann man - wie das auch die Überschrift im Roldmarsch Kasten nahelegt 72 - weiterhin als Exempel einer duldsamen Ehefrau lesen und im Kontext der frauen- und ehefeindlichen Schwänke betrachten, die in der Sammlung davor und danach stehen. 73 Das Gleiche gilt 114 Linus Möllenbrink 74 Beispielsweise heißt es in der Vorrede der Ringparabel-Bearbeitung - in Anlehnung an die Vorrede Neyphiles bei Arigo -, die Geschichte demonstriere, wie ein guth Geschwetz, | Vndt ein vernünfftig Listig Sin einen Menschen aus großem Schaden, Angst vndt gfahr befreien können (Bl. 29r). Dieses bekannte Schwankthema steht schon bei Boccaccio zumindest vordergründig im Fokus, vgl. Möl‐ lenbrink (wie Anm. 9), S. 296, Anm. 67. Überhaupt handelt es sich bei der Mehrdeutigkeit und Polyfunktionalität der Texte um ein grundlegendes Merkmal schwankhaften Erzählens, welches stets auf verschiedenen Sinnebenen funktioniert und schimpf und ernst gleichermaßen bedient. 75 Stagl (wie Anm. 30), S. 41. 76 Stagl selbst bezieht sich ausdrücklich auf Pomians Unterscheidung zwischen der Nützlichkeit und der Bedeutung gesammelter Objekte und zielt auf eine Differenzierung des Aspekts der Bedeutung. Zu Pomian siehe oben, Anm. 70. 77 Grubmüller (wie Anm. 4), S. 127. Weiterhin heißt es dort: „Jeder Text steht für sich und kann oder soll sogar als einzelner ausgehoben und vorgetragen werden. Den Zusammenhang des Werkes garantiert gewissermaßen nur noch die Produktionsform: Die Geschichten sind durch den Druck zusammengefügt. Der fehlende kompositionelle Zusammenhang führt […] auch dazu, dass von dort aus keinerlei Stütze für das Verständnis der Geschichte geliefert [wird]“. Vgl. auch Kipf, „Das Schwankbuch“ (wie Anm. 25), S. 87, 90f. 78 Vgl. dazu Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 324f. Gerade die „sorgfältige Einrichtung de[s] Manuskript[s]“ käme „als Indiz für die Vorbereitung einer Drucklegung“ infrage (ebd., S. 324). Tatsächlich sehen handschriftliche Druckvorlagen, soweit wir darüber informiert sind, oft ganz anders aus als die späteren Drucke. Vgl. zu den Vorlagen im frühen Buchdruck etwa Michael analog auch für die beiden anderen behandelten Geschichten: In beiden Fällen thematisiert Marold bekannte Schwankmotive, die sowohl in der jeweiligen Erzählung selbst als auch in den Paratexten hervorgehoben werden. 74 In Bezug auf das Phänomen des Sammelns könnte man hier mit Justin Stagl eine ‚Außenbedeutung‘ und eine ‚Binnenbedeutung‘ der gesammelten Objekte unterscheiden, das heißt einerseits „den Verweis auf die Stellung, die die Objekte in der Welt gehabt hatten, bevor sie gesammelt wurden,“ andererseits „ihre neue Stellung, die sie durch die Eingliederung in eine Sammlung […] gewonnen haben.“ 75 Insofern die Texte im Rold‐ marsch Kasten neben ihrer ursprünglichen Außenbedeutung eine neue Binnenbedeutung gewinnen, handelt es sich hier um eine Sammlung im engeren Sinne Stagls oder Krzysztof Pomians. 76 Marold häuft nicht nur altes Erzählmaterial an, sondern er macht es sich zu eigen, indem er es auf seine Umwelt bezieht. Das hebt den Roldmarsch Kasten von den Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts ab, die in erster Linie als „Repertorien für Wiederverwendungstexte“ 77 fungieren und in der Regel Narrative zusammentragen, ohne ihnen eine neue Binnenbedeutung zuzuweisen. Und noch ein Aspekt unterscheidet Marolds Sammlung von den bekannten Schwank‐ büchern, nämlich seine medialen Erscheinungsform. Schließlich wurde der Roldmarsch Kasten nicht gedruckt, sondern existiert lediglich in einer einzigen Handschrift. Um meine Beobachtungen zu kontextualisieren, möchte ich abschließend einen kurzen Blick auf die Materialität der Sammlung werfen und danach fragen, wie sich das gewählte Medium in ein Verhältnis zum skizzierten Charakter der Sammlung setzen lässt. VI Will man die Erscheinungsform des Roldmarsch Kasten nicht einfach damit erklären, dass Marold in Schmalkalden keinen Drucker für sein umfangreiches Werk finden konnte, 78 115 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 1991, S. 89, 92 f. Ein Beispiel aus der Frühzeit des Drucks bietet die Herzog Ernst-Handschrift München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 572, die möglicherweise als Vorlage für den Augsburger Erstdruck (Augsburg: Anton Sorg, um 1476; GW 12534, ISTC ie00102900) gedient hat und ein völlig anderes Layout aufweist als die Inkunabel. Vgl. Uta Goerlitz, „Mittelalterliche Literatur im Medienwandel von der Handschrift zum gedruckten Buch. Das Beispiel des Herzog Ernst“, in: Das Mittelalter 22 (2017), S. 13-38, hier S. 30. Ohnehin ist man oft vorschnell geneigt, die Handschrift in der frühen Neuzeit lediglich ex negativo in Bezug auf den Druck zu betrachten und als ‚noch nicht‘ des typographischen Buchs wahrzunehmen: entweder zeitlich (für Autoren, die noch keinen Zugang zum Druck haben) oder drucktechnisch (im Sinne der Handschrift als Druckvorlage). Kritisch zu diesem Denkmodell Carlos Spoerhase, Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 2018, S. 422-424. 79 Zur fehlenden Wahrnehmung frühneuzeitlicher Handschriften etwa Arno Mentzel-Reuters, „Das Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch, hg. von Ursula Rautenberg, Berlin/ New York 2010, Bd. 1, S. 411-442, hier S. 431: „Bemerkenswert bleibt, wie die Forschung fast überall die Handschriftenproduktion aus dem Blick verliert, sobald die Etablierung des Buchdrucks als vollzogen angesehen wird.“ Vgl. auch den Sammelband Die Gleichzeitigkeit von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert, hg. von Gerd Dicke und Klaus Grubmüller, Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalterstudien 16), darin neben der Einleitung bes. den Beitrag von Ursula Rautenberg, „Medienkonkurrenz und Medienmischung. Zur Gleichzeitigkeit von Handschrift und Druck im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts in Köln“, S. 167-202. Die geringe Aufmerksamkeit liegt sicher auch in der mangelhaften Erschließung frühneuzeitlicher Handschriftenbestände begründet, vgl. Arno Mentzel-Reuters, „Handschriftenfor‐ schung in der Diskussion“, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 66 (2010), S. 109-136, hier S. 127f. Dazu auch Sven Limbeck, „Neuzeitliche Handschriften“, Vortrag auf der Internationalen Tagung ‚Zur Praxis der Bearbeitung von mittelalterlichen Handschriften‘, Staatsbibliothek zu Berlin, 15.-17. Oktober 2008, online verfügbar: www.hab.de/ wp-content/ uploads/ 2021/ 01/ hab_vort rag_neuzeitliche_handschriften_limbeck.pdf. Welche Rolle Handschriften auch noch im etablierten Druckzeitalter des 18. und frühen 19. Jahrhunderts spielen, hat eindrücklich Carlos Spoerhase gezeigt, vgl. Spoerhase (wie Anm. 78). Zu frühneuzeitlichen Handschriften etwa Tilo Brandis, „Die Handschrift zwischen Mittelalter und Neuzeit. Versuch einer Typologie“, in: Gutenberg-Jahrbuch 72 (1997), S. 27-52. Siehe weiterhin schon J. W. Saunders, „From Manuscript to Print. A Note on the Circulation of Poetic MSS in the Sixteenth Century“, in: Proceedings of the Leeds Philosophical and Literary Society 6 (1948-52), S. 507-528. 80 Vgl. Rüdiger Schnell, „Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahr‐ hundert“, in: IASL 32 (2007), S. 66-111, bes. S. 92f., 107-109; Mentzel-Reuters, „Nebeneinander“ (wie Anm. 79), S. 436; Spoerhase (wie Anm. 78), S. 146f. Dabei betont Spoerhase, dass es sich bei der frühen Neuzeit um eine Phase des Übergangs handelt, in der es noch „viele Berührungspunkte“ zwischen Handschrift und Druck gebe. Erst „[i]m ersten Drittel des 19. Jahrhunderts“ würden die stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Materialität und den kulturellen Praktiken, in die die Handschrift in der frühen Neuzeit eingebunden ist. Dass grundsätzlich auch nach der Etablierung des Buchdrucks die Manuskriptkultur eine wesentlich größere Rolle gespielt hat, als in der germanistischen Forschung oft wahrgenommen wurde, ist in den letzten Jahren zunehmend hervorgehoben worden. 79 Erst unter Betrachtung des Neben- und Miteinanders von Hand- und Druckschriftlichkeit in der frühen Neuzeit kann man jedoch sinnvollerweise nach der Bedeutung des jeweiligen Mediums fragen. So lässt sich seit dem 15. Jahrhundert ein Prozess der kontinuierlichen funktionalen Ausdifferenzierung zwischen Handschrift und Druck beobachten, der noch bis ins 19. Jahrhundert andauert und bei dem die Handschrift zunehmend mit den Merkmalen der Unabgeschlossenheit, Vorläufigkeit und Privatheit verbunden wird. 80 116 Linus Möllenbrink beiden Medien so weit auseinander treten, dass der Prozess der Differenzierung als abgeschlossen angesehen werden könne (ebd., S. 154). - Neben den genannten Merkmalen der Unabgeschlossenheit, Vorläufigkeit und Privatheit wird mitunter auch eine Gleichsetzung von Handschriftlichkeit mit Mündlichkeit (Hören) und Druck mit Schriftlichkeit (Lesen) postuliert, vgl. etwa Giesecke (wie Anm. 78), S. 89; Hans E. Braun, „Von der Handschrift zum gedruckten Buch“, in: Buchkultur im Mittelalter. Schrift - Bild - Kommunikation, hg. von Michael Stolz u. a., Berlin/ New York 2006, S. 215-242, hier S. 236. Kritisch dazu: Mentzel-Reuters, „Nebeneinander“ (wie Anm. 79), S. 431. 81 Vgl. die Handschriftenbeschreibung von Birgitt Hilberg, Die Handschriften der Gesamthochschul- Bibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Bd. 4,2: Manuscripta poetica et romanensia, manuscripta theatralia, Kassel 1993, S. 25. - Diese Einrichtungsmerkmale zeigen auch, dass es sich hier nicht um ein vorläufiges Archiv ohne ideelle Komposition handelt, das zum späteren Gebrauch angelegt wurde und wieder aufgelöst werden kann. Zu solchen Textsamm‐ lungen: Spoerhase (wie Anm. 78), S. 41-46. Aus dieser Perspektive gewinnt die Materialität der Handschrift eine poetische Funktion: Erst die „Integrität des Buches als eines kulturellen Artefaktes“ führt dazu, dass „Wechselbezüge“ zwischen den gesammelten Texten entstehen (ebd., S. 44f.). Der (feste) Einband der Handschrift gewinnt damit gewissermaßen eine „poetisch formbildende Kraft“, die aus der Sammlung eine „poetische und hermeneutische Hinsichten stiftende und strukturierende Entität“ werden lässt (S. 46). 82 Siehe beispielsweise Bl. 39r. 83 Schnell (wie Anm. 80), S. 108. Schon Waltenberger geht davon aus, „dass das Werk in erster Linie für einen privaten oder familiären Rezipientenkreis angelegt war oder vielleicht sogar hauptsächlich einer durch Krisen- und Leiderfahrung bedingten Selbstvergewisserung seines Autors gedient haben mag“ (Waltenberger, „Marolds Kreuz“ [wie Anm. 9], S. 326). 84 Jürgen Wolf nennt die Verbreitung von „politisch, religiös und moralisch heikle[n] Texte[n]“ als einen wichtigen Funktionsbereich von Handschriften im Druckzeitalter ( Jürgen Wolf, „Von geschrie‐ benen Drucken und gedruckten Handschriften. Irritierende Beobachtungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Buchdrucks in der 2. Hälfte des 15. und des beginnenden 16. Jahrhunderts“, in: Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Andreas Gardt u. a., Berlin/ Boston 2011, S. 3-21, hier S. 20). Rüdiger Schnell weist in diesem Zusammenhang auf den Fall Rogers de Bussy-Rabutin aus dem 17. Jahrhundert hin, bei dem die Privatheit der Handschrift sogar als Argument für die gerichtliche Verteidigung des Inhalts angeführt werden konnte. Vgl. Schnell (wie Anm. 80), S. 109, Anm. 139: „Im 17. Jahrhundert war dann das Medium Handschrift so stark und einseitig mit der Funktion ‚Privatheit‘ besetzt, dass damit in einer gerichtlichen Auseinandersetzung argumentiert werden konnte […]. Als das Autor-Manuskript (eine Sammlung satirischer Anekdoten) ohne Wissen Rogers kopiert, dem König vorgelegt und es zur Verhaftung Rogers gekommen war, verteidigte sich der Autor mit dem Argument, seine nur handschriftlich vorliegende Sammlung sei doch eine rein private Angelegenheit und er habe niemals die Absicht gehabt, sie über einen kleinen Kreis von Freunden hinaus bekannt zu machen.“ Während die Erscheinungsform des Roldmarsch Kasten alles andere als vorläufig oder unabgeschlossen wirkt - Größe, Umfang und Layout der Handschrift repräsentieren einen deutlichen Anspruch auf ‚Buchförmigkeit‘, 81 die Schrift ist verhältnismäßig sorgfältig und der Text weist an mehreren Stellen Verbesserungen auf, die für ein Bemühen um die Korrektheit des Textes stehen 82 - ist es vor allem das Merkmal der Privatheit, das sich gut mit der skizzierten Gebrauchsfunktion der Sammlung in Verbindung bringen lässt. Auch beim Roldmarsch Kasten handelt es sich wohl um einen „Text[ ] für eine kleine Leserschaft“ und die „vertraut-persönliche Kommunikation“ zwischen Autor und Rezipient*innen, wie das Rüdiger Schnell für die frühneuzeitliche Handschrift generell postuliert. 83 Dabei mag es durchaus eine Rolle spielen, dass im Roldmarsch Kasten heikle politische und religiöse Themen verhandelt werden. 84 In diesem Sinne wird auch in der Vorrede der Sammlung ein 117 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 85 So spricht der Erzähler ausdrücklich davon, er habe die Texte nicht geschrieben ie, | Daß Jnn der Kirch mann lese die (Bl. 2r). Auch wird die Sammlung hier im Wortsinn als Freiraum des Erzählers konzipiert: Alßo wihl Jch auch Frey nun seyn | Jnn diesem Schmahln, Kahln Wagen mein (ebd.). Vgl. dazu Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ (wie Anm. 9), S. 319: Marols Wagen erscheine „als metaphorische Imagination eines offenbar eng begrenzten Rückzugsraums, der eventuell von einem Leser genutzt werden kann, zunächst aber offensichtlich dem Autor selbst zugute kommen soll“. 86 Mentzel-Reuters, „Nebeneinander“ (wie Anm. 79), S. 436. 87 Das unterscheidet den Roldmarsch Kasten von den gedruckten Schwankbüchern, die für anonyme Rezipient*innen auf Vorrat und ohne Bindung an bestimmte Verstehenskontexte verfasst werden, vgl. dazu Grubmüller (wie Anm. 4), S. 131. 88 Um die Gebrauchsfunktion der Sammlung genauer zu bestimmen, wäre auch auf die literarische Form des Roldmarsch Kasten einzugehen. Wie oben bereits erwähnt, ist der Roldmarsch Kasten durchge‐ hend in vierhebigen Knittelversen verfasst. Diese eynfeltige[n] Reume[ ] (Bl. 1r) haben aus moderner Perspektive oft zur ästhetischen Abwertung der Sammlung geführt. So sprach Johannes Bolte sogar von einem „unsaubren, glücklicherweise nicht zum druck gelangten Roldmarsch kasten“ ( Johannes Bolte, „Vorwort“, in: Georg Wickrams Werke, Bd. 3: Rollwagenbüchlein. Die sieben Hauptlaster, hg. von dems., Stuttgart 1903 (Bibliothek des Litterarischen Vereins Stuttgart 229), S. V-XXXIV, hier S. XV). Vgl. auch Hartmann (wie Anm. 9), S. 116. Noch Waltenberger meint, die Verse stellten „nicht unbedingt eine Aufwertung“ des Textes dar, weil sie sich „tatsächlich häufig als wenig kunstvoll“ erwiesen (Waltenberger, „Geltendes im Nichtigen“ [wie Anm. 9], S. 318). Vgl. auch Waltenberger, „Marolds Kreuz“ (wie Anm. 9), S. 323. Ohne näher darauf eingehen zu können, lässt sich doch zumindest feststellen, dass Marolds Verse zwar immer wieder auf Füllwörter zurückgreifen, aber ansonsten einigermaßen sauber und regelhaft gebaut sind. Auch gibt es im 16. Jahrhundert noch eine ganze Reihe von literarischen Vorbildern für die Verwendung von Versen, zu denen nicht zuletzt auch die versifizierten Bestandteile von Schwankbüchern wie Kirchhofs Wendunmuth (1563) gehören. Vgl. dazu etwa Johannes Klaus Kipf, „Schwankroman - Prosaroman - Versroman. Über den Beitrag einer nicht nur prosaischen Gattung zur Entstehung des frühneuzeitlichen Prosaromans“, in: Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008, hg. von Alexander Schwarz, André Schnyder und Chaterine Drittenbass, Amsterdam/ New York 2010 (Chloe 42), S. 145-162. 89 Zu den Merkmalen, die dem Buchtyp der Schwanksammlung entsprechend die Verwendung der Handschrift als Thesaurus archivierten Erzählmaterials nahelegen, gehört etwa das Regiester deß Schmahlen Vndt Kahlen Roldtmarsch Kastens (Bl. 461r-465v), das eine Auffindung und kontextunab‐ hängige Wiederverwendung einzelner Geschichten ermöglicht, vgl. dazu Grubmüller (wie Anm. 4), S. 126. Verzicht auf (kirchenpolitische) Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht. 85 Noch wichtiger erscheint mir aber die Tatsache, dass Handschriften im Druckzeitalter vor allem in „indi‐ vidualisierte[n] bzw. auf lokale Gegebenheiten zugeschnittene[n] Gebrauchssituationen“ 86 Verwendung finden. Auch die vorgeschlagene Lektüre des Roldmarsch Kasten setzt ja eine Vertrautheit mit den zeitgenössischen konfessionspolitischen Vorgängen voraus und basiert auf der Aktualisierung und Individualisierung der überlieferten Geschichten. 87 Insofern bildet - anders als beim gedruckten Schwankbuch - die Nähe zum Autor und seinem Umfeld gewissermaßen eine Bedingung für das (spezifische) Verständnis der Sammlung. In diesem Sinne unterstützt die Betrachtung der medialen Erscheinungsform des Rold‐ marsch Kasten die Überlegungen zur Funktion der Sammlung und demonstriert, wie sich Marold kurz nach 1600 die literarische Tradition des Schwankbuchs im Medium der Handschrift aneignet. 88 Das Ergebnis ist ein Werk, das zwar in vielen Aspekten auf den Buchtyp ‚Schwanksammlung‘ Bezug nimmt, 89 sich jedoch - gerade was das Phänomen des Sammelns angeht - auch davon unterscheidet: Beim Roldmarsch Kasten handelt es sich 118 Linus Möllenbrink 90 Zur grundlegenden Unterscheidung von Archiv und Sammlung etwa Hilary Jenkinson, The English Archivist. A New Profession. Being an Inaugural Lecture for a New Course in Archive Administration Delivered at University College, London, 14 October 1947, London 1948, S. 4: „Archives are not collected: I wish the word ‚Collection‘ could be banished from the Archivist’s vocabulary, if only to establish that important fact.“ nicht um eine bloße Anhäufung archivierter Texte, sondern um die Sammlung des Autors Dietrich Marold. 90 119 Zwischen Archivierung und Aneignung. Dietrich Marolds Roldmarsch Kasten 1 Solange die deutsche Literatur gleichsam dienenden Charakter in der Schriftkultur des Mittelalters hatte, d. h. in althochdeutscher und frühmittelhochdeutscher Zeit, werden deutsche Werke/ Texte nahezu ausschließlich in lateinischen Sammelhandschriften ‚mittradiert‘; vgl. dazu grundlegend mit zahlreichen Beispielen Jürgen Wolf, Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachigen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert, Tübingen 2008 (Hermaea N. F. 115), insb. S. 55-66. 2 Vgl. zur aktuellen Forschungslage und Forschungsdebatte grundlegend One-Volume Libraries. Composite and Multiple-Text Manuscripts, hg. von Michael Friedrich und Cosima Schwarke, Berlin/ Boston 2016 (Studies in Manuscript Cultures 9) (Rez. von Wernfried Hofmeister, in: ZfdA 148 (2019), S. 547-551) sowie die Tagungsbzw. Sammelbände Überlieferungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, in Verbindung mit Horst Brunner und Freimut Löser hg. von Dorothea Klein, Wiesbaden 2016 (WILMA 52); Textsortentypologien und Textallianzen des 13. und 14. Jahrhunderts, hg. von Mechthild Habermann, Berlin u. a. 2011; und ergänzend Words for codices. An English codicological terminology [an attempt by J. P. Gumbert 2010], zum Teil online: www.google.de/ url? sa=t& ; rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&ved=2ahUKEwikopzR9_3mAhUC2KQKHbF6C-wQFjAAeg‐ QIARAC&url=http%3A%2F%2Fwww.cei.lmu.de%2Fextern%2FVocCod%2FWOR10-1.pdf&usg=AO‐ vVaw3DtcTY995xCvBrFQVJiH8b [Zugriffe hier und im Folgenden am 1.3.2020]. Zahlreiche ak‐ tuelle Publikationen befassen sich mit einzelnen Sammelhandschriften in unterschiedlichsten Kontexten. Exemplarisch verwiesen sei etwa auf Christopher Martin, „Predigt, Traktat, Kloster‐ satire. Eine geistliche Sammelhandschrift - Zürich, Zentralbibl., Ms. C 76“, in: Literatur im Frauenkloster. Die Dominikanerinnen von Adelhausen und ihre verschüttete Bibliothek. Begleitka‐ talog zur Posterausstellung im Foyer der Universitätsbibliothek Freiburg, 2. Mai bis 11. Juli 2018. Ein Lehrprojekt unter Mitwirkung der TeilnehmerInnen der Master-Übung „Spätmittelal‐ Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Werk - Handschrift - Sammlung - Bibliothek Jürgen Wolf Vorwort: Alles in Einem. Werk - Handschrift - Sammlung - Bibliothek Anders als in unserer vom gedruckten Buch und der es aufnehmenden Bibliothek geprägten modernen Literaturlandschaft mit dem Standardformat ‚Ein Buch = Ein Text‘ bzw. ‚Viele Bücher = Bibliothek‘ sind im Mittelalter das viele Texte sammelnde oder versammelnde Buch bzw. die nur aus einem Buch bestehende Bibliothek (s. u. ‚Ein-Buch-Bibliothek‘) weit verbreitet bzw. sogar die Regel. Die Überlieferung mittelalterlicher Texte wird - für die deutsche Überlieferung bis ins ausgehende 12. Jahrhundert nahezu ausschließlich 1 und dann vor allem im Spätmittelalter wieder in zunehmendem Maße - durch sog. Sammel‐ handschriften (Multiple-Text Manuscripts) geprägt. 2 Die Forschung steht allerdings meist terliche Literatur aus Freiburger Handschriften“ und in Zusammenarbeit mit Martina Backe und Barbara Henze, Freiburg 2018, S. 37-44; Der Kurzroman in den spätmittelalterlichen Sam‐ melhandschriften Europas. Pan-European Romances in Medieval Compilation Manuscripts, hg. von Miriam Edlich-Muth, Wiesbaden 2018 (Imagines Medii Aevi 40); Margit Dahm-Kruse, Versnovellen im Kontext. Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften, Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica 68); Marco Heiles, „geomancia hais ich. Die geomantisch-astrologische Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Broxbourne 84.3“, in: Mittelalter. Interdiszipli‐ näre Forschung und Rezeptionsgeschichte 1 (2018), S. 179-209; Johannes Klaus Kipf, „Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch. Überlieferungstypen von Schwänken im Me‐ dienwandel“, in: Die Kunst der ,brevitas‘. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittel‐ alters. Rostocker Kolloquium 2014, in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel und Jan Cölln, Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 299-330. 3 Jürgen Wolf, „Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile“, in: Klein u. a. (wie Anm. 2), S. 69-81. quer zu diesem Tradierungsprinzip. Egal wie die Zusammensetzung in diesen Sammlungen aussieht, es werden primär die jeweiligen Einzelwerke in den Blick genommen. Für das Buchganze lässt man sich allenfalls auf Denkkategorien wie Archivierung, Bewahrung, Reihung und Sammlung ein, oder man behilft sich mit eher verschleiernden Begriffen wie ‚Hausbuch‘, ‚Zyklus‘, ‚Heldenbuch‘, individuellen Sammlungsnahmen wie ‚Vorauer Codex 276‘ und ‚Codex Sangallensis‘ oder diversen Ableitungen von ‚Sammelhandschrift‘ bzw. ‚Sammlung‘. Hinter dieser Praxis verbirgt sich ungeachtet aller Alteritätsdiskussionen ebenso offensichtlich wie wirkmächtig ein modernes Autor-, Werk- und Buchverständnis. Tatsächlich bietet aber das mittelalterliche Buch oft, bisweilen additiv gereiht, z.T. aber auch inhaltlich wie buchtechnisch filigran miteinander verwoben, ganze Serien von vermeint‐ lichen Einzeltexten, Textkonglomeraten, Kombinationen, Kompilationen und Exzerpten, d. h. es bietet letztlich ‚alles in Einem‘, wobei sich die rezeptiven, konzeptionellen und produktiven Verfahren dieses mittelalterlichen Sammelns grundsätzlich von modernen Denkkategorien unterscheiden (können): Die sog. M i t ü b e r l i e f e r u n g , die Textge‐ meinschaften, aber auch deren Schöpfer - Redaktoren, Schreiber, Sammler - müssen vor diesem Hintergrund einerseits als s e l b s t ä n d i g e G e s a m t ( k u n s t ) w e r k e und deren Schöpfer andererseits als S e k u n d ä r a u t o r e n in den Blick genommen werden. Was entsteht, sind nicht selten eigenständige Sammlungs-, oft sogar Werkeinheiten mit neuen Autor-, Auftraggeber-, Rezeptions-, Wirk- und Nutzungsszenarien. Im vorliegenden Beitrag soll es einerseits darum gehen, in Fortschreibung meines Beitrags „Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile“ 3 das mittelalterliche Sammeln im Buch zu kategorisieren sowie andererseits anhand ausgewählter Beispiele die je unterschiedlichen Ideen, Interessen und Produkte solchen Sammelns exemplarisch vorzuführen. Anzumerken ist, dass sich gleichsam aus der Natur der Sache zu ergeben scheint, dass auch hier moderne Zuordnungen (d. h. Textsorten-/ Gattungsbegriffe) allen‐ falls Hilfskategorien sein können, die mittelalterlichen Sammlungsideen meist nur bedingt gerecht werden. I Buchtypen = Sammlungstypen Das viele Texte/ Werke beherbergende Buch ist im Mittelalter ein ebenso omnipräsentes wie ‚problematisches‘ Faktum - problematisch vor allem deshalb, weil sich die Samm‐ 122 Jürgen Wolf 4 Moderne Gattungsbzw. Textsortenkategorien verstellen häufig den Blick auf entsprechende Sammlungsverbünde, wenn etwa historische Werke um die Trojaner, um Alexander, um Karlische Helden oder enzyklopädische Texte wie der Herzog Ernst und Mandevilles Reisen der Belletristik (Roman) bzw. der fiktionalen Literatur zugeordnet, im Mittelalter aber ganz anders tradiert bzw. rezipiert werden. 5 DFG-Richtlinien Handschriftenkatalogisierung / Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuß für Handschriftenkatalogisierung, 5., erw. Aufl., Bonn-Bad Godesberg 1992, S. 12. In den Neuen Konzepten der Handschriftenerschließung - Informationssysteme zur Erforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Bonn 2002, wird nur noch pauschal von „Sammelhandschriften“ (S. 21) gesprochen. lungsgenese, die Sammlungsarchitektur und die Sammlungstektonik meist nicht von selbst erschließen bzw. letztlich oft völlig dunkel bleiben. Schon seit den Anfängen der Handschriftenforschung ist dieses ‚Problem‘ bekannt, und man versucht, sich des Phäno‐ mens anzunehmen. Dies geschieht einerseits pragmatisch-technisch durch die fortlaufende Beschreibung solcher Bücher in der Folge der sie enthaltenden Teile und andererseits durch die Beschreibung des Buchkörpers mit technischen Daten wie Umfang, Lagen, Einrichtung, Ausstattung etc. Oft werden dabei die entsprechenden Sammlungen auch Großkategorien wie ‚epische‘, ‚lyrische‘, ‚geistliche‘, ‚juristische‘, ‚historische‘ oder ‚medi‐ zinische‘ Sammelhandschrift zugeordnet, und ebenso oft entziehen sich die Sammlungen aber auch schon hinsichtlich der - wirklichen oder vermeintlichen 4 - Heterogenität des Zusammengestellten einer solchen Zuordnung. Hinzu kommen rein buchtechnische Fragen wie die nach dem Entstehungszusammenhang des jeweiligen Buchs, verbunden mit der Grundfrage, ob das Buch überhaupt als Einheit konzipiert und erstellt oder ob es sekundär zusammengesetzt worden ist - und das kann gleichzeitig, aber auch nachträglich, bisweilen sogar Jahrhunderte später geschehen. I.1 Nomenklatur - Stand der Dinge Die Problemlage bedurfte insbesondere im Kontext der Handschriftenkatalogisierung einer grundsätzlichen Klärung. Die „DFG- Richtlinien Handschriftenkatalogisierung“ 5 bieten in der 1992 erschienen 5. erweiterten Auflage denn auch ein entsprechendes Kategorienmo‐ dell: Zusammengesetzte Handschriften und Sammelhandschriften Bei zusammengesetzten Handschriften (Sammelbänden) wird alles Gemeinsame (Einband, Ge‐ schichte von bestimmtem Zeitpunkt ab) am Anfang behandelt, dann folgt die Beschreibung jedes einzelnen Teils getrennt (d. h. äußere Beschreibung, evtl. Angabe über Entstehung, Überlieferungs‐ geschichte bis zum Zeitpunkt der Vereinigung mit den anderen Teilen, Inhalt). Für Sammelhandschriften, deren Teile zwar verschieden angelegt sind, sich aber doch dem Buch‐ ganzen einfügen (der Unterschied zu zusammengesetzten Handschriften ist oft nicht eindeutig zu fixieren), können alle Teile mit entsprechender Kennzeichnung in der gemeinsamen äußeren Beschreibung untergebracht werden (z. B. nach der Lagenbeschreibung: I: 1 r -16 v ; II: 14 r -64 v ; III: 65 r -124 v Schriftraum I: … x …; II: … x …; III: … x … · II: 2 Spalten · etc. nach der Reihenfolge der Richtlinien; die differenzierte Beschreibung kann auch bereits bei der Lagenformel einsetzen). - Beispiele: Augsburg 2° Cod. 8 und Cod. 11 (Katalog Bd. 2, siehe unten); Variante: Freiburg Hs. 23 und Hs. 66 (Katalog Bd. 1, 1, siehe unten). 123 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 6 Friedrich/ Schwarke (wie Anm. 2), S. 16. 7 Ebd., S. 15f. Diesen noch sehr groben Vorschlag aufnehmend und verfeinernd soll hier versucht werden, ein Strukturmodell (vgl. Grafik 1 und weiterführend Grafik 2-4) der mittelalterlichen Handschriftenüberlieferung zu konturieren, mit dem Katalogisierung wie Forschung und Edition ein Handwerkszeug an die Hand gegeben wird, den jeweils vorliegenden Hand‐ schriftentyp schnell zu erfassen und zuzuordnen. Grundsätzlich wird dabei von den zwei Basiskategorien K h - Komposithandschrift (Buchbindersynthese) und S h -Sammelhand‐ schrift (Handschriftensynthese) ausgegangen, wobei die K o m p o s i t h a n d s c h r i f t als eine „codicological unit which is made up of formerly independent units“ 6 zu denken ist und die S a m m e l h a n d s c h r i f t als „codicological unit ‚worked in a single operation‘ (Gumbert) with two or more texts or a ‚production unit‘ resulting from one production process delimited in time and space“. 7 Grafik 1: Grundtypen des mittelalterlichen Buchs Kh = Komposithandschrift (Buchbindersynthese) Das Buch ist aus zwei oder mehr Teilen separat, nachgeordnet zusammengesetzt. Hier gilt es, zeitgenössische (komposit-zeitgenössisch = KhZ) und wie auch immer von der ursprünglichen Buchgenese zeitlich entfernte ‚moderne ‘ Typen (komposit-modern = KhM) auseinanderzuhalten, wobei sich das Endresultat eines mittelalterlichen, im unmittelbaren Kontext der Buchentstehung arbeitenden Buchbinders in seiner Grundkonzeption nicht von der eines frühneuzeitlichen oder gar modernen Buchbinders unterscheiden muss. 124 Jürgen Wolf 8 Vgl. mit Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschrifte ncensus.de/ 6668); sowie mit Transkription der Kaiserchronik: Kaiserchronik digital (digi.ub.uni-heid elberg.de/ diglit/ hab_mss15-2-aug-2f ? ui_lang=ger). 9 Vgl. z. B. Stephan Müller, „Schwabenspiegel und Prosakaiserchronik. Textuelle Aspekte einer Überlie‐ ferungssymbiose am Beispiel der Geschichte Karls des Großen (mit einem Anhang zur Überlieferung der Prosakaiserchronik)“, in: Text und Text in lateinischer und volkssprachiger Überlieferung des Mittelalters, in Verbindung mit Wolfgang Haubrichs und Klaus Ridder hg. von Eckart Conrad Lutz, Grafik 2: Komposithandschrift Ein Beispiel für eine inhaltsorientierte ‚intelligente‘ moderne Buchbindersynthese (KhM) mag dies belegen. Beispiel KhM (in der Neuzeit sekundär zusammengebunden): Im Kodex Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 15.2 Aug. 2° 8 steht in einem ersten Teil auf Bl. 1ra-23ra von einer Hand fortlaufend angeordnet die Prosakaiserchronik (W) und auf Bl. 23rb-95vb die Kaiserchronik A + C (Schröder Nr. 3 + 33). Die Kaiserchronik bricht auf Bl. 95v mitten im Satz unvollständig ab. Die restlichen Kaiserchronik-Partien der Handschrift sind durch mechanischen Verlust irgendwann verloren gegangen. Ein neuzeitlicher Buchbinder hat nun einen zweiten, vom ersten Teil völlig unabhängig entstandenen Teil hinzugebunden: anderer Schreiber, andere Einrichtung und Ausstattung, anderes Pergament, anderer Text. Dieser zweite Part enthält im so zusammenmontierten Band auf Bl. 96ra-158va ein ebenfalls mechanisch defektes Schwabenspiegel-Landrecht. Dort fehlen am Anfang (nach Rekonstruktion) wohl 57 Blätter. Beide (defekten) Handschriften wurden n a c h t r ä g l i c h von diesem Buchbinder ver‐ einigt. Die Auswahl der Teile erfolgte dabei aber keinesfalls wahllos nach dem Prinzip: ‚zwei defekte Konvolute durch Zusammenbinden sichern‘. Ganz im Gegenteil passen sie nicht nur hinsichtlich des jeweils nahezu identischen Formats, der jeweils 2-spaltigen Einrichtung, dem jeweils nahezu identischen Schriftspiegel und der Gesamtgestaltung sehr gut zusammen, sondern auch hinsichtlich der inhaltlichen Kombinationsidee. Ähnliche Verbindungen von Prosakaiser‐ chronik und Schwabenspiegel kommen nämlich durchaus häufiger vor, ja sind letztlich sogar ein Standardmuster der Schwabenspiegel-Tradierung. 9 Nur die Verbindung mit der Vers-Kaiserchronik 125 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Berlin 2006 (Wolfram-Studien 19), S. 233-252; Matthias Johannes Bauer, „er nam ain guot end: er versiecht. Sterbende Herrscher und die Konnotationen ihrer Tode in der Prosakaiserchronik (Buch der Könige niuwer ê)“, in: Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters, hg. von Susanne Knaeble, Silvan Wagner und Viola Wittmann, Berlin 2011 (Bayreuther Forum Transit 10), S. 251-266 (zur Wolfenbütteler Handschrift S. 266). 10 Grundlegend zur Handschrift: Karin Schneider, Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbi‐ bliothek München. Cgm 201-350, Wiesbaden 1970 (Catalogus codicum manu scriptorum Bibliothecae Monacensis V,2), S. 139-146; und Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus (mrfh.online.uni-marburg.de/ 10580); die aktuelle Forschungsliteratur ist erfasst im Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 5999). erscheint außergewöhnlich, ist aber thematisch durchaus passend. Dass hier zwei separate Teile - I = Bl. 1-95 + II = Bl. 96-158 - rein mechanisch sekundär vereinigt wurden, ist äußerlich kaum zu erkennen und verlangt selbst inhaltlich größte Aufmerksamkeit, zumal im Chronikteil auch noch auf einen Schwabenspiegel verwiesen wird, der demnach in der mechanisch beschädigten Ursprungsvariante eventuell auch schon einmal enthalten war. Kommen wir damit zu den zeitgenössischen Buchbindersynthesen (KhZ). Auch hier gilt es, zwei Varianten zu unterscheiden: die homogen und die inhomogen zusammengesetzten Komposithandschriften. Zeitgenössisch primär, d. h. im Entstehungskontext zusammenge‐ bunden, zeigen viele Handschriften dieses Typs auch inhaltliche Zusammenhänge, was nicht verwundert, denn Bücher waren im Mittelalter kostbar und wurden nicht wahllos ‚behandelt‘. Wie komplex ein solches Zusammenspiel von einzelnen separaten Teilen durch den Besitzer gestaltet sein kann, soll ein weiteres Beispiel verdeutlichen. Beispiel KhZ (Zeitgenössische ‚Schreiber/ Autor-Buchbinder‘-Synthese; im Entstehungskontext der Handschrift zusammengebunden): Konrad Bollstatter fügte einem Konvolut mit eigenen Texten (s. u.) im Münchener Cgm 252 10 als Schreiber, Redaktor und Sammler zusammengesammelte Werke aus eigener Feder und anderer Schreiber, aber auch Werkfragmente und sogar Ausstattungsteile wie Initialen hinzu, die aus Drucken stammten. Es entstand ein umfängliches, zunächst nur in der Blattgröße einigermaßen homogenes Konvolut aus zusammengebundenen Einzelheften und Fragmenten (oft defekt) von seiner und mehreren anderen Händen. B Ir-38v, 85r-86v, 39r-55v Ludolf von Sudheim: Reisebuch B 56r-58v, 71r-74v, 59r- 70v, 75r-78v Lucidarius (M2) (Fragment), darin: beigebundene Vorlagen aus einer Hs. des 14. Jh.s: 59r-70v + 72r-78v Lucidarius (14. Jh.) B 79r-82v Jean de Mandeville: Reisebeschreibung (Velser; Fragment) B 87rv + 84rv + 83rv Pilatus-Legende (Fragment) B 88r-89v Evangelium Nicodemi (Fragment) B 90r-94r Marco Polo: Reisen [Druckabschrift? ] (Fragment) 95ra-96ra Albertanus von Brescia: Melibeus und Prudentia (Schluss) (A. 15. Jh.) B 96rb-104vb Prozessbüchlein (Fragment) 126 Jürgen Wolf 11 Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert, Köln/ Weimar/ Wien 2003 (Pictura et Poesis 16), S. 239-248, 357 und Abb. 190 (Zitat S. 247). B 105r-128v Eckenlied-Bruchstücke aus mind. 2 Fassungen (E4) (Fragment) B 129r-137r Losbuch-Fragmente B 137v Würfelbuch für Liebende [nur Anfang] (Fragment) B 138ra-145vb Die kurze Bibel II (M1) (Fragment) B 146r-157r Speculum humanae salvationis, dt. (Fragment) B 158r-163v Heinrich Steinhöwel: Griseldis (nur Schlussteil) B 163v-176r Niklas von Wyle: Übersetzung von Boccaccios Decameron IV 1 (2. Transl.) B 176v Johannes von Tepl: Der Ackermann aus Böhmen (nur Werküber‐ schrift) B 177r-190v Thüring von Ringoltingen: Melusine (nur Anfang) B 191r-201v Robertus Monachus: Historia Hierosolymitana, dt. (m) (Exzerpt) B 202r-213v Heinrich Steinhöwel: Von den synnrychen erlúchten wyben [Druck‐ abschrift] (Fragment) Offensichtlich sind selbst die genuinen von Konrad Bollstatter stammenden Teile (hier mit B gekennzeichnet) nicht von Beginn an als fortlaufende Sammelhandschrift konzipiert gewesen, sondern erst sukzessive zu einer ‚Bollstatter-Bibliothek in einem Buch‘ zusammengewachsen. Zu‐ sammenmontiert sind etwa die Lucidarius-Fragmente aus einer noch aus dem 14. Jh. stammenden Vorlage und eigene Abschrift-Passagen von Konrad Bollstatter. Hinzu kommen aus Druckresten herausgeschnittene Initialen, die dann ihrerseits hinzu- oder eingeklebt wurden. Hineingeklebt sind z. B. Initialen aus der Druckproduktion von Ludwig Hohenwang (Augsburg ab 1475/ 1477), so eine Holzschnitt-Initiale auf Bl. 2r in die Reise ins Heilige Land und eine auf Bl. 185r in die Melusine. Auf Bl. 184v ist Platz für eine Illustration ausgespart, d. h. die Ausschneide- und Einklebeaktionen waren geplant. Peter Schmidt spricht in diesem Zusammenhang von „Ausschuss- und Material‐ sammlung“ 11 ; besser wäre die Sammelhandschrift wohl als ‚Ein-Buch-Bibliothek‘ zu klassifizieren, und als Funktion wäre an ein Musterbuch für Kunden für zukünftige Schriftaufträge zu denken. Sh = Sammelhandschriften (Handschriftensynthesen) Sammelhandschriften sind Bücher (Multiple-Text Manuscripts), die mehrere Texte/ Werke enthalten, aber in einem einheitlichen Fortgang konzipiert und (ggf. von mehreren zeitglei‐ chen Händen) fortlaufend geschrieben wurden. Hier sind ebenfalls zwei Grundkategorien zu unterscheiden: Die inhomogen, d. h. aus mehreren Textbzw. Werkeinheiten additiv, also handwerklich zusammengeschriebenen (Sammelhandschrift-Additiv = ShA) und die homogenen, d. h. redaktionellen, eine mehr oder weniger ‚homogene‘ inhaltliche Einheit ergebenden Bände (Sammelhandschrift-Synthetisch = ShS). 127 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 12 Vgl. zum Hausbuch und dem Umfeld grundlegend Würzburg, der Große Löwenhof und die deutsche Literatur des Spätmittelalters, hg. von Horst Brunner, Wiesbaden 2004 (Imagines Medii Aevi 17). Digitalisat: Open Access LMU (epub.ub.uni-muenchen.de/ 10638/ ); Münchener Digitalisierungszentrum (daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00094577/ image_1) und Germanisches Nationalmuseum - Digitale Grafik 3: Sammelhandschrift ShA = Sammelhandschrift-Additiv Bei den additiv (‚handwerklich‘) zusammengeschriebenen Bänden gilt es zunächst, eine bloße Textreihung o h n e Bezüge der Texte zueinander (ShA-a) zu fassen. Die rein handwerkliche Addition lässt oft so etwas wie eine Bibliothek in einem Band (‚Ein-Buch-Bi‐ bliothek‘) entstehen. Solche ‚Ein-Buch-Bibliotheken‘ vereinigen nicht selten höchst un‐ terschiedliches Textmaterial aus diversen Gattungssowie ggf. auch Nutzungszusammen‐ hängen. Allerdings sind die Übergänge zu homogeneren bzw. homogenen Bänden (ShA-a + bis ShS) fließend; denn auch wenn oft diverses vorhandenes Textmaterial aus einzelnen Heften, einzelnen Schriftstücken, sogar Textkonglomeraten und Fragmenten, Briefen, Akten, Notizzetteln uvm. ‚einfach‘ in den Band hineinkopiert und so in einem Buchkörper zusammengeführt wird, geschieht dies meist nicht wahllos oder gar willkürlich. Im Zuge des Zusammenschreibens wird geordnet, bewusst ergänzt, werden Füllstücke eingefügt oder hergestellt, wird aufbereitet und aussortiert (ShA-a + ). Exemplarisch sei auf das Hausbuch des Michael de Leone verwiesen, wo viele unterschiedliche Texte gereiht, aber im Prozess der Reihung eben auch systematisch geordnet und sogar stellenweise kommentiert werden. Für das bisweilen hochkomplexe Ordnen ist hier das der zweibändig geplanten Sammlung vorgeschaltete und mit Abfolgeziffern versehene Register charakteristisch. Einzelne Passagen - so die Lyriksammlung - erhalten zudem noch beschreibende oder ergänzende Kommentare und Zusatzinformationen - etwa über das Grab Walthers von der Vogelweide. 12 128 Jürgen Wolf Bibliothek (dlib.gnm.de/ item/ Hs9030). Übersicht: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.d e/ 2673 und www.handschriftencensus.de/ 6441). 13 Zum Hauptteil Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2779, mit noch 170 Blättern gehört ein 2 Doppel‐ blätter umfassendes Bruchstück in Linz, Landesarchiv, Buchdeckelfunde Sch. 3, II/ 4e. Digitalisat: Ös‐ terreichische Nationalbibliothek (data.onb.ac.at/ dtl/ 3693146). Transkription und Teildigitalisat: Kai‐ serchronik digital (digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ onb_cod_2779_foll2-46? ui_lang=ger). Übersicht: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 2693). Zunächst gilt es ‚einfachere‘ Sammlungsfolgen in den Blick zu nehmen. Als Beispiel einer solchen locker miteinander verbundenen Sammlung sei der Wiener Kaiserchronik-Kodex, Österr. Nationalbibl. 2779, genannt. 13 Beispiel ShA-a: Der Kodex enthält im Grundbestand die Kaiserchronik B (Schröder Nr. 17) [Bl. 2va-46ra], Hartmann von Aue: Iwein ( J) [Bl. 46ra-68rc], Die Heidin/ Die Heidin A [I] (W) [Bl. 68rc-71va], Ortnit (W) [Bl. 71va-85rc], Dietrichs Flucht (W) [Bl. 91ra-111vc], Rabenschlacht (W) [Bl. 112ra-130vc], Heinrich von dem Türlin: Diu Crône (V) [Bl. 131ra-170vc] und Heinrich von dem Türlin: Diu Crône (D) [= (b)]. Vermutlich handelt es sich um eine ursprünglich auf drei Teilbände konzipierte ‚Ein-Buch-Bibliothek‘, deren erster Teil Kaiserchronik, Iwein, Heidin und Ortnit, deren zweiter Teil Dietrichs Flucht und Rabenschlacht und deren dritter Teil Diu Crône enthielt. Für den hier maßgeblichen Zusammenhang ist vor allem Teilband 1 charakteristisch, denn er enthält fortlaufend von 2 Händen eingetragen so unterschiedliche Textsorten wie Chronik (Kaiserchronik), Artusepik (Iwein), Versnovelle (Heidin) und Dietrichepik (Ortnit), wobei alle Texte zwar nahtlos, aber in ihrer jeweiligen Verfasstheit integer (ohne Veränderungen zueinander) aufeinander folgen. Es wurde additiv gereiht. Spezifisch aufbereitet verbreitete ShA-a und ShA-a + -Typen sind insbesondere auch die sogenannten Hausbücher (s. o.). Sie bieten Diverses, mitunter wohl einfach alles, was greifbar und interessant war. Die Einzelteile sind zum Teil nach spezifischen Kriterien geordnet. In der Mehrzahl erscheint dabei Vieles mehr additiv gereiht, denn inhaltlich-systematisch kombiniert, wobei das Ganze dann aber in seinen je integren Einzeltexten einen geplanten, nach spezifischen Kriterien gereihten und geordneten Sammlungscharakter zeigen kann. Ergänzend erwähnt sei ein ‚modernes‘ Sekundärproblem bei einigen (vielen? ) dieser additiven Sammelhandschriften, denn sie wurden durchaus häufiger bei der bibliothe‐ karischen Neuordnung von Handschriftenbeständen im 19. und 20. Jahrhundert, aber auch anlässlich von Verkaufsaktionen oftmals getrennt mit dem Ziel, entweder ‚richtige‘ Werkverbünde zu erhalten (Beispiel: Berlin + Evanston) oder Latein und Volkssprache auch ‚gegenständlich‘ zu separieren (Beispiel: Karlsruhe + Stuttgart) oder höhere Preise zu erzielen. Beispiele: Die beiden heute separierten Konvolute Evanston (Illinois), University Libr., Western Ms. 13, mit einer Druckabschrift von Albrechts von Eyb Ehebüchlein, und Berlin, Staatsbibl. - Preuß. Kulturbes., Ms. germ. fol. 548, mit dem Fürstenspiegel Wiewol all menschen erstlich entsprungen aus ainer wurczel Adam (Bl. 1ra-45ra) + Dindimus Buch (Bl. 46ra-58va) + Fastnachtspielen von Hans Folz (Bl. 58vb-61rb) + Fürstenspiegel Eyn kurcz ordenonge in gemeyne allen den die da 129 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 14 Alan R. Deighton, „Zwei unbekannte Handschriften des Ehebüchleins Albrechts von Eyb“, in: ZfdA 116 (1987), S. 134-140, hier S. 137-140 (Beweisführung mit den Wurmlöchern insb. S. 139); zu den noch getrennt beschriebenen Handschriften vgl. Handschriftencensus (www.handschriftencensus.d e/ 6933 + www.handschriftencensus.de/ 18252). 15 Detaillierte Beschreibung des Karlsruher Teils in: Nicole Eichenberger und Christoph Mackert, Überarbeitung und Online-Publikation der Erschließungsergebnisse aus dem DFG-Projekt zur Neukata‐ logisierung der ehemals Donaueschinger Handschriften in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, unter Mitarbeit von Ute Obhof sowie unter Einbeziehung von Vorarbeiten von Wolfgang Runschke und Sabine Lütkemeyer (Beschreibungen via Manuscripta Mediaevalia von Karlsruhe; der Stuttgarter Teil ist kursorisch erfasst), und des Stuttgarter Teils in: Felix Heinzer, Ehemals Donaueschinger Handschriften in Stuttgart. Aktualisierung des Katalogs von Karl August Barack (mit Verweis auf den Karlsruher Teil); im Handschriftencensus wird nur der deutsche Teil umfassend beschrieben, aber der lateinische Teil zumindest erwähnt (www.handschriftencensus.de/ 3729). regieren huß dorffere oder stede (Bl. 62ra-74vb) stammen jeweils aus der Sammlung der Grafen von Manderscheid-Blankenheim, sind gleich groß, identisch eingerichtet, stehen auf demselben Papier und sind gemeinsam 1482 geschrieben worden. Das allein würde noch nicht zweifelsfrei für eine Zusammengehörigkeit sprechen, aber beide Konvolute haben eine fortlaufende histori‐ sche Zählung von I-XXXV (Evanston) bzw. ab XXXVI (Berlin). Bestätigend konnte Deighton anhand von identischen Wurmlöchern schließlich zweifelsfrei nachweisen, dass beide Konvolute ursprünglich ein Band waren. 14 Die Trennung der beiden Konvolute erfolgte vielleicht wegen der - vordergründig nach modernen Gattungsmaßstäben - zu unterschiedlichen Textteile. Ein anderer Trennungsgrund wird bei dem Sammelband Stuttgart, Württemb. Landesbibl., Cod. Donaueschingen 27 + Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 93, erkennbar. Hier enthält der Stuttgarter Teil eine lateinische Fabelsammlung und der Karlsruher Teil eine deutsche Kleinepiksammlung. 15 Getrennt wurde offensichtlich wegen der Sprachen, und zwar schon zu Zeiten der Fürstlich Fürstenbergischen Sammlung in Donaueschingen. ShS = Sammelhandschriften-Synthetisch Wenden wir uns den Sammelhandschriften mit weiter reichenden Verschränkungen und Textbeziehungen, d. h. synthetischen (‚philologischen‘) Textbzw. Werkreihungen zu. Zu unterscheiden sind fünf Typen, wobei ShS-5 nach modernen Kriterien bereits als neues Werk zu bezeichnen wäre: ShS-1 Synthetisch-additiv = Die Texte werden zueinander verändert und bilden eine lockere Einheit. ShS-2 Synthetisch = Die Texte werden intensiv(er) zueinander ‚komponiert‘ und bilden einen Gesamttext mit noch deutlich erkennbaren Einzelpartien. ShS-3 Philologisch = Die Texte werden philologisch zueinander in Beziehung gesetzt. ShS-4 Verschmelzung = Die Texte verschmelzen zu einem einheitlich-neuen Text bzw. Werk. ShS-5 Neues Werk = Vollzogene Verschmelzung; die Genese des Werks ist in seinen Bestandteilen nicht mehr erkennbar. ShS-1 = Synthetisch-additiv Die Texte werden im Schreibzusammenhang vom Schreiber bzw. Redaktor zueinander verändert und bilden eine lockere Einheit. Sammelhandschriften dieses Typs scheinen 130 Jürgen Wolf 16 Schreiber 1 schreibt Bl. 1ra-119vb mit dem Liet von Troye und dem Schlussteil des Eneas auf Bl. 170rb-206ra. Schreiber 2 schreibt auf Bl. 120ra-170ra den Anfangsteil des Eneas. 17 Vgl. grundlegend mit Abdruck des Schreibereintrags Matthias Miller und Karin Zimmermann, Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304-495), Wies‐ baden 2007 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg VIII), S. 250-252. Digitalisat: Heidelberger historische Bestände - digital (digi.ub.uni-heidelberg.de/ cpg368); Übersicht: Handschriftencensus (w ww.handschriftencensus.de/ 2296). 18 Grundlegend Gerold Hayer u. a., Die mittelalterlichen Handschriften des Stiftes Nonnberg in Salzburg, Wien 2018 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Denkschriften 501; Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters II,7), S. 190-192; vgl. mit Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 8476) sowie mit Transkription der Kaiserchronik: Kaiserchronik digital (digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ st bns_cod23_d_21_foll153-160). häufig (immer? ) einer übergeordneten Sammlungsidee verpflichtet. In entsprechenden Sammlungen finden sich einerseits komplette Werke hintereinandergereiht, die sich wie z. B. bei einigen Eneas- und Liet von Troye-Handschriften zu einem ‚inhaltlichen Ganzen‘ fügen. Beispiel ShS-1 (weltlich): Der Heidelberger Cod. Pal. germ. 368 bietet direkt hintereinandergeschaltet Herborts von Fritzlar Liet von Troye (H) (Bl. 1ra-119vb) und Heinrichs von Veldeke Eneas (H) (Bl. 120ra-206ra), d. h. ein aus zwei separaten Werken kombiniertes ‚Gesamt-Trojabuch‘. Nach einem Eintrag auf Bl. 119v handelt es sich um eine von zwei Schreibern 16 1333 in Würzburg integral erstellte Auftragsarbeit für den Deutschordensritter Wilhelm von Kyerwilre. 17 Andererseits sind aber auch gereihte, aus diversen Werken exzerpierte Textkonglomerate weit verbreitet. Beispiel ShS-1 (geistlich): Ein Papierkodex aus dem Stift Nonnberg in Salzburg (Salzburg, Stiftsbibl. Nonnberg, Cod. 23 D 21) 18 enthält in lockerer Reihe Texte in Vers und Prosa zu einer Vielzahl von Heiligen sowie zentralen geistlichen Themen, so u. a. Auszüge aus dem Tiroler Christenspiegel, eine Reimfassung der Legende von Udo von Magdeburg, die Allegorie von den vier Seelenkräften und die Crescentia-Legende aus der Kaiserchronik. Die Schreiberin benennt das Verfahren in der der Sammlung vorgeschalteten Inhaltsübersicht (Bl. 1r) selbst als Summa sacrificiorum. Bekannt ist auch, auf wen diese Samm‐ lungsidee zurückgeht, denn die Handschrift wurde im Auftrag der Nonnberger Äbtissin Agathe Haunsperger geschrieben. Auf der Innenseite des Vorderdeckels findet sich der vom Ende des 15. Jh. stammende Besitzvermerk: Das puech gehört in das conuent zw sand erendraut auf dem nunburg. Typisch ist, dass der ursprüngliche Werkcharakter jedes Einzelteils erhalten bleibt, d. h. auch die Exzerpte behalten eine ihren Ursprungswerken eigene Integrität. Sie werden in der Regel durch Initialen, Lombarden oder sogar Seiten-/ Blattwechsel kenntlich gemacht. ShS-2 = Synthetisch Die Texte werden intensiv zueinander ‚komponiert‘ und bilden einen Gesamttext, jedoch mit noch deutlich erkennbaren Einzelpartien. Auffälligstes Charakteristikum dieses Typs ist, dass die Integrität der gereihten Texte zwar erhalten bleibt, Schreiber und/ oder 131 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 19 Der Redaktor hat hier Passagen aus einer A-Kaiserchronik mit Passagen aus einer C-Kaiserchronik verschmolzen. Stellenweise geschieht dies im Sinn einer integralen Ergänzung mit redaktionell zueinander veränderten Textpartien, stellenweise als einfache, inhaltlich korrekte Reihung, stellen‐ weise aber auch als einfache Addition mit bisweilen doppelten Berichten aus A und C. Das Ganze macht den Eindruck, als würde hier das Autograph eines Redaktors in statu nascendi vorliegen, das, je weiter man sich dem Ende nähert, immer unperfekter/ unvollendeter wird. Redaktoren aber in den jeweiligen Texten spezifische Veränderungen vornehmen, um eine innere Verbindung zwischen den einzelnen Texten herzustellen. Beispiel SS-2: Eine vordergründig wie ShA-a + anmutende Textsammlung überliefert der bereits als KM (s. o.) bekannte Wolfenbütteler Cod. 15.2 Aug. 2° (Abb. 2) in seinem ersten, von einem Schreiber homogen-fortlaufend eingetragenen Teil. Auf die einleitende Prosakaiserchronik (W) (Bl. 1ra-23ra) folgt auf Bl. 23rb-95vb nahtlos anschließend die Vers-Kaiserchronik A + C (Abb. 1). Offensichtlich hat ein Redaktor - vielleicht im unmittelbaren Auftrag - zwei chronistische Texte, die weitge‐ hend denselben Zeitraum abdecken und inhaltlich in enger Beziehung zueinander stehen (die Vers-Kaiserchronik ist Vorlage der Prosakaiserchronik), hintereinander gereiht. Was äußerlich wie eine ShA-a+-Reihung wirkt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als SS-2, d. h. als schon synthetische Sammelhandschrift, denn in der Prosakaiserchronik wird mehrfach, z. B. auf Bl. 2vb, die Vers-Kaiserchronik als Quelle und vor allem als weiterführendes Referenzobjekt explizit aufgerufen (Abb. 2). Auch wird der Prosateil hin zur alles umfassenden Quelle aufbereitet: gekürzt, paraphrasiert, umformuliert. Es entsteht eine Prosakaiserchronik eigenen Typs, die quasi zwingend die Vers-Kaiserchronik als Begleitbzw. Referenzobjekt voraussetzt. Beide Werke treten in eine innere Beziehung zueinander und sind somit b e w u s s t aufeinander bezogen. Dass sich diese Vers-Kaiserchronik dann ihrerseits wieder als Kombination verschiedener Kaiserchronik-Fassungen entpuppt, also eine philologisch (s. u.) bzw. sogar schon eine zu einem neuen Werk verschmolzene Textkombination (SS-4 bzw. SS-5) darstellt, sei hier ergänzend angemerkt. 19 132 Jürgen Wolf 20 Vgl. mit Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschrift encensus.de/ 1215) sowie mit Digitalisat und Transkription der Kaiserchronik: Kaiserchronik digital (digi.ub.uni-heidelberg.de/ diglit/ onb_cod_2693). Abb. 1: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 15.2 Aug. 2°, Bl. 25r. Abb. 2: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 15.2 Aug. 2°, Bl. 2vb: Ausschnitt mit Hin‐ weis auf die Caronica (= Vers-Kaiserchronik). Ein ähnliches ‚Zueinandertreten‘ zweier Einzeltexte kann man auch in einem Berlin-Mün‐ chener Chronik-Discissus (Berlin, Staatsbibl. - Preuß. Kulturbes., Ms. germ. fol. 923 Nr. 12 + 34 + München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 5249/ 51a) 20 vermuten. Beispiel ShS-2: Die von einem Schreiber stammenden Komponenten enthalten einen alttestamentarischen Teil mit David und Salomo und einen neutestamentarischen Teil mit der Crescentia-Passage aus einer B-Kaiserchronik. Vermutlich handelt es sich hier um eine Vorstufe der später u. a. unter dem Namen Heinrichs von München bekannten allumfassenden Weltchronik von der Schöpfung bis zur Gegenwart, die hier noch aus eher weniger stark zueinander ‚komponierten‘ Einzelteilen bestand. 133 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 21 Vgl. mit Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschrifte ncensus.de/ 5830). 22 Zur Spezifik dieser Bearbeitungen und zur Gesamtidee der Sammlung vgl. grundlegend Klaus Ridder und Jürgen Wolf, „Wissen erzählen. Zur volkssprachlichen Enzyklopädistik des späten Mittelalters“, in: De consolatione philologiae. Studies in Honor of Evelyn S. Virchow, hg. von Anna Grotans, Heinrich Beck und Anton Schwob, Göppingen 2000 (GAG 682/ I), S. 317-334. ShS-3 = Philologisch Texte werden philologisch zueinander in Beziehung gesetzt und großflächig verändert, d. h. zwei oder mehr Texte sind gleichsam virtuell ineinander geschichtet. Beispiel ShS-3: Der vor 1461 von Volk Landsperger (vgl. Bl. 297rb) vollendete Kodex Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms. 2119 21 enthält eine Reihe verschiedenster Werke, die sich nach modernen Gattungskriterien zunächst einmal nur zu je einem Chronik-Konvolut, einer Antiken‐ sammlung und Reiseberichten zusammenfügen, wobei die Endzeitprophetie generell wie ein Fremdkörper zu wirken scheint. Bl. 1r-70r = Vinzenz von Beauvais: Speculum historiale (Teilübersetzung bis Cäsar), dt. Bl. 71r-109r = Sächsische Weltchronik A (ab Cäsar) Bl. 116r-184r = Hans Mair von Nördlingen: Buch von Troja Bl. 184va-210vb = Meister Wichwolt [früher: Babiloth]: Cronica Allexandri des grossen konigs Bl. 212r-235r = Johannes von Hildesheim: Historia trium regum, dt. Bl. 236v-276v = Jean de Mandeville: Reisebeschreibung, in dt. Übers. von Otto von Diemeringen Bl. 280ra-291rb = Hans Schiltberger: Reisebuch Bl. 292r-297r = Johannes de Rupescissa: Vade mecum in tribulatione, dt. Tatsächlich sind aber alle Teile vom Redaktor zueinander aufbereitet und spezifisch verändert worden, so dass eine Art umfassende Enzyklopädie mit historisch-heilsgeschichtlichen, geogra‐ phischen und eschatologischen Aspekten entsteht. Die jeweiligen Einzeltexte werden dabei mehr oder weniger intensiv überarbeitet, im Fall der Chronikteile sogar geradezu radikal zu einem neuen historischen Gesamtüberblick vereinigt. 22 Insgesamt reicht der Band von der Schöpfung (Speculum historiale) bis zum Jüngsten Gericht (Vade mecum in tribulatione) mit Einblendungen zu den Weltreichen (Troja und Alexander), zur Geburt Christi bzw. zum Heiligen Land (Historia trium regum) und zur Gegenwart (Mandeville und Schiltberger). 134 Jürgen Wolf 23 Vgl. mit Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftenc ensus.de/ 1184) sowie mit Transkription der Kaiserchronik-Teile: Kaiserchronik digital (digi.ub.uni-heid elberg.de/ diglit/ sbb-pk_mgf923_12? ui_lang=ger). Abb. 3: Basel, Universitätsbibliothek, E VI 26, links Bl. 22vb (Beginn des Baseler Alexander), rechts Bl. 67ra (Ende des Baseler Alexander). ShS-4 = Verschmelzung Texte werden zu einem einheitlich-neuen Text verschmolzen, wobei die Einzelteile noch erkennbar bleiben. Entsprechende Verfahren wenden Schreiber und Redaktoren gerne an, wenn es darum geht, bestehende Werke im Abschreibprozess zu ergänzen oder zu opti‐ mieren. Gründe können zusätzlich entdeckte Quellentexte, Zusatzberichte oder gar ganze, zum ursprünglichen Werkkomplex inhaltlich passende Werke sein. Besonders häufig findet man solche mittels Verschmelzung oder Inserierung z.T. erheblich aufgeschwellte Texte bei Predigtsammlungen, in der Rechtsüberlieferung und der Chronistik. Zwei Beispiele aus letzterem Bereich machen das Verfahren und die Resultate transparent. Beispiel ShS-4: Die im letzten Viertel des 13. Jh.s entstandene Kaiserchronik-Handschrift Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2693 + Cod. 2922 23 wurde durchgehend von einer Hand geschrieben. Vermutlich war es dieser Schreiber, dem zur knappen Eraclius-Episode in der Kaiserchronik ein wesentlich umfangrei‐ cherer Eraclius-Text bekannt und zugänglich geworden war. Beim Abschreiben klappte er den Kaiserchronik-Text auf Bl. 52vb gleichsam auf und inserierte seinen weit umfänglicheren Eraclius, der nach Vers 11.136f. Fv o nf mano o de mere / Lip vnd sele lebte nur sere fortlaufend und nur durch eine der sonst im Text auch typischen Kapitelintitialen getrennt über 30 Blätter füllt. Die ursprünglich vorhandenen gut 200 Eraclius-Verse der Kaiserchronik werden auf diese Weise um über 5.000 Verse 135 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 24 Jürgen Wolf, Die Sächsische Weltchronik im Spiegel ihrer Handschriften. Überlieferung, Textent‐ wicklung, Rezeption, München 1997 (Münstersche Mittelalter-Schriften 75), S. 25-29 (Hs. 021); Digitalisat: www.ub.unibas.ch/ digi/ a100/ diverse_projekte/ pdf2010ff/ bau_5/ BAU_5_000086050.pd f; vgl. mit Nachweis von Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de / 7373). 25 Zur Spezifik dieser Kombination vgl. Wolf, Sächsische Weltchronik (wie Anm. 24), S. 88f. Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 5619). 26 Zur Spezifik dieser Kombination vgl. Wolf, Sächsische Weltchronik (wie Anm. 24), S. 90f. Nachweis von Digitalisat und Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 5281). 27 Zur Spezifik dieser Kombination vgl. Wolf, Sächsische Weltchronik (wie Anm. 24), S. 97f. Nachweis der Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 3545). 28 Zur Spezifik dieser Kombination vgl. Wolf, Sächsische Weltchronik (wie Anm. 24), S. 98f. Nachweis der Forschungsliteratur: Handschriftencensus (www.handschriftencensus.de/ 4868). ‚ergänzt‘. So beinahe unsichtbar, wie das Inserat begann, endet es auf Bl. 82rb mit dem das ‚Andere‘ markierenden Hinweis hie sol div rede ein ende haben, um dann unmittelbar mit der vor 30 Blättern unterbrochenen Kaiserchronik und den Worten [N]v chvndet vns daz bvch svs / daz riche besaz Narcissvs (V. 11.352f.) fortzufahren. Durch die Eingangsinitiale und den Schlusssatz ist das Inserat zwar als solches markiert, einrichtungstechnisch aber kaum noch zu erkennen. Analog verfährt ein Schreiber/ Redaktor der Sächsischen Weltchronik. In der Handschrift Basel, Universitätsbibl., E VI 26 (Abb. 4), ist mit wohl identischer Motivation in den Fortgang der Geschichte am richtigen Platz, d. h. hier in den Berichten zu Alexander dem Großen, der sog. Baseler Alexander eingefügt. 24 Erneut wird der Basistext beinahe unsichtbar aufgeklappt und auf Bl. 22vb-67ra eine umfängliche Alexandergeschichte eingefügt, ehe dann, zugeklappt, die Sächsische Weltchronik folgt. ShS-5 = Neues Werk Wie die ShS-4-Beispiele zeigen, werden Text- oder Werkinserate oft artifiziell in einen bestehenden Gesamtzusammenhang eingepasst. Wenn entsprechende Textgrenzen z. B. infolge mehrmaliger Abschreibevorgänge irgendwann unsichtbar geworden sind, ist die Genese einer solchen Verschmelzung oft nicht mehr erkennbar. Die vorliegende ‚ehemalige‘ Sammelhandschrift ist ‚Werk‘ geworden. Exemplarisch verwiesen sei auf mehrere Histori‐ enbibeln und Chroniken. Beispiel ShS-5: Die nd. Gruppe VIII-Historienbibeln Rostock, Universitätsbibl., Mss. theol. 33 25 und Kopenhagen, Arnamagnæanske Institut., Cod. AM 372.2°. 26 enthält für den Schöpfungsteil bis Abraham jeweils einen zusammenhängenden Part aus der Sächsischen Weltchronik. Nur noch scheinbar ist dieser Part als ‚Fremdkörper‘ mit einer Initiale markiert, denn tatsächlich werden die Initialen genau dieses Typs über die gesamte Historienbibel hinweg für alle größeren Abschnitte verwendet. Der ‚Fremdkörper‘ ist also integraler Teil eines neuen Gesamtwerks geworden. In den beiden genannten Handschriften geht der Sächsische Weltchronik-Text vollständig im Bibeltext auf. Nach analogem Muster enthalten zahlreiche Stadt-, Landes- und Weltchroniken Partien aus verschiedenen Werken. Was ehedem einmal ‚nur‘ gereiht, vielleicht sogar ‚nur‘ additiv durch ein selbständiges Textheftchen hinzugefügt worden ist, wird im Abschreibeprozess zu einem Werk. Verwiesen sei etwa auf die beiden Detmar-Chroniken Lübeck, Stadtbibl., Ms. Lub. 2° 4 27 und Hamburg, Bibl. der Patriotischen Gesellschaft, o. Sign. 28 , wo Detmars Lübische Stadtchronik jeweils einen Vorspann von der Schöpfung bis zu Alexander dem Großen aus der Sächsischen 136 Jürgen Wolf Weltchronik erhält. Was entsteht, ist eine fortlaufende Lübische Stadt-Weltchronik. Analoge Verschmelzungsmuster sind geradezu ein Grundprinzip für die Genese vieler Stadtchroniken. Entsprechendes ‚Werk-Werden‘ ist aber auch bei allen anderen mittelalterlichen Textsorten im Prozess der Werkentstehung (insbesondere komplexerer Werke) zumindest zu ver‐ muten, aber oft kaum noch nachzuweisen. Der unter ShS-5 gefasste vollzogene Verschmelzungsvorgang umschreibt nachgerade eines der zentralen Modelle mittelalterlicher Werkentstehung: Kombination und Kompi‐ lation. Meist verfügen wir - insbesondere in der volkssprachigen Überlieferung - nicht mehr über die Originale entsprechender Werkentstehungsvorgänge, d. h. die Genese neuer Werke aus Syntheseschritten, wie sie unter ShS-1 bis ShS-5, letztlich aber auch unter ShA beschrieben sind, bleibt in aller Regel ungeklärt. Wir sprechen bei den Endprodukten dann ggf. von Fassungsbildung bzw. Fassungen und Rezensionen oder gleich von (neuen) Werken. II Verwirrungen oder: Wie komplex kann ein mittelalterliches Buch sein? Sieht man dies alles zusammen, besteht die berechtigte Hoffnung, mittels der genannten Kriterien ein Ordnungssystem schaffen zu können, das die mittelalterliche Überlieferung vergleichsweise kompakt und zuverlässig abzubilden vermag. Allerdings steckt hier, d. h. vor allem in vielen mittelalterlichen Büchern, der Teufel im Detail, denn oft sind die Bücher nicht nach nur einem der genannten Prinzipien konstruiert oder gesammelt, sondern vereinen in sich mehrere oder gleich alle genannten Optionen. Wie hochkomplex, mehrfach verschränkt, über alle Kategorien inklusive Komposit- und Sammelhandschrift, ein mittelalterliches Buch sein kann, mögen einige weitere Beispiele verdeutlichen: Der oben bereits in der Kategorie KhZ genannte Cgm 252, in dem Konrad Bollstatter als Sammler auftritt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als ein solches alle Optionen vereinendes Buch, denn Konrad Bollstatter ist nicht nur Sammler, sondern zugleich Schreiber und Redaktor und in einigen Passagen wohl sogar auch Werkautor: Der Kodex wurde von Konrad Bollstatter über mehr als zwei Jahrzehnte zusammengesammelt (KhZ), wobei die einzelnen Teile bisweilen durch geschickte Kombination oder Scharnierstücke miteinander verbunden wurden, was den Kategorien KhZ-i und KhZ-h entspräche. Der Kodex ist aber in Teilen nicht nur gesammelt, sondern zudem über mehrere Jahrzehnte von Bollstatter selbst zusammengeschrieben (ShS-1-5) worden. Die Sammlung bietet letztlich über den Kompositteil (KhZ) hinaus eigene Schriftelemente von additiven Reihungen (ShA) über synthetische Textreihungen mit locker-philologischen Verbindungen (ShS-1) bis hin zur vollzogenen Verschmelzung und schließlich zu einem neuen Werk (ShS-5). Für das hier entwickelte System ergäbe sich hinsichtlich der Zuordnung des Kodex damit ein Spektrum von KhZ-a bis ShS-5. Und der Bollstatter-Kodex ist keineswegs ein Einzelfall. Es handelt sich im Gegenteil um ein weitverbreitetes Phänomen. Entsprechende Bücher sind insbesondere in solchen Kontexten in größerer Zahl zu finden, wo es den mittelalter‐ lichen Redaktoren, Auftraggebern und Rezipienten um Ideen von Vollständigkeit, ‚Textbzw. Berichtsgewicht‘ sowie historische Relevanz bzw. Wertigkeit bis hin zur Bewahrung ‚alter wertvoller Dokumente‘ geht. Es überrascht deshalb nicht, dass solch hochkomplexe 137 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit 29 Vgl. zu den Einzeltexten Tabulae codicum manu scriptorum praeter graecos et orientales in Bibliotheca Palatina Vindobonensi asservatorum. Vol. I: Cod. 1-2000, hg. von Academia Caesarea Vindobonensis, Wien 1864, S. 66f. und manuscripta.at (manuscripta.at/ hs_detail.php? ID=9788) sowie zur Samm‐ lungsidee Wolf, Buch und Text (wie Anm. 1), S. 211, 309 f. Digitalisat: manuscripta.at (manuscri pta.at/ ? ID=9788). Übersicht: Marburger Repertorium deutschsprachiger Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts (www.mr1314.de/ 1192). Sammlungsverbünde insbesondere in den Feldern Geschichtsschreibung/ -überlieferung, Recht, Lyrik sowie Predigt, Heiliges (Legenden, Mirakel etc.) und allgemein Geistliches gehäuft zu finden sind. Exemplarisch herausgegriffen sei die von Abt Hermann von Niederalteich im 3. Viertel des 13. Jahrhunderts in Auftrag gegebene lat.-dt. historiographische Sammelhandschrift Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 413 mit den Annalen Hermanns von Niederalteich: Im Buch vereinigt sind einerseits in Form von Sammlung und andererseits als Abschriften und Neuanlage Texte aus dem 11.-13. Jh., wobei der Kodex nach Abschluss dieser Schreib- und Sammelarbeiten bis ins 15. Jh. fortgeführt wurde. Der Anlass dieser komplexen Buchentstehungs‐ geschichte ist bekannt: In der sog. Niederalteicher Sammlung werden im Auftrag des Abts Hermann von Niederalteich diverse Texte zur bayrischen Geschichte zusammengestellt. Zu diesem Zweck exzerpiert und sammelt man im Kloster unterschiedliche Sammlungen bzw. Werke. Sprache und Alter spielen dabei keine Rolle, d. h., es werden sowohl lateinische (meist) wie deutsche (selten) und alte wie aktuelle Texte vereinigt, wobei die Teile in der Regel nicht zueinander verändert oder aufbereitet werden. Es bleibt bei einer zwar nach sachlichen Kriterien geordneten, aber die Integrität der Einzeltexte bewahrenden Exzerptsammlung. Die deutschen Passagen mit einem auf Bayern fokussierten Exzerpt aus der Kaiserchronik B (Bl. 177ra-179rb) und einem analog ausgesuchten Exzerpt aus dem Summarium Heinrici (R) (Bl. 196v-197r) fügen sich samt zahlreicher lateinischer Exzerpte zu einer allumfassenden Sammlung bayerischer Geschichte. 29 Im Rahmen des dargelegten Systems lässt sich dieser Kodex einem Spektrum von KhZ-a + bis ShS-2 zuordnen. III Bilanz Ausgehend von der Kategorie ‚Buch als Sammelbehälter‘ für einen, mehrere oder viele Texte haben sich drei grundsätzlich unterschiedliche Buchkonstruktionsprinzipien ergeben. Sie sind in die Kategorien E H -Eintexthandschrift (One Text Manuscript = OTM), K h -Kom‐ posithandschrift (Buchbindersynthese = Composite Manuscript = CM) und S h -Sammel‐ handschrift (Handschriftensynthese = Multiple-Text Manuscript = MTM) zu fassen. Wobei sich Bücher der Kategorien K h und S h gerade im volkssprachigen Laiendiskurs, wo Schriftlichkeit anfangs mindestens exotisch und später immer noch außergewöhnlich ist, nicht selten als ‚ E i n - B u c h - B i b l i o t h e k e n ‘ entpuppen können bzw. könnten. Leider ist über mittelalterliche Entstehungshintergründe und Provenienzzusammenhänge meist so wenig bekannt, dass es nur selten gelingt, ein solches bisweilen viele Einzeltexte beherbergendes, dem Leser/ Nutzer/ Forscher nicht selten rätselhaft erscheinendes Buch als ‚Bibliothek‘ zu identifizieren. 138 Jürgen Wolf Grafik 4: Typen des mittelalterlichen Buchs Fassen wir zusammen. Als Grundproblem der Kategorisierung hat sich herauskristallisiert, dass diverse Überschneidungen und Wechselbeziehungen der Kategorien der Normalfall sind. In deren Gefolge verschwimmen einerseits Buch-, Werk- und Textgrenzen, anderer‐ seits können sich neue Buch-, Werk- und Textkonzepte ergeben, denn mittelalterliche Texte sind oft nicht ‚unsere‘ Werke, sondern sie haben ein mittelalterliches Eigenleben. Hinzu kommt, dass selbst Komposithandschriften, aber natürlich weit mehr Sammelhandschriften aus diesem ‚Eigenleben der Werke/ Texte‘ heraus wieder ein eigenes neues Ganzes werden (können). Letztlich gilt immer: Das Buch ist mehr als seine Einzeltexte - um wie viel mehr, versucht das Kategoriensystem in Grafik 4 fassbar zu machen. Aus den skizzierten Beobachtungen ergeben sich zahlreiche Forschungsnotwendig‐ keiten, Forschungsprobleme, aber auch Forschungschancen. Lässt man sich auf die Bücher ein, wird man die Beziehungen der Texte zueinander - ‚Textgeflechte/ Werkgeflechte‘, ‚offene‘ Text- und Werkdimensionen - ernst(er) nehmen müssen. Lieb gewonnene Werk- und sogar Gattungssysteme beginnen dabei zu bröckeln. Das ‚Buch‘ verspricht dann aber auch reiche Erträge und Erkenntnisse: Wir erhalten einen tieferen Zugang zu den Inhalten, Textwirkungen und Textfunktionen; wir können uns mittelalterlichen Verstehensdimen‐ sionen annähern; mittelalterliche Intentionen und Wirkungen werden transparent(er). Letztlich ermöglichen die in diesem Sinn in ihrer Komplexität erfassten Bücher einen weit über die Einzeltexte hinaus reichenden Zugriff auf die literarische Praxis. Nebenbei bieten die Bücher in ihrer Ganzheit aber auch das vielleicht beste Korrektiv gegen die eine objektive Wahrnehmung stets relativierende ‚eigene‘ Sozialisation und Intention. 139 Alles in Einem. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Texte in literarischen Sammlungen 1 Zu Typen und Formen im historischen Wandel siehe Werner Williams-Krapp und Edith Feistner, „Legendare“, in: Killy Literaturlexikon, Bd. 7, Berlin 2010, S. 295-297; zu lateinischen Legendaren (im deutschen Bereich) Guy Philippart, „Legendare“, in: 2 VL, Bd. 5, Berlin/ New York 1985, Sp. 644-658. 2 Zum Konzept vgl. Elke Koch und Julia Weitbrecht, „Einleitung“, in: J.W., Maximilian Benz, Andreas Hammer, E. K., Nina Nowakowski, Stephanie Seidl, Johannes Traulsen, Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter, Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 273), S. 9-21. 3 Diese Differenzierung wird in der ansonsten grundlegenden und die Legendenforschung voran‐ bringenden Monographie von Weitbrecht/ Benz/ Hammer/ Koch/ Nowakowski/ Seidl/ Traulsen (wie Anm. 2) nicht thematisiert. 4 Barbara Fleith zählt 182 Texte inklusive der Festtagstexte zum Normalcorpus, siehe Barbara Fleith, Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda Aurea, Brüssel 1991 (Subsidia hagiogra‐ phica 72), S. 432f. ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer Dynamiken des Sammelns als kreative Memoria im Legendar Der Heiligen Leben, Redaktion Cornelia Herberichs Legendare sind in der langen und ereignisreichen Geschichte der christlichen Heiligenver‐ ehrung seit der Spätantike wichtige Indikatoren für frömmigkeitsgeschichtliche, soziale sowie literarische Entwicklungen. 1 In der Beschäftigung mit ‚legendarischem Erzählen‘ 2 ist Heiligenviten, welche im Rahmen von Legendaren überliefert sind, daher eine Sonderstel‐ lung einzuräumen: Der Sammlungscharakter dieses Buchtyps bedingt spezifische Kontexte sowohl für die Produktion und Überlieferung als auch für die Rezeption der Erzählungen. Die systematische Differenzierung zwischen Legenden als Einzelüberlieferungen einerseits und Legenden im Kontext von Legendaren andererseits ist bei der Beschäftigung mit und Erforschung von legendarischem Erzählen mithin als eine fundamentale Voraussetzung stets mitzubedenken. 3 Dass nämlich ein Legendar weit mehr ist als nur eine Sammlung von Einzellegenden, wird schon mit Blick auf den wichtigsten Vertreter dieses Buchtyps deutlich: Die theolo‐ gische wie auch literarische Leistung des Schöpfers des erfolgreichsten Legendars des Mittelalters, Jacobus de Voragine, bestand nicht nur darin, in seiner Legenda Aurea Legenden zu sammeln und in eine kalendarische Ordnung zu bringen. Er bearbeitete und formalisierte die in der ursprünglichen Fassung ca. 170 enthaltenen Legenden 4 auch 5 Zur Einordnung der Legenda Aurea in die Gattungsgeschichte des Legendars, siehe Theodor Wolpers, Die englische Heiligenlegende des Mittelalters. Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1964 (Anglia 10), und den Überblick von Bruno Häuptli, „Einleitung“, in: Jacobus de Voragine, Legenda Aurea. Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar, Freiburg im Breisgau/ Basel/ Wien 2014, Bd. 1, S. 13-66, hier S. 38-44. 6 Um die Funktion des neuen Stils zu charakterisieren, verwendet Wolpers die Metapher von der „andachtsbildartigen Verdichtung“ der Legenden und hebt damit eine Dimension der meditativen Rezeption hervor (Wolpers [wie Anm. 5], S. 199; zur Charakterisierung des Stils der Legenda Aurea, vgl. insbes. S. 200f.). 7 Jacobus hebt in der Aufzählung der von ihm verfassten Werke in der Chronica Januensis (wie Anm. 16) in Bezug auf die Legenda Aurea seine Sammlungsleistung hervor: Nam Legendas Sanctorum in uno volumine compilavit, multa adjiciens in eisdem de Historia Tripartiat et Scholastica, et de Chronicis multorum Auctorum (Iacopo da Varagine, Cronaca della città di Genova dalle origini al 1297. Testo latino in appendice, trad. e note critiche di Stefania Bertini Guidetti, Genua 1995, XII,9). 8 Michel de Certeau, „Une variante : l'édification hagio-graphique“, in: ders.: L’écriture de l’histoire, Paris 1975, S. 274-288, hier S. 285. 9 Einen konzisen kulturwissenschaftlichen Forschungsbericht zu Konzepten von Heiligkeit bietet Andreas Hammer, Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘, Berlin/ Boston 2015 (Literatur - Theorie - Geschichte 4), S. 3-7. Der Buchtyp Legendar nimmt im Diskurs über Heiligkeit(skonstruktion) wiederum eine Sonderstellung ein gegenüber einzelüberlie‐ ferten Texten, insofern die Zugehörigkeit zur Sammlung bereits als Authentizitätsmerkmal für die enthaltenen Legenden dient, vgl. die Aussage des Johannes Beleth: Legenda uocatur liber, ubi agitur de uita et obitu confessorum […] dumtaxat autenticus sit (Summa de ecclesiasticis officiis 62r, [Ed. Herbert Douteil, CCM 41A, 115], zitiert nach Legenda aurea, Ed. Häuptli [wie Anm. 5], S. 26, Anm. 53). in rhetorischer, stilistischer und textstruktureller Hinsicht. 5 Indem er „einen neuen Stil des Legendenerzählens“ erschuf, 6 hat Jacobus für die verstreuten Einzeltexte multorum auctorum  7 eine weitgehende ästhetische Einheitlichkeit erzeugt. Insofern die Heterogenität der Quellen hinter textübergreifenden Stil- und Strukturgemeinsamkeiten zurücktritt, stellt sich in diesem in vielerlei Hinsicht traditionsstiftenden Legendar wie auch in den ihm nachfolgenden Legendarkompilationen anderer Autoren trotz der Vielzahl der Einzeltexte jeweils stets ein eigentlicher Werkcharakter als Buch ein. Die literarische Analyse und funktionale Interpretation einer einzelnen Heiligenlegende dürfen folglich den Überlieferungskontext nicht unberücksichtigt lassen. Dies gilt nicht nur in stilistischer, sondern auch in struktureller Hinsicht, und zwar aus mehreren Gründen: So ist für den Buchtyp Legendar konstitutiv, dass es das Verständnis jeder einzelnen Legende durch die Zeitstruktur des Werks prägt, welche allererst die Sammlung konstituiert. Michel de Certeau betont zu Recht: „Dans son ensemble, et dès les premiers mots, la vie de saint se soumet à un autre temps que celui du héros : celui, rituel, de la fête. L’aujourd’hui liturgique l’emporte sur un passé à raconter.“ 8 Mit der kalendarischen Ordnung nach dem Kirchenjahr, wie sie beispielsweise die bereits erwähnte Legenda Aurea aufweist, wird jede einzelne Heiligenlegende auch in die Ordnung der gesamten Heilsgeschichte eingefügt, so dass der jeweilige strukturelle Ort in der Sammlung sich auf deren Verständnis auswirkt. Legendare sind überdies nicht nur regionale Interessen spiegelnde oder von einzelnen Orden motivierte Sammlungen, sondern sie sind auch Ausgangspunkt für Prozesse der Konventionalisierung und Institutionalisierung von Heiligenkult, 9 zum einen aufgrund ihrer Corpus-Auswahl, zum anderen aber auch, indem sie Einfluss auf die Habitualisierung religiöser und spiritueller Haltungen ihrer Rezipienten haben. In einer symbolischen 144 Cornelia Herberichs 10 Konrad Kunze, „Jacobus de Voragine“, in: 2 VL, Bd. 4, Berlin/ New York 1983, Sp. 449-466, hier Sp. 455. 11 Eigenständige volkssprachige Kompilationen von Legenden wie das Bůch von den heilgen megden und frowen (Karlsruhe, Badische Landesbibl., Cod. Lichtenthal 69) oder auch das Solothurner Legendar (Solothurn, Zentralbibl., Cod. S. 451) zeugen von einem großen Aneignungsspielraum der Vorlagen seitens volkssprachiger Hagiographen, vgl. dazu Astrid Breith, Textaneignung. Das Frauenlegendar der Lichtenthaler Schreibmeisterin Schwester Regula (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 17), Münster u. a. 2010; Marianne Wallach-Faller, „Ein mittelhochdeutsches Domini‐ kanerinnen-Legendar des 14. Jahrhunderts als mystagogischer Text? “, in: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, hg. von Kurt Ruh, Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 7), S. 388-401. 12 Die Signifikanz dieser Transformationen ist bisher erst in Ansätzen beschrieben worden, doch in jüngerer Zeit widmen sich Studien zu volkssprachigen Legendaren vermehrt diesen kontextuellen Aspekten, vgl. u. a.: Johannes Traulsen, Heiligkeit und Gemeinschaft. Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im ‚Väterbuch‘, Berlin/ Boston 2017; Hammer (wie Anm. 9); Cornelia Herberichs, „‚Der Erzähler ist uns keineswegs durchaus gegenwärtig‘. Zu Benjamins Aura-Konzept in narrato‐ logischer Perspektive und zur Auratisierung legendarischen Erzählens im ‚Väterbuch‘“, in: Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin, hg. von Ulrich Johannes Beil, C. H. und Marcus Sandl, Zürich 2013 (Medienwandel - Medienwechsel - Medienwissen 27), S. 85-116. Perspektive verweist die buchförmige Materialität des Legendars zudem auf einen spezifi‐ schen theologischen Aspekt der Hagiographie: Sinnbildlich gestaltet das Legendar eine Metonymie der redempta civitas im Medium des Codex, was in Bezug auf die Legenda Aurea von Konrad Kunze hervorgehoben wurde: „Der Kalender konkretisiert sich in exemplarischen Gestalten, die Lehre der communio sanctorum (= ‚mit uns die Heiligen‘) ist in einem Lese-Buch greifbarer als im Credo dokumentiert.“ 10 Die haptische Qualität der Sammlung als Buch ist daher nicht nur unter einer pragmatischen Funktion des Gebrauchs zu deuten, sondern besitzt auch eine symbolische, theologische Signifikanz. Auch wenn die Legenda Aurea eine der wichtigsten Etappen darstellt in der Geschichte des Buchtyps Legendar und als Vorbild für die weitere Gattungsgeschichte prägenden Einfluss hatte, so unterscheiden sich die Profile der einzelnen Legendare doch jeweils beträchtlich: die Rhetorik und Stilistik der textübergreifenden Redaktionen, das Corpus der Texte als Resultat von Kompilations- und Selektionsprozessen sowie die je nach Auswahl und Anordnung unterschiedlich akzentuierte Form und Signifikanz von Zeitstruk‐ turen. Gegenüber einer Beschäftigung mit selbstständig überlieferten Legenden macht die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Legendar-Legenden - so fasse ich nochmals zusammen - zwingend auch die Behandlung der Frage nach dem jeweiligen Verhältnis des Einzeltextes zum Ganzen, nach der Pragmatik und Poetik sowie nach übergreifenden und textverbindenden Aspekten der Sammlung notwendig. Besonders aufschlussreich für kulturelle und frömmigkeitsgeschichtliche Verände‐ rungen sind Legendare seit deren Sprachwechsel in die Volkssprachen, insofern nun unterschiedliche, eigenständige Kompilationen 11 auch von volkssprachigen Legendaren entstehen. Zwar sind volkssprachige Legendensammlungen des Mittelalters in der Regel von lateinischen Vorlagen der Einzellegenden oder lateinischen Legendaren abhängig, aber die nun neu auftretenden, sowohl in formaler wie inhaltlicher Hinsicht zahlreichen Transformationen zeugen von einer je wiederum spezifischen Form der Aneignung, weshalb ihnen eine nicht geringe Signifikanz für die Frömmigkeitskultur ihrer jeweiligen Entstehungs- und Rezeptionszeit zukommt. 12 145 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 13 Dieser Wortlaut ist in Überschriften mehrerer Überlieferungszeugen belegt; vgl. Iacopo da Varazze, Legenda aurea. Edizione critica a cura di Giovanni Paolo Maggioni. Seconda Edizione rivista dall’Autore (Millenio Medievale 6. Testi 3), Florenz 2000, S. 3 (Re, A); Legenda aurea, Ed. Häuptli (wie Anm. 5), S. 70 (Z). Auch Jacobus’ eigene Bezeichnung des Legendars, Legendas sanctorum in uno volumine compilavit, in der Chronica Januensis (wie Anm. 7) hebt als auktoriale Leistung einzig die Kompilation hervor: in uno volumine. 14 Das Passional wird im Folgenden zitiert nach den Editionen der Teilbände: Das Passional. Buch I. Marienleben, hg. von Annegret Haase, Martin Schubert und Jürgen Wolf, Berlin 2013 (DTM 91/ 1); Das Passional. Buch II. Apostellegenden, hg. von Annegret Haase, Martin Schubert und Jürgen Wolf, Berlin 2013 (DTM 91/ 2); Das Passional. Eine Legenden-Sammlung des dreizehnten Jahrhunderts. [Buch III], hg. von Friedrich Karl Köpke, Quedlinburg und Leipzig 1852 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur 32). Im Folgenden gelten meine Überlegungen mittelalterlichen Dynamiken des Legenden‐ sammelns. Dazu befrage ich zunächst Paratexte volkssprachiger Legendare nach Refle‐ xionen auf die Sammlungsleistung der Hagiographen (I). Mit dem umfangreichen Legendar Der Heiligen Leben, Redaktion liegt für das Spätmittelalter eine deutschsprachige Textsamm‐ lung vor, die nicht nur hinsichtlich quantitativer, sondern auch hinsichtlich formaler Aspekte durchaus außergewöhnlich ist (II). Nach einer sorgfältigen Lektüre des ersten von mehreren Prologen dieses Legendars (III) unterbreite ich einen Vorschlag, wie sowohl die Entstehungsals auch die Überarbeitungsgeschichte von Der Heiligen Leben, Redaktion vor dem Hintergrund einer intrinsischen Dynamik des Sammelns erklärt und verstanden werden kann (IV). Und natürlich besitzt auch diese Dynamik ihre historische Spezifik, worauf ich abschließend mittels des Beispiels der Acta Sanctorum kurz verweise (V). I Legendarische Paratexte: Der Hagiograph als Sammler Paratexte der Legendare, wie Werktitel, Überschriften, Prologe und Epiloge, können Auskunft über den Sammlungscharakter dieses Buchtyps geben sowie Reflexionen auf die Autorinstanz des Legendars dokumentieren. Bemerkenswerterweise heben die Prolog‐ überschrift der Legenda Aurea wie auch Prologe einiger volkssprachiger Legendare die Leistung des Sammelns, des compilare, explizit hervor (Incipit Prologus super legendas sanctorum, quas compilavit frater Iacobus […]), 13 wohingegen die literarische Bearbeitungs‐ leistung stilistischer und formaler Natur keine Erwähnung findet. Dasselbe gilt für die autoreflexiven Passagen der Pro- und Epiloge des ersten deutschsprachigen Legendars, des Passionals; auch hier wird die Funktion des Legendar-Bearbeiters auf die eines Sammlers und Übersetzers reduziert. In den ersten Versen des prologus uf der apostolen buch, dem zweiten Band des Passionals (Apostelbuch), weist der Bearbeiter expressis verbis auf seine Rolle als Sammler hin: Min arbeitlicher uber such / hat alhi daz erste buch / mit gotes helfe vollen bracht (Passional, Buch II, V. 18905-18907). 14 Sogar göttlicher Unterstützung (gotes helfe) bedarf der Hagiograph für die beschwerliche, arbeitliche[] Leistung des Kompilierens. Analog zum Topos der göttlichen Inspiration des Dichtens wird in diesem Prolog das Sammeln als von einer inspirierten Gnade abhängige Leistung charakterisiert. Im Epilog des dritten Bandes des Passionals, also in dem das gesamte Werk abschließenden Paratext, wird die enorme Sammlungsleistung abermals betont: 146 Cornelia Herberichs 15 Vgl. ähnliche Aussagen im Passional [Buch III]: sus will ich mit getichte wesen / und an ein buch zusamne lesen / von im genuger tugende leben (S. 5, 39-41); des will ich ein teil verien / mit arbeitlicheme suche / an dem dritten buche (S. 5, 74-76). 16 Siehe Philippart (wie Anm. 1), Sp. 648f. 17 Zum Inhalt der einzig noch erhaltenen Bände siehe Franciscus Halkin, „Legendarii Bodecensis menses duo in codice paderbornensi“, in: Analecta Bollandiana 52 (1934), S. 321-333. 18 Werner Williams-Krapp, Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1986 (Texte und Textgeschichte 20), S. 294. 19 Vgl. dazu Volker Mertens, „Verslegende und Prosalegendar. Zur Prosafassung von Legendenromanen in Der Heiligen Leben“, in: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978, hg. von Volker Honemann, Kurt Ruh, Bernhard Schnell und Werner Wegstein, Tübingen 1979, S. 265-289. 20 Der Heiligen Leben verwendet für die enthaltenen Apostellegenden andere Quellen, z. B. die Legenda Aurea, und folgt hier nicht dem zweiten Band, Das Passional. Buch II (wie Anm. 14). 21 Der Heiligen Leben. Band I. Der Sommerteil, hg. von Margit Brand, Kristina Freienhagen-Baumgardt, Ruth Meyer, Werner Williams-Krapp, Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 44); Der Heiligen Leben. Band II. Der Winterteil, hg. von Margit Brand, Werner Jung und Werner Williams-Krapp, Tübingen 2004 (Texte und Textgeschichte 51). Ich habe nu mit der helfe gotes, nach dem willen sines gebotes, nicht ane grozen ummesuch hie vollenbracht die dru buch (Passional [Buch III], S. 690, 1-4). 15 Diese Ein- und Wertschätzung des Sammelns als einer frommen und von Gott begnadeten Tätigkeit hat ihr Pendant in der Gattungsgeschichte des Buchtyps Legendar, die im Lauf der Zeit immer stärker zu einer umfangmäßigen Erweiterung und zur zahlenmäßigen Vermehrung von Einzellegenden tendiert. 16 Was vom Passional-Autor bezüglich der Ent‐ stehung seines Legendars geäußert wird, kann mithin als Reflexion auf eine intrinsische Dynamik gelesen werden, welche für die historische Entwicklung dieses Buchtyps als Ganze erkannt werden kann. Das lateinische Legendar von Bödekken aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit seinen ursprünglich 12 Bänden bildet dabei einen Höhepunkt exzessiven und unermüdlichen hagiographischen Sammelns im Mittelalter. 17 II Der Heiligen Leben, Redaktion Gattungsgeschichtlich löst die Sammlung Der Heiligen Leben das in gereimten Verspaaren geschriebene Passional gewissermaßen ab, dessen Überlieferung um die Mitte des 14. Jahr‐ hunderts abbricht. 18 Das neue Legendar markiert nicht nur einen formalen Paradigmen‐ wechsel, insofern die 95 Legenden des dritten Bandes des Passionals hier in Prosa aufgelöst werden; 19 es vermehrt auch quantitativ die Anzahl seiner Vorlage beträchtlich, indem das Corpus auf ursprünglich ca. 250 Legenden erweitert wird. 20 Das Prosalegendar findet sich in aller Regel in zwei Bänden aufgezeichnet, einem Winter- und einem Sommerteil. 21 Gemäß dem Paschalstil werden in Der Heiligen Leben die Texte kalendarisch angeordnet. Es bleibt, bis in die Zeit des Buchdrucks hinein, das quantitativ und geographisch am meisten 147 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 22 Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 188. Als Entstehungsort wird das Katharinenkloster in Nürnberg vermutet. 23 Die derzeit aktuellste Übersicht über die Überlieferung bei Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 317-320. 24 Siehe Konrad Kunze, „Der Heiligen Leben, Redaktion“, in: 2 VL, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 625- 627. 25 Konrad Kunze, „Usuard OSB (und deutsche Martyrologien)“, in: 2 VL, Bd. 10, Berlin/ New York 1999, Sp. 142f. Usuards Martyrologium, das umfassendste und stilistisch homogenste Martyrologium des frühen Mittelalters, setzte sich schon bald gegen andere Versionen von Martyrologien durch; seit dem 13. Jahrhundert ist es auch in deutschen Übersetzungen überliefert (vgl. ebd.). 26 Siehe das Inhaltsverzeichnis bei Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 321-331. 27 Die Quellensituation ist noch kaum erforscht, vgl. Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 320, Anm. 74. 28 Ebd., S. 332. 29 Ebd.; vgl. zum Terminus ante quem Kunze (wie Anm. 24), Sp. 627. 30 Kunze (wie Anm. 24), Sp. 625. abgeschriebene und am weitest verbreitete Legendar, das sowohl in monastischen Kreisen wie auch außerhalb der Klöster in pastoralen sowie privaten Kontexten gelesen wird. 22 Der Heiligen Leben ist aber nicht nur Endpunkt einer Entwicklung, sondern zugleich Aus‐ gangspunkt einer Weiterentwicklung des Buchtyps Legendar. Eine in zehn Handschriften und zwei Fragmenten überlieferte sogenannte Redaktion  23 kombiniert die Legendensamm‐ lung Der Heiligen Leben mit einem weiteren Buchtyp memorialen Gedenkens, einem Martyrologium. 24 Das hier mit dem Legendar kombinierte Martyrologium des Usuardus aus dem 9. Jahrhundert gehört zu dem von Beda Venerabilis geschaffenen Typ der ‚historischen Martyrologien‘, in denen nicht nur die Namen, Begräbnisbeziehungsweise Kultorte der Tagesheiligen registriert, sondern auch etwas ausführlichere Lebensabrisse der Märtyrer vermittelt werden. 25 Das neue Legendar kombiniert also zwei verschiedene Legendar-Typen und fügt der Sammlung darüber hinaus eigenständig weitere Legenden hinzu, so dass nun für jeden Tag des Jahres ein legendarischer Text verzeichnet ist. 26 Zwei Drittel seines Bestands bilden die Legenden aus dem Corpus von Der Heiligen Leben, die weiteren Viten sind womöglich für das Legendar aus dem Lateinischen neu übersetzt worden. 27 Was den Rezeptionskontext betrifft, so vermutet Werner Williams-Krapp mit Verweis auf die Martyrologiumsstruktur des Legendars eine monastische Verwendung beim Stundengebet. 28 Bald schon, vermutlich kurz nach 1406 29 - und dies ist eine bemerkenswerte literaturge‐ schichtliche Entwicklung - wurde auch dieses zu einem dreibändigen monumentalen Werk angewachsene Legendar abermals tiefgreifend überarbeitet. Eigentlich verdiente erst und ausschließlich diese Version den Namen Redaktion. Denn der Redaktor (im eigentlichen Sinne) begnügte sich nicht mit einer Abschrift und Erweiterung von Der Heiligen Leben, Redaktion, sondern er arbeitete jede einzelne Legende sprachlich, stilistisch und inhaltlich um. Um die in der Forschung bereits kritisierte Titelverwendung zu präzisieren, 30 ohne aber dabei die inzwischen etablierte Bezeichnung zu ersetzen, unterscheide ich im Folgenden mit Ziffern die Redaktion I (Kombination von Legendar und Martyrologium sowie Corpus‐ erweiterung) von der Redaktion II (stilistische Überarbeitung und Retextualisierung der Redaktion I). Wo ich die Redaktion nicht auszeichne, sind beide Fassungen eingeschlossen. 148 Cornelia Herberichs 31 Vgl. die Prologe der drei Bücher des Passionals: Das Passional. Buch I (wie Anm. 14), S. 3-12; Das Passional. Buch II (wie Anm. 14), S. 541-544; Das Passional [Buch III] (wie Anm. 14), S. 1-6. 32 Die Elsässische ‚Legenda aurea‘. Bd. I. Das Normalcorpus, hg. von Ulla Williams und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1980 (Texte und Textgeschichte 3), S. 1. 33 Die Frage, ob die vier volkssprachigen Prologe vom Autor der Redaktion I für dieses Legendar eigens übersetzt oder ob sie aus volkssprachigen Legendaren und Martyrologien kompiliert wurden, kann beim derzeitigen Stand der Forschung noch nicht beantwortet werden. 34 Die Prologe sind den ersten beiden Bänden den Heiligenviten vorangestellt. Die Prolog-Sammlung ist überliefert in Bd. 1 ( Januar - April): München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 536 (M16) und München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 535 (M15) und in Bd. 2 (Mai - August): Augsburg, Universitätsbibl., Cod. Oettingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,20 (Hr5), Augsburg, Universitätsbibl., Cod. Oettingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,21 (Hr6), Budapest, Országos Széchényi Könyvtár (Széchényi-Nationalbibl.), Cod. Germ. 48 (Bu2); ob auch Exemplare von Bd. 3 ursprünglich ebenfalls die Prolog-Sammlung enthielten, ist angesichts der Überlieferungslage unklar. Im Codex Augsburg, Universitätsbibl., Cod. Oettingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,2 [Hr4], fehlen Blätter am Anfang; die Foliierung beginnt auf Bl. 7 beim Einsatz der dritten Legende (Verena), was aus Umfangsgründen mutmaßen lässt, dass hier die Prologe nicht enthalten waren. 35 Vorrede und Prologe der Heiligen Leben, Redaktion sind noch nicht ediert. Die Prologe der Redaktion I und der Redaktion II weisen so gut wie keine signifikanten Unterschiede auf, die über orthographische Varianz hinausgehen, weshalb auf den Ausweis von Varianten im Rahmen dieses Aufsatzes verzichtet wird. Zitiert wird nach der Handschrift der Redaktion I, Bd. I: München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 536 (Sigle: M16), 3. Viertel 15. Jh. Hier und im Folgenden wird Handschriftentranskription moderat normalisiert. III Sammlungsreflexionen in den Paratexten von Der Heiligen Leben, Redaktion Auffällig ist, dass das anonym verfasste Der Heiligen Leben gar keinen Prolog enthält, was für diesen Buchtyp durchaus untypisch ist. Anders als in seiner Vorlage, dem Passional, 31 und in den anderen zeitgenössischen volkssprachigen Legendaren, wie etwa der Elsässi‐ schen Legenda Aurea, 32 stehen die schlichten Prosaviten in Der Heiligen Leben ganz für sich. Der Heiligen Leben, Redaktion enthält demgegenüber nicht nur einen, sondern ganze vier Prologe. 33 Mit anderen Worten: Die Legendensammlung Der Heiligen Leben, Redaktion beginnt mit einer Prolog-Sammlung. 34 Vor dieser Prolog-Kompilation erfolgt eine kurze, für die Redaktion eigens verfasste Vorrede, in welcher die ersten drei Prologe ihrer Reihenfolge nach angekündigt werden und ihre jeweilige Provenienz erläutert wird. Schon hier wird insbesondere auf die Sammlertätigkeit der Hagiographen als eine besonders verdienstvolle Arbeit hingewiesen: Wil yemant haben mancherlaÿ prologus vber das martirilogium, der sol vber leszen die nachgeschriben rede, jn der er vindet die altten heiligen vnd wie groszen fleisz die haben gehabt zu dichten das hernach geschriben martirilogium et cetera. Hje ist zu merken, ob ir wol vil seint gewesen, die iren fleisz dar zu haben geben, das die martirilogium zusamen gesetztt wurden vnd gedicht. Yedoch sein ir drey gewest, die mit grosser maisterschafft dar zu iren fleisz haben geben. (Cgm 536, Bl. 1ra) 35 Mit den altten heiligen, welche in der folgenden rede zu finden seien, sind die Autoren und Textsammler der Martyrologien gemeint, welche die Texte verfasst und zusamen gesetztt haben. Bezüglich ihrer Sammeltätigkeit wird in der kurzen Vorrede drei Mal in wörtlicher Wiederholung ihr (grosze[r]) fleisz gewürdigt. 149 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 36 Acta Sanctorum Novembris […], II.2 [Kommentar zum Martyrologium des Hieronymus], hg. von Hippolytus Delehaye, Paulus Peeters und Mauritius Coens, Brüssel 1931, CPL 633 epist. 48, zitiert nach: https: / / www.heiligenlexikon.de/ ActaSanctorum/ November_II2.html [Zugriffe hier und im Folgenden am 15.1.2021]. 37 Die Rezeptionsgeschichte der ursprünglichen Textquelle ist erst in jüngerer Zeit untersucht worden, vgl. ausführlich zur Rezeption des Exzerptes aus Contra Faustum Manichaeum in der mittelalterlichen Enzyklopädie, Theologie und in verschiedenen Martyrologien: Irina Galynina, „Die Textgeschichte und Rezeption des c. Faust. XX, 21 im Mittelalter“, in: Revue d’histoire des textes 8 (2013), S. 111- 169, zu seiner Rezeption bei Usuardus siehe S. 147-156 (Williams-Krapp [wie Anm. 18], S. 315, identifiziert die Praefatio noch als „Prolog Usuards“; András Vizkelety, „Eine deutsche Fassung der Stephanslegende aus dem Jahre 1471“, in: Magyar Könyvszemle 84 [1968], S. 130-145, hier S. 131, als „ein Prolog Augustins“); zur im Mittelalter häufig anzutreffenden Zuschreibung dieser Praefatio an Beda, die auch in der Vorrede der Redaktion zu finden ist, vgl. Galynina, S. 129. 38 Vgl. zu diesem Textkomplex Märtyrerliteratur, hg. von Hans Reinhard Seeliger und Wolfgang Wischmeyer, Berlin/ Boston 2015 (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 172), Einleitung S. 1-176, hier S. 1-3. Bei den darauffolgenden, kompilierten Prologen handelt es sich 1. um den vermeintlichen Briefwechsel von Chromatius und Heliodorus mit Hieronymus, der dem Martyrologium Hieronymianum vorangestellt ist; 36 2. um die Praefatio Festivitate, die bei Usuardus sowie in weiteren Martyrologien überliefert ist und selbst ein Exzerpt aus Augustinus’ Contra Faustum Manichaeum darstellt; 37 3. um das Widmungsschreiben des Usuardus an Karl den Kahlen, das jener seinem Martyrologium vorangestellt hat. Unmittelbar anschließend, ohne allerdings in der Vorrede angekündigt worden zu sein, wird schließlich 4. der Prolog des Jacobus de Voragine zur Legenda Aurea geboten. Diese außergewöhnliche Praxis der Kompilation einer Mehrzahl von Prologen vor Beginn eines Legendars bedarf der Interpretation. Gewiss reflektiert die Summenbildung zum einen die Pluralität von Interessen sowie die diversen Verwendungsmöglichkeiten des Legendars innerhalb und außerhalb liturgischer Kontexte. Zum anderen thematisieren die Prologe implizit wie auch explizit das Sammeln selbst als eine Praxis der Heilssicherung. Bemerkenswerterweise kommen dabei auch die praktischen Grenzen des hagiographischen Sammelns zur Sprache. Von besonderem Interesse ist in dieser Hinsicht der an erster Stelle stehende Prolog. Der unechte Briefwechsel der beiden Bischöfe Chromatius und Heliodorus mit Hieronymus (Cgm 536, Bl. 1rb-2rb) 38 entwirft eine Aitiologie des Heiligenkalenders: In ihrem Brief an Hieronymus berichten die beiden Bischöfe, dass sie an einer Bischofkonferenz in Mailand teilgenommen haben, welche von Kaiser Theodosius einberufen wurde, um die italienischen Bischöfe gegen die ketzereÿ Arriana zu vereinen. Theodosius habe bei dieser Gelegenheit den Bischof Gregor von Cordoba gerühmt, der tagtäglich in der Liturgie jener Märtyrer gedacht habe, die an diesem Tag gestorben seien. Einhellig werden daraufhin Chromatius und Heliodorus von der Bischofkonferenz beauftragt, Hieronymus brieflich zu bitten, das Verzeichnis der Märtyrer, das in der libereÿ Sant Eusebius vom Bischof von Caesarea verfasst worden sei, an die beiden Briefeschreiber zu schicken, auff das das wir fürderlich vnd volkummenleich ire ampt mugen volpringen (Bl. 1va). Im Antwortschreiben des Ps.-Hieronymus liefert dieser darüber hinaus und vorab auch noch die Entstehungsgeschichte des Eusebius-Kalenders: Seinerzeit habe Eusebius die Bitte an Kaiser Konstantin gerichtet, um in Erfahrung zu bringen, 150 Cornelia Herberichs 39 Die implizite Abgrenzung des Martyrologium Hieronymianum von lokalen Martyrologien arbeiten Seeliger und Wischmeyer (wie Anm. 38), S. 3, heraus. 40 Vgl. die kurze Aussage an entsprechender Stelle in der lateinischen Vorlage: Unde factum est ut ido‐ neus relator existens ecclesiasticam historiam retexere, omnium festa martyrum provinciarum omnium Romanorum diligens historiographus declararet. Et quoniam omni die sacrificium Deo offerentes eorum nomina meminisse studetis qui, die ipso quo offertur sacrificium victores diaboli extiterunt […]. (Acta Sanctorum [wie Anm. 36]). 41 Vnd von der sach wegen han wir geschriben die fest der merterer, vnd die menet vnd die tag, do sie ynnen sein gemartter wurden. Auff das das ewer gehayssen wurden volpracht vnd das wir also mochtten haben jn vnnser kranckhaÿt ein ewiges gedechtnüsz, wann wir gelawben, das nutz ist wer, das man alle iar beginge vnd alle tag das hochzeytleÿch [fest] die namen der heyligen gotes. was überall vnd allenthalben jn dem Römischen offen gewalt gescheen ist. Weder die heyligen gotes, do ye ein richter kam nach anderen richteren jn aller werlt, die den Römeren vnttertenig warden, das du wollest erfaren vnd fleiszig ausztragen die offenbaren greber der merterer, vnd wer die merterer sein, vnd von welchem richter sie gemartert sein, vnd yn welchen lannd oder an welcher stat vnd an welchem tag sie gemartert sein. (Cgm 536, Bl. 1vb) Erst nachdem Eusebius von Konstantin alle Gerichtsakten sowie sämtliche verfügbaren Informationen über die Märtyrer des gesamten Römischen Reiches erhalten habe, habe dessen Arbeit als eigentlicher Redaktor und Schreiber des Martyrologiums beginnen können: Also ist das gescheen, das der vernünfftige Eusebius ist worden ein schreiber cristenlicher Hÿstorien vnd ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer, wann er ist gewest ein fleysziger schreiber der sige vnd der hÿstorien aller lande der Römer, auff das das sie mochtten alle tag got geopfferen vnd möchten gedencken irer namen, vnd mochtten studieren, auff welchen tag die heiligen merterer sein gewest überwinder des tewffels. (Cgm 536, Bl. 1vb) Das Verzeichnis des Eusebius zielt folglich auf Vollständigkeit; und seine Tätigkeit als Sammler, als zusammenclawber, sowie als ‚Versprachlicher‘, Erzähler und Redaktor (ausz‐ sprecher) nahezu sämtlicher Märtyrergeschichten (gar nahent aller heiligen merterer) stattet das Martyrologium, welches die Vorlage des Martyrologium Hieronymianum darstellt, mit einer ökumenischen Autorität aus; weil es der Märtyrer gedenkt in aller welt, die den Romern vntertenig waren,  39 ist es nicht nur einem lokalen Kult dienlich. Den Eindruck des univer‐ salen Charakters des Buches verstärkt überdies die textuelle Inszenierung dieses Prologs als Briefwechsel, indem so eine geographische Entfernung zwischen den Briefschreibern impliziert wird und auch die Translatio des Eusebianischen Martyrologiums dieses als dezidiert ökumenisches und folglich als nicht bloß lokales Martyrologium charakterisiert. Hervorgehoben wird aber auch - und dies noch ausführlicher und deutlicher als in der lateinischen Vorlage dieses Briefwechsels 40 - der Sammlungseifer und die Sammlungskom‐ petenz als eine individuelle Leistung des Eusebius (der vernünfftige Eusebius […] ist gewest ein fleysziger schreiber). Erst hier kommt nun zur Sprache, welche Rolle Hieronymus in der Gestaltung des Martyrologiums zukommt. Obgleich im Besitz des Eusebianischen Kalenders, scheint er doch seinerseits vor die Aufgabe gestellt zu sein, die Namenslisten der Märtyrer einzelnen Kalendertagen zuordnen zu müssen 41 - als ob ihm seltsamerweise „das gesuchte und 151 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 42 Seeliger und Wischmeyer (wie Anm. 38), S. 2, Anm. 4. 43 Cgm 536 überliefert hier offensichtlich fehlerhaft: verdintnüsz. Vgl. im lat. Original: ut amputato fastidio […] (Acta Sanctorum [wie Anm. 36]); vgl. München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 535 (Sigle M15): ich will abhawen daß verdumnuße (Bl. 2vb). 44 Die Einschränkung hin dann gesetzt den ersten tag des Jeners bezieht sich auf die „Kalenden des Januars, wo traditionell Gerichtsferien waren und deshalb Christen nicht verurteilt und auch nicht hingerichtet werden konnten“ (Seeliger und Wischmeyer [wie Anm. 38], S. 3). als vorhanden vorausgesetzte Feriale Eusebs […] aus dem Sinn gekommen“ 42 sei. Diese offensichtlich widersprüchliche Wiederholung der Tageszuordnungen unterstreicht, dass Hieronymus den Eusebianischen Kalender nicht bloß an die Briefsteller weiterreicht, sondern selbst als Autor des Martyrologiums firmiert und der Sammlung eine Eigenleistung einschreibt. Die Translatio des Martyrologiums wird derart als eine Rezeptionskette inszeniert, die nicht Weitergabe, sondern aktive Aneignung voraussetzt. Seine Funktion als Autor wiederum bringt mit sich, dass sich Hieronymus als erster Redaktor des Martyrologiums durch den Vollständigkeitsanspruch des Eusebius vor ein spezifisches Problem gestellt sieht, das sein Antwortschreiben an die Bischöfe im Folgenden thematisiert: Vnd wann es dann also ist, das alle tag in vil landen vnd yn vil stetten sein genennet die namen der merterer mer wann acht hundert, also, das kein tag ist, hin dann gesetzt den ersten tag des Jeners, mann fund funffhundert merterer beschriben. Also hab ich gemerckt das vntter den scharen, die ein zall haben, das gemütte des lesers mochtte wol müde werdenn von der menig der merterer, die do sein in einem menend. Das icht das geschee, so hab ich kürtzleich ein gedechtnüsz gemacht, wie ir ÿetzlicher ÿn seiner besunder stat vntter so grosser menig habe seinen hochzeÿttag. Vnd das hab ich darümbe gethan, das ich wil abehawen das [verdumnuße]  43 disz püchelein, das hernach geschriben ist, das Martirologium. (Cgm 536, Bl. 2ra) Die enorme Anzahl an Märtyrern, die es zu erinnern gilt, nämlich 500 bis 800 Namen pro Tag, 44 wirft vor dem Hintergrund, dass das Verzeichnis - ganz wie dies die Bischöfe von Hieronymus wünschten - eine liturgische Funktion erhalten soll, handfeste praktische Probleme auf. Hieronymus wird in seinem Brief zum Sprachrohr eines aporetischen Anspruches, der dem Heiligenkult zugrunde liegt, sofern er auf das Universale zielt: Die begrenzten Möglichkeiten des menschlichen Gedächtnisses und Fassungsvermögens (das gemütte des lesers mochtte wol müde werdenn) stehen der schier unzählbaren Anzahl der Glaubenszeugen und erinnerungswürdigen Märtyrer gegenüber. Um abe[zu]hawen das verdumnuße, wählt Hieronymus einen pragmatischen Weg: Er bedient sich eines metonymischen Prinzips, indem die Namen weniger Märtyrer stellvertretend für die Namen aller Märtyrer genannt werden. Seine quantitative Kürzung des Eusebianischen Verzeichnisses darf folglich nicht als Tilgung der Namen aus dem christlichen Gedächtnis verstanden werden, sondern als Pars pro Toto der Memoria. So steht das Martyrologium Hieronymianum für Vollständigkeit ein, ohne sie aber tatsächlich zu reproduzieren. Die Position dieses Briefwechsels als erster Prolog von Der Heiligen Leben, Redaktion verleiht diesem zugleich einen programmatischen Charakter für das ganze, umfangreiche Legendar. Mit der Metonymisierung des Gedächtnisses präfiguriert der Briefwechsel die formelhafte Versicherung am Ende eines jeden Martyrologiumsabschnittes aller 365 Tage, 152 Cornelia Herberichs 45 Berücksichtigt werden Legendenversionen der Redaktion II u. a. von: Karl Firsching, Die deut‐ schen Bearbeitungen der Kilianslegende unter besonderer Berücksichtigung deutscher Legendar‐ handschriften des Mittelalters, Würzburg 1973; Konrad Kunze, Die Legende der heiligen Maria Aegyptiaca. Ein Beispiel hagiographischer Überlieferung in 16 unveröffentlichten deutschen, nie‐ derländischen und lateinischen Fassungen, Berlin 1978; ders., „Deutschsprachige Pelagialegenden des Mittelalters“, in: Pélagie la pénitente. Métamorphoses d’une légende. Bd. 2. La survie dans les lit‐ tératures européenes, hg. von Pierre Petitmengin, Paris 1984, S. 295-335; Irina Merten, „Explizierung dass nämlich auch die ungenannten Märtyrer ins Gedächtnis eingeschlossen sind. Um ein einziges Beispiel zu nennen: Am Ende des Martyrologiumsabschnittes am Gedenktag des Ambrosius heißt es nach der einzigen namentlichen Erwähnung eines weiteren Tagesheiligen, des am 4. April 636 verstorbenen Isidor von Sevilla: Auch vil ander heiligen martrer, peichtiger vnd junckfrawen, der namen nicht benant sind (Redaktion I, Cgm 535, Bl. 325vb/ 326ra). Das auf diese Weise täglich in Erinnerung gerufene metonymische Verhältnis des Gedenkens verweist auf die Grenzen, die dem quantitativen Sammeln von Heiligenviten gesetzt sind, wenn eine lebendige Tradition zugleich das Andenken an alle Glaubenszeugen pflegen soll. Auf genau diese Aporie beziehe ich nun abschließend und hypothetisch das historische Großprojekt der Retextualisierung von Der Heiligen Leben, Redaktion I durch die Redaktion II und deute sie vor dem Hintergrund des Konzeptes einer Dynamik des Sammelns. IV Retextualisierung als Fortsetzung des Sammelns in der Redaktion II Für das immense Projekt einer kompletten Reformulierung der Redaktion I durch den Redaktor der Redaktion II schlage ich eine nicht-rezipientenorientierte Erklärung vor, die sich indirekt aus der Logik des Sammelns ableiten lässt. Mit der Metonymisierung des Heiligengedenkens, die im ersten Prolog beider Versionen von Der Heiligen Leben, Redaktion begründet und sogar als notwendig bezeichnet wird, ist zugleich auch ein Schlusspunkt für eine quantitative Vermehrung des volkssprachigen Legendars gesetzt. Eine weitere quantitative Vermehrung der Sammlung scheint angesichts eines ‚ermüdbaren Gedächtnisses‘ der Lektoren und Leser des bereits umfangreichsten deutschsprachigen Legendars ausgeschlossen. Den verdienstvollen Legendarautoren, die in der Vorrede für ihre maisterschaft gerühmt werden und die iren fleisz dar zu haben geben, das die martirilogium zusamen gesetztt wurden vnd gedicht, kann der Redaktor von Der Heiligen Leben, Redaktion II es nicht mehr gleichtun. Die Kompilation, die von den maister[n] der Hagiographen früherer Epochen zusamen gesetztt wurde, kann durch den Hagiographen des 15. Jahrhunderts nur nachgeahmt werden, indem auch er ein Legendar []dicht[et], die Arbeit der maister[n] also nicht als Arbeit an der Sammlung, sondern als Arbeit am Text zum Vorbild nimmt: vnd wie groszen fleisz die haben gehabt zu dichten. Die Bearbeitungstendenzen dieses kurz nach der Kompilation der Redaktion I entstan‐ denen Werks wurden in der Forschung bislang erst sehr allgemein und noch in keiner Weise systematisch beschrieben. Abgesehen von wenigen Einzelstudien zu diachronen Traditionen einzelner Heiligenlegenden, die unter anderen Legendar-Versionen jeweils auch die Texte der Redaktions-Fassung mitberücksichtigen, 45 liegen derzeit noch keine 153 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer und Evidenz. Zu einigen poetologischen Aspekten in den spätmittelalterlichen Legendar-Fassungen des Barlaam und Josaphat-Stoffes“, in: Barlaam und Josaphat. Neue Perspektiven auf ein europäisches Phänomen, hg. von Constanza Cordoni und Matthias Meyer, Berlin/ New York 2015, S. 227-246. 46 Diese Bezeichnung begegnet in sämtlichen Bänden der Redaktion II, häufig ist sie durch Rubrizierung oder Initialen ausgezeichnet. 47 Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 334. 48 Ebd., S. 335. 49 Die Zitate stammen aus Cgm 536 für die Redaktion I und aus Cgm 535 für die Redaktion II; verwiesen wird zudem auf die entsprechende Stelle in Der Heiligen Leben, Sommerteil (wie Anm. 21). 50 Fehlt in Cgm 536, ergänzt nach Der Heiligen Leben, Sommerteil (wie Anm. 21), S. 3, Z. 16. Untersuchungen zu den Gesamttendenzen dieses Legendars vor. Generell lässt sich beob‐ achten, dass der Redaktor die postmortalen Mirakelerzählungen kürzt (oder sie zuweilen ganz streicht); konsequent ersetzt er überdies die knappen Gebete in Der Heiligen Leben beziehungsweise der Redaktion I am Schluss jeder Legende durch vom Legendentext abge‐ grenzte ausführlichere Collectae. 46 Was die stilistische Bearbeitungspraxis der Redaktion II betrifft, so konstatiert die Forschung zwar zu Recht einen ausgeprägten Stilwillen, neigt jedoch - so meine ich - aufgrund der bisher nur schmalen Textbasis, mit der die verglei‐ chenden Untersuchungen arbeiten, zu einer Generalisierung von Einzelbeobachtungen. So hält Werner Williams-Krapp aufgrund punktueller Beobachtungen und der wenigen ihm vorliegenden Einzelstudien zu Redaktionen einzelner Legenden allgemein fest: Auffallendstes Merkmal der Bearbeitung ist die Einführung von erzählerischen Details, die der HL-Verfasser in seinem Legendar weitgehend vermieden hatte: zum einen eine stärkere Charakterzeichnung - eine Tendenz zur Humanisierung und Verinnerlichung des Heiligenbildes […] -, zum anderen eine bessere Motivierung der Handlung. 47 Die gelegentlichen Hinzufügungen von Details führten außerdem zu einer „Anhebung des erzählerisch/ inhaltlichen Niveaus“. 48 Solche Beobachtungen müssten allerdings nicht nur angesichts der riesigen Menge an Legenden anhand breit angelegter Vergleiche erst noch überprüft, präzisiert und gegebe‐ nenfalls revidiert werden. Schon bei Stichproben lassen sich nicht nur zusätzliche Belege für diese Thesen, sondern auch zahlreiche Gegenbeispiele zu den bisher festgestellten Bearbeitungstendenzen finden; Textstellen, bei denen lexikalische und syntaktische Ver‐ änderungen weder einen Zugewinn an ‚erzählerischem Niveau‘ noch an ‚Humanisierung und Verinnerlichung‘ erkennen lassen. Anhand der Ambrosiuslegende (Bd. I) seien im Folgenden die Schwierigkeiten illustriert, mit denen sich konfrontiert sieht, wer die Veränderungstendenzen kategorial zu systematisieren beabsichtigt. Der Heilige und Kirchenvater Ambrosius von Mailand, mit dessen Legende der erste Band des im Paschalstil organisierten Der Heiligen Leben in der Osterzeit (4. April) beginnt, wird als Kirchenvater eingeführt (der vier lerer eÿnner). 49 Schon als Kind deuten Zeichen wie das berühmte Bienenwunder darauf hin, dass Ambrosius ein von Gott Auserwählter ist. Dass er - gegen seinen Willen - später Bischof werden wird, wird noch in einem weiteren Kindheitswunder offenbar: Eins mols was das kint zu kirchen vnd was sein swester auch do. Do sahe sant Ambrosius, [daz sein swester]  50 dem pischoff opfert nach gewonheit vnd im auff sein hant küszet. Do weÿssaget sant 154 Cornelia Herberichs 51 Vgl. Der Heiligen Leben, Sommerteil (wie Anm. 21), S. 3, Z. 15-20. 52 Fehlt in Cgm 536, ergänzt nach Der Heiligen Leben, Sommerteil (wie Anm. 21), S. 3, Z. 16. 53 Die Version von Der Heiligen Leben bzw. Redaktion I ist hier enger an die Vorlage, das Passional, angelehnt als die Version in Redaktion II: vgl. Passional: nu vugetez sich in einer zit / daz ez begonde schowen / sin swester, eine iuncvrowen / nach deme gewonlichen hove / opfern deme bischove / und in kussen uf die hant (Passional [Buch III], wie Anm. 14, 16,58-63); die Vorlage des Passionals wiederum, die Legenda Aurea, kennt gar keine Opferung (cum videret sacerdotibus a domestica, sorore, vel matre manus osculari, Häuptli (wie Anm. 5), S. 782,4-7. Jacobus de Voragine folgt hier wörtlich seiner Quelle, der Vita Ambrosii des Paulinus von Mailand (siehe Paolino di Milano, Vita di S. Ambrogio, hg. von Michele Pellegrino, Rom 1961 [Verba Seniorum N.S. 1], c. 4, S. 54-56). 54 Das Passional äußert hier nur eine vage Andeutung auf eine zukünftige Entwicklung (sus bleib ez wesen in der zit), während in der Legenda Aurea, die der Vita Ambrosii folgt, die Szene ohne Prolepse und abrupt mit der Abweisung der Schwester endet. Ambrosius als palde vnd sprach: „Swester, küsz mir mein hant auch, wann das müsz sein.“ Do sprach sie: „Habe dein gemach! “ Dann sie hett im die rede vor ei[n] kintheit. Do ward es hernach ware: Wann do er pischoff warde, do küszet sie im seine hant. (Redaktion I, Cgm 536, Bl. 202vb/ 202ra). 51 Die Redaktion II gibt das Handlungssubstrat dieser Szene in der gleichen Weise wieder, verändert aber im Detail: Darnach zu einen zeiten, do waz daz kind sand Amb[r]osius mit seiner schweſter gangen in di kirchen. Do opfert sy dem pischof vnd küset im sein hant, als dann gewonhait waz. Do weiszaget das kint Ambrosius vnd sprach zu seiner schwester: „Du wirst mir noch mein hant auch küszen.“ Aber sy het kain achtung auf di red, wann sy meint er ret es in seiner kinthait. Aber do er her nach ein pischof wart, do geschahe, daz im sein schwester sein hant küszet. (Redaktion II, Cgm 535, Bl. 326rb) Zwar differieren die Veränderungen zumeist semantisch nur gering (vgl. I: Eins mols vs. II: Darnach zu einen zeiten; oder: I: ſie hett im die rede vor ei[n] kintheit vs. II: ſy meint er ret es in ſeiner kinthait etc.), syntaktische Umstellungen können den Sinn einer Aussage aber auch geringfügig verändern: So bezieht sich die Erläuterung nach gewonheit einmal nur auf das Opfer der Schwester, das andere Mal auf Opfer und Handkuss (I: Do ſahe ſant Ambroſius, [daz sein swester]  52 dem piſchoff opfert nach gewonheit vnd im auff ſein hant küſzet vs. II: Do opfert ſy dem piſchof vnd küſet im ſein hant, als dann gewonhait waz). 53 Die direkte Rede der Schwester, die in der Redaktion I zu einer gewissen Lebendigkeit der Szene beiträgt, wird in Redaktion II in auktoriale Rede aufgelöst (I: Do ſprach ſie: „Habe dein gemach! “ vs. II: Aber ſy het kain achtung auf di red). Macht die Redaktion I den Wahrheitsgehalt der Prophezeiung auf Erzählerebene explizit (Do ward es hernach ware), so lässt die Redaktion II diesen Erzählerkommentar ganz weg. 54 Die Beispiele ließen sich vervielfachen, und sie zeigen, dass die Eingriffe in den Text häufig kaum mit inhaltlichen oder stilistischen Argumenten zu begründen sowie insgesamt schwer zu systematisieren sind. Die Crux liegt dabei in den zahlreichen Detailverände‐ rungen auf semantischer wie auf syntaktischer Ebene, die so gut wie in jedem Satz zu verzeichnen sind. Konsequent wird der Textumfang der Gebete, die sich jeweils am Ende des Legenden‐ textes finden, in der Redaktion II vermehrt. So schließt die Ambrosiuslegende der Redaktion I mit einer nur kurzen Fürbitte: 155 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 55 In der Handschrift erfolgt fehlerhafte Wiederholung: pitt] pitt das er vns pitt. 56 Williams-Krapp (wie Anm. 18), S. 336. 57 Ebd., S. 332. Nu pitt wir sant Ambrosius, den heiligen lerer, das er dort fur vns pitt […], 55 das er vns hie von behütt vnd vns dort gebe das ewige leben, do er ist. Amen (Redaktion I, Cgm 536, Bl. 205 va/ b) Die Redaktion II hingegen lässt nach der Ambrosiuslegende, wie nach allen Legenden, unter der Überschrift Collecta ausführlichere Gebete folgen: Collecta: Wir pitten dich, almechtiger Got, das vns alltzeit sünderlichen seÿ das gepet des heiligen sant Ambrosius, deines lerers, vnd was wir vor dir nicht mügen erwerben mit vnserm vnwirdigen gepete, das vns dann das werd gegeben, so er dich dann wirt piten. Das vorleih vns durch deinen eingeporn sunn, vnsern heren Ihesus Cristus, der mit dir lebet vnd herschet in einikeit des heiligen geistes jmmer jn ewikeit der ewikeit. Amen (Redaktion II, Cgm 535, Bl. 330 ra) Eine inhaltliche Begründung für die Änderungen der Gebetstexte auszumachen, fällt oftmals ebenso schwer, wie dies für die redaktionellen Eingriffe im Legendentext der Fall ist. Im hier zitierten Beispiel wird Ambrosius in beiden Gebeten um Intercessio bei Gottvater angerufen; in der Redaktion I, damit er die Betenden vor behütt und ihnen das ewige leben schenken möge; in der Redaktion II hoffen die Betenden, dass sie dort, wo ihre eigenen vnwirdigen gepete versagen, Unterstützung vor Gott durch die Fürbitte des Ambrosius erhalten mögen. Die in die Handschriften der Redaktion II unter der Überschrift Collecta eingefügten Gebete erhalten so zwar eine gewisse Nähe zur Liturgie. Doch ob darin, wie Williams-Krapp vermutet, bereits eine „Tendenz zur Verinnerlichung des Heiligenbildes“ 56 gesehen werden kann, scheint mir jedenfalls für das hier angeführte Beispiel eher fraglich zu sein. Meine bisherigen, kurzen Ausführungen machen gewiss eines deutlich: Die Funktion der aufwändigen Textbearbeitung in Der Heiligen Leben, Redaktion II wirft eine Reihe von ungelösten, dringenden Fragen auf: Wie lässt sich die Retextualisierung der umfangreichen Legendarfassung Redaktion I erklären beziehungsweise welcher Motivation entsprang sie angesichts der Tatsache, dass das zweibändige Legendar Der Heiligen Leben zwar vereinzelt quantitative Zusätze in Form von Sondergut erhielt, aber niemals eine Redaktion im eigentlichen Sinne erfuhr? Waren es pragmatische Gründe, die im Zusammenhang einer pastoralen, theologischen Neuausrichtung standen, oder war es schlicht ein veränderter literarischer Geschmack? Auch wenn man von einer neuen Gebrauchssituation, das heißt von einer Verwendung des Legendars in der Liturgie ausgeht, wie dies Werner Williams-Krapp vorschlägt, so sind dadurch die beständigen rhetorischen Umschriften der Legenden noch keineswegs erklärt. Bezüglich der Frage nach der intendierten Rezipienten‐ gruppe der Redaktion II hält auch er deshalb resümierend fest: „Der eigentliche Beweggrund für diese redaktionellen Änderungen läßt sich nicht näher fassen.“ 57 Abgesehen von einer möglichen rezeptionsorientierten Motivation für die offensichtlich planmäßige und dennoch keineswegs homogene Bearbeitung der Redaktion I halte ich es für unerlässlich, auch produktionsorientierte Aspekte zu erwägen, wobei mir eine Bezugnahme auf die spätmittelalterliche Reflexion und Praxis des Sammelns gerade im Kontext von Legendaren vielversprechend zu sein scheint. Wird nämlich Sammeln, im 156 Cornelia Herberichs 58 Vgl. z. B. Anke te Heesen und Emma C. Spary, „Sammeln als Wissen“, in: Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, hg. von dies., Göttingen 2001 (Wis‐ senschaftsgeschichte), S. 7-21, hier S. 13f. Weiterhin in diesem Sinne auch den Call for Papers für vorliegenden Sammelband, S. 1: „,Sammeln‘ kann als produktives Aneinanderfügen von Wörtern, Texten und größeren Texteinheiten betrachtet werden, das auf je spezifischen Konzepten der thematischen Kohärenzbildung, der Gattung und der Autorschaft beruht.“ 59 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26, sieht für diese Formen von Sammlungen die Begriffe ‚Sammelsurium‘ und ‚Vorratshaltung‘ vor (vgl. S. 13-19). 60 Jochen Brüning, Die Sammlung als Text, in: ZfG 13 (2003), S. 560-572. Ich danke Caroline Emmelius herzlich für den Hinweis auf diesen Beitrag. 61 Walter Benjamin, „Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln“ [1931], in: ders., Medienästhetische Schriften, mit einem Nachwort von Detlev Schöttker, Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1601), S. 175-182. 62 Brüning (wie Anm. 60), S. 562. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 571. 65 Vgl. zu den Corpusvariationen der Überlieferungszeugen grundlegend Fleith (wie Anm. 4), zur Überlieferung der Legenda Aurea und die Verwandtschaftsverhältnisse der Handschriften siehe außerdem die jüngeren Darstellungen bei Maggioni (wie Anm. 13), S. XIV-XXXV, und Häuptli, Einleitung (wie Anm. 5), S. 60-64. Sinne jüngerer Kultur- und Wissenstheorien, als eine produktive Tätigkeit verstanden, 58 die nicht nur Objekte und Texte bloß zusammenstellt und ‚versammelt‘, 59 sondern diese zugleich mit und in der Sammlung ästhetisch wie auch epistemisch transformiert, so erweist sich der Unterschied zwischen der quantitativen Sammlungspraxis der Redaktion I und der Retextualisierungspraxis der Redaktion II nicht mehr als kategorial. Die zweite Phase der Redaktion kann dann vielmehr als die Fortsetzung und Verlängerung einer Sammlungsdynamik verstanden werden, die eine eigene, produktive Aneignung vorgefun‐ dener Objekte darstellt. In diesem Sinne differenziert Jochen Brüning 60 im Rückgriff auf Walter Benjamins Essay Ich packe meine Bibliothek aus  61 „drei Elemente im Umgang mit Sammlungen […]: das eigentliche Sammeln, das Ordnen und das Gestalten.“ 62 Konstituieren diese drei Elemente jeweils einen „Sammlungszyklus“, so ist mit einem solchen das Sammeln als Prozess durchaus nicht abgeschlossen: „Die Dynamik des Sammelns […] ist nicht auf die Isolierung und Bewahrung des Gesammelten gerichtet, sondern auf die Vollendung von immer neuen Sammlungszyklen.“ 63 Sammeln als dynamischer, triadischer Prozess von ,Sammeln‘, ‚Ordnen‘ und ‚Gestalten‘ zu verstehen, der stets wiederum offen ist für einen weiteren Sammlungszyklus, wirke - so Brüning - der „Verhärtung“, der „Versteinerung“ von Sammlungen entgegen. 64 Für die Gattungsgeschichte von Legendaren, für die quantitative Veränderungen gera‐ dezu konstitutiv sind, ist schon auf den ersten Blick offensichtlich, dass sich eine so ver‐ standene, produktive Arbeit an der Sammlung in veränderten Corpora der Legendentexte niederschlägt. Schon die komplexe Überlieferungsgeschichte der Legenda Aurea bezeugt, wie wenig dieses Legendar je ‚versteinerte‘ und dass diese Sammlung immer wieder neue, produktive Aneignungen erfuhr. 65 Dass aber auch die sprachliche Reformulierung von Der Heiligen Leben, Redaktion I durch die Redaktion II von einer solchen Logik und Dynamik des Sammelns geprägt ist, hat insbesondere aufgrund der Paratexte des Legendars Plausibilität. Die Vorrede zu den drei 157 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 66 Josef Andreas Jungmann, Missarum Sollemnia. Eine genetische Erklärung der römischen Messe. 2 Bände, Bonn 5 1962, S. 463. 67 Jungmann (wie Anm. 66), S. 491. 68 Nicholas Jardine, „Sammlung, Wissenschaft, Kulturgeschichte“, in: te Heesen/ Spary (wie Anm. 58), S. 199-220. 69 Marina Münkler, „Legende/ Lügende. Die protestantische Polemik gegen die katholische Legende und Luthers Lügend von St. Johanne Chrysostomo“, in: Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im Prologen differenziert selbst die Aspekte des ‚Sammelns‘ (im Sinne von ‚Zusammentragen‘) und des ‚Gestaltens‘ explizit, wenn sie die Hagiographen dafür preist, die martirilogium zusamen gesetztt […] vnd gedicht zu haben. Die sprachliche Gestaltung, das dichten also, stellt neben der Sammlungsleistung eine eigene und spezifische Kategorie der Aneignung dar. Im ersten Prolog des Legendars wird außerdem im Rahmen des Antwortschreibens des Ps.-Hieronymus auch das Zusammenstellen des Martyrologiums, das ‚Ordnen‘, als ein ei‐ gener Akt der Aneignung thematisiert, der nicht einer bloßen Kopie gleichkommt, sondern an- und einordnet, hierarchisiert. Sammeln wird in der Vorrede dieses umfangreichsten Legendars überdies nicht bloß als Angelegenheit eines einzigen Hagiographen bezeichnet, sondern nachdrücklich ruft jene die Aneignungen im Plural ins Gedächtnis: Hje ist zu merken, ob ir wol vil [! ] seint gewesen, die iren fleisz dar zu haben geben - ein Plural, der potentiell offen ist für weitere ‚Sammlungszyklen‘. Das Ausweisen und Thematisieren der Kapazitätsgrenzen memorialen Gedenkens in den Paratexten problematisiert allerdings die quantitative Vermehrung der Namen und Viten. Und in der Tat finden wir in der Der Heiligen Leben, Redaktion II so gut wie keine quantitativen Ergänzungen gegenüber der Redaktion I. Mit dem Verzicht auf quantitative Vermehrung aber geht, so lässt sich der Befund der kompletten Retextualisierung vermutlich verstehen, eine Aneignung ganz eigener Art einher: eine Aneignung gewiss literarischer sowie in anderem - spirituellem - Zusammenhang noch weiter zu bestimmender qualitativer Art. Betrachtet man die Retextualisierung des Legendars unter der Perspektive einer Dy‐ namik des Sammelns, dann gewinnt auch die einzig in der Redaktion II verwendete Über‐ schrift für die Gebete, Collectae, eine spezifische Bedeutung. Als liturgische Bezeichnung für das Gebet am Ende des Introitus nach dem Gloria, verweist Collecta selbst auf ein mehrschichtiges Sammlungskonzept: Sie ist „das Gebet, mit dem der Priester das voraus‐ gegangene oder vorausgesetzte Volksgebet ‚zusammenfaßt‘ und vor Gott hinträgt.“ 66 Mit dieser Überschrift wird in der Redaktion II ein solches Konzept der ‚Sammlung‘ aufgerufen: Sie verweist sowohl auf eine Sammlung der Gebete als auch auf die Versammlung der „kirchlichen Gemeinschaft“ sowie die der „Kirche selbst“ im Rahmen der liturgischen Feier. 67 Der Hagiograph der Redaktion II macht mit dem Rückgriff auf die komplexe historische Semantik von Collecta mithin deutlich, dass Legendare nicht nur als eine textuelle, sondern auch als eine spirituelle ‚Sammlung‘ fungieren. V Sammeln und kein Ende: Die Acta Sanctorum Auch Konzepte und Dynamiken des Sammelns besitzen freilich ihren historischen Index. 68 Die Autorität des Legendars Der Heiligen Leben und der dieses weiterführenden Legendare wird nach der Reformation so grundsätzlich in Frage gestellt, 69 dass ein neues Legendar 158 Cornelia Herberichs konfessionellen Zeitalter, hg. von Gerd Schwerhoff und Eric Piltz, Berlin 2015 (Beiheft zur Zeitschrift für Historische Forschung 51), S. 121-147, hier S. 133f. Insbesondere die Fürbitten in Der Heiligen Leben riefen Luthers scharfe Polemik hervor (vgl. ebd.). 70 Siehe zu den Bollandisten den Überblick bei David Knowles, Great Historical Enterprises. Problems in Monastic History, London 1963, S. 3-32; außerdem in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive: Jan M. Sawilla, Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert. Zum Werk der Bollandisten. Ein wissenschaftshistorischer Versuch, Tübingen 2009. 71 Acta Sanctorum Novembris, collecta, digesta, illustrata ab Hippolyto Delehaye et Paulo Peeters, Societatis Iesu PresbyteriS. Tomus IV, quo dies nonus et decimus continentur, Brüssel 1925. 72 Acta Sanctorum […], [Bd. 1.1], Antwerpen[: Ioannes Meursius] 1643 (zitiert nach https: / / www.heili genlexikon.de/ ActaSanctorum/ Einleitung_Januar_I.html). 73 Karl Hausberger, „Das kritische hagiographische Werk der Bollandisten“, in: Historische Kritik in der Theologie. Beiträge zu ihrer Geschichte, hg. von Georg Schwaiger, Göttingen 1980 (Studien zur Theologie und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts 32), S. 210-244, hier S. 219. geschaffen werden musste. Im Zuge der Gegenreformation wird dabei das Sammlungs‐ konzept der Legendare neu begründet. Mit der Prämisse einer Verwissenschaftlichung der Hagiographie geht jetzt wieder das Streben nach einer Ausweitung des Umfangs, nach Vollständigkeit einher. Die damit einsetzende Entwicklung kulminiert schließlich im längsten je durchgeführten Editionsprojekt aller Zeiten, den Acta Sanctorum der sogenannten Bollandisten. 70 Mit einer Bearbeitungsdauer von über 300 Jahren ist das Projekt mit dem 69. Band allerdings abgebrochen worden. So sind in diesem monumentalen Werk nur die Viten der Heiligen des Jahreskreises bis zum 10. November erfasst und ediert. 71 Der Paratext auf dem Titelblatt des ersten Bandes von 1643 unterstreicht den Anspruch, mit dem das gewaltige Editionswerk begonnen wurde, nämlich sämtliche hagiographischen Zeugnisse zu sammeln: Acta Sanctorum Quotquot toto orbe coluntur, vel a Catholicis Scriptoribus celebrantur, Quæ ex Latinis & Græcis, aliarumque gentium antiquis monumentis collegit, digessit Notis illustrauit Ioannes Bollandus Societatis Iesu Theologus, Seruata primigenia Scriptorum phrasi.  72 Buchstäblich aus der ganzen Welt (toto orbe) werden von Bolland die Zeugnisse gesammelt (collegit), geordnet (digessit) und mit Kommentaren erläutert (Notis illustrauit). Liest man diesen Dreischritt des Sammelns vor dem Hintergrund des dynamischen Sammelkonzepts von Jochen Brüning, so fällt auf, dass der Gestaltungsaspekt hier von der wissenschaftlichen, historisch-kritischen Kommentierung wahrgenommen oder sogar durch diese ersetzt wird. Als Quellen greift der Jesuit auf die ältesten Überlieferungen (primigenia Scriptorum) zurück. In den ersten beiden „stattliche[n] Bände[n] in Folio mit über 2´500 Seiten“, 73 welche einzig den Monat Januar abdecken, wird - so heißt es auf dem Titelblatt weiter - das Andenken an 1´170 mit Namen bekannte sowie weitere unzählige Heilige bewahrt (Prodit nunc duobus Tomis Ianuarius, In quo MCLXX. nominatorum Sanctorum, & aliorum innume‐ rabilium memoria, vel res gestæ illustrantur). Am Beginn der Neuzeit kehrt das Werk der Bollandisten also eben jene Tendenz wieder um, die im 15. Jahrhundert mit Der Heiligen Leben, Redaktion II ihren Höhepunkt erfahren hatte: Statt der unermüdlichen Retextualisierung wird wörtliche Treue gegenüber den Quellen (Seruata primigenia Scriptorum phrasi) einerseits sowie ihre Kommentierung andererseits und statt einer metonymischen Gedächtnisleistung wird eine schier erdrückende quantitative Vermehrung hagiographischer Materialien zum Sammlungsverdienst des nunmehr zeitgemäßen Hagiographen der Moderne. 159 ein zusammenclawber vnd ein auszsprecher gar nahent aller heiligen merterer 1 Heiligkeiten. Konstruktionen, Funktionen und Transfer von Heiligkeitskonzepten im europäischen Früh- und Hochmittelalter, hg. von Andreas Bihrer und Fiona Fritz, Stuttgart 2019 (Beiträge zur Hagiographie 21). 2 Julia Weitbrecht, Maximilian Benz, Andreas Hammer, Elke Koch, Nina Nowakowski, Stephanie Seidl und Johannes Traulsen, Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter, Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen 273). 3 Dies bildet den Gegenstand eines mit Andreas Bihrer (Kiel) geplanten Forschungsprojekts zu „Gesammelten Heiligkeiten“ in zisterziensischen Legendaren, in dessen Kontext auch die folgenden Überlegungen stehen. Vgl. Andreas Bihrer und Julia Weitbrecht, „Gesammelte Heiligkeiten. Religiöse Leitbilder und Sammlungsprinzipien in zisterziensischen Legendaren des Hoch- und Spätmittelal‐ ters“, in: MlatJb 56.3 (2021), S. 405-431. 4 Konrad Kunze, „Einleitung“, in: Die Elsässische ‚Legenda aurea‘. Bd. II: Das Sondergut, hg. von dems., Tübingen 1983 (Texte und Textgeschichte 10), S. XI-LXXII, hier S. XI. Sammeln als literarische und religiöse Praxis: Das Lichtenthaler Bůch der heilgen megde und frowen Julia Weitbrecht Die hagiographische Forschung befasste sich bisher meist mit Einzellegenden im Blick auf bestimmte Heilige oder auf die Überlieferungsgeschichte hagiographischer Texte. Rezente Arbeiten, die sich mit den Konjunkturen bestimmter Heiligkeitsentwürfe und deren historischen Bedingungen beschäftigen, konnten Aufschluss über die Entstehung und Transformation religiöser Leitbilder geben. 1 Insbesondere in der formativen Phase der Spätantike emergieren Modelle von Heiligkeit, die im Mittelalter eine hohe kulturelle und soziale Verbindlichkeit erlangen, dabei aber flexibel in Bezug auf ihre Funktionalisierung bleiben. 2 Vor diesem Hintergrund lassen sich Prozesse der Ausbildung religiöser Identitäten auch auf einer dem Einzeltext übergeordneten konzeptionellen Ebene in Bezug auf spezifi‐ sche Zusammenstellungen von Texten in klösterlichen Legendensammlungen betrachten. 3 Das gesamte Mittelalter hindurch werden Legenden innerhalb der verschiedenen Orden rezipiert, werden Handschriften ausgetauscht, abgeschrieben und die Texte mal mehr, mal weniger verändert und angepasst. Sie sind daher in ihrem Textbestand von großer Konstanz, zugleich aber gerade in ihren Zusammenstellungen in Legendensammlungen dynamisch und stetigem Wandel unterworfen: „Auslassungen, Zufügungen, Auswechs‐ lungen, Umstellungen von Legenden sind die Regel.“ 4 Prozessualität und Variabilität legen‐ darischen Erzählens im Kontext des Sammelns können ebenso im Wandel übergeordneter theologischer Diskurse oder in Ordenskontexten begründet sein wie in der konkreten Verehrung einzelner Heiliger in regionalen oder lokalen Zusammenhängen. Wie Konrad Kunze und Werner Williams-Krapp eindrücklich gezeigt haben, spielen hier insbesondere 5 Vgl. Konrad Kunze, „Papierheilige. Zum Verhältnis von Heiligenkult und Legendenüberlieferung um 1400“, in: Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft 4 (1986/ 87), S. 53-65; ders., „Aleman‐ nische Legendare (I)“, in: Alemannisches Jahrbuch (1971/ 72), S. 20-45; ders., „Überlieferung und Bestand der Elsässischen Legenda aurea. Ein Beitrag zur deutschsprachigen Hagiographie des 14. und 15. Jahrhunderts“, in: ZfdA 99 (1970), S. 265-309; Werner Williams-Krapp, „Deutschsprachige Hagiographie von ca. 1350 bis ca. 1550“, in: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550, Bd. I, hg. von Guy Philippart, Turnhout 1994, S. 381-472; ders., Die deutschen und niederländischen Legendare des Mittelalters. Studien zu ihrer Überlieferungs-, Text- und Wirkungsgeschichte, Tübingen 1986. 6 Ansätze zu einer Typologie im Spannungsfeld von „mechanischen“ und „programmatischen“ Modi‐ fikationen finden sich bei Kunze, „Papierheilige“ (wie Anm. 5): das Geltendmachen kultpolitischer Ansprüche, Reaktionen auf lokale Kultpraxis, „gruppenspezifische Anliegen“ (S. 58) etwa des Laien‐ adels, „innerliterarische Motive“ (S. 59) wie die Anordnung nach typologischen Gesichtspunkten, bibliothekshistorische und literaturgeographische Aspekte sowie Wechselwirkungen von lateini‐ scher und volkssprachlicher Überlieferung. 7 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26, hier S. 18. 8 Kunze, „Papierheilige“ (wie Anm. 5), S. 63; Hervorhebung des Autors. 9 Karlsruhe, Badische Landesbibl., Cod. Lichtenthal 69. Beschreibung in: Felix Heinzer und Gerhard Stamm, Die Handschriften von Lichtenthal. Mit einem Anhang: Die heute noch im Kloster Lichtenthal befindlichen Handschriften des 12. bis 16. Jahrhunderts, Wiesbaden 1987 (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe XI), S. 173-175. 10 Konrad Kunze, „Buch von den heiligen Mägden und Frauen“, in: 2 VL, Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 1087-1089; ders., „Alemannische Legendare (I)“ (wie Anm. 5), S. 29-38; ders., „Regulas Bearbei‐ tung der Legenda aurea für die Tischlesung in Kloster Lichtenthal. Werk- und wortgeschichtliche Beobachtungen“, in: Ze hove und an der strâzen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr „Sitz im Leben“. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, hg. von Anna Keck und Theodor Nolte, überlieferungshistorische und literaturgeographische Aspekte eine Rolle. 5 Vor dem Hinter‐ grund der je unterschiedlichen historischen Situationen und Gebrauchskontexte lassen sich individuelle Sammlungsprofile erstellen und spezifische Sammlungsprinzipien ermitteln, 6 die dann auch allgemeinere Rückschlüsse auf Verschiebungen und Dynamisierungen von Heiligkeitsentwürfen in unterschiedlichen klösterlichen Milieus und Akteurskreisen erlauben. Um dabei den je spezifischen „Eigensinn der Sammlung“ 7 erfassen zu können, ist es allerdings notwendig, zur Rekonstruktion von Heiligkeiten historisch zum Teil weit zurück, bis zu den Anfängen der legendarischen Literatur, zu gehen. Leitend für die folgenden Überlegungen ist daher die Frage, in welcher Weise religiöse Leitbilder die Erzählform der Einzellegende und darüber hinaus auch - und damit in Zusammenhang stehend - Legendensammlungen bestimmen können. In deren jeweils spezifischen Funktionalisierungen erscheint Sammeln als eine gleichermaßen literarische wie religiöse Praxis. Dies ist nicht als Widerspruch zu Konrad Kunzes Postulat zu verstehen, die „außerliterarischen Impulse[]“ 8 der Heiligenverehrung seien denjenigen untergeordnet, die im Sinne von „Papierheiligkeit“ aus Schriftlichkeit und Überlieferung erwüchsen. Die folgende Fallstudie soll vielmehr verdeutlichen, dass sich narrative Form und religiöse Lebensform in Bezug auf die Sammlungsprinzipien zumindest in diesem speziellen Fall kaum voneinander trennen lassen. Im Zentrum steht das Bůch der heilgen megde und frowen, 9 das von der Schreibmeisterin und Lektorin Regula um 1460 im Zisterzienserinnenkloster Lichtenthal zusammengestellt worden ist und mit einer Ausnahme Legenden von weiblichen Heiligen enthält. 10 Die 162 Julia Weitbrecht Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 84-94; Edith Feistner, Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation, Wiesbaden 1995 (Wissensli‐ teratur im Mittelalter: Schriften des Sonderforschungsbereich 226 20), S. 292-306; Tanja Mattern, Literatur der Zisterzienserinnen. Edition und Untersuchung einer Wienhäuser Legendenhandschrift, Tübingen/ Basel 2011 (Bibliotheca Germanica 56), S. 277-316. 11 Regulas redaktionelle Einschübe hat Astrid Breith differenziert beschrieben, vgl. Astrid Breith, Textaneignung. Das Frauenlegendar der Lichtenthaler Schreibmeisterin Schwester Regula, Münster u. a. 2010 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 17). Fallstudien zu einzelnen Legenden bieten Konrad Kunze, Studien zur Legende der heiligen Maria Aegyptiaca im deutschen Sprachgebiet, Berlin 1969 (Philologische Studien und Quellen 49), S. 101f. (Edition S. 82-87); ders., „Deutschsprachige Pelagia-Legenden des Mittelalters“, in: Pélagie la pénitente. Métamorphoses d’une légende. Bd. 2 La survie dans les littératures européennes, hg. von Pierre Petitmengin u. a., Paris 1984, S. 295-335 (Edition S. 322-328); Madeleine Boxler, „ich bin eine predigerin und appostlorin“. Die deutschen Maria Magdalena-Legenden des Mittelalters (1300-1550). Untersuchungen und Texte, Bern u. a. 1996 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 22) (Edition der Maria Magdalena-Legende S. 367-374, Edition von Ps.-Origenes, Homilia de Maria Magdalena, S. 537-544). Zur Perpetualegende vgl. Julia Weitbrecht, „Maternity and Sainthood in the Medieval Perpetua Legend“, in: Perpetua’s Passions. Multidisciplinary Approaches to the ‚Passio Perpetuae et Felicitatis‘, hg. von Jan N. Bremmer und Marco Formisano, Oxford u. a. 2012, S. 150-166. 12 Ich reformuliere hier das von Peter Strohschneider in Bezug auf wissenschaftliche Sammlungen (und mit durchaus hochschulpolitischer Agenda) benannte „Spannungsfeld von Latenz und Faszination“ in Bezug auf einen religiösen Zusammenhang, der auf ganz eigene Weise auratische und latente Aspekte vereint. Strohschneider (wie Anm. 7), S. 12. 13 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 7ra. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 174. Sammlung weist in Auswahl und Redaktion einen starken Gestaltungswillen im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Brautschaft auf. Dies wird auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar: In der Auswahl, Anordnung und Bearbeitung der legendarischen Texte, der Kommentierung einzelner Passagen sowie in den Paratexten, insbesondere der umfangrei‐ chen Vorrede. 11 Hier lässt sich ein spezifisches Zusammenspiel von Sammlungspraktiken erkennen, die einerseits auf die Konservierung religiöser Leitbilder im Sinne von memoria abheben, andererseits zu deren Aktualisierung im Sinne von Nachahmung und Nachfolge anleiten sollen. 12 Diese unterschiedlichen Sammlungsaspekte kommen in gewisser Weise in einer Person zusammen, denn Regulas Konzeptualisierung von Brautschaft ist durch die gesamte Sammlung in auffälliger Weise mit der Heiligen Agnes verbunden. Bereits in ihrer ausführlichen Vorrede verweist Regula auf sie, wenn sie Jungfräulichkeit als die vornehmste religiöse Lebensform profiliert und dafür Teile des Hohenliedes brautmystisch auslegt. Im Mittelpunkt stehen die Tugenden, die den Jungfrauen aus der Christusnähe erwachsen: Also daz heiße wirt in dem kalten vertriben / also macht Christus von sünden rein / mit demütikeit vertribet er die hohfart / mit küschheit die unküschheit . Davon sprach Sanct Agnes . So ich in rüren / so bin ich reine / so ich in mynne / so bin ich küsche . so ich in nemen / so bin ich maget .  13 Mit diesen Worten weist die römische Jungfrau Agnes einen zudringlichen Verehrer ab, da sie bereits einen anderen, besseren Verlobten habe. Für diesen - es handelt sich natürlich um Christus - erleidet Agnes geduldig das Martyrium und wird durch die himmlische Vereinigung mit ihrem sponsus belohnt. In einer für legendarisches Erzählen charakteris‐ tischen argumentativen Bewegung werden bestehende Rollenmodelle umgewertet und in etwas Neues transformiert: In der Verbindung mit Christus wird das Unreine rein, das Unkeusche keusch, und es wird der Verzicht auf eine weltliche Verbindung zum 163 Sammeln als literarische und religiöse Praxis 14 Das Folgende geht zurück auf Julia Weitbrecht, „Brautschaft und keusche Ehe“, in: Weitbrecht u. a. (wie Anm. 2), S. 159-172. 15 Vgl. Michael Lapidge, The Roman Martyrs. Introduction, Translations, and Commentary, Oxford u. a. 2018, S. 348-362; Steffen Diefenbach, Römische Erinnerungsräume. Heiligenmemoria und kollektive Identitäten im Rom des 3. bis 5. Jahrhunderts n. Chr., Berlin 2007 (Millennium-Studien 11); Hannah Jones, „Agnes and Constantia. Domesticity and Cult Patronage in the Passion of Agnes“, in: Religion, Dynasty, and Patronage in Early Christian Rome 300-900, hg. von Kate Cooper und Julia Hillner, Cambridge u. a. 2007, S. 115-139. 16 Vgl. Ernst Schäfer, „Agnes“, in: RAC, Bd. 1, Stuttgart 1950, Sp. 184-186. 17 Ambrosius, De virginibus = Über die Jungfrauen, übers. und eingel. von Peter Dückers, Turnhout 2009 (Fontes Christiani 81), I.2, S. 99-113. 18 Passio Agnetis, in: Acta Sanctorum, Tomus II (21. Januar), Antwerpen 1734, S. 350-363. Diese Zuschreibung findet sich bis heute in der Forschung, vgl. etwa Bruno Jahn, „Agnes“, in: Deutsches Literatur-Lexikon. Das Mittelalter, Bd. 2: Das geistliche Schrifttum des Spätmittelalters, hg. von Regina D. Schiewer und Werner Williams-Krapp, Berlin/ Boston 2011, Sp. 226 f., hier Sp. 226. 19 Jones (wie Anm. 15), S. 124f. 20 Nach der Passio Agnetis sowie einer weiteren Märtyrerpassion, der Passio Gallicani, vgl. Diefenbach (wie Anm. 15), S. 156f., Anm. 290. Zur Identifikation von Agnes und Constantia/ Constantina vgl. Jones (wie Anm. 15), S. 118f. Im Jahr 354 wurde die Stifterin hier bestattet, vgl. Diefenbach (wie Anm. 15), S. 106f. 21 Schäfer (wie Anm. 16), Sp. 184f. Gewinn. Dieses Transformationsmoment der spirituellen Brautschaft erscheint nun ganz zentral für die Aktualisierung weiblicher Leitbilder im Rahmen monastischer Lebensform und Sammlungspraxis. Angelegt ist es bereits in der lateinischen Passio Sanctae Agnetis, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Sie bildet die Grundlage der mittelalterlichen Legendarfassungen und damit auch des Bůch der heilgen megde und frowen, in dessen Sammlungskontext Agnes als prototypische Braut Christi auf spezifische Weise aktualisiert wird. 14 I Heiligkeit und Brautschaft in der Passio Agnetis Agnes wird erstmals in der Depositio martyrum des Chronographen von 354 erwähnt, 15 weitere Belege finden sich bei den Kirchenvätern Damasus, Ambrosius und Prudentius. 16 Mit knappem Motivinventar wird das Leben der Heiligen in Ambrosius’ De virginibus weniger erzählt als topisch aufgerufen, 17 als Legende entfaltet wird es erst in der anonymen, lange Zeit ebenfalls Ambrosius zugeschriebenen Passio S. Agnetis, 18 die vielleicht ins späte 5. oder frühe 6. Jahrhundert datiert werden kann. 19 Diese Datierung beruht auf der in Rom seit dem 4. Jahrhundert an Bedeutung zunehmenden Märtyrerverehrung, in der Agnes eine tragende Rolle spielt. Wichtige Kultzentren bilden Sant’Agnese in Agone (am angeblichen Ort ihres Martyriums) sowie die über ihrer Grabstätte errichtete Sant’Agnese fuori le mura. Letztere wurde über der Katakombe errichtet und in den 340er Jahren im Auftrag der Tochter Kaiser Konstantins, Constantia, der Agnes geweiht. Der Legende nach war Constantia zuvor am Grab der Heiligen von Lepra geheilt worden. 20 In der Verehrung der Agnes dominiert somit ihr Status als Märtyrerin, jedoch setzt die Passio Agnetis bei der Profilierung andere Akzente: Während die Darstellung des Märtyrertodes in den spätantiken Belegen differiert, heben zugleich alle hervor, dass Agnes „außer der Krone des Martyriums auch die Krone der Jungfräulichkeit erwarb.“ 21 Sie 164 Julia Weitbrecht 22 Passio Agnetis (wie Anm. 18), I.3, S. 351. 23 Susanna Elm, „Die sponsa Christi und der marriage plot. Eine neue Rolle für Frauen und ihre Entwicklung im spätrömischen Reich“, in: Braut Christi. Familienformen in Europa im Spiegel der ‚sponsa‘, hg. von Susanna Elm und Barbara Vinken, München/ Paderborn 2016, S. 25-43, hier S. 33. 24 Hannah Jones führt das Erzählmuster in Verbindung mit dem Martyrium auf die Acta Theclae zurück: „The quasi-love triangle between Thecla, Thamyris, and Paul is often reproduced in the martyr legends, not least that of Agnes, in the form of the virgin-martyr, her mortal suitor, and Christ.“ Jones (wie Anm. 15), S. 129. Als „apostolic love triangle“ bezeichnet den Zusammenhang Kate Cooper, The Virgin and the Bride. Idealized Womanhood in Late Antiquity, Cambridge, Mass. 1996, S. 51. 25 Virginia Burrus, „Reading Agnes. The Rhetoric of Gender in Ambrose and Prudentius“, in: Journal of Early Christian Studies 3 (1995), S. 25-46. Vgl. dies.: „Torture and Travail. Producing the Christian Martyr“, in: A Feminist Companion to Patristic Literature, hg. von Amy-Jill Levine und Maria Mayo Robbins, London 2008, S. 56-71; Joyce E. Salisbury, Church Fathers, Independent Virgins, London 1991. 26 Vgl. zu diesem Zusammenhang in den apokryphen Apostelakten Julia Weitbrecht, Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters, Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 29-59. verweigert die Ehe mit dem Sohn des Präfekten von Rom, weil sie bereits einem anderen versprochen sei, der ihr als Unterpfand der Verbindung kostbaren Schmuck und Edelsteine sowie prächtige Kleider übergeben und ihr weitere unvergleichbare Schätze (thesaur[i] incomparabiles) 22 in Aussicht gestellt habe. Diese Kostbarkeiten erhalten in geistlicher Auslegung in der Rezeption noch große Bedeutung, doch das Motiv verweist zugleich darauf, dass im spätrömischen Reich der rechtliche Status von Verlobten gestärkt wurde und donationes ante nuptias an Bedeutung gewannen, also substantielle Verlobungsgeschenke, die das eheliche Vermögen begründeten und im Falle einer Auflösung der Verbindung Eigentum der sponsa blieben. 23 Dieser Bezug ist bedeutsam für die Frage nach der Konzeptualisierung asketischer Lebensformen, denn die Passio Agnetis profiliert ein keusches und eheloses Leben, das über die Berufung auf eine Verlobung mit Christus zugleich an zeitgenössischen weltlichen Be‐ ziehungsformen orientiert bleibt. Agnes tritt nicht als Verzichtende auf, sondern als jemand, der ‚bereits vergeben‘ ist und auch im Selbstbewusstsein des sozialen und ökonomischen Status auftritt, der damit verbunden ist. Keuschheit erscheint hier weniger als Verzicht denn als Form der Erwähltheit, die der sponsa eine gewisse Autonomie verleiht. Die in der Passio nachfolgend geschilderten Bewährungsproben sind daher zugleich auch Beziehungsgeschichten, denn im fortwährenden metaphorischen Bezug auf Agnes’ himmlischen Bräutigam wird die Legende in auffälliger Weise als eine Dreiecksgeschichte erzählt, in deren Zentrum die umkämpfte Jungfrau steht. 24 Den Zudringlichkeiten des Werbers begegnet Agnes stets mit dem Verweis auf ihren viel besseren und würdigeren Bräutigam, ein Vergleich, dem der von Liebeskrankheit ergriffene junge Patrizier nicht standhalten kann. Hier spielt der spätantike Text bekannte Motive aus pagan-antiken Liebesromanen ein, die von der schicksalhaften Trennung und Wiedervereinigung junger Liebender oder Eheleute erzählen, welche zahllosen Widerständen und Nachstellungen ausgesetzt sind, bevor sie wieder zueinander finden. 25 Insbesondere den jungen Frauen wird dabei permanent durch Verehrer nachgestellt, die ihnen alles Mögliche, durchaus auch thesauri incomparabiles, in Aussicht stellen. Dieses Erzählmuster ist schon früh in christlichen Zusammenhängen adaptiert worden. 26 165 Sammeln als literarische und religiöse Praxis 27 Passio Agnetis (wie Anm. 18), II.9, S. 352. 28 In dieser Inszenierung städtischer Autorität sieht Hannah Jones den entscheidenden Bezugspunkt für ein spätantikes stadtadliges Publikum und die Funktionalisierung der Passio im Patronatskontext. Jones (wie Anm. 15), S. 135-139. 29 Passio Agnetis (wie Anm. 18), II.12, S. 352. Auch die Passio Agnetis erzählt die Heiligwerdung als Transformation sozialer Bezie‐ hungen in einer Episodenreihe von Verfolgungen, die am römischen Rechtssystem und seinen Autoritäten ansetzen. Der Vater ihres Verehrers, der Präfekt von Rom, stellt es Agnes frei, seinen Sohn zu heiraten oder sich den Vestalinnen anzuschließen. Natürlich lehnt sie beides ab, also wird sie ins Bordell verbracht. Als man sie dort zu entkleiden versucht, wachsen durch ein Wunder ihre Haare so lang, dass sie ihren Körper ganz bedecken. Zugleich erscheint Agnes von blendendem Licht umgeben, so dass sie weder berührt noch angesehen werden kann. Nicht nur rhetorisch in den Reden der Agnes, auch auf der Handlungsebene werden Bekehrung, Umwertung und Transformation inszeniert: Das Bordell wird nun zu einem locus orationis  27 , einem Ort des Gebets und der Reinigung. Als der liebestolle Werber in diesen geheiligten Raum eindringt und erneut versucht, Agnes zu berühren, wird er von einem Teufel getötet. Aber der Rivale soll ja nicht ausgeschaltet, sondern zum Guten bekehrt werden: Agnes erweckt ihn also wieder zum Leben und er konvertiert zum Christentum. Sie wird daraufhin der Hexerei angeklagt und erneut dem Präfekten vorgeführt. Nachdem dieser - ebenfalls von Agnes bekehrt - sein Amt aufgegeben hat, wird sie von einem neuen Richter, Aspasius, schließlich zum Tod verurteilt. 28 Zur Modellierung religiöser Leitbilder im Spannungsfeld von Askese und Geschlecht wird in der Passio Agnetis somit das Motiv der verfolgten Unschuld dazu genutzt, ein weibliches Martyrium zu erzählen, das weniger als Auslöschung des weiblichen Körpers in extensiven Foltern imaginiert wird, als es sich vielmehr in den zahlreichen Widerständen manifestiert, die Agnes erleiden muss und denen sie gelassen begegnet. Auf dem Spiel steht ihre gesamte, körperliche, soziale wie rechtliche Integrität. Und ebenso wie die Romanhel‐ dinnen treu und keusch aus allen Bewährungsproben hervorgehen, um anschließend zu ihren Verlobten zurückzukehren, übersteht auch Agnes unangetastet alle Nachstellungen, um schließlich mit ihrem himmlischen Gespons vereint zu werden. Über den Rückgriff auf antike Darstellungstraditionen idealisierter Weiblichkeit wird so das äußerst wirkmächtige Heiligenideal der jungfräulichen Märtyrerin als sponsa Christi modelliert. Als einen narrativen Kulminationspunkt könnte man dabei die Konversion der beiden Antagonisten ansehen, durch die das destruktive männliche Begehren transformiert wird. Die Agneslegende ist somit weniger über das Martyrium organisiert als über die Abweisung der irdischen und die Erlangung himmlischer Brautschaft, für die der Opfertod das Verbindungsglied bildet: ‚Und indem sie durch diesen Tod mit der rosenfarbenen Röte ihres Blutes übergossen wurde, weihte Christus sie sich zur Braut und Märtyrerin.‘ (Atque hoc exitu roseo sui sanguinis rubore perfusam, Christus sibi sponsam & Martyrem consecrauit.) 29 Dieses Martyrium ist Bluttaufe, Hochzeit und Weihe zugleich, so dass der vereinzelnde Tod in eine neue Verbindung unter christlichen Prämissen führt. Das Heiligkeitsmodell der Brautschaft besitzt dabei eine Integrationskraft, die nicht nur die Liebesvereinigung von sponsa und sponsus betrifft, sondern auf Erden weiter 166 Julia Weitbrecht 30 Ebd., III.16, S. 353. 31 „Mit anderen Worten war das Ideal und die Realität der sponsa Christi auch immer eine Form der Familie in Christo.“ Susanna Elm und Barbara Vinken, „Braut Christi. Familienformen in Europa im Spiegel der sponsa“, in: Braut Christi (wie Anm. 23), S. 7-24, hier S. 16. Den Aspekt der Gemeinschaftsbildung aus der Absonderung heraus hat Johannes Traulsen für die Rezeption asketischer Konzepte in den mittelalterlichen Bearbeitungen der Vitaspatrum deutlich gemacht, vgl. Johannes Traulsen, Heiligkeit und Gemeinschaft. Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im Väterbuch, Berlin/ Boston 2017 (Hermaea N. F. 143). fortwirkt. Die Passio schließt mit einer Reihe von Wundern, die sich an Agnes’ Grab abspielen. Ihre Eltern begraben sie auf ihrem eigenen Land an der Via Nomentana; dort erscheint ihnen Agnes inmitten einer Schar von Jungfrauen (und mit dem ikonischen Lamm) und fordert die Trauernden auf, sich über ihren Tod zu freuen. Anschließend erfolgt die oben genannte Heilung Constantias, welche den Kirchenbau und die Gründung eines Ordens bewirkt, da sich auf dieses Wunder hin Constantia zahlreiche Jungfrauen aller Stände (multæ virgines, & mediocres, & nobiles, & illustres) 30 einem Leben in Keuschheit anschließen. Jungfräulichkeit, Ehelosigkeit und Selbstopfer werden in der Passio Agnetis umgewertet und münden in die Erfüllung einer himmlischen Hochzeit. Zugleich begründet dies aber auch neue soziale Zusammenhänge und Gemeinschaften, 31 die für die Rezeption der Agneslegende in mittelalterlichen Klosterzusammenhängen von Bedeutung ist. II Brautschaft und Jungfräulichkeit im Kontext mittelalterlicher Legendensammlungen Die in Spätantike und frühem Mittelalter emergierenden religiösen Leitbilder sind - im Sinne von Heiligkeit e n - divers und speisen sich aus unterschiedlichen, literarischen wie in der Heiligenverehrung begründeten Zusammenhängen. Für die nachfolgende Legendenrezeption und -produktion kommt den mittelalterlichen Sammlungen zweifellos besondere Bedeutung zu. Während meist die Bedeutung der ‚Legendae novae‘, insbesondere der Legenda Aurea, für die Prozesse der Kürzung, Vereinheitlichung und Sammlung hagiographischer Überlieferung, gerade auch der volkssprachlichen, hervorgehoben wird, eröffnet der Blick auf Textreihen von Einzellegenden wie auch auf spezifische Sammlungs‐ kontexte dagegen eine Vielfalt an erzählerischen Möglichkeiten im Spannungsfeld von Kommemoration und imitativer Aktualisierung. Das wird auch anhand der in der Passio Agnetis aufgezeigten sozialen Dimension der Brautschaft Christi deutlich. Diese wird in den mittelalterlichen Bearbeitungen der Agneslegende aufgenommen und auf die eigene Gegenwart bezogen. Im Anschluss an die bereits benannten Wunder, die sich rund um das Grab der Agnes ereignen, verzeichnet die Legenda Aurea zusätzliche Mirakel, in denen das eingangs aufgerufene Motiv des Rings (in der Passio ist es ein Armreif) als Zeichen der Verlobung mit Christus wieder aufgenommen und auf die Beziehung zu Agnes’ Verehrer übertragen wird. Funktional beruht dieses Verhältnis auf intercessio, also der Vorstellung, dass die Heiligen zwischen Gott und den Gläubigen in besonderer Weise vermitteln können. Semantisch bleibt die Verbindung zur Heiligen auch hier in auffälliger Weise an weltliche Beziehungsformen gebunden, wenn 167 Sammeln als literarische und religiöse Praxis 32 Jacobus de Voragine/ Jacopo da Varazze, „De sancta Agnete“, in: Legenda aurea - Goldene Legende. Legendae Sanctorum - Legenden der Heiligen. Einleitung, Edition, Übersetzung u. Kommentar von Bruno W. Häuptli, Bd. 1, Freiburg/ Breisgau 2014 (Fontes Christiani Sonderbd.), S. 395-403, hier S. 400. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Im Bůch von den heilgen megden und frowen heißt es, er sein fortan ein getrüwer sponsus in der kuschen mynne sant Agnesen geblieben. Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 62ra. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 189. die bräutliche Verbindung von Agnes und Christus auf die Beziehung der Heiligen zu ihren Verehrern übertragen wird. Zunächst wird von einem Priester in der Kirche der Hl. Agnes namens Paulinus berichtet, der von der Versuchung des Fleisches geplagt wird und, ‚da er Gott nicht beleidigen wollte‘ (sed cum deum offendere nollet) 32 , den Papst um Erlaubnis bittet, eine Ehe schließen zu dürfen. Dieser gibt ihm einen schönen Smaragdring, den er ‚dem schönen Bild der heiligen Agnes, das in seiner Kirche gemalt war‘ (imagini formosae beatae Agnetis, quae in sua ecclesia depicta erat) 33 , übergeben und diese(s) um Erlaubnis bitten solle, eine Ehe eingehen zu dürfen. Daraufhin streckt Agnes einen Finger aus dem Bild und lässt sich den Ring selbst anstecken; der Priester ist fortan von aller Unkeuschheit befreit. Ein zweites Mirakel ereignet sich laut Legenda Aurea in späterer Zeit: Als die Kirche der heiligen Agnes einstürzte, sagte der Papst einem Priester, er wolle ihm eine Braut zuhalten, die er hegen und pflegen solle - er meinte die Kirche der heiligen Agnes -, gab ihm einen Ring mit dem Auftrag, sich mit dem besagten Bild zu verloben. (Alibi tamen ligitur, quod, cum ecclesia sanctae Agnetis rueret, papa cuidam sacerdoti dixit se sibi velle quandam sponsam custodiendam et nutriendam, scilicet ecclesiam sanctae Agnetis, committere. Dansque ei anulum iussit, ut dictam imaginem desponsaret.) 34 Daraufhin streckt Agnes einen Finger aus dem Bild und lässt sich den Ring anstecken. Das symbolische Schmuckstück, das Agnes zu Beginn der Legende dem Werber gegenüber als Unterpfand ihrer Verlobung mit Christus nennt, kehrt konkret-materiell wieder: Intratex‐ tuell arbeitet die Agneslegende weiter am Konzept der Brautschaft Christi: Zunächst wird die Heilige als Verlobte des Gottessohnes ihren ursprünglichen sozialen Zusammenhängen enthoben, um dann selbst als transformierte sponsa und Interzessorin erneut verfügbar zu werden. In den mittelalterlichen Legendarfassungen erweist sich Brautschaft als vielfältig übertragbar: Im ersten Ringmirakel wird die spirituelle Nähebeziehung von Christus und Agnes auf diejenige zum Gläubigen transferiert, die diesen, wie zuvor Agnes, vor Versuchungen absichert. 35 Im zweiten Ringmirakel wird die allegorische Übertragung der Braut auf die Kirche dahingehend konkretisiert, dass die der Heiligen geweihte Kirche mit der Verlobung dem Schutz des Priesters anempfohlen wird. Dabei wird die historische Distanz zur Heiligen an der verfallenden Kirche sichtbar; zugleich werden im Wunder die unterschiedliche Zeithorizonte kurzgeschlossen. In den mittelalterlichen Bearbeitungen der Legende wird über dieses Beziehungsmodell offenbar nicht nur das religiöse Leitbild der sponsa Christi konserviert, das ja nicht ganz ohne ‚Eigensinn‘ ist, sondern auch das in der Zukunft liegende Fortdauern der von Agnes begründeten Institution organisiert. Hier wird eine Erweiterung des Konzepts spiritueller 168 Julia Weitbrecht 36 Auch hier wird deutlich, dass die als Predigthandbuch konzipierte Legenda Aurea in Bezug auf die Pragmatik von Legendensammlungen nicht unbedingt den Regelfall abbildet. 37 Vgl. Edith Brigitte Archibald, „Bride of Christ/ Brautmystik“, in: Women in the Middle Ages. An Encyclopedia, hg. von Katharina Margit Wilson und Nadia Margolis, Bd. 1, Westport, Conn. 2004, S. 122-126; Werner Williams-Krapp, „Mystikdiskurse und mystische Literatur im 15. Jahrhundert“, in: Neuere Aspekte germanistischer Spätmittelalterforschung, hg. von Freimut Löser, Robert Steinke, Klaus Vogelgsang und Klaus Wolf, Wiesbaden 2012 (Imagines medii aevi 29), S. 261-286. 38 Vgl. Breith (wie Anm. 11), S. 108-110. 39 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 59ra-rb. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 185. Brautschaft sichtbar, die sicherlich auch mit den veränderten Funktions- und Gebrauchs‐ zusammenhängen der mittelalterlichen Legendensammlungen zu tun hat, die insbesondere zur kollektiven Rezeption in klösterlichen Gemeinschaften entstehen. 36 Brautschaft Christi dient nicht mehr primär dazu, ein Heiligkeitsmodell allererst zu etablieren. In den vielfäl‐ tigen, metaphorischen und konkreten Verbindungen von heiliger Jungfrau, Braut und Kirche (im Sinne sowohl der Institution als auch des architektonischen Ensembles) wird über die Brautsemantik ein Geflecht himmlischer und irdischer Beziehungen entworfen und für unterschiedliche Rezeptionszusammenhänge verfügbar gemacht. Dieser Zusammenhang geht im Fall des Bůches von den heilgen megden und frowen weit über die Einzellegende hinaus und betrifft nunmehr die Konzeption der gesamten Sammlung. Diese beruht auf dem Heiligkeitsmodell von spiritueller Brautschaft, das im Kontext der spätmittelalterlichen Brautmystik noch intensiviert wird. 37 Die Schreibmeis‐ terin Regula schöpft aus der ganzen Fülle dieser Tradition, erzählend, kommentierend und auslegend, wobei Agnes auf verschiedenen Ebenen als Identifikationsfigur für die Klosterschwestern eingesetzt wird. Wie eingangs erwähnt, wird sie in Regulas Vorrede in Zusammenhang mit den Tugenden genannt, die den Jungfrauen aus der innigen Beziehung zu Christus erwachsen. Bereits an dieser Stelle ruft Regula das Transformationspotential der spirituellen Brautschaft auf, welche Unkeuschheit in Keuschheit, Unreinheit in Reinheit zu verwandeln vermag. Diese Tugenden spielen, wie Astrid Breith hervorhebt, innerhalb der Sammlung eine maßgebliche wirkungsästhetische Rolle, denn die Rezipientinnen des Bůches von den heilgen megden und frowen sind - qua keuscher Lebensführung - ebenfalls heilge megde. 38 Dass der didaktische Einsatz von Legenden weiblicher Heiliger im Frauen‐ kloster mit spezifischen Affizierungsstrategien einhergeht, wird an einer eigenständigen Passage der Agneslegende besonders deutlich, die offenbar von Regula selbst hinzugefügt wurde. Aus dem dramatischen Geschehen des Haarwunders im Bordell heraus adressiert sie das Publikum direkt: Da gebot der Richter daz man si nacket ußzüge und sie fürte in ein offen huß zu den sünden. O Christe Jesu . wes gestatestu daz din brůt die dich so ser gerümet und gelobet hat nů geuneret wirt . sich si stet naket on kleit . daz lidet sie durch dich Wo ist nů die ere die du dinen jungfrowen bütest . Were balde und komme der megde zu hilffen oder man uneret si zu den sunden . Nu zwifelnt nit ir heilgen megde Sehet wie balde in ein ere gewandelt ist . daz der vyant dieser jungfrowen zu schanden hat gedacht .  39 An dieser Stelle werden nun die Prüfungen der Agnes auf die stets gefährdete Ehre aller christlichen Jungfrauen bezogen, zu denen neben den in der Sammlung vertretenen Heiligen auch die angesprochenen Klosterschwestern zählen (ir heilgen megde). Diese Erweiterung auf das Kollektiv der Jungfrauen vollzieht Regula auch in ihren allegorischen 169 Sammeln als literarische und religiöse Praxis 40 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 58rb. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 184. 41 Vgl. Kunze, „Alemannische Legendare (I)“ (wie Anm. 5), S. 33 mit Verweis auf Bibliotheca Sanctorum, Bd. IX, Rom 1967, S. 805. 42 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), 192ra-rb. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 257. 43 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 192va-vb. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 258. Auslegungen. In Zusammenhang mit den Schmuckstücken, die Agnes von ihrem Verlobten erhalten hat, weist sie darauf hin, dass es sich bei dem Ring um das vingerlin seins glaubens handelt. 40 Brautschaft als Lebensform steht allen Frauen offen, die bereit sind, diesen Ring anzunehmen und sich durch den Glauben mit Christus zu vermählen. Über intertextuelle Bezüge eröffnet Regula in der Anlage der Sammlung ein weites Spektrum an Formen von Brautschaft und Heiligkeit, die über imitatio verbunden sind - imitatio Christi, aber durchaus auch imitatio Agnetis. Die Agneslegende dient nämlich nicht nur als Leitbild, sondern auch als Modell für weitere Legenden heiliger Frauen, wie an der Heiligen Neophyta deutlich wird. Zunächst einmal ist die Legende dieser eher unbekannten Märtyrerheiligen 41 (wie viele andere auch) ganz nach dem Vorbild der Heiligen Agnes gestaltet: Sie hat sich bereits für ein gottesfürchtiges Leben entschieden, als ein spanischer Prinz in Liebe zu ihr entbrennt. Dieser entführt sie aus dem Kloster, in dem ihre Eltern sie versteckt halten. Als Neophyta ihm gegenüber standhaft bleibt, enthauptet er sie und ihre acht Begleiterinnen. Regula stellt sich und ihren Rezipientinnen nun die Frage, warum denn auch die acht gespielen Neophytas getötet worden seien, obwohl doch nur die Heilige sich der Ehe verweigert habe. Nach ausgiebiger Erörterung kommt die Kompilatorin zu dem Schluss, dass Gott auch diese Mädchen zuvor ausersehen habe, und verweist erneut auf die Fruchtbarkeit der gnadenhaften Erwählung: Und gotes wale gab in die wirdikeit . daz si darzu komen mochtent . Herumb badent sie alle vorhin umb gottes gnade . daz er si wirdig mechte zu liden . davon sprach Christus in dem Ewangelio . Ich han uch erwelet von der welte. daz ir gent und fruchte bringent .  42 Auch hier bezieht Regula das Paradox der Erfüllung im Verzicht auf die gesamte Gruppe der Jungfrauen und verbindet dies mit dem Status der Brautschaft. Als Bräute Christi nämlich dürfen sich diese erwählten Frauen mit solichen worten als man übet in der welte bezeichnen, weil ihre Liebe zu Christus eine besondere Qualität hat: Und davon als der brüte liebe zu irem gemahel . Und des gemahel zu siner brüde merer sol sin . dan ander mynne . Davon nennent sich die megde gotes brüde.  43 Dem Bericht über den Tod der Frauen sowie den Verbleib ihrer Körper und Reliquien schließt sich ein weiterer Kommentar darüber an, wie diese Legende im Sinne kollektiver Brautschaft Christi zu verstehen ist. Auch hier wird Agnes als Leitbild aufgerufen, nicht nur aufgrund ihrer vorbildlichen Lebensführung, sondern auch in Bezug auf ihre rhetorischen Fähigkeiten zur Auslegung der Geschenke gegenüber ihrem heidnischen Werber: Nach der selben gewonheit . beschreinent [sic] die megde gottes . die gnade die er an sie leget . mit glichniße der kleineter die man in der welt git Also sant Agnes sprach . er hat mich syme vingerlin gemehelt . und meinet des heiligen glauben gantze truwe der sie got nye abeging . Sie sprach auch er 170 Julia Weitbrecht 44 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 193rb. Meine Transkription, ab Also vgl. Breith (wie Anm. 11), S. 119. 45 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 193va. Meine Transkription. 46 Breith (wie Anm. 11), S. 162. 47 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 208rb. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 265. hat ein zeichen an myn antlit gesetzt . dz ich keinen andern liephaber zu laßen mag . dan in . und meynet da by die stercke der gedult in liden . und die langwerende . stetikeit.  44 Auch dieser Kommentar verweist auf eine kollektive Erweiterung der Brautschafts‐ idee im Hinblick auf a l l e Frauen, die keusch leben, und bieten ihnen mit den glichniße[n] der kleineter, also der Metaphorik der thesauri incomparabiles, eine eigene Sprache dafür an. Regulas Zusätze artikulieren neben der konkreten Anleitung zum gottesfürchtigen keuschen Leben somit auch eine Rhetorik der Selbstbeschreibung. Begleitet werden diese Identifikationsangebote für das klösterliche Kollektiv durch Lektüreanweisungen, welche die Sammlung organisieren: und also kömet es daz sich die heiligen megde gottes brüd hant genant . des man in dem anfang deß buoches me vindet und auch anderswo geschriben.  45 Im Blick auf die eingangs gestellte Frage nach konservierenden und auf Aktualisierung abhebenden Sammlungspraktiken zwischen Aura und Latenz wird deutlich, dass im Bůch von den heilgen megden und frowen Heiligenlegenden aus unterschiedlichen historischen Überlieferungszusammenhängen auf eine Weise gesammelt, redigiert und angeordnet werden, die neben der Vermittlung religiöser Leitbilder ein weites Spektrum an aktuali‐ sierenden Lektüren und konkreten Anleitungen zur religiösen Lebensführung offeriert. Nur selten haben wir in diesem Maße Zugriff auf die Strategien der Latenzverwaltung mittelalterlicher Sammlerinnen und Kompilatorinnen wie im Fall der Schreibmeisterin Regula. In einem elaborierten System knüpft sie Legenden, Kommentare und Auslegungen zu einem „Sinngeflecht […], welches aus Facetten von Brautliebe und Christusnachfolge zusammengesetzt ist und die Einzeltexte zusammenbindet.“ 46 Als eine Art Kontaktperson setzt sie dabei die Heilige Agnes ein, die auf verschiedenen Ebenen als prototypische Braut Christi auftritt und unterschiedliche Anleitungen zur Lektüre, Auslegung und konkreten Nachahmung vermittelt. Die dafür konstitutive Idee von spiritueller Brautschaft beruht auf dem unter anderem in der Passio Agnetis entwickelten Leitbild, doch geht Regula über die einzelne Heilige und auch über die in den Ringmirakeln der Legenda Aurea erzählte Übertragung solcher Beziehungsstrukturen auf Einzelne hinaus und fokussiert die Sammlung, wenn sie immer wieder die Gemeinschaft adressiert und ihren Rezipientinnen deren Erwähltheit - denn auch sie sind sponsae Christi - vor Augen führt. Brautschaft verbindet somit als Leitkonzept die gesamte Textsammlung und besitzt zugleich auch eine integrative Funktion für die klösterliche Rezeptionsgemeinschaft. Das Korpus der heilgen megde schließt auch das Korps der Klosterfrauen mit ein, so dass das Bůch von den heilgen megden und frowen letztlich alle tugendhaften Frauen - die vergangenen und die gegenwärtigen, die papierenen und die aus Fleisch und Blut - versammelt. Dieses Sammlungsprinzip vermag in einem einzelnen Fall sogar das Geschlecht zu suspendieren, denn auch der Heilige Heinrich, ein liephaber der küscheheit, 47 erhält im Anschluss an die Legende seiner Ehefrau Kunigunde Aufnahme in das Frauenlegendar, wenn Regula ihn 171 Sammeln als literarische und religiöse Praxis 48 Cod. Lichtenthal 69 (wie Anm. 9), Bl. 209va. Transkription nach Breith (wie Anm. 11), S. 266. aufgrund seiner enthaltsamen Lebensführung gewissermaßen zur Jungfrau ehrenhalber erhebt: Syt nu keiser Heinrich ir sponsen kusche maget starp . so mögen wir auch ziemlich von Im sagen. 48 172 Julia Weitbrecht 1 Dominus et Magister noster Iesus Christus, dicendo poenitentiam agite etcetera omnem uitam fidelium, poenitentiam esse uoluit. Disputatio D. Martini Luther theologi, pro declaratione virtutis indulgen‐ tiarum [Basel: Adam Petri, nach 31.10.] 1517, Bl. a j v . 2 Johannes Trithemius, Liber de scriptoribus ecclesiasticis. Basel: [ Johannes Amerbach, nach 28.8.1494]. GW M47578; das folgenden Zitat hier Bl. 134 v . Brant erscheint hier mit seinem latinisierten Familien‐ namen (titio ‚Feuersbrand, brennendes Scheit‘) als Sebastianus Ticio alias Brant Argentinensis natione teutonicus utriusque iuris professor insignis […]. Benutzt wurde das Exemplar aus der Bibliothek Hartmann Schedels, das dieser rubriziert und annotiert hatte, heute München, BSB, 2° Inc. c. a. 3118. Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte Recht, Theologie, Bibel und Literatur in Sebastian Brants Marginalien zur Stultifera navis (1497) Nikolaus Henkel Der Druck des Narrenschiffs ist im Kolophon auf den Tag genau datiert: vff die Vasenaht des Jahres 1494. Der Termin ist von liturgischer Bedeutung und unmittelbar mit der von Brant beabsichtigten Sinnstiftung verbunden. Die Fastnacht bezeichnet den Tag bzw. den Abend vor Beginn der Quadragesima, der vierzigtägigen Fasten- und Bußzeit vor dem Osterfest. Und immer wieder bringt Brant in seine Dichtung den Gedanken ein, dass der Mensch sich in seinem Tun und seiner Fehlbarkeit allzeit seiner Endlichkeit und des Jüngsten Gerichts bewusst sein muss. Der Weg aus der Fehlbarkeit des Menschen/ Narren führt über die von Brant immer wieder eingeforderte Selbsterkenntnis. Sie gründet indes nicht auf dem gnothi seauton der griechischen Popularphilosophie, sondern auf dem Bußgedanken der Kirche. Noch Martin Luther, ein hervorragend gebildeter Katholik, formulierte am Abend vor dem Allerheiligenfest 1517 als erste seiner 95 Thesen: ‚Unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: Tut Buße etc., und wollte, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei‘. 1 Diesem Ziel, das auf dem Wege der Gewissenserforschung und Selbsterkenntnis erreicht werden soll, dient auch Brants Narrendichtung. Nur wenige Monate, nachdem das Narrenschiff in Basel veröffentlicht ist, im Früh‐ sommer 1494, erscheint bereits die erste ‚Rezension‘ des Werks. Johannes Trithemius, Abt des Benediktinerklosters Sponheim im Rheingau, bringt in seinem Liber de scriptoribus ecclesiasticis eine komplette Würdigung Brants als eines hervorragenden Juristen und Verfassers sowohl religiöser wie auch weltlicher Werke. 2 Er fügt zunächst eine Liste ein‐ zelner (lateinischer) Dichtungen an und erwähnt an deren Ende: Variorum epigrammaton 3 Ich folge dem Druck in Graphie und Interpunktion; Abbreviaturen sind aufgelöst, die s- und r-Formen vereinheitlicht. Zugefügt ist eine Zählung der Sinnabschnitte in eckigen Klammern. 4 Dass salubria hier auf das S e e l e n h e i l (salus) zielt, zeigt eine vergleichbare Stelle im Artikel zum Basler Kartäuser Heinrich Arnoldi, zu dessen geistlichen Werken Trithemius notiert: Scripsit opuscula multa ualde deuota atque salubria. (Bl. 126 r ). Immer wieder finden sich auch im Narrenschiff Mahnungen, dass der Mensch an seine Endlichkeit, seinen Tod und die Sorge um sein Seelenheil denken solle. 5 Ganz gezielt geben auch die weiteren Basler Ausgaben des Narrenschiffs wie auch der Stultifera navis diese Terminierung auf den Vorabend der Fasten- und Bußzeit an. Ausnahme ist nur die zweite Ausgabe der lateinischen Bearbeitung, die rasch umgesetzt werden sollte, weil Brant die ihm ausgesprochen wichtigen Marginalien nicht rechtzeitig für den Erstdruck erstellen konnte. liber j. Was damit gemeint ist, soll gleich besprochen werden. Und dann folgt ein längerer Abschnitt mit einer Würdigung des Narrenschiffs: 3 [1] Compilauit [sc. Brant] praeterea mira arte et ingenio: uulgari tantum et uernacula lingua libellum quendam: quem nauem Narragoniae appellauit. [2] In quo causam et radicem omnium stulticiarum adeo eleganter expressit: morem hominum carpit: et quaedam salutaria remedia singulis tradit: ut non iure stultorum librum: sed diuinam potius satyram opus illud appellasset. [3] Nescio enim si quid tempestatis nostrae usibus salubrius aut iocundius legi posset. [4] Aiunt eum magnopere anniti: ut et latine: carmine pariter et oratione soluta opus illud quam primum prodeat. [1] Er hat außerdem mit bewundernswerter Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe ein Buch in der Volkssprache nur (tantum) und auf Deutsch verfasst, das er ‚Schiff nach Narragonien‘ (nauem Narragoniae) nannte. [2] In ihm hat er die Ursache und Wurzel aller Torheiten so treffsicher zum Ausdruck gebracht - er geißelt (carpit) die Gesittung der Menschen und bietet jedem einzelnen heilende Arzneien (salutaria remedia) -, dass er jenes Buch gerechterweise nicht ‚Buch der Toren‘ (stultorum librum) hätte nennen sollen, sondern richtiger ‚gottbegnadete Satire‘ (diuinam potius satyram). [3] Denn ich weiß nicht, ob man zu unseren Zeiten etwas für unsere Bedürfnisse Heilbringenderes und zugleich Angenehmeres (salubrius aut iocundius) lesen könnte. 4 [4] Man sagt, er sei sehr bemüht, dass jenes Werk baldmöglichst auch in lateinischer Sprache veröffentlicht würde, und zwar gleichermaßen/ zugleich (pariter) in Versen (carmine) und in Prosa (oratione soluta). Trithemius betont die Zweckbestimmung von Brants Narrenschiff, als gottbegnadete Satire dem Menschen eine tadelnde, aber zugleich auch angenehme Lektüre zu bieten, die ihn auf den Weg zum Seelenheil weist. Überraschend ist indes der letzte Satz mit der Aussage, Brants Streben sei, neben der deutschen Version baldmöglichst die lateinische Version zu veröffentlichen, und zwar gleichermaßen in Versen und in Prosa. Die Versfassung kennen wir, aber was ist mit der Fassung in Prosa? Eine These soll am Schluss vorgestellt werden. Als Lektüre für die vorösterliche Zeit der Buße hat Brant also sein Narrenschiff bestimmt. 5 Und er nutzt dazu den abendländischen Fundus des Wissens, um den Leser - über die thematischen Stationen der einzelnen Kapitel und innerhalb der Kapitel in einer additiv geordneten Folge von Argumenten - auf den Weg der Selbsterkenntnis zu führen. Die Bausteine der Argumentation gewinnt Brant durch einen sein Leben begleitenden Prozess des Sammelns, wie er das eingangs der Vorrede programmatisch hervorhebt: 174 Nikolaus Henkel 6 Textausgabe: Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Studienausgabe, hg. von Joachim Knape, Stuttgart 2005, hier S. 107. 7 Brant, Das Narrenschiff (wie Anm. 6), Kap. 13, V. 41‒52, 57‒63, S. 151‒153. Zuo nutz vnd heylsamer ler / vermanung vnd ervolgung der wyßheit / vernunfft vnd guoter sytten: Ouch zuo verachtung vnd straff der narheyt / blintheyt yrrsal vnd dorheit / aller stät / vnd geschlecht der menschen: mit besunderem flyß ernst vnd arbeyt / gesamlet zuo Basell: durch Sebastianum Brant. in beyden rechten doctor (Bl. a ii r ). 6 Sammeln ist dabei stets zu begreifen als Teil einer Trias von Akten kulturellen Handelns. Sammeln gewinnt seine Praktikabilität nur dann, wenn es begleitet ist durch Akte des Ordnens. Und Ordnung gewinnt ihre sinnstiftende Potenz erst durch Überführung in Strukturen. Wir werden diese Trias von Sammlung, Ordnung und Struktur im Folgenden zu beobachten haben. Dadurch, dass Brant, in beyden rechten doctor, sich als Vertreter der intellektuellen Eliten inszeniert, markiert er auch deutlich eine wissens- und bildungsgeschichtliche Differenz zwischen sich und seinem Publikum. Diesem erschließt der berühmte Jurist der Zeit um 1500 Wissensareale, die in aller Regel in der Volkssprache nicht verfügbar sind, und dies zuo nutz und einem durchaus geistlich zu verstehenden heyl. Erst dadurch gewinnt das Narrenschiff die Qualität einer von Trithemius treffend benannten und geistlich ausgerichteten divina satyra im Gegensatz zu der mundana satira der antiken römischen Satiriker. Das Ergebnis solch eines Sammelns, Ordnens und Strukturierens durch einen Vertreter der intellektuellen Eliten um 1500 wollen wir in einem ersten Ansatz verfolgen anhand eines Kapitels des Narrenschiffs (I.), es schließen sich an Ausführungen zu den Formen und Verfahren des Sammelns im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (II.), bevor die wis‐ senserschließenden Marginalien, die Brant der lateinischen Version in der Stultifera navis beigegeben hat, untersucht werden hinsichtlich ihres Zeugniswerts für die zeittypische Instrumentalisierung gesammelten Wissens (III.). I Im Kapitel des Narrenschiffs Von buolschafft (Kap. 13) geht es um die verführerische und Verderben bringende Kraft des erotischen Begehrens, mit dem Frau Venus, begleitet vom Tod, den geistlichen ebenso wie den weltlichen Narren an ihrem Seil führt und zum Affen macht. 7 Unterstützt von Cupido und seinem Bruder Amor bewirkt sie, dass etwa die ungeordnete Liebe Dido umbringt und Medea im Feuer umkommt. Die folgenden Verse reihen Exempla solch verderblicher Folgen von Liebesbrunst. Jedes von ihnen ist in der Regel auf einen einzigen Vers verkürzt. Über die Nennung eines Namens wird hier ein wesentlich komplexeres Narrativ aufgerufen, das der Leser präsent haben muss, um den 175 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 8 Die hier abgekürzten Verweise gelten den folgenden vorzugsweise zweisprachigen Ausgaben: Publius Ovidius Naso, Metamorphosen. Epos in 15 Büchern, hg. und übers. von Hermann Breitenbach, Zürich 2 1964; Ovid, Heroides. Briefe der Heroinen, Lateinisch/ Deutsch, übers. und hg. von Detlev Hoff‐ mann u. a., Stuttgart 2000; Ovid, Briefe aus der Verbannung. Tristia, Ex Ponto, lateinisch und deutsch, übertragen von Wilhelm Willige, Zürich/ Stuttgart 1963; Ovid, Ars amatoria, Lateinisch/ Deutsch, übers. und hg. von Michael von Albrecht, bibliograph. erg. Aufl., Stuttgart 2007; Hyginus, Fabulae, hg. von Peter K. Marshall, München/ Leipzig 2 2002; Juvenal, Satiren, lateinisch - deutsch, hg. und übers. von Sven Lorenz, Berlin/ Boston 2017; Vergil, Landleben, hg. und übers. von Johannes und Maria Götte, München 1971. Argumentationswert des Beispiels erkennen zu können; ich gebe einen Ausschnitt, jeweils ergänzt durch die Angabe der zugrunde liegenden Quelle: 8 Tereus wer ouch keyn wythopff nit / (Ovid, Met. 6,424-674; Hyginus, Fab. 45) Pasyphae den stier vermitt / (Ovid, Met. 8,136; Hyginus, Fab. 40) Phedra Theseo fuer nit nach (Ovíd, Met. 15,497-499; Heroid. 4) Noch suocht an jrem styeff sun smach / Nessus wer nit geschossen dott / (Ovid, Met. 9,98-273) Troy wer nit kumen jn solch not / (weit verbreitetes Exempel) Scylla dem vater ließ syn hor (Ovid, Tristia 2,393; Met. 8,17-155) Hyacinthus wer keyn ritter spor / (Ovid, Met. 10,162-219) Leander nit syn schwymmen dät / (Ovid, Heroid. 17+18; Verg., Georg. 3,258-263) Messalina wer jn küscheit stät ( Juvenal, Sat. 6,115-132) Mars ouch nit jnn der ketten läg (Ovid, Met. 4,169-189; Ars amat. 2,561-588) Procris der hecken sich verwäg […] (Ovid, Met. 7,670-865) Leucothoe nit wyhrouch gbär (Ovid, Met. 4,190-273) Myrrha wer nit Adonis swär (Ovid, Met. 10, 298-502) Byblis wer nit jrm bruoder holt (Ovid, Met. 9,453-665) Danae entpfing nit durch das golt (Ovid, Met. 4,611; Ov., Amores 2,19,27f. u. ö.) Nyctimine flüg nit vß by nacht / (Ovid, Met. 2,590) Echo nit wer ein stym gemacht / (Ovid, Met. 3,356-401) Tysbe ferbt nit die wissen boer […]. (Ovid, Met. 4,43-170) Ich paraphrasiere einige Beispiele. Wenn sie, Männer wie Frauen, sich nicht hätten verführen lassen, dann wäre Tereus nicht zu einem Wiedehopf geworden, Pasiphae hätte sich nicht auf die Unzucht mit dem Stier eingelassen, Phaedra wäre nicht Theseus hinter‐ hergelaufen, Hyacinth wäre nicht zum Rittersporn geworden, Leander wäre nicht (zu Hero) geschwommen, Mars hätte (von Jupiter beim Ehebruch ertappt) nicht in Ketten gelegen, Thisbe hätte nicht die weißen Beeren (des Maulbeerbaumes durch ihr Blut schwarz) gefärbt etc. Das hier angewandte Verfahren geht aus von der Nennung eines Namens, der der hier 176 Nikolaus Henkel 9 Aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte scheint mir die Denkfigur eines „intel‐ lektuellen Kontrakts“ geeignet, unterschiedliche Niveaus des Textverständnisses zwischen den Ak‐ teuren ‚Autor‘ und ‚Leser‘ zu fassen; siehe dazu auch Nikolaus Henkel, „Reduktion als poetologisches Prinzip. Verdichtung von Erzählungen im lateinischen und deutschen Hochmittelalter“, in: Die Kunst der ,brevitas‘. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014, in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel und Jan Cölln, Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 27‒55, hier S. 41. 10 Siehe dazu Karl Stackmann, „Albrecht von Halberstadt“, in: ²VL, Bd. 1, Berlin/ New York 1978, Sp. 187‒191, bes. Sp. 190f. 11 Linus Möllenbrink, „‚Wer hat gehört von Circes stall‘ Exempelfiguren als Form des gelehrten Spiels in Sebastian Brants Narrenschiff und seinen Bearbeitungen“, in: Études Germaniques 74 (2019), S. 479‒503, hier S. 479f. Ein Verzeichnis der Personennamen im Narrenschiff bietet die Ausgabe (wie Anm. 6), S. 540‒619. wie allgemein als Abbreviatur eines komplexen Narrativs steht. Brant ergänzt die Nennung des Namens durch ein gewissermaßen intellektuelles ‚Zeigehändchen‘, eine manicula, wie sie aus der Paläographie bekannt ist, ein Instrument, das bei den oben angeführten Beispielen auf den Inhalt der Narration verweist: Tereus - Wiedehopf, Pasiphae - Stier, Danae - Empfängnis durch Gold, Leander - schwimmen etc. Geradezu witzig sind die nach diesem manicula-Prinzip gestalteten Verkürzungen der zugrunde liegenden ‚Geschichten‘. Sie sollen keineswegs zur leichteren Entschlüsselung der zugrunde liegenden Erzählung dienen. Sie implizieren vielmehr eine intellektuelle Herausforderung, zwei Sprachzeichen, die zunächst nicht miteinander verknüpfbar erscheinen, aus dem kulturellen Vorwissen um die komplette ‚Geschichte‘ zueinander in Beziehung zu setzen und so an der ‚Re-Konstruk‐ tion‘ des zugrunde liegenden Narrativs mitzuwirken. Gefordert ist hier so etwas wie ein „intellektueller Kontrakt“ zwischen dem Autor Brant und dem Leser, der aufgrund seines Wissens und seiner Bildung diese ‚Re-Konstruktion‘ zu leisten imstande ist. 9 Aber was machte mit diesen verknappten Signalen einer Narration ein Leser, dessen literarischer Erfahrungshorizont auf die Volkssprache beschränkt ist? Überwiegend sind es Ovids Metamorphosen, die in dem hier gewählten Fall zugrunde liegen, ein Text, über den in dieser Zeit nur die intellektuellen Eliten verfügen konnten, denn Albrechts von Halberstadt deutsche Versfassung ist bis zu Jörg Wickrams Metamorphosen-Bearbeitung von 1545 so gut wie unbekannt gewesen. 10 Das Gleiche gilt für die sonst im Zusammenhang dieser Namensreihe eingebauten namengestützten Beispiele und die ihnen zugrundeliegenden Quellen. Hier geht das von Brant als einem Angehörigen der intellektuellen Eliten einge‐ speiste Wissen ganz offensichtlich vorbei an denen, die nur über die Volkssprache und die in ihr bereitgestellten Bildungsmittel verfügten. Das gilt nicht nur hier, sondern in zahlreichen ähnlich gelagerten Fällen. Gleichwohl ist zu den über 300 im Narrenschiff auftauchenden Namen mit Linus Möllenbrink festzustellen: „Die Namen bilden damit einen zentralen Bestandteil des poetischen Programms des Narrenschiffs.“ 11 Sie sind in jedem Fall daraufhin zu überprüfen, wie weit sie dem Wissenshorizont von Lesern, die nur über Wissen in der Volkssprache sozialisiert sind, verfügbar sind. 177 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 12 Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 2000 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien, hg. von der Herzog August Bibliothek, Bd. 15); siehe auch die zusammenfassende Übersicht über das europäische Material von Klaus Grubmüller, „Florilegium“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin/ New York 1997, S. 605‒607. 13 Ausgabe: Polythecon, cura et studio Arpad Peter Orbán, Turnhout 1990 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 93); siehe zu diesem Werk auch Nikolaus Henkel, „Polethicon“, in: ²VL, Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 1249‒1251. II Aber wie ist Brant an diese Fülle von namengestützten Exempla, hier nur beschränkt auf Kap. 13, gekommen? Natürlich über die Lektüre der (bis gegen 1900 omnipräsenten) römischen Literatur, und das gilt nicht nur für Brant, sondern insgesamt für die intellektu‐ ellen Eliten der Zeit um 1500. Aber die hier bereitliegenden Felder des Wissens und der Bildung bedürfen, um handhabbar zu sein, einer Methodik der Vor- und Aufbereitung, die wir zunächst zu verfolgen haben, und zwar unter der Perspektive des Tagungsthemas ‚Sammeln‘. „Sammeln“ ist zunächst ein durchaus animalisches Phänomen, an dem der Mensch selbstverständlich teilhat, wie das sogenannte Messie-Syndrom, im angelsächsischen Raum auch compulsive hoarding benannt, zeigt. Zum kulturschaffenden Akt wird Sammeln dadurch, dass das Gesammelte einer rational begründeten Ordnung unterworfen und die Ordnung in eine intellektuell ausgerichteten Strukturierung überführt wird. Und damit sind wir bei Brant und seinem Verfahren, die Elemente seiner Argumentation im Narrenschiff in einem Prozess der Sammelns, Ordnens und Strukturierens zu gewinnen. Zum unverzichtbaren Handwerkszeug jedes Gebildeten gehörte bis in die Barockzeit und darüber hinaus ein kontinuierliches Sammeln von thematisch geordneten und argumen‐ tativ einsetzbaren Beispielen, oftmals in Versform. Dieses Sammeln ergibt sich im Prozess eines lebensbegleitenden Lesens. Das Mittelalter hatte dazu seit dem 7./ 8. Jahrhundert die reich verbreitete Form des Florilegs entwickelt als Sammlungsinstrument für Textaus‐ schnitte bzw. kleine Einzeltexte. 12 An einem Modellfall vom Anfang des 13. Jahrhunderts, der auch um 1500 in mehreren Druckausgaben präsenten war, lässt sich das zeigen: Gemeint sind die Flores poetarum de vitiis et virtutibus, ein umfangreiches Florileg, das in der Handschriftenüberlieferung auch unter den Werkbezeichnungen Polethicon/ Polythecon er‐ scheint. 13 Gesammelt sind hier lateinische Verszitate aus unterschiedlichen Werken von der Antike (u. a. Horaz, Vergil, Ovid) über die christliche Spätantike (u. a. Sedulius, Prudentius) bis gegen 1200 und zum Beginn des 13. Jahrhundert (u. a. Matthäus von Vendôme, Alanus ab Insulis). Geordnet ist das Material in neun Bücher (die sieben Kardinallaster, Tugenden, Gaben des Heiligen Geistes) und innerhalb der Bücher in bis zu 60 inhaltlich aufgliedernde Kapitel strukturiert, z. B.: De avaritia (Buch V); De gula (Buch VI); De luxuria (Buch VII); Que mulier sit casta (Buch VII,25); Quod pueri in tenera etate sint docendi (Buch IX,24). Die hinter den Zitaten stehenden rund 50 Autoren bzw. Texte sind jeweils namentlich am Blattrand genannt. Hinter dem Polethicon steht ein anonymer, über enorme Textmengen verfügender Sammler mit einer stupenden Belesenheit und Bildung und einer überragenden Fähigkeit zur Organisation und Strukturierung des Wissens. 178 Nikolaus Henkel 14 Siehe dazu Joachim Knape, „Zehn Thesen zu Sebastian Brants dichterischer Arbeitsweise. Am Beispiel seiner Epigrammsammlung“, in: Sébastien Brant, son époque et la „Nef des fols“ - Sebastian Brant, seine Zeit und das „Narrenschiff “. Actes du Colloque international Strasbourg 10-11 Mars 1994, hg. von Gonthier-Louis Fink, Strasbourg 1995 (Collection Recherches Germaniques 5), S. 149-172, hier S. 150f.; weiterhin: Volkhard Wels, „Sebastian Brants Narrenschiff als Sammlung von Argumenten (loci communes) im Sinne von Rudolf Agricolas De formando studio“, in: Sebastian Brant und die Kommunikationskultur um 1500, hg. von Klaus Bergdolt u. a., Wiesbaden 2010, S. 273-292. 15 Knape (wie Anm. 14), S. 149-172. 16 Erstmals erfasst von Friedrich Zarncke, Sebastian Brants Narrenschiff, Leipzig 1854, S. 154‒158; das Material ist nochmals abgedruckt in: Sebastian Brant, Kleine Texte, hg. von Thomas Wilhelmi, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998 (Arbeiten zur Mittleren Deutsche Literatur, N. F. 3,1‒2), S. 451-493, Nr. 270-357. 17 Liber de scriptoribus ecclesiasticis (wie Anm. 2), f. 134 v . Um 1500 stand indes auch ein neues oder doch eher für neu erachtetes Modell bereit. Die Richtschnur dafür bot ein (Lehr-)Brief Rudolf Agricolas von 1484, von dem Philipp Melanchthon in seiner Rhetorik sogar empfahl, dass alle Schüler ihn auswendig lernen sollten. 14 Danach sollte, begleitend zu jeder Art von Lektüre, alles als wissens- und bewah‐ renswert Erachtete unter bestimmten Rubriken (capita) eingetragen werden. Auf diese Weise ergebe sich, so Agricolas Programm, ein stetig wachsender Fundus an Argumenten, vielfach als Epigramme bezeichnet, dessen Sammlung bereits in eine inhaltlich-thematische Ordnung überführt ist. Aus heutiger Sicht sind die Florilegien des Mittelalters und das von Agricola empfohlene Prinzip nicht so weit voneinander entfernt wie es um 1500 schien: Sammeln, einer Ordnung Unterwerfen und Strukturieren sind auch hier die zugrunde liegenden Prinzipien. Sichtbar wird das zugrundeliegende Verfahren, aus eigenständigen, kohärenten, literarisch strukturierten Ordnungen Exzerpte herauszulösen und in neue, aber thematisch anders ausgerichtete Ordnungen zu überführen, die des Florilegs. Damit ist durch ordnendes Sammeln ein Zustand erreicht, von dem aus die Bausteine einer dergestalt geordneten Sammlung bereit stehen für weitere Verwendungen. Dass auch Brant eine solche Sammlung von Argumenten angelegt und genutzt hat, hat Joachim Knape gezeigt. 15 Aus Brants Nachlass sind späte Abschriften zahlreicher einzelner Zettel, eine Art Zettelkasten also, erhalten, insgesamt gut 90 kleine deutsche bzw. lateinisch-deutsche Versdichtungen. 16 Freilich stellt Knape fest, dass es dabei kaum Übereinstimmungen mit dem Narrenschiff gibt, was ihn zu der Annahme führt, das im Narrenschiff verwandte Material sei, da ‚verbraucht‘, von Brant bereits ausgesondert worden und deshalb nicht erhalten geblieben. Nun gibt es ein bislang unbeachtetes, ja unbekanntes Zeugnis aus der unmittelbaren zeitlichen Umgebung des Narrenschiffs, das hier weiterhelfen kann: Es ist von Trithemius unter Brants Schriften genannt: ‚ein Band verschiedener Epigramme‘ (Variorum epigram‐ maton liber j). 17 Es liegt nahe, unter diesem Titel eine von Brant selbst zusammengestellte und unter bestimmten Rubriken geordnete Sammlung von Zitaten zu erkennen, die als neu zu instrumentalisierende Argumente für Brants deutsche wie auch lateinische Arbeiten einschlägiges Material boten. Diese Sammlung ist verloren. Bemerkenswert ist aber, dass zahlreiche Kapitelüberschriften im Narrenschiff sich lesen lassen wie die Rubriken (capita) eines Florilegs oder einer Argumentensammlung nach Agricolas Vorgaben, einem Prinzip also, dem auch Brants Liber eiprammaton gefolgt 179 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 18 Im Erstdruck Bl. v v r -vj r ; in der Ausgabe von Knape (wie Anm. 6), S. 513‒515. 19 Text: Nina Hartl, Jakob Lochers Übertragung von Sebastian Brants ‚Narrenschiff ’, 2 Bde., Münster/ New York 2001 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 1). Zu Lochers Verfahren der Bearbeitung siehe hier S. 66‒73. Für die Arbeit mit dem Text der Stultifera navis ist die Ausgabe von Hartl nur eingeschränkt verwendbar. Anzuerkennen sind Kommentar und Übersetzung, der hier gebotene Text basiert indes auf dem Mischexemplar der UB Münster, das aus Lagen der ersten Ausgabe (GW 05054) und der zweiten, überarbeiteten und von Brant ergänzten (GW 05061) zusammengesetzt ist. Nur in dieser zweiten Ausgabe ist der von Brant gewollte Zustand des Werks erreicht. Ich zitiere hier und sonst nach dieser zweiten Ausgabe vom August 1497 (GW 05061) nach dem Exemplar Berlin, SBB (PK), 8° Inc 610. 20 Joachim Hamm, „‚Auctor‘ und ‚interpres‘ im Dialog. Sebastian Brants Beiträge zur ‚Stultifera navis‘ (1497)“, in: Das 15. Jahrhundert. Internationales Symposion in der Melanchthon-Akademie Bretten, 12. ‒14. Oktober 2017, hg. von Günter Frank (im Druck). 21 Wilhelm Kühlmann und Rüdiger Niehl, „Locher, Jakob“, in: VL Hum, Bd. 2, Berlin/ New York 2013, Sp. 62-86. sein dürfte. Und so ist es nicht weiter auffällig, dass beispielsweise Abschnitte im oben erwähnten Polethicon teilweise erscheinen wie die Thematisierungen im Narrenschiff, so etwa bei den Kapiteln: Von guoten räten (Kap. 2), Von gyttikeyt (Kap. 3), Von ler der kynd (Kap. 6), Von füllen und prassen (Kap. 16), Von vnnützem richtuom (Kap. 17), Von ler der wißheyt (Kap. 22), Von überhebung glücks (Kap. 23), Von gluckes fall (Kap. 37 mit der Rota Fortunae), Von wollust (Kap. 50), Von bosen wibern (Kap. 64) etc. 18 In der Tat zeigen die Kapitel des Narrenschiffs in ihrer vielfach additiven Reihung von Argumenten/ Aussagen eine Bauform, deren Voraussetzung eine bereits vorliegende thematisch geordnete Sammlung ist, etwa zu Themen wie Geiz und Habgier, Neid, Kindererziehung, Umgang mit Reichtum, Unberechenbarkeit des Glücks etc. Ebenso, wenngleich unter anderen Voraussetzungen lässt sich solch ein Sammeln in der Stultifera navis beobachten, deren Abfassung Brant seinem Schüler und Freund Jakob Lo‐ cher übertragen hat. 19 Dieser Text ist „weit mehr als eine Übersetzung: Locher reformuliert das Narrenschiff, das ihm in der zweiten Ausgabe vom 3. März 1495 vorlag, vor dem Horizont antiker Dichtkunst und Gelehrsamkeit und macht aus dem volkssprachigen Narrenbuch eine gelehrte Humanistendichtung“. 20 So wird beispielsweise die oben aus Kap. 13 zitierte Exempelreihe auf wenige Beispiele verkürzt. Neben Lochers lateinischer Fassung sind aber noch Brants durchgängig den Text begleitende Marginalien zu berücksichtigen, Paratexte, in denen der Bezug zu Brants deutscher Dichtung und eine Ergänzung der lateinischen Dichtung sichtbar werden. Brant äußert sich in zwei Geleitdichtungen zu den Entstehungsumständen der Stultifera navis, zunächst in der vorangestellten Exhortatio an seinen früheren Studenten und Freund Jakob Locher, der von 1495-1497 eine Lektur für Poesie und Rhetorik an der Univer‐ sität Freiburg innehatte. 21 Nach Abschluss seiner, wie Brant sagt, hinlänglich bekannten Dichtung in der Volkssprache (vulgari carmine, V. 1) habe er diese auch in Form eines lateinischen Spott-/ Scherzgedichts (latino scommate, V. 5 f.) verfassen wollen für diejenigen, die Deutsches n i c h t lesen: pro doctis (V. 6). Er habe damit schon angefangen, doch seien ihm immer wieder neue Aufgaben (crebra negotia, V. 7) dazwischen gekommen, die den 180 Nikolaus Henkel 22 Die Frage, wie weit Brant mit der Versfassung gekommen sei und ob etwas davon in die Fassung Lochers eingegangen sei, ist bislang nicht gestellt worden, ist auch nur vermutungsweise zu beantworten 23 Zitiert nach der zweiten Ausgabe (wie Anm. 19), hier Bl. VI r . 24 Aeneis 5, 812‒863. Aeneas begegnet der Seele seines Steuermannes bei der Unterweltfahrt und erfährt erst dort vom Hergang des Unglücks (Aeneis 6, 337‒381). 25 Siehe dazu umfassend Hamm (wie Anm. 20). 26 Auf Bl. CLVI v der zweiten Ausgabe (wie Anm. 19): Finis Narragonicę nauis per Sebastianum Brant vulgari sermone theutonico quondam fabricatę […] per prętactum Sebastianum Brant denuo reuisę: aptissimisque concordantiis & suppletionibus exornatę: Et noua quadam exactaque emendatione elimatę […] (‚Ende des Narrenschiffs, von Sebastian Brant vormals in deutscher Volkssprache erstellt […] durch den bereits erwähnten Sebastian Brant erneut überprüft, mit höchst passenden Konkordanzen und Ergänzungen ausgestattet und durch eine neuerliche und genaue Besserung [des Textes] ausgearbeitet.‘). 27 In der zweiten Ausgabe (wie Anm. 19), Bl. CXLIII r . schon ausschreitenden Fuß gehemmt hätten (detinuere pedem). 22 Und so sei es gekommen, dass er das bereits angefangene Werk einer lateinischen Fassung liegengelassen und ‚das die Narren transportierende Schiff, wie Palinurus, mitten in den Wogen im Stich gelassen habe‘: Atque ita destitui mediis palynurus in undis / Stultiferam nauem (V. 11 f.). 23 Genannt ist hier der treue Steuermann des Aeneas, den die Götter als Opfer fordern und nächtens ins Meer stürzen wollen. Doch dieser widersetzt sich und wird mitsamt dem Steuerruder ins Meer geworfen. 24 Brant instrumentiert den Namen Palinurus hier mit sinnstiftender Absicht, denn seine Zeitgenossen kannten den von Vergil erzählten Zusammenhang. Brant/ Palinurus behält das Steuerruder des Narrenschiffs fest in der Hand, auch wenn er die Ausführung der lateinischen Fassung wegen zahlreicher anderer Aufgaben an Locher übertragen muss. 25 Dieser hat die von Brant begonnene lateinische Bearbeitung dann übernommen, und mit zahlreichen Geleitgedichten versehen ist das Werk dann 1497, ebenfalls an Fastnacht, erstmals erschienen, und zwar unter der Aufsicht Brants und mit seinen Korrekturen, wie der Kolophon eigens betont. 26 Doch Brant konnte das Werk nicht zufriedenstellen, und er bringt das auch in seiner umfangreichen Additio zum Ausdruck, in der er eine Reihe neuer Narren einführt: 27 Nota magis fuerat nobis inventio nostra, quo quaeque excerpsi dicta decora loco. Iccirco ascripsi loca concordantia, lector Noscere quo valeat singula quaeque cito. Besser bekannt (als Locher) war u n s unsere Erfindung/ Konzeption [sc. des Narrenschiffs], (und zwar) woher ich welche jeweils angemessenen Sentenzen (dicta decora) entnommen habe. Deshalb notierte ich am Rand (ascripsi) die entsprechenden Nachweise (loca concordantia), damit der Leser schnell die einzelnen Bezüge erkennen kann. Locher bietet eine eigenständige Reformulierung des deutschen Textes. Was er aber nicht wiedergeben konnte, waren die jeweils hinter den deutschen Versen stehenden Vorstellungen und Überlegungen Brants, denn sie waren ihm nicht bekannt. Gerade darauf zu verweisen, war Ziel von Brants loca concordantia. Sie der Stultifera navis in einem 181 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 28 In der zweiten Ausgabe (wie Anm. 19), Bl. CXLIIII r/ v . 29 Siehe dazu die Analyse von Brants Selbstaussagen von Hamm (wie Anm. 20). möglichst umfassenden Umfang beizugeben, war in der ersten Ausgabe vom März 1497 nicht möglich, weil die Drucker schneller waren, als Brant die jeweils einschlägigen Angaben liefern konnte. Deshalb vermerkt er am Ende des abschließenden Kapitels: 28 Qui tamen et veniam dabit impressoribus oro: His quia festinum nil satis esse potest. Nempe manu propria semel atque iterum illa reuidi, Signaui inuersa multa subinde manu: Sed tamen illorum pręceps labor: atra reliquit Plurima, quę nollem: quę mihi displiceant. Doch wird er (sc. der Leser), darum bitte ich, Nachsicht gegenüber den Druckern üben / weil denen nichts eilig genug gehen kann. Freilich sah ich eigenhändig mehrfach jene Stellen durch (sc. die oben erwähnten loca concordantia) und habe viele davon im Handumdrehen (inversa manu) bezeichnet, doch hinterließ die überstürzte Arbeit jener (sc. der Drucker), von mir ungewollt, allzu viele schwarze, d. h. unbezeichnete Stellen, die mir missfallen. Erst die zweite Ausgabe der Stultifera navis, die wenige Monate später, am 1. August 1497, herauskam, bietet, neben einer Neuorganisation des Layouts, die Marginalien Brants in der von ihm gewünschten Vollständigkeit. 29 Erst hier hat Brant, der das Steuerruder der lateinischen Fassung nicht aus der Hand gegeben hat, sein Ziel erreicht. Schon der vergleichende Blick auf das Narrenschiff und die Stultifera navis zeigt die Differenz des volkssprachigen Buchs gegenüber dem eher „wissenschaftlich“ auftretenden lateinischen. Schlagen wir den lateinischen Text auf, dann erkennen wir die Fülle und Dichte von Brants Marginalien. Zum einen: Die Holzschnitte sind seitlich begleitet von einem sich als Montage verschiedener Quellen erweisen Prosatext; zum andern: Neben den lateinischen Versen Lochers findet sich eine Fülle von abgekürzten Verweisen auf die Bibel, meist die Lehrbücher des Alten Testaments, auf Autoren der (römischen und griechischen) Antike, seltener des Mittelalters, auf die Sammlungen des Kanonischen wie auch des Römischen Rechts. Hinter diesen Marginalien steht ganz offensichtlich eine von Brant angelegte, thematisch geordnete Sammlung von Textexzerpten bzw. Verweisstellen, die für den Gegenstand des jeweiligen Kapitels einschlägig waren. Wie der ‚Steuermann‘ der Narrendichtung damit den lateinischen Text Lochers begleitet und dessen Tragweite weitert und fundiert, soll ein Blick auf das erste Kapitel Von vnnutzen buchern/ De inutilibus libris zeigen, dessen Thema der Umgang mit den Büchern und dem in ihnen aufgehobenen Wissen ist. III Die Stultifera navis übernimmt in diesem Kapitel (Bl. XI r/ v ; Abb. 1/ 2) die Ich-Form der Aussage des Büchernarren und bleibt auch sonst weitgehend eng am deutschen Text. Die Marginalien eröffnen jedoch einen weiteren und durchaus andersartigen Horizont. Neben den Holzschnitt lässt Brant einen Text setzen, der die Akademikersatire über den Umgang 182 Nikolaus Henkel 30 In der zweiten Ausgabe (wie Anm. 19), Bl. XI r . 31 Es existieren vier in Bologna (1472) und Venedig (1476/ 77, 1481, 1496) gedruckte Inkunabelaus‐ gaben (GW 08374‒08377), von denen Brant möglicherweise das aus der Kartause stammende Exemplar der UB Basel, Venedig 1496 (GW 08377), benutzt hat, wo das Zitat im Proömium Bl. aii r steht. mit der Fülle an Büchern ergänzt durch eine durchaus ernsthafte und problembewusste Perspektive: 30 Quod si quis percurrere omnes scriptores cupiat, opprimetur tum librorum multitudine, tum diuersa scribentium varietate, vt haud facile verum possit elicere. Distrahit enim librorum multitudo. Et faciendi libros plures non est finis. Denn wenn jemand alle Autoren eilig durchstreifen will, wird er zum einen durch die Menge an Büchern, zum andern durch die unterschiedliche Vielfalt der Schriftsteller erdrückt, so dass er nicht leicht die Wahrheit herausfinden kann. Denn die Menge an Büchern lässt ihn/ einen unschlüssig werden. Und immer mehr Bücher zu schreiben nimmt kein Ende. Es handelt sich um eine syntaktisch kohärente, durch enim und Et verknüpfte Aussage zur Frage, welche Schwierigkeiten die Überfülle von Büchern bereitet. Bei näherem Hinsehen erweist sich der Satz aber als Zitatmontage aus drei verschiedenen Quellen, von denen Brant zwei am Fuß der Seite belegt. Die erste, Diodorus Siculus.li.i., verweist auf den Satz Quod si quis […] possit elicere und gibt dessen Quelle an, den griechisch schreibenden Historiker Diodor aus Sizilien (1. Jh. v. Chr.). Brant kannte sein Werk in der lateinischen Übersetzung des Poggio Bracciolini, die in mehreren Inkunabeldrucken erschienen war. Die Ausgabe von 1494 hatte Brant in Basel zur Verfügung. 31 Aus der Einleitung des ersten Buchs des Diodor übernimmt Brant den zitierten Passus. Der zweite Satz, Distrahit enim multitudo librorum. (‚Die Fülle an Büchern zieht den Leser in unterschiedliche Richtungen‘), bestärkt das Diodor-Zitat noch; er stammt aus Senecas Briefen an Lucilius 2,3, gefolgt von einem weit verbreiteten Dictum aus dem Ecclesiastes 12,12: ‚des Büchermachens ist kein Ende‘. Insgesamt bieten diese Notizen gerade keinen Beitrag zur Akademikersatire des Bücher‐ narren, sondern artikulieren ein Problem, das sich Brants Zeitgenossen, sofern sie mit Büchern professionell umzugehen hatten, immer wieder stellte: Wie soll man mit der nicht mehr zu bewältigenden Fülle an Buchwissen umgehen? Wir verfolgen noch einige weitere Marginalien auf der Folgeseite (f. XI v ; Abb. 2): In Vers 6 dieses Kapitels in der Stultifera navis sagt der Narr von sich: ‚Weder verstehe ich ein Wort noch begreife ich den Sinn eines Buchs‘ (Calleo nec verbum: nec libri sentio mentem). Brant notiert am Rande folgenden Verweis: Dabitur liber nescientibus litteras Esaie xxix. und lenkt damit den Blick auf eine Aussage des alttestamentlichen Propheten, der beklagt, dass die göttliche Offenbarung dem Menschen gegeben wird wie ein Buch, und der, dem es gegeben wird, antwortet, er könne es nicht lesen; es heißt dort: et dabitur liber nescienti litteras […] et respondebit nescio litteras (Is 29,12). Dieser Verweis bezieht sich direkt auf Brants Büchernarren, der die Fülle der Bücher hat, deren Sprache (Latein) jedoch nicht versteht und der infolgedessen nicht zu lesen imstande ist. Der Prophet Jesaja droht solchen Menschen die göttliche Strafe an. Das Detail des satirischen Narrentextes weitet sich durch 183 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 32 Der ursprünglich griechische Text war in lateinischer Übersetzung in mehreren Inkunabeldrucken verfügbar (GW M15150‒M15168 u. ö.). In Basel war die Ausgabe Venedig 1481 (GW M15175) vor‐ handen, aus der Brant seine Kenntnis gewonnen haben dürfte; der Passus über die Büchersammlung des Ptolemäus in Buch XII, 2, auf den sich Brants Notiz bezieht, findet sich dort Bl. p 1 r/ v . 33 In dem Exemplar der UB Freiburg Ink. E 4681, b hat ein unbekannter Leser um 1500 gerade diesen Satz unterstrichen. In der deutschen Fassung heißt er: Wer vil studiert / würt ein fantast (Brant, Das Narrenschiff (wie Anm.7), S. 113, Kap. 1, V. 22. 34 Siehe Harry Bresslau, Hans-Walther Klewitz, Handbuch der Urkundenlehre, Bd. 1, Berlin 3 1958, S. 184‒187. 35 Corpus iuris civilis 2: Codex Iustinianus, hg. von Paul Krüger, Berlin 14 1954, S. 459b. 36 Der Passus lautet: decernimus: scilicet ut nemini penitus liceat, cum sit posterior tempore, in locum praecedentis ambire, nisi forte adeo qui tempore vincitur laborum comparatione superat […], ut dignior iudicetur. (Ebd.). In Basel waren vorhanden die von dem Bologneser Juristen Accursius glossierten Ausgaben GW 07725, 07730 und 07734; die letztgenannte bei Michael Wenssler in Basel gedruckte Ausgabe ist ausweislich einer Geleitdichtung am Schluss des Bandes durch die Förderung von Brants Kollegen Andreas Helmut zustande gekommen. diesen Bezug auf das Prophetenwort in eine grundsätzliche und über die Bildungskultur hinausgehende Aussage zum Verhältnis Gottes zu den Menschen. Etwas weiter unten in V. 13 erwähnt die Stultifera navis, dem Narrenschiff folgend, den reichen König Ptolemäus, dessen Streben war, alle Bücher der Welt zu besitzen. Brant bietet am Rand einen präzisen Verweis auf die einschlägige Quelle: Ptolomeus philadelphus cuius meminit Iosephus li.xii. Es ist der spätrömisch-jüdische Historiker Flavius Josephus (1. Jh. n. Chr.), der den antiken Büchersammler Ptolemäus in seinen griechisch abgefassten Antiquitates Iudaicae erwähnt. Brant hatte diesen Text in Basel in lateinischer Übersetzung zur Verfügung. 32 Der nächste Verweis gilt einem ganz anderen Feld des zeitgenössischen Wissens: Qui parum studet parum proficit glo. in .l.unicuique.C. de prox.sacr.scri. Diese Notiz steht neben den Versen 18‒21, wo der Narr sagt, er besitze zahlreiche Bände, lese aber kaum darin, Hauptsache sei, die Einbände blieben frisch; intensives Studium bringe ohnehin nur die Sinne durcheinander und wozu solle er durch Geschäftigkeit seinen Geist verwirren. Und er fährt fort: ‚Wer mit beständiger Regsamkeit studiert, wird ein Narr und verrückt‘ (Qui studet / assiduo motu / fit stultus & amens, Kap. 1, V. 22). 33 Brants Marginalnotiz beginnt mit einer Sentenz: ‚Wer wenig studiert, erreicht nur wenig‘ (Qui parum studet parum proficit). Es folgt ein Verweis auf eine Bestimmung im (römisch-rechtlichen) Codex Justinianus, hier aufgerufen mit der Abkürzung C. (Codex). Das letzte, zwölfte Buch dieser Sammlung bezieht sich auf Ämter und Würden. In Kap. 19 geht es, wie Brants Marginalnotiz angibt, um die hohen Kanzleibeamten der Verwaltungs‐ behörden (sacra scrinia) der römischen Kaiser, später auch der Päpste, 34 und zwar um diejenigen, die in diesen Ämtern Dienst tun; und Brant zitiert in seiner Marginalnotiz abgekürzt die Überschrift: De proximis sacrorum scriniorum ceterisque qui in sacris scriniis militant. In Abschnitt 7 wird eine Regelung aus dem 5. Jahrhundert zitiert, die auf die spätrömischen Kaiser Theodosius und Valentinianus zurückgeht, von der Brant nach juristischem Usus das Initium zitiert: Unicuique, qui in sacris scriniis militat […]. 35 Hier wird unter anderem geregelt, dass niemand den Platz eines über ihm Stehenden einnehmen darf, es sei denn, er sei als der Würdigere erkannt. 36 Die von Brant hier herangezogene, den Text 184 Nikolaus Henkel 37 Siehe zu Accursius (1181/ 85‒1259/ 63) und zu seiner Glossierung des gesamten Corpus iuris civilis Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, 6., neu bearb. und erw. Aufl., Tübingen 2017, S. 13‒20. 38 Fili mi adtende sapientiam meam et prudentiae meae inclina aurem tuam / ut custodias cogitationes et disciplinam labia tua conservent. (Prv 5, 1 f.). 39 Die Aktualität des Corpus iuris civilis in der Rechtspraxis um 1500 und den hohen Bedarf an glossierten Textausgaben bezeugen die an die 200, unterschiedlich ausgestatteten Inkunabeldrucke, nachgewiesen unter GW 07580‒07777. 40 Der Abschnitt, auf den Brant hier verweist, besagt: ‚Nachdem wir Ursprung und Fortgang des Rechts erkannt haben, ist es folgerichtig, dass wir uns über die Bezeichnungen der Ämter und deren Ursprung unterrichten, weil, wie wir dargelegt haben, das Recht erst durch diejenigen wirksam wird, die für die Rechtsprechung zuständig sind. Denn was nützt es, dass es das Recht im Gemeinwesen gibt, wenn niemand da ist, der dem Recht zur Wirksamkeit verhilft. Danach werden wir über die Abfolge der Rechtsgelehrten sprechen, weil das Recht nicht Bestand haben kann, wenn es nicht den Rechtsgelehrten gibt, durch den es Tag für Tag zum Besseren geführt werden kann.‘: Post originem iuris et processum cognitum consequens est, ut de magistratuum nominibus et origine cognoscamus, quia, ut exposuimus, per eos qui iuri dicundo praesunt effectus rei accipitur: quantum est enim ius in civitate esse, nisi sint, qui iura regere possint? post hoc dein de auctorum successione dicemus, quod constare non potest ius, nisi sit aliquis iuris peritus, per quem possit cottidie in melius produci. (Corpus iuris civilis, hg. von Theodor Mommsen und Paul Krüger, Bd. 1: Digesta, 16 Berlin 1954, S. 30b‒31a, I,2,13). Die von Brant angeführte Glosse zu diesem Passus ist u. a. in der Ausgabe Basel: Michael Wenssler, 29.10.1478 (GW 07752) verfügbar gewesen. am Rand begleitende Glosse des Bologneser Juristen Accursius (glo.in .l.unicuique.) führt das näher aus. 37 Die hier zitierte Regelung des Codex Justinianus dient dazu, ungerechtfertigte Rangstrei‐ tigkeiten in hohen Ämtern zu unterbinden. Brants vorangestellte Anmerkung: Qui parum studet parum proficit kombiniert das im Codex formulierte Leistungs- und Idoneitätsprinzip mit einer griffigen und alltagstauglichen Sentenz und stellt der Rede des Büchernarren, wer vil studiert / würt ein fantast einen auf römisch-rechtlichen Erfahrungen gegründeten Rechtssatz entgegen: ‚Wer wenig studiert, erreicht nichts.‘ Nun zum nächsten Eintrag: In V. 30 f. der Stultifera navis, beginnend mit dem empha‐ tischen Aufruf O vos doctores, folgt der Appell, die heutigen Gelehrten sollten ihre altehr‐ würdigen Vorgänger (antiquos patres) und die Rechtsgelehrten, die im Recht Erfahrenen (iurisque peritos) achten. Daneben vermerkt Brant: Prouerbio.v. und bietet damit einen Verweis auf die alttestamentlichen ‚Proverbia Salomonis‘. Hier wird das fünfte Kapitel eröffnet mit der Mahnung des Sprechers an seinen ‚Sohn‘, auf die verkündeten Lehren der Weisheit zu achten. 38 Unmittelbar darunter führt der Verweis ff. de origi. iur.l.ii.post originem. wiederum in den Fundus des römischen Rechts, und hier zu den Digesten, einer Sammlung antiker Rechtsgrundsätze, die Teil des Corpus iuris civilis sind. Zusammen mit der Glosse des Accursius ist diese Sammlung weit über Brants Zeit hinaus in aktuellem Gebrauch. 39 Der Basler Jurist bezieht sich auf Buch I dieses Werks und dort auf Kap. 2 mit der von Brant abgekürzt zitierten Überschrift De origine iuris et omnium magistratuum et successione prudentium und hier auf den Abschnitt mit dem in der Marginalnotiz angegebenen Initium Post originem. Es geht hier um die Ämter und deren Vertreter, die erfahren und imstande sein sollen, die Praxis des Rechts in der Gesellschaft umzusetzen (qui iura regere possint). 40 185 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 41 Siehe dazu Nikolaus Henkel, „Persius Flaccus, Aulus“, in: ²VL, Bd. 7, Berlin/ New York 1989, Sp. 408‒ 411. 42 Mein Zitat nach der folgenden Ausgabe: A. Persi Flacci et D. Ivni Ivvenalis Satvrae, ed., brevique annotatione critica instruxit Wendell V. Clausen, Oxford 1968, Sat. 1, V. 120 f., S. 8 43 Brants Studium dieses römischen Satirikers ist übrigens gut bezeugt: Seine eigene Persius-Ausgabe mit zahlreichen Anmerkungen ist erhalten geblieben. Es handelt sich um die Ausgabe mit den Kom‐ mentaren des Johannes Britannicus und Bartholomäus Fontius, Venedig: Bernardinus Benalius und Matthäus Capcasa, 3.8.1491 (GW M31402), heute Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Pc 116, siehe Joachim Knape und Thomas Wilhelmi, Sebastian Brant Bibliographie. Werke und Überlieferungen, Wiesbaden 2015 (Gratia 53), S. 168f., H69. Am Ende des Kapitels über den falschen Umgang mit Büchern steht in der Stultifera navis also die Mahnung, den erfahrenen Vorgängern und den im Recht Bewährten zu folgen, und diese Mahnung wird gestützt durch Verweise auf die alttestamentliche Lehrdichtung wie auch auf die Autorität eines allgemein gehaltenen Passus aus der römisch-rechtlichen Tradition, auf Autoritäten also, denen um 1500 unbestrittene Geltung und Aktualität zukommt. Das Kapitel zum Büchernarren schließt mit dem Satz (V. 34): Auriculis asini tegitur sed magna caterva. (‚doch mit Eselsohren ist die große Schar [der Narren] bedeckt‘). Brants Marginalnotiz zu diesem Vers lautet Persius. Er verweist hier wie an zahlreichen weiteren Stellen, ohne seinen Hinweis genauer zu explizieren, auf den römischen Satiriker (34-62 n. Chr.), der dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit gut bekannt gewesen ist. 41 Seine erste Satire, die eine Art Eröffnung des satirischen Schreibens bildet, ist in die Form eines fiktiven Dialogs des Autors mit seinem Satirenbuch gekleidet; dort sagt Persius über seine Zeitgenossen (Satira 1,120f.): Uidi, uidi ipse, libelle / auriculas asini quis non habet? (‚Ich habe es gesehen, mit eigenen Augen gesehen, mein liebes Büchlein: wer [sc. von unseren Zeitgenossen] hat nicht die Ohren eines Esels? ‘). 42 Bereits bei der Formulierung der entsprechenden deutschen Verse im Narrenschiff: Die oren sint verborgen mir / Man säh sunst bald eins mullers thier (Narrenschiff, Kap. 1, V. 33 f.), den Esel also, hatte Brant offenbar dieses Klassikerzitat im Kopf, aber erst im Verweis auf den römischen Satiriker Persius in Form einer Randnotiz zur zweiten Ausgabe der Stultifera navis lüftet er den bereits der deutschen Fassung zugrundeliegenden literarisch-intertextuellen Zusammenhang. Für den Laienleser der deutschen Fassung ist dieser Zusammenhang entbehrlich, dem kundigen Leser der lateinischen Fassung ist der Verweis auf den anspruchsvollen römischen Satiriker eine Aufforderung, sein kulturelles oder enger: literarisches Wissen mit seiner Lektüre der Narrendichtung zu verknüpfen. 43 IV Brant verknüpft in seinen Marginalien die Narrendichtung der Stultifera navis mit außer‐ halb dieses Textes liegenden Feldern des Wissens und der Bildung, die bezeichnend sind für die Schicht der intellektuellen Eliten der Zeit. Das hier sichtbare Spektrum ist erstaunlich: Es umfasst aus der Antike griechische Historiker in lateinischer Übersetzung (Diodorus, 186 Nikolaus Henkel 44 Es scheint mir für Brant und seine Zeitgenossen aus der Schicht der intellektuellen Eliten bezeich‐ nend, dass die lehrhafte deutschsprachige Dichtung des Mittelalters weitgehend schon vergessen ist, denn auf sie wird, wenn überhaupt, nur ausnahmsweise und eher zufällig verwiesen. 45 Liber de scriptoribus ecclesiasticis (wie Anm. 2), Bl. 134 v . 46 Boethius, De consolatione Philosophiae, Straßburg: Johannes Grüninger, 25.8.1501. VD16 B 6404. Von Brant dürften auch die Anweisungen zu den Holzschnitten dieser Ausgabe stammen. Josephus), lateinische Autoren der Antike (Seneca, Persius), 44 Römisches und Kirchenrecht sowie die Bibel, speziell das Alte Testament ( Jesaja, Proverbia). Dieses Wissen wird indes nicht formulierend ausgebreitet und vorgeführt; die Marginalien fungieren lediglich als Indizes, die auf dieses Wissen hinweisen und es aufrufen. Auch für die Marginalien Brants gilt, was oben zum Narrenschiff festgestellt wurde: Ihre thematische Kohärenz beruht auf einer vorgängigen geordneten Sammlung, die hier in eine umfassendes Wissen präsentie‐ rende Struktur überführt wird. Dieses Wissen ist freilich nicht eine Fortschreibung der Satire mit anderen Mitteln. Vielmehr eröffnen sie einen dem Narrenwesen programmatisch gegenübergestellten positiven Normenhorizont. Damit komme ich noch einmal auf die eingangs zitierte Äußerung des Trithemius vom Sommer 1494 zurück, Brant bemühe sich intensiv darum, dass die lateinische Version des Narrenschiffs baldmöglichst veröffentlicht würde, und zwar in gleicher Weise als Dichtung wie auch in Prosa: Aiunt eum magnopere anniti: ut et latine: carmine pariter et oratione soluta opus illud quam primum prodeat.  45 Dieser gewissermaßen gedoppelte Texttyp - Brant kannte ihn etwa aus der Consolatio Philosophiae des Boethius, die er selbst herausgegeben hat 46 - ist nicht zustande gekommen. Die Marginalien zur Stultifera navis lassen aber vermuten, dass damit eine aus unterschiedlichen Quellen sich speisende positive und normsetzende Aussage zu der Satire des jeweiligen Narrenkapitels angestrebt war. Dieser, man könnte sagen: ‚Dritte Text‘ ist so nie umgesetzt worden. Er könnte in Tendenz und Gehalt in den von Brant gesetzten Marginalien seine Spuren hinterlassen haben. 187 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte Abbildungen Abb. 1: Sebastian Brant, Stultifera navis. Basel: Johannes Bergmann, 1.8.1497 (GW 05061), Bl. XI r : De inutilibus libris (Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, 4° Inc. c. a. 1372; mit Genehmigung der BSB). 188 Nikolaus Henkel Abb. 2: Sebastian Brant, Stultifera navis. Basel: Johannes Bergmann, 1.8.1497 (GW 05061), Bl. XI v : De inutilibus libris (Exemplar: München, Bayerische Staatsbibliothek, 4° Inc. c. a. 1372; mit Genehmigung der BSB). 189 Sammeln aus der Perspektive der Wissens- und Bildungsgeschichte 1 Die erste und immer noch umfangreichste Beschreibung des Drucks findet sich bei Karl Schorbach, Laurin. Seltene Drucke in Nachbildungen. Mit einleitendem Text, Halle a. S. 1904, S. 25-28. 2 Wie Wolffdietrich vnnd sein zwen vnnd zwentzig mann vor dem Schloß vnd Stadt streit / da sein diener auff gefangen waren gelegent / biß ihm mehr hilffe kam (Bl. 127v). Zitate aus Drucken sind hier wie im Folgenden mit leichten typographischen Anpassungen wiedergegeben. Poetik des Inventars Zur multimodalen Lesbarkeit von Sigmund Feyerabends Heldenbuch Rabea Kohnen I Inventar Sigmund Feyerabend und Weigand Han geben 1560 den fünften Druck des Heldenbuchs (VD 16 H 1568) heraus. Legt man das Frankfurter und das Göttinger Exemplar dieses Drucks nebeneinander und schlägt beide auf Bl. 127v auf, findet man - wenig überraschend - in beiden die gleiche Erzählung, wie Wolfdietrich nach vielen Abenteuern seine Getreuen aus der Gefangenschaft befreit und dabei Konstantinopel erobert. Beide Exemplare zeigen - auch wenig überraschend - ein identisches Layout: Der Text ist in einer gleichmäßigen Schwabacher zweispaltig angelegt, die Strophen sind abgesetzt und oben rechts findet sich ein illustrierender Holzschnitt mit einem entsprechenden Titel. 1 Auch dieser Titel ist gleich 2 , die Illustration selber ist aber eine andere. Abb. 1: Die Schlacht um Konstantinopel. Links: Universitätsbibl. Johann Christian Senckenberg. Frankfurt am Main, Ausst. 278, fol 127v. Rechts: Göttingen, Staats- und Universitätsbibl., 4° P. Germ. I 2148 Rara, Bl. 127v. 3 Ein Hinweis auf diese Abweichung findet sich auch bei Bodo Gotzkowsky, „Zur Herkunft der Illustrationen der Frankfurter Heldenbuch-Ausgabe von 1560“, in: ZfdA 128 (1999/ 2), S. 198-203, hier S. 203. Walter Kofler hat alle bekannten Heldenbuch-Drucke und Exemplare zusammengestellt, darunter auch die über 50 des Heldenbuchs von 1560 (H5): http: / / www.marburger-repertorien.de/ h osting/ kofler-heldenbuch/ exempl.html [Zugriffe hier und im Folgenden am 23.12.2020]. Einsehen konnte ich die Digitalisate der Exemplare aus Bochum (Universitätsbibl., ERN 2393), Frankfurt am Main (Universitätsbibl., Ausst. 278), Göttingen (Staats- und Universitätsbibl., 4° P. Germ. I 2148 Rara), Mainz (Universitätsbibl., Rara 4° D 14146), München (Bayer. Staatsbibl., Rar. 2293), Prag (Praha, Národní knihovna České republiky, 9 A 41), Wien (Österr. Nationalbibl., 33.K.6 und 263888-C). 4 VD 16 M 4476, gedruckt 1556 von Weigand Han, Bl. D6v. 5 VD 16 ZV 15951, gedruckt 1560 von Weigand Han, Bl. 234r. 6 Ernst Kelchner, „Han, Weigand“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 496f. 7 Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Gotzkowsky (wie Anm. 3). Als unschätzbare Ressource sei auch verwiesen auf Bodo Gotzkowsky, „Volksbücher“. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Teil 1: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts, Baden-Baden 1991 (Bibliotheca bibliographica Aureliana 125). Auf beiden Holzschnitten wird eine Schlacht zu Pferde dargestellt, aber einige Details unter‐ scheiden sich signifikant. Im Frankfurter Exemplar sieht man einen Kampf mit Schwertern, im Göttinger einen mit Lanzen, und die Gegner sind durch ihre Kopfbedeckungen ikono‐ graphisch als Sarazenen identifizierbar, was sich nur bedingt zur dargestellten Szene fügt. Auch mag man sich fragen, welche Rolle der Löwe im Vordergrund spielt, der ein gestürztes Pferd ersetzt. Die Abbildung im Frankfurter Exemplar deckt sich mit denen der übrigen erhaltenen Exemplare. 3 Warum sich im Göttinger Exemplar ein abweichender Holzschnitt findet, ist nicht klar, vermuten kann man wohl eine Beschädigung des ursprünglich verwendeten Stocks. Was sich in der Ersetzung der einen Illustration durch die andere zeigt, ist zum einen eine Orientierung am Thema des Bildes und seinem grundsätzlichen Aufbau, die spezifische Details ignoriert. Zum anderen wird der Rückgriff auf ein vorausliegendes Inventar von Produktionsmitteln deutlich, das die visuelle Poetik des gedruckten Buchs bis in solche Spezialfälle hinein prägt. Dass dieses Inventar weit über diese Fälle hinaus konstitutiv für die visuellen Sinnpo‐ tentiale im Heldenbuch von 1560 sind, zeigt sich daran, dass auch schon der ursprüngliche Holzschnitt nicht speziell für diesen Band oder seinen Wolfdietrich geschnitten wurde, sondern aus dem Bestand einer Melusine-Ausgabe entnommen ist. 4 Die Ersetzung dieses Melusine-Schnitts durch einen thematisch verwandten aus dem Kaiser Oktavian im Göt‐ tinger Exemplar zeigt sich als folgerichtige Fortführung dieser Illustrationspraxis. 5 Für dieses fünfte gedruckte Heldenbuch wurde ein Titelholzschnitt angefertigt, der einen Nachschnitt der vorausliegenden Heldenbuch-Titel darstellt. Für alle anderen Bilder wird genutzt, was bereits in der Offizin von Weigand Han vorhanden ist. 6 Der Band enthält 185 Illustrationen, worunter sich mehrere Wiederholungen finden. Von den 104 gebrauchten Druckstöcken stammen mehr als die Hälfte aus vorausliegenden Drucken des Fortunatus und der Melusine, der Rest verteilt sich auf unterschiedliche Werke. 7 Dass das Heldenbuch optisch dadurch jedoch nicht auseinanderfällt, sondern ästhetisch sehr geschlossen wirkt, liegt nicht zuletzt darin begründet, dass 96 der 104 verwendeten Motive vom Künstler Hans Brosamer stammen, der diese für die einzelnen Titel Hermann 192 Rabea Kohnen 8 Bodo Gotzkowsky, Die Buchholzschnitte Hans Brosamers zu den Frankfurter „Volksbuch“-Ausgaben und ihre Wiederverwendungen, Baden-Baden 2002 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 361). Zur Biographie Hermann Gülfferichs vgl. Josef Benzing, „Gülfferich, Hermann“, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), S. 255f. 9 Zur Person Feyerabends vgl. Tina Terrahe, „Frankfurts Aufstieg zur Druckmetropole des 16. Jahr‐ hunderts: Christian Egenolff, Sigmund Feyerabend und die Frankfurter Buchmesse“, in: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. von Robert Seidel, Frankfurt am Main 2010 (Zeitsprünge Bd. 14, H. 1/ 2), S. 177-194; Josef Benzing, „Feyerabend, Sigismund“, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 119. 10 Die hier angelegten Konzepte der ökonomischen und ästhetischen Sammlung gehen zurück auf Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt am Main 2002 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1606). Eine Basisdefinition findet sich auf S. 8 und eine genauere Unterscheidung in Kapitel I.2 „Ökonomie des Verschwindens, Ästhetik des Bewahrens“, S. 33-52. 11 Codex discissus https: / / handschriftencensus.de/ 1716. Eine Übersicht bietet Joachim Heinzle, „Hel‐ denbücher“, in: 2 VL, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 947-956. 12 Joachim Heinzle, „Überlieferungstyp, Texte, Programm der Sammlung“, in: Heldenbuch. Nach dem ältesten Druck in Abbildung, hg. von Joachim Heinzle, Göppingen 1987 (Litterae 75,2), S. 207-221. Gülfferichs geschnitten hat. 8 Gülfferich vererbt diesen Schatz seinem Stiefsohn Weigand Han, der ihn intensiv zu nutzen weiß. Auch für das gemeinsam mit Sigmund Feyerabend herausgegebene Heldenbuch greift er auf dieses Inventar zurück. 9 Die ökonomische Samm‐ lung der Produktionsmittel bestimmt so die visuelle Qualität der ästhetischen Sammlung mittelalterlicher Werke im neuen Medium des Buchdrucks entscheidend mit. 10 Diesem liegt das Prinzip der beständigen Re-Kombination beweglicher Lettern zu Grunde, und dieses Prinzip greift zunehmend auch für die Zeichenmodalität des Bildes in Form einer kreativen Nutzung des vorhandenen Inventars von Holzschnitten, wodurch eine spezifische Ästhetik gedruckter Werke im 16. Jahrhundert gegenüber früheren Drucken und mittelalterlichen Handschriften gestaltet wird. Durch die Mehrfachverwendung von Holzschnitten in einem Buch und die Wiedernutzung von Holzschnitten anderer Bücher entstehen darüber hinaus neue Möglichkeiten der Sinnstiftung in Strukturierung und Vernetzung. Im Folgenden möchte ich diesen Möglichkeiten an einigen Beispielen aus dem Helden‐ buch von 1560 nachgehen, wobei sowohl die Ebene der Komposition des Sammelbandes als auch die seiner intertextuellen Vernetzung und die architextuelle Codierung der in ihm überlieferten Texte beleuchtet werden sollen. II Ko(n)texte Der Sammlungstyp Heldenbuch ist relativ alt, eine erste fragmentarisch erhaltene Hand‐ schrift entstand wohl schon um 1300. 11 Der Textbestand variiert in der handschriftlichen Überlieferung, bleibt aber in einem Kern stabil, der auch die Sammlung der gedruckten Heldenbücher konstituiert. Den weitaus größten Teil nimmt der enge Textverbund von Ortnit und Wolfdietrich ein, gefolgt vom Rosengarten zu Worms und dem Laurin. Die ursprünglich als Vorrede konzipierte Heldenbuch-Prosa steht in den Drucken konsequent am Ende. 12 Diese Zusammenstellung war auch im Druck sehr erfolgreich und wird sechs Mal von unterschiedlichen Druckern und/ oder Verlegern neu aufgelegt: H(eldenbuch)1 um 1484 von Prüss in Straßburg, H2 1491 von Schönsperger in Augsburg, H3 1509 von Gran 193 Poetik des Inventars 13 Eine Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse im Zusammenhang mit der Einzelüberlieferung des Laurin bietet John Flood, „Das gedruckte Heldenbuch und die jüngere Überlieferung des Laurin D“, in: ZfdPh 91 (1972), S. 29-48. Alle Bände sind digital einsehbar: H1 und H2 über den Gesamtkatalog der Wiegendrucke (GW, www.gesamtkatalogderwiegendrucke.de/ ): H1 unter der Nummer 12185, H2 unter 12185; H3 bis H6 über das Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16): H3: gateway-bayern.de/ VD16+H+1566, H4: gateway-bayern.de/ VD16 +H+1567, H5: gateway-bayern.de/ VD16+H+1568, H6: gateway-bayern.de/ VD16+H+1569. 14 Nachdem / Guthertziger günstiger Läser / Ich vndenbenandter diß Heldenbuch / vor viel jaren im Truck hab außgehen lassen / vnd in langer zeit kein Exemplar mehr zu bekommen gewesen / bn ich durch viel guter ehrlicher Leut vermahnet worden / dieses Heldenbuch widerumb für die Hand zunemmen, VD 16 H 1569, zitiert nach dem Exemplar der Universitäts- und Landesbibl. Sachsen-Anhalt, Halle a. d. S., Dc 1090, Bl. 1r. 15 Flood (wie Anm. 13), S. 36-40, der Schorbachs These widerlegt, der Laurin in H5 ginge auf den Einzeldruck des Werks von Gutknecht zurück (Schorbach [wie Anm. 1], S. 7, S. 35). Ein systematischer Abgleich der Textfassungen von H5 mit den vorausliegenden Auflagen wäre noch zu leisten. 16 Flood (wie Anm. 13), S. 36f. 17 Zur Illustration von H1 vgl. Norbert Ott, „Die Heldenbuch-Holzschnitte und die Ikonographie des heldenepischen Stoffkreises“, in: Heinzle (Hg.), Heldenbuch (wie Anm. 12), S. 245-277; zur Anlage der Holzschnitte auf eine Kolorierung hin dort die Ausführungen auf S. 256. 18 Ebd., S. 277. 19 Lydia Miklautsch, Montierte Texte, hybride Helden. Zur Poetik der Wolfdietrich-Dichtungen, Berlin 2005 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 270), S. 71. für Knobloch in Hagenau, H4 1545 von Stainer in Augsburg, das hier besprochene H5 1560 von Han und Feyerabend in Frankfurt am Main und H6 1590 von Feyerabend ebenfalls in Frankfurt. 13 Auch im Verlag Feyerabends verkaufte sich das Heldenbuch gut. Seine Vorrede zur Aus‐ gabe von 1590 (H6) beginnt der Verleger mit dem Hinweis darauf, dass die vorausliegende Ausgabe von 1560 (H5) schon lange vergriffen sei und weiterhin Nachfrage herrsche. 14 Dieses von ihm und Weigand Han 1560 gemeinsam herausgegebene Heldenbuch H5 weicht von den vorausliegenden vier Drucken deutlich ab. Im Textbestand wird es um eine neue Vorrede ergänzt und der Laurin in einer gegenüber H4 bearbeiteten Fassung geboten. 15 Auch im Wolfdietrich finden sich (geringere) redaktionelle Eingriffe auf sprachlicher Ebene 16 , sowie eine markante Neustrukturierung des Ortnit-Wolfdietrich-Komplexes in drei Teile mit einer deutlichen Verschiebung der Werkgrenze (s. u.). Was dieses Heldenbuch jedoch am deutlichsten von den davorliegenden vier unter‐ scheidet, ist sein Illustrationsprogramm. Für den ersten Druck hatte Prüss 156 Stöcke schneiden lassen, die den Text in der Regel sehr genau illustrieren. Mit 74 Wiederholungen kommt der Band auf 230 Illustrationen, was ihm eine visuelle Üppigkeit verleiht, zumal die Schnitte auf Kolorierung angelegt waren. 17 Die zweite, dritte und vierte Auflage imitieren das hier angelegte Bildprogramm mit recht geringer Variation. 18 Lydia Miklautsch stellt fest, dass der Erfolg des Heldenbuchs wohl nicht zuletzt durch die Qualität dieses Illustrationszyklus begründet gewesen sei, der eine neue Verständnismöglichkeit der Werke eröffnet habe: durch den Verzicht auf Nebensächlichkeiten in den Illustrationen und die klare Perspektivierung auf den Handlungsträger stellten diese eine eigene Kurzfassung des Stoffes her und bildeten so einen Gegenpol zur verschlungenen Handlungsführung und der verwirrenden Motivfülle der Texte. 19 194 Rabea Kohnen 20 Zur Differenz der Fassungen sowie zu diesem Erzählkomplex insgesamt vgl. ebd.; zur Fassung D dort S. 58-72 und zur gedruckten Fassung z S. 69-71. Für den Ortnit auch Wolfgang Dinkelacker, Ortnit-Studien. Vergleichende Interpretation der Fassungen, Berlin 1972 (Philologische Studien und Quellen 67). Die Fassungen A und D liegen beide in Editionen vor, die Varianten von z sind in der Edition von D ausgewiesen: Ortnit und Wolfdietrich A, hg. von Walter Kofler, Stuttgart 2009; Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main, hg. von Walter Kofler, Stuttgart 2001. Ich danke Walter Kofler herzlich dafür, dass er mir in Zeiten geschlossener Bibliotheken eine digitale Kopie zur Verfügung gestellt hat. Ein gutes Beispiel für diese Praxis sind die Drachenkämpfe, die den Plot des Ortnit mit dem des Wolfdietrich verzahnen. Die Textfassung der gedruckten Heldenbücher (z) geht auf die Fassung D zurück, die in der Handlungsführung zum Teil deutlich von der wohl ältesten und in der modernen Forschung bekanntesten Fassung AW abweicht, und deshalb hier kurz umrissen werden muss. 20 Nachdem Kaiser Ortnit eine sarazenische Königstochter geraubt und zur Frau ge‐ nommen hat, schickt ihm sein unfreiwilliger Schwiegervater einen Jäger mit jungen Drachen in sein Land, die es, einmal ausgewachsen, verwüsten sollen. Der Ortnit endet damit, dass der Jäger die Wesen pflegt. Dann beginnt der Wolfdietrich. Nachdem der Text von der Jugend Wolfdietrichs und seinen Abenteuern berichtet hat, wobei Kaiser Ortnit immer wieder eine wichtige Rolle spielt, nimmt der Text den Drachen-Plot wieder auf. Als die Drachen Ortnits Reich angreifen, macht dieser sich zu ihrer Tötung bereit, muss aber zuerst einen Kampf gegen Riesen führen. Anschließend kommt er einem Elefanten zu Hilfe, der gegen einen der Drachen kämpft. Sie schlagen den Drachen in die Flucht, und Ortnit will den Elefanten nach Garten zu seiner Frau bringen. Unterwegs schläft er jedoch unter einer Zauberlinde ein und als der Drache zurückkehrt, kann der Elefant seinen neuen Freund nicht wecken. Der Elefant stirbt im Kampf, und der Drache zerrt Ortnit in seine Höhle, wo er von den Drachenjungen aus seiner Rüstung genascht wird. Nach Ortnits Tod wechselt die Perspektive wieder zu Wolfdietrich, der die schöne Kai‐ serin den Tod ihres Mannes klagen hört und beschließt, diesen zu rächen und die Drachen zu besiegen. Er findet die Drachenhöhle leer vor, kann aber - nachdem er der Zauberlinde geschickt ausgewichen ist - einem Löwen zu Hilfe eilen, der gegen einen der Drachen kämpft. Der Löwe stirbt dennoch im Kampf und wird von dem Drachen gemeinsam mit Wolfdietrich in dessen Höhle verschleppt. Das Hemd des heiligen Georg rettet Wolfdietrich davor, verschlungen zu werden, und er kann die meisten Drachen töten. Er nimmt die Zungen der Tiere an sich und reitet davon. Währenddessen versucht sich Herzog Gerwart bei der Kaiserin als Drachentöter anzudienen und schneidet den Wesen, die er bereits tot vorfindet, die Köpfe ab. Es kommt zu einem Kampf zwischen Gerwart und Wolfdietrich, bei der er sich als wahrer Drachentöter erweisen kann. Wolfdietrich steht erneut einem Löwen gegen einen Drachen bei und trifft dabei auf einen der entflohenen Drachen, der seinerseits erneut fliehen kann. Der Leser weiß bereits, dass die beiden Drachen, die Wolfdietrich entkommen konnten, erst in 80 Jahren von Dietrich von Bern erschlagen werden. Zurück in Garten kommt es zu Auseinandersetzungen mit dem Burggrafen und die Kaiserin betet für einen weiteren Drachen, damit Wolfdietrich sich beweisen könne. Das wird von Gott 195 Poetik des Inventars 21 Der Racheplan Machorels beginnt im Ortnit D mit Strophe 529 und reicht bis zum Textende (Strophe 569), im Wolfdietrich D wird die Ortnit-Handlung mit Strophe 775 wieder aufgenommen. Mit Ortnits Tod geht die Handlung zu Wolfdietrich über (Strophe 839), seine Begegnung mit Siderat in Garten lässt ab Strophe 1537 den Drachen-Plot wieder einsetzen, der mit der Hochzeit der beiden sein Ende findet (Strophe 1913). 22 Das Exemplar der Universitäts- und Landesbibl. Darmstadt ist digitalisiert und online einsehbar (http: / / tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/ show/ inc-iii-27). Die hier relevanten Abbildungen finden sich auf Bl. 43r, 44r, 102r, 103r, 110v, 111v, 166r, 167r, 168v, 171r, 176r, 177r und 184v, wobei sich folgende Doubletten finden: 44r = 102r, 168r = 171r und 166r = 176r = 177r. 23 Auf Bl. 66r stammt der Schnitt aus dem Kaiser Octavian und illustriert dort die Überschrift Wie Florens die zwey Rinder / die jm sein Vatter Clemens hett geben / in die Metzig zu treiben / vertauscht / vnd umb einen Sperber gab (VD 16 ZV 15951 [gedruckt von Weigand Han vor 1564], Bl. 32v). 24 Zuerst wohl in VD 16 M 4476 (gedruckt von Weigand Han 1556), auch wenn das erhaltene Augsburger Exemplar an dieser Stelle beschädigt ist. In der Ausgabe von 1549 (VD 16 M 4475, ebenfalls Gülfferich) findet sich an der entsprechenden Stelle noch kein Schnitt, aber die Überschrift Wie ein Ritter auß Engelland geboren sich dieser abenthewer vnderstund / vnd er mit einem Beeren vnd grossem Wurm facht / so ritterlich vnd mannlich / vnd einen Dracken und Beeren zu todt erschlug (Bl. J3r). In der gewährt, alle erkennen Wolfdietrich als neuen Herrscher an, und er und Liebgart feiern Hochzeit, womit sich der Ortnit-Wolfdietrich-Plot schließt. 21 Schon das erste von Prüss 1484 gedruckte Heldenbuch H1 verwendet in diesem Handlungszusammenhang Doubletten für nahezu identische Handlungen. Ansonsten illus‐ trieren die Bilder den Text aber sehr genau. 22 Vergleicht man dies mit der Bebilderungspraxis des Han/ Feyerabendschen Heldenbuchs H5, fallen sofort deutliche Unterschiede und eine größere inhaltliche Freiheit auf, wird doch zum Beispiel die Ankunft der Drachen durch zwei Rinder illustriert. 23 Konzentriert man den Blick auf die Drachenkämpfe im engeren Sinn, zeigt sich eine besonders eigenwillige Nutzung der Doubletten, wobei die obere Zeile die Kämpfe Ortnits (erster Teil des Heldenbuchs) und die untere Zeile die Kämpfe Wolfdietrichs (zweiter Teil des Heldenbuchs) wieder gibt: Abb. 2: Die Drachenkämpfe Ortnits und Wolfdietrichs, Bl. 28v, 66v, 72r, 111r, 112r, 122r. Gleich sechs Mal wird ein Bild genutzt, das zu keiner der illustrierten Szenen richtig zu passen scheint. Der Stock stammt aus der Güllferich-Ausgabe der Melusine, und man sieht recht eindeutig die Kämpfe des Ritters aus England gegen einen Drachen und einen Bären am Ende des Werks. 24 Vielleicht kann man sich den Bären noch als kleinen 196 Rabea Kohnen Ausgabe von 1564, die von den Erben Gülfferichs produziert wird (Georg Rab und Weigand Hans Erben), findet sich der Holzschnitt dann auf Bl. L5r. 25 Die Schnitte stammen aus VD 16 H 4074, gedruckt von Weigand Han 1559, in H5 auf Bl. 72v und 113r. Das erhaltene Berliner Exemplar des Hürnen Seyfrid kann aus konservatorischen Gründen nicht digitalisiert werden. Gotzkowsky verortet diesen Holzschnitt auf Bl. D2r und Dv (Gotzkowsky [wie Anm. 3], S. 201). Zur Illustrationsgeschichte der Drucke des Hürnen Seyfrid vgl. mit weiterführenden bibliographischen Angaben auch Frieder Schanze, „Der verlorene Nürnberger Erstdruck des Hürnen Seyfrid mit den Originalholzschnitten Sebald Behams“, in: Gutenberg-Jahrbuch 62 (1987), S. 301-305. 26 Dementsprechend erscheint es auch folgerichtig, dass dieser Melusine-Holzschnitt im Heldenbuch von 1560 (H5) sonst keine Verwendung mehr findet. Zur Überblendung der Figuren Ortnit und Wolfdietrich aus anderer Perspektive vgl. auch Mareike von Müller, „Vulnerabilität und Heroik. Zur Bedeutung des Schlafes im Ortnit/ Wolfdietrich A“, in: ZfdPh 136 (2017), S. 387-421. Drachen vorstellen, aber im Vergleich zu den Schnitten des ersten gedruckten Heldenbuchs vermisst man die Fütterung der Drachen und natürlich nicht zuletzt den Elefanten. In künstlerischer Hinsicht sind der letzte Schnitt in der Ortnit-Reihe und der vorletzte in der Wolfdietrich-Reihe auffällig, die aus einem Druck des Hürnen Seyfrid stammen und zu den wenigen gehören, die nicht von Hans Brosamer angefertigt wurden. 25 Beim Durchblättern oder Durchlesen des Heldenbuchs fallen diese durch ihre geraden und etwas sperrigen Linien sehr deutlich auf. Im direkten Vergleich mit der engen Textgebundenheit der Illustrationen von H1 und H5 muss die Praxis des Han/ Feyerabendschen Heldenbuchs als Verlust von Textnähe und pragmatische, wenn auch unzureichende, Kompensation mit den vorhandenen Mitteln erscheinen. Blickt man aber nur auf die visuelle Poetik dieses fünften Heldenbuchs, ergibt sich insbe‐ sondere mit Blick auf die durch künstlerische Abweichung oder beständige Wiederholung markantesten Schnitte durchaus ein stimmiges Bild. Die deutliche Parallelisierung der Ortnitmit der Wolfdietrich-Handlung, die bereits als Strukturprinzip der beiden Plotlinien angelegt war, wird so im wörtlichen Sinn sichtbar gemacht. Beide heiraten die gleiche Frau, beide kämpfen mit den gleichen Drachen, beide sind oder werden Herrscher von Garten. Wo im Einzelnen also ein Verlust im Bezug zwischen der konkreten Textpassage und ihrer Illustration zu beklagen wäre, zeigt sich umso deutlicher eine Funktion der Doublette für die visuelle Vernetzung der Sammlungstexte in ihrer Ko-Textualität, die Indizierung eines zentralen Handlungsfadens und die Aufeinanderbezogenheit zweier Protagonisten. 26 Diese Fokussierung auf die Plotstruktur korrespondiert im Heldenbuch von 1560 (H5) mit einer Neustrukturierung der Werkgrenzen. Der Ortnit findet sich unter dem auf jeder recto-Seite abgedruckten Titel Von Keiser Ottnit vnd Elberich auf Bl. 4r-29r, der erste Teil des Wolfdietrich unter dem Titel Von Keiser Ottnit vnd Wolffdieterich auf Bl. 29r-73v, ohne dass beide im Text durch einen Titel oder eine deutliche paratextuelle Zäsur voneinander getrennt werden. Die Textgrenze zwischen Ortnit und Wolfdietrich nach der Ankunft der Drachen in Garten ist also kaum markiert. Nach Ortnits Tod aber wird das Ende des Ersten Theil diß Heldenbuchs (Bl. 73v) mit zwei neuen Schlussstrophen inhaltlich ein Abschluss gestaltet, der mit einem großen graphischen Element und zwei leeren Seiten sehr deutlich indiziert wird. Mit dem zweiten Teil des Wolfdietrich unter dem Titel Von Hug vnd Wolffdieterichen (Bl. 75r-141v) setzt auch der Ander Theil diß Heldenbuchs ein, was durch einen graphisch auffällig illustrierten Titel paratextuell hervorgehoben wird. In der 197 Poetik des Inventars 27 Für H1 und H2 hat sich der Titelholzschnitt nicht erhalten, in allen anderen weist er eine große Kontinuität auf. 28 Norbert Ott identifiziert die Figuren als Kaiser Ortnit, Wolfdietrich, Alberich und/ oder Laurin, Dietrich von Bern, Ilsan und vermutlich Kriemhild aus dem Rosengarten (Ott [wie Anm. 17], S. 275). Verschiebung der Zäsur vom Ende des Ortnit als Text zum Ende von Ortnits Leben wird die Parallelität der Leben von Ortnit und Wolfdietrich mit Blick auf die Drachenkämpfe auch strukturell akzentuiert und eine semantische Synergie mit der Nutzung der Doubletten geschaffen. Die vier Holzschnitte der Drachenkämpfe Ortnits (im hier zusammengezogenen Ortnit und Wolfdietrich) und die vier visuell genau korrespondierenden Holzschnitte der Drachenkämpfe Wolfdietrichs stehen sich so spiegelbildlich gegenüber. Zugleich wird aber auch die Gegensätzlichkeit der Protagonisten und ihres Lebenswegs sichtbar gemacht. Genau wie für Ortnits erfolglosen Kampf gegen die Drachen des Sara‐ zenenkönigs wird auch für Wolfdietrichs erfolgreichen Kampf gegen genau die gleichen Drachen ein Schnitt aus dem Hürnen Seyfrid verwendet, der aber einen deutlich in Mitlei‐ denschaft gezogenen Drachen zeigt. Diese Parallelität der Szene bei zugleich divergentem Ausgang tritt aufgrund der abweichenden künstlerischen Qualität des Schnittes umso deutlicher hervor, ja wird dadurch gerade als Pointe markiert. Tritt in dieser Auflage also die illustrative Funktion der Bilder für den auf sie bezogenen Text deutlich zurück, wird ihre indizierende Funktion, die Herstellung eines interpretativen Netzes im Sammlungskontext und die Markierung der Plotstruktur umso deutlicher. Dieses Beispiel macht auch klar, dass die Holzschnitte, die als Doubletten die Ko-Tex‐ tualität der Einzelwerke im Kontext der Sammlung verdichten, auch aus ihr heraus intertextuelle Bezüge zu den früheren - und gegebenenfalls auch späteren - Verwendungs‐ zusammenhängen herstellen. So unterstreicht die Wiederholung eines Seyfrid-Schnitts sicherlich die Drachenkämpfer-Identitäten Ortnits und Wolfdietrichs. Diese Dimension möchte ich gerne an einem weiteren Beispiel ausführen, an Wolfdietrichs Begegnung mit der rauen Else. III Intertext Dass diese Episode keineswegs randständig für die Sammlung als Ganze ist, zeigt sich schon im Titelholzschnitt 27 , der programmatisch das zentrale Personal der Sammlung in einem Gespräch miteinander verbunden zeigt. Unter diesen sechs Figuren sticht eine nackte und stark behaarte Dame deutlich hervor. 28 Diese tritt im Wolfdietrich in Erscheinung, nachdem Wolfdietrich in Kämpfen mit seinen Brüdern unterlegen ist und sich mit seinen Getreuen in den Wald zurückgezogen hat. Dort erzählt sein engster Vertrauter Berchtung Wolfdietrich von einem rauen Weib, das seit sieben Jahren hinter Wolfdietrich her sei. Und als um Mitternacht alle anderen schon schlafen, kommt dieses tatsächlich zu Wolfdietrich. Trotz ihres tierischen Gangs, der den Erzähler mit dem eines Bären vergleicht, ist die raue Else zu eleganter Konversation in der Lage und bietet Wolfdietrich ein Königreich und dreißig Burgen, wenn er mit ihr schlafe. Wolfdietrich weist diese Avancen erbost zurück, woraufhin Else ihn verzaubert und seinen Harnisch und sein Schwert stiehlt, so dass er ihr nach einigem Überlegen durch den Wald folgt. Dort lädt Else ihn wieder ein, sich zu ihr zu legen und Wolfdietrich weist sie wieder schroff wegen ihrer Rauheit zurück. Daraufhin 198 Rabea Kohnen 29 Die Episode umfasst in H5 Bl. 53r-56r, was in D den Strophen 494-571 entspricht. In der jüngeren Forschung wurde die Episode mehrfach - vor allem mit Blick auf die intertextuellen Bezüge der Motive der wilden Frau und des Wahnsinns zu den Artusromanen Iwein, Wigalois und Diu Crône - besprochen: Susanne Schul, „(V)Erlesene Animalität. Intersektionale Emotionalisierungsprozesse im spätmittelalterlichen Heldenepos“, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 239-279, hier S. 267-276; Larissa Schuler-Lang, Wildes Erzählen - Erzählen vom Wilden. ‚Parzival‘, ‚Busant‘ und ‚Wolfdietrich D‘, Berlin 2014 (Literatur, Theorie, Geschichte 7), S. 287-297; Dietmar Peschel, „Sonderbare Feinzeichnungen! Kann man diese Frau heiraten? Eine Unheldin in der Wolf Dietrich-Version D“, in: Heldinnen. 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch, hg. von Johannes Keller und Florian Kragl, Wien 2010 (Philologica Germanica 31), S. 139-164; Miklautsch (wie Anm. 19), S. 143f.; Justin Vollmann, „Wolfdietrich und die wilden Frauen“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2003/ 2004), S. 234-254; Hartmut Bleumer, „Das wilde wîp, Überlegungen zum Krisenmotiv im Artusroman und im Wolfdietrich B“, in: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Anglo-German Colloquium Exeter 1997, hg. von Alan Robertshaw und Gerhard Wolf, Tübingen 1999, S. 77-89; Daniela Hempen, „Grenzüberschreitungen, Begegnungen mit der wilden Frau in dem mittelhochdeutschen Epos Wolfdietrich B“, in: Monatshefte 89 (1997), S. 19-30; Dirk Matejovski, Das Motiv des Wahnsinns in der mittelalterlichen Dichtung, Frankfurt am Main 1996 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1213), S. 152f.; Margaret Schleissner, „Die wilde Frau in der mittelhochdeutschen Epik“, in: Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Grenzen, Traditionen, verzaubert Else Wolfdietrich so, dass er einschläft und nachdem sie ihm die Haare wie einem Toren geschoren hat, für ein halbes Jahr besinnungslos im Wald herumirrt. Als Berchtung das Fehlen seines Anführers bemerkt, ist ihm die Lage sofort klar. Er befiehlt seinen Söhnen, sich in Konstantinopel bei Wolfdietrichs Brüdern - die ja mit ihm verfeindet sind - in Gefangenschaft zu begeben und macht sich selbst über See auf die Suche nach Else. In ihrem Reich Troy findet er sie beim Stadttor, und er bittet die Fraw Königein (Bl. 54r) höflich, Wolfdietrich zurückzugeben. Diese bestreitet jedes Wissen über den Vorfall und Berchtung reist ab, um das Schicksal seiner Söhne zu teilen. Nach einem halben Jahr interveniert jedoch Gott persönlich, der sich den törichten Wolfdietrich nicht länger ansehen kann, und schickt einen Engel zu Else, der ihr befiehlt, Wolfdietrichs Zauber zu lösen. Folgsam eilt sie zu Wolfdietrich und nimmt den Zauber aus seinen Haaren, wodurch er sein Bewusstsein wiedererlangt, aber immer noch schwarz und schmutzig ist. Ein drittes Mal bietet Else sich Wolfdietrich an, und das halbe Jahr im Wald scheint ihn milder gestimmt zu haben. Höflich stellt er die Bedingung, dass Else sich taufen lässt und ziert sich noch ein wenig wegen der Verpflichtung gegenüber seinen Dienstleuten. Auch praktisch äußert er Bedenken wegen Elses starker Behaarung, aber diese führt ihn an der Hand über das Meer und in ihr Reich Troy, wo ein Jungbrunnen steht. Else springt als erste hinein und bittet um Gottes Schutz, woraufhin sie sich verwandelt: Rauch Elß die Königinne / In dem tauff ward genannt / Frawe Sigeminne / Die schönst uber alle Landt / Da in des Brunnen wage / Hett sie die Haut gelan / Es sah auch nie kein Auge / Kein Weib so wolgethan (Bl. 55v). Als sie Wolfdietrich wieder auffordert, sie zu gewinnen, macht dieser sich jetzt Sorgen um sein eigenes Erscheinungsbild, doch der Brunnen vermag auch ihn wieder jung und schön zu machen. Vom Brunnen hüpfen sie direkt ins Bett, bevor eine große Hochzeit gefeiert wird. Als Wolfdietrich nach einiger Zeit wieder ausziehen will, gibt ihm seine Sigeminne unter anderem das Hemd des Heiligen Georg mit, das ihn ja vor dem Hunger der jungen Drachen schützen wird. 29 199 Poetik des Inventars Vergleiche. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, hg. von Eijirō Iwasaki, München 1991, S. 67-74. 30 Vgl. dazu grundlegend Roger Bartra, Wild Men in the Looking Glass. The Mythic Origins of European Otherness, Ann Arbor 1994; Richard Bernheimer, Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment, and Demonology. Reprint, Cambridge, MA 2013 (zuerst 1952). 31 In H1 finden sich die drei Else-Holzschnitte auf Bl. 83v, 85v und 86r. 32 Norbert Ott weist den Titelholzschnitt von H5 Jost Amann zu (Ott [wie Anm. 17], S. 276), Bodo Gotzkowsky spricht sich jedoch für Virgil Solis aus, da Amann 1560 noch nicht für Feyerabend gearbeitet habe (Gotzkowsky [wie Anm. 3], S. 199). 33 Vier Ausgaben wurden von Hermann Gülfferich verantwortet, fünf von Weigand Han. Vgl. dazu Gotzkowsky (wie Anm. 8), S. 33-76. Diese Episode ist mit Blick auf den Gesamttext kurz, aber sehr einprägsam. Das Motiv der wilden Frau bzw. des wilden Mannes ist weiterverbreitet, wobei diese Figuren oft von einer gewissen Ambivalenz geprägt sind. 30 Auch Else ist einerseits schmutzig-schwarz, extrem behaart und geht auf allen vieren wie ein Bär, aber andererseits - und das auch schon vor ihrer Verwandlung - ist sie eine mächtige, zauberkundige Königin, die höflich mit einem Ritter zu parlieren versteht. Die Holzschnitte des ersten Heldenbuchs tarieren diese Gegensätze insofern aus, als Else stehend und mit ganz menschlichen Gesichtszügen gezeigt wird, ihr Körperfell und ihre Nacktheit aber im Vordergrund stehen. Mit einigen Versuchen der Modernisierung und (nachträglichen) Entschärfung zieht sich dies durch die ersten vier gedruckten Heldenbücher. 31 Und auch im Heldenbuch von 1560 (H5) erscheint Else auf dem Titel in der bekannten Darstellungsweise. Das Bild ist eines der wenigen, die für diesen Band neu geschnitten wurden 32 , aber den vorausliegenden sehr genau nachempfunden. Die Art und Weise wie Han und Feyerabend die Darstellung der so außergewöhnlichen Figur im Text lösen, muss allerdings überraschen. Es werden die gleichen drei Szenen illustriert, wie in den vorherigen Drucken: (1) Die erste Begegnung Else und Wolfdietrich, (2) Die Intervention Gottes und (3) Else im Jungbrunnen. Abb. 3: Die raue Else / Sigeminne, Bl. 53v, 55r, 55v. Die Begegnung zwischen Else und Wolfdietrich entstammt dem Fortunatus, der neun Mal in der Druckerei Gülfferich/ Han erschien, bevor der Schnitt seinen Weg auch ins Heldenbuch fand. 33 Es ist jedoch nicht irgendeine Szene aus diesem Werk, sondern die ikonische Übergabe des Wunschsäckels von Fortuna an Fortunatus, die als Titelholzschnitt einen 200 Rabea Kohnen 34 Neben dem Titelholzschnitt findet sich das Bild auch auf Bl. 24v im Druck von 1549 (VD 16 ZV 32427, Gülfferich) mit der Überschrift Wie die Jungfraw Fortuna Fortunatum mit einem Seckel begabt / dem nimmer Gelts gebrach. 35 Die Holzschnitte stimmen mit der Melusine-Ausgabe von 1556 (VD 16 M 4476) überein. Die göttliche Intervention findet sich dort auf Bl. L2r unter der Überschrift Wie das Gespenst den König straffet / darumb / das er keine andere Gab begeret / da er dem Sperber wachet / denn die Jungfrawen. Zu den Illustrationen dieser Ausgabe vgl. Gotzkowsky (wie Anm. 8), S. 143-221. 36 Damit schließt das Feyerabendsche Heldenbuch interessanterweise auf visueller Ebene wieder viel enger an die älteste Fassung des Textes (Wolfdietrich A) an, in der Else als Meerkönigin, die sich ganz nach ihrem Wunsch schön oder hässlich zeigen kann, sehr viel zarter um Wolfdietrich wirbt; vgl. zu dieser Fassung Miklautsch (wie Anm. 19), S. 136-138. maximalen Wiedererkennungswert gehabt haben dürfte. 34 Die beiden anderen Schnitte stammen aus der Melusine, die ebenfalls ein großer Verkaufserfolg des Hauses Gülffe‐ rich/ Han war. 35 Und auch für die Darstellung Elses im Jungbrunnen ist ein Titelholzschnitt benutzt, der sich durch den Schriftzug mit dem Namen der Protagonistin Melusine bzw. dem Titel des Werkes überdeutlich als intertextuelle Referenz ausweist. Ähnlich wie der Titel des Heldenbuches ist auch in diesem Schnitt eine Kondensierung des (hier genealogisch angelegten) Erzählprogramms zu finden, das Bild steht also pars pro toto programmatisch für das gesamte Werk. Es erscheint mir für einen zeitgenössischen halbwegs interessierten Leser kaum möglich, diese Zusammenhänge nicht zu erkennen. Sieht man von dieser intertextuellen Dimension jedoch für einen Moment ab, zeigt sich auch ohne sie eine Akzentuierung der anderen Seite der ambivalenten Figur Elses, die Betonung ihres Adels und ihrer Königswürde. Belastet man die intertextuelle Funktion stärker, rückt Else aus der literarischen Reihe der wilden Frauen bzw. wilden Menschen heraus und näher an die machtvollen, überirdi‐ schen, jenseitsweltlichen weiblichen Figuren wie Fortuna und Melusine heran, wodurch auch Wolfdietrichs Verhalten ihr gegenüber als Prüfung im Rahmen einer höfischen Liebesbeziehung zu einem feenhaften Wesen verstehbar wird. 36 Statt der Fokussierung, die der Illustrationszyklus des ersten gedruckten Heldenbuchs für dessen verschlungene Handlungslinien geleistet hat, ist die Bebilderung des Heldenbuchs von 1560 geeignet, innerhalb des Bandes und über ihn hinaus die Handlung weiter zu dimensionieren und zu vernetzen. Die hier gewählten Holzschnitte - und das ließe sich auch auf andere Episoden übertragen - bieten also gerade in ihrer Wiedererkennbarkeit als Illustrationen anderer Geschichten sinnvolle und anregende Interpretationsansätze für den sprachlichen Text des Heldenbuchs. Das intertextuelle Netz, das damit gesponnen wird, ist jedoch kein beliebiges, sondern durch das Inventar der Druckerei Gülfferich/ Han geprägt. Dieses ist natürlich ebenfalls kein Zufallsprodukt, sondern durch die Produktionsgeschichte des Betriebs be‐ stimmt, die wiederum auf literaturgeschichtliche Entwicklungen und die Präsenz einzelner Werke zu einer gewissen Zeit zurückgeht. Und das hat nicht nur Folgen für die einzelne Seite oder Episode, sondern für die Rezeption und Rezipierbarkeit des Heldenbuchs als Ganzes. 201 Poetik des Inventars 37 Helena Ord, „Kriemhild in Text-Image Constructions of the 1560 Heldenbuch“, t1p.de/ iyv2; Mi‐ klautsch (wie Anm. 19), S. 71; Ott (wie Anm. 17), S. 276f.; Schorbach (wie Anm. 1), S. 27. Ingrid Bennewitz stellt die Frage für das sinnstiftende Potential der Doubletten für das ebenfalls von Feyerabend herausgegebene Buch der Liebe, lässt ihre Beantwortung aber offen (Ingrid Bennewitz, „Liebesimagination, Rollencharakteristik und Textillustration im ‚Prosaroman‘“, in: Eros,Macht, Askese, Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Kunst und Literatur, hg. von Helga Sciurie, Trier 1996 [Literatur, Imagination, Realität 14], S. 343-360, hier S. 349). 38 Zu einer rezeptionsorientierten Perspektive auf Multimodalität vgl. Martin Steinseifer, „Die Ty‐ pologisierung multimodaler Kommunikationsangebote, Am Beispiel der visuellen Aspekte seiten‐ basierter Dokumente“, in: Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen: linguistische Typologien der Kommunikation, hg. von Stephan Habscheid, Berlin 2011 (de Gruyter Lexikon), S. 164-189. 39 So auch aus kunstgeschichtlicher Perspektive das Fazit von Simone Hespers, „Das Repräsentati‐ onssystem Bild im gedruckten Buch, Kunsthistorische Überlegungen zu Überlieferungssträngen und Rezeptionsästhetik der Illustrationen im Melusineroman Thürings von Ringoltingen (15. und 16. Jahrhundert)“, in: Daphnis 39 (2010), S. 135-220, hier S. 204. IV Architext Wenn sich die literaturwissenschaftliche Forschung bislang mit illustrierten Drucken beschäftigt hat, lag der Fokus zumeist auf der Einheit einer illustrierten Szene, also etwa der typographischen Gestaltungsebene einer Einzel- oder Doppelseite, wobei Doubletten innerhalb eines Bandes als Effekt eines marktwirtschaftlichen Interesses an der Wertstei‐ gerung des Buches durch die bloße Anzahl von Illustrationen erscheinen. So heben auch die Beschreibungen der Han/ Feyerabendschen Illustrationspraxis im Heldenbuch von 1560 in aller Regel auf die verringerte Kohärenz der Zeichenmodalitäten Sprache und Bild ab. 37 Dies ist mit Blick auf die jeweils illustrierte Szene oftmals zutreffend, aber die Frage bleibt relevant, warum gerade der jeweilige Holzschnitt aus dem vorhandenen Inventar ausgewählt wurde, inwiefern er den Produzenten und möglicherweise ja auch den zeitge‐ nössischen Rezipienten passend, oder zumindest passend genug, erschien. 38 Immerhin sind die schönen Figuren ein auf der Titelseite präsentiertes Verkaufsargument, das bei aller Freiheit der Vermarktung wohl kaum ironisch verstanden werden darf. Im Vergleich mit den vorherigen Drucken des Heldenbuchs hat sich gezeigt, dass neben vergleichbaren Inhalten in dargestellter Handlung, beteiligten Figurentypen und seltener Szenerien auch rein visuelle Ähnlichkeiten in Linien und Flächen zu einer solchen Passung beigetragen haben könnten. Die Semantik des Bildmotivs erzeugt bei einer solchen Positionierung bereits vorhandener Bilder aber genauso notwendigerweise Sinnpotentiale, wie die Verweise auf andere Verwendungskontexte innerhalb des gleichen Bandes und auf andere Werke und Kontexte. Damit wird das Inventar eines Druckers in Korrespondenz mit den Inventaren anderer Produzenten zu einem entscheidenden Faktor für die Sinnzusammenhänge der Zeichenmodalitäten im gedruckten Buch. 39 Diese Sinnpotentiale lassen sich sicherlich mit sehr unterschiedlichem Erfolg im illus‐ trierten Kontext aktualisieren. Entscheidender als der Blick auf den Einzelschnitt erscheint mir daher für die Lesbarkeit des Feyerabendschen Heldenbuchs - und mit ihm für eine ganze Reihe vergleichbarer Werke in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts - der Blick auf die allgemeineren Tendenzen des Inventars. Denn die optische Verwandlung des wilden Weibs Else in eine höfische Fee ist nicht, oder zumindest nicht nur, Effekt einer 202 Rabea Kohnen 40 Rabea Kohnen, „Körper der Sammlung. Multimodale Kotextualität in Siegmund Feyerabends Buch der Liebe“, in: Text, Körper, Textkörper, hg. von Carla Dauven-van Knippenberg, Christian Moser, Rolf Parr und Martina Wagner-Egelhaaf, Krottenmühl 2019 (Amsterdam German Studies), S. 61-78; Nicolas Potysch, Wiederholt doppeldeutig in Bild und Schrift, Hannover 2018; Hespers (wie Anm. 39); Nicolas Bock, „Im Weinberg der Melusine. Zur Editions- und Illustrationsgeschichte Thürings von Ringoltingen“, in: 550 Jahre deutsche Melusine - Coudrette und Thüring von Ringoltingen, Beiträge der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006. 550 ans de Mélusine allemande - Coudrette et Thüring von Ringoltingen, hg. von André Schnyder und Jean-Claude Mühlethaler, Bern 2008 (TAUSCH 16), S. 31-45, hier S. 45; Norbert Ott, „Leitmedium Holzschnitt. Tendenzen und Entwicklungslinien der Druckillustration in Mittelalter und früher Neuzeit“, in: Die Buchkultur im 15. und 16. Jahrhundert, Halbband 2, hg. von Barbara Tiemann, Hamburg 1999 (Veröf‐ fentlichung der Maximilian-Gesellschaft für das Jahr 1999), S. 163-252; Norbert Ott, „Überlieferung, Ikonographie - Anspruchsniveau, Gebrauchssituation. Methodisches zum Problem der Beziehungen zwischen Stoffen, Texten und Illustrationen in Handschriften des Spätmittelalters“, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, DFG-Symposion 1981, hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), S. 356-386; Lilli Fischel, Bilderfolgen im frühen Buchdruck. Studien zur Inkunabel-Illustration in Ulm und Straßburg, Konstanz 1963, S. 9. 41 Sebastian Speth, Dimensionen narrativer Sinnstiftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Textge‐ schichtliche Interpretation von ‚Fortunatus‘ und ‚Herzog Ernst‘, Berlin/ Boston 2017 (Frühe Neuzeit 210), S. 100-313. 42 Hartmut Stöckl, „Multimodalität. Semiotische und textlinguistische Grundlagen“, in: Handbuch Sprache im multimodalen Kontext, hg. von Hartmut Stöckl und Nina-Maria Klug, Berlin/ Boston 2016 (Handbücher Sprachwissen Band 7), S. 3-35, hier S. 25. 43 Hier schließe ich mich an die Überlegungen und Terminologie von Jürgen Spitzmüller an: Jürgen Spitzmüller, „Typographie. Sprache als Schriftbild“, in: Stöckl/ Klug (wie Anm. 42), S. 99-120, hier S. 107. Zur multimodalen Konstitution von Textsorten vgl. auch Wolfgang Kesselheim, „Sprachliche Oberflächen. Musterhinweise“, in: Habscheid (wie Anm. 38), S. 337-366. Einzelentscheidung. Es ist ein Reflex der visuellen Welt, die sich aus dem vorhandenen Bestand an Druckstöcken bildet. Die Fragen nach den ästhetischen und semantischen Potentialen von Doubletten, die in der Forschung zunehmend gestellt werden 40 , haben zu der Einsicht geführt, dass insbesondere der Prosaroman in seiner Illustrationspraxis ein visuelles Profil entwickelt, die ihn weniger über seine Inhalte denn als bestimmter Buchtyp verstehbar macht. 41 Diese Erkenntnis scheint mir in hohem Maße anschlussfähig an Konzepte der Multimodalität, wie sie aus der Linguistik heraus vor allem für zeitgenössische Artefakte entwickelt wurden. So stellt Hartmut Stöckl in einer Öffnung des methodischen Spektrums jüngst fest: Wie ein Text intern strukturiert und multimodal verfasst ist, hängt auch von seinen Bezügen zu benachbarten Zeichenangeboten ab. Hier ist darauf zu schauen, welche expliziten Verweise auf Nachbartexte vorkommen und welche gestalterischen Ähnlichkeiten zwischen den aktuellen und verwandten Texten es gibt. 42 Die Beobachtung wäre aus einer literatur- und mediengeschichtlichen Perspektive heraus fruchtbar zu machen und zugleich in diachroner Hinsicht weiterzuentwickeln. Zu fragen wäre mit Blick auf den hier verhandelten Gegenstand, wie das Erfolgsmodell Prosaroman und die an und mit ihm entwickelte Makrotypographie Rezeptionswege für seine Leser optisch auch dort vorspurt, wo moderne literaturgeschichtliche Kategorien ganz andere Zuordnungen vornehmen würden. 43 203 Poetik des Inventars 44 Aus der Melusine stammen 31 Bilder, inklusive der Doubletten 67 der Bilder des Heldenbuchs, aus dem Fortunatus stammen 27 Bilder, inklusive der Doubletten 46 Bilder des Heldenbuchs. 45 Der erste Wert gibt die Anzahl der aus dem jeweiligen Text entnommenen Bilder, der zweite die Anzahl der inklusive der Doubletten im Heldenbuch vorhandenen Bilder an: Kaiser Octavian (13/ 23), Ritter Galmy (10/ 17), Die sieben weisen Meister (6/ 9), Schimpf und Ernst (5/ 7), Celestina (3/ 3), Der Hürne Seyfrid (3/ 3), Eulenspiegel (2/ 4), Tristrant und Isalde (2/ 3), Ludovico de Varthema (1/ 1). Dazu kommt der neu geschnittene Titelholzschnitt. Vgl. dazu Gotzkowsky (wie Anm. 3). Gegenüber seiner Zusammenstellung ergab die erneute Sichtung nur zwei kleinere Abweichungen: Das auf Bl. 104v und 164v dargestellte Ritterduell ist eine Doublette zu Bl. 50v, nicht zu Bl. 42r; Bl. 91v ist ohne Abbildung, die von Gotzkowsky vermerkte Abbildung aus Schimpf und Ernst findet sich auf Bl. 91r. Für die gründliche Recherche und Auswertung danke ich von Herzen Melissa Bastian. Die zur Illustration des Heldenbuchs von 1560 verwandten Stöcke stammen wie gesagt überwiegend aus dem Fortunatus und der Melusine: 58 der 104 gebrauchten Bilder sind diesen beiden Werken entnommen und inklusive der Doubletten sogar 113 der 185, also rund 60 Prozent der gesamten Bilder des Heldenbuchs. Für diese beiden großen Verkaufserfolge lohnten sich die Anlage und der sukzessive Ausbau eines eigenen Bild‐ programms. 44 Mit geringerer Stückzahl sind neun weitere Titel vertreten, die teilweise ebenfalls dem Prosaroman zuzuordnen sind. 45 Manche dieser Werke würden aber in modernen literaturgeschichtlichen Kategorien ebenfalls ganz anders zugeordnet werden, beispielsweise dem Schwank (Eulenspiegel), dem Reisebericht (Ludovico de Varthema) oder der novellistischen Sammlung (Sieben weisen Meister). Sie alle verbindet aber eine Makrotypographie, die durch den Prosaroman als dominantes Textgenre bestimmt wird. Diese ist nicht nur in der Wiederverwendung von Bildern, sondern auch in anderen Faktoren, wie dem Aufbau der Seiten und der verwendeten Schrifttype begründet. Sehr deutlich aber wird Hans Brosamer als Künstler, der den weit überwiegenden Teil der Bilder für die Druckerei Gülfferich/ Han geschaffen hat, prägend für das Gesicht dieser Ausgaben. Auch für das Heldenbuch von 1560 ergibt sich bis auf wenige - und wie am Beispiel der Verwendung des Hürnen Seyfrid zu sehen war dadurch besonders markante - Ausnahmen der Effekt, dass das Heldenbuch von 1560 nicht mehr der typographischen Architextualität der vorausliegenden Heldenbücher folgt, sondern in seiner Makrotypographie aussieht wie ein Prosaroman und dementsprechende Rezeptionswege für seine Leser optisch vorspurt. Damit prägen besonders erfolgreiche, besonders ‚moderne‘ Titel das prototypische Bild deutschsprachiger erzählender Literatur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Der intensive Wiedergebrauch ihrer Illustrationen, der neben der direkten Doublette auch den Nachschnitt und die Imitation von Bildtypen umfasst, führt zu einer optischen Aktualisie‐ rung von Werken, die moderne Kategoriensystem ganz anderen Genres zuschreiben würde. Indem das Heldenbuch von 1560 mit seinem Titelbild an die Tradition der Heldenbücher andockt und in seiner Bildausstattung insgesamt der Architextualität des Prosaromans folgt, zeigt sich jedoch weniger ein Gegensatz, als ein Bezug auf eine größere Kategorie volkssprachlichen Erzählens als Ganzes. In der im 16. Jahrhundert zu beobachtenden fort‐ schreitenden Typisierung der Illustrationsmotive, die zunehmend mit Blick auf vielseitige Einsatzmöglichkeiten von spezifischen Details absehen, kommt das Medium des Buch‐ drucks mit beweglichen Lettern, beweglichen, auf Wiederholung angelegten Elementen künstlerisch zu sich selber, wobei ökonomische Sammlungen prägend für die Ästhetik und mit der Ästhetik für die gattungstypologische Lesbarkeit werden. Den Implikationen 204 Rabea Kohnen dieser Interdependenz verschiedener Zeichenmodalitäten auf der einen Seite und dem Zusammenspiel von Produktionsbedingungen und Genrekonstitution auf der anderen wäre unter dem Stichwort einer Poetik des Inventars über das Einzelwerk des Feyerabendschen Heldenbuchs hinaus nachzugehen. 205 Poetik des Inventars Literarische Texte als ‘Sammlungen’ 1 Adolf Spamer, Ueber die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten, Gießen 1910, S. 18-28. 2 Ulla Williams, „Vatter ler mich. Zur Funktion von Verba und Dicta im Schrifttum der deutschen Mystik“, in: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.-4. Oktober 1991, hg. von Rüdiger Blumrich und Philipp Kaiser, Wiesbaden 1994 (Wis‐ sensliteratur im Mittelalter 17), S. 173-188, hier S. 184-187; Hans-Jochen Schiewer, „‚Spamers Mosaiktraktate‘“, in: 2 VL, Bd. 9, Berlin/ New York 1995, Sp. 29-31; Burkhard Hasebrink, „Zersetzung? Eine Neubewertung der Eckhartkompilation in Spamers Mosaiktraktaten“, in: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität, hg. von Claudia Brinker, Urs Herzog, Niklaus Largier und Paul Michel, Bern u. a. 1995, S. 353-369; Regina D. Schiewer, „Gelassenheit ist (k)eine Tugend. Exzerpieren im Dienste der Mystagogik am Beispiel von Spamers Mosaiktraktaten“, in: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation, hg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt und Imke Früh, Göttingen 2012 (Historische Semantik 17), S. 171-204. Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive Stephen Mossman Spamers Mosaiktraktate - eine durch den Namen ihres ersten Erforschers Adolf Spamer (1883-1953) bekannt gewordene Textsammlung, wofür Spamer selbst den Begriff des ‚Mosaiktraktats‘ einführte 1 - ist erst in jüngster Zeit wieder Gegenstand literaturwissen‐ schaftlicher und frömmigkeitsgeschichtlicher Beschäftigung geworden. 2 Sie gehört zum kaum überschaubaren Bereich der spätmittelalterlichen geistlichen Kompilationsliteratur in deutscher Sprache, die als sekundäre Rezeptionszeugnisse der Schriften Meister Eckharts und seiner Zeitgenossen gegolten haben und zu einem beträchtlichen Teil immer noch gelten. Es geht mir im Folgenden darum, mich den um die Mitte des 14. Jahrhunderts verfassten Spamerschen Mosaiktraktaten aus literaturgeschichtlicher Perspektive zu nähern und das Phänomen ihrer Entstehung unter Verwendung einer speziellen Kompositions‐ technik in Abgrenzung zu den bisherigen, eher funktionsorientierten Erklärungsmodellen neu zu ergründen. Zunächst sollen die Konturen der Textsammlung und ihr Aufbau anhand inhaltlicher Kriterien herausgearbeitet werden, um sie als Einheit zu definieren. Damit soll der bisherigen Praxis begegnet werden, die Sammlung in Anlehnung an die Rubrizierung in den sie überliefernden beiden Handschriften aufzuteilen (Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85 und St. Peter perg. 102). Das dadurch gewonnene Verständnis der Mikro- und Makrostruktur der Mosaiktraktate erlaubt ihre Abgrenzung von anderen Texten (und auch Textsorten), die in der Forschungsliteratur und in Handschriftenkatalogen verschie‐ dentlich als Mosaiktraktate oder als mystische Kompilationen aller Art angesprochen werden. 3 Spamer (wie Anm. 1), S. 22. Auf dieser Grundlage sollen zur Würdigung der literarischen Kompositionstechnik, die den Spamerschen Mosaiktraktaten zugrunde liegt, Parallelen aus der lateinischen Centodichtung der Spätantike und der frühen Neuzeit herangezogen werden. Damit wird dem Concepteur der Mosaiktraktate weder die Kenntnis der Centodichtung unterstellt noch der Versuch unternommen, die Mosaiktraktate in eine ihnen fremde literarische Tradition einzureihen, auch wenn die Frage nach der Bekanntheit antiker Kompositionstechniken im Mittelalter berechtigt ist. Die Poetiken der Centodichtung und die referierten Einsichten ihrer literaturwissenschaftlichen Erforschung dienen allein dazu, auf bisher nicht beachtete literarische Aspekte der Mosaiktraktate und ihrer Kompositionstechnik hinzuweisen. Das betrifft nicht nur die Textkenntnis und die Gedächtnisleistung, die man hinter der Kompositionstechnik zu vermuten hat, sondern auch und vor allem die Funktionen der intertextuellen Bezüge zwischen den Mosaiktraktaten und ihren Quellen. Die neue litera‐ turgeschichtliche Perspektivierung der Mosaiktraktate lässt andere als die bisher geltenden Rückschlüsse auf ihre möglichen Entstehungs- und Rezeptionskontexte ziehen. Wir haben es hier nämlich mit keiner aus dem Schulbetrieb stammenden Textzusammenstellung zu tun, die die Lehren der deutschen Mystik für ein nicht scholastisch gebildetes Publikum in handhabbarer Systematik aufbereitete, sondern mit einer eigenständigen und beach‐ tenswerten literarischen und geistigen Schöpfung, die sich zwar in der Schule gelernter Techniken der Textkomposition bedient, aber weit über sie hinausgeht und dadurch einen einzigartigen und wesentlichen Beitrag zu einem bestimmten mystischen Diskurs um die Mitte des 14. Jahrhunderts und den damit verbundenen Ausdrucksmöglichkeiten der Volkssprache leistet. I Spamers Mosaiktraktate in makro- und mikrostruktureller Hinsicht Es gibt keine allgemein anerkannte Definition des Mosaiktraktats, der eher eine Sam‐ melbezeichnung für verschiedene, aus bereits bestehenden Texten zusammengesetzte Textkorpora als einen klar definierten Texttyp oder eine erschlossene Gattung darstellt. Man darf zwar mit Spamer den Mosaiktraktat als ein aus kleinen Textbausteinen gebautes Kompilat bezeichnen, „bei dem in mühseliger und liebevoller Arbeit ein Steinchen an das andere zum Mosaik gesetzt ist und [das] den Beschauer nicht daran denken läßt, daß seine Einzelteile auch ein Eigenleben führen können,“ 3 aber diese gelungene Formulierung, die als wissenschaftliche Definition im strengen Sinne nicht gemeint war, erlaubt immer noch, an die unterschiedlichsten Kompositionstechniken zu denken. Um Spamers Mosaiktraktate in den Karlsruher Handschriften von anderen, ebenfalls mit gewisser Berechtigung als ‚Mosaiken‘ bezeichneten Kompilationen zu unterscheiden, empfiehlt sich eine Herangehensweise ex negativo. Die erste von den Spamerschen Mosa‐ iktraktaten abzugrenzende Variante eines mosaikartigen Kompilats stellt das systematische Exzerpieren eines Textes oder einer Textsammlung (also gewissermaßen einer Bibliothek) dar, indem einzelne Bausteine aus den jeweiligen Quellen aneinandergereiht und gelegent‐ lich auch zu einem neuen Ganzen, einer Art von Kurzfassung, zusammengefügt werden, ohne dass die in der Vorlage vorkommende Reihenfolge der Textbausteine verändert 210 Stephen Mossman 4 Heidemarie Vogl, Der ‚Spiegel der Seele‘. Eine spätmittelalterliche mystisch-theologische Kompilation, Stuttgart 2007 (Meister-Eckhart-Jahrbuch. Beihefte 2), zur Kompilationstechnik insbes. S. 276-280. 5 Hasebrink (wie Anm. 2), S. 368. 6 Loris Sturlese und Elisa Rubino, Bibliotheca Eckhardiana manuscripta. Studien zu den lateinischen Handschriften der Werke Meister Eckharts, Teilbd. 1, Avignon-Berlin, Stuttgart 2012 (Meister Eckhart. Die deutschen und lateinischen Werke. Untersuchungen 3), S. 57-218, mit dem Zitat S. 59. 7 Freimut Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ‚Von der sel wirdichait vnd aigenschafft‘, Tübingen 1999 (Texte und Textgeschichte 48), insbes. S. 311-323, und zur Biographie Peugers S. 25-31; vgl. Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts, Bd. 2, Meister Eckhart, hg. von Franz Pfeiffer, Leipzig 1857, S. 394-416. 8 Kurt Ruh, „‚Die Blume der Schauung‘. Zur Überlieferung und Textgeschichte eines mystischen Traktats“, in: Wortes anst - Verbi gratia. Donum natalicium Gilbert A. R. de Smet, Leuven/ Amersfoort 1986, S. 401-409, hier S. 403; Die Blume der Schauung, hg. von Kurt Ruh, München 1991 (Kleine deutsche Prosadenkmäler des Mittelalters 16), S. 22f. und 28. wird. Der im ostschwäbischen Raum wohl erst gegen 1450 entstandene Spiegel der Seele, der in der Forschung wegen seiner mystisch-theologischen Ausrichtung oft in einem Zug mit den etwa ein Jahrhundert älteren Spamerschen Mosaiktraktaten genannt wurde, bis Heidemarie Vogl die ihm zugrunde liegende Kompilationstechnik in vorbildlicher Quellenanalyse aufarbeitete, ist hier als prägnantes Beispiel dieser Aneignungsform zu nennen. 4 Auch das im 14. Jahrhundert wohl im Kreis der Kölner Eckhartisten entstandene Compendium Basileense Operis tripartiti, das Burkhard Hasebrink als lateinisches Pendant zu Spamers Mosaiktraktaten vorsichtig in Erwägung zog, 5 und neulich von Elisa Rubino als „ein seltsames und ziemlich änigmatisches Eckhart-Mosaik“ beschrieben wurde, stellt eine exzerpierende Kurzfassung von Eckharts lateinischem Werk dar, in der die Reihenfolge der Vorlage (Eckharts Opus tripartitum in der sog. CT-Rezension) streng beibehalten wurde. 6 Als Mosaiktraktate lassen sich des Weiteren Texte bezeichnen, in denen die durch die Vorlage vorgegebene Reihenfolge bei der Aneinanderreihung und Zusammenfügung der Textbausteine zwar gelegentlich aufgegeben wird, aber die Zusammenstellung nach einem einfachen Prinzip und ohne großen Aufwand erfolgt. Der Traktat Von der sel wirdichait vnd aigenschafft des zwischen 1419 und etwa 1455 im österreichischen Benediktinerkloster Melk als Laienbruder lebenden Lienhart Peuger ist hier an erster Stelle zu nennen. Hatte Franz Pfeiffer den Traktat 1857 irrtümlich unter dem Namen Eckharts herausgegeben, so konnte Freimut Löser inzwischen nachweisen, dass Peuger den Inhalt aus Eckharts Werken nach dem „denkbar einfachste[n]“ Prinzip schöpfte, indem er Eckharts Schriften nach Aussagen zum Stichwort ‚Seele‘ durchkämmte und sie (meistens aber nicht durchgehend) thematisch aneinanderreihte. 7 Es gilt ferner auf Komposittraktate hinzuweisen, in denen größere Absätze aus Quellen‐ texten zusammengestellt werden. Kurt Ruh hat den Begriff ‚Komposittraktat‘ mit Bezug auf den wohl im dritten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandenen mystischen Traktat Die Blume der Schauung geprägt, und betonte dabei, dass der Unterschied zwischen diesen ver‐ wandten Kompilationstechniken in der unterschiedlichen Länge der zusammengestellten Textblöcke bestehe. Es ist allerdings zu beachten, dass die von Ruh herausgearbeiteten Quellen der Blume der Schauung ausschließlich lateinische Texte sind, die der Kompilator zunächst ins Deutsche übersetzt und dann in lockerer Reihenfolge nebeneinandergestellt hat. 8 Komposittraktate, die auf deutschsprachige Quellen zurückgehen, lassen sich ebenfalls 211 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 9 Spamer (wie Anm. 1), S. 29-83. 10 Texte aus der deutschen Mystik des 14. und 15. Jahrhunderts, hg. von Adolf Spamer, Jena 1912, S. 95-99. 11 Texte aus der deutschen Mystik (wie Anm. 10), S. 95,1-19; entspricht Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 102, Bl. 7v-8r und St. Peter perg. 85, Bl. 10ra-b. 12 Texte aus der deutschen Mystik (wie Anm. 10), S. 96,7-27; vgl. Meister Eckhart, Die deutschen Werke, hg. von Josef Quint und Georg Steer, 5 Bde, Stuttgart 1936-, hier Bd. 3, S. 380,2-382,5. identifizieren. Darauf gilt es weiter unten im Zusammenhang mit dem Lehrsystem der deutschen Mystik einzugehen. Trotz ihrer vielfältigen Unterschiede ist allen Varianten des literarischen Mosaiks gemeinsam, dass sie kein oder kaum textuelles Eigengut ihrer Concepteure enthalten und ausschließlich aus Textbausteinen bestehen, die aus den Steinbrüchen ihrer Quellen gewonnen wurden. Diese Beobachtung trifft in gewissem Sinne auch auf Spamers Mosaik‐ traktate zu. Auch für sie ist die Kleinteiligkeit des kompilatorischen Verfahrens kennzeich‐ nend, wobei einzelne Sätze und Halbsätze aus den verschiedensten Texten und Kontexten herausgelöst und in thematisch streng geordneter Folge neu zusammengesetzt wurden, um einen vollkommen eigenständigen Text mit einer ihm eigenen Logik entstehen zu lassen. Spamer hat bei der Identifizierung der zugrunde liegenden Quellen Erstaunliches geleistet. Seine in eine mathematische Formelsprache gegossene Aufschlüsselung der Quellen setzt immer noch Maßstäbe. 9 1912 gab er einen einzelnen Abschnitt aus den Mosaiktraktaten zum Wesen Gottes heraus, wobei er jeden neu einsetzenden Textbaustein mit einem (in den Überlieferungszeugen natürlich nicht vorhandenen! ) Sternchen markierte. 10 Zur Verdeutlichung des kompilatorischen Verfahrens gebe ich zunächst nur den ersten Absatz dieses Abschnitts nach Spamers Abdruck wieder: Ez kan von gotte nieman reden eiginliche, daz er ist. * Sancte dyonisius sprichet: got ist niht, daz man gesprechen oder gedenken kan. * Sanctus augustinus sprichet: ich, der do ie in gotte waz vnd iemer me sin sol, mir were lieber, daz ich nie worden were noch niemer werden solte, dan wir daz minneste wort ergrúnden mohten, daz man von gotte sprechen mac. * Wande mvͤze wir reden von gotte, so sprich ich: werliche, got ist, daz in kein sin begrifen noch erlangen mac. * Got ist, daz man niht besserz erdenken kan. Vnd ich spriche: got ist besser, dan man gedenken kan, * vnd ist vber allez, daz man gedenken kan. * Nieman weiz, waz got ist. * Wan allez, daz man von gotte gedenken kan oder mac, daz en ist got alze male niht. * Vnd daz ist vnzere sele nature, daz sv niht erfúllet mac werden dan mit gotte. * Allez daz gervnge geren mac, daz ist do vch gar verre vnd kleine gegen gotte. * Man enkan niemer so groz noch so vil gedenken, man mvͤge me geren dan gedenken. * Vnd er ist doch vber allez, daz man geren mac, * vnd vber allez, daz man gedenken mac.  11 Nicht jeder Textbaustein ist von solch kurzem Umfang wie die im zitierten Textbeispiel enthaltenen Elemente. Die längeren Ausführungen eines ‚heidnischen Meisters‘, die der Eckhart-Predigt Q 80 entnommen sind, beanspruchen 18 Zeilen in Spamers Abdruck, 12 aber Textbausteine in dieser Länge bilden insgesamt eher die Ausnahme als die Regel. Es sind der kleinteilige Aufbau und der generell geringe Umfang der Textbausteine, die Spamers Mosaiktraktate von dem ihnen wohl am nächsten verwandten ‚Mosaik‘ unterscheiden, dem sogenannten Lehrsystem der deutschen Mystik (auch Compilatio mystica genannt), das gegen Ende des 14. Jahrhunderts im deutschen Südwesten und wohl im 212 Stephen Mossman 13 Maxime Mauriège, „La Compilatio mystica ou le doux miel de la mystique rhénane“, in: Revue de l’histoire des religions 230 (2013), S. 485-507, hier S. 489-495 zur Überlieferung und zum Entstehungskontext; vgl. auch Volker Honemann, „‘Lehrsystem der deutschen Mystik’“, in: 2 VL, Bd. 5, Berlin/ New York 1985, Sp. 676-678. 14 The Compilatio mystica (Greith’s Traktat) in the Original. An Edition of MS. C 108b Zürich with Reference to Four Other Parallel Manuscripts, hg. von Rosemary Cadigan, Diss. University of North Carolina at Chapel Hill 1973: vgl. S. 73f., 304-306 und 329-332 für eine Quellendichte, die mit der in Spamers Mosaiktraktaten vorhandenen konkurrierte; zu ähnlich strukturierte Kompilaten siehe Spamer (wie Anm. 1), S. 84-119. 15 Mauriège (wie Anm. 13), S. 500f.; zur Quelle vgl. Karl-Heinz Witte, „Meister des Lehrgesprächs“, in: 2 VL, Bd. 6, Berlin/ New York 1987, Sp. 331-340, hier Sp. 332-334. 16 Felix Heinzer und Gerhard Stamm, Die Handschriften von St. Peter im Schwarzwald, Teil 2: Die Pergamenthandschriften, Wiesbaden 1984 (Die Handschriften der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe 10), S. 177f. und 196-198. Mit Ausnahme einiger Hymnen- und Gebetsinitien längeren Umfangs bietet der Text des besagten Fragments im Vergleich zum edierten Standardwerk keine Abweichungen an, die eine Lokalisierung hätten ermöglichen können; vgl. Ordinarium juxta ritum sacri ordinis fratrum praedicatorum, hg. von Franciscus-M. Guerrini, Rom 1921, Nrr. 29-36 und 47-51. Umfeld des Dominikanerordens entstanden ist. 13 Mag das Lehrsystem den Spamerschen Mosaiktraktaten in der Kompositionstechnik auch ähnlich sein, zeichnet es sich doch dadurch aus, dass die einzelnen Textbausteine in der Regel erheblich länger als jene der Spamerschen Mosaiktraktate sind. Es gibt nur an einigen wenigen Stellen Textpassagen, die aus solch kleinen Satzteilen zusammengesetzt sind, dass sie mit dem oben angeführten Textbeispiel aus Spamers Mosaiktraktaten vergleichbar wären. 14 Die Grenze zwischen ‚Mosaiktraktat‘ einerseits und aus deutschsprachigen Quellen zusammengesetztem ‚Kom‐ posittraktat‘ andererseits ist allem Anschein nach offen. Anders sieht der Befund aus, wenn man den Aufwand bei der stilistischen Anpassung und der syntaktischen Harmonisierung der Textbausteine betrachtet und feststellt, dass dieser im Falle des Lehrsystems deutlich geringer ausfällt. Dies wird vor allem bei den Absätzen, die dialogisch strukturierten Quellen entnommen wurden, in der verblüffenden Wirkung häufig wechselnder Anrede‐ formeln ersichtlich. Der gesamte Einleitungsteil des Lehrsystems weist eine auffällig hohe Frequenz an solchen Brüchen auf. Das ist darauf zurückzuführen, dass er kein Eigengut des Kompilators ist, wie früher angenommen wurde, sondern, wie Maxime Mauriège unlängst nachweisen konnte, aus dem - nur in einer einzigen Handschrift vollständig überlieferten und somit ansonsten seinerseits kaum rezipierten - Meister-Jünger-Dialog Der menschen adel, val vnd erlösung des sogenannten ‚Meisters des Lehrgesprächs‘ exzerpiert, aber nur unzureichend angepasst wurde. 15 Die beiden Karlsruher Handschriften von Spamers Mosaiktraktaten sind aus paläogra‐ phischen Gründen um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datieren; sie überliefern den Text in niederalemannischer Schreibsprache, aber beinhalten keine unmittelbaren Angaben zu ihrer Provenienz vor ihrem Erwerb 1781 durch die Abtei St. Peter im Schwarzwald. Der Koperteinband der Handschrift St. Peter perg. 102 wurde allerdings unter Verwendung eines Makulaturblattes aus einem dominikanischen Ordinarium hergestellt. 16 In der Quel‐ lenauswahl sind die deutschen Dominikaner des frühen 14. Jahrhunderts in ihrer vollen Bandbreite vertreten, und „die Zuschreibung eines Spruches […] an den sel. Prior von Freiburg“ ist, wie Hans-Jochen Schiewer treffend bemerkte, „entstehungsgeschichtlich 213 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 17 H.-J. Schiewer (wie Anm. 2), Sp. 30; vgl. Spamer (wie Anm. 1), S. 82, und Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85, Bl. 99ra: vnd alz daz ertrihe gezierit ist in siner besten zit alse wirt die sel gezieret vor gote von eime gůten gedanke. wande der heilige priol selge von friborg sprach. daz ein reht gedanc in got gerihtet den mensche me lones berihte dan drizic iar vzer arbeiten die doch gůt weren. Er sprach me. daz got den menschen. alles sins lebendes vor vnd noch gehabet lonen wil nach der aller hoͤhesten wonunge die ez mit gote vf ertrich ie gewan ob es ioch dar nah nie mer me zů der gnaden komit verluret es iz niht mit tot sunden vnd blibet gůtez willen so wil ez got ane vnderlaz an sehen alz in der selben wonvnge. 18 Hasebrink (wie Anm. 2), S. 355f., mit Auflistung der bedeutendsten inhaltlichen Indizien, die auf einen dominikanischen Entstehungskontext hindeuten (vgl. S. 355 Anm. 15). 19 Spamer (wie Anm. 1), S. 28; Heinzer/ Stamm (wie Anm. 16), S. 197. 20 Spamer (wie Anm. 1), S. 24. 21 H.-J. Schiewer (wie Anm. 2), Sp. 31. bedeutsam“. 17 An der Annahme, dass die Entstehung sowohl der Mosaiktraktate als auch der Karlsruher Handschriften im dominikanischen Milieu zu verorten ist - wohl in oder um Straßburg, wie Hasebrink vermutete -, ist aus diesen und mehreren anderen inhaltlichen Kriterien nicht ernsthaft zu zweifeln. 18 Der Textbestand in den beiden Handschriften ist jedoch nicht identisch. Durch Verlust der ersten Lage in St. Peter perg. 102 fehlt der Textbeginn in dieser Handschrift, aber es fehlen dort auch die Textabschnitte - nach Spamers Nummerierung - 97-98, 105, 107 und 112-128 (einschließlich der Nr. 121 mit den Sprüchen des ‚seligen Priors von Freiburg‘). 19 Spamer hat die Texte nach ihrer Einteilung durch die Großbuchstaben und Rubrizie‐ rungen in St. Peter perg. 85 nummeriert, und zählte insgesamt 128 Abschnitte; dabei war ihm schon bewusst, dass diese paratextuellen Elemente, die er darüber hinaus nicht konsequent beachtete, mit ziemlicher Willkür eingeführt worden waren („wobei ich die Stücke da beginnen lasse, wo sie die Handschrift durch neue Initialen markiert, ohne Rücksicht darauf, daß so einzelnes zusammengehörige auseinandergerissen wird“). 20 Nehmen wir die Nr. 125 zur Verdeutlichung dieser Problematik: Sie ist kein Mosaik, sondern eine vollständige Abschrift der Eckhart-Predigt Q 2 (Intravit Iesus in quoddam castellum; Lc 10,38). Einerseits führte Spamer sie treffend als Einheit an; andererseits wurde sie aber in der Handschrift St. Peter perg. 85 (Bl. 101ra-104ra) in mehrere durch rote Großbuchstaben markierte Einzelabschnitte unterteilt, die Spamer in seiner Behandlung der Mosaiken als Einzelnummer aufgeführt hätte. Ein anderes Beispiel: Auf Bl. 7vb wird der Anfang eines Augustinuszitats durch eine rote Initiale markiert, die das Zitat von der dazugehörigen Einleitungsformel s. augustinus sprichet trennt; Spamer hat hier die Initiale zu Recht ignoriert und keinen neuen Textabschnitt gezählt, dafür aber zwei identische Initialen in der Spalte direkt daneben (Bl. 7va) jeweils als Anfänge neuer Abschnitte (Nrr. 14 und 15) angesehen, und dies trotz der Tatsache, dass die Texte inhaltlich eindeutig zusammengehören und als Teil eines Traktats anzusehen sind, der insgesamt die Nrr. 12-15 (Bll. 6vb-7vb) umfasst. Hans-Jochen Schiewer verwies auf den bisher unberücksichtigten Eintrag im Vorderspiegel der Handschrift, nach dem eine etwas jüngere und unbeholfene Hand insgesamt 139 Textstücke identifizierte (Item an disem b. stund c vnd xxxviiij predig vnd leren vnd sprúch an gesc.), aber die Anzahl beruht wohl allein auf einer anderen Zählung der durch Großbuchstaben unterteilten Textabschnitte in der Handschrift und besitzt somit keine eigenständige Aussagekraft. 21 214 Stephen Mossman Der Aufbau der Textsammlung wird erst ersichtlich, wenn man textinterne Kriterien heranzieht: Das ist zum einen die deutliche thematische Kohärenz zwischen einzelnen Abschnitten, zum anderen das Vorhandensein von Eröffnungs- und Schlussformeln. Eine nach diesen Prinzipien gestaltete Lektüre erlaubt mit einiger Sicherheit die Identifizierung von insgesamt 43 Mosaiken, die in beiden Handschriften überliefert sind. Hinzu kommen drei weitere Kompilate im (in St. Peter perg. 102 nicht vorhandenen) Schlussteil von St. Peter perg. 85, die möglicherweise ebenfalls als Mosaiken zu gelten haben. Die Reihenfolge der Mosaiken wird mehrmals durch kleinere Sammlungen von geistlichen Kurztexten und einzelnen Predigten unterbrochen, die öfters auch in anderen Handschriften überliefert sind. Obwohl sie kein Eigengut des Mosaiktraktat-Kompilators darstellen, gehören sie trotzdem zur Gesamtkonzeption der Textsammlung. Die Art von Einbettung der Mosaiken in den Überlieferungskontext mystischer Kurztexte - vor allem deutschsprachiger Quaes‐ tionen und sog. Eckhart-‚Sprüche‘ - ist für die kultur- und literaturgeschichtliche Verortung der Mosaiken von besonderer Bedeutung. Darauf ist im dritten Teil zurückzukommen. Zunächst ist aber der Aufbau der Textsammlung tabellarisch zu präsentieren: Dabei erscheinen meine neu eingeführten Nummerierungen der Mosaiken fett, und die alte Zählung Spamers in runden Klammern nach den Blattangaben zur Handschrift St. Peter perg. 85. Die Kurztexte werden nicht einzeln, sondern als Blöcke aufgeführt. 1 (Bl. 1ra-2ra, Nr. 1); 2 (Bl. 2ra-3ra, Nr. 2); 3 (Bl. 3ra-4va, Nr. 3); 4 (Bl. 4va-5vb, Nrr. 4-5); geistliche Kurztexte (Bl. 5vb-6vb, Nrr. 6-11); 5 (Bl. 6vb-7vb, Nrr. 12-15); 6 (Bl. 7vb-9ra, Nr. 16); 7 (Bl. 9ra-10ra, Nr. 17); 8 (Bl. 10ra-11va, Nr. 18); 9 (Bl. 11va-13va, Nr. 19); 10 (Bl. 13va-14va, Nr. 20); 11 (Bl. 14va-16ra, Nr. 21); 12 (Bl. 16ra-17va, Nr. 22); 13 (Bl. 17va-19va, Nr. 23); 14 (Bl. 19va-24ra, Nrr. 24-25); 15 (Bl. 24ra-27ra, Nr. 26); 16 (Bl. 27ra-30rb, Nrr. 27-28); 17 (Bl. 30rb-32vb, Nrr. 29-31); 18 (Bl. 32vb-38ra, Nrr. 32-34); 19 (Bl. 38ra-39vb, Nr. 35); 20 (Bl. 39vb-41vb, Nrr. 36-37); 21 (Bl. 41vb-42vb, Nr. 38); 22 (Bl. 42vb-45rb, Nrr. 39-40); 23 (Bl. 45rb-vb, Nr. 41); 24 (Bl. 45vb-49vb, Nrr. 42-47); 25 (Bl. 49vb-51vb, Nr. 48); geistliche Kurztexte (Bl. 51vb-59va, Nrr. 49-73); Eckhart? -Predigt Pfeiffer 18 (Bl. 59vb-60va, Nr. 74); 26 (Bl. 60va-61rb, Nr. 75); 27 (Bl. 61rb-62rb, Nrr. 76-77); 28 (Bl. 62rb-vb, Nrr. 78-79); 29 (Bl. 62vb-65va, Nr. 80); 30 (Bl. 65va-67va, Nrr. 81-83); 31 (Bl. 67va-68va, Nr. 84); 32 (Bl. 68va-69ra, Nr. 85); 33 (Bl. 69ra-70va, Nrr. 86-87); 34 (Bl. 70va-71ra, Nr. 88); 35 (Bl. 71ra-73ra, Nr. 89); geistliche Kurztexte (Bl. 73ra-76va, Nrr. 90-97); 36 (Bl. 76va-77vb, Nrr. 98-100); geistlicher Kurztext (Bl. 77vb-78ra, Nrr. 101-102); 37 (Bl. 78ra-79rb, Nrr. 103-104); 38 (Bl. 79rb-83rb, Nr. 105); 39 (Bl. 83rb-84va, Nr. 106); 40 (Bl. 84va-87vb, Nr. 107); 41 (Bl. 87vb-90ra, Nrr. 108-109); 42 (Bl. 90ra-91ra, Nr. 110); 43 (Bl. 91ra-92rb, Nr. 111; damit Ende der Textsammlung in St. Peter perg. 102); 44? (Bl. 92rb-va, Nr. 112); Eckhart? -Predigt Pfeiffer 70 (Bl. 92va-vb, Nr. 113); geistliche Kurztexte (Bl. 92vb-95ra, Nrr. 114-119); 45? (Bl. 95rb-va, Nr. 120); 46? (Bl. 95va-99ra, Nr. 121); geistliche Kurztexte (Bl. 99ra-100va, Nrr. 122-124; Bl. 100vb leer); Eckhart-Predigt Quint 2 [Pfeiffer 8] (Bl. 101ra-104ra, Nr. 125); geistlicher Kurztext (Bl. 104ra-vb, Nr. 126); Vita S. Pauli primi eremitae, deutsch (Bl. 105ra-108va, Nr. 127); Alemannische Verba seniorum, die ersten 20 Sprüche (Bl. 108va-109vb, ebenfalls Nr. 127); Gedicht Von dem überschalle (Bl. 110r-111r, Nr. 128). Ob die im Schlussteil von St. Peter perg. 85 (d. h. ab Bl. 92rb) enthaltenen Texte, die in der Schwesterhandschrift St. Peter perg. 102 fehlen, dennoch zum Bestand ihrer gemeinsamen Vorlage gehörten, ist schwierig zu entscheiden. Nur beim mystischen Gedicht Von dem 215 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 22 Zum Gedicht Von dem überschalle in dieser Handschrift siehe Judith Theben, Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts. Untersuchungen, Texte, Repertorium, Berlin/ New York 2010 (Kulturto‐ pographie des alemannischen Raums 2), S. 42, 111, 136 f., 151 f., 185 f. und 497, mit der Textausgabe S. 366-392 unter Heranziehung dieser Handschrift im Lesartenapparat (Sigle Ka 1 ); Textabdruck allein nach dieser Handschrift bei Franz Josef Mone, „Uebergänge hochteutscher und niederländischer Literatur“, in: Anzeiger für Kunde des deutschen Mittelalters 3 (1834), Sp. 177-181, hier Sp. 177-179. Während Mone die Hand ins 14. Jahrhundert datierte, plädierte Theben stattdessen dafür, dass die Schrift des Doppelblattes „so regelmäßig und ohne besondere Auffälligkeiten [ist], dass sie wahrscheinlicher aus dem Ende des 15. Jahrhunderts stammt - dann würde sie in gewisser Weise die Schriften des Buchdrucks nachahmen“ (S. 152). Die Ähnlichkeiten mit den Schriftformen des typographischen Buchdrucks leuchten mir nicht unbedingt ein. Wir haben es hier doch mit einer sorgfältigen Textualis formata aus der Mitte, vielleicht der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu tun (vgl. die Bogenverbindungen zwischen de, do und gelegentlich auch be; die durchgehende Brechung der Schäfte; und vor allem die früher als später ins 14. Jahrhundert weisenden Buchstabenformen h, r, z und ‚Köpfchen-a‘ mit offenem oberen Bogen). Eine detailliertere Behandlung des Doppelblattes bereite ich im Lichte von mir neuidentifizierter Fragmente von Die Blume der Schauung und Von dem überschalle vor, die als Makulatur im Einband von Stuttgart, Württemb. Landesbibl., Cod. theol. et phil. 4 o 52 verwendet wurden. 23 Williams (wie Anm. 2), S. 184-186, mit dem Zitat S. 185. 24 Die ‚Alemannischen Vitaspatrum‘. Untersuchungen und Edition, hg. von Ulla Williams, Tübingen 1996 (Texte und Textgeschichte 45), S. 15* und 30*. 25 Hasebrink (wie Anm. 2), S. 365f. 26 Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85, Bl. 49vb-50ra: Sanctus paulus schribet in der lezen. ir sultit gote noch volgen alze sine aller liebesten vzzer welten kinder. vnd soͤlnt wonen in der minnen (vgl. überschalle (Bl. 110r-111r) ist diese Frage eindeutig zu verneinen, da sie von einer anderen Hand auf einem separaten Doppelblatt eingetragen wurde. 22 Die im Schlussteil enthaltenen Texte sind nichtsdestotrotz text- und entstehungsgeschichtlich eng mit den Mosaiken des Hauptteils verbunden. Erstens sind auf Bl. 108va-109vb die ersten zwanzig Sprüche der Alemannischen Verba seniorum enthalten - der Text bricht am Lagenende abrupt ab, und ein Reklamant weist auf den Verlust zumindest einer weiteren Lage hin - und insgesamt fünfzehn weitere Sprüche der Verba seniorum „im genauen Wortlaut der alemannischen Übersetzung“ sind in die Mosaiken aufgenommen worden. 23 Da die Handschrift auch eine der zwei ältesten Zeugnisse der Alemannischen Verba seniorum überhaupt ist, stellt diese Verbindung wohl keinen Zufall dar. 24 Zweitens wiederholt der Text auf Bl. 99ra-va im Schlussteil (Spamers Nr. 122) wörtlich die ersten zwei Drittel des Textes auf Bl. 51vb-52va (Spamers Nr. 49), in dem Hasebrink eine adaptierende Kurzfassung des Traktats Von abegescheidenheit erkannte, deren Verfasser den Begriff der abegescheidenheit durch den der lúterkeit systematisch ersetzt hatte. 25 Spamers Mosaiktraktate sind also als eine Reihe von 43 bzw. 46 Einzeltexten anzusehen, deren Einheit als Sammlung im Hauptteil viermal, im Schlussteil noch zweimal durch Zusammensetzungen geistlicher Kurztexte unterbrochen wird. Wir können nicht wissen, ob die jetzige Reihenfolge auch die vom Concepteur der Mosaiktraktate intendierte ist. Thematische Verwandtschaften sind zwischen einzelnen Mosaiken (z. B. meinen Nummern 6+7, 12+13 und 34+35) festzustellen, auch wenn keine Systematik der Gesamtabfolge erkennbar ist. Ziemlich viele führen Paulus- und Augustinuszitate am Anfang an, und entwickeln insofern eine Nähe zur Predigt; einmal wird sogar auf eine vorausgegangene Epistellesung verwiesen, um den Eindruck eines Predigtanlasses noch deutlicher zu erwecken. 26 In einigen wenigen Fällen liegt einem Mosaik das Gerüst einer einzelnen 216 Stephen Mossman Eph. 5,1-2). Die Quelle hat Spamer für den Anfangsteil seiner Nr. 48 (meiner Nr. 25) nicht nachweisen können: Spamer (wie Anm. 1), S. 64. 27 R. D. Schiewer (wie Anm. 2), S. 173f., mit Textausgabe S. 188f. und 201. 28 Unter der florierenden Literatur zur lateinischen Centodichtung seien zur Einführung stellvertretend genannt: Scott McGill, Virgil Recomposed. The Mythological and Secular Centos in Antiquity, Oxford 2005 (American Classical Studies 48), S. xv-xvi; Martin Bažil, Centones christiani. Métamorphoses d’une forme intertextuelle dans la poésie latine chrétienne de l’Antiquité tardive, Paris 2009 (Collection des Études Augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps Modernes 47), S. 43-47; und ders., „Les quatre sens de l’écriture centonisée. À propos de l’usage spécifique de la technique du centon au moyen âge“, in: Auctor et auctoritas in latinis medii aevi litteris. Author and Authorship in Medieval Latin Literature, hg. von Edoardo d’Angelo und Jan M. Ziolkowski, Florenz 2014 (MediEVI 4), S. 45-56, hier S. 45-47 mit weiterführender Bibliographie. 29 McGill (wie Anm. 28), S. 1-4. Predigt zugrunde. Diese Kompilationsform hat Regina Schiewer am Beispiel des ersten Mosaiks (Nr. 1 sowohl in meiner als auch in Spamers Zählung) eingehend untersucht: zumindest in seinem ersten Teil bildet die Eckhart-Predigt S 100 die durch interpolierte Zusätze bereicherte Grundlage des Mosaiks. 27 Anhand Spamers Quellennachweise lässt erkennen, dass z. B. die Nrr. 27, 36-38 und 40 in meiner Zählung sich wohl auch dieser eher selten anzutreffenden Kompilationsform bedienen. Auf die predigthaften Elemente in den Mosaiken ist im zweiten Teil noch zurückzukommen. Nichtdestotrotz sind die Mosaiken als ‚Traktate‘ zu betrachten. Einige sind überhaupt nicht als Predigten, sondern als Quaestiones gestaltet (z. B. die Nrr. 3, 11 und 39 in meiner Zählung). II Spamers Mosaiktraktate und die lateinische Centodichtung Die nächste Parallele zu Spamers Mosaiktraktaten ist nicht in der deutschen, sondern in der lateinischen Dichtung zu suchen, und zwar der Spätantike. Vom ausgehenden 2. bis ins 6. Jahrhundert hinein sind insgesamt sechszehn Centones erhalten - das lateinische Wort cento, direkt aus dem Griechischen κέντρων entlehnt, bedeutet so etwas wie ‚Flickwerk‘ -, zwölf zu mythologischen bzw. weltlichen und vier zu christlichen Themen, und alle ausschließlich aus einzelnen Zeilen der Gedichte Vergils kompiliert. Eine noch ältere griechische Tradition, die auf der Textgrundlage der Epen Homers basierte und bis in die byzantinische Zeit gepflegt wurde, ist ebenfalls bekannt. 28 Man ist in der glücklichen Lage, dass so etwas wie eine Poetik des Cento aus der Antike überliefert ist. Sie ist als Begleitbrief zum Cento nuptialis des spätrömischen Dichters und Politikers Decimus Magnus Ausonius verfasst, den Ausonius an seinen guten Freund, den Rhetoriker Axius Paulus, wohl kurz nach der Entstehung des Gedichts um 374 schicken wollte. 29 Die Heranziehung dieser Poetik an dieser Stelle erlaubt uns, auf einige Besonderheiten der literarischen Technik der Centodichtung hinzuweisen, die auch für die literarische Würdigung und literaturgeschichtliche Einordnung unserer Mosaiktraktate von Belang sind. In der captatio benevolentiae, die den Brief eröffnet, erwähnt Ausonius gleich zwei wesentliche Merkmale der Centodichtung, nämlich das spielerische Element an ihrer Entstehung und die Bedeutung der Gedächtnisleistung, die der Anwendung der Technik zugrunde legt: centonem vocant, qui primi hac concinnatione luserunt. solae memoriae negotium sparsa colligere et integrare lacerata[.] („Cento nennen es diejenigen, die als 217 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 30 Text und Übersetzung hier und im Folgenden nach Decimus Magnus Ausonius, Sämtliche Werke, Bd. 2: Trierer Werke, hg. von Paul Dräger, Trier 2011, S. 126-129 mit Lesarten S. 238f. und Kommentar S. 441-448; zum Vergleich herangezogen wurde Decimi Magni Avsonii opera, hg. von R. P. H. Green, Oxford 1999, S. 145-148. 31 Dazu ausführlich Dräger (wie Anm. 30), S. 444-446. Erste mit dieser Zusammenfügung gespielt haben. Es ist allein Sache des Gedächtnisses, Verstreutes zu sammeln und Zerrissenes zu vereinigen[.]“) 30 Die literarische Aufgabe des Cento nuptialis habe er auf Befehl des Kaisers Valentinian unternommen, den er als Verfasser eines (nicht überlieferten) Cento preist. Dabei deutet er auf den ästhetischen Genuss hin, den die Beobachtung der erfolgreich eingesetzten literarischen Technik bereitet und als dessen Sinn und Zweck ausweist: imperator Valentinianus, vir meo iudicio eruditus, nuptias quondam eiusmodi ludo descripserat, aptis equidem versibus et compositione festiva. („Der Herrscher Valentinian, ein nach meinem Urteil gebildeter Mann, hatte ehemals eine Hochzeit mit einem derartigen Spiel beschrieben, jedenfalls in passenden Versen und heiterer Zusammenstellung.“) Er schildert den literarischen Wettstreit, wozu ihn Valentinian jüngst aufgefordert hatte, und empfiehlt seinem Freund das Werk, das er - trotz des vergilianischen Ursprungs des Textmaterials - als spielerische Eigenleistung vorstellt: accipe igitur opusculum de inconexis continuum, de diversis unum, de seriis ludicrum, de alieno nostrum[.] („Empfange also das Werkchen, aus Unverbundenem zusammenhängend, aus Verschiedenem ein Einziges, aus Ernstem spielerisch, aus Fremdem unsers[.]“) Ausonius erläutert danach die Regeln der Technik. Ganz wichtig dabei sei die Länge der aus der Quelle übernommenen Sätze, denn das Spiel drohe zu einfach zu werden, würde man längere Textabschnitte herauslösen: variis de locis sensibusque diversis quaedam carminis structura solidatur, in unum versum ut coeant aut caesi duo aut unus et sequens medius cum medio. nam duos iunctim locare ineptum est, et tres una serie merae nugae. („Aus mannigfachen Stellen und verschiedenem Sinn wird ein gewisser Bau eines Gesanges gefestigt, dass in einen Vers entweder zwei zerschnittene Verse oder einer und der folgende halbe mit einem anderen halben zusammengehen. Denn zwei Verse verbunden hinzusetzen ist närrisch, und drei in einer einzigen Reihe reine Tändelei.“) Die metrischen Feinheiten, die Ausonius dann erörtert, müssen uns hier nicht länger aufhalten. Wichtig jedoch ist der Vergleich, den er mit einem griechischen Spiel zieht, dem sogenannten ‚archimedischen Kästchen‘, 31 das in der erfolgreichen Zusammensetzung verschiedener geometrischen Spielfiguren besteht: simile ut dicas ludicro, quod Graeci στομάχιον vocavere. ossicula ea sunt; ad summam quattuordecim figuras geometricas habent. („so dass du es ähnlich dem Spiel bezeichnen kannst, das die Griechen ‚Stomachion‘ genannt haben. Knöchlein sind das; insgesamt haben sie vierzehn geometrische Figuren.“) Es entstehen die schönsten und kreativsten Bilder, und Ausonius listet einige seiner Lieblingsbeispiele auf. Während der geschickte Spieler Wunder hervorbringt, sind die ungelenken Schöpfungen eines Neulings peinlich: sed peritorum concinnatio miraculum est, imperitorum iunctura ridiculum. („Aber die Zusammenfügung durch Kundige ist ein Wunder, die Verbindung durch Unkundige lächerlich.“) Ein Cento sei genau wie das ‚archimedische Kästchen‘ zu bewerten. Es komme allein auf die Beurteilung der Zusammensetzung an: hoc ergo centonis opusculum ut ille ludus tractatur, pari modo sensus diversi ut congruant, adoptiva quae sunt, ut cognata videantur, aliena ne interluceant, arcessita ne vim redarguant, densa ne supra modum protuberent, hiulca 218 Stephen Mossman 32 Bažil, Centones christiani (wie Anm. 28), S. 231-234; Christoph Hoch, Apollo Centonarius. Studien und Texte zur Centodichtung der italienischen Renaissance, Tübingen 1997 (Romanica et comparatistica 26), S. 22-24; zum Verständnis des Begriffs ‚Cento‘ im lateinischen Mittelalter insbes. Bažil, „Les quatre sens“ (wie Anm. 28), S. 47f. 33 So Hoch (wie Anm. 32), S. 24-26. 34 Bažil, „Les quatre sens“ (wie Anm. 28), S. 50-52; ders., Centones christiani (wie Anm. 28), S. 234-242. Es ist allerdings zu beachten, dass ‚Cento‘ in der jüngeren Forschungsliteratur geradezu inflationär als Bezeichnung für allerlei Kompilationen verwendet wird; ein Vorgang, der schon - und zu Recht - moniert wurde (Bažil, Centones christiani (wie Anm. 28), S. 46f.). Die vermeintlichen ‚Centones‘ des Florus von Lyon (gest. um 860) sind nichts anderes als Kurzfassungen einzelner Werke des Augustinus, und es führt ebenfalls in die Irre, gängige Verfahren scholastischer Texterschließung im 1491 gedruckten Hortus sanitatis als Centodichtung zu beschreiben (vgl. Pierre Chambert-Protat, „Les centons augustiniens de Florus de Lyon: minutie, érudition et vulgarisation“, in: Revue d’études augustiniennes et patristiques 60 [2014], S. 349-379; Isabelle Draelants, „De la compilation au centon. Les emprunts à Arnold de Saxe dans l’Hortus sanitatis: quels intermédiaires? “, in: Kentron 29 [2013], S. 19-68). Dagegen ähnelt die Kompilationstechnik in einigen Rather von Verona (gest. 974) zugeschriebenen Predigten doch jener der Centodichtung: dazu François Dolbeau, „Quelques sermons sous forme de centon, attribuables à Rathier de Vérone“, in: Vaticana et medievalia. Études en l’honneur de Louis Duval-Arnould, hg. von Jean Marie Martin, Bernadette Martin-Hisard und Agostino Paravicini Bagliani, Florenz 2008 (Millennio Medievale 71. Strumenti e studi n.s. 16), S. 93-115. 35 Hoch (wie Anm. 32), S. 26-37; zur Überlieferung und Wertschätzung des Cento der Proba im Mittelalter siehe Sigrid Schottenius Cullhed, Proba the Prophet. The Christian Virgilian Cento of Faltonia Betitia Proba, Leiden/ Boston 2015 (Mnemosyne Supplements 378), S. 60-63. 36 Der Cento nuptialis ist allein in der sogenannten Z-Sammlung der Werke des Ausonius überliefert, die erst in einer kurz nach 1385 für Coluccio Salutati geschriebenen Handschrift (Firenze, Biblioteca Nazionale Centrale, Conv. Sopp. J. 6. 29) bezeugt ist: Green (wie Anm. 30), S. xiv-xxi; M. D. Reeve, ne pateant. („Dieses Cento-Werkchen wird also wie jenes Spiel behandelt, dass auf gleiche Weise verschiedener Sinn übereinstimmt, dass das, was adoptiert ist, verwandt erscheint, dass Fremdes nicht dazwischen hervorleuchtet, dass Herbeigeholtes nicht die Wirkung widerlegt, dass Dichtes nicht über das Maß wuchert, dass Klaffendes nicht offensteht.“) Ausonius fordert seinen Freund zuletzt auf, das Werk nicht seines Inhalts wegen zu lesen, sondern als Ausübung einer poetischen Form zu beurteilen. Die Frage nach der Berechtigung, die Centodichtung als Parallele zu den Mosaiktraktaten heranziehen zu dürfen, drängt sich auf. Denn das Mittelalter gilt als eine Zeit, in der die Technik des Cento nicht mehr angewendet wurde, auch wenn eine Kenntnis der Form durch die auf Tertullian zurückgehende Begriffsbestimmung in den Etymologiae Isidors vermittelt wurde, die wiederum in die enzyklopädische und lexikographische Tradition des Mittelalters eingegangen ist. 32 Das ist allerdings eine Sichtweise, die nur möglich ist, wenn man den Cento streng als eine durch die ausonianischen Regeln bestimmte Gattung auffasst. 33 Die eigentliche Geschichte des Cento als literarischer Technik im Mittelalter ist noch zu schreiben. Martin Bažil hat auf frühmittelalterliche Gedichte hingewiesen, die ganz eindeutig als Centones zu bezeichnen sind; vor allem die Centones Claromontani, die vor dem späten 9. Jahrhundert auf der Grundlage des wohl in den Jahren 484-496 entstandenen De laudibus Dei des Dracontius verfasst wurden. 34 Im Paduaner Frühhumanismus am Anfang des 14. Jahrhunderts mit Albertino Mussato und dann in den 1340er Jahren mit Petrarca wurden Centones wieder nach antikem Vorbild gedichtet; dabei war die berühmte Bibelepik in der Form eines Cento der Faltonia Betitia Proba ausschlaggebend. 35 Erst in diesem Kontext wird der Cento nuptialis und sein Widmungsbrief handschriftlich greifbar. 36 219 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive „Ausonius“, in: Texts and Transmission. A Survey of the Latin Classics, hg. von L. D. Reynolds, Oxford 1983, S. 26-28, hier S. 27; die handschriftliche Überlieferung findet man vollständig verzeichnet bei Sesto Prete, „La tradition textuelle et les manuscripts d’Ausone“, in: Revue française d’histoire du livre 46 (1985), S. 99-157; zur Wiederentdeckung des Ausonius im italienischen Humanismus R. Weiss, „Ausonius in the Fourteenth Century“, in: Classical Influences on European Culture A.D. 500-1500, hg. von R. R. Bolgar, Cambridge 1971, S. 67-72. 37 Grundlegend dazu George Hugo Tucker, „From Rags to Riches. The Early Modern Cento Form“, in: Humanistica Lovaniensia 62 (2013), S. 3-67, und Theodor Verweyen und Gunther Witting, „Der Cento. Eine Form der Intertextualität von der Zitatmontage zur Parodie“, in: Euphorion 87 (1993), S. 1-27; siehe auch Hoch (wie Anm. 32), S. 37-42. 38 Franziska Küenzlen, „Cento und Kontrafaktur - Das Mariengebet Sebastian Brants nach den Worten des Apuleius“, in: Literatur, Geschichte, Literaturgeschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrup, Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 825-840. 39 Verweyen und Witting (wie Anm. 37), S. 19; vgl. Bažil, Centones christiani (wie Anm. 28), S. 47. 40 McGill (wie Anm. 28), S. 6. In der frühen Neuzeit kam die Centodichtung zur neuen Blüte: als Höhepunkte gelten die 1555 gedruckten Centones ex Virgilio des Lelio Capilupi und die Habsburg-Panegyrik am Wiener Hof Rudolfs II. (r. 1576-1608). Dabei wurde die Bandbreite der behandelten Themen im Vergleich zu den spätantiken Centones erheblich erweitert und die Technik nicht nur in der Lyrik und Epik, sondern auch u. a. im Schauspiel und in der politischen Traktatliteratur eingesetzt. 37 Auch im südwestdeutschen Raum sind in dieser späteren Zeit Centones anzutreffen; wohl am eindruckvollsten sind die zwei 1499 gedruckten marianischen Gebete Sebastian Brants, wofür Brant als Textgrundlage die Metamorphosen des Apuleius und die Werke Bernhards von Clairvaux auswertete. 38 Die Centonisten der frühen Neuzeit kannten, wie das gerade angeführte Beispiel Brants zeigt, die antike Begrenzung auf die Werke Vergils nicht. Aus der Perspektive der modernen Centodichtung plädierten Theodor Verweyen und Gunther Witting dafür, den Cento nicht als Gattung, sondern als Schreibweise aufzufassen, „bei der aus einem Einzeltext oder einem Textkorpus Sätze bzw. Syntagmen selegiert und - ohne daß sie selbst eine Veränderung erfahren - zu einem neuen Text mit neuem Thema kombiniert werden.“ 39 Nach dieser sehr großzügigen Definition könnte man Spamers Mosaiktraktate vielleicht als volkssprachige Centones bezeichnen. Würde man diesen Schritt vollziehen, wäre immer noch Vorsicht geboten, denn es wäre damit nicht gesagt, dass der Concepteur von Spamers Mosaiktraktaten mit einer wie auch immer gearteten Kenntnis der in der lateinischen Dichtung angesiedelten Technik des Cento gearbeitet hat. Seine Welt war von der spätantiken Kultur der „leisured literary ludism“, um mit Scott McGill zu sprechen, am kaiserlichen Hof Valentinians I. weit entfernt, 40 und als Zeitgenosse Petrarcas hätte er keine Kenntnis von dem in Italien erst ansatzweise aufkommenden Interesse an der Wiederbelebung der antiken Form haben können. Dennoch erlaubt es die gemeinsame Schreibweise, die Ausonius mit dem Concepteur der Mosaiktraktate teilt, eine Lektüre des Widmungsbriefs des Ausonius an Axius Paulus, die Einsichten in die literarische Ausgestaltung der Mosaiktraktate verspricht. An erster Stelle ist an die Behauptung zu erinnern, die Centodichtung sei solae memoriae negotium, „allein Sache des Gedächtnisses“. Im spätantiken Kontext war eine äußerst intime Kenntnis Vergils durch die Schulbildung geprägt, die einen ungeheuren Wert auf die Memorierung seiner 220 Stephen Mossman 41 McGill (wie Anm. 28), S. 10-18, mit dem Zitat S. 10; Jan M. Ziolkowski, „Mnemotechnics and the Reception of the Aeneid in Late Antiquity and the Middle Ages“, in: Style and Tradition. Studies in Honor of Wendell Clausen, hg. von Peter Knox und Clive Foss, Stuttgart/ Leipzig 1998 (Beiträge zur Altertumskunde 92), S. 158-173, hier insbes. S. 171f. 42 Tucker (wie Anm. 37), S. 26. 43 Dazu Bažil, Centones Christiani (wie Anm. 28), S. 231-234, und ders., „Les quatre sens“ (wie Anm. 28), S. 48. 44 Giovanni Boccaccio, Famous Women, hg. und [ins Englische] übers. von Virginia Brown, Cambridge, Mass. 2001 (The I Tatti Renaissance Library 1), c. 97, § 2, S. 412; zu Boccaccios Laudatio auf Proba und seinem Einfluss siehe Schottenius Cullhed (wie Anm. 35), S. 25-30. 45 Mary Carruthers, The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture, Cambridge 2 2008, S. 192-194. Werke gelegt hat. Man hätte eine schriftliche Fassung der Werke Vergils vielleicht zu Rate gezogen, aber die Centodichtung galt in erster Linie als eine reine Gedächtnisleistung, „a memory act requiring that authors be able to scan Virgil in their minds, isolating his verse units in order to find an appropriate membrum“, denn die Dichtung eines Cento zeichnete den Dichter als genialen Könner jener Glanzleistung der römischen Literatur aus, der Werke Vergils. 41 Als Gedächtnisleistung war die Centodichtung in gewisser Weise eine Variante der hohen Kunst der Improvisation und somit keinesfalls nur sekundäre Nachdichtung. 42 Der besondere Stellenwert Vergils im antiken Bildungswesen war die Voraussetzung für die Centodichtung im Verständnis des Ausonius und seiner Zeitgenossen. Für die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Centonisten spielte Vergil keine so zentrale Rolle. 43 Das bedeutet aber längst nicht, dass die Rolle des Gedächtnisses bei der Entstehung ihrer Kompositionen eine andere war. In seiner einflussreichen Laudatio auf Proba war im 14. Jahrhundert Giovanni Boccaccio noch davon überzeugt, dass ihre Centodichtung nur als eine Gedächtnisleistung zu begreifen wäre: Verum, inter alia eius studia, adeo pervigili cura virgiliani carminis docta atque familiaris effecta est, ut, fere omne opere a se confecto teste, in conspectu et memoria semper habuisse videatur. („Unter ihren anderen Studien wurde sie [d. h. Proba] zudem durch ihre wachsame Lektüre so gut in die vergilianischen Gedichte geschult und mit ihnen so gut vertraut, dass sie, wie fast alle ihrer eigenen Werke bezeugen, sie stets im Gedächtnis und im Visier gehabt zu haben scheint.“) 44 Wenn wir uns den Mosaiktraktaten zuwenden, so ist zunächst festzustellen, dass die durch die Scholastik geschulte Mnemotechnik die feste Basis des Bildungswesens im Dominikanerorden wie in keinem anderen institutionellen Milieu des späteren Mittelalters war: nicht zuletzt wegen der Bedeutung, die die Predigerbrüder der Rhetorik beigemessen haben. 45 Es ginge zu weit, würde man behaupten, der Concepteur der Mosaiktraktate hätte seine Textbausteine aus dem Gedächtnis niedergeschrieben. Die Entstehung der Mosaiktraktate lässt sich allerdings auch nicht als rein schriftliche Praxis begreifen. Die Auswahl der Texte muss sich nicht notwendigerweise einem schier endlosen Nachschlagen von passenden Stellen verdanken, sondern dürfte auf eine intensive intellektuelle Beschäf‐ tigung mit den Quellentexten zurückgehen. Das hat Folgen sowohl für die Beurteilung des Stellenwerts der Schriften Eckharts in dieser Zeit als auch für unsere Annahmen über die Entstehungsumstände der Mosaiktraktate. Schon Spamer verwies auf die Aussage des Dieners der ewigen Weisheit in Seuses Vita hin, der seine Unterweisung von Elsbeth Stagel mit der Feststellung begann, sie habe ihm kúrzlich neiswaz úberswenker sinnen 221 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 46 Spamer (wie Anm. 1), S. 21; Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, hg. von Karl Bihlmeyer, Stuttgart 1907: Vita c. 33, S. 99,10-12. 47 Hans-Jochen Schiewer, „Uslesen. Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext domini‐ kanischer Frauengemeinschaften“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu er‐ schlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 581-603, hier S. 595-597; darauf aufbauend Mauriège (wie Anm. 13), S. 486-489. 48 Zum Unterschied zwischen Cento und compilatio in Bezug auf Poetik und Ästhetik, allerdings mit der nicht zutreffenden Einschränkung, dass das Mittelalter nur letztere gekannt habe, siehe Hoch (wie Anm. 32), S. 24-26. 49 McGill (wie Anm. 28), S. 9 und 23-30; Bažil, Centones christiani (wie Anm. 28), S. 56-65; Hoch (wie Anm. 32), S. 24; grundlegend zum Spielraum des Interpreten äußert sich Stephen Hinds, „‚The Self-Conscious Cento‘“, in: Décadence. „Decline and Fall“ or „Other Antiquity“? , hg. von Marco Form‐ isano und Therese Fuhrer, Heidelberg 2014 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften N. F., 2. Reihe 140), S. 171-197. 50 Dazu Williams (wie Anm. 2), S. 186f. gezeigt, die du dir selb hatest usgelesen uss der suͤssen lere dez heiligen maister Eghards. 46 Von derselben Stelle ausgehend hat Hans-Jochen Schiewer den Ursprung von Spamers Mosaiktraktaten im Rahmen der kompilativen Praxis südwestdeutscher Dominikanerinnen verortet. 47 Es geht nicht darum, die Möglichkeit auszuschließen, dass die Mosaiktraktate von einer Dominikanerin verfasst worden sind. Der literarische Anspruch der Mosaiktraktate reicht allerdings weit über die Zusammenstellung einer Spruchsammlung und über die einfacheren Formen der compilatio hinaus und muss mit einer Kenntnis der Textgrundlage einhergegangen sein, die weit über jene rein schriftgebundenen Techniken hinausgeht, die Seuses Aussage zum Phänomen des uslesens verbürgen. 48 Zweitens erlauben uns Ausonius und die Centodichtung neue Einsichten in die In‐ tertextualität der Mosaiktraktate. Weniger der neu geschaffene Inhalt an sich war das entscheidende Kriterium für den Erfolg eines Cento, sondern die Kunstfertigkeit der Zu‐ sammensetzung. Das war nicht nur eine Sache der metrischen Form, sondern auch der Be‐ deutungen, die die Textbausteine von der primären Textgrundlage in den Cento übertrugen. Mit den kreativen Möglichkeiten intertextueller Bezüge haben die spätantiken Centonisten reichlich gespielt, und zwar von der makrotextuellen - ob Kontrafaktur, Parodie oder Pastiche, keine der antiken Centones stellt eine einfache Nachdichtung vergilianischen Gedankenguts dar - bis zur mikrotextuellen Ebene, auch wenn sich über die Wahrnehmung von Anspielungen auf den Originaltext durch die Rezipienten der Centones auf dieser untersten Ebene nur mutmaßen lässt. 49 Spamers anfangs zitierte Behauptung, dass einer seiner Mosaiktraktate „den Beschauer nicht daran denken läßt, daß seine Einzelteile auch ein Eigenleben führen können“, ist nur die halbe Wahrheit. Dass der Leser das Gedicht als eine harmonische Einheit wahrnimmt ist zwar das Merkmal eines gelungenen Cento, aber der kundige Rezipient hätte den Ursprung einzelner Textbausteine trotzdem erkennen können, wie geschickt ihre Integrierung auch immer gewesen sein mag. So hätte er zumindest die Kunstfertigkeit der Zusammensetzung bewundert, auch wenn offen bleiben muss, ob er dazu noch in der Lage war, über mögliche Bedeutungsverschiebungen zwischen den unterschiedlichen Kontexten im Original und im Mosaik nachzudenken: eine Leistung übrigens, die die wiederholte Verwendung einzelner Textbausteine in unterschiedlichen Kontexten befördert haben kann. 50 Das muss nicht bedeuten, dass die Mosaiktraktate auf 222 Stephen Mossman 51 Bažil, „Les quatre sens“ (wie Anm. 28), S. 49-55. 52 McGill (wie Anm. 28), S. xvi; vgl. dazu auch Verweyen und Witting (wie Anm. 37), S. 21f. 53 Zu dieser in Eckharts Predigten häufig anzutreffenden Formel und ihrer Bedeutung innerhalb einer zu rekonstruierenden Querverweissystematik vgl. Loris Sturlese, „‚ut supra dictum est‘ - ‚als ich ouch mê gesprochen hân‘“. Zur Frage nach dem internen Gedächtnis in Eckharts lateinischem und deutschem Werk“, in: Bulletin de philosophie médiévale 59 (2017), S. 91-108, insbes. S. 96-107; zu den Querverweisen in den Mosaiktraktaten und zur Möglichkeit, dass einige von ihnen eine Verweisfunktion innerhalb der Systematik der Mosaiktraktate als Sammlung haben könnten, Spamer (wie Anm. 1), S. 27. 54 Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85, Bl. 89ra; zu den Quellen im Mosaik Nr. 41 (Nrr. 98-99 in Spamers Zählung) siehe Spamer (wie Anm. 1), S. 76-78. makrotextueller Ebene in eine der Kategorien der antiken Centones passen müssen. Schon im frühen Mittelalter entwickelte sich in der Centodichtung eine weitere Variante, jene der Adaptation, die die Fortsetzung und Ausweitung der Quelle ermöglichte, ohne dass dabei der Cento zu einem Pastiche, einer Parodie oder einer Kontrafaktur geworden wäre. Die alte Kompositionsregeln, die nur Minimaleingriffe im Textbestand erlaubten, hatten weiterhin Gültigkeit. 51 Durch die Dichtung eines Cento erhob der Verfasser stets einen Anspruch auf das kulturelle Kapital des Autors der Textgrundlage (in der Antike d. h. also Homers und Vergils). 52 Genau das ist auch bei den Mosaiktraktaten in Bezug auf Meister Eckhart der Fall. Das gilt nicht nur generell, sondern auch spezifisch in der Übernahme von für Eckhart typischen Ausdrucksformen und Redeweisen. Am deutlichsten wird das in der häufigen Entlehnung der für die Predigten Eckharts (und z. T. auch seines Zeitgenossen und Mitbruders Johannes von Sterngassen) charakteristischen Aussagen in der ersten Person. Das ging so weit, dass mitunter auch Eckharts Querverweise in der ihm typischen Form als ich ouch mê gesprochen han entlehnt wurden. 53 Dabei wurden sie einem Funktionswandel unterzogen, denn sie dienen nicht mehr als Querverweise, sondern allein der Emphase - und vielleicht gelten sie auch als Signal an die Rezipienten, dass an der referierten Stelle eine zentrale Lehrmeinung Eckharts angeschnitten wird. Als Beispiel sei eine Textstelle aus der Nr. 41 (in meiner Zählung) angeführt: In einer vnbekanter bekantnisse sv́le wir got bekennen. vnd mit vergessenheit vnzer selbez. vnd aller dinge biz an daz bloze wesen der gotheit. Nu habe [sic] wir vil gesprochen daz wir got niht múgen bekennen danne mit vberkanntnisse. Noch inmv́gent in niht gesehen. dan mit blintheit nů wy svle wir diz verstan. daz merkent. Ich habe ez me gesprochen. do S. Paulus niht insach so sach er got. Ich spriche aber nv́ baz. do S. Paulus alle dinc sach alz niht so sach er got.  54 Die Entlehnung der stark konturierten Ich-Form geht so weit, dass der Concepteur in der Lage ist, sich dadurch von konkurrierenden Lehrmeinungen zu distanzieren, wie dies an einer markanten Stelle in Nr. 18 (in meiner Zählung) der Fall ist: Ein meister spricht. daz got sich selbe veile trage. allen creaturen. ein iegeliche gefahe wie vil sv́ velle. Ich spriche. daz sich got mer erbuͤtet als den hohesten engel. vnd wer ich also bereit alz er ich enphienge alz er. wan dv́ s ele nimet dv́ gotteit. alz in ir geluter ist. Ich habe ez me gesprochen. daz sich got ewecliche gehalten hat. rehte alz er sich flize. wie er der selen behegelich werde. wan nieman ist so 223 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 55 Karlsruhe, Badische Landesbibl. , St. Peter perg. 85, Bl. 33rb-va; zu den Quellen im Mosaik Nr. 18 (Nrr. 32-34 in Spamers Zählung) siehe Spamer (wie Anm. 1), S. 55-57. 56 McGill (wie Anm. 28), S. 20-23; zur spätantiken Kritik am Cento, die in der Regel eine ablehnende Haltung gegenüber der Einkleidung christlichen Gedankenguts in die Verse eines paganen Autors ausdrückte, siehe S. xvi-xvii, Hoch (wie Anm. 32), S. 17-22, und insbes. Schottenius Cullhed (wie Anm. 35), S. 199-204; zum Cento in der frühen Neuzeit im Spannungsverhältnis zwischen Kunstanspruch und Plagiatsvorwurf siehe Tucker (wie Anm. 37), S. 3-14 und 21-36. 57 Ähnlich schon Williams (wie Anm. 2), S. 187; zur Perspektive der Eckhart-Philologie auf die Kompilationsliteratur vgl. Georg Steer, „Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts. Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer kritischen Edition“, in: Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil: Ältere deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur, hg. von Georg Stötzel, Berlin/ New York 1984, S. 41-50, insbes. S. 41-44; darauf aufbauend Löser (wie Anm. 7), S. 8-11 und summarisch 315f. 58 R. D. Schiewer (wie Anm. 2), S. 174f. und 185; ähnlich Hasebrink (wie Anm. 2), S. 356-360. Hasebrink dachte (S. 366f.) aber an den Lemmakommentar als scholastische Vorstufe zum volkssprachigen Mosaiktraktat, und zwar wegen der lateinischen Überschriften im Spiegel der Seele. Da Vogl inzwischen nachweisen konnte, dass diese Überschriften nachträglich hinzugefügt wurden und somit als die Textsammlung strukturierende Lemmata nicht hätten dienen können, wurde die Parallele entkräftet: Vogl (wie Anm. 4), S. 280f. girig gotelicher gnaden. So willic got ist zů gebende. sůchen wir die gnaden. vnd bereitent vnz zů der gnaden. wan got git vnz niht sine gnade. noch vnzer wirde. mer noch siner milte.  55 Eine deutlich hervortretende Ich-Form ist in mehreren Mosaiken anzutreffen, vor allem in Nrr. 4, 8, 9, 11, 13, 18, 20, 23, 25, 34, 38, 41, 42, 43, 45 und 46 (in meiner Zählung). Die geschickt-gekonnte Einfügung der ersten Person, die in den oben angeführten Beispielen erkennbar wird, ist der ungelenken Zusammensetzung des Lehrsystems der deutschen Mystik völlig fremd, in dem neue Redner und Sprecherfiguren ganz unvermittelt auftauchen und aus Quellen übernommene Rückverweise ins Leere führen. Schließlich lässt der Widmungsbrief des Ausonius erkennen, dass die Centodichtung als eine hohe Kunst, wenn auch als eine spielerische, betrachtet wurde, die in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen gepflegt wurde. Es war keine Technik, die nur von minderwer‐ tigen Schriftstellern angewendet wurde, weil ihnen die Einbildungskraft fehlte, originale Gedichte zu verfassen, wie in der älteren Forschung immer wieder behauptet wurde. Ausonius selbst hat ein ansehnliches literarisches Werk neben seinem Cento nuptialis hinterlassen. 56 Spamers Mosaiktraktate sind wichtige Zeugnisse der Eckhart-Rezeption, aber nur insofern als der Cento nuptialis ein Zeugnis der spätantiken Vergil-Rezeption ist. Sie haben einen eigenständigen Wert als literarische Werke, die vollkommen unabhängig von ihrer nicht zu leugnenden Bedeutung für die Eckhart-Philologie besteht. 57 Regina Schiewer hat die Entstehung der Mosaiktraktate im Rahmen der Predigerausbildung im Dominika‐ nerorden verortet, und dafür plädiert, sie entweder als Zeugnisse der Vorbereitung auf die disputationes anzusehen, die die Novizen wöchentlich zu halten hätten, oder als Versuche, das komplexe Gedankengut der deutschen Mystik an Laien in der Seelsorge zu vermitteln. 58 Dagegen möchte ich einwenden, dass die Mosaiktraktate in einem ähnlichen Verhältnis zur Ausbildung im Dominikanerorden stehen, wie die Centodichtung zum Bildungswesen in der Spätantike stand. Die Centodichtung ist ohne die dadurch vermittelten Kenntnisse der Werke Vergils, der metrischen Formenlehre und der Techniken literarischer Bearbeitung nicht zu denken. Reine Schulaufgaben oder Vorbereitungen auf die ‚eigenständige‘ Dich‐ 224 Stephen Mossman 59 Dazu ausführlich McGill (wie Anm. 28), S. xvii-xxi. 60 McGill (wie Anm. 28), S. 4-10. 61 McGill (wie Anm. 28), S. 18-20; Tucker (wie Anm. 37), S. 21 und 48-55; grundsätzlich Michael Roberts, The Jeweled Style. Poetry and Poetics in Late Antiquity, Ithaca, NY 1989, S. 70-78. 62 In der Handschrift Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85 handelt es sich um Bl. 5vb-6vb (Spamers Nrr. 6-11), 51vb-59va (Nrr. 49-73), 73ra-76va (Nrr. 90-97), 77vb-78ra (Nrr. 101-102); 93vb- 95ra (Nrr. 114-119), 99ra-100va (Nrr. 122-124) und 104ra-vb (Nr. 126); dazu kommen vollständige Eckhart? -Predigten auf Bl. 59vb-60va (Nr. 74; Pf. 18), 92va-b (Nr. 113, Pf. 70) und 101ra-104ra (Nr. 125, Q 2 bzw. Pf. 8). 63 Adolf Spamer, „Zur Überlieferung der Pfeiffer’schen Eckeharttexte“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 34 (1909), S. 307-420, hier S. 390-418; zu einer geschlossenen Gruppe von fünf Quaestionen, die Pfeiffer in seinem Liber positionum als Nrr. 149-154 abdruckte, und auch in den Karlsruher Textsammlungen vorkommen (Spamers Nrr. 94-97; Karlsruhe, Badische Landesbibl., St. Peter perg. 85, Bl. 75ra-76va), vgl. Löser (wie Anm. 7), S. 154-156. 64 Dazu Dagmar Gottschall, „Eckhart and the Vernacular Tradition. Pseudo-Eckhart and Eckhart Legends“, in: A Companion to Meister Eckhart, hg. von Jeremiah M. Hackett, Leiden/ Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition 36), S. 509-551, hier S. 533-539. tung sind Centones aber ganz und gar nicht. 59 Ausonius machte deutlich, dass sein Cento nuptialis als gelehrtes Spiel aufzufassen und dementsprechend zu bewerten sei; 60 darüber hinaus musste er eine gewisse Strukturintegrität erreichen, die fast baulich verstanden war und seitdem öfters mit der Kunst der Mosaik verglichen ist. 61 Spamers Mosaiktraktate sind gewiss nicht ut ille ludus (d. h. das ‚archimedische Kästchen‘) entstanden, aber vielleicht doch als literarisches Experiment zu betrachten, das auf der Grundlage, aber nicht im Rahmen des dominikanischen Bildungswesens bzw. der Lehrtätigkeit entwickelt wurde. III Die literaturgeschichtliche Einordnung von Spamers Mosaiktraktate im 14. Jahrhundert Ich komme zum Schluss auf die exakte literaturgeschichtliche Einordnung der Mosaiktrak‐ tate. Wichtig ist dabei die Feststellung, dass die Textsammlung, die die Mosaiktraktate umfasst, auch mehrere Blöcke von Texten enthält, die ich bisher als ‚geistliche Kurztexte‘ flüchtig gestreift habe. 62 Dazu gehören mehrere, die Pfeiffer unter den irreführenden Titeln ‚Sprüche‘ und ‚Liber positionum‘ in seiner Eckhart-Ausgabe abgedruckt hat, in einigen Fällen direkt nach den Karlsruher Handschriften. Hinter diesen Bezeichnungen stehen von Pfeiffer angelegte Sammlungen kurzer Texte, oft als volkssprachige quaestiones gestaltet, die in einer Reihe von Handschriften aus dem 14. Jahrhundert überliefert sind. 63 Die unzutreffende Vorstellung, dass Eckhart selber ein einheitliches Quaestionenwerk in deutscher Sprache (den sogenannten Liber positionum) vorgelegt hat, geistert immer noch durch die Forschung: manchmal explizit, öfters auch nur implizit in der Behauptung, eine Handschrift enthielte ‚Auszüge aus‘ dem Liber positionum (angemessen wäre die Rede von Texten, die Pfeiffer aus ihm eigenen Gründen in seiner Liber positionum beti‐ telten Textauswahl herausgab). 64 Das hat zur Folge, dass eine eingehende Beschäftigung mit diesen Textsammlungen in ihren handschriftlich überlieferten Formen immer noch aussteht. Erst die Balázs J. Nemes gelungene sensationelle Wiederentdeckung einer der wichtigsten Handschriften aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die Pfeiffer für die Edition mehrerer ‚Sprüche‘ benutzte (Eisenach, Bibl. der Wartburg-Stiftung, Ms. 1361-50), 225 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 65 Balázs J. Nemes, „Meister Eckhart auf der Wartburg. Fundbericht anlässlich der Wiederentdeckung einer frühen Eckhart-Handschrift aus dem Prämonstratenserinnenstift Altenberg im Bestand der Wartburg-Stiftung“, in: Wartburg-Jahrbuch (2015), S. 176-202, insbes. S. 180-183. 66 Markus Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung seiner lateinischen Bibelkommentare. Eckharts lateinisches Werk in deutscher Rezeption“, in: Meister-Eckhart-Jahrbuch 11 (2017), S. 219-258; ders., „Meister Eckharts Self-Translations into the Vernacular“, in: Bulletin de philosophie médiévale 59 (2017), S. 109-131; vgl. auch dens., „›Meine Demut gibt Gott seine Gottheit‹ (Meister Eckhart, Predigt 14) - neue handschriftliche Zeugnisse und eine neue kritische Edition“, in: Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters, hg. von Jens Haustein u. a., Stuttgart 2019 (Meister-Eckhart-Jahrbuch Beihefte 7), S. 63-133, hier S. 69-74, zu einem der ‚Sprüche‘ in der Wartburg-Handschrift, der nicht auf einen lateinischen Text Eckharts zurückgeht, sondern Exzerpte aus einer deutlich weniger korrupten Abschrift seiner (deutschen) Predigt Q 14 als die für die Ausgabe herangezogene darstellt. 67 Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung“ (wie Anm. 66), S. 227 Anm. 28; ders., „Meister Eckharts Self-Translations“ (wie Anm. 66), S. 115 Anm. 28. 68 Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung“ (wie Anm. 66), S. 228. 69 Die Blume der Schauung, hg. von Ruh (wie Anm. 8), S. 11f. hat jüngst zu erneuten wissenschaftlichen Untersuchungen dieser oft in Quaestionenform gestalteten Kurztexte geführt. 65 Spamers Mosaiktraktate sind mit diesen ‚Sprüchen‘ und Quaestionen eng verwandt, sowohl in textgeschichtlicher Hinsicht als auch in ihrer Form; mehrere Mosaiken sind entweder als Quaestionen gestaltet (z. B. die Nrr. 3, 11 und 39 in meiner Zählung) oder führen Quaestionen zu bestimmten Themen als Exkurse auf (z. B. die Nrr. 5, 7 und 17 in meiner Zählung). Die Untersuchungen von Markus Vinzent zu einzelnen Quaestionen in der wiederentdeckten (Eisenacher) Wartburg-Handschrift haben den schon in der älteren Forschung geäußerten Verdacht bestätigt, dass manche tatsächlich auf lateinische Texte Eckharts zurückgehen, und die Art und Weise der Bearbeitung dieser Vorlagen aufgezeigt. Die Vermutung, Eckhart selber sei für die Umgestaltung ins Deutsche verantwortlich, liegt nahe, auch wenn sie mit letzter Sicherheit nicht zu beweisen ist. 66 Die Quaestionenform ist für die Gestaltung von Exkursen und Themenwechseln in den deutschen Predigten Eckharts gut bezeugt, und vor allem auch in seinen Erfurter Reden, die ihrem Prolog zufolge auf Diskussionen zurückgehen, die der damalige Erfurter Prior mit seinen geist‐ lichen Kindern in collationibus geführt hat. 67 Nicht jede deutschsprachige Quaestio in diesen Textsammlungen geht jedoch auf lateinische Texte Eckharts bzw. auf eckhartisches Gedankengut zurück. Als Sammlungen angesehen, so dürfen wir Vinzents treffender Charakterisierung folgen, die einzelnen Texte „erinner[te]n an Quaestiones disputata, zu denen auch narrative, homiletische und systematische Stücke hinzugekommen sind.“ 68 Für die literaturgeschichtliche Einordnung der Mosaiktraktate ist die Tatsache wichtig, dass sie im Kontext jener besonderen Art der Eckhart-Rezeption im 14. Jahrhundert anzusiedeln sind, für die Sammlungen mystischer Kurztexte oft in Spruch- oder Quaestionenform charakteristisch sind. Anders ausgedrückt, um von diesem nicht immer zutreffenden und darüber hinaus implizit abwertenden Begriff der ‚Eckhart-Rezeption‘ fortzukommen: Wir befinden uns in einem bestimmten Bereich der mündig gewordenen ‚deutschen Scholastik‘. 69 Vinzent entwirft das höchst anregende Bild einer literarischen Schaffensdynamik in dieser Zeit, die seinen Ausgang in den Schriften Eckharts nimmt und im Sinne einer creatio 226 Stephen Mossman 70 Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung“ (wie Anm. 66), S. 240-244; ders., „Meister Eckhart’s Self-Translations“ (wie Anm. 66), S. 127-131. In der Forschung zur Centodichtung im Kontext der Vergil-‚Rezeption‘ der Spätantike wurde eine ähnliche Wende vollzogen: vgl. McGill (wie Anm. 28), S. xxi-xxv. 71 Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung“ (wie Anm. 66), S. 244; ders., „Meister Eckhart in Paris. Neues zur Wirkungsgeschichte Meister Eckharts“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesell‐ schaft 22 (2018/ 2019), S. 164-172, hier S. 169f. 72 Loris Sturlese, „Locutio emphatica. Argumentative Strategies in Meister Eckhart’s German Sermons“, in: Contemplation and Philosophy. Scholastic and Mystical Modes of Medieval Philosophical Thought. A Tribute to Kent Emery, Jr., Leiden/ Boston 2018 (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 125), S. 584-596, hier S. 585-588. 73 Sturlese (wie Anm. 72), S. 588-596. 74 Vinzent, „Eckharts deutsche Übersetzung“ (wie Anm. 66), S. 230-233. continua Anlass zu stets neuen Schöpfungen gab. Diese Perspektivierung trägt viel dazu bei, den in der Regel anonym überlieferten mystischen Kurztexten eine geistige und literarische Eigenständigkeit zuzugestehen, indem man sie vom Etikett der bloßen ‚Rezeption‘ befreit. 70 In einem Punkt möchte ich aber von seiner Vorstellung abweichen, und zwar in Bezug auf die Rolle der Volkssprache. Es greift nämlich zu kurz, wenn man die deutschen Schriften Eckharts und seiner Zeitgenossen funktionsorientiert als Hinwendung zu einem nicht-scholastischen Publikum versteht. 71 Denn auch Universitätsprofessoren haben um 1300, wie Loris Sturlese nachweisen konnte, regelmäßig in der Volkssprache gepredigt; Eckhart war nur insofern eine Ausnahme, als er seine volksprachigen Predigten verschrift‐ lichte. Der wesentliche Unterschied zwischen den deutschen und lateinischen Werken Eckharts liege, so Sturlese, nicht im Inhalt, weil Eckhart selten homiletische Predigten verfasst habe und eher Argumentationsformen wählte, die im philosophischen Diskurs der Zeit beheimatet waren, sondern in den Möglichkeiten, die die volkssprachige Predigtform ihm bereitete, um Argumente mit einer Stringenz und Gefühlsbetontheit vorzuführen, die Eckhart in der strengen Architektonik der lateinischen philosophischen Theologie verwahrt geblieben wären. 72 In seiner 1326 in Köln verfassten Rechtfertigungsschrift hat Eckhart viermal von den Inquisitoren beschuldigte Aussagen dadurch verteidigt, dass er sie als locutiones emphaticae bezeichnete und jeweils die dazugehörige (und vollkommen orthodoxe) Erläuterung lieferte. Der Mehrwert der Volkssprache habe, so Sturlese, für Eckhart in der Möglichkeit bestanden, durch die Ausdrucksweise der locutio emphatica Gedanken und Argumentationen mit einer der lateinischen Scholastik fremden Stringenz vorzutragen. 73 Gerade diese auffällige Stringenz in der sprachlichen Gestaltung der Kern‐ aussagen hat Vinzent in den auf Eckharts lateinische Werke zurückgehenden Kurztexten der Wartburg-Handschrift als wesentlichen Unterschied zwischen den deutschen und lateinischen Abhandlungen der jeweiligen Thematik nachgewiesen. 74 Der Einsatz der Volkssprache in diesem Bereich der ‚deutschen Scholastik‘ hat m. E. weniger mit einer Hinwendung zu einem nicht-scholastisch gebildeten Publikum zu tun, als mit einem literarischen Experimentieren innerhalb eines scholastisch geschulten Milieus. In diesem Kontext sind die Mosaiktraktate einzuordnen. Die locutio emphatica hat Eckhart eine besonders griffige und stringente Ausdrucksweise geboten, forderte aber den Leser in besonderer Art und Weise dazu auf, inhaltlich höchst komplexe Ideen zu durchdringen und richtig zu verstehen. Durch ihre Einbettung in Mosaiken erscheinen 227 Spamers Mosaiktraktate in literaturgeschichtlicher Perspektive 75 Zum Vergleich einzelner Themen im eckhartschen Original und im Mosaik, der aus Platzgründen hier nicht erfolgen kann, sei verwiesen auf Hasebrink (wie Anm. 2), S. 360-365 und R. D. Schiewer (wie Anm. 2), S. 175-183. 76 Dabei weiche ich von der Ansicht Hasebrinks teilweise ab, indem ich ihm durchaus zustimme, die Mosaiktraktate seien als höchst gelehrte Replik auf die deutschen Werke Eckharts im Domini‐ kanerorden entstanden, denke aber dabei eben nicht an eine Systematisierung, sondern an einen Annäherungsmechanismus; vgl. Hasebrink (wie Anm. 2), S. 368. locutiones emphaticae und andere komplexe Ausdrucksformen weder abgeschwächt noch vereinfacht. Sie haben genauso wie die besonders schillernden Bausteine eines realen Mo‐ saiks geleuchtet. Sie sind aber anders perspektiviert, neu durchgedacht und in verschiedene Richtungen weitergeführt worden. 75 Das ist insbesondere in den Mosaiken zu beobachten, die sprachlich verklausulierte Kernthemen der eckhartschen Mystik behandeln: z. B. das nû der êwicheit und die Zeitlichkeit (Nrr. 12 und 13 in meiner Zählung) oder das einic ein und Gott als Ursprung (Nr. 17). Die centoartige Technik der Textkomposition, die der Concepteur der Mosaiktraktate angewendet hat, diente nicht in erster Linie einer Systematisierung des Lesestoffs (was wohl für das etwa eine Generation später entstandene Lehrsystem der deutschen Mystik der Fall war), 76 sondern ist neben der volksprachigen quaestio als ein weiterer Teil des literarischen Experimentierens anzusehen, das in einem bestimmten Bereich der ‚deutschen Scholastik‘ in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gepflegt wurde und das Besondere daran ausmacht. 228 Stephen Mossman 1 Johann Gottfried Herder, „Briefe zu Beförderung der Humanität, 8. Sammlung, 99. Brief (1796)“, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, hg. von Eberhard Lämmert u. a., Köln/ Berlin 1971 (NWB 41), S. 175. 2 Gustave Flaubert, Brief an Louise Colet (7. April 1854) und an Guy de Maupassant (1. Febr. 1880); in: G.F., Briefe, hg. und übers. von Helmut Scheffel, Stuttgart 1964, S. 322. Vgl. auch unten, Anm. 64. Aufzählen im Erzählen Der Roman als genus colligens Mathias Herweg Keine Gattung der Poesie ist von weiterem Umfange, als der Roman; unter allen ist er auch der verschiedensten Bearbeitung fähig: denn er enthält oder kann enthalten nicht etwa nur Geschichte und Geographie, Philosophie und die Theorie fast aller Künste, sondern auch die Poesie aller Gattungen und Arten - in Prose. Was irgend den menschlichen Verstand und das Herz intereßiret, Leidenschaft und Charakter, Gestalt und Gegend, Kunst und Weisheit, was möglich und denkbar ist, ja das Unmögliche selbst kann und darf in einen Roman gebracht werden, sobald es unsern Verstand oder unser Herz intereßiret. Die größten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu. 1 Gestern habe ich mich den ganzen Abend mit Verbissenheit der Chirurgie gewidmet. Ich studiere die Theorie der Klumpfüße. In drei Stunden habe ich einen ganzen Band von dieser interessanten Literatur verschlungen und mir dazu Notizen gemacht. […] Ein schönes Studium im übrigen. Warum bin ich nicht mehr jung! Wie ich arbeiten würde! Man müßte alles kennen, um zu schreiben. 2 I Herzog Ernst und sein Wunderkabinett. Ein Einstieg ins sammelnde Erzählen An einem nicht zufälligen Punkt seiner zur Weltreise gewordenen Pilgerfahrt beginnt der Baiernherzog Ernst, ‚Belegexemplare‘ jener Völker zu sammeln, denen er friedlich oder kriegerisch begegnet. Die Fassungen des weitverzweigten Stoffs übergreifend, entsteht so eine lebendige Wunderkammer, die von Station zu Station erst wachsend, dann durch Verluste und Stiftungen sich reduzierend Ernsts Wege begleitet. Sie wird gefürchtet, begafft, schlussendlich der Versöhnung mit dem Kaiser dienstbar gemacht - ein heikler Vorbote kolonialer Völkerschauen späterer Zeiten in gewisser Weise. Doch nicht nur Ernsts Umgang mit seiner Kollektion, auch seine Motivation(en) sind hier von Interesse. Denn die Mirabilien dienen mitnichten der tieferen Einsicht in die Schöpferallmacht wie bei dem um 1200 nicht minder bekannten Abt Brandan oder der Beglaubigung und Ertragssicherung einer Art Forschungsreise wie beim großen Alexander. Auch Freundschaft und Empathie klingen nur 3 Vom Sammeln ist erstmals in V. 5000-5003 die Rede, dann in V. 5322-5332, 5418-5422, 5470f., 5576-5578, 5784f., 5970-5993. Ich zitiere folgend nach Fassung B: Herzog Ernst [und Herzog Adelger], in der Fassung B, mit den Fragmenten der Fassungen A, B und Kl nach der Leiths. hg., übersetzt und kommentiert von Mathias Herweg, Stuttgart 2019. Orientierend zu Stoff und Texten: Hans Szklenar und Hans-Joachim Behr, „Herzog Ernst“, in: ²VL, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 1170-1191. 4 Vgl. Eva Locher und Thomas Poser, „Fluss, Quelle, Brunnen“, in: Literarische Orte in deutschsprachigen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch, hg. von Tilo Renz u. a., Berlin/ Boston 2018, S. 146-162, hier bes. 155-158. vereinzelt an. Tatsächlich sammelt Ernst um des Sammelns willen und mit einer Haltung, die ihn leicht wieder weggeben lässt, wenn es ihm nutzt. Und: Er beginnt exakt ab dem Moment seiner Reise zu sammeln, an dem die existenzielle Bedrohung überwunden ist - also noch nicht in der dystopisch-amoenen Stadt Grippia oder bei den Junggreifen am Magnetberg, sondern im Lande der Kyklopen, die im Herzog Ernst Arimaspi heißen und ein höfisch-ideales Leben führen. 3 Der unterirdische Fluss, mit Jurij Lotman eine Schwellenpassage par excellence, 4 ist eben passiert, und der darin entdeckte einzigartige Edelstein, der späterhin als ‚der Waise‘ die römisch-deutsche Kaiserkrone zieren wird, signalisiert intrawie extradiegetisch den Ruhe- und Wendepunkt der rota Fortunae zwischen Fall und Wiederaufstieg des vielgeprüften Dynasten. Zeitvertreib wird ihm in dieser Situation zum neuen Motiv, kurzwîle und curiositas (durch wunder) sind mit Fassung B die Signalworte: Nû het der fürste lobesam in sînem hove den Gîgant und zwên von Perkamêren lant, vil Ôren und manigen Plathuof. der fürste in flîzeclîche schuof, swaz sie haben solden und mêre danne sie wolden. er hete vür im durch wunder disiu seltsæniu kunder vertriben im vil dicke sît mit kurzwîle die lange zît. (Herzog Ernst B, V. 5322-5332) Als die Geschichte von Herzog Ernst um 1180 erstmals literarisch greifbar wird, ist der Heldentypus des Weitgereisten in der Epik bereits lang etabliert. Von ehrwürdigen Vorfahren wie Gilgamesch oder Ulysses unterschiedet sich Ernst aber dadurch, dass er die Reise nicht nur als Mühsal und Prüfung erfährt, sondern das Erreiste zugleich (im doppelten Wortsinn) sich aneignet: Bei aller eurozentrischen Asymmetrie vermittelt er zwischen sonst strikt geschiedenen Welten, indem er, noch ehe er die Fremde mit in die Heimat bringt, gegenläufig dazu ihre Sprache erlernt und ohne jede Missionierungsabsicht Teil ihrer poli‐ tisch-sozialen Ordnung wird. Der Adept ist das ideelle Komplement zum Sammler in Ernst. Nur: Seinen späteren Umgang mit der Sammlung beeinflusst das kaum, und gerade dieses erzähllogische Defizit lässt den sammelnden Helden auf höhere Sammlerinstanzen hin transparent werden: auf den heterodiegetischen Erzähler zunächst, sodann auf einen Autor, der über das handlungspragmatisch Notwendige hinaus eine Art Begleitkatalog zu Ernsts intradiegetischer Wunderkammer präsentiert. Das dabei praktizierte Kommentarmuster ist 230 Mathias Herweg 5 Die meist einschlägig eingeleiteten und kommentierten Editionen sind in der Ausg. (wie Anm. 3), S. 530f., verzeichnet; orientierend auch ebd., S. 577-586, sowie Szklenar und Behr (wie Anm. 3). an fachliterarischen Quellen orientiert und seriell angelegt: Jede neue Begegnung geht mit einer knappen digressio einher, die über Namen und proprietates der einschlägigen Ethnie orientiert. Hier spricht der auktoriale Erzähler zum extradiegetischen Rezipienten, während handlungsnotwendige Exkurse, etwa die Erklärung des Magnetbergs (B, V. 3934-3966), als intradiegetische Figurenrede dargeboten werden. Der Text unterscheidet insofern klar zwischen sammlungs- und handlungs-bezogenem Wissen, und nur das erstere greift über das kontextuell Notwendige aus. Als Beispiel mögen die Skiapoden (‚Platthufe‘) dienen: Dem künic von Arimaspî sâzen wunderlîche liute bî. Plathüeve wâren sie genant und tâten im schaden in sîn lant und brâhten in dicke in arebeit. den wâren die füeze vil breit und alsô den swanen gestalt. die fuorten grôzen gewalt über hart unde bruoch. sie truogen deheiner slahte schuoch. swann ungewiter wolde werden, sô leite er sich ûf die erden. sô hebet er einen fuoz über sich. daz was genuoc wunderlich. sô im daz weter lange war, den andern fuoz hebete er dar, sô im dirre müede wart. alsô wâren sie bewart, daz in ze keiner stunde kein weter geschaden kunde. (B, V. 4669-4688) Ähnliche Exkurse gelten den Arimaspi selbst (bzw. den einsternen, ze latîne Cyclôpes, V. 4520 f.), den Panotii (Ôren, V. 4816-4828), den Pygmäen (Prechamî, V. 4898-4927) und den Riesen von Canaan (risen bzw. gigant, V. 5013-5019). Das Verfahren ist eklatant egalisierend: Im Modus des Sammelns und Katalogisierens verschwimmen alle handlungspragmatischen Unterschiede, die Ernsts intradiegetische Reaktion auf die Völker bestimmen, werden Freund und Feind austauschbar und gleichermaßen fremd. Der Erzähler tritt hier als Vermittler narrativ überschüssigen, doch eben nicht unnützen Wissens auf, und hinter ihm steht in der Auswahl des eigentlich Unnötigen ein poeta doctus, der denkbar weit von dem Spielmannklischee absteht, das dem frühhöfischen Anonymus lange anhing. Begriff und Konzept der sog. Spielmannsepik haben sich zwischenzeitlich (über den Herzog Ernst hinaus) erübrigt, doch die Gattungsfrage blieb bis heute prekär. Von der irisierenden Fülle der Fassungen in ihren je unterschiedlichen Sprach-, Form- und Genre‐ konturen ganz abgesehen, 5 generiert der Stoff gängiger literarhistorischer Verortung nach 231 Aufzählen im Erzählen 6 ‚Enzyklopädisches Erzählen‘ ist dabei in meinem Verständnis primär durch zwei Merkmale bestimmt: 1. Es bringt statisches, sedimentiertes Wissen unterschiedlicher Disziplinen zusammen und unter‐ wirft es der Dynamisierung im und durch Erzählen, wobei Telos und Folgen dieser Dynamisierung divergieren können (von Affirmation über Kritik und Erprobung bis zur Infragestellung und Destruktion, wie etwa im Faustbuch; die Enzyklopädie dagegen ist grosso modo konservativ: Sie bietet das je gültige Wissen und grenzt unsicheres oder im Wandel befindliches Wissen tendenziell aus). 2. Es verbindet fachdiskursive De-Kontextualisierung des adaptierten Wissens (etwa eines eth‐ nographischen Details in seinem epistemischen Kontext) mit narrativer Re-Kontextualisierung (das ethnographische Detail erhält Platz und Sinn, und zwar einen zwangsläufig anderen Sinn, im Kontext der erzählten Geschichte). Bei der neuen Sinngebung kommt es besonders auf den diegetischen Kontext und die Einbettung in ihn an. Vgl., noch tentativ, Mathias Herweg, „‚Verwilderter Roman‘ und enzyklopädisches Erzählen als Perspektiven vormoderner Gattungstransformation. Ein Votum“, in: Neuere Aspekte germanistischer Spätmittelalterforschung, hg. von Freimut Löser u. a., Wiesbaden 2012, S. 77-90. 7 Die Überlegungen stehen in einem weiteren Projektrahmen, dessen Resultate mitunter auch hier mit einfließen: gepris.dfg.de/ gepris/ projekt/ 329389881? context=projekt&; task=showDe‐ tail&id=329389881& [Zugriffe hier und im Folgenden am 4.11.2019]. Vgl. auch Mathias Herweg, Klaus Kipf und Dirk Werle, „Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik. Einleitung“, in: Enzyklopädisches Erzählen und vormoderne Romanpoetik (1400-1700) [Tagungsakten Karlsruhe und Wolfenbüttel], hg. von dens., Wiesbaden 2019 (Wolfenbütteler Forschungen 160), S. 9-24. ‚noch‘ keinen Roman. Angesichts durchweg fragwürdiger Alternativen und unter der Prämisse, dass der Romanbegriff um 1200 in jedem Fall eine Zuschreibung ex post ist, lässt sich aber zumindest für die beiden vollständigen deutschen Versfassungen B und D postulieren, dass er - als Stoff wie in diesen konkreten Versionen - an einer Entwicklung partizipiert, die von der hellenistischen Antike über den späthöfischen Versroman bis zum sog. höfisch-historischen Roman des 17. Jahrhunderts verläuft. Zusammen mit dem Straßburger Alexander markiert er auch den Beginn des genus colligens im Deutschen, wobei beide im Vergleich mit späteren Entwicklungen auch schon den kategorialen Unterschied zwischen einem eher stofflich-okkasionellen Sammeln und jener regelrechten Poetik des Sammelns markieren, die ich als ‚enzyklopädisches Erzählen‘, und im genredistinkten Er‐ gebnis als ‚enzyklopädisierenden Roman‘, bezeichnen will. 6 Exzessiv und genresignifikant bewusst gesammelt wird nämlich erst in späteren Phasen der Gattungsentwicklung, wobei das späte 13. sowie das 16. und 17. Jahrhundert besonders herausragen. Indes lässt sich, so meine ich, die Prädisposition des Romans zur Sammlung schon aus seiner Genese verstehen, und ebendies ist Gegenstand des folgenden Versuchs. Zwei salvatorische Klauseln scheinen vorab angezeigt. Erstens geht es mir hier, ange‐ sichts der Fülle und Vielfalt potentiell einschlägiger Texte, weniger um eine resultatge‐ sättigte Studie als um einen Essay im Wortsinn, den Versuch also, Interdependenzen zwischen dem ‚Sammeln‘ als übergreifender literarischer Praxis und der (impliziten) vormodernen Poetik des Romans anzunehmen und im Sinne einer Arbeitshypothese auf ihre poetologische Brisanz (oder Relevanz) zu erproben. Den Begriff ‚vormodern‘ verwende ich dabei ohne Wertung schlicht als umbrella term für Phänomene, die Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit gemeinsam betreffen und also verbinden. Die Textbeispiele verstehen sich als repräsentativ weniger für die Gattung schlechthin als für ein in ihr ab origine wirksames und in bestimmten Phasen dominant zutage tretendes Potential, das ich in Anm. 6 kursorisch umriss. 7 Zweitens ist der vormoderne Roman dem Begriff wie der Sache nach unscharf. Zwar weist die Etymologie auf die Zeit um 1200 (afrz. romanz), aber 232 Mathias Herweg 8 Über Möglichkeiten und Grenzen des Romanbegriffs für die Vormoderne orientieren M. Bauer u. a., „Roman“, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 8, Tübingen 2007, Sp. 264-333, hier Sp. 264-285; Hartmut Steinecke, „Roman“, in: ³RL, Bd. 3, Berlin/ Boston 2003, S. 317-322. Speziell für den Prosaroman vgl. Jan-Dirk Müller, „Volksbuch/ Prosaroman im 15./ 16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 1. Sonderheft Forschungsreferate, hg. von Wolfgang Frühwald u. a., Tübingen 1985, S. 1-128, hier S. 61-75 und passim. 9 Hierzu als generellem Problem vormoderner Gattungspoetik vgl. Klaus Grubmüller, „Gattungskons‐ titution im Mittelalter“, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster, hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 193-210. sie hebt zunächst auf Sprach-, nicht auf Gattungsdistinktion ab. Erst das 17. Jahrhundert unterlegt dem zwischenzeitlich auch ins Deutsche entlehnten Begriff eine kontrastiv zum Epos angelegte, recht eigentlich deskriptive Poetik. Entsprechend weit und heterogen ist das begriffliche Referenzfeld, das auch Bereiche einschließt, die im modernen Sinn durchaus keine Romane mehr sind. 8 Stärkere Kohärenz zeigen Teilmengen wie der Artus- oder der Antikenroman, doch da liegt die Kohärenz eher im Stoff und in einer aus ihm resultierenden Reihenbildung als in einer stricto sensu generischen Poetik begründet. 9 Formal definierte Subgenera wie Vers- und Prosaroman wiederum bestätigen die Heterogenität in jedem anderen als eben in diesem Formaspekt. In solcher Situation ist es pragmatisch sinnvoll, in heurististischer Hinsicht den Usancen literarhistorischer Praxis zu folgen, dabei aber deren Problematik und Insuffizienz mitzubedenken. Üblicher Begriffs- und Zuweisungspraxis gemäß sind also im Fortgang großepische Texte in Vers und in Prosa als Romane verstanden, die sich (architextuell im Sinne Genettes) stärker als je untereinander von oft ebenso unklar konturierten Nachbargenres unterscheiden, im Mittelalter etwa von der Heldenepik oder von Formen der Kleinepik. Das in der modernen Gattungsdiskussion geläufige Fiktionalitätskriterium ist bis ins 17. Jahrhundert tendenziell anachronistisch, wie schon der ambigue Begriff der Histori(a) zeigt, der in Spätmittelalter und früher Neuzeit fiktive (doch nicht zwingend fiktionale) wie faktuale Textsorten unter Einschluss der ‚Romane‘ umgreift. Als weitere, für sich stets relative und partikulare Indikatoren können u. a. gelten: ein Erzähler als Vermittlungsinstanz, (intendierte) Multiperspektivität, rekurrente Protagonisten- und Plottypen, markierte intragenerische Bezüge (etwa in Helden- und Dichterkatalogen), sowie mitunter einschlägige kodikologische Vergemeinschaftungen. Insgesamt bietet das so Bezeichnete zwar keinen Beweis, aber doch gute Argumente für ein Gattungsbewusstsein und eine implizite Genrepoetik. Allerdings wird letztere durch das markanteste, schon von Herder (und dann noch verstärkt von den Romantikern) rück‐ haltlos positiv veranschlagte Merkmal des Romans konterkariert: seine durchaus zeitlose, fast grenzenlose Offenheit. Wenn der Roman dazu tendiert, alle Grenzen zu sprengen, dann gilt das eben auch für die seiner eigenen Gattung und ihrer impliziten Poetik. Gerade darum aber soll es im Weiteren gehen, und dies in einer Art Dreischritt zunächst aitiologisch-historisch (Kap. II), dann theoretisch (III), schließlich konkret-analytisch (IVf.). II Antike Anfänge: Ein sekundäres Genre ohne Regeln Die fehlende normative Poetik macht den vormodernen Roman (anschließend an das soeben Vermerkte) zu einem konstanten Experimentierfeld, das mitunter fragen lässt, ob 233 Aufzählen im Erzählen 10 Vgl. etwa Tobias Bulang, Enzyklopädische Dichtungen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2011 (Studien und Quellen 1). 11 Mittellateinische Vorläufer wie Ruodlieb blieben demgegenüber ohne nennenswerten Einfluss (und auch spätere mittellateinische Antikenepen wie Walthers von Châtillon Alexandreis trotz mitunter weiter Verbreitung ohne genuin generischen). 12 Vgl. oben, Anm. 6. 13 So Ralf Klausnitzer, Literatur und Wissen. Zugänge - Modelle - Analysen, Berlin 2008, S. 2. nicht erst die moderne Literaturwissenschaft ex post eine Einheit konzeptualisiere, die in der Sache so nicht existiert. Nach zeit-räumlicher Verortung, Personal, Form, Stil oder Umfang gibt es jedenfalls kaum Grenzen, allenfalls entwickeln sich zeitweise ‚Moden‘ und bilden sich mehr oder minder offene Reihen heraus. Einen zentripetalen Fixpunkt bildet die elementare Wahlverwandtschaft zur Historiographie, die am Beginn sowohl der antiken als auch der mittelalterlichen Gattungsentwicklung steht: Der Roman geht aus historischen Substraten hervor und kehrt zur Selbstlegitimierung gerade nach Phasen selbstreferenziellen Überschwangs regelhaft wieder zu ihnen zurück, wie sich besonders markant im 13. und 17. Jahrhundert beobachten lässt. Das Oszillieren zwischen chrono‐ graphischem Auf-Zählen und chronologisch-linearem Er-Zählen, zwischen Referenz und Selbstreferenz, ist ihm in unterschiedlichen Mischungsgraden elementar eingeschrieben, und mit ihm das genus colligens. Daher verdient eine Praxis, die ja durchaus auch übergenerisch begegnet, 10 als mutmaß‐ liche Konstante der Erzähl- und Gattungspoetik des Romans besonderes Augenmerk, zumal andere diachrone Genrekonstanten so rar und die Grenzunschärfen so konstitutiv sind. Es stellt sich die Frage, ob die ungeschriebene, offene Romanpoetik einem poetologisch verstandenen Sammeln eher Vorschub leistete oder ob dieses umgekehrt jene mit herauf‐ beschwor und zulasten konkurrierender ‚Genrefunktionen‘ (wie narrativer Transparenz oder eingängiger Lehre) verschärfte. Im Verfolg dieser Frage sind die Gattungsanfänge von besonderem Interesse, wobei sich ein transdisziplinärer Streifblick in die Antike schon deshalb empfiehlt, weil neben der Bibel und der Historiographie ‚romanhaft‘ anverwandelte Antikenstoffe und lateinisch adaptierte griechische Romane dem mittelalterlichen Roman als erste Wegmarken dienten. 11 Das Leitgenre antiker Großepik ist nicht der Roman, sondern das Epos. Im Ursprung mündlich, partizipiert es prestigeträchtig am Wissen und Geltungsanspruch seiner mythi‐ schen Substrate. Schon die Homerischen Epen adaptieren und präsentieren reichhaltig Ideen- und Realienwissen. Sie nutzen dabei charakteristische wissensordnende Strukturen, wie Listen, Kataloge, Digressionen, Ekphrasen, isolieren aber die Inhalte aus ihrer je eigenen disziplinären Systematik und konfigurieren sie als Teil des Erzählten neu. Dieser Zweischritt aus De- und Rekontextualisierung lässt sich in der Formel ‚enzyklopädisches Erzählen‘ fassen. 12 So wurden Homers Epen pointiert, aber nicht unpassend als „(proto‐ historische) Enzyklopädien ihrer Zeit“ qualifiziert, 13 wobei gerade die Odyssee, die diese Beobachtung besonders prägnant stützt, zugleich stark proto-romanhafte Züge trägt. Über die antike Gattungstheorie und über seine historisch verstandenen Stoffe wirkt das antike Epos weit über seine Grenzen hinaus und beeinflusst alle anderen großepischen Formen. Verglichen mit ihm, dem von Beginn an alle Ehrfurcht und aller Ehrgeiz von 234 Mathias Herweg 14 Orientierend zum Textfeld: Niklas Holzberg, Der antike Roman. Eine Einführung, Darmstadt 2006, bes. S. 11-39; Stefan Tilg, Chariton of Aphrodisias and the Invention of the Greek Love Novel, Oxford 2010, S. 83-127; Otto Weinreich, Der griechische Liebesroman, Zürich 1962, bes. S. 3-10; Massimo Fusillo u. a., „Roman“, in: Der Neue Pauly, Bd. 10, Stuttgart 2012, Sp. 1108-1121; in weitem Horizont auch Steven Moore, The Novel, An Alternative History. Beginnings to 1600, London/ New York 2010, hier S. 73-100; für zentrale Aspekte wie Herkunft und Datierung überholt ist das gleichwohl „meisterhafte Pionierwerk“ (Fusillo, Sp. 1108) von Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, Leipzig 3 1914, ND Darmstadt 1974. Es bietet indes nach wie vor instruktive Corpusanalysen (ebd. Kap. 4). 15 Die Ansätze verschoben sich, u. a. durch neue Papyri-Funde, seit den Anfängen der Forschung signifikant von der Spätantike bis ins 1.-3. nachchristliche Jahrhundert; vgl. im Überblick Fusillo (wie Anm. 14), Sp. 1108 f., und die autorbzw. werkbezogenen Einzelartikel des Neuen Pauly. 16 So, allerdings auf die mittelalterliche volkssprachige Erzählliteratur vor/ um 1200 bezogen, Sonja Glauch, An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik höfischen Erzählens, Heidelberg 2009. 17 „Keine Dichtart arbeitet von Anfang an derartig unkünstlerisch, ungenormt im Sinne von Regeln“, so Bruno Hillebrand, Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit, überarb. und erweiterte Aufl., München 1980, S. 18. 18 Vgl. zum Spektrum eindrucksvoll die in Anm. 14 genannte Literatur, hier namentlich Moore. 19 Vgl. Holzberg (wie Anm. 14), S. 19f. 20 So Weinreich (wie Anm. 14), S. 28; ob man mit Weinreich folgern kann, dass der griechische Roman auch generisch/ genetisch „die Frucht einer Liaison [war], die das gealterte Epos mit der kapriziös reizvollen hellenistischen Historiographie einging“ (S. 30), ist in der Forschung strittig. Vgl. im Überblick Holzberg (wie Anm. 14), S. 40-45 und passim. 21 Vgl. Holzberg (wie Anm. 14), S. 21 und 43. 22 Moore (wie Anm. 14), S. 81, hier exemplarisch auf Charitons Kallirhoe bezogen. Dichtern und Philologen galt, ist der antike Roman ein weitgehend unumhegtes und vernachlässigtes Feld. 14 Für unseren Zusammenhang nicht minder wesentlich, ist er nach heute üblicher, in jedem Einzelfall allerdings unsicherer Datierung 15 auch das Produkt einer relativen literarischen Spätzeit, in der die Autoren bereits mit kundigen Publika rechnen und, ohne sie zu überfordern, Stoffe und Gattungen mischen und Texte ineinanderzitieren konnten. Tatsächlich ist der antike Roman von Beginn an konstitutiv intertextuell. Er steht nicht ‚an der Schwelle zur Literatur‘, 16 sondern setzt voraus, dass diese Schwelle längst überschritten war. In dieser Hinsicht ähnelt seine Position weniger dem mittelalterlichen Roman zu Beginn als dem nach der sog. ‚Blütezeit‘ im späteren 13. Jahrhundert. Mit dem Prestige des Epos fehlt dem antiken Roman auch dessen Kehrseite: die Normie‐ rung. 17 Es gibt kein stoffliches In- oder Exklusionskriterium, wie beim Epos die Teilhabe am Mythos. Die Form changiert stufenlos zwischen reiner Narration und buchfüllenden Dialogen, der Stil zwischen humilis und gravis, der ordo zwischen naturalis und artificialis.  18 Von Poetik und Kritik weitgehend unbehelligt, nutzen die Dichter für ihre Texte auch unterschiedliche, meist unspezifische Bezeichnungen wie drama oder fabula. 19 Poetologisch unterschwellige Verwandtschafts- und Einflussbezüge bestehen erwähntermaßen vor allem zur Historiographie und zum Epos, deren geglaubter Wahrheit in den Romanen eine „glaubhaft sein sollende […] potentielle Wirklichkeit“ gegenübertritt. 20 Schon die meist aus byzantinischer Zeit stammenden Titel heben in diesem Sinn zugleich auf Authentizität und Weltfülle ab: Ephesiaka, Aithiopika, Historia Apollonii regis Tyri usw. 21 In der Füllung der ‚potentiellen Wirklichkeit‘ aber bedienen sich die Dichter fast aller zeitgenössisch etablierten Textsorten, was das Resultat schon im Ursprung zur Sammlung, den Autor zum Sammler macht - bis zum Extrem jener exzessiv mit „literary allusions and historical references“ gespickten Hybride, die Steven Moore als „learned novel“ bezeichnete. 22 235 Aufzählen im Erzählen 23 Das Folgende versteht sich relational und deskriptiv, will also nicht im Sinn positivistischer Quellenforschung konkrete Ursprünge und Filiationen postulieren. 24 Vgl. im Überblick Klaus E. Müller, Geschichte der antiken Ethnologie, Reinbek 1997; materialgesättigt auch Rohde (wie Anm. 14), S. 178-309. 25 So bindet die Historia Apollonii die Erzählung schon etymologisch an die Geschichte (rex Antiochus, a quo ipsa civitas nomen accepit Antiochia, c.1) und endet mit der pseudohistoriographischen Notiz, der Titelheld habe seine und seiner Familie Geschick selbst niedergeschrieben und je ein Exemplar im Artemistempel zu Ephesus und in der Bibliothek in Antiochia hinterlegt; Ausg.: Historia Apollonii Regis Tyri. Die Geschichte vom König Apollonius, hg. und übers. von Franz Peter Waiblinger, München 1994. Achilleus Tatios wiederum behauptet, dem Helden seines Romans Leukippe und Kleitophon begegnet und die Geschichte von ihm selbst gehört zu haben. 26 Moore (wie Anm. 14), S. 85. Der Roman Wunder jenseits von Thule eines Antonios Diogenes (1./ 2.Jh. n. Chr.) etwa, der nur in Auszügen des Byzantiners Photios (9. Jh.) erhalten ist, enthält eine (von Lukian später parodierte) Mondfahrt. Photios las ihn als Vorbild u. a. für Heliodor. Vgl. Klaus Reyhl, Antonios Diogenes. Untersuchungen zu den Roman-Fragmenten der ‚Wunder jenseits von Thule‘, Tübingen 1969; Holzberg (wie Anm. 14), S. 75-79. 27 Heinz Hofmann, „[Roman.] IV. Christlich“, in: Der Neue Pauly, Bd. 10, Stuttgart 2012, Sp. 1117-1120, hier Sp. 1119. 28 Hierzu schon Max Wehrli, „Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter“, in: Worte und Werke, Festschrift für Bruno Markwardt, hg. von Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt, Berlin 1961, S. 428-443; mit bibliographisch weiterführender Bilanz: Hofmann (wie Anm. 27), Sp. 1117-1120. Das neue Genre trägt also alle Züge einer offenen Form mit wesenhaft archigenerischem Profil: 23 Mit dem Epos teilt es Makrostrukturen und Leitthemen wie Liebe, Freundschaft, Reise und Krieg, Motive wie Intrige und Irrfahrt, dazu evidenzerzeugende Erzähl- und Be‐ schreibungstechniken. Historiographisch-ethnographische Textsorten stellen Schauplätze mit völker- und naturkundlichen Details 24 sowie erprobte Authentifizierungsverfahren bereit, so Augenzeugen- und Schriftquellenverweise oder dokumentarische Inserte. 25 An utopische Dichtung erinnert die gelegentliche Weitung des Settings in alteritäre Bereiche - hier tendiert mancher Roman zur „fantastic encyclopedia“. 26 Elegien tragen erotische, Hirtendichtungen bukolische Momente bei, von der Tragödie sind effektvolle Peripetien und Anagnoresen, von der Neuen Komödie Lizenzen des niederen Personals inspiriert. Auf dem Weg ins Mittelalter verschmelzen dann auch Legende und Roman miteinander, zuerst in apokryphen Apostelakten und Heiligenviten motivstrukturell, sodann auf dem ur‐ eigenen Feld des Romans auch generisch. „Sprechende Hunde und magische Schaukämpfe, Luftreisen und Wunderwettstreit, getaufte Löwen, gehorsame Wanzen, Menschenfresser und Gefahren aller Art, gegen die sich die neuen Helden der Keuschheit trotz vielfacher erotischer Anfechtungen behaupten müssen“, 27 all dies und dergleichen mehr wird aufge‐ boten in einem regelrechten Überbietungswettstreit, der alles Tradierte beleiht und jede allzu plane Lehr- oder Erbauungsabsicht konterkariert. Das Telos allein bürgt noch für die reklamierte Lehre: Die romankonstitutive Allgewalt der Fortuna transmutiert ex eventu zur Providenz, der schicksalhafte Bewährungsweg des bzw. der Romanhelden zur göttlichen Prüfung, oft mit dem Ziel der Heiligkeit. 28 Der (sekundär? ) lateinische Apollonius-Roman geht diesen Weg zur Gänze, die sog. Pseudoclementinen, jene erbaulich-romanhafte Vita des Papstes Clemens I., die u. a. in den ‚Protoroman‘ über Faustinian in der Kaiserchronik 236 Mathias Herweg 29 Vgl. Matías Martínez, „Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinian‐ geschichte der ‚Kaiserchronik‘“, in: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, hg. von dems., Paderborn u. a. 1996, S. 83-100. 30 Vgl. Mathias Herweg, „Literarischer Anspruch und (heils-)geschichtliche Wahrheit. Ulrichs von Etzenbach Alexanderroman in der Weltchronik Heinrichs von München“, in: Studien zur ‚Weltchronik‘ Heinrichs von München, Bd. 1: Überlieferung, Forschungsbericht, Untersuchungen, Texte, hg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1998 (WILMA 29), S. 476-521. 31 Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989, S. 11f. Ebenso wieder Fusillo (wie Anm. 14), Sp. 1108 („neue […] enzyklopädische Form“). 32 Vgl. mit deutschsprachigem Fokus Jutta Eming, „Historia und Episteme in der ‚Aethiopika Historia‘“, in: Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit, hg. von Martin Baisch und Jutta Eming, Berlin 2013, S. 255-273. Zur Erstübersetzung von Johannes Zschorn (1559, vgl. Anm. 36) auch Stefan Seeber, Diesseits der Epochenschwelle. Der Roman als vormoderne Gattung in der deutschen Literatur, Göttingen 2017, sowie ders., „Nützliche Unterhal‐ tung. Enzyklopädisches Erzählen als Erfolgsrezept der deutschen Übersetzungen der Aithiopika“, in: Enzyklopädisches Erzählen (wie Anm. 7), S. 217-230. 33 Massimo Fusillo, „Heliodoros [8]“, in: Der Neue Pauly, Bd. 5, Stuttgart 2012, Sp. 289-291, hier Sp. 290. 34 Vgl. nuanciert Rohde (wie Anm. 14), S. 485-488 (bes. Bestandsaufnahme in den Anmerkungen). 35 Heliodor: Die Abenteuer der schönen Chariklea, übers. von Rudolf Reymer, mit einem Nachwort von Niklas Holzberg, Düsseldorf/ Zürich 2001. einging, 29 tun es im Ansatz, und beide beeinflussen über ihre bedeutende Wirkung auch die ersten genuin mittelalterlichen Romane. Für das genus colligens noch wirkmächtiger tritt ihnen der hellenistische Alexanderroman zur Seite. Aufgrund des historischen Substrats, des polyvalenten Helden (Herrscher, Eroberer, Forscher; resp. Fürstenideal, Tyrann, vanitas-Exempel…) und des exotisch-welt‐ weiten Settings bildet er einen der nachhaltigsten Links nicht allein von der Historiographie zur Fiktion, sondern auch vom hellenistisch-antiken zum volkssprachig-mittelalterlichen Roman. Das Spektrum der Adaptationen reicht allein im Deutschen vom noch maßvoll digredierenden Straßburger Alexander über Ulrichs von Etzenbach monumentales ‚Welt‐ buch‘, das integral auch in Chronikkompilationen Eingang fand, 30 bis zu Johannes Hartliebs spätmittelalterlich-frühneuzeitlichem ‚Longseller‘, der noch bis ins späte 17. Jahrhundert gedruckt wird. Intertextuell wie transdisziplinär omnipräsent, beeinflusst der mittelalter‐ liche Alexander so letztlich jede romanhafte Reisevita vom Herzog Ernst bis zum Fortunatus. Auch andere antike Romane präsentieren sich als auf bestimmten Gebieten ambitionierte Sammlungen und zeigen (mit Bachtin) „eine gewisse enzyklopädische Allseitigkeit“. 31 Heli‐ odors Aithiopika, deren Wirkung im lateinischen Westen spät, aber dann umso nachhaltiger einsetzt, 32 prunken mit natur- und kulturkundlichen Notaten aus allen drei Kontinenten, die der Weg des Helden zwischen Ägypten, Persien und Hellas streift. Das Kollektaneenwissen und die „narrative Polyphonie“, 33 die dieses Wissen zugleich generiert und organisiert, bündeln sich in Erzähler- und in Figurenreden, die zwar mit der Handlung verzahnt, doch für ihr Verständnis meist verzichtbar sind. 34 Ich zitiere jeweils ein Beispiel (in Reymers Übersetzung): 35 Erzählerrede: Diese ganze Gegend heißt bei den Ägyptern das Hirtenland. Es ist eine Senke, die das Überschwemmungsgebiet des Nil aufnimmt und einen See bildet, dessen Mitte eine außerordentliche Tiefe aufweist, während die Ufer in feuchte Niederungen übergehen. Was die Küstenstreifen für das Meer bedeuten, das sind diese sumpfigen Ufer für die Seen. In diesem Hirtenland lebt alles Raubgesindel 237 Aufzählen im Erzählen 36 AETHIOPICA HISTORIA. Ein schoene vnnd Liebliche Histori von einem großmuetigen Helden aus Griechenland vnd einer vber schoenen Junckfrawen eines Koenigs dochter der schwartzen Moren […], übers. von Johannes Zschorn, ED Straßburg 1559 [VD16 H 1677]; dig.: digital.staatsbibliothek-berli n.de/ werkansicht/ ? PPN=PPN829219641. - Der polyhistorische Diskurs ist hier deutlich reduziert, mitunter ersatzweise in die Marginalien ausgelagert, so exemplarisch die Notiz zum Krokodil, CII v . Vgl. Seeber, „Nützliche Unterhaltung“ (wie Anm. 32), S. 224-228, und die Quintessenz: „Heliodors enzyklopädisches Erzählen bietet Zschorn nur da, wo er es nicht verhindern kann; wann immer er selbst Wissenselemente vermittelt, geht es ihm um Aktualisierung, Annäherung an den Alltag seiner intendierten Rezipienten und Verständlichmachen eines potentiell unverständlichen Textes“ (S. 226). 37 Achilleus Tatios, Leukippe und Kleitophon, eingel., übersetzt und erläutert von Karl Plepelits, Stuttgart 1980 (BGL 11); ebd. S. 18-48 ausführliche Einführung zum Werk. 38 Ein schon oberflächlicher Indikator ist der umfängliche Sachkommentar zur edierten Übers.: Plepelits (wie Anm. 37), S. 215-254. 39 Ebd., S. 73. Ägyptens. Da hausen sie entweder in kleinen Hütten, wo noch ein Stück Land über das Wasser herausragt, oder im Wasser selbst auf Booten, die für sie also Fahrzeug und Haus zugleich sind. Darin spinnen die Frauen ihre Wolle […] [folgt ca. halbseitige Auflistung der Lebensgewohnheiten der Bewohner]. So steht es um den See und seine Bewohner. (S. 14f.) Zum Vergleich die stark kürzende deutsche Erstübersetzung Zschorns (1559, Bl. IV v / V r ): 36 [Da eylten sie auff der andern seiten des bergs einem See zuo] / welcher von dem wasser Nilo sich samlet / in der mitten sehr dieff / aber an den orten mosechtig vnd voll ror / in disem See waren hien vnd her etliche kleine Insulen / in den selbigen haben die Rauber ihre hütlin / weib vnd kind [folgen wenige Zeilen zur Lebensweise]. Figurenrede Kalasiris’ zu Knemon: „Götter und Dämonen, lieber Knemon, pflegen, wenn sie uns erscheinen und wieder gehen, nur selten die Gestalt anderer Wesen, sondern meistens die von Menschen anzunehmen […] [Begründung und Fortgang des Exkurses über die Anthropomorphie der Götter]. Das alles wußte Homer als Ägypter und Kenner unsrer heiligen Lehren und hat es für die Verstehenden in seinen Werken symbolisch zum Ausdruck gebracht, wenn er von Athene sagt: […], und von Poseidon: […]“ [folgt ein durch die zitierten Stellen angeregter Disput über die Heimat Homers]. (S. 94f.) Auch Achilleus Tatios (Leukippe und Kleitophon) 37 profiliert den Erzähler durch Reden, Briefe, Exkurse und gelehrte Ekphrasen konstant als passionierten Connaisseur und Sammler, für den die eigentliche Erzählung zeitweilig fast zum Beiwerk wird. 38 Schon das Eingangstableau stellt ein nach allen Regeln antiker Beschreibungskunst vergegenwär‐ tigtes Gemälde des Raubs der Europa vor Augen. Und kaum weniger als das Gesammelte selbst trägt der explikative Gestus zum Eindruck ‚enzyklopädischer Allseitigkeit‘ bei. Charakteristisch sind Formeln wie diese: „Mit dem Styx aber hat es folgende Bewandtnis […]“; „bei den Griechen wächst eine Blume von pechschwarzer Farbe, die […]“; „Phönix heißt der Vogel, er stammt aus Äthiopien und ist an Größe dem Pfau vergleichbar […]“; „einst gab es keinen Wein unter den Menschen […]“ - worauf stets längere Exkurse, Distinktionen oder Aitiologien folgen. Schon der erste Satz des Romans gibt den Ton dazu vor: „Sidon ist eine Stadt am Meer; es ist das Meer der Assyrer. Die Stadt ist die Mutter der Phönizier, der Volksstamm der Vater der Thebaner. In einer Bucht liegt ein ausgedehnter Doppelhafen, der in allmählichem Übergang die offene See ausschließt.“ 39 238 Mathias Herweg 40 Vgl. jetzt auch Jan-Dirk Müller, „Enzyklopädisches Erzählen“, in: Enzyklopädisches Erzählen (wie Anm. 7), S. 27-44, hier S. 27-30. 41 Joseph von Eichendorff, „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands (1857)“, in: Sämtliche Werke, historisch-kritische Ausgabe, begr. von Wilhelm Kosch und August Sauer, hg. von Hermann Kunisch und Helmut Koopmann, Regensburg 1908-1970, Bd. 9, S. 111. Zu poetologischen Prämissen und zur Wirkung des Verdikts vgl. Stephan Kraft, „Der Barockroman als ‚toll gewordene Realency‐ klopädie‘. Zu einem Diktum Eichendorffs und seiner Karriere“, in: Enzyklopädisches Erzählen (wie Anm. 7), S. 77-92. Es gibt demnach, auch ohne eine direkte Gattungskontinuität unterstellen zu müssen (eine schon skizzierte indirekte verläuft über den Alexander- und Apolloniusstoff), ein seit den Gattungsanfängen wirksames ‚kollektivistisches‘ Potential, das sich fallweise aktuali‐ siert. Oft kommt es erst im Mittelalter voll zum Tragen. Der antike Alexanderroman etwa wird an polyhistorischem Elan, bis hin zur Redundanz, von Ulrich von Etzenbach (Ende 13. Jh.) weit überboten, und Gleiches gilt für die Historia Apollonii (5./ 6. Jh.), deren ‚leere‘ 14jährige Trennungsphase um die gleiche Zeit Heinrich von Neustadt durch Versatzstücke aus Enzyklopädien, Romanen und anderen Texttypen zu einer den Umfang vervielfach‐ enden Reisesequenz ausbaut. Der ‚sammelnde Roman‘ wird damit zur Manifestation einer Gattungspoetik in Latenz, die in von äußerer Anfechtung bestimmten, bildungs- und medienhistorisch zugleich günstigen Momenten der Gattungsgeschichte kulminiert. Eine eigene Reihe bildet er nicht, vielmehr verwandelt er sich unterschiedliche Stoffe an, wobei Plotschemata wie Ausbildung, Reise oder die sukzessive conversio des Helden den Trend unterstützen, mitunter auch forcieren. Die genretypische Offenheit bringt es mit sich, dass auch der Zug zum Sammeln quantitativ und qualitativ uneinheitlich ausfällt und jeder Einzelfall zu der Frage (ver-)führt, wieviel wie beschaffenes Wissen eigentlich akkumuliert sein müsse, um von genus colligens und/ oder von enzyklopädisierendem Roman sprechen zu können. 40 Unbeschadet dieser Frage, die zwar brisant, aber doch normativ-isoliert nicht leicht zu beantworten ist und so (wie auch der Fortgang zeigt) mitunter vergleichendem Ermessen obliegt, scheint mir das Konzept poetologisch so auffällig und fruchtbar zu sein, dass es der tieferen Ergründung lohnt und bedarf; auffällig auch im Vergleich zu Nachbargenera wie der heroischen Epik, Lehrdichtung oder Chronistik, die allesamt auch, aber doch entweder weniger intrinsisch oder weniger anverwandelnd sammeln; und fruchtbar auch und gerade für die Mediävistik angesichts der Vielzahl vorgeblich ‚nachklassischer‘, ‚epigonaler‘ oder ‚hybrider‘ Texte, die das spätere Mittelalter und die Wende zur Neuzeit hervorbringen. III ‚Tollgeworden‘ oder hybrid. Erhellendes aus der Romantheorie Mit Blick auf einige frühere Kollegen schrieb sich ein Romancier des 19. Jahrhunderts regelrecht in Rage: Diese Möchtegern-Dichter seien „eigentlich Gelehrte, denen es lediglich um eine breite Schaustellung ihrer Gelehrsamkeit zu thun ist“; und weiter: Man könnte ihre Romane „poetische, gewissermaßen tollgewordene Realencyclopädien“ nennen. 41 Das berühmt gewordene Verdikt stammt aus der Feder Joseph von Eichendorffs (1788- 1857) und zielt konkret auf jene barocke Spielart des Romans, die heutige Handbücher als ‚höfisch-heroisch‘ oder ‚höfisch-historisch‘ bezeichnen und für die Verfassernamen 239 Aufzählen im Erzählen 42 Vgl. in diesem Sinn etwa Volker Meid, Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthuma‐ nismus zur Frühaufklärung 1570-1740, München 2009, hier S. 537-590; ders., „Höfisch-historischer Roman“, in: ³RL, Bd. 2, Berlin/ Boston 2000, S. 74f. 43 Friedrich Schlegel, „Fragmente zur Literatur und Poesie 363“, „Kritische Fragmente [Lyceum-Fr.] 78“, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland 1620-1880, hg. von Eberhard Lämmert u. a., Köln/ Berlin 1971 (NWB 41), S. 197 bzw. 196; einschlägig ebd. auch weitere Aperçus zum „absoluten Roman“, so in Stück 418, 434, 491, 794 (ebd., S. 197f.). 44 Michail M. Bachtin, „Das Wort im Roman [1934/ 35]“, in: ders., Die Ästhetik des Wortes, hg. von Reinmar Grübel, Frankfurt a. M. 1979, S. 267. 45 Ebd., S. 269 (beide Zitate). wie Daniel Casper von Lohenstein (gest. 1683), Anton Ulrich von Braunschweig (gest. 1714), Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausen (ges. 1697) oder Andreas Heinrich Bucholtz (gest. 1671) stehen. 42 Doch lässt sich der Befund im Kontext des zuvor Skizzierten unschwer von der Einzelepoche lösen und auf eben die überhistorische Spielart des genus colligens übertragen, die sich durch jenes spezifische Autorkonzept und jenes konstitutive Schwanken zwischen narrativer und diskursiver Rede, Fiktionalität und Referenzialität sowie Diegese und Digression offenbart, die Eichendorff so heftig erzürnten. Eichendorffs Formel ist, natürlich, schroff wertend, aber sie ist doch zugleich makro- und mikro-narrativ aufschlussreich. Erst die Wertung, nicht schon der Befund verkennt die poetische Qualität und Eigengesetzlichkeit des Adressierten, das doch eigentlich der romantischen ‚Hin und Herdirection‘ (Novalis) und dem auch von Eichendorff gefeierten Wesen der Universalpoesie, Synthese sonst strikt getrennter Formen, Stoffe und Stile zu sein, in gewisser Hinsicht recht nahe kommt - nur eben unter Einebnung auch der Grenzen zwischen Poesie und Wissen. Wie selten sonst wird der Roman in dieser Spielart zum „absoluten Roman“ im Sinne Friedrich Schlegels: zum „Inbegriff der ganzen Zeitbildung“ und zur „Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens“ eines fiktiven (wiewohl nicht zwingend, mit Schlegel, auch „genialischen“) Akteurs, ausgehend von ihm und fluchtend in ihm. 43 Das sah auch der weiter oben bereits kursorisch genannte Michail Bachtin (1895- 1975) so, allerdings mit durchaus anderer Wertung als der Romantiker, was auch mit der solideren Historisierung der Befundlage zu tun hat. Bachtin betonte die eminente Bedeutung des Barockromans für die weitere Gattungsentwicklung, und indem er das tat, führte er ihn zugleich auf seine mittelalterlich-antiken Vorläufer zurück und beschei‐ nigte auch bereits diesen, „beinahe vollständige Enzyklopädie[n] der Gattungen“ ihrer Zeit (gewesen) zu sein. 44 Die damit angesprochene genrepoetische Seite wird von einer narratologisch-diskursiven flankiert, wenn Bachtin die Form des Romans für imstande und insofern prädestiniert erklärt, „alle jene Momente in sich zu vereinigen“, die in der literarischen Entwicklung „bereits gesondert, als selbstständige Varianten fungieren: problemhafte, abenteuerliche, historische, psychologische, soziale Momente.“ Beides zu‐ sammengenommen, wird aus dem vormodernen Roman in Bachtins Augen eine Art Summa des der Gattung nur Möglichen in „Motive[n], Subjektkonstellationen und -situationen.“ 45 Auch wenn Bachtins romantheoretische Überlegungen, durch ihre Entstehungszeit und eine deutlich verspätete westliche Rezeption mitbedingt, von der weiteren Entwicklung partiell überholt wurden, ist diese Feststellung fraglos fundiert. Mir ist der doppelte Fokus wichtig: Das Summierend-Summenhafte hat neben der epistemischen (bei Bachtin: 240 Mathias Herweg 46 Zu Bachtins mediävistischer Relevanz vgl. auch Ingrid Kasten, „Bachtin und der höfische Roman“, in: bickelwort und wildiu maere, Festschrift für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, hg. von Dorothee Lindemann, Berndt Volkmann und Klaus-Peter Wegera, Göppingen 1995 (GAG 618), S. 51-70. Da er auf den höfischen Roman und insbes. den Erec fokussiert, fasst der Beitrag allerdings besonders die Aspekte Zeitstruktur und Dialogizität im Sinne des „mehrschichtige[n] Proze[sses] der Vermittlung zwischen Vorlage, Autor und Rezipienten“ (S. 62) ins Auge. 47 Vgl. mit mehr oder minder prominenten, doch in der Tendenz übereinstimmend skeptischen Stimmen von Zeitgenossen und späteren (Nicht-) Lesern an einem prominenten Beispiel Stephan Kraft, „Verloren im Netzwerk. Überlegungen zur Unlesbarkeit der Römischen Octavia Herzog Anton Ulrichs“, in: ZfdPh 128 (2009), S. 163-178; ders., Geschlossenheit und Offenheit der ‚Römischen Octavia‘ von Herzog Anton Ulrich. „der roman macht ahn die ewigkeit gedencken, den er nimbt kein endt.“, Würzburg 2004. 48 Karlheinz Stierle, „Die Verwilderung des Romans als Ursprung seiner Möglichkeit“, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. von Hans U. Gumbrecht, Heidelberg 1980 (GRLMA Begleitreihe 1), S. 253-313. 49 Die Unterscheidung nach Jehan Bodel, La Chanson des Saisnes, éd. Annette Brasseur, Genève, tome 1, p. 3 (V. 6-11). Adressiert sind damit der bretonische (Artus und Gral), der romanische (Chanson de geste) und der Antikenstoffkreis, indes der generische Aussagegehalt der drei Termini ist strittig; dazu Richard Trachsler, „‚Genres‘ und ‚matières‘. Überlegungen zum Erbe Jean Bodels“, in: Gattungen mittelalterlicher Schriftlichkeit, hrsg. von Barbara Frank u. a., Tübingen 1997, S. 201-219. „Enzyklopädie des Materials“) auch eine genuin poetologisch-linguistische Seite (bei Bachtin: „Enzyklopädie der Literatursprache“, was wiederum unmittelbar auf sein Konzept der Dialogizität hinführt). Die jüngere Forschung neigte und neigt gern dazu, entweder die eine (unter dem Aspekt des ‚Wissens der Literatur‘) oder die andere (unter dem Aspekt der Hybridität) zu verabsolutieren. Doch erst die Konvergenz des epistemischen und poetologischen Sammelns macht, auf Bachtin aufbauend, das für den (vormodernen) Roman Gattungsspezifische aus. Und in dem von Bachtin eröffneten weiten diachronen Horizont liegt zugleich der Appell, die Gattungs- und Begriffsgeschichte unbeschadet der eingangs vermerkten Reserven tatsächlich hinter jene Epoche zurückzudatieren, die den Begriff distinkt und die Poetik explizit machte, sie vielmehr beherzt als longue durée von der hellenistischen Antike bis zur (Früh-)Moderne zu konzeptualisieren. 46 An dieser Stelle lohnt es sich, eine weitere auctoritas einzuschalten, die Bachtins Aufwertung des von Eichendorff (und anderen 47 ) so heftig gescholtenen frühneuzeitlichen Typus genuin mediävistisch unterstützt. Karlheinz Stierle sieht in der positiv verstandenen „Verwilderung“ des mittelalterlichen Romans den Ursprung seiner ureigenen Möglichkeit, will heißen: den Ursprung seiner Möglichkeit, sich als Gattung selbst zu entfalten. 48 Er be‐ ruft sich dabei auf die Tendenz zahlreicher altfranzösischer Prosen des späten Mittelalters, die zu Chrétiens Zeiten noch klar geschiedenen matières (de Bretagne, de France, ansatzweise de Rome  49 ) aufzulösen und zu hochgradig polyphonen Textwelten zu amalgamieren. Das Verhältnis von Held und Welt, Erzähler und Erzähltem, Fiktion und Geschichte sortiere sich darüber neu, die epische Totalität verschwinde in neuen, multiperspektivisch pluralen Universalitäten. Anders und weniger abstrakt ausgedrückt, wird aus dem epischen Tableau ein immer noch großflächiges, zugleich aber höchst filigranes, ,romaneskes‘ Mosaik. Und mit Stierle schafft gerade dies die Möglichkeitsbedingung des Romans als „Utopie einer subjektiven narrativen Totalität von unendlichem Umfang, unendlicher Dichte der 241 Aufzählen im Erzählen 50 Stierle (wie Anm. 48), S. 274. 51 Vgl. in puncto Sammeln Hans-Henning Rausch, Methoden und Bedeutung naturkundlicher Rezeption und Kompilation im ‚Jüngeren Titurel‘, Frankfurt a. M. 1977; Wolfgang Wegner, Albrecht, ein poeta doctus rerum naturae? Zu Umfang und Funktionalisierung naturkundlicher Realien im ‚Jüngeren Titurel‘, Frankfurt a. M. 1996. Die kritische Wolfram-aemulatio betont dabei Thomas Neukirchen, Die ganze aventiure und ihre lere. Der ‚Jüngere Titurel‘ als Kritik und Vervollkommnung des ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach, Heidelberg 2006, S. 247-276 und passim. 52 Vgl. u. a. Markus Stock, „Alexander in der Echokammer. Intertextualität in Ulrichs von Etzenbach Montagewerk“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittel‐ alter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel u. a., Tübingen 2003, S. 113-134; ders., „Vielfache Erinnerung. Universaler Stoff und partikulare Bindung in Ulrichs von Etzenbach Alex‐ ander“, in: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, hg. von Jan Cölln u. a., Göttingen 2000, S. 407-448; Angelika Zacher, Grenzwissen, Wissensgrenzen. Raumstruktur und Wissensorganisation im Alexanderroman Ulrichs von Etzenbach, Stuttgart 2009. 53 Vgl. u. a. Herfried Vögel, Naturkundliches im ‚Reinfried von Braunschweig‘. Zur Funktion naturkund‐ licher Kenntnisse in deutscher Erzähldichtung des Mittelalters, Frankfurt a. M. u. a. 1990; Mathias Herweg, Wege zur Verbindlichkeit. Studien zum deutschen Roman um 1300, Wiesbaden 2010 (Imagines medii aevi 25), S. 279-327. narrativen Bezüge in einer eigenen narrativen Welt“, 50 die doch zugleich an die Geschichte, das Wissen und die Lebenswelt der Leserinnen und Leser zurückgebunden bleibt. Löst man die hier notwendig verkürzte Diagnose von ihrer allzu engen Bindung an eine bestimmte Entwicklungsphase der romanischen Literatur - dies schon deshalb, weil man sonst allen vor ihr liegenden Texten letztlich ein Dasein abseits der Gattungsmöglichkeit bescheinigen müsste -, dann beschreibt sie eben das Phänomen, das unter anderem Fokus hier in Rede steht: das Sammeln als Phänomen einer zur Hybridität gesteigerten Intertextualität und ‚Spätzeitlichkeit‘, die nicht Nachteil, sondern Vorzug ist, weil sie über alles Vorangehende verfügen und es in sich ‚aufheben‘ kann. Das Sammeln also, nicht so sehr die Verwilderung, wäre demnach der Ursprung der Möglichkeit des Romans. Dafür aber lässt sich auch schon vor Stierles Beobachtungszeitraum und außerhalb der Romania reichlich Belegmaterial finden, von Steven Moores antiken ‚learned novels‘ über das deutschsprachige 13. Jahrhundert, mit Texten wie Albrechts Jüngerem Titurel, 51 Ulrichs von Etzenbach Alexander  52 oder dem anonymen Reinfrit von Braunschweig, 53 die ähnlich polyphon und polyhistorisch erzählen wie die Beispiele Stierles, wenn auch nicht unbedingt im gleichen Ausmaß (ich komme abschließend darauf zurück), bis hin zum sog. höfisch-historischen Roman des Barock. In zweckmäßiger Reduktion liegen mit diesen drei Theorieskizzen drei komplementäre Perspektiven auf einen im Kern konvergenten Befund vor: die Tendenz des vormodernen Romans zur literarischen, perspektivischen und epistemischen Sammlung und Summen‐ bildung. Ob darin die Gattung erst eigentlich zu sich selbst finde oder ob sie dadurch im Gegenteil unlesbar wurde, darüber zeigten sich die drei auctoritates erwartungsgemäß (weil unterschiedlichen Voraussetzungen und Zwecken verpflichtet) uneins. Doch diese Frage ist hier nicht relevant. Relevant ist, dass alle drei Stimmen über die von ihnen anvisierten Einzelfälle hinaus auf ein überzeitliches Phänomen abheben, das man lange nur mit Negativattributen wie ‚Asianismus‘, ‚Manierismus‘ oder ‚Epigonalität‘ abtat, das sich aber (auch ohne Stierles Emphase) bei unvoreingenommener Betrachtung als 242 Mathias Herweg 54 Vgl. bes. folgenreich Walter Haug, Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2., überarb. und erweiterte Aufl., Darmstadt 1992, hier bes. S. 91-107 und 119-133. 55 Kritisch vgl. etwa Joachim Heinzle, „Die Entdeckung der Fiktionalität. Zu Walter Haugs ‚Literatur‐ theorie im deutschen Mittelalter‘“, in: PBB (Tüb.) 112 (1990), S. 55-80; Fritz Peter Knapp, Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik. Sieben Studien und ein Nachwort, Heidelberg 1997, und Historie und Fiktion in der mittelalterlichen Gattungspoetik II. Zehn neue Studien, Heidelberg 2005, jeweils passim. 56 Vgl., die überbietende Seite unterschätzend, Walter Haug, „Klassikerkataloge und Kanonisierungs‐ effekte. Am Beispiel des mittelalterlich-hochhöfischen Literaturkanons“, in: Kanon und Zensur, hg. von Aleida und Jan Assmann, München 1987 (Archäologie der literarischen Kommunikation 2), S. 259-270; Claudia Brinker-von der Heyde, „Autorität dank Autoritäten. Literaturexkurse und Dichterkataloge als Mittel zur Selbststilisierung“, in: Autorität der/ in Sprache, Literatur, neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997, hg. von Jürgen Fohrmann u. a., Bielefeld 1999, S. 442-464. 57 Vgl. explizit in Johanns von Würzburg Wilhelm von Österreich (um 1314): Nu hant vor mir die wisten / den kern geloͤset uz den vesen, / des můz ich uz den hælmen lesen / min tihten als ein stup‐ felman, / der bluͤglich nach hin slichen kan, / swaz in da spruͤch entrise, / daz min zunge unwise / samen poetologisch extrem produktiv ausweist. Die Folgeabschnitte sollen diese Diagnose, nun genuin mediävistisch, einordnen und vertiefen. IV Sammeln als Ausweg aus dem Fiktionsdilemma? Zur Situation des genus colligens im 13. Jahrhundert Vom Desinteresse der antiken Philologen am Roman war schon die Rede. In ihm mani‐ festiert sich zuvörderst das Ranggefälle der beiden großen Erzählgenres: Verfügte das Epos über eine namhafte Gründerfigur und über hohes Sozialprestige als im Vortrag gemeinschaftstiftendes Medium, so handelt der antike Roman weder von Göttern noch von Völkerschicksalen, recht eigentlich nicht einmal von Helden und ihren Taten, sondern von Fremdbestimmtheit und Vereinzelung. Als einzige Macht waltet Fortuna in ihm, was wenig Spannung verspricht, weil der im Epos präsente Widerpart fehlt. Der mittelalterliche Roman steht trotz seines bildungshistorisch und ständisch grundlegend veränderten ‚Sitzes im Leben‘ vor einem analogen Akzeptanz- und Geltungsproblem. Den namhaften ‚Innovatoren‘ Chrétien, Hartmann und Wolfram wurde als Reaktion darauf mitunter eine Art Durchbruch zum fiktionalen Erzählen bescheinigt, 54 doch wenn es diesen denn gab, 55 so blieb er von begrenzter Wirkmacht und Dauer. Die Legitimation des Romans blieb stets prekär, und nur wenige Autoren gingen so nonchalant damit um wie die viel‐ zitierten höfischen ‚Klassiker‘. Schon im 13. Jahrhundert wurden zeitweise überschattete Traditionen vorhöfischer Epik (die in der Überlieferung ohnehin nie versiegten) wieder bestimmend, so dass der Eindruck entsteht, es sortiere sich die Romanpraxis nach dem gewagten, formal trotzdem verpflichtend bleibenden Höhenflug der sog. Blütezeit neu. Drei Entwicklungen zeichnen sich ab, und alle haben mit dem nun speziell mediävistisch fokussierten Rahmenthema zu tun: 1. Die frühe Kanonisierung der höfischen Dichter um 1200, die erst so zu ‚Klassikern‘ wurden, begünstigt bereits wenige Jahrzehnte später ein literarisch aneignendes, das Erbe summierendes und zugleich überbietendes Rezeptionsverhalten. 56 Der Ährenleser auf längst abgeerntetem Feld wird dafür zur zeitgemäßen Metapher. 57 Auch ohne wertende 243 Aufzählen im Erzählen unde fuͤge (V. 1494-1501); Ausg.: Johann von Würzburg, Wilhelm von Österreich, aus der Gothaer Handschrift, hg. von Ernst Regel, Berlin 1906, ND Dublin/ Zürich 1970 (DTM 3). 58 Zum Corpus vgl. Christian Kiening, „‚Wer aigen mein die welt…‘ Weltentwürfe und Sinnprobleme deutscher Minne- und Abenteuerromane des 14. Jahrhunderts“, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart u. a. 1993 (Germanistische-Sym‐ posien-Berichtsbände 14), S. 474-494; Klaus Ridder, Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman. ‚Reinfried von Braunschweig‘, ‚Wilhelm von Österreich‘, ‚Friedrich von Schwaben‘, Berlin u. a. 1998 (QuF 12); Herweg (wie Anm. 53), S. 29-70. 59 So Müller (wie Anm. 40), S. 35. 60 Vgl. konzis Johannes Janota, Orientierung durch volkssprachliche Schriftlichkeit (1280/ 90-1380/ 90), Tübingen 2004 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, hg. von Joachim Heinzle, Bd. III, Teil 1), hier bes. S. 1f. Implikation lassen sich poetologisch sonst so disparate Fälle wie der Jüngere Titurel, der Göttweiger und Konrads von Würzburg in jeder anderen Hinsicht inkommensurabler Trojanerkrieg, die sog. Minne- und Aventiureromane um 1300, 58 ja noch Wisses und Colins Rappoltsteiner Parzifal als Versuche fassen, die stofflichen und stilistisch-formalen Errungenschaften einer inzwischen langetablierten Tradition zu sichten und mehr oder minder aemulativ zusammenzuführen. Mit Epigonalität hat das wenig zu tun, sehr viel aber mit einer Poetik und Praxis des Sammelns, die sich in modifizierten Formen bis in die große Erzählsumme von Ulrich Fuetrers Buch der Abenteuer (1473-1487), und weniger ambitioniert bis in die handschriftlichen oder typographischen Vergemeinschaftungen eines Hans Ried, eines Sigmund Feyerabend hinein fortsetzen. 2. Die tendenzielle Öffnung selbstreferenzieller und fiktionaler Freiräume sichert dem Roman um 1200 einen fortan spezifischen Platz im volkssprachigen Gattungssystem, rückt ihn aber gerade nicht aus dem Fadenkreuz der gelehrten Kritik, für die er, gleichbedeutend mit fabula und lüge, allenfalls zur moralischen Belehrung Heranwachsender taugte (so bei Thomasîn von Zerclære). Konfrontiert mit solcher Fundamentalkritik, die bis ins 18. Jahrhundert grundsätzlich anhält, erkaufen sich manche Autoren, und später Verleger, die Lizenz zum Fingieren durch eine Art epistemisches Mimikry: Der „Anspruch auf Wissensvermittlung“ entlastet den „mehr oder minder deutlich erkannte[n] fiktionale[n] Status“. 59 3. Nicht nur externe Kritik, auch die Gattungstradition selbst setzt einer allzu selbst‐ bewussten Literarizität und Fiktionalität Grenzen. Das verstärkte Bedürfnis nach Orien‐ tierung (auch) mittels volkssprachiger Literatur 60 revitalisiert noch im 13. Jahrhundert ‚vorfiktionale‘ historisch-didaktische und geistlich-legendarische Konzepte und begünstigt - nicht mehr nur defensiv zur Rechtfertigung der Fiktion, sondern auch offensiv als Option der De-Fiktionalisierung - die Anreicherung des Erzählten mit Wissen verschiedenster Art, wie es die gleichzeitig blühende Enzyklopädik und Chronistik hinreichend anbot. Zwei Strategien ergänzen sich in dieser Richtung: Historisierung und Enzyklopädisierung. Gegen den ersten Schein gehen sie in der literarischen Praxis durchaus nicht leicht zusammen. Erstere nämlich akzentuiert das Syntagma, letztere das Paradigma. Erstere setzt die brevitas als Stil- und die summa facti als Strukturideal, letzterer geht es um die (virtuelle) summa rerum, wie schon manchem antiken Vorbild. Erstere kulminiert in der linearen Geschehensfolge, letztere erhebt die ‚deskriptive Pause‘ zum Ideal und bringt 244 Mathias Herweg 61 Genannt seien hier nur Thomas von Cantimpré und Vinzenz von Beauvais auf der einen, Johannes Alsted auf der anderen Seite. Zu rezenten Studien und Sammelbänden vgl. bes. Mary Franklin-Brown, Reading the world. Encyclopedic writing in the scholastic age, Chicago 2012; Pre-Modern Encyclopaedic Texts, hg. von Peter Binkley, Leiden u. a. 1997 (Brill’s Studies in Intellectual History 79), darin bes. die Beiträge von Robert L. Fowler und Bernard Ribémont; Encyclopédire. Formes de l’ambition encyclo‐ pédique dans l’Antiquité et au Moyen Âge, hg. von Arnaud Zucker, Turnhout 2014; Enzyklopädistik 1550-1650. Typen und Transformationen von Wissensspeichern und Medialisierungen des Wissens, hg. von Martin Schierbaum, Münster 2009 (Pluralisierung & Autorität 18); darin bes. die Beiträge von Frieder von Ammon und Jörg Robert. Nicht verschwiegen sei, dass auch die vor- und frühmoderne Enzyklopädik ein Phänomen ante verbum mit unklar konturiertem Bezugsfeld ist, kurz: wie der Roman eine durchaus „problematische Gattung“ - so schon im Untertitel Christel Meier, „Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung“, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit (Symposion Wolfenbüttel 1981), hg. von Ludger Grenzmann und Karl Stackmann, Stuttgart 1984 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 5), S. 467-503; ähnlich mit weitreichenden Folgerungen Waltraud Wie‐ thölter u. a. (Hgg.), Vom Weltbuch bis zum World Wide Web - Enzyklopädische Literaturen, Heidelberg 2005, Einl. S. 1-9: Es handele sich bei der Enzyklopädik um ein diachron „äußerst heterogene[s] Textcorpus, das offenbar keine Gattungsgrenzen kennt, das sich vielmehr von den unterschiedlichst angelegten Wissen(schaft)sgeschichten und Wörterbüchern über die sogenannte Gelehrtenliteratur bis zu den Werken der (vermeintlich) schönen Literatur erstreckt“ (S. 5). 62 Vgl. Klaus W. Hempfer, Gattungstheorie, München 1973 (Information und Synthese 1), S. 26-28; ders., „Gattung“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, Berlin/ Boston 1997, S. 651-655; ders., „Schreibweise“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/ Boston 2003, S. 391-393, bes. S. 391. 63 Vgl. Bernard Ribémont, „On the Definition of an Encyclopaedic Genre in the Middle Ages“, in: Pre-Modern Encyclopaedic Texts, hg. von Peter Binkley, Leiden u. a. 1997, S. 47-61, hier S. 52; als Marker dieses Stils werden u. a. konstante Unterbrechungen des Textlaufs durch Zitate und Quellenberufungen, konstatierend-definierende Redeweise (meist in 3. Person Präs.), die Frequenz von Exempla und Bildern, die Nebeneinanderstellung gegensätzlicher Hypothesen genannt. All dies begegnet auch exzessiv in den hier erörterten Romanen. die Zeit in Digressionen, Ekphrasen, Exkursen über weite Strecken zum Stillstand. So sind keineswegs alle polyhistorischen Romane zugleich historisch resp. historisierend (vgl. Wittenwiler, Fischart), nicht alle historisierenden Romane zugleich enzyklopädisierend (vgl. die meisten Prosaromane). Für eine programmatische Konvergenz beider Strategien steht neben dem vormodernen Alexanderstoff am charakteristischsten der späthöfische sowie barocke Reise- und ‚Abenteuerroman‘, ersterer im späten 13., letzterer im späten 17. Jahrhundert gipfelnd - beides nicht von ungefähr Zeiten, in denen auch die mittelal‐ terlich-frühneuzeitliche Enzyklopädik floriert. 61 Doch sind Genre und ‚Schreibweise‘ hier füglich zu trennen, weil Schreibweisen, mit Hempfer verstanden, zwar idealtypisch aus Genres abgeleitet sein können, an sich aber gattungsindistinkt sind (‚das Epische‘ gibt es auch in Gedichten, ‚das Lyrische‘ auch im Epos, und so ‚das Enzyklopädische‘ auch in Romanen). 62 „Encyclopaedic texts - understood as a real tradition - give birth to a manner of writing, an encyclopaedic style.“ 63 Will heißen: Die Enzyklopädie als Genre er-zählt nicht, sondern sie zählt auf. Der enzyklopädisierende Roman dagegen ‚sammelt‘ Wissen und gibt ihm im Erzählen eine neue Ordnung und Funktion, zudem eine spezifische Dynamik. Das Sedimentierte wird im Erzählprozess fluide, das Gesicherte unsicher, ja gefährlich, wie etwa der Magnetberg in der Herzog Ernst-Rezeption, die Traktatexzerpte in Wittenwilers Ring, bestimmte Topographica im Fortunatus und im Faustbuch - und noch im 19. Jahrhundert das polyhistorische Buchwissen der kläglich scheiternden Flaubertschen ‚Helden‘ Bouvard 245 Aufzählen im Erzählen 64 Victor Brombert spricht für den Roman denn auch treffend von „eine[r] enzyklopädische[n] Bestandsaufnahme des Scheiterns“ („Bouvard und Pécuchet. Die Tragikomödie des Intellekts“, in: Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet, hg. und übers. von Georg Goyert, Frankfurt a. M. 1996, S. 9-35 [Vorwort], Zit. S. 9; vgl. auch oben, Eingangsmotti). Das macht ihn, dem Autor bewusst, an Cervantes’ Don Quijote, aber auch, dem Autor gewiss unbewusst, an Wittenwilers Ring oder das Faustbuch anschließbar. 65 So die überzeugende These von Glauch (wie Anm. 16), S. 329. 66 Vgl. Mathias Herweg, „Integration und Selbstkanonisierung. Rudolf von Ems als Autor, Literarhis‐ toriker und Gegenstand der Literarhistorie“, in: Rudolf von Ems. Beiträge zu Autor, Werk und Überlieferung, hg. von Elke Krotz u. a., Stuttgart 2020 (ZfdA Beihefte 29), S. 21-48, hier S. 30-40. 67 Den Begriff ‚Scharnierstelle‘ nutze ich als heuristisches Analyseinstrument für jene Passagen, die aus der Handlung in eine enzyklopädisierende Digression hinüber- und von dieser später wieder in die Diegese zurückleiten. Das zweite scheint der entschieden schwierigere Part zu sein. und Pécuchet im gleichnamigen Roman (ersch. postum 1881). 64 Aus der Wissenssammlung wird dergestalt Wissen im Vollzug, Wissensermittlung, Wissenserprobung, mitunter auch Wissenssubversion und -destruktion. Und selbst wo Romane auch epistemische Lehr- und Geltungsansprüche erheben, sind sie keine Nachschlagewerke. Denn auch dort wird das Wissen stets schon von der Diegese und von der sie vermittelnden Redeinstanz mediatisiert. V Zettelkastenauszug, Zentrifuge, Summa. Versuch einer Bilanz In relativ weitem diachronen Zugriff wurde bis hierher versucht, das Phänomen des Erlesens, Auflesens, Sammelns und Enzyklopädisierens als ein mitunter latent ruhendes, mitunter eklatant erwachendes Potential vormoderner Romanpoetik auszuloten und als Spezialfall einer allgemeineren Praxis literarischen Sammelns zu beschreiben, der wie‐ derum mit den Konstanten angefochtener Geltung und fortgeschrittener literarischer Ent‐ wicklung korreliert. Was den volkssprachigen Roman des Mittelalters angeht, so bleibt das Potential im 12. Jahrhundert noch unterschwellig. Legitimationsdefizite werden zunächst bevorzugt auf der Erzählebene kompensiert: „Erzähltechniken, auktorielle Selbstinszenie‐ rungen, Ironie und Skripturalität, die aus der geistlich-historischen Dichtung und letztlich aus der lateinischen Schriftlichkeit stammten, legten sich über ahistorische Märchenstoffe und kompensierten die Legitimationsmängel und Unverbindlichkeit der materia durch einen ‚literarischen‘ discours.“ 65 Die Voraussetzungen für eine ‚Poetik des Sammelns‘ im eigentlichen Sinn sind erst jenseits der ‚Schwelle zur Literatur‘, und tendenziell auf Kosten der vorgenannten Kompensate (besonders der Ironie), gegeben, wie sich im direkten Vergleich stoff- und strukturverwandter Texte beiderseits der Schwelle (Herzog Ernst vs. Reinfrit von Braunschweig, Straßburger vs. Ulrichs Alexander u.ä.) manifestiert. Poetologisch hoch anspruchsvoll, verlangt diese Poetik belesene Autoren, die sich nicht mehr mit einer Quelle bescheiden, sondern aus der schon ausdifferenzierten Überlieferung auswählen und ‚auflesen‘ - Rudolf von Ems reflektiert diese Art von Traditionsverhalten in seinen Quellen- und Literaturkatalogen ganz explizit. 66 Sie verlangt neben Erzählkompetenz im eigentlichen Sinne besondere Kompetenzen in Recherche, Auswahl und Integration: Die Handlung wird immer wieder sistiert und in ausgreifende Kommentare überführt, die dann wieder ‚eingefangen‘ und zurückgeholt werden müssen, wobei es besonders auf die Übergänge und Scharnierstellen 67 ankommt. Besonders affin für diese Poetik ist das Reiseschema, dem 246 Mathias Herweg 68 Was er mit ihnen macht oder vorhat, erfährt man wegen des fehlenden Endes nicht. Ausg.: Reinfrid von Braunschweig, hg. von Karl Bartsch, Stuttgart/ Tübingen 1871 (StLV 109); zum Abgleich wichtig ist: Reinfried von Braunschweig. Faksimileausgabe der Handschrift Memb. II 42 der Forschungsbibliothek Gotha, mit einer Einleitung hg. von Wolfgang Achnitz, Göppingen 2002 (Litterae 120). aber stets die Gefahr serieller Überdehnung und diskursiver Überfüllung innewohnt. Wege und Ortswechsel sind zu begründen, Fremdist mit Selbstwahrnehmung zu korrelieren, vorgängiges Wissen als Deutungshorizont aufzurufen etc. All dies sind Anforderungen an den poeta colligens, die Chrétiens bele conjointure kaum nachstehen, sind aber zugleich Hürden der Rezeption, die dem (idealen) Publikum ein beachtliches Maß an literarischem Interesse und Vorwissen zumuten - und zutrauen. Der Wandel zwischen den Anfängen und der Schlussphase des mittelalterlichen deut‐ schen Versromans, um bei ihm zu bleiben, ist zugleich der Wandel von einer punktuell zu einer systematischer sammelnden Poetik. Er zeigt sich besonders deutlich im Vergleich markiert aufeinander bezogener Texte, weshalb ich noch einmal auf den Herzog Ernst (B) zurückgreife. Die Orientfahrt des Helden provozierte dort einschlägige Exkurse, aber diese entfernten sich und das Auditorium nie über weitere Strecken vom Fortgang der Handlung. Auch verstrickte der Autor den Erzähler noch nicht planvoll in Widersprüche zur Handlung oder zu anderen Redeinstanzen im Text. Ähnlich beschränkte sich auch der Straßburger Alexander darauf, assoziationsreiche Orts- oder Personennamen nur zu benennen oder lakonisch zu kommentieren, ohne die Assoziationen selbst in zerdehnende Pausen zu übersetzen. Am anderen Ende der Gattungslinie sieht es anders aus. Hier stehen Romane, die exakt dieses tun. Albrechts Jüngerer Titurel, Ulrichs von Etzenbach Alexander, Heinrichs von Neustadt Apollonius, der riesige Reinfrit-Torso waren schon paradigmatisch zu nennen, und die Liste ließe sich unschwer verlängern. Im Reinfrit ist der Held markiert auf Ernsts Spuren unterwegs, doch ist die Reise kleinteiliger, ausufernder und digressiver angelegt, und sie bricht statt nach rund 6000 erst nach gut 27000 Versen auf einer fernen Insel mit ungewissem Ausgang ab. Wichtiger noch: Während Reinfrit weit über Ernst hinaus Länder und Sensationen abhakt und Belegstücke sammelt (V. 27182-27189), 68 treibt auch der Dichter den aufzählend-katalogisierenden Eifer bis zum Exzess. Zahllose Erzählerein‐ lassungen sind Gegenständen der Astrologie und Prognostik, der Naturkunde, Geo- und Ethnographie, der Welt- und Heilsgeschichte oder der Mythologie gewidmet. Der Reiseweg folgt phasenweise der Topographie des Neuen und Alten Testaments (V. 17981-18175 und 26972-27103), Namenskataloge evozieren literarisches Wissen unterschiedlichster matières (V. 9236-9245, 15156-15329, 16390-16460, 19940-19961, 20158-20173, 22288- 22601, 24534-24565, 25266-25297 u. a. m.), ganze ‚Fremdstoffe‘ werden gerafft nacherzählt (Ulysses, Rennewart, Zabulon/ Savilon, Virgil, dazu diverse biblische und hagiographische Plots) und naturkundliche Theorien vergleichend kollationiert (V. 19683-19932). In den meisten Fällen dieser Art dient das ‚Kollektaneenwissen‘ nicht mehr der sachkundigen Kommentierung, wie noch im Herzog Ernst, sondern der Ausstellung auktorialer Gelehr‐ samkeit, der Konstituierung eines Exklusivpublikums und insbesondere der intertextuellen Deutung des Geschehens, das sich ohne den Intertext signifikant anders läse - nämlich im 247 Aufzählen im Erzählen 69 Vgl. Herweg (wie Anm. 53), Kap. 3.3 und 3.4. Zu Herkunft und Status des gesammelten Wissens vgl. näherhin Vögel (wie Anm. 53) und Otto Neudeck, Continuum historiale. Zur Synthese von tradierter Geschichtsauffassung und Gegenwartserfahrung im Reinfried von Braunschweig, Frankfurt/ M. u. a. 1989 (Mikrokosmos 26), jeweils passim. 70 Vgl. in weiträumig komparatistischem Zugriff auf diesen Aspekt Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003, passim, bes. S. 120-129. Regelfall harmonischer und ein-deutiger. 69 Die Kataloge, Listen und Referenzen entfalten eine ganz eigene ‚enumerative‘ Ästhetik 70 und bieten dem intra-, teils auch nur extradie‐ getischen Rezipienten kraft ihrer assoziativen Logik zugleich eine an textexternes Wissen apellierende, textexternes Wissen aktivierende Folie. Drei unterschiedlich integrierte, hier v. a. pragmatisch nach überschaubarer Kürze ausgewählte Beispiele mögen die umrissene ‚Sammelpraxis‘ exemplifizieren (Hervorhebungen des Vfs.): [Erzählerrede / Listung der Motive einer Kreuzfahrerschar] Einre an die heidenschaft fuor durch frîgen muotgelust; der ander ritterlîchen just suoht, der dritte schouwen. der vierde sîner frouwen wolt dienen umb ir minne. sô wân des fünften sinne gerihtet sunder valschen spot daz er lûterlîchen got diende mit der verte sîn. sô wolt der sehste lîden pîn durch sînen rehten herren. der sibende wolte verren sîner armeclîcher habe und wolt der heidenschefte abe brechen ritterlîchen guot. sô stuont vil lîht des ahten muot daz er durch kurzewîle fuor, des niunden île was durch ruo[m] hin über mer. (V. 14616-14635) [Erzählerrede / Aufmarsch zweier orientalischer Heere] Die boten hâten sus ervarn wer dâ lac in beiden scharn von Assirî und Aschalôn. man hôrte manges brahtes dôn von wandellîcher sprâche, die ûf tôdes râche dar kâmen ûf ein ander. der grôz künc Alexander und Darîus der Persân 248 Mathias Herweg sô vil volkes nie gewan, dô sî sament vâhten. ich wæn zesamen brâhten Pompeius und Ypomidôn, die fürsten rîch von Babilôn, nie sô vil volkes als hie lac. Agumennôn, der vor Troie pflac rehtes legers offenbâr wol ûffen drîzehen jâr, brâht nie sô manic rotten dar. Paligân hât grôze schar gên Karlen brâht ûf Runzivâl: sus hât der werde Hanibâl von Karthâg ûf roemsche diet, und was doch sicherlîchen niet gên disem ungefüegen her. Terramêr brâht über mer nie sô übermæzic kraft noch alsô grôze ritterschaft als hie was ze samen komen. (V. 19933-19961) [Figurenrede als Briefzitat der verlassenen Gemahlin des Helden] „[…] ei künd ich als Benelopê durchgründen rehter liebe mez, dô sî dem helt Ulixes brief und boten sante, daz er wider want[e] von Troye sîne widervart, der sî doch entweret wart, wan der künste rîche starp ûf dem mer dâ er verdarp, sô wolt ich schriben ouch alsô. ald kund ich joch als Dŷdô schreip Enêâ dem fürsten wert, des sî ouch leider wart entwert, dâ von sî sich verbrande. Brîsêidâ diu sande ouch minnenclîche botschaft Achillî der mit grôzer kraft vor Troie ritterlîchen vaht. Pillis in grôzer liebe aht schreip dem helt Demesticô. Hêlên von Kriechen schreip ouch sô Parîdê vil schône. Medêâ schreip Jasône 249 Aufzählen im Erzählen 71 Beispiele: Dô kêrte der fürste dannen / mit sînen werden mannen / in Carpiam (V. 21215-21217, folgt naturkundliche digressio); dô der hêrre schiet von Carpiâ, / er zôch gegen Albâniâ (V. 21245 f.; folgt descriptio, Bekämpfung und Mitnahme eines Exemplars der dort lebenden Kampfhunde); do kêrt er von Albanîa / wider gegen Carpiâ, / […] in ein wüestunge (V. 21313-21317; folgen Angaben zu Klima und Vegetation), und immer so fort; Ausg.: Ulrich von Eschenbach, Alexander, hg. von Wendelin Toischer, Tübingen 1888, ND Hildesheim/ New York 1974 (StLV 183). ouch minnenclîchiu mære. ob nu mîn herze wære listic gên der minne für ir aller sinne in den ie stæter muot beleip ald von minne minnenclîch geschreip ie der werd Ovidîus, daz wolt ich al an einen kus mit gedihte schrîben.“ (V. 24523-24565) Zettelkastenresultate ähnlicher Art und Funktion finden sich in einer Fülle später Versro‐ mane, sei es wie in den zitierten Fällen als Personen-, Orts-, Heeres- oder Völkerregister, sei es als seriell addierte oder entrelacementhaft verschachtelte Exkurs- oder Ekphrasencluster, als ausgedehnte Pro- oder Analepsen. Überdies sammeln sonst so disparate Texte wie Konrads und Ulrichs Antikenromane, Albrechts und Wisse-Colins Gralromane, die Reise‐ viten Reinfrits, Apollonius’ oder Wilhelms von Österreich systematisch und kontinuierlich literarisch-poetologische Traditionsbestände mittels ausufernder Exkurse und Briefinserte, Pro-, Apo- und Epiloge, Stellen-, Stoff- und Strukturzitate. Mitunter wird darin das Sammeln auch selbstreferenziell, so wenn Ulrichs Alexander im fernen Orient empirisch verifiziert, was er bei Aristoteles gelernt hat, und das Gesehene dem Lehrer dann brieflich mitteilt - was qua Quellendiskurs zuletzt unmittelbar wieder in den Roman zurückfließt. Ganz logisch sind solche Szenarien nicht, denn was der junge Alexander gelernt hat, kann der Erwachsene nicht erst entdecken und dem Lehrer als Neuigkeit mitteilen. Außerdem erlegt der Dichter dem Helden allerlei Umwege und Mehrfachvisiten auf, um nur möglichst viel Material in die Reisevita zu packen, bis die Handlung im letzten Buch fast auf die seriellen, oft wortgleichen Übergänge von einem Wissenstopos zum nächsten zusammenschrumpft. 71 Man sieht: Die Poetik des Sammelns erzeugt Längen, und sie erzeugt Brüche im zeit-räum‐ lichen wie logischen Kontinuum. Vor allem aber reproduziert sie neben ‚Weltwissen‘ auch allerlei genuines Literaturwissen, und im Extremfall schafft sie gleichsam buchförmige Bibliotheken. Mit Fällen wie Ulrich und dem Reinfrit-Anonymus ist der Unterschied zwischen einem im weiteren Sinn wissensammelnd-referenziellen Erzählen, für das eingangs der Herzog Ernst in Anspruch genommen wurde, und einem scheinbar (! ) um des Sammelns willen sam‐ melnden, damit recht eigentlich enzyklopädisierenden resp. enzyklopädischen Erzählen markiert. Dieser Unterschied setzt sich über das Ende des Versromans hinaus fort, und mit ihm die beiden durch ihn definierten Linien: Auf der einen Seite steht das Gros de-rhe‐ torisierter ‚Prosaauflösungen‘ und Prosaromane, auf der andern finden sich Texte wie Messerschmidts noch sehr moderat, gleichsam didaktisch-konzise sammelnder Brissonetus 250 Mathias Herweg 72 Vgl. Joachim Knape, „Messerschmidt […], Georg“, in: ²VL 16, Bd. 4, Berlin/ Boston 2015, Sp. 396-399, hier bes. Sp. 398. Der Roman enthält teils reichhaltige Kataloge u. a. von Musikinstrumenten, Obstsorten, Ländern und Regionen, antiken Tugendexempla und antiken Geschichtsschreibern. 73 Vgl. Tobias Bulang, „Die andere Enzyklopädie. Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: Arcadia 48 (2013), S. 262-281, und in diesem Band eindrücklich Beate Kellners Beitrag. 74 Beide sind in anderer Weise als Fischarts Werk gleichsam ‚invertierte‘ Enzyklopädien; vgl. Jan-Dirk Müller, „Ausverkauf menschlichen Wissens: Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts“, in: Literatur, Artes und Philosophie, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 163-195; Barbara Mahlmann-Bauer, „Magie und neue Wissenschaften im Wagnerbuch (1593)“, in: Religion und Naturwissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Kaspar von Greyerz u. a., Gütersloh 2010 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 210), S. 141-185; Martin Ehrenfeuchter, „‚Es ward Wagner zu wissen gethan…‘ Wissen und Wissensvermittlung im Wagnerbuch“, in: Als das wissend die meister wol. Beiträge zur Darstellung und Vermittlung von Wissen in Fachliteratur und Dichtung des Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von dems. und Thomas Ehlen, Frankfurt a. M. 2000, S. 347-368. 75 Vgl. bes. Andreas B. Kilcher: „Zentrifugen des Wissens. Zur Enzyklopädik des Barockromans“, in: Arcadia 48 (2013), S. 282-301; ders., „Das unsichtbare Netzwerk. Artistik der Enzyklopädie“, in: Lexikographik und Enzyklopädistik. Historische Konzepte und literarisch-künstlerische Verfahren, hg. von Monika Schmitz-Emans u. a., Hildesheim u. a. 2012, S. 99-122; ders., Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000, München 2003. (1559), 72 die exuberante Textwunderkammer von Fischarts Geschichtklitterung (1590), 73 das schwarzpädagogische Diptychon aus Faust- und Wagnerbuch (1587 bzw. 1593), 74 und schließlich Eichendorffs ‚tollgewordene Realencyclopädien‘ des 17. Jahrhunderts, die alle das Gattungsformat in je eigener Weise para-narrativ bis an seine Grenzen, und darüber hinaus, ausreizen. Die letztgenannten fanden als „Zentrifugen“ des Wissens neuerdings reges Interesse von neugermanistischer Seite. 75 Der Mediävist darf hier innehalten und mit einer knappen Bilanz schließen: Sein eingangs umrissener Ansatz war es, der Signifi‐ kanz des Sammelns für die vormoderne Romanpoetik nachzuspüren. Was sich dabei im Rückblick ergab, ist zwar mitnichten so homogen und umfassend, dass es sich einem zeitlos festen, gleichsam linnaeischen System fügte, aber auch nicht so indistinkt oder zufällig, dass es genrepoetisch vernachlässigbar wäre. Vielmehr zeigt sich der Roman aus mehreren, in den vorausgehenden Abschnitten skizzierten Gründen, die teils innerliterarisch-innergene‐ rischer, teils funktionaler und legitimatorischer Art sind, als Genre, das regelhaft Sammler auf den Plan rief: Sammler als Autoren, Sammler als Erzähler, Sammler als Protagonisten, und mitunter auch Sammler im Publikum. Das genus colligens ist ihm als überzeitliches Potential signifikant eingeschrieben. Wo es sich aber so dominant aktualisiert wie im späten 13. Jahrhundert, und dann wieder im späteren 16. und 17., lässt es sich wohl auch - dem Tagungsexposé folgend, das diesem Band vorausging - als „Indikator kultureller Veränderungen und epochaler Umbrüche“ verstehen. Es verweist dann auf tiefgreifende Verschiebungen im Weltbild, in der Dichotomie von ‚Wahrheit‘ und ‚Lüge‘, und nicht zuletzt im poetisch-poetologischen Ranggefälle zwischen Autorität und ‚Originalität‘, ja: zwischen Epos und Roman. Stets und vor allem aber sammelt der Roman sich selbst, will heißen: das Erbe seiner mit jedem Text länger und komplexer werdende Gattungsgeschichte. Deshalb, so meine ich, taugt das ‚Konzept Sammeln‘ fern aller Epigonalitätsklischees als Erklärungsmodell für literarhistorische, präziser: generische Transformation, und dies auch und gerade deshalb, weil es natürlich auch Romane gibt, in denen das Potential ruht, die also nicht (oder nicht 251 Aufzählen im Erzählen in der hier verfolgten Weise) sammeln. Denn auch in dieser Hinsicht gilt, um das erste und letzte Wort Herder zu belassen: „Die größten Disparaten läßt diese Dichtungsart zu.“ 252 Mathias Herweg 1 Vgl. u. a. Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001; Gilbert Heß, „Florilegien. Genese, Wirkungsweisen und Transformationen frühneuzeitlicher Kom‐ pilationsliteratur“, in: Wissensspeicher in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, hg. von Frank Grunert und Anette Syndikus, Berlin/ Boston 2015, S. 97-138; Denise Wilde, Dinge sammeln. Annäherungen an eine Kulturtechnik, Bielefeld 2015 (Edition Kulturwissenschaft 62), S. 40-50. 2 Vgl. dazu mit weiterführenden Hinweisen den Beitrag von Beate Kellner in diesem Band. 3 Vgl. resümierend Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, hg. von Jan-Dirk Müller, Frankfurt am Main 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54; Bibliothek der frühen Neuzeit 1), S. 996. Sprichwörter des Teufels Zur literarischen Produktivität von Sprichwörterkollektionen in der Historia von D. Johann Fausten Silvia Reuvekamp Dass Sammeln als Kulturtechnik für die Frühe Neuzeit von besonderer Bedeutung ist, gehört zu den Gemeinplätzen kulturhistorischer Forschung. 1 Entsprechend gelten die Veränderungen, die seit dem späten Mittelalter im Hinblick auf Gegenstände, Interessen, Funktionen und Akteure des Sammelns zu beobachten sind, als Indikatoren der vielfältigen kulturellen Wandlungsprozesse einer Schwellenzeit. Keineswegs unbeobachtet geblieben ist in diesem Zusammenhang, dass die Literatur der Zeit dabei nicht nur zum Sammlungsge‐ genstand wird, sondern zunehmend Kollektionen unterschiedlicher Provenienz integriert und so selbst als Medium des Sammelns in Erscheinung tritt. In einigen Fällen geschieht dies in einem Maße, das akkumulierende Praktiken zu poetischen Techniken und sogar zu poetologischen Prinzipien werden lässt. 2 Allerdings ist dieses Phänomen bisher kaum aus einer dezidiert literaturwissenschaftlichen Perspektive beleuchtet worden. Das gilt insbesondere für den Prosaroman, zu dessen stilprägenden Besonderheiten die extensive Nutzung von Sammlungen verschiedenster Art und Provenienz gehört. 3 Rezipiert und mitunter blockhaft integriert werden - um nur einiges zu nennen - neben Sammlungen literarischer Formen wie Fabeln, Exempeln, Schwänken, Sagen, Erzählungen, Dialogen, Sprichwörtern, Aussprüchen und Anekdoten sogar Listen von Realien und Lemmalisten aus der Lexikographie. Weil in vielen Fällen keine klare Funktion des integrierten Samm‐ lungsmaterials für die erzählte Handlung ersichtlich wird, entsteht leicht der Eindruck, sie bedienten Interessen, die quer zur eigentlichen literarischen Kommunikation stehen. Will man aber die Rolle der Literatur im Prozess einer sich verändernden Bedeutung kultureller Praktiken des Sammelns angemessen verstehen, muss nach der literarischen Produktivität dieser Praktiken und nach ihrer Relevanz für einen spezifisch literarischen 4 Clifford Geertz, „Common Sense als kulturelles System“, in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 696), S. 261-288; Udo Friedrich, „Providenz - Fortuna - Erfahrung. Der Fortunatus im Spannungsfeld von Episteme und Schicksal in der Frühen Neuzeit“, in: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, hg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider in Zusammenarbeit mit Tobias Bulang und Michael Waltenberger, Berlin/ New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 125-156. 5 Clifford Geertz, „Religion als kulturelles System“, in: Geertz (wie Anm. 4), S. 44-96. 6 Vgl. dazu in jüngerer Zeit Andreas Bässler, Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschen Literatur um 1500, Berlin/ New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 27); Agata Mazurek, Sprichwort im Predigtkontext. Untersuchungen zu lateinischen Prothemata-Sammlungen des 15. Jahrhunderts mit deutschen Sprichwörtern. Mit einer Edition, Berlin/ Boston 2014 (MTU 142); Rebekka Nöcker, „Fabula und proverbium. Zur textkonstituierenden und didaktischen Funktion des Proverbiums im Äsop-Kapitel des Liber de moribus“, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin/ New York 2009, S. 299-326. Bedeutungsaufbau gefragt werden. Dies soll im Folgenden mit einigen exemplarisch gemeinten Überlegungen geschehen. Die zum Teil ganz konkreten Wechselbeziehungen zwischen Sammeln und Produzieren von Literatur lassen sich besonders gut am Beispiel literarischer Kleinformen und speziell an Sprichwörtern beobachten, die seit der Antike gezielt für den Wiedergebrauch in der Text‐ produktion gesammelt werden. Der kultursemiotischen Forschung gelten Sprichwörter als besonders pointierte und exponierte Ausdrucksformen des common sense, der die erste, grundlegende Ebene interpretierender Verarbeitung von Wirklichkeitserfahrung bildet. 4 Der common sense beansprucht, die Welt in ihrer unüberschaubaren Vielfalt und schlichten Faktizität zu erfassen und handhabbar zu machen. Damit fordert er alle komplexeren Perspektiven auf Wirklichkeit, etwa in Wissenschaft, Kunst und Religion, heraus, die eigenen systematischen, ethischen oder ästhetischen Zugangsweisen zu menschlicher Erfahrung zu denen des common sense in Relation zu setzen. 5 Gerade in Mittelalter und Früher Neuzeit werden Sprichwörter zu Ankerpunkten einer solchen relationierenden Auseinandersetzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Bildungswelten, disziplinären Diskursen und Medien. Blickt man nicht allein auf die in Sprichwörtern selbst formulierten Handlungsregularitäten und Situationsdeutungsmuster - also das eigentliche common sense-Wissen -, sondern auch auf ihre Kontextualisierungen in heterogenen Gebrauchszusammenhängen, dann lassen sich die vielschichtigen Austauschprozesse und Übersetzungsvorgänge kulturellen Wissens, die Ausdruck spezifischer Bedeutungskonst‐ ruktionen sind, ganz konkret beobachten. Wenn Kulturen aus Bedeutungsgeweben be‐ stehen, dann bilden Sprichwörter in Mittelalter und Früher Neuzeit Knotenpunkte der einzelnen Gewebefäden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum an der Schwelle zur Frühen Neuzeit Humanisten ebenso wie Reformatoren ausgerechnet mit voluminösen Sammlungen und Kommentierungen von Sprichwörtern je eigene Archive kulturellen Wissens anlegten und diese zu kanonisieren suchten. Über ein textgeneratives Potenzial verfügen Sprichwörter dabei in mehrfacher Hinsicht: Zum einen bergen sie Mininarrative oder verdichten Argumentationsmuster, die in unterschiedlichsten narrativen oder diskur‐ siven Kontexten entfaltet werden können. 6 Zum anderen diskursivieren Sprichwörter 254 Silvia Reuvekamp 7 Vgl. z. B. Gert Hübner, „Tugend und Habitus. Handlungswissen in exemplarischen Erzählungen“, in: Artium Conjunctio. Kulturwissenschaft und Frühneuzeitforschung. Aufsätze für Dieter Wuttke, hg. von Petra Schöner und Gert Hübner, Baden-Baden 2013, S. 131-161; ders., „Erzähltes Handeln, kulturelles Handlungswissen und ethischer Diskurs. Überlegungen zur Lehrhaftigkeit vormoderner Erzählungen“, in: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann, Nicola McLelland und Nine Miedema, Tübingen 2017, S. 361-378. 8 Vgl. mit Beispielanalysen Silvia Reuvekamp, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans, Berlin/ New York 2007; dies., „Verborgen schatz und wistuom. Transformationen gelehrten Wissens in der Crône Heinrichs von dem Türlin“, in: Praktiken europäi‐ scher Traditionsbildung im Mittelalter. Wissen - Literatur - Mythos, hg. von Manfred Eikelmann und Udo Friedrich unter Mitarbeit von Esther Laufer und Michael Schwarzbach, Berlin 2013, S. 99-116. 9 Manfred Eikelmann, „Das Sprichwort im Sammlungskontext. Beobachtungen zur Überlieferungs‐ weise und kontextuellen Einbindung des deutschen Sprichworts im Mittelalter“, in: Kleinstformen der Literatur, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1994 (Fortuna vitrea 14), S. 91- 116; ders., „Sprichwörtersammlungen (deutsche)“, in: 2 VL, Bd. 9, Berlin/ New York 1995, Sp. 162-179. 10 Heß (wie Anm. 1), S. 103. 11 Zum systematischen Zusammenhang von Sammeln und Forschen vgl. Jochen Brüning, „Wissen‐ schaft und Sammlung“, in: Bild - Schrift - Zahl, hg. von Sybille Krämer und Horst Bredekamp, München 2003 (Reihe Kulturtechnik), S. 87-113; Justin Stagl, „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998, S. 37-54, hier S. 51f.; Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26. 12 Zur konzeptionellen Arbeit an den Adagia vgl. mit weiterführenden Hinweisen Manfred Eikelmann, „Erasmus von Rotterdam, Exzerptsammlungen“, in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserle‐ xikon, Bd. 1, hg. von Franz Josef Worstbrock, Berlin/ New York 2008, Sp. 703-711. Die achtbändige Handlungsregularitäten und Situationsdeutungsmuster, die ebenfalls in Handlung dyna‐ misiert werden können und einen Bezug zur kulturellen Praxis herstellen. 7 Nicht zuletzt sind Sprichwörter aber auch mit einem Wissen um ihren üblichen Gebrauch - also ihre Semantik und Pragmatik - verbunden. Gerade in gelehrten Kontexten impliziert das ein differenziertes Wissen über vorangegangene Aktualisierungen und Funktionalisierungen, das im Wiedergebrauch implizit mitgeführt wird. In diesem Sinne fungieren Sprichwörter häufig als Bindeglieder zu gelehrten Diskursen, die komplexitätssteigernd in neue Kontexte eingespielt werden können. 8 In Sammlung und literarischer Nutzung von Sprichwörtern lässt sich eine deutliche Kontinuität zwischen Antike und Mittelalter sowie zwischen Latein und verschiedenen Volkssprachen erkennen. Im Spätmittelalter und insbesondere in der Frühen Neuzeit entwickelt dann aber vor allem die Sammlungstradition noch einmal eine neue Dynamik. 9 Es entstehen nicht nur deutlich mehr Sammlungen, viele von ihnen werden in ihrem Umfang in wiederholten Neuredaktionen erheblich erweitert. Erasmus von Rotterdam etwa vergrößert seine Adagia, die seit ihrer Erstauflage im Jahr 1500 bis 1579 mindestens 125mal gedruckt werden, 10 bis zur Auflage von 1533 von 818 auf 4251 Lemmata. An den Adagia kann man neben den quantitativen auch die qualitativen Veränderungen der Sammlungstätigkeit beobachten. Erasmus sammelt das Sprichwort nicht allein wegen seiner Nützlichkeit für die Textproduktion, sondern erhebt es zum wissenschaftlichen Gegenstand. 11 In den Paratexten der Sammlung entwickelt er eine ausgefeilte Sprichwort‐ theorie, und seine Kommentierungen der einzelnen Lemmata entwickeln beinahe so etwas wie eine abendländische Kulturgeschichte. 12 Indem dem Sprichwort als Sammlungsobjekt 255 Sprichwörter des Teufels kritische und kommentierte Gesamtausgabe der Adagia bietet den Text letzter Hand aus dem Jahr 1536 in einer Form, die die ebenso langwierigen wie komplexen Prozesse der Erweiterung, Um- und Neukonzeption sowie beständigen Korrektur nachvollziehbar werden lässt, und trägt damit der Bedeutung der Bearbeitungsgeschichte Rechnung. Lediglich die Adagia collectanea wurden als eigenständiges Werk mit eigenen Indices und Konkordanzen im neunten Band gesondert ediert. Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata. Ordinis secundi: Adagia. Bd. 1-9, Amsterdam 1981-2005. 13 Vgl. dazu z. B. Barbara Bauer, „Die Philosophie des Sprichworts bei Sebastian Franck“, in: Sebastian Franck (1499-1542), hg. von Jan-Dirk Müller, Wiesbaden 1993, S. 181-221; Felix Heinimann, „Zu den Anfängen der humanistischen Paroemiologie“, in: Catalepton. Festschrift für Bernhard Wyss zum 80. Geburtstag, hg. von Christoph Schäublin, Basel 1985, S. 158-182; Wilhelm Kühlmann, „Auslegungs‐ interesse und Auslegungsverfahren in der Sprichwortsammlung Sebastian Fracks (1541)“, in: Haug/ Wachinger (wie Anm. 9), S. 117-131; Silvia Reuvekamp, „Heinrich Bebels Proverbia Germanica (1508). Zum Verhältnis von Latinität und nationalem Selbstbewusstsein im deutschen Humanismus“, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. von Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer und Stefanie Schmitt, Tübingen 2008, S. 333-345. 14 Zugrunde gelegt wird die kommentierte Ausgabe Faustbuch, in: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 829-986 (Text), S. 1319-1447 (Kommentar). eine über den praktischen Nutzen in der Textproduktion hinausweisende Bedeutung zugeschrieben wird, öffnet sich ein Feld für sehr unterschiedliche Sammlungsinteressen. Entsprechend unterscheiden sich die frühneuzeitlichen Sammlungen in Programmatik, Auswahl, Konzeption und Präsentation der Sprichwörter ganz erheblich - das zeigt unter anderem ein Vergleich der reformatorischen und der humanistischen Sammlungen. 13 Es spricht einiges dafür, dass auch der literarische Gebrauch von der veränderten Bedeutung von Sprichwörtern, der sich in der Sammlungspraxis beobachten lässt, affiziert wird. Allerdings fehlt es bisher sowohl an einer Materialbasis als auch an exemplarischen Studien, die das zeigen könnten. Zu klären wäre, in welcher Weise Sprichwortsammlungen für die Textproduktion fruchtbar gemacht werden, ob sich in literarischen Texten ein eigenständiges Interesse nicht nur an der Nutzung, sondern auch an der Sammlung von Proverbien beobachten lässt und in welchem Verhältnis dieses dann zu anderen Ebenen des literarischen Bedeutungsaufbaus steht. Solche übergreifenden Fragen sollen im Folgenden ausgehend von einem prominenten Beispiel erörtert werden: Die Historia von D. Johann Fausten  14 enthält insgesamt mehr als 50 Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten - im Verhältnis zur Textlänge eine nicht unerhebliche Anzahl. Doch liegt die Besonderheit des Textes weniger in der Quantität der integrierten Proverbien als im irritierenden Umstand, dass die allermeisten davon, nämlich 34, ausgerechnet in die Rede des Teufels integriert sind. Vor allem eine Passage sticht dabei heraus: Kurz vor Ablauf des auf 24 Jahre befristeten Paktes verspottet Mephostophiles den im Angesicht seines unmittelbar bevorstehenden Endes leidenden Faust mit einer Verkettung von 31 Proverbien, die in wechselnder Bildlichkeit und mit je unterschiedlicher Akzentuierung alle den gleichen Vorwurf formulieren: Faust hat seine Situation selbstverantwortlich herbeigeführt und muss die ihm bevorstehenden Qualen nun entsprechend zu Recht tragen. Er hat seine eigene Macht überschätzt und diejenige Gottes und des Teufels unterschätzt, was ihn jetzt diesseitige wie jenseitige Existenz kosten wird: 256 Silvia Reuvekamp 15 Walter Haug, „Der Teufelspakt vor Goethe oder Wie der Umgang mit dem Bösen als felix culpa zu Beginn der Neuzeit in die Krise gerät“, in: DVjs 75 (2001), S. 185-215, hier S. 203. 16 Jan-Dirk Müller, „Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts“, in: Literatur, Artes und Philosophie, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 163-194, hier S. 192. Darumb / mein Fauste / ists nit gut mit grossen Herrn vnd dem Teuffel Kirschen essen / sie werffen einem die Stiel ins Angesicht / wie du nun siehest / derhalben werestu wol weit von dannen gangen / were gut fuͤr die Schůß gewesen / dein hoffertig Roͤßlein aber hat dich ge‐ schlagen / du hast die Kunst / so dir GOtt gegeben / veracht / dich nicht mit begnuͤgen lassen / sonder den Teuffel zu Gast geladen / vnd hast die 24. Jar hero gemeynet / es seye alles Golt / was gleisset / was dich der Geist berichte dardurch dir der Teuffel / als einer Katzen / ein Schellen angehengt. Sihe / du warest ein schoͤne erschaffene Creatur / aber die Rosen / so man lang in Haͤnden traͤgt / vnd daran riecht / die bleibt nit / deß Brot du gessen hast / deß Liedlein mustu singen / verziehe biß auff den Karfreytag / so wirds bald Ostern werden / Was du verheissen hast / ist nicht on Vrsach geschehen / Ein gebratene Wurst hat zween Zipffel / Auff deß Teuffels Eyß ist nit gut gehen / Du hast ein boͤse Art gehabt / darumb laͤßt Art von Art nicht / also laͤßt die Katz das Mausen nit / Scharpff fuͤrnemmen macht schaͤrtig / weil der Loͤffel new ist / braucht jn der Koch / darnach wenn er alt wirt / so scheißt er dreyn / dann jß mit jm auß / Jst es nicht auch also mit dir? der du ein newer Kochloͤffel deß Teuffels warest / nun nuͤtzet er dich nimmer / denn der Marckt hett dich sollen lehren Kauffen. Daneben hastu dich mit wenig Vorraht nit begnuͤgen lassen / den dir Gott bescheret hat. Noch mehr / mein Fauste / was hastu fuͤr einen grossen Vbermuth gebrauchet / in allem deinem Thun vnd Wandel hastu dich einen Teuffels Freund genennet / derhalben schuͤrtz dich nun / dann Gott ist HERR / der Teuffel ist nur Abt oder Muͤnch / Hoffart thaͤte nie gut / woltest Hans in allen Gassen seyn / so sol man Narren mit Kolben lausen / Wer zuviel wil haben / dem wirt zu wenig / darnach einer Kegelt / darnach muß er auffsetzen. So laß dir nun meine Lehr vnd Erjnnerung zu Hertzen gehen / die gleichwol schier verloren ist / du soltest dem Teuffel nit so wol vertrawet haben / dieweil er GOttes Aff / auch ein Luͤgener vnnd Moͤrder ist / darumb soltest du Kluͤger gewesen seyn / Schimpff bringt Schaden / denn es ist bald vmb einen Menschen geschehen / vnd er kostet so viel zu erziehen / den Teuffel zu beherbergen / braucht ein klugen Wiert / Es gehoͤrt mehr zum Tantz / denn ein roht par Schuch / hettestu Gott vor Augen gehabt / vnd dich mit denen Gaben / so er dir verliehen / begnuͤgen lassen / doͤrfftestu diesen Reyen nicht tantzen / vnnd soltest dem Teuffel nicht so leichtlich zu willen worden seyn / vnd geglaͤubet haben / dann wer leichtlich glaubt / wirdt bald betrogen / jetzt wischt der Teuffel das Maul / vnnd gehet davon / du hast dich zum Bůrgen gesetzt / mit deinem eigenen blut / so sol man Bůrgen wůrgen / hast es zu einem Ohr lassen eingehen / zum andern wider auß. (Z. 969,22-971,20, Hervorhebungen S.R.) Die Forschung würdigt die Stelle nicht eben wegen ihrer literarischen Qualität. Walter Haug zufolge gilt sie als besonders banale Klitterung eines beliebigen moralischen Inventars, in der sich das durch den Teufelspakt erworbene Wissen letztlich selbst diskreditiere. 15 Jan-Dirk Müller versteht die Passage als Ausdruck des gescheiterten Versuchs eines letztlich reaktionären Autors, die Pluralisierung von Wissen in der Frühen Neuzeit im Rekurs auf einen in platten Alltagsweisheiten gefassten gesunden Menschenverstand einzuhegen. 16 Solchen Urteilen liegen Auffassungen der älteren Quellen- und Einflussforschung zu‐ 257 Sprichwörter des Teufels 17 Ludwig Fränkel und Adolf Bauer, „Entlehnungen im ältesten Faustbuch“, in: Vierteljahresschrift für Literaturgeschichte 4 (1891), S. 91-381, Zitate S. 361 und S. 376. Vgl. aber auch die kritische Auseinandersetzung mit einer solchen Einschätzung der Proverbienrede bereits bei Eugen Wolff, Faust und Luther. Ein Beitrag zur Entstehung der Faust-Dichtung, Halle an der Saale 1912, S. 9f. Auch dort, wo der Passage literarische Qualität nicht schon wegen ihres kompilatorischen Charakters abgesprochen wird, interessiert sich die Forschung allerdings nicht näher für die Prinzipien der Zusammenstellung und Verbindung der angeführten Sprichwörter. Vgl. z. B. Barbara Könneker, „Faust-Konzeption und Teufelspakt im Volksbuch von 1587“, in: Festschrift Gottfried Weber zu seinem 70. Geburtstag, hg. von Heinz O. Burger und Klaus von See, Bad Homburg u. a. 1967 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik 1), S. 159-213, hier S. 206f., sowie in jüngerer Zeit Michael R. Ott, Fünfzehnhundertsiebenundachtzig. Literatur, Geschichte und die ‚Historia von D. Johann Fausten‘, Frankfurt am Main 2014, S. 212-218. 18 Zur Formulierungs- und Verwendungstradition des Sprichworts vgl. Thesaurus Proverbiorum medii aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanisch-germanischen Mittelalters (TPMA), begründet von Samuel Singer, hg. vom Kuratorium der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissen‐ schaften, 14 Bde., Berlin/ New York 1995-2001, Bd. 10 s.v. SCHIESSEN 10. Fliehen schützt vor den Schüssen. 19 Zur Formulierungs- und Verwendungstradition des Sprichworts vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 5 s.v. GOLD 7.1. Es ist nicht alles Gold, was glänzt oder rötlich schimmert. grunde, nach denen die Proverbienrede des Mephostophiles - oder der „Sprichworthaufen“, wie es etwa bei Fränkel heißt - aus „Fetzen“ verschiedener Sprichwortsammlungen wahllos „zusammengestoppelt“ sei, wobei der Autor nicht einmal die Sammlungen selbst, sondern lediglich deren Register verwendet habe. 17 Auf den ersten Blick wirkt es tatsächlich, als seien die Sprichwörter mit ziemlich geringem Aufwand, ohne weitere konzeptionelle Überlegungen aus einem Sammlungskon‐ text übernommen und nur lose in eine argumentative Reihung überführt. Insgesamt sind sie mit einer hohen Dichte in die Rede integriert, immer wieder folgen sie sogar ohne jede Überleitung oder Kontextualisierung aufeinander. Eine solch assoziatives Clustering von sinnund/ oder formverwandten Sprichwörtern entspricht ziemlich genau der Ordnung und Präsentationstechnik der meisten zeitgenössischen Sammlungen. Im literarischen Kontext werden allerdings nicht alle Sprichwörter in ihrer Nennform geboten, sondern in einer ganzen Reihe von Fällen in finite Konstruktionen aufgelöst und dabei direkt auf Fausts Biographie bezogen, so z. B. das Sprichwort Weit von dann ist gut für Dschüss  18 in werestu wol weit von dannen gangen / were gut fuͤr die Schůß gewesen (Z. 969,25f.) oder auch Es ist nicht alles Gold, was glänzt  19 in vnd hast die 24. Jar hero gemeynet / es seye alles Golt / was gleisset / was dich der Geist berichte (Z. 969,30-970,2). Diese Technik, eine Argumentation im Wechsel von gereihten Sprichwörtern in Nenn‐ form und persönlich adressierten Anspielungen zu entwickeln, entspricht nun aber genau dem poetischen Prinzip, gemäß dem etwa der poeta laureatus Georg Philipp Harsdörffer mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des Faustbuches ein nur aus Sprich‐ wörtern bestehendes Schauspiel nach französischer Vorlage sowie zwei Briefe generiert: Liebe vermeinte Jungfer, Ob ihr zwar für einen Articul des Glaubens haltet / ich habe den Narren an euch gefressen / so wisset doch / daß es noch um ein ganzen Baurnschuch fehlet. Ich will mir kein Blat fürs Maul nemen / und mit euch das Spiel der unzeitigen Warheit spielen: Ich will euch weisen wo der Hund im Pfeffer lieget: Mit der Bitte / ingedenk zu seyn / daß ein Freund / der sauer sihet / besser ist / als ein lachender Feind. 258 Silvia Reuvekamp 20 Wolfgang Mieder, „Zwei Sprichwörterbriefe von Georg Philipp Harsdörffer“, in: Sprachspiegel 31/ 3 (1975), S. 67-71, hier S. 68f. Weitere Beispiele für solche oder ähnliche Proverbienreihen in literarischen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit bietet ders., „(Un)sinnige Phrasendrescherei. Sprichwörtliche Prosatexte als sprachsoziologische Zeichen“, in: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskunde-Kongreß in Karlsruhe vom 25. bis 29. September 1995, hg. von Rolf W. Brednich und Heinz Schmitz, Münster u. a. 1997, S. 145-162. Zur Textsortenkombinatorik in den Schriften Harsdörffers sowie zur Bedeutung von Sprichwörtern und vergleichbaren „traditionsgesättigten“ Formen für deren Poetik vgl. Stefan Manns, Grenzen des Erzählens. Konzeption und Struktur des Erzählens in Georg Phillip Harsdörffers ‚Schauplätzen‘, Berlin 2013 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 14), hier insbesondere S. 200-215. Ein Ehrwort ist darum kein wahr Wort: Loben ist nicht Lieben / und betrieget ihr euch sehr / wann ihr für Gold haltet alles / was da glänzet. Fürwar ich habe euch kein Evangelium geprediget: Die Warheit ist ein seltzam Wildbred / Kinder und Narren sagen sie / (wie das Sprichwort lautet / ) die Verständigen aber gehen derselben billich müssig / denn wer die Warheit geigt / dem schlägt man die Fiedel um de Kopf […]. 20 Wenn es der Rede des Mephostophiles an der ironischen Eleganz mangelt, die Harsdörffers Sprichwortbriefe auszeichnet, liegt das - wie sich im Vergleich unschwer erkennen lässt - ganz offensichtlich gerade nicht am kompilativen Verfahren, sondern ganz im Gegenteil an den überexpliziten und insistierenden Zwischenreden des Geistes, also daran, dass das kompilative Verfahren nicht konsequent durchgehalten ist. In diesen Zwischenreden hält Mephostophiles Faust immer wieder seine falschen Entscheidungen und Sünden vor, um daraus sein Urteil abzuleiten. Dabei konkretisiert er scheinbar unnötiger Weise, anders als Harsdörffer es in seinen Briefen tut, was implizit in den Sprichwörtern ohnehin zum Ausdruck kommt: weil der Loͤffel new ist, braucht jn der Koch / darnach wenn er alt wirt / so scheißt er dreyn / dann jß mit jm auß / Jst es nicht auch also mit dir? der du ein newer Kochloͤffel deß Teuffels warest / nun nuͤtzet er dich nimmer (Z. 970,14-18). Die unschönen Redundanzen, die dadurch entstehen, haben für den dargestellten Sprechakt allerdings eine ganz entscheidende Funktion. Mephostophiles geht es darum, Faust im Angesicht der vermeintlichen Übergröße seiner Sündenlast auch noch die letzte Hoffnung auf einen unverdienten göttlichen Gnadenakt zu nehmen. Die Sprichworttirade ist nicht darauf angelegt, erkenntnisstiftend zu wirken, sie soll in ihrer Polemik einschüchtern und demütigen. Insistierend überexplizite Schuldzuweisungen sind dafür ein probateres Mittel als stilistische Eleganz. So geht am Ende die Strategie auf, und Faust formuliert seine endgültige Selbstaufgabe im Anschluss an die Sprichworttirade bezeichnenderweise mit dem einzigen Proverbium, das er im Verlauf der gesamten Romanhandlung verwendet: Wessen darff ich mich troͤsten? der Seligen Gottes nicht / dann ich schaͤme mich / sie anzuspre‐ chen / mir wůrde keine Antwort folgen / sondern ich muß mein Angesicht vor jnen verhůllen / daß ich die Freude der Ausserwehlten nit sehen mag. Ach was klage ich / da kein hůlff kommet? da ich kein Vertroͤstung der Klage weiß? Amen / Amen / Jch habs also haben woͤllen / nun muß ich den Spott zum Schaden haben. (Historia von D. Johann Fausten, Z. 972,32-973,5, Hervorhebung S.R.) Die literarische Qualität der Sprichworttirade versteht man allerdings nur unzureichend, wenn man sie allein als Inszenierung eines gelungenen rhetorischen Aktes betrachtet - auch die Auswahl der Proverbien ist von entscheidender Bedeutung. Entgegen den 259 Sprichwörter des Teufels 21 Am ehesten ist dies bei Es ist nicht alles Gold was glänzt der Fall, das seit dem frühen Hochmittelalter ebenso im Lateinischen wie in unterschiedlichen Volkssprachen belegt ist und bereits früh Eingang in die Sammlungstradition findet (siehe dazu Anm. 19). Hoffart thaͤte nie gut (Z. 970,27) erinnert gedank‐ lich zwar stark an das ausgesprochen prominente Hochmut kommt vor dem Fall (TPMA, wie Anm. 18, Bd. 6 s.v. HOCHMUT 5.1.2. Hochmut fällt - bringt zu Fall), tritt in dieser sprachlichen Prägung aber erst bei den reformatorischen Autoren auf. Vgl. zur Formulierungs- und Verwendungsgeschichte TPMA (wie Anm. 18) Bd. 6 s.v. HOCHMUT 5.5. Hochmut tut nichts Gutes, sondern schadet nur. Ähnliches gilt für so soll man Narren mit Kolben lausen (Z. 970,28). Die Idee, dass der Unvernünftige körperliche Züchtigung verdiene, findet sich bereits in den biblischen Spruchsammlungen (Prv 10,13) und ist seither vor allem im Deutschen in unterschiedlichen gnomischen Prägungen greifbar. Die im Faustbuch gewählte Formulierung findet sich allerdings erst seit dem 15. Jahrhundert und zunächst auch nur vereinzelt. Eine eigene Dynamik gewinnt die Verbreitung dann ganz offensichtlich in der humanistischen und reformatorischen Literatur und Sammlungstradition. Vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 8 s.v. NARR 10.5.1. Narren muss man schlagen (mit Kolben lausen). Vor allem im literarischen Bereich einige Male belegt ist außerdem zu einem Ohr lassen eingehen / zum andern wider auß (Z. 971,19f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 9 s.v. OHR 7.2. Zum einen Ohr hinein, zum anderen hinaus. 22 Das gilt nach derzeitigem Forschungsstand für ists nit gut mit grossen Herrn vnd dem Teuffel Kirschen essen (Z. 969,22f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 6 s.v. HERR 7.2.3.2.1. Weh dem, der mit Herren Kirschen isst; einer Katzen / ein Schellen angehenget (Z. 970,2f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 6 s.v. KATZE 24.4. Der Katze eine Glocke (Schelle) anhängen; Auff des Teuffels Eyß ist nicht gut gehen (Z. 970,10f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 2 s.v. EIS 5. Auf (dünnes, schwaches) Eis bauen; also laͤßt die Katz das Mausen nit (Z. 970,12f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 6 s.v. KATZE 4.1. Die Katze lässt das Mausen nicht. Das Sprichwort, auf das Mephostophiles mit deß Brot du gessen hast / deß Liedlein mustu singen (Z. 970,6f.) anspielt, ist zwar bereits in der frühmittelalterlichen Fecunda Ratis Egberts von Lüttich (zum ersten Mal hg., auf ihre Quellen zurückgeführt und erklärt von Ernst Voigt, Halle an der Saale 1889, 1, 445) überliefert, findet aber erst im reformatorischen Milieu weitere Verbreitung, vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 2 s.v. BROT 7.2. Man lobt (lobe) den, dessen Brot man isst. 23 Dies gilt nach derzeitigem Forschungsstand für den Teufel zu Gast geladen (Z. 969,29f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 11 s.v. TEUFFEL 7.3. Man kann den Teufel gut zu Gast bitten, aber man wird ihn schwer wieder los; verziehe biß auff den Karfreytag / so wirds bald Ostern werden (Z. 970,7f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 9 s.v. OSTERN 6. Verschiedenes; darumb laͤßt Art von Art nicht (Z. 970,12), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 8 s.v. NATUR 1.2.1.1. Die Natur kann man nicht aufgeben; Scharpff fuͤrnemmen macht schaͤrtig (Z. 970,13f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 10 s.v. SCHARTIG 1. Allzu scharf und genau wird schartig; weil der Loͤffel new ist, braucht in der Koch (Z. 970,14), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 8 s.v. LÖFFEL 8. Verschiedenes; der Marckt hett dich sollen lehren Kauffen (Z. 970,18f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 8 s.v. MARKT 4.1. Der Markt lehrt es dich; Gott ist HERR / der Teuffel ist nur Abt oder Muͤnch (Z. 970,25f.); Hans in allen Gassen seyn (Z. 970,27f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 5 s.v. HANS 2.2. Hans in allen Gassen; darnach einer Kegelt / darnach muß er auffsetzen (Z. 970,29f.), vgl. TPMA Bd. 6 s.v. KEGELN Wer kegeln will, muss seinen Einsatz machen; Teuffel […] GOttes Aff […] ist (Z. 971,3-5), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 11 s.v. TEUFEL 1.2. Der Teufel ist Gottes Affe; Schimpf bringt Schaden (Z. 971,6); Es gehoͤrt mehr zum Tantz / denn ein roht par Schuch (Z. 971,9f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 11 s.v. TANZEN 2.2. Ein Paar rote Schuhe genügen nicht zum Tanzen; wer leichtlich glaubt / wirdt bald betrogen (Z. 971,15f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 5 s.v. GLAUBEN Der Leichtgläubige schädigt sich selbst; jetzt wischt der Teuffel das Maul / vnnd gehet davon (Z. 971,16f.), vgl. TPMA (wie Anm. 18) Bd. 8 s.v. MUND 21.11. Das Maul wischen; so sol man Bůrgen wůrgen (Z. 971,18f.). Vor dem Faustbuch bisher gar nicht nachgewiesen sind die Rosen / so man lang in Haͤnden Einschätzungen der Forschung handelt es sich nämlich nicht um eine wahllose Zusam‐ menstellung von Allerweltsweisheiten. Nur einzelne Proverbien der Tirade sind zur Entstehungszeit der Historia tatsächlich bereits weit verbreitete Sprichwörter mit langen Gebrauchstraditionen. 21 Die allermeisten lassen sich dagegen entweder mit eher verein‐ zelten Belegen seit dem Spätmittelalter nachweisen 22 oder sind überhaupt erst in der reformatorischen oder humanistischen Sprichwörterliteratur zum ersten Mal greifbar. 23 260 Silvia Reuvekamp traͤgt / vnd daran riecht / die bleibt nicht (Z. 970,4-6), Eine gebratene Wurst hat zween Zipfel (Z. 970,9f.) sowie den Teuffel zu beherbergen / braucht ein klugen Wiert (Z. 971,8f.). 24 Ohne Parallele in Luthers Schriften sind nach meinem derzeitigen Kenntnisstand lediglich die vier mutmaßlichen Neuschöpfungen des Faustbuches (vgl. dazu Anm. 23) sowie weil der Loͤffel new ist, braucht in der Koch (Z. 970,14), Hoffart thaͤt nie gut (Z. 970,27), darnach einer Kegelt / darnach muß er auffsetzen (Z. 970,29f.) sowie Schimpf bringt Schaden (Z. 971,6). Da der TPMA (wie Anm. 18) Sprich‐ wort-Belege aus den deutschen und lateinischen Schriften Luthers nicht systematisch erfasst und es auch sonst kein annähernd vollständiges Verzeichnis der von Luther verwendeten Sprichwörter und Redensarten gibt, fehlt eine verlässliche Datenbasis, auf der das Verhältnis der Sprichwort-Tirade zu Luthers Rechtfertigungslehre und den darin inserierten Proverbien bereits abschließend beurteilt werden könnte. In einigen Fällen bieten ältere Verzeichnisse wie das Deutsche Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, 5 Bde., Leipzig 1867, unveränderter Nachdruck Augsburg 1987, zusätzliche Belege. An vielen Stellen lassen sich in gezielten Recherchen aber auch Parallelstellen neu identifizieren, so etwa zu Scharpff fuͤrnemmen macht schaͤrtig (Z. 970,13f.); so sol man Bůrgen wůrgen (Z. 971,19); Gott ist der HERR / der Teuffel ist nur Abt oder Muͤnch (Z. 970,25f.). Bisher wurden vor allem die Tischreden Luthers zu den Prätexten des Faustbuches gezählt, vgl. in jüngerer Zeit insbesondere Marina Münkler, Narrative Ambiguität. Die Faustbücher des 16. bis 18. Jahrhunderts, Göttingen 2011 (Historische Semantik 15), S. 78-84. 25 Johannes Agricola, Die Sprichwörtersammlungen, 2 Bde., hg. von Sander L. Gilman, Berlin/ New York 1971 (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts). Dass viele dieser Proverbien, wie z. B. Mit Herren ist nicht gut Kirschen essen oder Des Brot ich ess, des Lied ich sing, uns heute so geläufig sind, liegt an der enormen Nachwirkung der protestantischen Sprichworttradition. Die Auswahl der Sprichwörter in der Tirade verweist also ganz offensichtlich in ein bestimmtes geistiges Milieu. Greift man hier noch näher zu, kann man erkennen, dass es sich mit wenigen Ausnahmen um Sprichwörter handelt, die Luther in wichtigen Schriften im Zusammenhang mit seiner Rechtfertigungstheologie verwendet, 24 und zwar beinahe durchweg in Kontexten, die im Kern das im Faustbuch behandelte Problem betreffen: das Drama derjenigen, denen nicht die Gnade zu Teil wird, an Gottes Barmherzigkeit glauben zu können. Wie eng die Bezüge des Faustbuches zu solchen Kontexten sind, soll im Folgenden an zwei Beispielen gezeigt werden. Das Sprichwort Es gehört mehr zum Tanz als ein Paar rote Schuhe ist vor Luther lediglich an zwei Stellen in der ersten Sprichwortsammlung Johannes Agricolas 25 belegt - als eigenes Lemma mit Kommentar (Nr. 251, Bd. 1, Z. 195,25-196,9) sowie im Kommentar zur Redensart ‚Mir ist nicht tentzerlich‘ (Nr. 364, Bd. 1, Z. 306,18-24). Die Semantik des Proverbiums erläutert Agricola zunächst ganz vom Wortsinn her. Um überhaupt tanzen zu können, müsse der Mensch nicht nur den vestimentären Anforderungen einer Tanzveranstaltung genügen - also rote Schuhe tragen -, sondern auch über gesunde und starke Beine verfügen. So könnten alte Menschen zwar durchaus rote Schuhe tragen, deswegen aber noch lange nicht tanzen. Entstanden sei das Sprichwort möglicherweise in einer Situation, in der eine alte Frau die Einladung ihrer Kinder zum Tanz mit Blick auf ihre körperliche Gebrechlichkeit zurückgewiesen und die Kinder aufgefordert habe, ohne sie zu gehen. Nur implizit wird so bei Agricola deutlich, dass es im Sprichwort um das nach außen hin nicht unbedingt erkennbare Fehlen einer persönlichen Disposition geht, welches die Teilhabe an einer gemeinschaftsstiftenden Praktik verhindert. Dass diese fehlende persönliche Disposition nicht in jedem Fall körperlicher Natur sein muss, zeigt sich in der späteren Kommentierung der Redensart ‚Mir ist nicht tentzerlich‘, in der Agricola im Rekurs auf das 261 Sprichwörter des Teufels 26 Alle Angaben beziehen sich auf die Kritische Gesamtausgabe: D. Martin Luthers Werke, 120 Bde., Weimar 1883-2009. Sprichwort betont, dass die Integration in eine von Freude getragene Gesellschaft ebenfalls überall dort scheitert, wo es dem Menschen an sorgloser Unbeschwertheit fehlt: Droben ist gesagt / Es gehoͤre mer zum tantz / denn ein rodt par schuh / es gehoͤren auch junge / frische beyne darzů / und ein froͤlicher freyer můt / Wer die zwey stuck nicht hat / sonder ist betrubt / oder ligt yhm etwas an / der sagt billich / es sey yhm nicht tentzerlich / er sey nicht guts muts (Bd. 1, Z. 306,20-24). Diese Grundsemantik des Sprichworts von den roten Schuhen überträgt Luther nun in einen Kontext, in dem es um die Unfähigkeit eines bestimmten Menschtypus geht, in Momenten größter Drangsal und Anfechtung Hoffnung aus dem rechten Glauben an Christus zu schöpfen. In den Reihenpredigten zu Io 14-15 (WA 45, S. 465-733) 26 entwickelt Luther ausgehend von den Trostworten, die Jesus nach dem letzten Abendmahl an seine Jünger richtet, um sie ungeachtet seines eigenen Leids vor der drohenden Verzweiflung und insbesondere vor den Anfechtungen des Teufels zu schützen, zentrale Aspekte seiner Rechtfertigungstheologie. Sein erklärtes Ziel ist es, in einer zur Predigt Jesu analogen Kommunikationssituation nun seinerseits die Gläubigen eindringlich vor den ihnen bevorstehenden inneren und äußeren Anfechtungen zu warnen, ihnen gleichzeitig aber auch Trost zu spenden (vgl. WA 45, S. 468). Im Abschnitt zu Io 14,6 (Niemand kompt zum Vater, denn durch Mich, WA 45, S. 506-510) erläutert Luther zunächst an verschiedenen Beispielen die rettende Kraft des Glaubens, die allein, unabhängig von irgendwelchen weiteren Leistungen, zur Gnade Gottes führe, während - wie in einem zweiten Argumentationsschritt demonstriert wird - die Unfähigkeit, auf die unermessliche Gnade Gottes zu vertrauen, ungeachtet aller Bemühungen zwangsläufig in Verzweiflung und Isolation treibe. Das Sprichwort von den roten Schuhen steht nun genau an einer der argumentativen Scharnierstellen der Predigt und pointiert die unüberbrückbare Trennung der beiden Menschtypen und die Determiniertheit ihrer jeweiligen Schicksale: Wie die alte Frau bei Agricola wegen ihrer schwachen Beine vom Tanz ausgeschlossen ist, so gibt es für alle diejenigen, denen die Disposition zum wahren Glauben fehlt, keinerlei Chance auf einen Zugang zur göttlichen Gnade: Lieber, es ist hie nicht mit unsern wercken ausgericht, solch gros ding zu erlangen, Was woltestu doch rhuͤmen von deinem thun oder vermoͤgen, wenn du soltest gehen durch ein weites, wildes Meer zwisschen eitel grossen wellen und wasser wogen zu beiden seiten, da du nichts denn den gewissen tod fur dir sehest und keinen rat noch huͤlffe wuͤstest hindurch zu komen, ob du dich zu tod marterst mit wercken? Gleich wie das volck Israel muste schlecht gantz und gar an aller menschlicher weisheit, rat und huͤlffe verzweiveln und nimer mehr hetten duͤrffen wogen hindurch zugehen, wenn sie nicht sich schlecht an Gottes wort gehalten und den glawben gefasset hetten, Sie hetten lang muͤssen mit fuͤssen tretten, springen und tantzen, ehe sich das wasser von ander auff gethan und sie hindurch gelassen hette, wo nicht das wort und jr glaube an das selbige da gewesen were, Viel weniger ist es mit wercken und unsern krefften gethan und ausgericht, diesen gang oder uberfart zu volenden, so gar vil schwerer und fehrlicher ist denn jhene leibliche durch das Rote Meer, da uns auff den hals fellet und uberschwemmet der sunden last, Gottes zorn, ewiger tod und der Teuffel mit der gantzen helle, das du 262 Silvia Reuvekamp solches alles uberwindest und sicher hindurch komest, Es gehoͤret mehr dazu denn rote schuch zu diesem tantz, . Darumb mus der glaube hie regieren und allein alles thun. (Reihenpredigten zu Io 14-15, WA 45, S. 509, Hervorhebung S.R.) In weiten Teilen liest sich die Predigtfolge mit ihren eindrücklichen Beschreibungen der menschlichen Mechanismen des Verzweifelns sowie der Art, in der der Teufel sich diese zu Nutze macht, beinahe wie ein Kommentar zur Situation Fausts. Die Bezüge zur Sprichworttirade reichen aber noch weiter. Luther entfaltet im Umfeld des Sprichwortes von den roten Schuhen nämlich nicht nur seine Gnadenlehre, im Abschnitt zu Io 14,1 (Ewer hertz erschrecke nicht, WA 45, S. 468-476) erläutert er auch die aus seiner Sicht zentrale rhetorische Strategie der teuflischen Anfechtung und die konkrete Redetechnik, mit der der Herr der Welt diejenigen manipuliere, die nicht im Glauben gefestigt seien. Immer wieder erscheine er nicht nur in der Gestalt Christi, sondern führe auch dessen Worte im Mund, so dass für den Christen allzu häufig kaum zu unterscheiden sei, mit wem er es zu tun habe. Nur der im Glauben gefestigte Christ sei in der Lage, die Täuschung des Teufels in der Abweichung vom Agieren des Gottessohnes zu erkennen. Während dieser nämlich Mahnungen und Drohungen nicht für sich stehen lasse, sondern stets mit Trost verbinde, damit kein Gläubiger in Verzweiflung gerate, würde in der teuflischen Adaptation der Worte Christi umgekehrt falscher Trost mit überzogenen Drohgebärden verbunden. Der Teufel schüre so zunächst unberechtigte Sorglosigkeit und dann unnötige Verzweiflung. Erfolgreich sei er dabei nicht zuletzt, weil er die Bedeutung und Adressierung gleichermaßen von Aussprüchen des Trostes wie der Mahnung in ihr Gegenteil verkehre: Denn ob sie gleich auch Christi wort sind, so sind sie doch nicht zu rechter zeit noch stet gefuͤret noch uber die person, da hin sie gehoͤren, und wie sie Christus spricht, sondern von dem Luͤgen geist, dem Teuffel verkeret, der da beide, die drewung und trostspruͤche, von dem hauffen, dahin sie gehoͤren, fuͤret und verderbet, Wie er alle Gottes wort verkeret und aus der warheit zur luͤgen verwandelt. (Reihenpredigten zu Io 14-15, WA 45, S. 474f.) Genau diese Verkehrung von Semantik und Pragmatik von Sprüchen lässt sich aber nun an diversen Stellen auch in der Sprichworttirade des Faustbuches beobachten. So etwa beim Proverbium darumb laͤßt Art von Art nicht (Z. 970,12), das in Luthers Gnadenlehre auf den „Haufen“ der Trostworte gehört, von Mephostophiles aber zum vernichtenden Urteil ewiger Verdammnis umgedeutet wird: In seinem Kommentar zum Buch des Propheten Jona (WA 19, S. 169-251), das er als tröstendes Exempel der Gnadenfähigkeit Gottes versteht (WA 19, S. 185-187), zieht Luther aus dem Prophetenwort Ich rieff den HERRR an ynn meynem truͤbsal und er antwortet myr. Ich schrey zu meynem Gott ynn dem bauch der hellen und du erhoͤretest meyne stymme zwei Lehren (WA 19, 222-226). Zunächst, dass Gott, wo er um Hilfe angerufen wird, aufgrund seiner Gnade gezwungen ist, dem Rufenden zu helfen, selbst dann, wenn dieser sich, wie Jona zuvor, von ihm abgewandt habe, oder wenn er aufgrund seiner Sündenverstrickung eigentlich schon der Hölle einverleibt sei. Unabhängig von den Taten gebe es also eine Heilsgewissheit für alle diejenigen, die sich in größter Not vertrauensvoll an Gott wendeten. Wer Trübsal blase, sei verloren, wer dagegen rufe, automatisch gerettet. Allerdings - und das ist die zweite Lehre, die Luther aus dem Prophetenwort zieht - bestehe diese Heilsgewissheit nur dann, wenn das Rufen des Notleidenden einem tiefen und aufrichtigen Glauben an die unendliche 263 Sprichwörter des Teufels 27 Vgl. WA, 19, S. 222: Aber es gleubt keyn mensch, wie schwer es wird, solch anruffen und schreyen zu thun. Heulen und klagen, zittern und zweyffeln und uns auff das aller scheusselichst stellen, konnen wyr wol. Aber ruffen das wil nicht eraus. Denn da druckt uns unter und ligt auff dem halsse das boͤse gewissen und die sunde, da schlecht denn zu, das man Gott zornig fulet; das sind solche laste, das die gantze welt nicht so schweer ist. Gnadenfähigkeit Gottes entspringe. Nur dieser Glaube ermögliche es dem Menschen, hinter dem offensichtlichen Zorn des Herrn das Gnadenangebot überhaupt zu erkennen. Wie schon das Sprichwort von den roten Schuhen steht auch hier das Sprichwort Art lest von art nicht an der argumentativen Schnittstelle beider Lehren. Im unmittelbaren Kontext geht es um die Frage, warum die allermeisten Menschen nicht in der Lage seien, Gott um Hilfe anzurufen, obwohl es sich um einen ebenso einfachen wie sicheren Weg zum Heil handele. Die Unfähigkeit, sich in selbstverschuldetem Elend, dort, wo man den Zorn Gottes spürt, dennoch vertrauensvoll an ihn zu wenden, liegt Luther zufolge in der Natur des Menschen. Selbst wenn er rufen wolle, lege sich die Last des Gewissens auf seine Stimme, die schwerer wiege als die ganze Welt. 27 Deswegen glaube der Mensch, Gott im Gegenzug für erbetene Gnade etwas anbieten zu müssen. Weil er aber niemals über einen Gegenwert verfügen könne, käme es in den meisten Fällen nicht zu einem Gnadengesuch. Für Gott resultiere aus dieser Konstellation eine beinahe ausweglose Situation: Strafe er den Menschen nicht, werde dieser übermütig, strafe er, verfalle der Mensch in Verzweiflung - in beiden Fällen sei er letztlich verloren. Mit dem Sprichwort Art lest von art nicht resümiert Luther diesen Kommentarteil abschließend die zuvor entfaltete resignative Anthropologie: Es kan natur nicht anders thun noch sich schicken, denn wie sie fulet. Nu sie aber Gotts zorn und straffe fulet, helt sie nicht anders von Gott denn als von eym zornigen tyrannen, kan sich nicht uber solchen zorn schwingen odder uber solch fulen springen und durch hyn widder Gott zu Gott dringen und ruffen. Drumb da Jona so ferne komen ist, das er rieff, da hatte er gewonnen. Also dencke und thu du auch, schlahe nicht den kopff nydder odder fleuch, sondern stehe stille und far uber dich. So wirstu erfaren, das diser vers war sey: ‘Ich rieff ynn meyner angst zum herrn und er antwortet myr’. Zum Herrn, zum Herrn, und sonst nyrgent hyn, eben zu dem der da zurnet und strafft, und zu keynem andern. Das antworten aber ist, das es balde besser wird und wirst balde fulen, das der zorn gelinder und die straffe senffter wird. Ungeantwort lest er nicht, wenn du nur ruffen kanst, Und nicht mehr auch denn ruffen kanst; denn er fragt nach deynem verdienst nicht, weys wol, das du eyn sunder bist und den zorn verdient hast. Er straffte dich sonst nicht. Aber das kan die natur auch nicht lassen, sie wil ymer etwas mit bringen, das gott versune und findet denn nichts. Denn sie gleubt und weys nicht, das alleyne das ruffen gnug sey, gotts zorn zu stillen, wie Jona hie uns leret. Also sind alle menschen gethan: Wenn Gott nicht zurnet noch strafft, sondern gibt gnug und thut uns wol, so sind wyr so frech, kuͤne, stoltz und thuuͤrstig, das niemand kan mit uns aus komen. Da hilfft keyn drewen, keyn schrecken, keyn exempel Gotts zorns. Es ist alles eytel spot und verachtung. Aber widderumb, wenn Gott strafft, sind wyr so verzagt und bloͤde, das keyn trost, keyn gut, keyn gnade uns mag auffrichten noch stercken. Also wie es Gott mit uns macht, so sind wyr doch keyn nuͤtz. […] Art lest von art nicht. (Kommentar zum Buch des Propheten Jona, WA 19, S. 223f., Hervorhebung S.R.) Entscheidend ist aber, dass gerade in der resignativen Haltung die Grundlage für die Gnadenzuversicht liegt, die das Sprichwort in dieser Kontextualisierung zum Trostwort werden lässt. Gott durchbricht nämlich die Aporie, die durch die unveränderliche Natur des 264 Silvia Reuvekamp 28 Vgl. WA 19, S. 224: Sihe eyn solch gros ding ists zu Gott zu komen, das man durch seynen zorn, durch straffe und ungnade zu yhm breche als durch eytel dornen, ja durch eytel spiesse und schwerdter. Das heyst eyn ruffen des glaubens, wilchs sich mus fuͤlen ym hertzen, das er Gott treffe, gleich wie Christus fulete, das eine [Marc. 5, 30] krafft war von yhm ausgangen, da er der frawen den blutgang stillet. Denn des geysts wort und werck fuͤlet man, das sie treffen und nicht feylen. 29 Jan-Dirk Müller, Romane des 15. und 16. Jahrhunderts (wie Anm. 3), S. 1424, mit Überlieferungsvari‐ anten und Hinweisen zur älteren Forschung. 30 Johannes Mathesius, Historien, Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes, Doctoris Martini Luthers, anfang, lehr, leben und sterben Alles ordendlich der Jarzal nach, wie sich alle sachen zu jeder zeyt haben zugetragen, Nürnberg 1566 (online unter: https: / / www.digitale-sammlungen.de/ de/ view/ bsb10986772? [Zugriff am 22.4.2021]). Menschen entsteht, mit seinem beinahe voraussetzungslosen Gnadenangebot und bietet damit einen Ausweg aus dem Teufelskreislauf von Hochmut und Verzweiflung. 28 Schauen wir von hier aus wieder in die Proverbienrede des Mephostophiles, wird die Verkehrung von Semantik und Pragmatik des Sprichworts unter Beibehaltung des Wort‐ lautes ganz offensichtlich. Indem der Geist die Aussage spezifisch auf Faust bezieht (Du hast ein boͤse Art gehabt / darumb laͤßt Art von Art nicht, Z. 970,11f.), geht der allgemein anthropologische Gestus verloren, der bei Luther Voraussetzung für Heilszuversicht ist. Wo Luther das Gewissen entlastet sehen will, um eine Hinwendung zu Gott zu ermöglichen, belastet Mephostophiles Faust mit dem Vorwurf, alle seine Sünden seien die Folge seiner ganz persönlichen verderbten Natur, die er entsprechend allein mit sicherer Verdammnis zu verantworten habe. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Sprichworttirade insgesamt als Verkehrung von Luthers Rechtfertigungstheologie lesen - eine Verkehrung, die genau den Prinzipien folgt, die der Reformator selbst in den Reihenpredigten zu Io 14-15 als teuflische Spruchrhetorik beschreibt. Pointiert wird das Prinzip bereits in dem Reimspruch, mit dem Mephostophiles seine Rede beginnt. Auch hier wird ein Lutherzitat durch eine an sich geringfügige Ab‐ wandlung im Wortlaut in seiner Bedeutung und pragmatischen Funktion vom Trostspruch „zur zynischen Bekräftigung unausweichlicher Verdammnis“ verkehrt: 29 Weistu was so schweig / Weistu was so schweig / Jst dir wol so bleib. Ist dir wol so bleib / Hastu was / so behalt / Hastu was so halt / Vngluͤck kompt bald. Ungluͤck mit seinem bzeiten fuß kompt bald. Drumb schweig / leyd / meyd vnd vertrag / […] Item / schweig / leid / meid vnd vertrag / Dein Vngluͤck keinem Menschen klag. dein not niemand klag / Es ist zu spat / an Gott verzag / an Gott nicht verzag / Dein Vngluͤck laͤufft herein all tag dein huͤlff kompt alle tag (Historia von D. Johann Fausten, Z. 969, 14-21) (Matthesius, Historien, Bl. 150r) 30 Entgegen bisherigen Einschätzungen ist die Sprichworttirade in der Historia von D. Johann Fausten damit alles andere als eine wahllose Kompilation aus den gängigen Sprichwörtersammlungen ihrer Zeit, sondern das Ergebnis klar erkennbarer Auswahl- und Konstruktionsprinzipien. Zusammengestellt sind beinahe ausnahmslos Proverbien aus für das Romanthema einschlägigen Kontexten von Luthers Rechtfertigungstheologie. Eine Funktion der Häufung von Sprichwörtern an dieser Stelle scheint darin zu liegen, diesen 265 Sprichwörter des Teufels 31 Bisher wurden in der Forschung eher Parallelen zwischen Luther und Faust in ihrem jeweiligen Kampf gegen die Anfechtungen des Teufels beobachtet. Vgl. bereits Wolff (wie Anm. 17) und zuletzt Münkler (wie Anm. 24), S. 265-269. 32 Die Bezüge zwischen den Reden des Mephostophiles im Faustbuch und den polemischen Schriften Luthers wären noch näher zu untersuchen. Mehrere Proverbien der Tirade finden sich auch in solchen Zusammenhängen, so etwa Einer Katze eine Schelle anhängen (vgl. Z. 970,3) und Des Brot ich ess, des Lied ich sing (vgl. 970 6 f.) in Luthers Invektive Wider Hans Worst (WA 51, hier S. 540 und S. 547). Aber auch über die Tirade hinaus ergeben sich auffällige Parallelen. Als Faust im Vorfeld der eigentlichen Verschreibung entgegen seiner ursprünglichen Absicht doch noch auf einen Paktschluss verzichten will, weil er ewige Verdammnis fürchtet (vgl. Z. 850,8f.), suggeriert Mephostophiles ihm in einem Reimspruch, sein Seelenheil bereits verloren zu haben: Wiltu nit / so hats doch kein Bitt / Hats denn kein Bitt / so mustu mit / Helt man dich / so weistu es nit / Dennoch mustu mit / da hilfft kein Bitt / Dein verzweifelt Hertz hat dirs verschertzt (Z. 850,10-14). Der Erzähler umschreibt diesen Sprechakt, der darauf zielt, Faust jede Hoffnung auf Erlösung zu nehmen und so erst in die Verzweiflung zu treiben, in einem anschließenden Kommentar im Rekurs auf die Redewendung jemandem den armen Judas singen (Z. 850,24f.). Damit spielt er auf das in Spätmittelalter und früher Neuzeit bekannte Spottlied Oh, du armer Judas an, das aus der letzten Strophe des Osterhymnus Laus tibi, Christe, qui Pateris entstanden ist: O du armer Judas, / Was hast du getan, / Dass du deinen Herren / Also verraten hast / Darumb so mustu leiden / Hellische pein, / Lucifers geselle / Mustu ewig sein. Kyrieeleison. Vgl. weiterführend Archer Taylor, „O du armer Judas“, in: Journal of English and Germanic Philology 19 (1929), S. 318-339. In seinen polemischen Schriften hat Luther seinen eigenen Spott mehrfach mit der gleichen Redewendung umschrieben, und das an sich schon polemische Judaslied durch Umdichtungen direkt an seine Gegner adressiert. Vgl. z. B. Wider Hans Worst, WA 51, S. 570f.: Wolan, sie sind verstockt, verblent, dem zorn Gottes ubergeben, Wir muͤssen dem zorn raum geben und Gottes Gericht lassen gehen, Wollen auch nicht mehr fur ihre Suͤnde bitten (wie uns Sanct Johannes leret), sondern von jnen und wider sie, Gott zu lobe und danck singen das Judas lied auff Diskursbezug erkennbar zu pointieren - ein Einzelsprichwort hätte ihn lediglich nahelegen können. Damit scheint hinter der Sprichworttirade eine mentale Sammlung eines ganz be‐ stimmten Typs reformatorischer Proverbien auf. Mit ihrem gemeinsamen Diskursbezug als Kohärenzprinzip bilden die im literarischen Kontext zusammengetragenen Sprichwörter einerseits eine eigene kleine Sammlung, die aber andererseits poetisch so gestaltet ist, dass sie einen zentralen Aspekt von Luthers Teufelsbild in Figurenhandlung dynamisiert. Beides referiert auf die erhebliche und ganz spezifische Bedeutung des Sprichworts im reformato‐ rischen Milieu. Hier scheint ein qualitativer Unterschied zur literarischen Verwendung von Proverbien in Antike und Mittelalter zu liegen, der Analogien zum veränderten Umgang mit dem Gegenstand in der Sammlungstradition aufweist: Der literarische Text nutzt nicht nur das textgenerative Potential von Sprichwörtern, sondern wird zum Reflexionsmedium ihrer neuen kulturellen Relevanz. Der mit der literarischen Gestaltung der Sprichworttirade betriebene Aufwand ist so enorm, dass es angezeigt scheint, in einem kleinen Ausblick noch nach der Bedeutung der Passage im Romanganzen zu fragen. Auch wenn sich Mephostophilesʼ Gebrauch der Luther-Sprichwörter bei näherer Betrachtung leicht als rhetorisch-strategische Verkehrung ihrer Verwendung durch den Reformator in der Rechtfertigungslehre erkennen lässt, bleibt doch irritierend, dass die teuflische Rede in der massierten intertextuellen Rückbindung auffallend mit der Stimme Luthers imprägniert wird. 31 Der Eindruck verstärkt sich noch, wenn man beachtet, dass Luther auch in seinen polemischen Schriften Sprichwörter zum Teil massiert einsetzt und sich in seiner Rhetorik dabei nicht wesentlich vom Geist im Faustbuch unterscheidet. 32 Diese zunächst irritierende Imprägnierung der Stimme des Teu‐ 266 Silvia Reuvekamp Heintzen also gedeut Ach du armer Heintze was hastu gethan Das dü viel fromer menschen, durchs feur hast morden lan Des wirstu ynn der Helle leiden grosse pein, Lücibers geselle mustu ewig sein Kyrieleison Ach verlorn Papisten, Was habt yhr gethan Das yhr die rehten Christen, Nicht kundet leben lan, des habt die grosse schande, die ewig bleiben sol, Sie geht durch alle lande, vnd solt yhr werden tol Kyrieleyson. Wie Mephostophiles spricht Luther seinen Gegnern angesichts der Größe ihrer Vergehen jede Hoffnung auf einen göttlichen Gnadenakt ab. Auch wenn die polemische Verwendung des Judasliedes in den interwie innerkonfessionellen Konflikten des 16. Jahrhunderts nicht selten war, weisen Repliken anderer Autoren doch darauf hin, dass sie in besonderer Weise mit Luther in Verbindung gebracht wurde. Vgl. dazu Tomothy Nelson, ‚Oh du armer Luther…‘. Sprichwörtliches in der antilutherischen Polemik des Johannes Nas (1534-1590), Bern u. a. 1992 (Sprichwortforschung 15), S. 161-166. 33 Dazu ausführlicher Silvia Reuvekamp, „Freier Wille? Reflexionen über Determinismus in der Historia von D. Johann Fausten“, in: Zukunft entscheiden. Optionalität in vormodernem Erzählen, hg. von Su‐ sanne Spreckelmeier und Bruno Quast unter Mitarbeit von Tim Meyer, Göttingen 2022 (Kulturen des Entscheidens 6), S. 187-199. Zur Auseinandersetzung der Historia mit Luthers Gottesbild hat zuletzt Gerhard Wolf wichtige Hinweise geliefert: „Schwierigkeiten mit der Kontingenz. Zum Gottesbegriff in literarischen Texten der Frühen Neuzeit“, in: Traditionelles und Innovatives in der geistlichen Literatur des Mittelalters, hg. von Jens Haustein u. a., Stuttgart 2019 (Meister-Eckart-Jahrbuch; Beihefte 7), S. 387-405. fels mit jener Luthers im Faustbuch erklärt sich über die anthropologischen Implikationen seiner Gnadenlehre. Wie gesehen, bilden die als Trostsprüche verwendeten Sprichwörter bei Luther argumentative Scharnierstellen, an denen sich die positive, Hoffnung stiftende Seite seiner Rechtfertigungstheologie gleichsam mit ihrer Kehrseite berührt. Trostsprüche können die Sprichwörter nur für diejenigen sein, die überhaupt Aussicht auf göttliche Gnade haben. Diese Aussicht besteht für Faust aber nicht, nachdem Gott schon vor der eigentlichen Verschreibung seine Hand von ihm abzieht und ihn damit der teuflischen Manipulation überlässt: Vnd ist sich zu verwundern / daß ein Geist / wo Gott die Handt abzeucht / dem Menschen ein solch Geplerr kan machen (Z. 848,17-19). 33 Wo dies geschieht und die Gnade, aufrichtig glauben zu können, nicht gewährt wird, gibt es im Rahmen der deterministischen Anthropologie Luthers keine Hoffnung. Und in diesem Fall geraten Trostsprüche zwangsläufig - ob nun in der Rede Luthers oder des Teufels - zur bitteren Polemik. So verstanden würde die innerliterarische Proverbiensammlung des Faustbuches nicht nur die Bedeutung des Sprichworts im reformatorischen Diskurs thematisieren, sondern gleichzeitig mit genuin literarischen Mitteln die zentrale theologische Problem‐ konstellation pointieren, die das 16. Jahrhundert inter- und innerkonfessionell beschäftigt hat wie kaum etwas anderes. 267 Sprichwörter des Teufels 1 Der vorliegende Text wurde am 28.8.2019 als öffentlicher Abendvortrag gehalten; für die Publikation ist die Vortragsform im Wesentlichen beibehalten worden. 2 Der Doppelbegriff ‚Kunst- und Wunderkammer‘ wird in der Forschung gern verwendet, wenn die Objekte einer Sammlung unbekannt sind. Es empfiehlt sich von Wunderkammern dort zu sprechen, wo Objekte gemeint sind, die beim Betrachter einen Überraschungseffekt erzeugen sollen und nach einer entsprechenden den Kontext miteinbeziehenden Erläuterung verlangen. 3 Begründet wurde die Erforschung des Sujets durch Julius von Schlosser und sein Werk Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens, Leipzig 1908 (Monographien des Kunstgewerbes 11); eine neuere Gesamtübersicht bietet die Arbeit von Gabriele Beßler, Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart, Berlin ²2012 sowie der üppig illustrierte Folioband von Massimo Listri, Giulia Carciotto und Antonio Paolucci, Cabinet of Curiosities. Das Buch der Wunderkammern. Cabinets des Merveilles, Köln 2020. 4 Vgl. Elisabeth Scheicher, Die Kunst- und Wunderkammern der Habsburger, hg. von Christian Brandstätter, Wien u. a. 1979, S. 73-136; vgl. dazu auch die Photographien der Exponate bei Listri (wie Anm. 3), S. 108-125. 5 Vgl. Harriet Roth, „Die Bibliothek als Spiegel der Kunstkammer“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998 (Literatur und Anthropologie 1), S. 193-210. Die literarische Wunderkammer 1 Gerhard Wolf I Einleitung In der Kulturgeschichte kommt es nicht häufig vor, dass eine schon lange überholte Entwicklungsstufe wieder zu neuem Leben erwacht. Genau dies geschieht gegenwärtig mit den Kunst- und Wunderkammern der Zeit der Renaissance und des Barock. 2 Denn nachdem diese spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgelöst worden waren, ihre wichtigsten Bestände ins Museum, Archiv oder Depot gewandert sind und nur noch das Interesse von Kunsthistorikern erweckten, 3 wurden in den letzten Jahrzehnten einzelne dieser Sammlungen rekonstruiert und an ihrem ehemaligen Standort der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Möglich war dies nur, weil spektakuläre Schaustücke aus den Kunst- und Wunderkammern die Zeit überdauert hatten und Inventare erhalten sind, aus denen sich sogar die räumliche Anordnung der Exponate erschließen lässt. Am bekanntesten sind die Wiederaufstellungen der legendären Kunst- und Wunderkammer der Habsburger auf Schloss Ambras in Tirol (Abb. 1), die dem Originalzustand wohl am nächsten kommt, 4 und die Rekonstruktion der vom sächsischen Kurfürsten August zusammengetragenen Sammlung im renovierten Dresdener Residenzschloss. Auch die 1565 vom Wittelsbacher Herzog Albrecht V. (1528-1579) begründete Kunstkammer, 5 mit ihren über 6000 Objekten eine der bedeutendsten Europas, ist teilweise wiederauferstanden - wenn auch nicht an ihrem ursprünglichen Ort (Abb. 2), der heutigen Alten Münze in der Münchener Altstadt, 6 Der Grundriss der Kunstkammer Albrechts V. ließ sich anhand des Inventars von Johann Baptist Fickler aus dem Jahr 1598 rekonstruieren; siehe Beßler (wie Anm. 3), S. 83. 7 Thomas Fischbacher, Rüst-, Kunst- und Wunderkammern am Hof von Berlin/ Cölln von 1603 bis 1793, http: / / archiv.ub.uni-heidelberg.de/ artdok/ volltexte/ 2018/ 6041 [Zugriffe hier und im Folgenden am 4.6.2020]. 8 Die ‚Wiederauferstehung‘ der vormodernen Kunst- und Wunderkammern ist auch dem gestiegenen Interesse am Mittelalter zu verdanken, wobei es dahingestellt bleiben mag, ob die Rekonstruktionen zu einem tieferen historischen Verständnis führen oder ob sie - wie Mittelaltermärkte und Ritter‐ turniere auch - nur Teil der allgegenwärtigen Eventkultur einer saturierten Wohlstandsgesellschaft sind. 9 Hubert Burda, „Das Internet - Die neue Wunderkammer“, in: Digitale Horizonte. Strategien für neue Medien, hg. von dems., München 2016, S. 156-161; vgl. dazu Maria L. Felixmüller, Produktive Unordnung. Metamorphosen der Wunderkammer bei Aby M. Warburg und im Internet, Springe 2018, S. 44f. 10 Burda (wie Anm. 9), S. 157-159. 11 Es findet sich schon in der Studie von Schlossers (wie Anm. 3), S. 76-82, der es freilich nur auf einzelne Sammlungen wie etwa die Kaiser Rudolfs II. münzte. 12 Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt am Main 4 1981 (stw 14). so doch immerhin auf der Burg Trausnitz in Landshut, 6 und sogar im avantgardistischen Humboldt-Forum des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses soll „eine dreidimensional angelegte Präsenz der brandenburgisch-preußischen Kunstkammer ihren Platz finden“. 7 Aber nicht nur fürstliche Sammlungen feiern ihre Wiedergeburt, sondern auch die ehema‐ lige Wunderkammer des Passauer Jesuitenkollegs kann heute in der staatlichen Bibliothek zu Passau besichtigt werden. Die Attraktivität dieser Vorstufe des modernen Museums ist sogar so hoch, dass völlig neue Wunderkammern auftauchten: So etwa die lange in Berlin ansässige ‚Wunderkammer Olbricht‘ mit ihren 300 Exponaten aus Renaissance und Barock, das auf Berliner und Brandenburger Wasserstraßen kreuzende ‚Wunderkammer‐ schiff ‘ oder auch die 2019 im Alten Rathaus von Weilheim gezeigte ‚Wunderkammer der Assoziationen‘, in der moderne und historische Exponate in Kontrast zueinander gesetzt wurden. 8 Der Titel dieser Ausstellung verweist auf eine pädagogische Intention: Aus der spannungsreichen Gegenüberstellung ganz verschiedener, aber doch irgendwie benachbarter Gegenstände sollen beim Betrachter Erkenntnisse über zeitlose Formen und Muster entstehen und kreative Gedanken freigesetzt werden. Möglicherweise beruht das neue Interesse an den alten Wunderkammern auch darauf, dass man sie als vormoderne Vorstufe des Internets verstehen kann, weil sich hier wie dort, für den Außenstehenden ohne jede erkennbare Systematik, alles Mögliche nebeneinander finden lässt, man von einem Wissensgebiet zum nächsten springen kann und einem die Algorithmen zu völlig neuen Beobachtungen verhelfen. 9 Die These baut freilich auf der bloßen Vermutung auf, dass die vormodernen Wunderkammern eher mit allen möglichen abstrusen Objekten angefüllte ,Rumpelkammern‘ waren als systematische, kuratierte Sammlungen. 10 Dieses Vorurteil ist alt, 11 hartnäckig und nicht verifizierbar, denn es könnte ebenso sein, dass es zwar eine Systematik gab, aber diese für uns nicht mehr einsehbar ist. Abgesehen davon kann es aber auch sein, dass es den frühen Sammlern gar nicht um eine systematische Anordnung ihrer Objekte ging, sondern sie sich in ihren Wunderkammern einen abgeschirmten Ort für das ‚wilde Denken‘ im Sinne von Claude Lévi-Strauss 12 schufen (Abb. 3). Solche Orte faszinieren noch heute, weil sie als Quelle von Kreativität 270 Gerhard Wolf 13 Zur Kunstkammer als Spiel- und Erkenntnisraum vgl. Horst Bredekamp, Antikensehnsucht und Maschinenglaube. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte, Berlin 2012, S. 68. 14 Vgl. Justin Stagl, „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Assmann u. a. (wie Anm. 5), S. 37-54. gesehen werden. Ein Beispiel dafür bietet das Buchheim Museum der Phantasie am Starnberger See: Dort befindet sich im Erdgeschoss - in einer die Objekthaftigkeit der Exponate betonenden White-Cube-Präsentation - Lothar-Günther Buchheims berühmte Expressionistensammlung. Steigt man jedoch auf einer zwischen den Bildern nicht ganz leicht zu entdeckenden Treppe ins Untergeschoss hinab, dann betritt man mit den re‐ konstruierten Wohnräumen Buchheims eine ganz andere Welt, in der kreuz und quer Gebrauchsgegenstände, Kunst, Kitsch, Krusch und Krempel herumliegen. Der Kontrast dieser wahren ‚Wunderkammer‘ zur strengen Klarheit der Ausstellungsräume könnte größer nicht sein und der Gedanke drängt sich auf, dem Besucher solle hier das Chaos als die Quelle der Kreativität präsentiert werden. Vielleicht ist dies auch ein Motiv für die heutigen Rekonstruktionen der (un-)systematischen Wunderkammern der Vormoderne, die neue Inspirationen in einer Zeit versprechen, in der Kategorisierungen im weiteren Sinn zu intellektuellem Stillstand führen. Vermutlich waren auch die Wunderkammern des 16. Jahrhunderts eine Gegenbewegung zu deduktiven Denkbewegungen, in diesem Fall zu denen der Scholastik, und ihre Begründer versuchten, die Welt empirisch und induktiv zu fassen. Diese These setzt die Annahme voraus, dass sich die vormodernen Wunderkammern nicht nur der Sammelleidenschaft und dem Repräsentationsbedürfnis ihrer Besitzer ver‐ dankten, sondern primär Denkorte waren, an denen man auch mit anderen über die Exponate kommunizierte, um zu einer tieferen Durchdringung und Erkenntnis der Welt zu gelangen. 13 Da von den frühen Besitzern der Wunderkammern keine theoretischen Überlegungen hierzu überliefert sind, muss man für eine Untersuchung den unmittelbaren kulturellen Kontext, in dem sie entstanden sind, miteinbeziehen. Dazu bietet sich eine Wunderkammer an, deren Besitzer engster Berater des Verfassers eines der bedeutendsten historiographisch-literarischen Werke seiner Zeit, der Zimmerischen Chronik, war, und dieser Umstand erlaubt die Vermutung, es habe zwischen Sammlung und Chronik metho‐ dologische Gemeinsamkeiten gegeben. So könnte die vermutete gedankliche Methodik der Wunderkammer die der Chronik beeinflusst, also - verkürzt gesagt - die Anlage einer literarischen Wunderkammer angeregt haben. Um dem nachzugehen, werde ich zunächst einige Überlegungen zu Geschichte und Begriff des Sammelns und der Kunst- und Wunderkammern anstellen, dann eine Wunderkammer in actu vorstellen und mich abschließend der zentralen Frage nach methodologischen Parallelen stellen. II Sammeln, Sammlungen und Sammler Jagen und Sammeln sind bekanntlich derartig signifikante Aktivitäten, dass sie für eine erste Epoche der Menschheitsgeschichte den Begriff geliefert haben. Im Zusammenhang damit ist sogar überlegt worden, ob es nicht treffender wäre, den homo sapiens als homo collector zu bezeichnen. 14 Während die Jagd heute nur noch bei wenigen indigenen 271 Die literarische Wunderkammer 15 Diese kirchlichen Schatzkammern stehen wiederum in der Tradition antiker Schatzhäuser, deren Ruinen noch heute in Delphi oder Olympia besichtigt werden können; vgl. auch zur Thematik insgesamt Krzysztof Pomain, Der Ursprung des Museums, Berlin 1988, S. 20-37. 16 Von Schlosser (wie Anm. 3), S. 23-33. 17 Zum vermutlichen Inhalt der Wunderkammer des Herzogs vgl. auch Thijs Demeulemeester Wunder‐ kammer. Eine Reise zu exotischen Kuriositäten-Kabinetten, München 2018, S. 30. Nach dem Tod seiner Völkern oder einigen Berufsjägern den Lebensmittelpunkt bildet, ist das Sammeln in unterschiedlichsten Formen weit verbreitet und kann immer noch der Definition des Lebenszwecks dienen: Colligo ergo sum. Dieses Sammeln lässt sich als die systematische Suche, Beschaffung und Aufbewahrung von Gegenständen oder auch Informationen definieren und insofern sind Sammlungen von bloßen Ansammlungen zu trennen, die nur entstanden sind, weil sich etwas angesammelt hat und ihr Besitzer an der Unfähigkeit zum Wegwerfen leidet. Sammlungen wie die der frühneuzeitlichen Kunst- und Wunderkammern haben weniger eine konservatorische Funktion als eine repräsentative, wobei es weniger auf den materi‐ ellen Wert der gesammelten Objekte ankommt als auf deren Singularität bzw. Kuriosität und im Zusammenhang damit auf eine epistemologische Funktion. Mit seiner Sammlung präsentiert sich der Sammler seiner Umgebung als exzeptionelle Persönlichkeit, was - da die Objekte nicht für sich sprechen - in der performativen Präsentation der Sammlung zum Ausdruck kommen muss. Dann ergibt sich daraus für den Sammler ein Distinktionsgewinn, der ihm eine vorübergehende Vernachlässigung der Standesgrenzen ermöglicht, denn als Sammler ist er in der Begierde nach dem Besitz des Seltenen und Wertvollen anderen Sammlern gleich. Die Voraussetzung für einen solchen Distinktionsgewinn ist die Existenz eines Marktes und eines Spezialdiskurses: Nur wenn gesellschaftliche Eliten eine Kommu‐ nikation über den Besitz bestimmter im Alltagsgebrauch oft wertloser Objekte führen, lohnt sich für den gesellschaftlichen Aufsteiger eine Diskursteilnahme, die zwar eine fachliche, später wissenschaftliche Kompetenz erfordert, aber auch weniger vermögenden Akteuren offensteht. Rare Luxusgegenstände wurden schon in der Antike gesammelt. Näher bekannt ge‐ worden ist dies durch Tacitus, der in seinen Annalen (12,60,4) die Vasensammlung des Vedius Pollio erwähnt, die so prächtig gewesen sein soll, dass sie das Interesse des Augustus erregte. Pollio repräsentiert aber auch bereits die Nachtseite des Sammelns, Gier und Besessenheit, was ihm dann bekanntlich beinahe selbst zum Verhängnis geworden wäre. Im Mittelalter begegnen uns Sammlungen vor allem in Form sogenannter ‚Kirchen‐ schätze‘, die aus kostbar verzierten Bibeln, Evangeliarien, liturgischen Gewändern und Gerätschaften, Heiligenfiguren, Reliquien und Reliquiare bestanden. Da hier jedoch neben dem religiösen der politisch-ökonomische Aspekt dominierte, waren dies keine Wunder-, sondern Schatzkammern, 15 wie sie im Mittelalter die weltlichen Eliten anlegten. Bekannt ist heute aufgrund erhaltener Inventare die des französischen Herzogs Jean de Berry (1340-1416), der gleichermaßen antike und mittelalterliche Kunst sammelte 16 und auch als Mäzen und Auftraggeber für einzelne Künstler in Erscheinung trat. Da bei ihm eine deutliche Diskrepanz zwischen seinem hohen politischen Geltungsanspruch und dessen unzulänglicher Realisierung bestand und er ohne überlebende Nachkommen blieb, liegt die Vermutung nahe, dass er in seiner spektakulären Sammlung weiterleben wollte. 17 Wenn 272 Gerhard Wolf drei Söhne hat sich der Herzog offenbar vermehrt seiner Kunst- und Wunderkammer zugewandt, was als Form der Sublimierung einer genealogischen Havarie betrachtet werden kann. Noch 200 Jahre später hat der kinderlos gebliebene Graf Wilhelm Werner von Zimmern (vgl. unten, Anm. 60) offenbar versucht, sein ‚Nachleben‘ wenn schon nicht durch leibliche Abkommen dann wenigstens vermittels seiner Sammlung von außergewöhnlichen und historisch bedeutsamen Objekten zu gewährleisten. 18 Bereits um die Mitte des 14. Jahrhunderts ist der in Treviso lebende Notar Oliviero Forzetta als Sammler von Kuriositäten greifbar; die „ersten Kuriositätenkabinette der Renaissance entstanden in Italien durch Sammler wie Ulisse Aldrovandi, Francesco Calzolari und Ferrante Imperato“ (Demeulemeester, wie Anm. 17, S. 30), die allesamt bürgerliche Gelehrte waren. 19 Eine führende Rolle spielten hier die gemeinhin nur als Kunstförderer angesehenen Medici, bei denen jedoch - wie vor allem das Beispiel Cosimos I. zeigt - Kunst und Wissenschaft eine Symbiose zum Zwecke der Machterhaltung und -repräsentation eingingen. Vgl. dazu Scheicher (wie Anm. 4), S. 38-43 und jetzt auch Listri (wie Anm. 3), S. 21-26. 20 Scheicher (wie Anm. 4), S. 44-67. 21 Ebd., S. 59f. 22 Ebd., S. 73-136; vgl. Listri (wie Anm. 3), S. 108-125. 23 Siehe oben, S. 270f.; vgl. auch Beßler (wie Anm. 3), S. 81-87. man diese jedoch trotzdem zu den Vorläufern der frühneuzeitlichen Wunderkammern zählen kann, dann deswegen, weil sie Exponate enthielt, die durch ihre Kuriosität und durch eine entsprechende Kontextualisierung einen hohen repräsentativen und kommu‐ nikativen Wert hatten. Damit erfüllt die Sammlung des Jean de Berry jene Kriterien, die auch eine Wunderkammer des 16. Jahrhunderts erfüllen musste: Die in ihr enthaltenen Objekte sollten 1. singulären Charakter haben, 2. für die Betrachter Faszinationscharakter haben und 3. die Gelegenheit zur kommunikativen und epistemologischen Erschließung bieten. Derartige Sammlungen tauchen vermehrt erst am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Italien auf, sie werden nicht von Adligen oder reichen Bürgern angelegt, sondern von Gelehrten, Lehrern, Ärzten, Physikern und Naturphilosophen. Diese konzentrierten sich auf Naturalia und Exotica, weil man damit beeindrucken konnte, ohne sich finanziell zu verausgaben, 18 sofern man in der Lage war, die Präsentation durch gelehrte Erläuterungen oder unterhaltsame Anekdoten interessant zu gestalten - was einem gelehrten Sammler nicht schwer gefallen sein dürfte. Auf diesem Weg entstand allmählich bei den adligen oder patrizischen Sammlern ein Interesse an fachkundiger Expertise, was mit der Zeit nicht unerheblich zum Aufschwung der Wissenschaften in der italienischen Renaissance beitrug. 19 III Zu Geschichte und Begriff der Kunst- und Wunderkammern Die ersten Kunst- und Wunderkammern auf deutschem Boden richteten die Habsburger ein, 20 als frühe Sammler werden Margarethe von Österreich (1480-1530) 21 und Kaiser Fer‐ dinand I. (1503-1564), der Gründer der Wiener Kunstkammer, genannt. Deren Sammlungen wurden aber weit übertroffen durch die des Erzherzog Ferdinand II. von Tirol (1529-1595), der seit der Mitte des 16. Jahrhunderts als Sammler in Erscheinung trat und nach dem Tod seiner Frau in Schloss Ambras eine riesige Kunstkammer installierte. 22 Die bereits erwähnte Kunstkammer Albrechts V. 23 kann als Zeugnis dafür gelten, dass die Anlage solcher Sammlungen im Hochadel zur verpflichtenden Mode wurde. Dass der Übergang 273 Die literarische Wunderkammer 24 Rotraud Bauer und Herbert Haupt, „Die Kunstkammer Kaiser Rudolfs II. in Prag. Ein Inventar aus den Jahren 1607-1611“, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlungen in Wien 72 (1976), S. XI-XXXVII. 1648 erbeuteten die Schweden aus der Prager Kunstkammer „470 Gemälde, 69 Bronzefiguren, mehrere tausend Münzen und Medaillen, 179 Elfenbeinarbeiten, 50 Gegenstände aus Bernstein und Korallen, 600 Gefäße aus Achat und Kristall, 174 Fayencen […], 403 indische Kuriosa, 185 Arbeiten aus Edelsteinen, ungeschliffene Diamanten, mehr als 300 mathematische Instrumente und vieles andere“ (https: / / www.habsburger.net/ de/ beute-aus-der-prager-kunstkammer); einige Objekte aus der Prager Sammlung befinden sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien; Listri (wie Anm. 3), S. 126-137. 25 Diese beiden Kategorien hat bereits von Schlosser (wie Anm. 3), S. 90-100, entwickelt; vgl. dazu Felixmüller (wie Anm. 9), S. 44f. 26 Vgl. dazu Listri (wie Anm. 3), S. 21-26. 27 Vgl. Beßler (wie Anm. 3), S. 82-84. 28 Vgl. Beßler (wie Anm. 3), S. 83. Nach Roth (wie Anm. 5), S. 194, war in München die „Bibliothek Be‐ standteil der Kunstkammer [und hat so] die Kunstkammer im Ganzen erst verständlich [gemacht]“. Allerdings hat Albrechts V. ‚Kunstberater‘ Quiccheberg bereits die Forderung nach Trennung von Kunstkammer und Bibliothek erhoben (Beßler, wie Anm. 3, S. 86). 29 Zu Quiccheberg und seinem ‚Museumstraktat‘ siehe Roth (wie Anm. 5). 30 Christian Theuerkauff, „Anmerkungen zum Begriff der Kunstkammer im 16. und 17. Jahrhundert und zur Berliner Sammlung um 1700“, in: Die Brandenburgisch-Preußische Kunstkammer. Eine Auswahl aus den alten Beständen, Berlin 1981, S. 9-11, hier S. 9. vom gezielten Sammeln zur pathologischen Hortung dann nicht mehr weit ist, lässt sich bei Kaiser Rudolf II. (1552-1612) beobachten, der einer der exzessivsten Sammler des Mittelalters war und auf dem Hradschin eine riesige Kunst- und Wunderkammer besaß. 24 Nach den erhaltenen Inventaren lassen sich die Exponate der fürstlichen Wunderkam‐ mern in fünf, sich teilweise überschneidende Kategorien einteilen: In die artificialia, also künstlich geschaffene Dinge von erheblicher Raffinesse, wie Schmuckstücke, Bilder, Kunstschmiedearbeiten, die naturalia, seltene Steine, Korallen, Geweihe, natürliche Miss‐ bildungen von Bäumen und Pflanzen, denen ihre abergläubischen Besitzer magische Qualitäten zusprachen, 25 die scientifica, Instrumente, optische Geräte, Automaten sowie Exotica 26 bzw. Ethnographica wie chinesisches Porzellan, Waffen und Gefäße aus Amerika oder Russland und als vierte Kategorie der ganze unverzichtbare Krimskrams, der nur für den Besitzer einen spezifischen Erinnerungswert hat - wie Bestecke, Rosenkränze, Magensteine etc. 27 Ob auch ein Archiv oder eine Bibliothek Teil der Wunderkammer war, hängt vom Einzelfall ab; die Münchener Kunstkammer beherbergte zwar wertvolle Bücher und Landkarten, aber keine Archivalien, 28 weil diese nicht für eine öffentliche Präsentation gedacht waren. In der Regel wird wohl der jeweilige adlige Begründer der Sammlung diese selbst betreut haben, aber es findet sich im Fall der Münchener Kunstkammer auch bereits der Schritt zur Professionalisierung des Sammelwesens. So leistete sich Albrecht V. mit dem Belgier Samuel Quiccheberg (1529-1567) einen kunstwissenschaftlich versierten Berater, den er auch als Kurator seiner Sammlung einsetzte. 29 Die Bezeichnung Kunst- oder Wunder-Camern erscheint erstmals 1594 im Testament Ferdinands II. von Tirol und beschreibt den Aufbewahrungsort seiner „Kunst- und Rari‐ täten- und Naturaliensammlung“ 30 auf Schloss Ambras; sie trifft die Sache relativ gut, weil man damit die artificialia und die Kuriositäten als zentrale Gegenstände der Sammlungen 274 Gerhard Wolf 31 Beßler (wie Anm. 3), S. 14. In den historischen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts wird zwischen Wunder- und Kunstkammer nicht sauber unterschieden (ebd., S. 14-16). 32 Ältere lateinische Begriffe sind theatrum oder theatrum sapientiae (Beßler, wie Anm. 3, S. 15). 33 Zimmerische Chronik, hg. von Karl August Barack, 4 Bde., Freiburg/ Tübingen ² 1881-1882, III,108,36; 350,34; 373,34; 622,37; IV,105,34-36; zu Autor und Chronik vgl. Gerhard Wolf, „Froben Christoph von Zimmern“, in: Deutsche Dichter der frühen Neuzeit (1450-1600), hg. von Stephan Füssel, Berlin 1993, S. 512-528; ders., „Die Zimmerische Chronik als literarischer Text“, in: Mäzene, Sammler, Chronisten. Die Grafen von Zimmern und die Kultur des schwäbischen Adels, hg. von Casimir Bumiller, Bernhard Rüth und Edwin Ernst Weber, Stuttgart 2012, S. 130-140. 34 Siehe unten, S. 276-280. 35 Felixmüller (wie Anm. 9), S. 44. 36 Beßler (wie Anm. 3), S. 15. 37 Ebd., S. 17. 38 Ebd., S. 19. 39 Ebd., S. 21. 40 Vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1974 (stw 96), S. 46-77; dazu Stephan Otto, Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance, Frankfurt am Main u. a. 1992; Anne Eusterschulte, Analogia entis seu mentis. Analogie als erkenntnistheoretisches Prinzip in der Philosophie Giordano Brunos, Würzburg 1997 (Epistemata. Philosophie 194). begrifflich erfasst. Das „rätselbergende[] Wort“ 31 wunderkammer begegnet bereits 30 Jahre früher 32 in der zwischen 1564 und 1566 verfassten Zimmerischen Chronik des Grafen Froben Christoph von Zimmern. 33 Mit ihm wird dort ein sonst nicht näher beschriebener Raum bezeichnet, in dem Überraschendes bzw. Erstaunen Erregendes (wunder) aufbewahrt wird und der zugleich für deren Präsentation geeignet ist. Von den dort zu besichtigenden Objekten wird nur indirekt berichtet, 34 keinerlei Angaben finden sich darüber, wie sie prä‐ sentiert, in welchen Behältnissen sie aufbewahrt wurden bzw. wie sie im Raum arrangiert waren. Für etwaige Spekulationen darüber kann man sich allenfalls eines methodologisch ziemlich problematischen Vorgriffs auf die Inventare und daraus rekonstruierbaren Auf‐ stellungssystematiken der späteren fürstlichen Kunst- und Wunderkammern bedienen. Für diese vermutet Julius von Schlosser wegen einer emotional-unsystematischen Heran‐ gehensweise der frühen Sammler chaotische Zustände. 35 Demgegenüber vertritt Gabriele Beßler die Ansicht, dass die Sammlungen einen Ordnungszusammenhang repräsentieren, in dem die Dinge ihren Platz haben und eine „analogische Anbindung […] an das Schöp‐ fungswerk“ 36 Gottes hergestellt werden sollte. Für eine moderne Rekonstruktion müsse man daher der ursprünglichen Anordnung „der einstmals intendierten Verknüpfung der Dinge auf die Spur […] kommen“. 37 Entscheidend für die gedanklich-räumliche Vernetzung der Exponate sei folglich deren Positionierung im Raum, was nach Beßler eine Kenntnis der Zentralperspektive voraussetzt. 38 Die fürstlichen Sammler und ihre Kustoden hätten demnach die Objekte in der Wunderkammer so platziert, dass der Raum „weniger als Sammlungsort von Gegenständen, sondern als ein ganzheitliche[s] (Welt-)Modell oder ein Wahrnehmungsinstrument zu betrachten [ist]“. 39 Als grundlegend für diese Annahme kann man die Denkfigur der Analogie in Anschlag bringen, die für das 16. Jahrhundert signifikant ist. 40 Denn die Aneignung der Welt bzw. die Organisation des Wissens erfolgte über die Entdeckung und Sammlung von geschriebenen, gehörten und gesehenen Ähnlichkeiten, 275 Die literarische Wunderkammer 41 Foucault (wie Anm. 40), S. 58, exemplifiziert dies u. a. am Eisenhut, der deswegen für Augenkrank‐ heiten gut sein soll, weil seine Samenkörner „eingefasst [sind] in weiße Schalen, die ungefähr das darstellen, was die Lider für die Augen sind“ - und damit eine zeichenhafte Bedeutung haben. 42 Ebd., S. 56-61. 43 Nach Foucault (wie Anm. 40), S. 63, ist „[d]ie Welt von Zeichen bedeckt, die man entziffern muss, und diese Zeichen, die Ähnlichkeiten und Affinitäten enthüllen, sind selbst nur Formen der Ähnlichkeit. Erkennen heißt also Interpretieren“. 44 Zu einer der Ausnahmen siehe unten, Zitat, S. 277 mit Anm. 54. 45 Vgl. dazu grundsätzlich Douglas R. Hofstadter und Emmanuel Sander, Die Analogie. Das Herz des Denkens, Stuttgart 2014. 46 Nach Bredekamp (wie Anm. 13), S. 63, hat Francis Bacon „sein literarisches Werk als eine Art fiktiver Kunstkammer“ verstanden, weil er „die Elemente seines naturgeschichtlichen Lebenswerkes [beschreibt], als wolle er die Objekte einer Sammlung […] ordnen.“ 47 Zu Wilhelm Werner vgl. Andreas Bihrer, „Habitus und Praktiken eines gelehrten Adligen. Leben und Werk Graf Wilhelm Werners von Zimmern“, in: Bumiller u. a. (wie Anm. 33), S. 107-118. 48 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), IV,105,27f. 49 Bernd Konrad, „Die Freiherren und Grafen von Zimmern als ‚Kunstmäzene‘“, in: Bumiller u. a. (wie Anm. 33), S. 189-203. 50 Frieder Schanze, „Johannes Werner von Zimmern“, in: ²VL, Bd. 4, 1983, Sp. 813-816; Wolfgang Achnitz: „Die poeten und alten historien hat er gewist. Die Bibliothek des Johann Werner von Zimmern als Paradigma der Literaturgeschichtsschreibung“, in: Literatur — Geschichte — Literatur‐ geschichte. Beiträge zur mediävistischen Literaturwissenschaft. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag, hg. von Nine Miedema und Rudolf Suntrup, Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 315-333. die sich nach den vier Typen der convenientia, aemulatio, analogia und sympathia  41 differenzieren lassen. Entscheidend für die Erkenntnis ist also nicht wie später in Barock und Aufklärung die Erfahrung, sondern die Entdeckung der verborgenen Ähnlichkeiten, die an der Oberfläche der Dinge in den „Signaturen“ sichtbar sind 42 - und die durchaus auf dem Wege der kommunikativen Interpretation offengelegt werden können. 43 Als Ort dafür kann man sich eine Wunderkammer mit ihrer Fülle von Objekten zwar gut vorstellen, aber leider ist dazu fast nichts in den einschlägigen Quellen überliefert. 44 An diesem Punkt muss man das Medium wechseln, denn Methode und Systematik einer Erkenntnis der Welt mittels der Denkfigur der Analogie 45 ist nicht auf eine Sammlung beschränkt, sie findet sich in literarischen Texten, etwa auch in der Zimmerischen Chronik. Bevor wir aber einen Blick in deren ‚literarische Wunderkammer‘ 46 werfen, muss die reale kurz beschrieben werden. IV Eine Wunderkammer in actu Die zimmerische wunderkammer geht zurück auf den Onkel des Chronikautors Froben, Wilhelm Werner von Zimmern (1485-1475), 47 der bereits in jungen Jahren sich dem Sammeln verschrieben hat 48 und dies später im Rahmen einer kulturellen Identitätsstiftung zu einer eigenen ‚Institution‘ ausbaute. Er führte damit eine Tradition seines Geschlechts weiter, denn schon einige seiner Vorfahren besaßen einen ausgeprägten Kunstsinn und wirkten als Mäzene. 49 Besonders sticht hier der Großvater des Chronisten, Johann Werner d. Ä. (ca. 1454-1495), hervor, der mittelalterliche Handschriften sammelte, redigierte Fassungen von ihnen anfertigen (Parzival, Wigalois etc.) ließ und selbst schriftstellerisch tätig war. 50 Da die Zimmern bei ihrer Besitz- und Regionalpolitik lange Zeit wenig Fortune 276 Gerhard Wolf 51 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,108,36; 350,34; 373,34; 622,37; IV,105,34-36. 52 Der Reichstag war wegen der Eroberung Ungarns durch die Türken einberufen worden; aber wäh‐ rend sich die Beratungen zäh dahinzogen, hatte man offenbar genug Muße, sich mit angenehmeren Dingen zu befassen. 53 Vgl. dazu demnächst Gerhard Wolf, „Gott, die Mutter Maria und ich oder: Niemand hat die Absicht, eine Autobiographie zu verfassen“, in: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft 23 (2020/ 21) [im Druck]. 54 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,350,25-36. 55 Vgl. dazu Gerhard Wolf, Von der Chronik zum Weltbuch. Sinn und Anspruch südwestdeutscher Hauschroniken am Ausgang des Mittelalters, Berlin/ New York 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 18 [252]), S. 157f. 56 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), I,71,1; 326,9f.; III,622,11. Der Begriff kann auch unmittelbar für eine historische Information verwendet werden (I,272,39). 57 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,601,10-15; vgl. auch 203,18-21. hatten, waren ihre kulturellen Aktivitäten wie auch bei Jean de Berry zum Teil sicher kompensatorischer Natur. In der Zimmerischen Chronik wird die wunderkammer Wilhelm Werners gleich mehrfach erwähnt, 51 wobei ein Ereignis einen bleibenden Eindruck auf den Chronisten hinterlassen hatte und er es dauerhaft für die dynastische memoria erhalten wollte, nämlich den Besuch König Ferdinands I. während des Speyerer Reichtages von 1541/ 42 in der Wunderkammer des Onkels, der damals Richter am Reichskammergericht war. 52 Die entsprechende Passage in der Zimmerischen Chronik steht im 163. Kapitel und gehört zum autobiographischen Teil des Werkes. 53 Froben berichtet hier nicht ohne Stolz von seiner Teilnahme an den Gesprächen zwischen König und Onkel: Mitler weil ward graf Wilhelm Wernher von Zimbern vil mals vom römischen künig Ferdinando in ein privatgesprech erfordert der historien und antiquitetten halb, im auch und seinem vettern grave Frobenio Christoffen, die chron, zepter, apfel und andere kaiserliche ornamenta und zierden gewisen. Es kam der römisch könig persönlich herum in graf Wilhelm Wernhers behausung; do warden Ir Majestät die wunderbarlichen, seltzamen gewechs und würkungen der natur, auch andere seltzame, abenteurliche antiquitates in der wunderkammer nit verhalten, ab denen ainstails Ir Majestät sich nit wenig verwunderte.  54 Kommunikationsgegenstand waren demnach also historien und antiquitetten. Nun wäre die Vermutung voreilig, hier hätten sich zwei historisch interessierte Herren über Geschichte unterhalten, denn der Begriff der historia umfasst in der Zimmerischen Chronik allgemein historische Begebenheiten und literarische Erzählungen, ohne dass zwischen faktischem und fiktionalem Gehalt differenziert wird. 55 Der Begriff der antiquitetten kommt in der Chronik mehrfach vor und wird für alle möglichen Überreste aus vergangenen Zeiten verwendet, womit hier gleichermaßen Urkunden, Grabmäler, alltägliche Gebrauchsgegen‐ stände, 56 aber ebenso die antiken Ruinen in Trier gemeint sein können: 57 Wichtig ist demnach nicht der materielle Wert der antiquitetten, sondern ihre Funktion, die Vergan‐ genheit zu erhellen. Dementsprechend dürften sich die Gespräche bei der Begehung der Wunderkammer um die Erläuterung und Kontextualisierung der Exponate gedreht haben. Das obige Zitat lässt auch auf ein hohes Selbstbewusstsein des Autors gegenüber dem Wert 277 Die literarische Wunderkammer 58 Wenn Wilhelm Werner seine Speyerer Wunderkammer in der Absicht angelegt haben sollte, Anschluss an die gesellschaftliche Elite zu gewinnen, wäre dieses Kalkül völlig aufgegangen. 59 Vielleicht aber war es umgekehrt und Froben fürchtete, der Erbonkel würde ihn überleben. So kam es denn auch: Froben starb 1566, der Onkel erst 9 Jahre später. 60 Wilhelm Werner hatte testamentarisch verfügt, dass seine wunderkammer für immer ungeteilt in seinem Schloss bleiben solle (vgl.dazu auch oben S. 272f., Anm. 17). Der kinderlose Sammler verstand seine wunderkammer als zentralen Teil der eigenen Identität, der die memoria an ihn auf Dauer erhalten sollte. 61 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), IV,105,27-39. 62 Vgl. dazu unten, S. 279. 63 Beat Rudolf Jenny, Graf Froben Christoph von Zimmern. Geschichtsschreiber, Erzähler, Landesherr. Ein Beitrag zur Geschichte des Humanismus in Schwaben, Lindau/ Konstanz 1959, S. 63. der zimmerischen Exponate schließen, ist doch deren Präsentation der der Reichskleinodien durchaus ebenbürtig. 58 Mit fast identischen Worten wird der Besuch des Königs noch an einer zweiten Stelle erwähnt, was deswegen verwundert, weil es in der Chronik erstaunlich wenig inhaltliche Doubletten gibt: Im 195. Kapitel verfasst Froben einen Nachruf auf Wilhelm Werner, obwohl dieser noch lebte. Das scheint ungewöhnlich, war aber angesichts des hohen Alters des Onkels, der 1566 bereits 80 Jahre alt war, auch verständlich. 59 Aber die Passage enthält auch neue Informationen zur Wunderkammer, nämlich über deren Entstehung und testamentarisch verfügte Zukunft. 60 Froben schreibt, Wilhelm Werner habe schon von Jugend an kuriose naturalia gesammelt und vor und nach seiner Zeit als Richter auf Antian-Zimbern (‚Herrenzimmern‘) eine wunderkammer besessen, darin er von jugendt uf mancherlai seltzame gebain, stain, horn und anders, das die natur wunderbar‐ lichen gewürkt und seltzam mag genennt werden, auch von frembden nationen zusammengebracht, ist wol zu sehen und auch zu verwundern. Ich bin selbs darbei gewest, das der römisch kaiser Ferdinandus, domals noch ein römischer könig, anno 1541 uf dem reichstag zu Speir solch wunderkammer mit grosen begirden durchsehen und sich darab nit wenig verwundert hat. Dise wunderkamer sampt seiner lateinischen und deutschen liberei hat er in das schloß Antian-Zimbern geordnet, daz solchs seine erben, wie er das verordnet, darin bleiben sollen lasen. 61 Beide Zitate erlauben Rückschlüsse auf die Exponate der Wunderkammer und die Art ihrer Präsentation: An erster Stelle stehen Missbildungen und außergewöhnliche Erscheinungen natürlichen Ursprungs, 62 dann folgen bei der Beschreibung der Speyrer Wunderkammer Kunstwerke vergangener Zeiten, die bei der Beschreibung der Sammlung in Herrenzimmer nicht mehr erwähnt werden und durch die Kategorie Exotica bzw. Ethnographica ersetzt sind. Ob Froben die Erwähnung der antiquitates nur vergessen hat oder Wilhelm Werner sich von ihnen getrennt hat, muss offen bleiben, allerdings steht fest, dass Wilhelm Werner eine beachtliche Münzsammlung mit einigen Tausend Exemplaren besaß. 63 Ob die zimmerische Wunderkammer einer bestimmten Ordnung folgte oder die Objekte wahllos nebeneinander standen, verschweigt die Chronik. Allenfalls kann man vermuten, dass eine performative Präsentation der Objekte eine feststehende räumliche Anordnung nicht erforderlich machte, sondern akzidentiell durch Wilhelm Werner hergestellt wurde. 278 Gerhard Wolf 64 Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 12595, Jakobus de Ramingen, Catalogus Biblothecæ illustrissimi domini Guilhelmi Comites & Liberi Baronis de Cimbern, domini in Wildenstein et Mösskirch; vgl. Achnitz (wie Anm. 50), S. 318-327. 65 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,598,33-36. Die Passage widerlegt die oft zu lesende Behaup‐ tung, Maximilian hätte aufgrund permanenter Finanznot und wechselnder Hofhaltungen keine Sammlungen angelegt; vgl. zu diesem Vorurteil Scheicher (wie Anm. 4), S. 52-59. 66 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,108,27-42. Die Bücher der heute in großen Teilen bekannten, umfangreichen Bibliothek Wilhelm Werners 64 dürften nicht Inhalt der Speyrer Wunderkammer gewesen sein. Die zweifache Erwähnung des königlichen Besuchs und seiner näheren Umstände in der Zimmerischen Chronik belegt, welchen enormen Stellenwert Froben diesem Ereignis zuschrieb. In gesellschaftlicher Hinsicht bestand er darin, dass die Sammelleidenschaft (gros begierde) eine Gleichrangigkeit zwischen König und Grafen herstellte, hinsichtlich der Exponate darin, dass die Präsentation der zimmerischen Sammelstücke die der Reichs‐ kleinodien rechtfertigte. Die Ebenbürtigkeit wurde auch manifest in dem die Präsentation begleitenden kommunikativen Akt. Denn die historien, die Wilhelm Werner zu den ein‐ zelnen Exponaten erzählt haben dürfte, ermöglichten es seinem Gesprächspartner, sein eigenes Wissen zu präsentieren und gemeinsam mit dem Grafen Analogien und emble‐ matische Bedeutungszusammenhänge herzustellen oder Kategorisierungen zu versuchen. Diese Kommunikation hatte für Wilhelm Werner offenbar erfreuliche Folgen, weil er - vielleicht in Folge eines Tauschgeschäfts - vom König Geweihe aus einer Straßburger Wunderkammer Maximilians I. erhielt. Welchen Prestigewert diese Geweihe hatten, lässt sich daran ersehen, dass Wilhelm Werner die seltzamen gehirn der königlichen Majestat zu underthenigisten ehren in die säle statlichen ufmachen und mit gemelden zieren ließ. 65 Zwei Exponate der zimmerischen wunderkammer sind bekannt, weil die Erläuterungen zu ihnen Eingang in die Chronik gefunden haben. Bei dem ersten Objekt, das der bereits erwähnten Kategorie der ‚Wirkungen der Natur‘ zuzuordnen ist, handelt es sich um einen verformten Degen, der einem gewissen Matthias von Burgau, Obervogt auf dem Schloss Wolfegg, gehört habe. Froben berichtet, in diesen Degen, der auf Wolfegg an der Wand hinter einem Schrank gehangen habe, sei während eines Gewitters der Blitz gefahren, hätte die Klinge geschmolzen, die Scheide mit Ausnahme der ebenfalls geschmolzenen silbernen Verzierungen jedoch unversehrt gelassen. 66 Das zweite Objekt ist ein aus einem Tierknochen gefertigter Löffel, den Froben nach dem Tod seines Vaters von dessen Mätresse für eine seiner Meinung nach horrende Summe zurückerworben und in die Wunderkammer des Onkels gebracht habe. An diesem Punkt präsentiert sich uns auch Froben als wahrer Sammler, denn der materiell wertlose Löffel war angeblich wichtig für die Familiengeschichte. Auf jeden Fall konnte man Besuchern der Wunderkammer die Geschichte dieses Objekts und seines komplizierten Wiedererwerbs von der Mätresse in allen Einzelheiten erzählen. Eine Wunderkammer - so kann man zusammenfassend sagen - verschaffte also selbst dann Reputation, wenn ihre Objekte ohne großen materiellen Wert und nicht repräsentativ waren, weil sich an ihnen eine unterhaltsam-gelehrte Konversation entzünden ließ. Eine Voraussetzung dafür musste sein, dass es sich - wie Froben in einem ähnlichen Zusam‐ 279 Die literarische Wunderkammer 67 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), III,601,17. Im Kontext kritisiert Froben die Deutschen für ihren ‚negativen Chauvinismus‘ hinsichtlich ihrer Denkmäler: Sie würden die frembden gebew und stett loben, die eigenen aber geringschätzen, obwohl sie die andern weit übertrefen (ebd., 15-20). 68 Vgl. dazu Hans Harter, „Das edle schloss Zimbre. Burg und Adel von Zimmern vom 10. bis 12. Jahr‐ hundert“, in: Bumiller u. a. (wie Anm. 33), S. 28-40. 69 Bihrer (wie Anm. 47), S. 118; Jenny (wie Anm. 63), S. 49. 70 Zit. nach Jenny (wie Anm. 63), S. 63. 71 Zu den Ähnlichkeitsepistemen der Renaissance siehe Otto (wie Anm. 40), S. 32-38. 72 Bredekamp (wie Anm. 13), S. 52-56, sieht die Wunderkammer als Labor. Versteht man dieses jedoch als Ort für eine gezielte, ergebnisorientierte Forschung, dann wäre die Anwendung des Begriffs verfehlt. Als Ort eines „offenen, prozesshaften Gärungszustand[s]“ sieht hingegen Felixmüller (wie Anm. 9), S. 63, das Labor. 73 Ausführlich dazu Wolf (wie Anm. 55), S. 130-147. 74 Vgl. ebd., S. 155-185. Das seit Ende des 11. Jahrhunderts urkundlich nachweisbare Geschlecht war 1536 in den Grafenstand erhoben worden; Schwerpunkte des zerstreuten Besitzes waren menhang formulierte - dabei um singularitetten  67 handelte. Das Interesse an derartigen Exponaten reichte offenbar bis zum König, sie und die Kommunikation darüber waren damit für die Zimmern ein Entre-Billet in die höchsten gesellschaftlichen Kreise des Reiches und damit bietet die Zimmerischen Chronik einen Beleg dafür, dass Sammlungen Rang‐ unterschiede dispensieren konnten. Dies war wichtig für eine Grafenfamilie unsicheren Ursprungs, 68 die mangels Geldes nicht viel Chancen zur adelsmäßigen Repräsentation hatte. Zumindest gegenüber den Gelehrten hat das seine Wirkung nicht verfehlt: Als der Basler Historiker Johannes Basilius Herold Froben und Wilhelm Werner 1563 auf Herrenzimmern besuchte, lobte er sie nachher in einem Brief als comites antiquarii. 69 Und der Historiker Friedrich Rüttel begründete den Eintrag von Wilhelm Werners Todestag am 7.1.1575 in sein Kalendarium mit den Worten: Ein fürtrefflicher Antiquarius. 70 V Die ‚Literarische Wunderkammer‘ in der Zimmerischen Chronik Die hier vertretene These, dass die zimmerischen Grafen in der Wunderkammer mit ihrem königlichen Besucher die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit anderen artificialia oder naturalia diskutierten, vielleicht auch über Kategorien sprachen, lässt sich nicht nur durch den Hinweis auf Epistemologie und Analogiedenken der Renaissance stützen. 71 Denn auch die Zimmerische Chronik selbst bietet Beispiele dafür, dass eine (vordergründig) unsystematische Anlage einer frühneuzeitlichen Wunderkammer als Erkenntnismethode begriffen werden kann. Eben die Methode der additiven, aber deswegen nicht willkürlichen Aneinanderreihung einzelner ‚Gegenstände‘ findet sich auch in einzelnen Kapiteln der Chronik Frobens, die ebenfalls nach dem Prinzip einer Wunderkammer gestaltet sind, bei deren ‚Begehung‘ einzelne literarische ‚Exponate‘ präsentiert und mit anderem in einen kommunikativen Zusammenhang gebracht werden und damit Erkenntnisse provozieren. 72 Ich will dies im Folgenden anhand einiger Beispiele demonstrieren und dabei zeigen, a) wie der Chronist literarische ‚Fundstücke‘ arrangierte, b) wie diese Methode seine Arbeit und c) die Anlage der Hauschronik prägte, also das Sammeln die Poetik beeinflusste. Dazu ist es sinnvoll, sich kurz die Entstehungsgeschichte der Zimmerischen Chronik zu vergegenwärtigen. 73 Die Chronik war ursprünglich konzipiert als Darstellung des genealogischen ‚Herkommens‘, 74 mit dem die lange betriebene Erhebung des Geschlechts 280 Gerhard Wolf Gebiete und Burgen am oberen Neckar, die Burg Wildenstein über dem Donaudurchbruch sowie die Stadt Meßkirch; vgl. insgesamt Casimir Bumiller, „Die Herren und Grafen von Zimmern - Eine exemplarische oder eine extraordinäre Geschichte? “, in: Bumiller u. a. (wie Anm. 33), S. 12-27. 75 Allerdings postuliert Froben nicht explizit einen früheren Grafenstand seiner Vorfahren. Diploma‐ tisch schreibt er, ihr Stand sei etwas höher dann freiherrn gewesen (Zimmerische Chronik, wie Anm. 33, I,26,38f.). 76 Ähnlich Eusterschulte (wie Anm. 40), S. 171-190. 77 Froben verfasste insgesamt 515 Nachträge, von denen sich viele mit der Natur des Menschen befassen; vgl. dazu auch Wolf, „Die Zimmerische Chronik“ (wie Anm. 33). 78 Zum humanistischen Beiträgertum vgl. Jenny (wie Anm. 63), S. 174-186. 79 In den registerartigen Überschriften seiner Chronik (wie Anm. 33) spricht Froben von lecherlichen sachen und gueten schwankbossen (III,379,10f.), seltzame[m] handel (III,465,28), wunderbarlichen hendeln (III,508,21) etc. 80 Die [Nachträge] haben nit wol füegclich der historiae megen inverleibt werden, derhalben, damit die in langwüriger gedechtnus auch erhalten, sein die in den nachvolgenden sexternen, so vil sein künden, registrirt worden, verhoffenlich, die nachkommen werden diese arbeit an die handt und zu guet nemen, auch mehr erkundigen und volgendts aus dem allem ein wesenliche historiam schreiben, darzu und zu allem dem, das guet, verleihe der allmechtig Gott sein gnad! Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), IV,323. 81 Nach Frobens Entscheidung zur dilatatio materiae findet sich dieses Verfahren auch im Haupttext. 82 Felixmüller (wie Anm. 9), S. 96. in den Grafenstand ideologisch abgesichert und legitimiert werden sollte. 75 Allerdings erweitert Froben während der Arbeit an seinem Werk relativ bald den Fokus, wodurch sich die Hauschronik zum weltbuech Gottes bzw. zum theatrum mundi  76 mit einem geradezu anthropologischen Anspruch wandelte. 77 Dies geschah zum einen auf einer historischen Ebene, wobei Froben, der in der zeitgenössischen historiographischen Literatur sehr belesen und mit humanistischen Historikern gut vernetzt war, 78 viele geschichtliche Informationen zu anderen schwäbischen Adelshäusern, zur Regional-, Religions- und Reichsgeschichte in sein Werk einbaute. Noch bedeutender für unseren Zusammenhang sind zahlreiche nachträglich eingefügte Erzählungen, die keine historische Relevanz hatten, sondern der Beschreibung des menschlichen Wesens in all seinen Facetten dienten. 79 Diese Entwicklung zum weltbuech trat erst in einem fortgeschrittenen Arbeitsstadium an der Chronik ein und da Froben auch zu bereits behandelten Ereignissen noch etwas hinzufügen wollte, schrieb er hierzu separate Nachträge, die seine Nachkommen in eine neue, revidierte Chronikversion einarbeiten sollten. 80 Diese Nachträge sind manchmal nur rein sachliche Ergänzungen oder Korrekturen zum Haupttext, sehr oft erweitern oder konterkarieren sie die dort geschilderten Ereignisse, zeigen Handlungsalternativen auf oder bringen neue Perspektiven ins Spiel. Der Eindruck einer gezielten Diskursivierung einzelner Ereignisse wird vollends dadurch verstärkt, dass manchmal bis zu zehn Nachträge, die alle der gleichen Thematik gewidmet waren, 81 verfasst wurden, so dass man geradezu von einem „Auseinandersetzungszwang“ 82 sprechen kann. Hier wird die Analogie zur Begehung einer realen Wunderkammer vollends evident: Bei der realen und der virtuellen ‚Begehung‘ entstehen Diskussionen über die Interpretation des jeweiligen ‚Exponats‘, das Pro und Contra wird anhand von Beispielen und Gegenbeispielen erörtert und schließlich ergibt sich ein Panoptikum menschlicher Handlungsmöglichkeiten. 281 Die literarische Wunderkammer 83 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), I,120,20-135,22. 84 Gleichwohl starben die Freiherren von Magenheim erst Anfang des 15. Jahrhunderts aus und Froben konnte Überlegungen darüber provozieren, wie diese mit den Grafen von Monhaim zusam‐ menhingen; zu den Magenheimern vgl. Wolf Eiermann, „Dem König nah. Die Herren von Magenheim im 12. und 13. Jahrhundert“, in: Zeitschrift des Zabergäuvereins 2002, Heft 4, S. 85-95; 2004, Heft 3/ 4, S. 35-64; 2006, Heft 2, S. 36-46. Es ist nicht ohne Ironie, dass sich der Chronist auf ein Geschlecht bezieht, dessen früherer Grafenstatus bis heute strittig ist. 85 Selbst das Schweigen des Erzbischofes wird mit Arbeitsüberlastung begründet. In den Nachträgen scheint aber Froben seine Meinung wieder geändert zu haben, weil er hier das Verhalten der Bürger als Untreue bezeichnet. 86 […] der historias schreiben und alte geschichten verzaichnen, der soll nichs verschweigen, die warhait, sovil bewisst, anzaigen und hierin niemands verschonen (Zimmerische Chronik, wie Anm. 33, I,314,37- 39); Welcher historias und die warhait beschreiben, derselbig soll nit außlassen, das im gefellig, oder außer affect zu lieb oder laid zu schreiben, sonder vilmehr, wie es die gelegenhait gibt, soll er one alles schewen, es treff an gleich publica oder privata negotia, eröffnen (ebd., 617,12-16). 87 Vgl. Wolf (wie Anm. 55), S. 274-297. Als Beispiel dafür, wie diese Methode in der Zimmerischen Chronik funktioniert, wähle ich das 25. Kapitel, 83 dessen Funktion in der Konstruktion der gräflichen Ebenbürtigkeit der Zimmern steht und in dem dieser Nachweis über eine angebliche Heiratsverbindung der Zimmern mit einem gräflichen Geschlecht erbracht werden soll. Eine solche Argumenta‐ tion war jedoch riskant, denn für ein noch existierendes Grafengeschlecht wäre damit die Unterstellung einer Missheirat verbunden gewesen. Froben löste das Problem, indem er eine zimmerische Heiratsverbindung mit den halbfiktiven Grafen von Monhaim (Magenheim) behauptet, einem Geschlecht, das Mitte des 12. Jahrhunderts ausgestorben sein soll. 84 Im 25. Kapitel verwebt nun Froben die Verheiratung einer Monhaimer Grafentochter mit Johannes von Zimmern mit dem Thema des Verhältnisses von Herren und Beherrschten. Dazu berichtet er von einem Aufstand der Stadt Bönnigheim gegen Erkinger von Monhaim, der zu dieser Zeit die Stadt als Lehen des Erzstiftes Mainz innehatte, mit den Bürgern wegen Frondiensten in Streit geraten war und diese hart bestraft hatte. Als die Bönnigheimer sich beim Mainzer Erzbischof beschwerten, reagierte dieser nicht. Daraufhin griffen die Bürger zur Selbsthilfe, nahmen Erkinger gefangen und brannten seine Burg nieder, worüber der Graf in Depression verfiel, noch die Verheiratung seiner Tochter veranlasste und dann 1159 als Letzter seines Geschlechts aus Gram über den Aufruhr starb. Froben liefert mit dieser offenbar fiktiven Geschichte einen Beitrag zu einem zentralen Diskurs seiner Zeit, nämlich des richtigen Umgangs mit den Untertanen. Dabei sollte man eigentlich erwarten, dass der gräfliche Chronist das Verhalten der Bürger verurteilt; aber genau dies geschieht nicht, vielmehr bemüht sich Froben um eine neutrale, die widerstreitenden Positionen berücksichtigende Darstellung. 85 Offenbar geht es ihm nicht um eine wohlfeile Schuldzuweisung, sondern darum, seinen Nachkommen die Notwendigkeit einer auf Ausgleich bedachten Politik vor Augen zu führen. Dennoch bleibt die Frage, warum Froben den Aufstand der Bürger nicht eindeutig verurteilt hat. Eine Erklärung wäre zum einen, dass sich Froben zu Beginn der Chronik noch dem Prinzip der Neutralität des Historikers verbunden fühlte, 86 zum anderen, dass er bei der Abfassung des 25. Kapitels die ‚Urkatastrophe‘ der zimmerischen Dynastiegeschichte vor Augen hatte, nämlich die kaiserliche Ächtung seines Großonkels. 87 Froben hielt das Ver‐ halten seines Verwandten nicht a priori für illegitim, er sah sein Handeln als wichtigen Teil 282 Gerhard Wolf 88 Die anderen drei Nachträge berichten vom Kampf der Würzburger gegen ihren Bischof Hermann I. von Lobdeburg (Zimmerische Chronik, wie Anm. 33, I,125,4-127,5), vom heimtückischen Überfall eines Herrn von Lützelhardt auf seinen Nachbarn, einen Herrn von Geroldseck (ebd., 127,6-130,34) und von der Ermordung des Würzburger Bischofs Konrad von Querfurt (ebd., 132,22-133,13). 89 Vgl. Erwin Frauenknecht, „Das Attentat auf König Konrad IV. im Kloster St. Emmeram zu Regensburg 1250 und seine Folgen“, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 68 (2005), S. 1107-1133. 90 Im Nachtrag, der den Mord an Bischof Konrad von Querfurt behandelt, bezieht sich Froben nochmals auf das Attentat auf Konrad IV. und verflucht fast im Stil Martin Luthers den Papst und seine erzbuben, die nur dem Reich schaden wollten (Zimmerische Chronik, wie Anm. 33, I,133,7-13). 91 Da die Königsfeldener Chronik nur in Auszügen erhalten ist, ist der genaue Vergleich nicht möglich. Zur Stelle vgl. Martin Gerbert, De Translatis Habsburgo-Austriacorum Principum, Eorumque Coni‐ ugum Cadaveribus Ex Ecclesia Cathedrali Basileensi Et Monasterio Koenigsveldensi […], [St. Blasien] 1772, S. 96f. der Familiengeschichte und -identität an und dies hatte Auswirkungen auf die Darstellung von anderen Rebellionen, bei denen er die Verantwortung auf beiden Seiten suchte. Eine einfache dichotome Betrachtung genügte hier also nicht, vielmehr musste das Verhältnis zwischen Herr und Vasall bzw. Bürger differenziert und mit Bedacht betrachtet werden, weil die Treuverbindung zwischen beiden Parteien die politische Grundlage bildete. Um diese Perspektive seinen Rezipienten noch näher zu bringen, ordnet Froben später dem 25. Kapitel fünf Nachträge zu, die sich damit befassen. 88 Ein besonders spektakuläres Ereignis bietet der Nachtrag Nr. 253, der den in verschiedenen historischen Quellen überlie‐ ferte Mordanschlag auf König Konrad IV. im Regensburger Kloster St. Emmeram kurz nach Weihnachten 1250 wiedergibt. 89 Konrad IV., in der väterlichen Nachfolge ein entschiedener Gegner des Papstes, wäre demnach fast zum Opfer eines Mordanschlags bischöflicher Ministerialen geworden, wenn dies nicht ein Ritter namens Friedrich von Evensheim, Angehöriger der königlichen Leibgarde, gemeinsam mit fünf weiteren Rittern verhindert hätte. Als Friedrich in der Nacht bemerkt, dass sich Bewaffnete dem Schlafgemach des Königs im Kloster nähern, weckt er ihn und versteckt ihn in einer großen Truhe. Dann legt sich Friedrich in Konrads Bett, wird dort für den König gehalten und zusammen mit dessen anderen Rittern getötet. Konrad IV. überlebt in seinem Versteck und kann sich am nächsten Morgen in Sicherheit bringen. Diese Erzählung bietet ein sichtbares Gegengewicht zur Konstellation im Haupttext, indem sie den Nutzen verdeutlicht, den ein Herrn aus einem idealen Verhältnis zu seinen Vasallen zieht. Zum anderen zeigt der Nachtrag, dass Wider‐ stand selbst gegen die höchsten kirchlichen Würdenträger gerechtfertigt sein kann, wenn diese sich gegen das Reich verschwören. 90 Nicht weniger aussagekräftig ist der Nachtrag (Nr. 407), dessen Inhalt Froben der sog. Königsfeldener Chronik entnommen hat. 91 Die Erzählung handelt vom österreichischen Herzog Albrecht dem Lahmen (1298-1358), der von einem reichen Wiener Bürger nach Hause eingeladen wird. Unter dem Vorwand, ihm nur unter vier Augen ein besonders seltsames und kostbares klainod (I, 134,8) zeigen zu wollen, lockt er den Herzog in seine ‚Schatzkammer‘ und zieht dort sein Schwert, um ihn zu töten. Nur der Umstand, dass das unruhig gewordene herzogliche Gefolge just in diesem Moment an die verschlossene Tür hämmert, veranlasst den Bürger, seinen Plan aufzugeben und den Herzog unbeschadet gehen zu lassen. Merkwürdig ist aber nun, dass Albrecht weder seinen Begleitern etwas von dem Attentat erzählt noch den Bürger zur Rechenschaft zieht, was Froben als ein groß 283 Die literarische Wunderkammer 92 Horst Thomé und Winfried Wehle, „Novelle“, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, Berlin 2007, S. 725-731, hier S. 727. 93 B[ernd] K[onrad], „Die Anamorphose des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern, um 1538“, in: Mäzene (wie Anm. 33), S. 268-271 [mit weiterer Literatur]. 94 Ebd., S. 268; zur Anamorphose Wilhelm Werners siehe auch Thomas Eser, Schiefe Bilder. Die Zimmernsche Anamorphose und andere Augenspiele aus den Sammlungen des Germanischen Nationalmu‐ seums, Nürnberg 1998 (Ausstellungskataloge des Germanischen Nationalmuseums); Marta Faust, „Eyed Awry“. Blind Spots and Memoria in the Zimmern Anamorphosis“, in: Journal of Historians of Netherlandish Art 10 (2018), jhna.org/ articles/ eyed-awry-blind-spots-and-memoria-in-the-zimme rn-anamorphis/ . exempel deren gnaden Gottes und als Beleg dafür deutet, dass der Herzog ein schlechtes Gewissen hatte. Demnach lassen sich drei Beobachtungen aus der Erzählung ziehen: 1. Die Begierde nach Kuriositäten kann lebensgefährlich sein; 2. die Achtsamkeit und Treue der Vasallen rettet den Herrn und 3. es gibt Formen legitimer Rache. Der ‚Gang‘ durch die eng miteinander verbundenen Erzählungen zum Thema Rebellion im 25. Kapitel und seinen Nachträgen lassen sich daher als ‚Begehung‘ einer literarischen Wunderkammer lesen. Die Erzählungen bilden - wie zeitgleich in den Fazetien- und später in den Novellensammlungen - eine „Abfolge einander antwortender, sich gegenseitig bestätigender oder widersprechender Begebenheiten, [die] dokumentiert, was alles der Fall sein kann“. 92 Aus dem Reigen der Erzählungen entsteht freilich keine Kasuistik, vielmehr soll der Betrachter zu der Erkenntnis geführt werden, dass die Beurteilung eines Sachverhalts von der Perspektive abhängt. Damit der Rezipient dies erkennt, muss er bei möglichst vielen Stellen lernen, verschiedene Perspektiven einzunehmen. Damit spiegelt sich in der ‚Begehung‘ der literarischen Wunderkammer die der realen Wunderkammer Wilhelm Werners: Während in jener ein Thema von verschiedenen Seiten betrachtet wird und nach parallelen oder gegensätzlichen Ereignissen gesucht wird, sind es hier die Exponate, die mit anderen in Verbindung gebracht und damit in ihrer Vielschichtigkeit erschlossen werden. Eine solche Deutung unterstellt die Vertrautheit mit perspektivischem Sehen; Froben und seinem wichtigsten Beiträger Wilhelm Werner muss demnach bewusst gewesen sein, dass Gegenstände ihren Charakter ändern, wenn man den Blickwinkel wechselt. Dass beiden Zimmern eine solche, auch ästhetisch anspruchsvolle Methode bekannt war, kann in ihrem Fall anhand der Anamorphose 93 (Abb. 4) aus dem Besitz Wilhelm Werners belegt werden. Auf den ersten Blick erscheint das Objekt wie die „Schauseite einer Renaissancetruhe“ mit „verschwommene[r] Marmorierung“; bei genauerem Hinsehen „entpuppt sich […] das vermeintliche Möbelstück als eine relativ flache Tafel mit stark reliefiertem, kunstreich verziertem Rahmen“, bei der sich je nach der eingenommenen Perspektive (frontal, von links oder von rechts) unterschiedliche Bilder ergeben. Für diese sog. Lenticular-Technik war die Kenntnis der Gesetze der Zentralperspektive Voraussetzung, und man musste „die Darstellung tiefenräumlicher Verhältnisse in der Kunst verinnerlicht“ 94 haben. Die Anamorphose könnte man demnach als methodologischen Hinweis auf die Gestaltung der ‚Literarischen Wunderkammer‘ in der Zimmerischen Chronik verstehen: Nur frontal 284 Gerhard Wolf 95 Die Zimmerische Chronik ist natürlich nicht das einzige Werk des 16. Jahrhunderts, in dem sich Methode und Prinzip einer literarischen Wunderkammer widerspiegelt. Heranzuziehen wären hier für nähere Untersuchungen die Texte Hermanns von Weinsberg und Cyriacus’ von Spangenberg, die Bibliothecae Universalis Conrad Gesners oder die Wickiana des Johann Jakob Wick (1522-1588). Zu Spangenberg vgl. Tim Lorentzen, „Cyriacus Spangenberg“, in: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520- 1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon 6 (2017), Sp. 49-64; zu Wick Franz Maulshagen, Wunderkammer auf Papier. Die ‚Wickiana‘ zwischen Reformation und Volksglaube, Epfendorf 2011 (Frühneuzeit-Forschungen 15). Ferner wären hier einzubeziehen die Florilegien, vgl. Gilbert Hess, „Florilegien. Genese, Wirkungsweisen und Transformationen frühneuzeitlicher Kompilationslite‐ ratur“, in: Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, hg. von Frank Grunert und Anette Syndikus, Berlin 2015, S. 97-138, sowie die Schwanksammlungen und die enzyklopädische Literatur. 96 Genauso fern steht Froben der Idee einer „Weltenharmonie“, wie sie Kunstkammern illustrieren sollten; vgl. die Einführung von Alfred Walz zum Ausstellungsband Weltenharmonie. Die Kunst‐ kammer und die Ordnung des Wissens, hg. von Susanne König-Lein, Braunschweig 2000, S. 9-22. betrachtet erscheint ein Ereignis singulär und arbiträr, erst aus unterschiedlichen Blick‐ winkeln, die analoge Ereignisse ermöglichen, gewinnt es Gestalt, Tiefe und Aussagekraft. 95 VI Schlussbemerkung 1. Die Vermischung heterogener Gattungs- und Textformen bzw. Themen und Gegen‐ stände ist in der Literatur des 16. Jahrhunderts weit verbreitet. In der Forschung hat dies lang zu der abwertenden Annahme geführt, die Schriftsteller der Zeit seien unfähig gewesen, ihre Vorstellungen in ästhetische Konzepte einzubringen, und deswegen fehlten auch in der ‚Lutherischen Pause‘ innovative thematische Entwürfe. Anstelle neuer großer Epen und Dramen hätten es die Autoren der Zeit nur zu kleineren Erzählformen gebracht und sich mit dem Sammeln und Verknüpfen des schon Vorhandenem begnügt. Auch wenn dies nicht ganz von der Hand zu weisen ist, so muss immer für den Einzelfall geprüft werden, ob ein Werk tatsächlich nur ein unsystematisches Sammelsurium darstellt oder sich a) bei genauerem Hinsehen doch Systematiken finden lassen bzw. b) die fehlende Systematik selbst als Erkennt‐ nisform dient. Gerade bei einem sprachlich-inhaltlich elaborierten Werk wie der Zimmerischen Chronik spricht vieles dafür, dass beide Aspekte vom Autor integriert worden sind. Ausschlaggebend hierfür war, dass es Froben nicht mehr darum ging, die Geschichte einer (heils-)geschichtlichen Ordnung zu unterwerfen und diese ostentativ auszustellen wie dies noch in der im Wesentlichen mit dem Deduktionsverfahren arbeitenden Scholastik zu beobachten war. Auch wenn Froben die Erkenntnis der göttlichen Ordnung, des weltbuechs, noch erwähnt, hält er dieses Ziel doch für utopisch, 96 weswegen er sich der Empirie und der induktiven Methode zuwendet. Deswegen wird für ihn jeder noch so kuriose Einzelfall relevant, wenn er mit anderen und anderem in eine erkenntnisfördernde Beziehung gesetzt werden kann, wobei diese Beziehung der Autor nicht selbst ausdeutet, sondern es bei einem absichtsvollen Arrangement der historischen ‚Exponate‘ belässt. 2. Eine solche Methode beruht auf der Fähigkeit, in Analogien zu denken und Ähn‐ lichkeiten zu entdecken, was - wie Michel Foucault und andere gezeigt haben - für das 16. Jahrhundert charakteristisch war. Fast scheint es, als ob in dieser Zeit 285 Die literarische Wunderkammer 97 Zit. nach Niklas Luhmann, Systemtheorie der Gesellschaft, hg. von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling, https: / / www.uni-bielefeld.de/ soz/ luhmann-archiv/ pdf/ NL_SdG_Einleitung_Inv_Kap1u2 _Inv-lang.pdf, S. 100, Anm. 109. 98 Vgl. zum ,Gesetz der guten Nachbarschaft‘ Felixmüller (wie Anm. 9), S. 90f.; das von Warburg benutzte System der Verzettelung (ebd., S. 102f.) könnte Froben auch bei seinen Nachträgen angewendet haben. 99 Damit ließe sich das Phänomen erklären, dass welthistorische Ereignisse wie Reformation und Bauernkrieg in der Chronik nur randständig behandelt werden: Diese Ereignisse werden nur so weit berücksichtigt, wie sie anschlussfähig sind an die übergreifenden Themen der Chronik. 100 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), I,195,35; vgl. auch ebd.,10,10-13; 50,32-35; 172,2; III,73,8-10 u. ö. 101 So erklärt Jenny (wie Anm. 63), S. 192, Frobens Sammelleidenschaft, dem er auch ein „äußerlich morbides und fast linkisches Wesen“ bescheinigt (ebd., S. 193). 102 Im Gegensatz dazu vertritt Felixmüller (wie Anm. 9), S. 18, die Ansicht, dass die „Wunderkammern […] der Auflösung des Staunens [dienten und deutlich machten], dass im scheinbaren Chaos eine im und seitens des Autors der Zimmerischen Chronik die Erkenntnis vorweggenommen wurde, wonach es ohne Begriffe kein Denken geben könne und ohne Analogien keine Begriffe, weswegen Analogien der Treibstoff und das Feuer des Denkens seien. Mit Jürgen Frese ließe sich auch sagen, dass der „Sinn eines Aktes […] die Mannigfaltigkeit der Anschließbarkeit [ist], die er eröffnet“. 97 Die vielen Erzählungen, die in der Chronik - um einen Leitbegriff von Aby Warburg zu gebrauchen - in ‚guter Nachbarschaft‘ zueinander stehen, 98 haben ihren eigentlichen Wert in ihren Anschlussmöglichkeiten; über sie gelangt der Rezipient zu Schlussfolgerungen, die neue Erkenntnisse bei ihm provozieren können. 3. Das Ziel des Analogieverfahrens ist die Perspektivierung. Dies führt zu einem Dar‐ stellungsverfahren, bei dem selbst kleine Details wichtig sind und so in die Geschichte ‚eingezeichnet‘ werden, dass sie neben den scheinbaren Hauptereignissen dieselbe Größe haben. In der zeitgenössischen Malerei kennt man dieses Prinzip unter dem Begriff der ‚Zentralperspektive‘; es wird hier auf die Literatur übertragen, um dem Geschehen so räumliche Tiefe und einen natürlichen Eindruck zu verleihen. Die Rechtfertigung besteht darin, dass für den Einzelnen selbst in dramatischen Zeitläufen Kleinigkeiten von großer Bedeutung sind. 99 Daraus folgt für die Zimmerische Chronik, dass es nicht um eine definitive und schlüssige Darstellung und Interpretation der Vergangenheit geht, wie dies spätere Historiker fordern, sondern um die Perspekti‐ vierung: Die Geschichte bleibt so eine Wunderkammer, in der es immer wieder Neues zu entdecken gibt und die offen für Revisionen bleibt. Insofern ist die ‚Begehung‘ der literarischen Wunderkammer eine Einübung in den Umgang mit Unsicherheit, mittels derer der Angst vor Kontrollverlust begegnet werden kann. Dem Chronisten scheint dies der einzig adäquate Umgang mit der Realität zu sein, da auf erden nichs bestendigs [ist]. 100 4. Eine (literarische) Wunderkammer ohne erkennbare Systematik mag bloß als Chaos erscheinen und Beleg für die „manische Art“ 101 ihres Verfassers sein. Dabei wird aber übersehen, dass gerade aus diesem vermeintlichen Chaos erst Erkenntnis entstehen kann und die Wunderkammer des 16. Jahrhunderts der Ort ist, an dem der niemals abzuschließende Prozess zwischen produktiver Unordnung und angestrebter, aber nie erreichbarer Ordnung sichtbar wird. 102 Unter diesem Aspekt erscheint die Zimmer‐ 286 Gerhard Wolf Entstehen begriffene Ordnung verborgen liegt“. Zur produktiven Unordnung der Wunderkammer vgl. ebd., S. 66-78. 103 Flemming Schock, „Wissensliteratur und ‚Buntschriftstellerei‘ in der Frühen Neuzeit: Unordnung, Zeitkürzung, Konversation“, in: Polyhistorismus und Buntschriftstellerei. Populäre Wissensformen und Wissenskultur in der Frühen Neuzeit, Berlin/ Boston 2012 (Frühe Neuzeit 169), S. 1-20, hier S. 3. 104 Ebd., S. 4. 105 Zimmerische Chronik (wie Anm. 33), I,257,5. 106 Schock (wie Anm. 103), S. 5. 107 Zit. nach Schock (wie Anm. 103), S. 5. ische Chronik als Vorstufe der ‚Buntschriftstellerei‘ des Barock, welche „die ‚andere‘, das heißt ungeordnete Seite des enzyklopädischen Zeitalters, [repräsentiert]“ 103 und deren Autoren sich bei älteren Texten bedienten, sie neu kombinierten und kommen‐ tierten. 104 Diese Beschreibung hätte wohl auch Froben, der sich selber bescheiden nur den zusammentrager diser histori nennt, 105 für sich gelten lassen. Die Theoretiker der ‚Buntschriftstellerei‘ sahen in der Vermischung völlig verschiedener Gegenstände den Vorteil, dass man „den Leser nicht mit elaborierten Ordnungsgebäuden [ermüden darf]“, sondern bei ihm „eine assoziative Beweglichkeit und Flexibilität“ 106 erzeugen müsse. Es ist dann konsequent, wenn 1669 bei dem Nürnberger Verlagshaus Ender eine Historienkompilation erscheint, der das Motto vorangestellt ist: „Vivat! Unordnung“. 107 So weit wäre der Autor der Zimmerischen Chronik sicher nicht gegangen, aber eine Ahnung davon, wie hinderlich ein Ordnungsbedürfnis für die Erkenntnis der Welt sein kann, hatte er schon. Abbildungen Abb. 1: Matthäus Merian: Schloss Ambras (Mitte des 17. Jahrhunderts). 287 Die literarische Wunderkammer Abb. 2: Gustav Steinlein, Die Baukunst Alt-Münchens. Eine städtebauliche Studie über die Münchener Bauweise von der Gründung der Stadt bis Ende des 16. Jahrhunderts, München 1910, S. 41: München, Kunstkammer- und Marstallgebäude im 16. Jahrhundert. Abb. 3: Ole Worm, Museum Wormianum. Seu Historia rerum rariorum, tam naturalium, tam artificia‐ lium, tam domesticarum, quam exoticarum, quae Hafniae Danorum in aedibus authoris servantur, Leiden 1655, Frontispiz. 288 Gerhard Wolf Abb. 4: Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Inv. Nr. WI 717: Die Anamorphose des Grafen Wilhelm Werner von Zimmern (um 1538). 289 Die literarische Wunderkammer Sammeln als literarisches Thema 1 Für zahlreiche weiterführende Literaturhinweise, die hier nicht wiederholt werden, vgl. Elke Brüggen, „Schattenspiele. Beobachtungen zur Erzählkunst in Wolframs Parzival“, in: Erzähltechnik und Erzählstrategien in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002, hg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz und Klaus Ridder, Berlin 2004 (Wolfram-Studien 18), S. 171-188; dies., „Belacâne, Feirefîz und die anderen. Zur Narrativierung von Kulturkontakten im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in: Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, hg. von Christian Moser und Linda Simonis, Göttingen 2014 (Global Poetics. Literatur- und kulturwissenschaftliche Studien zur Globalisierung 1), S. 673-692; dies., „Irisierendes Erzählen. Zur Figurendarstellung in Wolframs Parzival“, in: Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext. Tübinger Kolloquium 2012, in Verbindung mit Susanne Köbele und Eckart C. Lutz hg. von Klaus Ridder, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 333-357; dies., „swie ez ie kom, ir munt was rôt. Zur Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium Düsseldorf, hg. von Elizabeth Andersen u. a., Berlin/ Boston 2015, S. 391- 411; dies., „Die Rüstung des Anderen. Zu einem rekurrenten Motiv bei Wolfram von Eschenbach“, in: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne, hg. von Anna Mühlherr u. a., Berlin/ Boston 2016 (Literatur. Theorie. Geschichte 9), S. 127-144; dies., „Schwarze Sonne. Verweigerte Musterhaftigkeit bei der literarischen Evokation weiblicher Schönheit in Wolframs Parzival“, in: Poetiken des Widerspruchs in vormoderner Erzählliteratur, hg. von Elisabeth Lienert unter redaktioneller Mitarbeit von Amina Šahinović und Catharina B. Haug, Wiesbaden 2019 (Contradiction Studies), S. 201-217; dies., „A wie Anfortas. Die Figur des kranken Königs im Parzival Wolframs von Eschenbach“, in: Europäische Gründungsmythen im Dialog der Literaturen. Festschrift für Michael Bernsen zum 65. Geburtstag, hg. von Roland Ißler, Rolf Lohse und Ludger Scherer, Göttingen 2019 (Gründungsmythen Europas in Literatur, Musik und Kunst 13), S. 43-56; dies., „Gurnemanz - houbetman der wâren zuht. Grundsätzliches und eine Fingerübung“, in: Res, Artes et Religio. Essays in Honour of Rudolf Simek, hrsg. von Sabine Heidi Walther [u. a.], Leeds 2020, S. 67-79. Vgl. auch Elke Brüggen und Joachim Bumke, „Figuren-Lexikon“, in: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, hg. von Joachim Heinzle, Bd. 1-2, Berlin/ Boston 2011, hier Bd. 2, S. 835-938. Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach Elke Brüggen I Die Forschung hat in jüngerer Zeit herausgearbeitet, wie sehr die Poetik des Parzival und auch des Willehalm Wolframs von Eschenbach von einer Fülle namentlich genannter Figuren bestimmt ist, welche in ein großes Verwandtschaftsnetz eingebunden sind, das den jeweiligen komplexen Erzählgeflechten eine Struktur gibt und sie überdies mit einer in diverse Konstellationen ausgefalteten thematischen Leitlinie versieht. 1 Weniger beachtet wurde, dass dem abundanten Figurenarsenal des Parzival ein mindestens ebenso 2 Zur aktuellen Forschung zu den ‚Dingen‘ vgl. die Beiträge in dem interdisziplinären Band Ding‐ kulturen, Mühlherr u. a. (wie Anm. 1); für eine Einordnung der Frageinteressen im Bereich der germanistischen Mediävistik in größere Forschungszusammenhänge erscheinen insbesondere die Beiträge von Anna Mühlherr, „Einleitung“, S. 1-20; Brüggen, „Die Rüstung des Anderen“ (wie Anm. 1); und Mark Chinca, „Hochzeitsdinge, Zeichenbegängnis“, S. 389-405, wesentlich. Neuere Forschungen aus der literaturwissenschaftlichen Mediävistik in Auswahl: ABECEDARIUM. Erzählte Dinge im Mittelalter, hg. von Peter Glasner, Sebastian Winkelsträter und Birgit Zacke, Berlin 2019; Romana Kaske, „Objekte des Heros - heroische Objekte? Das Wirkungspotential militärischer Artefakte im Rolandslied“, in: helden. heroes. héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 4,1 (2016), S. 43-52; dies., „Im Zeichen der Sirene. Eine Rüstungsfantasie in Konrads von Würzburg Trojaner‐ krieg“, in: Object Fantasies. Experience & Creation, hg. von Philippe Cordez u. a., Thürigen u. a. 2018, S. 49-66; dies., „Kreaturen und Artefakte in mittelhochdeutscher Literatur. Zum Verhältnis von Bedeutungskunde und Dingforschung“, in: Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge, hg. von Martina Wernli und Alexander Kling, Freiburg im Breisgau u. a. 2018 (Rombach Wissenschaften. Reihe Litterae 231), S. 53-78; dies., „Materielle Ritterschaft. Die Lanzen in Wolframs von Eschenbach Parzival“, in: Objekte des Krieges. Präsenz und Repräsentation, hg. von Romana Kaske und Julia Saviello, Berlin/ Boston 2019 (Object Studies in Art History 2), S. 25-47; Ludger Lieb und Michael R. Ott, „Schnittstellen. Mensch-Artefakt-Interaktionen in deutschsprachigen Texten des 13. Jahrhunderts“, in: Metatexte. Erzählungen von schrifttragenden Artefakten in der alttestamentlichen und mittelalterlichen Literatur, hg. von Friedrich-E. Focken und Michael R. Ott, Berlin/ Boston 2016, S. 265-279; Florian Nieser, „Das getilgte Ding. Arofels Schild im ›Willehalm‹ Wolframs von Eschenbach“, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 139 (2017), S. 329-344; Michael R. Ott, „Die höfische Welt der Dinge. Wolframs von Eschenbach Parzival“, in: Handbuch. Literatur & Materielle Kultur, hg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder, Berlin/ Boston 2018 (Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 6), S. 163-171; Christoph Schanze, „Dinge erzählen im Mittelalter. Zur narratologischen Analyse von Objekten in der höfischen Epik“, in: KulturPoetik 16 (2016), S. 153-172. 3 An neueren Beiträgen seien genannt: Bettina Bildhauer, „Gral“, in: Glasner, Winkelsträter und Zacke (wie Anm. 2), S. 91-97 [mit einer dazugehörigen Abb. auf der (ungezählten) Seite 90]; Michael Stolz, „‚A thing called the Grail‘. Oriental spolia in Wolfram’s Parzival and its Manuscript Tradition“, in: The Power of Things and the Flow of Cultural Transformations. Art and Culture between Europe and Asia, hg. von Lieselotte E. Saurma-Jeltsch und Anja Eisenbeiß, Berlin/ München 2010, S. 188-216; vgl. auch die gedrängte Analyse bei Pia Selmayr, „Balmung, tarnhût, Ring und Gürtel. Siegfried und seine Dinge im Nibelungenlied“, in: helden. heroes, héros. E-Journal zu Kulturen des Heroischen 3,2 (2015). S. 67-76. 4 Arthur, Groos, „Ekphrasis, Landscape, and Power. Some Castles and Their Rulers in Wolfram’s Parzival“, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 55 (2014), S. 41-57; Werner Wolf, „Die Wundersäule in Wolframs Schastel Marveile“, in: Annales Academiae Scientiarum Fennicae Ser. B 84. Emil Öhmann zu seinem 60 Geburtstag, Helsinki 1954, S. 275-314; vgl. Harald Wolter-von dem Knesebeck, „Wun‐ dersäule“, in: Glasner, Winkelsträter und Zacke (wie Anm. 2), S. 269-277 [mit einer dazugehörigen Abb. auf der (ungezählten) Seite 268], mit weiterer Literatur. erstaunlicher Reichtum an literarischen Dingen zur Seite steht 2 - zu einseitig war das Interesse zuvor auf den Gral als dasjenige ‚Ding‘ gerichtet, von dem die Gesellschaft auf Munsalvaesche ihren Namen bezieht und von dem überdies die literarhistorische wie texttypologische Einordnung des Parzival als ‚Gralroman‘ abgeleitet wird. 3 In Relation dazu tritt die Befassung mit der Wundersäule auf Schastel Marveile weniger stark hervor, doch hat auch sie eine Anzahl an Forschungsbeiträgen generiert. 4 Eine gewisse Verschiebung des Frageinteresses auf weitere Gegenstände zeichnete sich in dem von Anna Mühlherr, Bruno Quast, Heike Sahm und Monika Schausten 2016 herausgegebenen Band Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne ab, der den Versuch darstellte, die Ansätze einer florierenden, kulturwissenschaftlich orientierten Forschung zu den 294 Elke Brüggen 5 Mühlherr u. a. (wie Anm. 1). 6 Brüggen, „Die Rüstung des Anderen“ (wie Anm. 1). 7 Bruno Quast, „Dingpolitik. Gesellschaftstheoretische Überlegungen zu Rundtafel und Gral in Wolf‐ rams von Eschenbach Parzival“, in: Mühlherr u. a. (wie Anm. 1), S. 171-184; vgl. jetzt überdies Susanne Flecken-Büttner, „Tafelrunde“, in: Glasner, Winkelsträter und Zacke (wie Anm. 2), S. 221-231 [mit einer dazugehörigen Abb. auf der (ungezählten) Seite 220]. 8 Michael Stolz, „Dingwiederholungen in Wolframs Parzival“, in: Mühlherr u. a. (wie Anm. 1), S. 267- 293. 9 Cora Dietl, „Arthurische ‚Dinge‘ wiedererzählt. Gralsschwert, Gold der Saelde und Brackenseil in Albrechts Titurel“, in: Formen arthurischen Erzählens. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart, hg. von Cora Dietl und Christoph Schanze unter Mitarbeit von Erik Paris und Paola Ravasio, Berlin/ Boston 2016 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. Deutsch-österreichische Sektion. 12), S. 165- 200. 10 Christian Schartz, Bewegte Dinge, bewegende Dinge. Der ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach als Geschichte von Gegenständen, München 2014 (www.grin.com/ document/ 304381) [Masterarbeit Uni‐ versität Tübingen]; die Zitate sind der dem Abschnitt 1.3 (Menschen und Dinge unterwegs. Modi der Bewegung im ‚Parzival‘) entnommen, welcher online einsehbar ist [Zugriff am 22.10.2020]. Ebd. die Aussage, dass die Arbeit sich mit „zentralen Dinge[n] wie dem Narrenkostüm, der Ither-Beute und dem Gral“ befasst. 11 Vgl. jetzt aber: Sebastian Winkelsträter, Traumschwert - Wunderhelm - Löwenschild. Ding und Figur im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2022 (Bibliotheca Germanica 77). 12 Zitierte Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, auf der Grundlage der Handschrift D, hg. von Joachim Bumke, Tübingen 2008 (ATB 119). Dingkulturen, die in unterschiedlichen Disziplinen geführt wird, für die literaturwissen‐ schaftliche Mediävistik fruchtbar zu machen. 5 Elke Brüggen, Bruno Quast und Michael Stolz haben in diesem Rahmen den Blick auf einzelne Dinge gelenkt, die in der Erzählwelt des Parzival von Belang sind. Brüggen befasst sich mit Akten der gewaltsamen Aneignung von Dingen und entwickelt ausgehend von der Ither-Episode Überlegungen zum literarischen Stellenwert der ‚Rüstung des Anderen‘. 6 Quast beleuchtet anhand von Rundtafel und Gral die Hybridität gemeinschaftsstiftender Dinge. 7 Stolz verfolgt anhand von Gral und Gralschwert, wie der Text über Dingwiederholungen einerseits Kohärenzen stiftet, sie andererseits aber auch stört, irritiert und destabilisiert. 8 Ebenfalls 2016 erschien der von Cora Dietl und Christoph Schanze verantwortete Band Formen arthurischen Erzählens. Vom Mittelalter bis in die Gegenwart mit einem Beitrag der Herausgeberin zum Wiedererzählen ‚arthurischer‘ Dinge in Albrechts Titurel; 9 darin lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Gralschwert, das ‚Gold der Saelde‘ (Ring und Brosche Jeschutes) und das Brackenseil, wobei sie jeweils bei den Befunden in den Texten Wolframs beginnt, so dass die Überlegungen auch für die Frage nach den narrativen Funktionen von Dingen in Wolframs Parzival, Willehalm und Titurel relevant sind. Bis auf eine 2014 an der Universität Tübingen verfasste Masterarbeit von Christoph Schartz mit dem Fokus auf Dingen „in Bewegung“, Dingen, die „offen oder verdeckt vom einen zum anderen wandern“, 10 wurde m. W. bislang aber noch nicht der Versuch unternommen, die vorliegenden Beobachtungen zur Präsenz und Funktionalisierung von Dingen in der Parzivaldichtung auf der Basis einer systematischen Erhebung und Belegsammlung zu den ‚Dingen‘ auszuweiten. 11 Das Thema des vorliegenden Bandes hat dazu einen Anstoß gegeben; es bot einen Anreiz, den Parzival  12 als eine regelrechte ‚Dingsammlung‘ zu profilieren und das sammelnde, mit einer eigentümlichen Technik der Wiederholung verbundene Textverfahren in seiner Bedeutung für die Faktur 295 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 13 Valentin Christ, Bausteine zu einer Narratologie der Dinge. Der ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke, der ‚Roman d’Eneas‘ und Vergils ‚Aeneis‘ im Vergleich, Berlin/ Boston 2015 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge 137). 14 Pia Selmayr, Der Lauf der Dinge. Wechselverhältnisse zwischen Raum, Ding und Figur bei der narrativen Konstitution von Anderwelten im ‚Wigalois‘ und im ‚Lanzelet‘, Frankfurt am Main u. a. 2017 (Mikrokosmos 82); vgl. auch Andrea Glaser, Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u. a. 2004 (Europäische Hochschulschriften Reihe 1. 1888). 15 Krysztof Pomian, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Aus dem Französischen von Gustav Roßler, Berlin 1988, Neuausgabe Berlin 1998 (WAT 302). 16 Bezüge zwischen Räumen und Figuren ist für den Parzival Julia Richter nachgegangen: Julia Richter, Spiegelungen: Paradigmatisches Erzählen in Wolframs ‚Parzival‘, Berlin/ Boston 2015 (MTU 144). 17 Ähnlich argumentiert Michael R. Ott in seiner ausführlichen Rezension zu der Arbeit von Christ (wie Anm. 13), in: ZfdA 146 (2017), S. 369-378, hier S. 378; der bei ihm damit einhergehende und mit Bezug auf eine Aussage auf S. 4 der Studie von Christ formulierte Vorwurf, der Verfasser habe eine „einleitende Absage an eine ‚figurenzentrierte Lektüre‘“ (S. 378) formuliert, ist in meinen Augen überzogen, wie einige andere kritische Bemerkungen es im Übrigen auch sind. Vgl. Christoph Schanze, „Dinge erzählen im Mittelalter. Zur narratologischen Analyse von Objekten in der höfischen Epik“, in: KulturPoetik 16 (2016), S. 153-172, hier S. 153; Kaske, „Objekte des Heros“ (wie Anm. 2), bes. S. 43, S. 45, S. 48; dies., „Im Zeichen der Sirene“ (wie Anm. 2), S. 62; dies., „Materielle Ritterschaft“ (wie Anm. 2), S. 26f. 18 Schanze (wie Anm. 17), S. 155. und die Poetik der Dichtung auszuloten. Neuere Beiträge zur Bedeutung von Dingen für die narrative Konstitution literarischer Welten betonen vermehrt, dass die erzählten Dinge oder Objekte nicht isoliert betrachtet werden können, sondern stets in einem Zusammenhang mit der Größe ‚Raum‘ zu sehen sind - so zum Beispiel Valentin Christ in seiner kompa‐ ratistisch angelegten Studie zu den Eneasromanen 13 und Pia Selmayr zum Wigalois und Lanzelet. 14 Selmayr, deren Monographie nicht zuletzt aufgrund einer produktiven Rezeption des von Krysztof Pomian entwickelten Konzepts des ‚Semiophors‘ Beachtung gefunden hat, 15 plädiert zudem für eine Erweiterung dingzentrierter Betrachtungen hin zu einer Berücksichtigung der Trias ‚Raum, Ding und Figur‘, auch wenn für sie selbst die Eigenarten des Zusammenspiels von Dingen und Figuren nicht im Vordergrund stehen. 16 Lektüren ‚von den Dingen her‘ machen ‚Lektüren von den Figuren her‘ nicht etwa überflüssig; angezeigt ist, ganz im Gegenteil, das Bemühen um eine Integration der beiden Zugriffsweisen, weil nur so das komplexe Geflecht, das die Texte selbst bereithalten, adäquat entschlüsselt werden kann. 17 Man wird schwerlich bestreiten können, dass es, um eine Formulierung von Christoph Schanze aufzugreifen, „in [einigen] vormodernen Erzähltexten förmlich von Dingen wim‐ melt, denen im Prozess des Erzählens zum Teil erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet wird“. 18 Wenn im Titel des vorliegenden Beitrags mit Blick auf den Parzival von „gesam‐ melten Dingen“ die Rede ist, so zielt das indes auf ein ‚Mehr‘. Dieses ‚Mehr‘ wäre versuchsweise mit einer Unterscheidung zu fassen, die Peter Strohschneider in einem anregenden Beitrag zur ‚Faszinationskraft der Dinge‘ getroffen hat, freilich nicht mit Blick auf literarische Texte des Mittelalters, sondern in einem inwertsetzenden Bemühen um die an Universitäten nicht selten anzutreffenden und dabei häufig vernachlässigten wissenschaftlichen Sammlungen. Um deren Potenzial sichtbar werden zu lassen, diffe‐ renziert Strohschneider u. a. zwischen ‚Sammelsurium‘ und ‚Sammlung‘ (und grenzt 296 Elke Brüggen 19 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26, hier S. 14. 20 Stellenwert und Funktion der sog. Vorgeschichte der Bücher 1 und 2 sind kontrovers beurteilt worden, vgl. dazu den Überblick bei Heiko Hartmann, Gahmuret und Herzeloyde. Kommentar zum zweiten Buch des Parzival Wolframs von Eschenbach, Bd. 1-2, Herne 2000, hier Bd. 2, S. 394-415. Zu den aufschlussreichen Parallelen im sog. ‚Bliocadranprolog‘, der in einigen Handschriften von Chrétiens ‚Perceval‘ begegnet, vgl. Friedrich Panzer, Gahmuret. Quellenstudien zu Wolframs „Parzival“, Heidelberg 1940 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse 1939/ 1940, 1. Abhandlung); Hartmut Beckers, „Wolframs ‚Parzival‘ und der Nordwesten. Neue Ansätze zur Lösung einer alten Streitfrage“, in: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift Werner Schröder zum 75. Geburtstag, hg. von Kurt Gärtner und Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 211-223, hier S. 213-214; Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart 2004 (Sammlung Metzler 36), hier S. 238 und S. 240; Joachim Heinzle, Wolfram von Eschenbach. Dichter der ritterlichen Welt. Leben, Werke, Nachruhm, Basel 2019, hier S. 100-101. überdies ‚gesammelte Dinge‘ von ‚Objekten‘ ab). „Die Sammlung“, so Strohschneider, „ist […] etwas anderes als eine Agglomeration disparater Dinge. Die Umwelt, die sie für jene konstituiert, ist näherhin ein distinkter Ordnungszusammenhang, und das heißt: Die Sammlung stiftet neue Sinnhorizonte, Funktionsbezüge, definierte Zwecke; Krysztof Pomian hat deswegen für gesammelte Dinge den Ausdruck ‚Semiophoren‘ (Bedeutung tragende Gefäße) geprägt.“ 19 Überträgt man diese Sichtweise auf die Konstitution eines Textes mit Hilfe von ihm eingeschriebenen Dingen, wird im Falle des Parzival der Blick auf ein Arsenal höfischer Dinge gelenkt, die zueinander in Beziehung stehen. Erlaubt man sich die Vorstellung, dass Autoren mit Hilfe von Beobachtung und Vorstellungskraft Dinge für ihre Texte ‚sammeln‘ und sie in ihren Texten in spezifischer Weise konfigurieren, ist es an uns, durch entsprechend aufmerksame Lektüren diesen Prozess der Bedeutungsstiftung im Miteinander der Dinge und im Dreieck von Ding, Figur und Raum zu rekonstruieren. II Der Beitrag befasst sich mit den ersten beiden Büchern des Textanfangs und damit auf die von Wolfram gegenüber Chrétien neu eingeführte ‚Vorgeschichte‘ um Gahmuret, Belakane und Herzeloyde. 20 Die allein für das erste Buch gezählten 139 Belegstellen zu Dingen erfordern indes auch in diesem Rahmen noch einmal eine Konzentration. Nicht an allen Stellen und auch nicht bei allen Dingen sind Aufwand und Reichweite der narrativen Semantisierung gleichermaßen ausgeprägt. Dementsprechend kommen Parzival-Kenner*innen einige stärker aufgeladene Gegenstände unverzüglich in den Sinn, während andere erst bei einer neuerlichen und entsprechend fokussierten Textlektüre ins Bewusstsein treten. Im Folgenden werden jene Dinge betrachtet, die mit der individuali‐ sierenden Profilierung Gahmurets als Ausnahmeritter in Zusammenhang gebracht werden können: Dinge der ritterlichen Ausrüstung, denen er bei seinem Weggang aus Anjou in bewusster Absetzung vom väterlichen Pantherwappen die Form eines Ankers geben lässt - sein aufsehenerregendes, überaus prunkvolles Zelt, seine Trinkgefäße aus kostbaren Edelsteinen, sein in einem aggressiven Glanz erstrahlender Waffenrock, den er später gegen ein seidenes Untergewand seiner Ehefrau Herzeloyde eintauscht, um fortan dieses über der Rüstung zu tragen, sein Diamanthelm, der am Ende einen Platz im Ding-Ensemble 297 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 21 Die folgenden Arbeiten habe ich dabei als besonders anregend und weiterführend empfunden: Wolfgang Haubrichs, „Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets (‚Parzival 105,1-108,30‘)“, in: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Harald Haferland und Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 125-154; Heiko Hartmann, „Gahmurets Epitaph (Pz. 107,29ff.)“, in: Amsterdamer Beiträge zur Germanistik 61 (2006), S. 127-149. Die bis zum Jahr 2000 erschienenen Kommentare sind nachgewiesen bei Bumke (wie Anm. 12), S. 261-262; vgl. Heinzle (wie Anm. 1), S. 1023-1024; Michaela Schmitz, Der Schluss des Parzival Wolframs von Eschenbach. Kommentar zum 16. Buch, Berlin 2012; Norman Mellein, Kommentar zum IV. Buch des „Parzival“ Wolframs von Eschenbach, Wiesbaden 2019 (Imagines medii aevi 42). 22 Vgl. 799/ 27,21: des lebens in dâ nâch verdrôz. / manege âventiure suocht er blôz. 1553f./ 53,1f.: er stât hie selbe ouch ame rê. / unvergolten dienest im tet ze wê. seines im Orient errichteten Grabmals findet, schließlich die Lanzenspitze Ipomidons, die sich in sein Haupt bohrt, sowie das ‚bluot‘, das in einen blutgetränkten Fetzen verwandelte Kleidungsstück Herzeloydes, beides Gegenstände, die dann in das Münster von Kingrivals, der Hauptstadt ihres Königreiches Waleis, überführt werden. Der Beitrag knüpft an die Forschungsbeiträge an, die diesen Dingen gewidmet sind; zudem wurden die einschlägigen Kommentare dankbar zu Hilfe genommen. 21 In Zazamanc, im Reich Belakanes, dreht sich alles um i h n , den toten schwarzen Königssohn: Isenhart von Azagouc hat im Minnedienst für die ebenfalls schwarzhäutige Schönheit sein Leben verloren, in einem Zweikampf gegen Prothizilas, einem Fürsten aus ihrem Gefolge. Die Suche nach âventiure (800/ 27,22; vgl. 804f./ 27,26f.) ließ die beiden aufeinandertreffen, tief im Wald von Azagouc, wo sie sich gegenseitig ihre Lanzen ins Herz stießen, weil die Schilde dem Anprall nicht standhielten. Es war ein ungleicher Kampf, denn Isenhart wagte ihn ohne Harnisch, blôz (800/ 27,22), so, wie er zuvor schon in viele Begegnungen hineingegangen war, aus unerfüllter, quälender Liebe zur jungfräulichen Kö‐ nigin und einem daraus resultierenden Lebensüberdruss. 22 Seine Männer geben daraufhin Belakane die Schuld und mobilisieren ein weitverzweigtes Netz von Verwandten, Freunden und Getreuen; sie verwüsten ihr Land und belagern die Hauptstadt Patelamunt. Belakanes Sicht der Dinge ist eine andere: Ja, sie hat den Dienst des Freundes nicht belohnt, sie wollte ihn noch weiter erproben (791f./ 27,13f.), doch hat sie ihn nicht in den Tod geschickt (778-780/ 26,3027,2). Sie ist keine Verräterin. Die triwe, die sie tränenüberströmt für sich reklamiert, lässt den jâmer gedeihen (816/ 28,8), der, wie sie beredt zu verstehen gibt, die Verbindung mit einem anderen Mann seither nicht zuließ (817/ 28,9). Der Erzähler gibt den divergierenden Wahrnehmungen der Ereignisse einigen Raum, und dabei kommen nun die Dinge ins Spiel. Aus dem Munde des Burggrafen der Stadt erfahren wir, dass die Kämpfer aus Azagouc und Zazamanc, den Königreichen Isenharts und Belakanes, den Streit um die Deutungshoheit in Bilder übersetzen: Dem Wappenzeichen des von einer Lanze durchbohrten Ritters, das Isenharts Verbündete für ihre vanen gewählt haben (30,24-28/ 892-896; 42, 27f./ 1255f.), halten Belakanes Leute ihre eigenen vanen entgegen, welche die Figur der Königin zeigen, schwarz auf weiß, die Hand zum Schwur erhoben, irne geschehe nie sô leide / wan sît daz Îsenhart lac tôt (902f./ 31,4f.). Die forsche Behauptung der Königin er was mir lieber danne in (781/ 27,3) versieht der Erzähler mit einem Fragezeichen, wenn er Razalic, ob al den môren hêr (1282/ 43,24), die Gelegenheit gibt, seine Trauer um Isenhart zu artikulieren, zu bekennen, dass er täglich die Todeswunde 298 Elke Brüggen 23 Vgl. Brüggen, „Schattenspiele“ (wie Anm. 1), hier S. 172. 24 Es fallen die Adjektive küene, wîs, kiusche, milte, zudem die Substantive triwe, zuht, vrecheit und ellen. Wichtig ist darüber hinaus die Aussage: er was gein valscher vuore ein tôr (769/ 26,21). betrachtet und die tödliche Lanzenspitze an einer seidenen Schnur um den Hals und auf der bloßen Haut getragen hat (1511-1516/ 51,13-18). Auf diese Weise bleibt der Kasus in der Schwebe. Die Figur des Isenhart wird erstmals genannt, als der Erzähler, unmittelbar vor der Ankunft Gahmurets in Zazamanc, das Königreich und seine Bewohner vorstellt und deren Klage um Isenhart vergegenwärtigt, der im Dienst für die Landesherrin den Tod fand (454-458/ 16,4-8). Wenig später nimmt ein Fürst aus dem Gefolge Belakanes auf Isenhart Bezug, als er Gahmuret die militärische Lage vor Patelamunt erläutert (717-748./ 24,29- 25,30.) und dabei auf die Kämpfer aus dem Heer Isenharts zu sprechen kommt, die, von der Trauer um ihren Herrn überwältigt, ihre Tränen nicht zurückhalten können, weder in der Öffentlichkeit noch im Verborgenen (741-748/ 25,23-30). Der junge schwarze Königssohn, Sohn des Tankanis, steht sodann im Zentrum einer längeren Rede, mit der Belakane selbst Gahmuret die Hintergründe für die Belagerung der Stadt erklärt und den kampferprobten Helden so für einen Einsatz im Sinne ihrer politischen Belange zu gewinnen sucht (757- 817/ 26,9-28,9.) - auf diese Passage wird an späterer Stelle noch näher eingegangen werden. Zusätzliches Profil gewinnt die Figur in den Worten des Burggrafen der Stadt und in den Trauerbekundungen des Fürsten Razalic, die beide bereits zitiert wurden. Im ersten Buch des Parzival sind es dann die Fürsten aus Isenharts Königreich Azagouc, die ein letztes Mal auf ihren Herrn zu sprechen kommen, als man sich nach dem siegreichen Eingreifen Gahmurets um einen Friedensschluss zwischen den verfeindeten Parteien bemüht (1546- 54/ 52,24-32.). Sie artikulieren hier erneut, dass es die fatale Weggabe der Ausrüstung, einer Kostbarkeit und Auszeichnung ihres Landes, war, die ihnen ihren Herrn entriss: ez zucket uns Îsenhartes lebn, daz Fridebrande wart gegebn diu zierde unsers landes. (1549-51/ 52,27-29) Von Anfang an geht es somit um den t o t e n Isenhart, über dessen Leben nur im Modus der Erinnerung gesprochen werden kann. Konturen gewinnt die Figur durch Erzählerwie Figurenrede, und dabei insbesondere durch die Benennung von Emotionen und Affekten, die durch seinen Tod hervorgerufen werden: Schmerz, Kummer, Trauer und Zorn, der sich in einem ungeheuren Kampffuror Bahn bricht. Als Toter gehört Isenhart im ersten Buch zu den ‚Schattenfiguren‘, welche für die Figurengestaltung und die Konstruktion der Erzählwelt des Parzival so bezeichnend sind, Figuren, „die zu keiner leibhaftigen Präsenz gelangen, derer man sich aber erinnert, über die man spricht und die in Konstellationen eingebunden sind, die sich für die Erzählgegenwart als wirksam und bedeutungsvoll erweisen“. 23 Belakanes preisende Worte gegenüber Gahmuret betonen vor allem Isenharts Tugenden und sprechen dem toten Freund ein bis dato ungekanntes Maß an Vervollkomm‐ nung zu. 24 Was seine körperlichen Merkmale angeht, so erwähnt sie einzig seine schwarze Hautfarbe, die der ihrigen glich. Ansonsten bringt sie seinen Körper mit Sterben und Tod in Verbindung: Sie ist es, die als Erste das Bild des von einer Lanzenspitze durchbohrten 299 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 25 Die Behauptung „Mit dem Abschluß der Verhandlungen über Gahmuret verwindet das Zelt Isenharts aus dem ‚Parzival‘“, die sich in dem ansonsten lesenswerten und weiterführenden Beitrag von Markus Stock „Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum“ findet (S. 84), ist demnach nicht zutreffend; vgl. Markus Stock, „Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum in der hochhöfischen deutschen Epik. Mit einer Studie zu Isenharts Zelt in Wolframs Parzival“, in: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, hg. von Burkhard Hasebrink u. a., Tübingen 2008, S. 67-85. Die Überlegungen zu den möglichen Funktionen von Zelten in mittelalterlichen Erzählwelten wurden aufgenommen und weitergeführt von Jacob Klingner, „Zelte der Minne. Beobachtungen zu einem Handlungsort der mittelhochdeutschen Minnereden“, in: Wissenspaläste. Räume des Wissens in der Vormoderne, hg. von Gesine Mierke und Christoph Fassbender. Würzburg 2013 (EYROΣ/ EUROS. Chemnitzer Arbeiten zur Literaturwissenschaft), S. 223-237. Leibs evoziert, der, ungeschützt durch einen Panzer, Opfer einer in Form der tjost, des ritterlichen Zweikampfs, realisierten âventiure wurde (799-813/ 27,21-28,5). Isenhart ist auf das Betreiben seiner Gefolgsleute und Verbündeten hin im Feld dabei, allerdings nicht als Lebender, sondern als einbalsamierter Leichnam (1553/ 53,1), und überdies in Form bildlicher Repräsentation im Wappenzeichen auf den Lanzenfahnen seiner Männer. Erst nachdem Gahmuret die Kämpfe vor Patelamunt für sich und für die Königin entschieden und die Gegner befriedet hat, wird Isenharts Leichnam bestattet (1578-1581/ 53,26-29). Nach verschiedenen Erwähnungen oder Anspielungen auf die Figur im zweiten Buch, von denen noch die Rede sein wird, fällt ihr Name noch einmal in Buch 13, wo das riesige Prunkzelt des orientalischen Königssohnes dem Erzähler als Vergleichsobjekt dient, mit dessen Hilfe sich die Güte von Gawans Zelt ermessen lässt - es wird nur durch Isenharts Zelt übertroffen (20577-79/ 668,15-17). 25 Ein letztes Mal kommt dann, in Buch 15, Feirefiz auf Isenhart zu sprechen, als er seinem Bruder Parzival Zazamanc und Azagouc überlassen will, Länder, die, wie er sagt, […] mîn vatr und der dîne erwarp, / dô der künec Îsenhart erstarp (22435f./ 750,17f.). Isenharts Tod erscheint in dieser Perspektive als Voraussetzung für einen gesellschaftlichen Aufstieg Gahmurets, des Vaters, für den damit der Weg in eine Position der Herrschaft über die beiden Königreiche frei wird. Die genealogische und herrschaftspolitische Argumentation des Feirefiz hat indes eine ‚blinde Stelle‘. Den Darstellungsgepflogenheiten der höfischen Epik um 1200 gemäß führt Gahmurets Weg zur Landesherrschaft nämlich nicht nur über eine außerordentliche Tüchtigkeit und einen überragenden Erfolg im Kampf, sondern auch über geschlechtliche Anziehungskraft, Be‐ gehren und Liebe. Wolfram zeigt auf, wie rasch Gahmuret der Selbstpräsentation Belakanes als trauernder ‚Witwe‘ erliegt und wie bereitwillig er daraufhin die ihm zugedachte Rolle des Retters annimmt. Und noch während er entwickelt, dass diu süeze, valsches âne (458/ 16,8) ihren großen Tugendpreis auf den toten Geliebten vorbringt und von Trauer um ihn überwältigt wird (758-817/ 26,10-28,9), lässt er in ihr ein Interesse an dem fremden Ritter erwachen, dessen Schönheit sie durch ihren Tränenschleier hindurch sehr wohl wahrnimmt - ein erzählerisches Arrangement, das die Komplexität menschlicher Gefühle unterstreicht und dabei zugleich menschliche Schwäche ausstellt. In der Verschiebung der Wahrnehmung von der Erinnerung an den toten Geliebten hin zu einer Aufmerksamkeit für und eine Faszination durch das lebende und lebendige Gegenüber liegt eine ähnliche Bewegung der Ersetzung wie wir sie in der Bemerkung des Feirefiz bereits beobachten 300 Elke Brüggen 26 Sophie Marshall, „Körper - Ding - Schrift im ‚Parzival‘ und ‚Titurel‘“, in: ZfdPh 137 (2018), S. 419-452, hier S. 424, Anm. 31, spricht von einer „Übernahme“ von der Position Isenharts als Freund Belacanes „und von dessen Helm und Rüstung“, wodurch sich „eine Identifizierung von Gahmuret mit Isenhart“ feststellen lasse. Für Marshall ist dies insbesondere wegen der „damit evozierten ‚Eisenhärte‘, d. h. Dinghaftigkeit“, von Interesse. Vgl. dazu dies., Unterlaufenes Erzählen. Psychoanalytische Lektüren zum höfischen Roman, Wiesbaden 2017 (MTU 146), hier S. 202-209, 230-238. 27 Der Beitrag von William Leckie Jr., „Mutable Substance. The Diamond Helmet and the Death of Gahmuret in Wolfram’s Parzival“, in: Arthurian Interpretations 3/ 2 (1989), S. 23-37, führt den Diamanthelm zwar im Titel, doch ist dieser für die Argumentation von untergeordneter Bedeutung: Leckie kommt lediglich auf den Seiten 29-31 auf ihn zu sprechen, wobei ihn vor allem die Erzählung von der Aufweichung der Härte des Helms durch Bocksblut beschäftigt, eine Vorstellung, der Friedrich Ohly eine eigene Studie gewidmet hat: Friedrich Ohly, Diamant und Bocksblut. Zur Traditions- und Auslegungsgeschichte eines Naturvorgangs von der Antike bis in die Moderne, Berlin 1976. 28 Stiftung einer Analogierelation zwischen Gahmuret und Isenhart im Zeichen des Todes, so Markus Stock; Identifizierung Gahmurets mit Isenhart und Reinszenierung Gahmurets als ‚neuer Isenhart‘, so Sophie Marshall. Vgl. Stock, „Das Zelt als Zeichen und Handlungsraum“ (wie Anm. 25), hier S. 78-85, bes. S. 82; Marshall, Unterlaufenes Erzählen (wie Anm. 26), hier S. 224-230. konnten: Der Held aus Anjou rückt an die Stelle des orientalischen Königssohnes, und das Bild Isenharts wird mit dem Bild Gahmurets überblendet. 26 In diesem Zusammenhang kommen ‚Dinge‘ aus Isenharts Besitz ins Spiel, die in der Folge in die Hände Gahmurets gelangen, mobile Gegenstände ritterlich höfischer Existenz: das bereits erwähnte Zelt Isenharts, das nicht nur auf dem Turnierplatz in Kanvoleiz Eindruck macht, die kostbaren Trinkgefäße aus Edelsteinen, gezierde von Azagouc (2503/ 84,21), mit denen der Held später, in dem besagten Zelt, Herzeloyde, die Königin und Landesherrin, bewirtet, sodann verschiedene Bestandteile der Rüstung Isenharts, unter ihnen der herr‐ liche adamas, der Diamanthelm, der den Tod des Kämpfers am Ende aber doch nicht abzuwehren vermag, da gegnerische ‚heidnische‘ Tücke ihn aufweicht, und er so die einzige, aber entscheidende Stelle für einen Angriff auf den ‚Unbesiegbaren‘ bereithält. 27 Auf welche Weise diese Dinge narrativ funktionalisiert sind, bedarf einer eingehenden Analyse, zumal die Erklärungsversuche, die in neuerer Zeit gegeben worden sind, schwerlich überzeugen können. 28 Verfolgen wir zunächst die Aneignung der Gegenstände durch Gahmuret. Der Helm ist Bestandteil der prunkvollen ritterlichen Ausrüstung, die Isenhart im Minnedienst für Belakane wegschenkte (793-796/ 27,15-18); offenbar wurde sie dem schottischen König Vridebrant, einem Verwandten Isenharts, überlassen. Während das riesige Zelt, das Bela‐ kane mit einem palas vergleicht (794/ 27,16), im Zuge des Krieges gegen Zazamanc nach Patelamunt verbracht wurde, um es dort zu nutzen, hat man den Helm und weitere Teile der Ausrüstung offenbar in Schottland gelassen. Daher kann das Zelt auf eine Intervention der Fürsten aus Azagouc hin unmittelbar nach dem schließlich erzielten Friedensschluss auf Gahmuret übergehen, während ihm der unvergleichliche Helm zunächst nicht zugänglich ist, ebenso wenig wie die übrigen Teile von Isenharts Rüstung es sind; der schottische Adlige Hiuteger stellt lediglich in Aussicht, sich nach seiner Rückkehr bei Vridebrant von Schottland dafür einzusetzen, Gahmuret den adamas zu überlassen (1559-63/ 53,7-11). Die Zusammenführung von ‚Figur‘ und ‚Ding‘, genauer: ‚Dingen‘, vollzieht sich dann im Zeichen von Kontingenz, markiert durch die Verwendung des Begriffs wunder, zusätzlich 301 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 29 Stock (wie Anm. 25), S. 79f. 30 Ebd., S. 81. aufgeladen durch das ihm beigegebene Adjektiv grôz (1707-21/ 58,5-19). Der eingangs ge‐ schilderte Wahrnehmungsvorgang - Gahmuret erblickt ein rotseidenes Segel am Horizont und verfolgt, wie es sich im Näherkommen aus den Weiten des Meeres herausschält und sukzessive fasslicher wird - bereitet auf ein als zufällig ausgewiesenes Ereignis vor: Der Ritter aus Anjou und König von Azagouc und Zazamanc, der seine schwangere Frau in aller Heimlichkeit verlassen hat und nun auf dem Weg nach Spanien ist, trifft auf dem Ozean ausgerechnet mit jenem Schiff zusammen, das genau den entgegengesetzten Kurs nimmt und mit dem die Boten König Vridebrants zu Belakane unterwegs sind, um seine Bitte um Verzeihung für die Kriegsschäden, die er verantwortet, mit der Übersendung von Isenharts Diamanthelm, Schwert, Ringpanzer und Beinkleidern zu untermauern. Isenharts Rüstung wird ihren ursprünglichen Bestimmungsort indes nicht erreichen; man könnte auch sagen: Der vom Erzähler gesteuerte Zufall will es, dass Gahmuret sie abfängt und sie an sich nimmt. Wie der Übergang von Zelt und Helm vom einen zum anderen, so erfolgt auch die eigentliche Inbesitznahme von Zelt und Helm Isenharts durch Gahmuret auf eine gänzlich verschiedene Weise. Wie Markus Stock herausgearbeitet hat, fungiert Isenharts Zelt in Zazamanc, vor den Toren von Patelamunt, in erster Linie als Mahnmal, das an den zu früh und unnötig Gestorbenen erinnert; niemand betritt es, eine Sicht in das Innere erhält man nicht: „Es ist […] vor allem Zeichen; es ist kein Handlungsraum“. 29 Auch vor Kanvoleis fungiert es als Zeichen, doch repräsentiert es hier bereits den ‚König von Zazamanc‘, so der Titel, der im zweiten Buch wiederholt auf Gahmuret angewandt wird. In Sichtweite von Herzeloydes palas schlägt man es auf, dreißig Packpferde hatten daran zu tragen gehabt; man musste einen Platz finden, der so geräumig ist, dass er es erlaubt, die langen Schnüre des gewaltigen Zeltes straff zu spannen (1794-1811/ 61,2-17). In einer höfischen Sphäre, die von der Suche einer jungfräulichen Königin um den besten Ritter und von der Konkurrenz unter den angereisten Bewerbern und Turnierwilligen bestimmt wird, ist das Zelt, das nun unter der dem Französischen entlehnten Bezeichnung poulûn firmiert (1840/ 62,18), sichtbarer Ausweis von Gahmurets Reichtum, Macht und Größe, und es trägt ihm sofort Bewunderung ein. Darüber hinaus wird es hier nun aber zu einem oft und vielfältig genutzten Handlungsraum. „Jenseits des Turnierplatzes ist es“, so noch einmal Stock, „der hauptsächliche Handlungsraum des zweiten Buches.“ 30 Es dient Gahmuret zunächst zur Inszenierung einer Überlegenheit, die ihren Ausdruck in Gesten findet, die als mangelndes Interesse, als Zurückhaltung oder auch als bewusste Wahrung eines Abstands zum Treiben der anderen gelesen werden können: Zu einem Zeitpunkt, als das Vorturnier längst in Gang ist (2021-2025/ 68,19-23), der hêrre undr sîme gezelte lac (2032/ 68,30). Später - mittlerweile hat er längst in das Turnier eingegriffen - empfängt er in einer Kampfpause die Gesandtschaft der Königin Ampflise von Frankreich, die ihm eine Heiratsofferte unterbreiten lässt und ihn bittet, vor Kanvoleis als ihr Ritter zu kämpfen; als er sich dann erneut zum Kampf rüstet, dürfen die Boten sein Zelt als Ruheort nutzen (2298f./ 77,26f.). Er selbst zieht sich in sein Zelt zurück, nachdem er einem Gegner ausgewichen ist, auf dessen mit der Spitze nach oben gerichteten Schild er die Wappenzeichen seines Bruders Galoes 302 Elke Brüggen 31 Vgl. Herzeloydes Adressierung Gahmurets: ‚ir sît hie wirt, dâ ich iuch vant. / sô bin ich wirtîn überz lant‘ (2465f./ 83,13f.). 32 Ein „Ort der Minne“, so Stock (wie Anm. 25), S. 81, ist es aber eher nicht. gesehen hat; er bricht seine Beteiligung an den Kämpfen ab, über die Haltung des Schildes und das Schicksal des Bruders sinnierend (2369-2407/ 80,7-81,15). Wenn Herzeloyde ihn in Begleitung ihrer Fürsten in seinem Zelt aufsucht, nimmt dieses den Charakter eines Herrschaftszeltes an, 31 dessen luxuriöse Innenausstattung eine zeremonielle Bewirtung der Königin erlaubt. In der Folge, wenn die konfligierenden Ansprüche ausgehandelt werden müssen, die von Herzeloyde und von den Abgesandten der französischen Königin an ihn herangetragen werden, wird es zum Ort der Diplomatie (2443-2634/ 82,21-89,2). 32 Während Gahmuret das Zelt somit einer neuen Nutzung zuführt, es ansonsten aber unverändert lässt, wird der Helm vor dessen Eintritt in das Turnier von Kanvoleis, und das heißt: bevor er ihn zum ersten Mal einsetzt, einer besonderen Bearbeitung unterzogen, indem ein edelsteinverzierter Anker darauf befestigt wird: daz was ein helm, dar ûf man bant einen anker, dâ man inne vant verwieret edel gesteine, grôz, niht ze cleine. (2075-78/ 70,21-24) Damit wird der einzigartige Diamanthelm jenen Ausrüstungsgegenständen angeglichen, die Gahmuret zuvor schon mit dem Ankerwappen hat versehen lassen, darunter 100 Lanzenbanner aus grüner Seide, alle mit drei Ankern aus weißem Hermelin geschmückt, so üppig, dass sie, eine Spanne unterhalb der Lanzenspitze befestigt, bis auf die Hand herabfallen (1735-45/ 59,3-13), und ein Schild, der, unterhalb eines runden Beschlags aus arabischem Gold, ebenfalls den Anker zeigt, dieses Mal aus schwarzem Zobel (2081- 87/ 70,27-71,3). Worauf es hier ankommt, ist der Vers, welcher der zitierten Aussage über den Helm unmittelbar vorausgeht: dô schouwet er den adamas (2074/ 70,20). Bereits mit dem Ringpanzer Isenharts gerüstet, nimmt Gahmuret demnach den Helm in Augenschein; und erst danach wird dieser mit dem individualisierenden Schmuck versehen, der es dem Erzähler erlaubt, das Zeichen und die mit ihm bezeichnete Person in einer metonymischen Relation zusammenzudenken, die Person als ‚Anker‘ agieren zu lassen. Diese der Figur at‐ tribuierte Wahrnehmung des Helms, die Aufmerksamkeit für den Gegenstand, unterbricht den Bericht über das Anlegen der Rüstung, sie bewirkt eine Zäsur. Die darauf bezogene Mitteilung stellt dieses Innehalten besonders aus. Doch warum? Wozu? Mir scheint, dass hier auf der Ebene der histoire und des Figurenhandelns im Medium eines Dinges ein Akt vollzogen wird, der die Substitution einer Person durch eine andere weiter vorantreibt. Was im Falle der Aneignung und Inbesitznahme von Isenharts Zelt allein durch eine neue pragmatische Einbindung erzielt werden kann - das Abschneiden der Erinnerung an den getöteten Ritter -, erfolgt im Falle des Helmes durch eine schlagende Markierung seiner neuen Zugehörigkeit, die keinen Raum mehr lässt für ein Gedenken an Isenhart. Die Beschriftung des Helms mit der Vita Gahmurets, die schließlich im Reich des Herrschers von Bagdad erfolgt (3197-3226/ 107,29-108,28), und die öffentlich inszenierte mündliche Übermittlung der Inschrift an die höfische Gesellschaft in Kanvoleis durch 303 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 33 Vgl. in diesem Zusammenhang Haubrichs (wie Anm. 21), ferner Friedrich-Emanuel Focken und Michael R. Ott, „Metatexte“, in: Focken und Ott (wie Anm. 2), S. 1-9; Nikolaus Henkel, „Die Stellung der Inschriften des deutschen Sprachraums in der Entwicklung volkssprachiger Schriftlichkeit“, in: Vom Quellenwert der Inschriften. Vorträge und Berichte der Fachtagung Esslingen 1990, hg. von Renate Neumüllers-Klauser, Heidelberg 1992 (Supplement zu den Sitzungsberichten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse VII. 1992), S. 161-187; Ludger Lieb, „Spuren materialer Textkulturen. Neun Thesen zur höfischen Textualität im Spiegel textimmanenter Inschriften“, in: Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider, hg. von Beate Kellner, Ludger Lieb und Stephan Müller unter Mitarbeit von Jan Hon und Pia Selmayr, Heidelberg 2015, S. 1-20; Otto G. Oexle, „Memoria in der Gesellschaft und in der Kultur des Mittelalters“, in: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt am Main/ Leipzig 1994, S. 297-323; Christiane Witthöft, „Finalität. Grabinschriften in der Untergangserzählung des ‚Prosalancelot‘“, in: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne, hg. von Udo Friedrich, Andreas Hammer und Christiane Witthöft, Berlin 2014 (Literatur - Theorie - Geschichte 3), S. 243-265. Tampanis, den Ersten unter den Knappen Gahmurets (3119-3227/ 105,11-108,29), 33 kann als konsequente und finale ‚Überschreibung‘ (im wörtlichen wie im übertragenen Sinne) gelesen werden, welche die Erinnerung an ein anderes Leben löscht. Einzig der Erzähler scheint an drei Stellen gegen das Vergessen anzugehen, wenn er Dinge erwähnt, mit denen Gahmuret sich umgibt: sein Zelt, seine Rüstung und die Trinkgefäße, die er mitführt: 1. Gahmurets Knappen schlagen unterhalb der Burg der Königin von Wâleis, in Sichtweite des palas, Gahmurets Zelt auf. die [die Knappen] heten sich berâten und sluogen ûf ein gezelt. umb unvergolten minnen gelt wart es ein künec âne. des twang in Belakâne. (1800-1804/ 61,8-12) 2. Gahmuret legt seine Rüstung an, um in die Kämpfe vor Kanvoleis einzugreifen. Nû was ouch Gahmuretes lîp in harnasche, dâ sîn wîp wart einer suone bî gemant, daz ir von Schotten Vridebrant ze gebe sande für ir schaden. mit strîte het er si verladen. (2067-72/ 70,13-18) 3. Die Königin und ihr Gefolge werden in Gahmurets Zelt mit kostbaren Trinkgefäßen bewirtet. bî einer wîle giengen schenken für mit gezierde von Azagouc, dar an grôziu rîcheit niemn trouc. die truogen junchêrren în. daz muosen tiure nepfe sîn von edelm gesteine, 304 Elke Brüggen 34 Insofern ist es in meinen Augen sehr nachvollziehbar, dass man darin, wie Markus Stock mit Blick auf das erste Zitat und mit Verweis auf einen Beitrag Ulrich Pretzels schreibt, „vor allem eine Verbindung zu Belakane gefunden hat“; dass „eine Anspielung auf Isenhart ebenso deutlich zu erkennen ist“, ist jedoch weniger evident (Stock [wie Anm. 25], S. 82). Dementsprechend überzeugen auch die nachfolgenden Überlegungen zum Vorliegen einer „Analogierelation im Zeichen des Todes“ (ebd., S. 82) nicht. 35 Walter Mersmann, Der Besitzwechsel und seine Bedeutung in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach und Gottfrieds von Straßburg, München 1971 (Medium Aevum 22). 36 Es heißt, dass man 30 Saumpferde benötigt, um das Zelt von einem Ort zum anderen zu bewegen, und dass es Mühe bereitet, es aufzubauen (1805f./ 61,13f.). wît, niht ze kleine. si wâren alle sundr golt. ez was des landes zinses solt, daz Îsenhart vil dicke bôt frôn Belakânen für grôze nôt. dô bôt man in ir trinken dar in manegem steine lieht gevar, smâreide und sardîn. etslîcher was ein rubîn. (2502-16/ 84,20-85,4) Bei genauerem Hinsehen handelt es sich bei diesen Referenzen aber kaum um direkte Bezugnahmen auf Isenhart - von diesem ist entweder, so in der der ersten Stelle, in anony‐ misierter Form (ein künec, 1803/ 61,11) die Rede, oder die Person wird gänzlich umgangen, regelrecht ausgeklammert - so geschieht es an der zweiten Stelle. Die gedankliche Brücke läuft hier über Belakane, und sie wird ausgewiesen, indem die Königin explizit genannt oder auf sie mit der Bezeichnung sîn wîp referiert wird. 34 An der dritten Stelle lässt der Erzähler den Namen ‚Isenhart‘ zwar tatsächlich fallen, löst ihn aber sogleich durch den Namen ‚Belakane‘ ab; indem er erwähnt, dass Isenhart dereinst seine edlen Trinkgefäße Belakane in der Hoffnung auf Minnelohn übereignet hatte, bildet die sprachliche Bewegung hier geradezu den Besitzwechsel, von dem ja die Rede ist, ab. Der Besitzwechsel - vielleicht darf man in diesem Zusammenhang noch einmal die gleichnamige, bereits vom Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts stammende, aber immer noch aufschlussreiche Studie von Walter Mersmann ins Spiel bringen 35 - steuert im Übrigen auch die anderen beiden Allusionen, die auf diese Weise hervortreten lassen, dass die Dinge, um die es geht, eine Herkunft und eine Geschichte haben, dass es einen Vorbesitzer respektive eine Vorbesitzerin gibt. Bei der Verbindung, die hier markiert wird, handelt es sich demnach primär um eine zwischen Gahmuret und Belakane und allenfalls vermittelt und nachranging um eine zwischen Gahmuret und Isenhart. Wie beim Zelt, dessen immenses Gewicht betont und bei dem die Mühe benannt wird, die es macht, es von einem Ort zum anderen zu bewegen und es zu errichten, 36 so wird auch beim Helm, beim Schild und bei den Lanzen die durch ihre Materialität bedingte Schwere hervorgehoben, die das Hantieren mit ihnen zu einer Herausforderung, ja einer spürbaren Belastung werden lässt (vgl. 2074-84/ 70,20-30; 2126f./ 72,4f.). Im Falle des Helms tritt zu dem erheblichen Gewicht eine große Hitzeentwicklung hinzu; wenn Gahmuret seinen Kampfeinsatz unterbricht, um sich ein frisches Pferd zuführen zu lassen, nimmt 305 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 37 Hartmann (wie Anm. 20), hier Bd. 1, S. 159. 38 Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, übersetzt von Susanne Held, Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5) (Bibliothek deutscher Klassiker 188), V. 2630-2660. 39 Ohly (wie Anm. 27). Dazu Leckie (wie Anm. 27), S. 30f.: „Friedrich Ohly carefully reviewed the long history of goat’s blood interpretation, but could find nothing which shed any specific light on the episode in Parzival. He concluded that the death of Gahmuret offered an example of Wolfram’s highly original use of received knowledge“. 40 Siehe dazu Marshall, Unterlaufenes Erzählen (wie Anm. 26), S. 202-209 und S. 230-238. Sie geht in ihrem entsprechenden Lektürevorschlag davon aus, dass Gahmuret, indem er sich die „besonders harte Rüstung“ Isenharts aneignet, „auch in ‚Isenharts‘ Identität“ schlüpfe (S. 203). Diese „Identifi‐ zierung“ lasse sich „im zweiten Buch noch weiterverfolgen - bis zur letzten Konsequenz“. „Nimmt man die in Buch II zu beobachtende Inszenierung weicher und harter Materialien in den Fokus, scheint Gahmuret die Geschichte Isenharts geradezu nachzuspielen und darin schließlich ebenso sein Ende zu finden“ (ebd.). Auf S. 204 spricht sie davon, dass Gahmuret als Ehemann Herzeloydes oder im Dienst für den Baruc „die ungeschützten, rüstungslosen Kämpfe Isenharts für Belacane zu reinszenieren“ scheine - schließlich liege sein Brustpanzer unter dem weichen Seidenhemd seiner Ehefrau, das er in den Kämpfen um Ninive statt eines konventionellen Waffenrocks trägt, versteckt. Ebenso wie diese Stofflichkeit, so transportiert nach Marshall auch die Aufweichung des Diamanthelms die Vorstellung einer Transformation Gahmurets zum „‚weiche[n]‘ Mann“, „was als letzte Konsequenz als Identifikation mit dem Heiden und dessen Geschichte gelesen werden kann“ (S. 204f.). Marshall spricht daher von Gahmuret als dem ‚neuen‘ Isenhart (vgl. S. 206). man ihm in der dadurch bedingten Pause auch den Helm und die darunter getragene Ket‐ tenkapuze ab (2235-41/ 75,23-29; 2292-96/ 77,20-24). Inwieweit man es hier mit einer auch anderweitig greifbaren literarischen Verarbeitung von realen Erfahrungen im Umgang mit den schweren Topfhelmen der Zeit zu tun hat, „unter denen man nur schlecht Luft“ bekam, wie Heiko Hartmann kommentiert, 37 sei dahingestellt. Auffallend ist in jedem Fall, dass der Erzähler das Absetzen des Helmes und das Herunterstreifen der Kettenkapuze nicht nur explizit motiviert - es geht um Luftzufuhr und Kühlung -, sondern überdies einen anderen Beweggrund abweist: Die Helfer handeln niwan durch des windes luft / und andrs durch decheinen guft (2239f./ 75,27f.). Im Hintergrund stehen lediglich praktische Gründe, keinesfalls ist Übermut am Werk. Man hat längst gesehen, dass sich diese Bemerkung doppelt beziehen lässt: intratextuell auf Isenhart, der in seinem Minnedienst für Belakane am Ende ohne Leibpanzer und Kopfschutz in die Zweikämpfe hineingeht, intertextuell auf Hartmanns Erec, der vor Prurin eine Kampfpause überstürzt beendet, weil er nur so eine Niederlage seiner Partei glaubt abwenden zu können, und dabei ‚vergisst‘, seinen Helm aufzusetzen. 38 In beide Richtungen stellt der Erzähler einen Anschluss her, um ihn sogleich zu negieren. Relevant erscheint dieser Umstand vor allem mit Blick auf die zweite, dieses Mal proleptisch angelegte intratextuelle Verknüpfung, die damit gegeben ist: den Verweis auf die Manipulation des Diamanthelms mit Hilfe von Bocksblut, 39 die ja nur erfolgen kann, weil Gahmuret seinen Helm und sein Hersenier während der Kämpfe in seinem neuerlichen Dienst für den Kalifen von Bagdad abnimmt, bedingt durch die große Hitze, wie noch einmal hervorgehoben wird (3123/ 105,15). Auch hier geht es demnach nicht um eine Mutwilligkeit, mit der das Schicksal herausgefordert werden soll, und auch nicht um eine psychologisch motivierte Nachlässigkeit. Gahmuret bewegt sich weder in der Spur Erecs noch in der Spur Isenharts. Letzteres, und darauf kommt es hier an, blockiert m. E. alle Versuche, Gahmuret im Lichte seiner Übernahme des Diamanthelms als ‚zweiten‘ oder ‚neuen‘ Isenhart zu deuten. 40 306 Elke Brüggen 41 Marshall, Unterlaufenes Erzählen (wie Anm. 26), S. 204. 42 Susanne Hafner, „Herzeloydes Hemd. Ein Dessous obenauf “, in: Sexuelle Perversionen im Mittelalter, hg. von Danielle Buschinger und Wolfgang Spiewok, Greifswald 1994 (Greifswälder Beiträge zum Mittelalter 31), S. 97-105, hier S. 97f. 43 Christiane Witthöft, „Kleidergaben im Liebes- und Freundschaftsdiskurs. Das Hemd der Herzeloyde, der Brangäne und anonymer Minnedamen in der Kleinepik“, in: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Margreth Egidi u. a., Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen 240), S. 119-140, hier bes. S. 123-128 [mit Verweisen auf ältere Literatur]. 44 Ebd., S. 125. 45 So der leicht gekürzte Untertitel eines Vortrags, den Sebastian Winkelsträter auf dem Doktoranden‐ kolloquium der Universitäten Bochum, Bonn, Düsseldorf, Köln, Münster und Siegen gehalten hat, das am 26.04.2019 unter dem Titel „Der Herrscher als Held“ stattfand; der vollständige Titel lautete: „Gahmuret was er genant, / gewaldec künec übr driu lant. Ein Herrscherleben im Lichte seiner Dinge (Rüstung - Wappen - Adamas)“. Ich danke Herrn Winkelsträter dafür, dass er mir das Manuskript seines Vortrags zur Einsicht überlassen hat. An dieser Stelle wäre noch auf ‚Herzeloydes Hemd‘ zurückzukommen, ein textiles ‚Ding‘, mit dem Gahmuret während seiner Ehe mit der Königin von Waleis und Norgals in seine Kämpfe zieht und das er auch in den Gefechten um Ninive trägt - es ist sînes halsberges dach (3003/ 101,13). Die Forschung tut sich bekanntlich ausgesprochen schwer mit diesem eigenwilligen Motiv und hat dazu divergierende, mitunter geradezu abenteuerliche Interpretationsversuche vorgelegt; die Zuschreibungen, die vorgenommen wurden, bewegen sich zwischen der Einstufung des Kleidungsstücks als apotropäischer Gabe, als Memorialzeichen, welches in der Absenz der geliebten Frau ihre Präsenz sichert, als Gegenstand, der die erotische Dimension der ehelichen Beziehung von Gahmuret und Herzeloyde akzentuiert; man sieht es als Mittel einer „Verkleidung“, mit der Gahmuret „die ungeschützten, rüstungslosen Kämpfe Isenharts für Belacane zu reinszenieren“ scheine, 41 oder gar als „Fetisch“, an dem er, es den Schwertschlägen und Lanzenhieben seiner Gegner aussetzend, stellvertretend seine durch die Dominanz Herzeloydes hervorgeru‐ fenen Aggressionsgelüste ausagiere. 42 Mittlerweile hat Christiane Witthöft das Meiste zurechtgerückt und dabei zwei Momente der Wolframschen Imagination in den Vorder‐ grund geholt: 43 erstens, dass Herzeloyde das Untergewand stets auf nackter Haut getragen hat, bevor sie es ihrem Mann gibt, und dass sie den blutverschmierten Fetzen erneut auf bloßer Haut trägt, wenn er mit Gahmuret aus den Kämpfen zurückkehrt; zweitens den Umstand, dass der Pfandcharakter des intimen Kleidungsstücks - es wird gegeben, um wieder in Empfang genommen zu werden - es von anderen in der höfischen Epik anzutreffenden Liebesgaben unterscheidet: „Das Pfand im agonalen Kontext des Kampfes ist in ein verstetigtes Zirkulationssystem eingebettet, wie es den Ideen von Marcel Mauss zugrunde liegt“ 44 . Solchermaßen bezeugt es in der Sicht des Erzählers die gegenseitige triwe als Qualität der ehelichen Liebe von Gahmuret und Herzeloyde (ir zweier minne man triwen jach, 3010/ 101,20). In dem Bemühen, ein „Herrscherleben im Lichte seiner Dinge“ zu greifen, 45 verdient das Zusammenspiel der ‚Annahme‘ des Hemdes (oder: der Hemden) Herzeloydes mit dem Ablegen des Anker- und der neuerlichen Übernahme des väterlichen Pantherwappens vermerkt zu werden - die Handlungen sind zeitlich synchronisiert und sie werden in einem 307 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 46 Daz pantel, daz sîn vatr truoc, / von zoble ûf sînen schilt man sluoc. / al kleine wîze sîdîn / ein hemde der künegîn, / als ez ruorte ir blôzer lîp, / diu nû worden was sîn wîp, / daz was sînes halsberges dach (2997-3003/ 101,7-13). 47 Zur Unverfügbarkeit von „dinghaft“ werdendem Körper und Schrift vgl. die Überlegungen von Marshall, „Körper - Ding - Schrift im ‚Parzival‘ und ‚Titurel‘“ (wie Anm. 26), S. 419-452. erzählerischen Bericht von gerade einmal sieben Versen zusammengespannt. 46 Diese beiden Charakteristika der Wappnung sind bei einer Evaluation von Gahmurets Erscheinung im Reich des Kalifen von Bagdad mitzudenken. Sie kennzeichnen ihn keineswegs als ‚neuen‘ Isenhart, sondern signifizieren, im Gegenteil, seine genealogische Anbindung an das Geschlecht derer von Anjou und seine Verbindung zur Königin von Waleis und Norgals. Das Zelt und die Trinkgefäße aus dem Besitz Isenharts geraten folgerichtig in Vergessenheit, und der Helm wird, die Härte als sein Proprium einbüßend, zum Träger einer Inschrift, die einzig der memoria Gahmurets dient. Als solcher bleibt er am Smaragdkreuz des aufwendigen Grabmals zurück, das man im Orient für den Helden errichten lässt; den Okzident erreicht in medialer Transformation (mündlicher Bericht statt Inschrift) nur die Mitteilung selbst. Was indes zurückkehrt, ist das Seidenhemd der Herzeloyde. Mit der abgebrochenen Lanzenspitze des Gegners im Kopf, sterbend, hat Gahmuret es noch vermocht, es nach Kanvoleis zu schicken (3153-63/ 106,15-25), wo man es mitsamt der ebenfalls übersandten Lanzenspitze, welche die Todesart anzeigt, in das Münster überführt. Am Ende firmiert es nicht länger als textiles Ding, sondern als daz bluot (3319/ 112,1): Die Körperflüssigkeit Gahmurets bestimmt die Wahrnehmung, das Ding wird zum Substitut einer Person, die nicht mehr in der Welt ist und deren Leichnam im Okzident „unverfügbar“ bleibt. 47 III Während die Forschung zum Parzival Wolframs von Eschenbach den außerordentlichen Reichtum an Figuren und deren komplexe narrative Beziehungsgeflechte als ein besonderes Charakteristikum des Textes bereits herausgestellt hat, wurden literarische Dinge bislang weniger beachtet. Ausnahmen sind der Gral und die Wundersäule auf Schastel Marveile, zwei Gegenstände, mit denen für die Parzival- und die Gawanhandlung jeweils zentrale Motive und Themen verbunden sind. Noch nicht genügend ausgeleuchtet wurden indes die narrativen Funktionen von weniger prominenten Dingen, die wiederkehrend vorkommen, in einen Zusammenhang mit der Darstellung von Figuren gebracht werden und für die Konstruktion der Handlung relevant sind. Dem vorliegenden Beitrag liegt die These zu‐ grunde, dass der Parzival als eine regelrechte ‚Dingsammlung‘ angesehen werden kann und dass die gesammelten Dinge durch die auch auf sie angewandte Technik der variierenden Wiederholung für die Frage nach der Konstitution der literarischen Textualität des Romans von hoher Bedeutung sind. Am Beispiel der ersten beiden Bücher des Parzival werden Dinge der höfisch-ritterlichen Welt in den Blick genommen, die zunächst Isenhart, dem im Zweikampf getöteten Geliebten der orientalischen Königin Belacane, zugeordnet sind, dann aber in die Hände Gahmurets gelangen, von diesem vereinnahmt werden und zusammen mit der Figur in neue Handlungsräume und -kontexte wandern. Die Betrachtung der Trias von Ding, Figur und Raum erlaubt die Rekonstruktionen von erzählerischen Prozessen 308 Elke Brüggen der narrativen Semantisierung, die bei den einzelnen Dingen durchaus unterschiedlich gestaltet sein können. Im Falle von Isenharts Zelt treten dabei Vorgänge einer ‚Umnutzung‘ hervor, die aus einem Ding, das zunächst als Zeichen für den Tod seines Besitzers und dann, in der Einflusssphäre Gahmurets, als Zeichen für den Reichtum und Macht des Königs von Zazamanc dient, einen Raum für multiple Vorgänge und Handlungen macht, indem es als Rückzugsort für den ermüdeten Kämpfer oder als geschützter Raum der Trauer ebenso eingesetzt werden kann wie als Rahmen für eine herrschaftliche Bewirtung oder für diplomatische Verhandlungen. Das Zelt selbst wird für diese neuen Nutzungsszenarien indes nicht verändert. Bei Isenharts Helm ist das anders: ihn lässt Gahmuret bearbeiten und mit dem eigenen Wappenzeichen versehen, was auf einen Akt der Ersetzung einer Person durch eine andere zu deuten scheint. Die spätere Beschriftung des Helms durch Gahmurets Vita führt die Substitution noch weiter. Als mit Schrift versehenes Artefakt verbleibt das für den Helden so wichtige wie fatale Ding dann im Orient; in den Okzident gelangt lediglich die auf ihm hinterlassene Botschaft, bar jeder Materialität, als sprachlich fixierte Memoria Gahmurets. 309 Gesammelte Dinge. Zur Poetik der Parzival-Dichtung Wolframs von Eschenbach 1 Marie de France, Les lais, hg. von Jean Rychner, Paris 1983 (Les classiques français du Moyen Âge 93), S. 151-154, hier 154; nhd. Übersetzung: Marie de France, Die Lais, übers., mit einer Einleitung, einer Bibliographie sowie Anmerkungen versehen von Dietmar Rieger, München 1980 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 19), S. 373. Zu Problemen der Übersetzung von V. 109f. (alternativ: „so wie die Königin es gelesen hatte“ oder „und um dessentwillen, was er - so wie die Königin es gesagt hatte - aufgeschrieben hatte“) siehe Rychner (wie Anm. 1), S. 279f. (Anm. zu V. 109f.) und Rieger (wie Anm. 1), S. 373, Anm. 102. Vgl. auch den ‚Freudenlai‘ (lai de joie) anlässlich Érecs Siegs über Mabonagrain, den die Damen in Érec et Énide (um 1170) des Chrétien de Troyes singen (V. 6183-6189, in: Erec und Enide von Christian von Troyes, hg. von Wendelin Foerster, Halle a. S. 1890 [Christian von Troyes sämtliche Werke 3], S. 220), entsprechend auch im Erec (um 1180) Hartmanns von Aue (V. 9656-9665, in: Hartmann von Aue, Erec. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente, hg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner, Tübingen 2006 [ATB 39], S. 283). Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns im fiktionalen Raum der matière de Bretagne Stefan Abel Auf dem Weg durch den Wald entdeckt Iseut einen Haselnussstock, in den Tristrams Name eingeritzt ist, und somit weiß sie, dass der seit einem Jahr aus Cornwall verbannte Geliebte ganz in der Nähe ist und auf sie wartet. Mit ihrer treuen Dienerin Brenguein entfernt sich Iseut vom übrigen Gefolge und trifft alsbald auf ihren Tristram. Von dieser freudvollen Begebenheit berichtet der Lai du chèvrefeuille, den Marie de France im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts wiedererzählt. Wie in seinem Prolog angekündigt, führt der Lai ganz am Ende aus, warum er überhaupt verfasst worden sei: Pur la joie qu’il ot eüe De s’amie qu’il ot veüe E pur ceo k’il aveit escrit Si cum la reïne l’ot dit, Pur les paroles remembrer, Tristram, ki bien saveit harper, En aveit fet un nuvel lai (Lai du chèvrefeuille, V. 107-113). Aus der Freude heraus, die er über das Wiedersehen mit seiner Geliebten empfunden hatte, und um[, so wie es ihm die Königin aufgetragen hatte, an die Nachricht, die er geschrieben hatte, und an die untereinander ausgetauschten Worte, S. A.] zu erinnern, hat[te] Tristram, der gut Harfe spielen konnte, darüber einen neuen Lai verfertigt. 1 Freude (joie) über ein glückliches Ereignis und die Erinnerung daran ([p]ur […] remembrer) - diese beiden Impulse für Tristrams fiktive, literarische Betätigung auf Iseuts Wunsch hin, 2 Vgl. Ineke Hess, „Vom Sammeln und Anschauen in der literarischen Kommunikation des Mittelal‐ ters“, in: Triangulum 21 (2015), S. 255-264. 3 Im Folgenden zitiert nach: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin (1331-1336). Eine Ergän‐ zung der Dichtung Wolframs von Eschenbach zum ersten Male hg. von Karl Schorbach [Sch], Straßburg 1888 (Elsässische Literaturdenkmäler aus dem XIV.-XVII. Jahrhundert 5); Überlieferung: Karlsruhe, Landesbibl., Cod. Donaueschingen 97 (1331-1336, Elsass; Parzival-Hs. V); Rom, Bibl. Casanatense, Ms. 1409 (14. Jh.; Parzival-Hs. V’). Zum Verhältnis dieser beiden Textzeugen siehe zuletzt: Richard F. Fasching, „Original und Kopie des ›Rappoltsteiner Parzifal‹. Handschriftliche Überlieferung und Textgenese im 14. Jahrhundert“, in: Michael Stolz, Parzival im Manuskript. Profile der Parzival-Überlieferung am Beispiel von fünf Handschriften des 13. bis 15. Jahrhunderts. Mit einem Beitrag von Richard F. Fasching, Basel 2020, S. 145-271. 4 Im Folgenden zitiert nach: Prosalancelot, nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147, hg. von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017-8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris, übers., komm. und hg. von Hans-Hugo Steinhoff, 5 Bde., Frankfurt a.M. 1995-2004 (Bibliothek des Mittelalters 14-18). 5 Vgl. Peter Strohschneider, „âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze“, in: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, hg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann und Burkhard Hasebrink, Berlin 2006 (Trends in Medieval Philology 10), S. 377-383. 6 Im Folgenden zitiert nach: Wolfram von Eschenbach, Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übers. von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der Parzival-Interpretation von Bernd Schirok, Berlin 2 2003 (de Gruyter Texte). und dies macht die enge Verwandtschaft von Dichten und Sammeln evident, 2 spielen auch für die Motivierung fiktiven, ästhetischen Sammelns von Erzählungen eine entscheidende Rolle; namentlich von mündlichen Aventüreberichten und -erzählungen der Artusritter vor dem König, die letztlich, auf dessen Befehl, in einem ‚Artusbuch‘ schriftlich fixiert werden. Damit sind sie in der kollektiven Erinnerung verankert und werden dadurch, dass die Aventüren beim (Wieder-)Erzählen gesammelt werden, Teil einer Erzähltradition. Solche Sammelbzw. Schreibszenen oder -rituale, die im Folgenden betrachtet werden, finden sich zum einen im Rappoltsteiner Parzifal (1331-1336) 3 und seinen altfranzösischen Vorlagen, zum anderen im Prosa-Lancelot (vor 1250 bzw. um 1300), 4 der vorlagentreuen Übersetzung des altfranzösischen Lancelot en prose (1215-1230), teils über mittelniederlän‐ dische Vermittlung, in entsprechend drei Teilen (Lancelot propre, Queste del Saint Graal und Mort le Roi Artu). Der doppelte Transfer - von Aventüre-Handlung zu Aventüre-Erzählung 5 und von fiktiver Mündlichkeit zu fiktiver Schriftlichkeit - erfolgt in diesen Szenen stets in festlichem und somit freudigem Rahmen am Artushof, entweder ganz am Ende der Handlung oder an wichtigen Handlungseinschnitten. I Sammeln von Erzählungen Der elsässische Rappoltsteiner Parzifal, ein ‚Gemeinschaftswerk‘ von Dichtern (Claus Wisse und Philipp Colin), einem jüdischen Übersetzer (Samson Pine) und mehreren Schreibern (darunter ein gewisser Henselin), verbindet den Parzival Wolframs von Eschenbach 6 mit einigen Minnesangstrophen (sog. Rappoltsteiner Florilegium), vor allem aber mit deutschen Übertragungen (sog. Nuwer Parzifal) altfranzösischer Conte du Graal-Fortsetzungen. Sie führen den um 1190 unvollendet hinterlassenen Conte du Graal Chrétiens de Troyes bis zur 312 Stefan Abel 7 The Third Continuation, hg. von William Roach, Philadelphia 1983 (The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 5), S. 332-336. 8 Die im Folgenden zitierten Einschübe aus Ep. 29 der Troisième Continuation im Rappoltsteiner Parzifal sind ediert in: Parzifal von Claus Wisse und Philipp Colin (wie Anm. 3), S. LI-LIII (nur nach Parzival-Hs. V). 9 Vgl. Manessier, Troisième Continuation: Asez ont ensamble parlé / Et en oiant et en celé. / Et li rois trestoz apela / Les barons, quant qu’il en vint la, / Et lor prïa molt doucement / Que il desor lor serement / Deïssent, si com il devoient, / Trestot ce que trové avoient / En tant cum orent hors esté. / Si cum chascuns l’ot creanté, / Trestot de maintenant le conte, / Ou soit s’enor ou soit sa honte (V. 42335-42346, in: The Third Continuation [wie Anm. 7], S. 333); nhd. Übersetzung: „Bald sprachen sie vor aller Ohren miteinander, bald insgeheim, und der König rief alle anwesenden Barone zusammen, und auch die anderen Ritter seines Reiches ließ er eindringlich, jedoch mit sanften Worten bitten, sie möchten laut ihres Eides sich versammeln, wie es sich gebührte. Es sollten alle erscheinen, die sich auswärts befanden, so wie jeder versprochen hatte, und jeder solle seine Abenteuer erzählen, sei es zu seiner Ehre oder zu seiner Schande“ (Perceval der Gralskönig. Ende der Erlösung des Fischerkönigs fort. Die zahlreichen Episoden aus der Première Continuation (ab Ep. I,7) eines unbekannten Dichters, der Deuxième Continuation des Wauchier de Denain und der Troisième Continuation des Manessier, die allesamt bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sind, sind als Nuwer Parzifal größtenteils zwischen die Bücher XIV und XV des Wolframschen Parzival eingeschoben. Die beiden letzten Episoden von Manessiers Fortsetzung, die zweite Hälfte von Ep. 29 und Ep. 30 in Gänze, sind hingegen in Auswahl und gestückelt in die Bücher XV und XVI eingegangen. Ep. 29 enthält nun eine Szene (V. 42335-42437), 7 in der Artus seine Ritter von ihren Aventüren berichten und diese Berichte verschriftlichen lässt. Sie ist im Rappoltsteiner Parzifal (V. 769,28 1-22 und 772,30 1-74 ), 8 ganz passend, um die Listen der von Feirefiz und Parzival besiegten Gegner herum platziert (Parzival, V. 769,29-30 und 770,1-772,30), an Textstellen von Buch XV also, an denen ohnehin von vergangenen Aventüren und ritterlichen Erfolgen Bericht erstattet wird. Im Gegensatz zu den im Nuwen Parzifal zuvor auserzählten Aventüren und den später folgenden, auf Vollständigkeit bedachten Aventüreberichten geschieht dies in den zwischen extremer abbrevatio und amplificatio stehenden Triumphlisten jedoch nur in fragmentierter Sprache und nur mittels Anspielungen auf rein potentielle Erzählungen, die in den aufgelisteten Eigennamen verdichtet sind. Denn mit diesen zum einen antikisierenden (Feirefiz’ Liste), zum anderen französisierten Eigennamen (Parzivals Liste), welche die Aventüreräume der beiden Halbbrüder onomastisch voneinander abgrenzen, verbinden sich keine konkreten, zuvor erzählten Handlungsabschnitte des Parzival. Da die übervollen Listen stilistisch wohl dazu genutzt werden, um Komik (des Übermaßes) zu erzeugen, sollen sie das auch gar nicht. Somit kollidiert im Rappoltsteiner Parzifal die copia nominum der Wolframschen Triumphlisten mit der copia gestorum der altfranzösischen Fortsetzungen (davon 120 Episoden in 36950 Versen) von Chrétiens Conte du Graal. In Wolframs Parzival und somit auch im Rappoltsteiner Parzifal führt Parzival / Parzifal seinen Halbbruder Feirefiz nach Joflanze, wo es schließlich zum Gespräch zwischen König Artus und Feirefeiz kommt (V. 766,19-769,28). In dessen Verlauf äußert Artus den Wunsch von liute und lant zu erfahren, die Parzifal und Feirefiz auf ihren Aventürefahrten kennengelernt hätten, und es setzt darauf der erste, 22-versige Einschub (V. 769,28 1-22 ) aus Ep. 29 (V. 42335-42354) von Manessiers Troisième Continuation ein, und zwar in deutscher Übertragung: 9 Auf Artus’ Geheiß erfährt die gesellige Kommunikation am 313 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns zweiten und dritten [Manessier-]Fortsetzung von Chrestien de Troyes’ ‚Perceval‘, übers. von Konrad Sandkühler, Stuttgart 1964, S. 218f.). Der Einschub (V. 769,28 1-22 ) ist insofern nicht ganz ‚sauber‘ in den Wolframschen Text des Rappoltsteiner Parzifal integriert, als König Artus zunächst nur Parzival und Feirefiz anspricht - von iu beiden samt ist daz mîn ger, / ir saget mir liute unde lant, / die iu mit strîte sîn bekant (V. 769,26-28) -, er dann aber plötzlich alle anderen Artusritter herbeiruft, damit auch diese von ihren Aventüren berichten (vgl. V. 769,28 3-12 ). 10 Manessier, Troisième Continuation, Ep. 20-24 / V. 39970-40974, in: The Third Continuation (wie Anm. 7), S. 258-290. 11 Die Parzival-Hs. V’ (vgl. Anm. 3) kürzt die beiden Triumphlisten in hohem Maße. Übrig bleiben, teils unter textlicher Modifikation, nur V. 770,1-4, 7 f. und statt 9-30: Dannoch sage ich uch zv wunder / Daz ich han betwungen / Me wan driszig kvnige vnd herzogen / Die rede ist ane lougen; V. 771,9-14, 20 f., 23-27 und 30 sowie V. 722,1-3, 5 und statt 6-30: Vnd nach wol zweinzig kvnige vnd herren genant / Der namen mir alle sint erkant / Ane der namen mir sint vnknvt / Der ist nach vile aldo zv stunt. Siehe auch Fasching (Anm. 3), S. 264-266. 12 Wauchier de Denain, Deuxième Continuation, Ep. 35 / V. 32265-32594, in: The Second Continuation, hg. von William Roach, Philadelphia 1971 (The Continuations of the Old French Perceval of Chretien de Troyes 4), S. 500-512. Hof eine erste Art von Strukturierung (oder Disziplinierung), denn die zunächst ziellos geführten Gespräche zu Beginn - [s]ü rettent mitteinander vil gar / heimliche und offenbar (V. 769,28 1f. ) - führen von da an in eine ganz bestimmte Richtung: Sämtliche Artusritter sind dazu aufgefordert, daz ieglicher seite uf der stat / bi dem eide, den er imme hette getan, / waz imme widervarn were sunder wan, / die wile iederman usser lande waz (V. 769,28 6-9 ). Aus den losen Gesprächen untereinander werden so autoptische Aventüreberichte nach dem ordo naturalis vor dem König und seiner gesamten Entourage, denn im Folgenden kommen die Ritter Artus’ Bitte nach und berichten wahrheitsgemäß, es were in schande öder erlîch (V. 768,28 12 ). Als erste tun dies Bohort und Lionel (V. 769,28 13-20 bzw. Ep. 29, V. 42347-42354), wie sü einander funden, nachdem sie sich zwei Jahre lang aus den Augen verloren hätten, und wie ietwederre mit dem andern vaht (V. 769,28 24f. ), außerdem wie Calogrenant / Kolagrenans getötet worden sei. Dies alles bezieht sich auf Ep. 20-24 von Manessiers Fortsetzung (vgl. Rappoltsteiner Parzifal, Sch 789,14-812,34): 10 Einst musste Bohort seinen in Gefangenschaft geratenen Bruder Lionel im Stich lassen, um einer zeitgleich in Not geratenen Dame zu helfen. Lionel, später von Gauvain befreit, schwört Rache für die unterlassene Hilfeleistung. Beim brüderlichen Wiedersehen kommt es zum Kampf. Nur dank Kolagrenans’ Eingreifen kann verhindert werden, dass Lionel seinen Bruder enthauptet. Lionel schlägt Kolagrenans jedoch zurück und tötet ihn dabei. In Joflanze stürzt die Nachricht über dessen Tod den Artushof in tiefe Trauer - umbe Kolagrenans tot tugenthaft / trurte der künig und alle die ritterschaft (V. 769,28 19f. ) -, doch dann schaltet sich Feirefiz ein, der nun gerne alle seine Gegner benennen möchte, die er im Kampf besiegt habe. Es folgen darauf Feirefiz’ und auch Parzifals Triumphlisten nach Wolfram von Eschenbach (Rappoltsteiner Parzifal, V. 769,28 21f. -772,30 [Hs. V 11 ]). Im Anschluss daran setzt der zweite, diesmal 74-versige Einschub (V. 772,30 1-74 ) aus Ep. 29 (V. 42355-42428) ein: Parzifal benennt darin die wichtigsten Stationen seiner Aventürefahrt, die in Ep. 35 der Deuxième Continuation  12 und in früheren Textpassagen der Troisième Continuation (Ep. 1, 12, 13, 26-28 und teils 29, V. 42422-42428) auserzählt werden, und so auch im Rappoltsteiner Parzifal (Sch 602,35-625,21, 722,9-751,41 und 821,17-846,9), 314 Stefan Abel 13 Parzifal erzählt auch von einer zuvor nicht auserzählten Aventüre, deren Quelle unbekannt ist: darnach seite er vomme boume zehant, / da uffe er die kerze bürnen vant, / und von deme rittere darnoch, / der in valte von sime rosze hoch, / dovon er so zornig wart (V. 772,30 17-21 ). Erwähnung findet ein (anderer? ) mit unzähligen Kerzen bestückter Baum, auf dem ein Kind sitzt, in Ep. 34 (V. 32028- 32264) der Deuxième Continuation, kurz vor Percevals Ankunft in der Burg des Fischerkönigs (vgl. Rappoltsteiner Parzifal, Sch 596,46-602,34), ebenso, in Ep. 12 der Troisième Continuation, die Kapelle: und von der cappellen die er vant / und von der swarzen hant, / mit der er so stergliche vaht, / und wie er zerbrach mit maht / daz zouber und daz wunder, / daz man alle tage vant bisunder / ein erslagen ritter do / uffe dem alter ligen ieso (V. 772,30 9-16 ; vgl. Troisième Continuation, Ep. 12, V. 37141-37862 bzw. Rappoltsteiner Parzifal, Sch 722,9-738,42). Perceval erfährt später, dass der Baum ein Zeichen (senefiance) dafür sei, dass er bald mehr über Lanze und Gral erfahren werde; vgl. The Second Continuation (wie Anm. 12), S. 491-500. Wohl aufgrund der Diskrepanz zwischen zuvor auserzählten Aventüren und dem späteren Aventürebericht - und weil hier auf eine ritterliche Niederlage Parzifals verwiesen wird - verzichtet Hs. V’ des Rappoltsteiner Parzifal (vgl. Anm. 3) auf V. 772,30 17-20 und ersetzt 772,30 21 durch Vnd von dem bovme dar uff bran dy kirze zart. Weitere Streichungen (V. 772,30 40-42 , 30 44-53 , 30 56-65 , 30 69f. sowie 30 72-74 ) dienen wohl allein der Kürze. 14 Im Anschluss an den gesamten Einschub von V. 772,30 1-74 folgen im Rappoltsteiner Parzifal V. 773,1- 774,12 gemäß Wolframs Parzival: Feirefiz freut sich über die ritterlichen Erfolge seines Halbbruders Parzival; der Artushof staunt über Feirefiz’ prächtige Rüstung. Dies hat keine Entsprechung bei Manessier. Auch V. 774,13-778,12 (Artus veranstaltet ein Fest für Feirefiz) haben kein direktes Pen‐ dant in der Troisième Continuation, denn darin setzen sich, sobald alle Ritter ihre Aventüreberichte erstattet haben (quant chascuns ot conté son conte, / Si com l’estoire le raconte [Ep. 29, V. 42439f.]), der König und seine Artusritter zu Tisch und leiten damit ein freudvolles, achttägiges Fest ein. Erst mit V. 778,13 bzw. Ep. 29, V. 42438 (Ankunft der Gralsbotin) ziehen Parzival bzw. Rappoltsteiner Parzifal und Troisième Continuation wieder gleich. darunter etwa die erneute Sichtung von Lanze, Gral und des zerbrochenen Schwertes (V. 772,30 1-8 bzw. Ep. 29, V. 42355-42362) und der Kampf gegen Partinal / Partinias, Mörder von Goondesert / Gouns Wueste, dem Bruder des Fischerkönigs, sowie die letztendliche Heilung des Fischerkönigs durch die Schau des von Parzifal abgeschlagenen Kopfes des Brudermörders Partinias (V. 772,30 54-60 bzw. Ep. 29, V. 42408-42414). 13 König Artus lässt diesen Aventürebericht genau, von worte ze wort, in ein Buch schreiben, und auch waz ieder ritter aventüre seite. Und dieses Buch lässt der König aufbewahren: der hies es alles schriben dar an ein buoch von worte ze wort. die aventüre wolt er han für ein ort und waz ieder ritter aventüre seite hies er ouch schriben algereite, der guote künig eren vol, und hies es gehalten wol (Rappoltsteiner Parzifal, V. 772,30 68-74 ). 14 Manessiers Fortsetzung wird an diesem Punkt deutlicher, da darin Artus das Buch ins südenglische Salisbury (Saleberes), die königliche Abtei, bringen lässt - so auch im Prosa-Lancelot (siehe unten) -, um es dort archivalisch in einem Bücherschrank (aumaire) fest verschließen zu lassen (Entzug), und zwar en memoire, um der Nachwelt die arthurische Vergangenheit in Erinnerung zu halten und, in Gestalt des ‚Artusbuchs‘, dauerhaft und vor allem für den zukünftigen Gebrauch verfügbar zu halten (Latenz): 315 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 15 Nhd. Übersetzung: Perceval der Gralskönig (wie Anm. 9), S. 220. Zur Funktion des Archivs siehe Peter Strohschneider, „Das neue Alte. Museum und Archiv, Sammeln und Forschen“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60 (2016), S. 635-651: „Während das Museum Schriftstücke monu‐ mentalisiert zum Zwecke gegenwärtiger und vergegenwärtigender Anschauung, dokumentiert das Archiv solche Schriftstücke für späteren Gebrauch. Schriftstücke haben also einen monumentalen und zugleich einen dokumentarischen Aspekt. […] In beiden Fällen liegt eine Spannung von Entzug und Aktualisierung vor, freilich im Museum als Gleichzeitigkeit von Präsenz und Absenz, im Archiv hingegen in diachroner Abfolge: Schrifttext wird laufenden Lektürezusammenhängen entzogen, um in zukünftigen neu verfügbar zu sein. Das Funktionsprinzip des Archivs heißt also nicht Aura von monumentaler Schrift, sondern Latenz von dokumentarischem Text“ (S. 647). 16 Zur Identität des Ulrich von Rappoltstein (Ribeaupierre) siehe Fasching (wie Anm. 3), S. 169-171: 1. Ulrich, Sohn Anselms († 1311) des Ritters und Herren zu Hohen-Rappoltstein, noch 1335 als Domherr in Straßburg tätig, 2. Ulrich, Sohn Heinrichs III., 1328 als Komptur der Dorlisheimer Johanniter bezeugt, 3. Ulrich IV. († 1377), Sohn Johanns († 1362) des Ritters und Herren zu Hohen-Rappoltstein und ab 1321 auch zu Hohenack, 1337 als Domherr in Basel und Kirchherr von Reichenweier bezeugt, ab 1341 auf Burg Hohen-Rappoltstein und seit 1353 mit Herzelaude († um 1362) vermählt, Tochter des Grafen Gottfried von Fürstenberg-Haslach und der Gräfin Anna von Montfort (beide † 1341). Et li rois fist metre en escrit, Si com raisons ert et droiture, Les nons de ceus et l’aventure Tele conme chascuns la dist; Et a Saleberes la fist Li bons rois Artus en memoire Seeler dedanz une aumaire. (Troisième Continuation, Ep. 29, V. 42422-42428) [Der König ließ, S. A.] aufschreiben, wie es recht ist und wie es geschehen ist: d[ie] Namen dieser Ritter und das Abenteuer eines jeden, so wie er es berichtete. Alles dies befahl der gute König Artus in Salisbury aufzuschreiben und mit Siegel zum Gedächtnis aller Zeiten in einem Schrein zu verwahren. 15 Salisbury ist im Prosa-Lancelot Austragungsort der letzten Schlacht König Artus’, folglich derjenige Ort, an dem nicht nur Artus’ Leben sein Ende nimmt, sondern auch das ‚Artusbuch‘ abgeschlossen ist, sowohl physisch als auch narrativ. Mit der realgeographi‐ schen Situierung und damit Historisierung des archivierten ‚Artusbuchs‘ überschreitet die Fortsetzung, und der Prosa-Lancelot tut es ihr in vergleichbaren Sammelszenen gleich, die Grenzen der fiktiven Welt hin zur außerliterarischen Wirklichkeit. Der Rappoltsteiner Parzifal weiß nichts von der Überführung des ‚Artusbuchs‘ nach Salisbury, da er eine andere Art der ‚Grenzüberschreitung‘ wählt, nämlich statt der realgeographischen Situierung die Tradierung an eine realhistorische Person, und zwar an (einen) Ulrich von Rappoltstein, 16 den Auftraggeber der Kompilation: Dem vorlagenunabhängigen Epilog (Sch 845,14-858,26) zufolge sei das ‚Artusbuch‘, ein welsch buoch, an Ulrich gelangt, und in einem ‚Herzensbrief ‘ an Ulrich, von dem der Epilog auch erzählt, bittet die allegorisierte Minne den Rappolt‐ steiner um Übertragung des ‚Artusbuchs‘ ins Deutsche: sit ez nu kommen ist an dich, daz dunket gelücke und heil mich. 316 Stefan Abel 17 Mit dem ‚Artusbuch‘ bereitet „der mythisch-ideale Mittelpunkt höfischer Vergemeinschaftung nicht nur […] sein eigenes Historischwerden durch Archivierung der ritterlichen Abenteuer-Erzäh‐ lungen im königlichen Hauskloster gewissermaßen vo[r]. Sondern dieser Mittelpunkt wird sich hier vielmehr selbst schon historisch. Artus lässt nämlich die Erzählrituale nicht etwa schriftlich archivieren, damit sie zu späterer Zeit erneutes ritterliches Ordnungshandeln in Gang setzen, sondern vielmehr zu dem speziellen Zwecke eigenen Divertissements in den Pausenzeiten höfischen Repräsentationsgeschehens“ (Peter Strohschneider, Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur, Heidelberg 2014 [GRM-Beiheft 55], S. 319f.). ez sol dich iemer an eren frommen, ez ist an rehten erben kommen. daz sprich ich uf die truwe min: künig Artus mueste din mog sin, wan er ouch sine stunde domitte kürzen begunde daz er lesendez sich gewag. so er hofierendez nüt enpflag, so waz ez sine kurzewile groz. daran bist du sin genoz, du hest von imme geerbet daz. nu erbe ouch von im fürbas und tuo die edeln sachen von welsch zuo tützsche machen, daz ez nüt blibe erbelos. (Rappoltsteiner Parzifal, Sch 850,19-35) 17 Ulrich steht als ‚Artuserbe‘ somit in einer historischen Tradierungskette. Er ist Empfänger und Vermittler des Erbes zugleich, das nur dank ihm weiterlebe, mit dem sprachlichen Transfer vom Französischen ins Elsässische (Alemannische) eben auch in einem anderen Sprach- und Kulturraum. Und diese Erbschaft wird dingsymbolisch nicht mit der Übergabe etwa eines (Gralsbzw.) Artusschwertes inszeniert (Parzival), sondern eines ‚Artusbuchs‘. II Sammlung und Strukturierung von ‚Erzählobjekten‘ Dass Aventüreerlebnisse in Form von mündlichen Augenzeugenberichten (adtestationes rei visae) gesammelt in einem Buch verschriftlicht werden, um die Erinnerung an sie zu bewahren, ist bei Weitem nichts Ungewöhnliches, vielmehr wohl der primäre Grund dafür, Erlebnisse und Ereignisse schriftlich festzuhalten, im Artusroman ebenso wie in der außerliterarischen Wirklichkeit. Wie in einer realen Sammlung materieller Objekte werden dort nach Maßgabe eines Sammelbegriffs, der Gleiches zu Gleichem subsumiert, ‚Aventüren von Artusrittern‘, zunächst in Form mündlicher Erlebnisberichte, zusammengeführt und schriftlich zusammengefügt. Durch den Transfer vom fiktiven Aventüre- oder Streuungs‐ raum an den Artushof, den äußeren, gleichfalls fiktiven Sammlungsraum, sowie in die Schriftlichkeit des fiktiven ‚Artusbuchs‘, des inneren Sammlungsraums und protektiven ‚Behälters‘, entsteht etwas, das über die Summe der gesammelten ‚Erzählobjekte‘ hinaus‐ 317 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 18 Zu den Begrifflichkeiten des Sammelns (Streuungs-, Sammlungsraum, Behälter, Binnenbedeutung usw.) siehe Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a. M. 6 1999, passim. 19 Text nach: Erec und Enide (wie Anm. 1), S. 1; nhd. Übersetzung: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übers. und eingel. von Ingrid Kasten, München 1979 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17), S. 13. 20 Text nach: Erec und Enide (wie Anm. 1), S. 1; nhd. Übersetzung: „[Von Erec, dem Sohn Lacs, handelt die Geschichte,] die jene vor Königen und Grafen zusammenhanglos zu erzählen und zu verderben pflegen, die vom Erzählen leben wollen“ (Kasten [wie Anm. 19], S. 13). 21 „Dabei schließt die conjointure das richtige Verhältnis der Einzelteile ein, ihre Proportionalität, an der sich zugleich ihr Wahrheitswert mißt: ‚pulchritudo - integritas sive perfectio‘. Soweit die ‚Zusammenfügung‘ der poetischen Elemente ‚schön‘ ist, ist sie auch ‚wahr‘: die schöne Dichtung ist, weil sinnvolle Ordnung der zerstreuten Wahrheitsmomente, zugleich Wahrheitsfindung, ist Auffinden und Ordnen der in der Mischwelt der Erscheinungen verdeckten Momente zu einer die göttliche Wahrheit spiegelnden estoire. Der sans, das Diskretionsvermögen des höfischen Dichters, erkennt den san, der im conte d’avanture bereitliegt, die partizipierende Ratio des Dichters den Widerschein der göttlichen Ratio im Geschehnis, das der Stoff einschließt“ (Erich Köhler, „Zur Selbstauffassung des höfischen Dichters“, in: Der Vergleich. Literatur- und sprachwissenschaftliche Interpretationen. FS Hellmuth Petriconi, hg. von Rudolf Grossmann, Walter Pabst und Edmund Schramm, Hamburg 1955 [Hamburger romanistische Studien. A 42 / B 25], S. 65-79, hier 72). 22 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: denkströme 8 (2012), S. 9-26, hier 18. geht, nämlich eine sinntragende Struktur. 18 Und diese Struktur ist wohl gleichzusetzen mit der mout bele conjointure, die Chrétien de Troyes im Prolog seines Erecromans aus einer landläufig bekannten Abenteuergeschichte (conte d’avanture) gestaltet, Que reisons est que totes voies Doit chascuns panser et antandre A bien dire et a bien aprandre, Et tret d’un conte d’avanture Une mout bele conjointure (Érec et Énide, V. 10-14). [Deshalb erklärt Chrétien de Troyes,] daß es jedenfalls vernünftig ist, wenn jeder sein Denken und Bemühen darauf richtet, gut zu erzählen und gut zu belehren, und er stellt aus einer Abenteuergeschichte eine sehr schön geordnete Erzählung zusammen. 19 Damit stellt sich Chrétien entschieden gegen die angeblich ungeordnete Ansammlung von im Lauf der Zeit ‚beschädigten‘ Erzählungen der Jongleurs über den Königssohn Érec, einen Stoff (li contes), que devant rois et devant contes / depecier et corronpre suelent / cil qui de conter vivre vuelent (Érec et Énide, V. 20-22). 20 Eine ‚sehr schön geordnete‘ und damit nach mittelalterlichem Verständnis wahre Erzählung zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr jede Episode oder hinsichtlich einer ganzen Sammlung von Aventüren jedes ‚Erzählobjekt‘ darin einen festen und sinnvollen Platz hat. 21 Erst durch wohlgeordnete Platzierung ergeben sich sinnreiche Bezüge zwischen den einzelnen Erzählungen, die es, jede Aventüre für sich betrachtet, sonst nicht gäbe. Peter Strohschneider bezeichnet diese Fähigkeit der Sammlung, die Möglichkeit der Aufmerksamkeit auf Unvorhersehbares zu wahren, [… als] ‚Latenz‘ […], eine mit den Dingen zwar verbundene, jedoch verborgene, womöglich unvordenkliche Erkenntnisoption oder Erkenntnisrichtung; ein schon gegebenes und doch im epistemischen Prozess noch nicht antizipierbares Potenzial. 22 318 Stefan Abel 23 Judith Klinger, Der mißratene Ritter. Konzeptionen von Identität im Prosa-Lancelot, München 2001 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 26), S. 446. 24 Christine Blättler, „Die Serie als Ordnungsmuster“, in: Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns, hg. von Sarah Schmidt, Paderborn 2016, S. 205-217, hier 210. Eine solche Latenz liegt etwa im klimaktisch ansteigenden Schwierigkeitsgrad von Aven‐ türen, in den Oppositionen von Typus und Antitypus, Verheißung und Erfüllung, Scheitern und Erfolg, in der Parallelisierung von Handlungssträngen sowie in Fügungen und Kon‐ stellationen einer gerade im Sammelverbund als nicht (mehr) kontingent vermittelbaren Artuswelt. Aventüre ist das, was zufällig oder schicksalhaft auf einen zukommt, ohne dass man vorher darum weiß. Durch die geordnete Zusammenfügung von defragmentierten, monoperspektivisch erlebten und erzählten Aventüren wird aus diesem Zufälligen, auch dies rein subjektiv, eine vollständige und sinnträchtige Gesamterzählung. Denn jeder Ritter hat „seine eigene Geschichte, die alles umfaßt, was ihm begegnet ist, als das Resultat eines Ablaufs, einer zurückgelegten Wegstrecke, ohne daß darin schon ein in sich geschlossener, kohärenter Sinn enthalten wäre.“ 23 Die ‚Aventüresammlung‘ dient somit nicht nur der arthurisch-ritterlichen Identitätsbildung, sondern auch der Erschließung von Raum und Zeit, indem die einst in der Anderwelt punktuell verstreuten Aventüren zu gegebener Zeit, und zwar einem freudvollen Ereignis (etwa die Rückkehr eines lang ver‐ missten Artusritters), am Artushof als ideellem Zentrum zusammenlaufen. In der seriellen (syntagmatischen) Anordnung der Sammlung, die „insbesondere durch Zwischenräume, Lücken und Leerstellen zwischen den einzelnen Elementen, also durch Diskontinuität gekennzeichnet“ ist, 24 gewinnen die einst reihum erzählten, episodenhaften Aventüren neue Binnenbedeutungen und geraten in neue Zusammenhänge. Sie geben damit der Sammlung inneren Halt, der äußerlich nur durch den bereits erwähnten Sammelbegriff gegeben ist. Im Fall des Rappoltsteiner Parzifal wird dies besonders deutlich: So treffen, einzig in dieser Kompilation, der aus den Aventüreberichten vor dem König eigens heraus‐ gestellte Brüderkampf zwischen Bohort und Lionel und der zuvor, am Beginn von Buch XV, nur bei Wolfram erzählte, vorlagenunabhängige Halbbrüderkampf zwischen Parzival und Feirefiz (Parzival, V. 735,5-745,12) aufeinander. Diese einzigartige Konfiguration animiert den Rezipienten zu einer wertenden Gegenüberstellung: Dort ein Kampf aus purer Rache zwischen zwei sich von Anfang an erkennenden Brüdern, der zum Tod eines von König Artus’ Rittern (Kolagrenans) führt; hier ein wortlos einsetzender Kampf zwischen sich noch unbekannten Halbbrüdern um ritterliche Ehre, der mit dem Bruch von Parzivals Schwert, somit quasi mittels göttlichen Eingriffs jäh zu Ende geht. Diese Situation nutzt Feirefiz jedoch nicht zu seinen Gunsten, sondern er, beeindruckt von Parzivals Stärke, beendet den Kampf großmütig. Doch auch der Rappoltsteiner Parzifal insgesamt erhält, seiner Anlage nach (Alter Parzifal, Nuwer Parzifal und Rappoltsteiner Florilegium), eine ausdrücklich neue Funktion als minnenbuoch (Epilog, Sch 849,44), das die Rezipienten im Zug der (erzieherischen) Lektüre zu wahren minnern werden lasse: wer wil werden ein minner, / daz der sol minnencliche mer / gerne lesen unde hören, / wan ez im kan zerstören / unminnencliche gedenke (Sch 846,35-39). Ulrich von Rappoltstein sei der ideale ‚Artuserbe‘, da er zu denjenigen gehöre, daz sü oventure minnent, / die sich uf minne sinnent (Sch 849,41f.). Demnach versammelt der Rappoltsteiner Parzifal, so der Epilog an späterer Stelle (Sch 852,13-853,5), für die deutsche Ritterschaft lehrreiche Erzählungen von in der 319 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 25 Vgl. Hess (wie Anm. 2), S. 262. 26 Der königlich verordneten Bilanzierung von Aventüren liegt das Potential inne, die soziale Ordnung der Artuswelt zu gefährden. Auch auf diese Problematik spielt der Prosa-Lancelot an: In einer der vielen Sammel- und Schreibszenen lässt Artus Lancelot, Gawan und die übrigen Artusritter Rechenschaft über ihre Aventüren ablegen. Lancelots Erfolge, die von Artus in den höchsten Tönen gelobt werden, erzeugen den Neid der übrigen Ritterschaft: Der konig sprach: „Sagen mir uff uwern minnen stricke gefangenen Rittern edler Abstammung, die für ihre Damen in ritterlichen Kämpfen Mühen auf sich genommen hätten. III Selbstreferentialität der Aventüre-Sammlung Szenen mit Sammel- und Schreibritualen, wie sie etwa der Rappoltsteiner Parzifal schildert, sind per se selbstreferentiell: Es ist die paradoxe, den reinen Handlungsverlauf verfrem‐ dende Anachronie, dass der mittelalterliche Rezipient der Illusion anheimfällt, er könne wie ein Augenzeuge die Entstehung desjenigen Textes unmittelbar mitverfolgen, den er gerade im Begriff ist zu rezipieren. Denn mit seinem handschriftlichen Exemplar wähnt er sich im Besitz einer mutmaßlichen ‚Kopie‘ des einen originären ‚Artusbuchs‘, dessen Entstehung er beiwohnt. Die Auflistung der einzelnen Aventüren im Bericht bestätigen dem Rezipienten die Richtigkeit, sprich Vollständigkeit der rezipierten Gesamterzählung. Die knappen Aventüreberichte, die den Artusrittern in den Mund gelegt werden, sind immerhin Garanten für eine im Idealfall vollständige und bruchlose Überlieferung der einzelnen Episoden in den konkreten handschriftlichen Textzeugen. Denn um störende Diskrepanzen zwischen zuvor ausführlich erzählten und später vor Artus berichteten Aventüren zu vermeiden, müssen Episoden und Berichte ja zumindest quantitativ übereinstimmen, d. h. die jeweilige Episode muss im Bericht wiedererkennbar sein, darf darin auch nicht fehlen. Nur so lässt sich die Fiktion des ‚Artusbuchs‘ als wahrhafter Quelle aufrechterhalten. In der außerliterarischen Wirklichkeit existieren materielle Sammelobjekte normaler‐ weise entweder, ungesammelt, im Streuungsoder, gesammelt, im Sammlungsraum. Ge‐ sammelte ‚Erzählobjekte‘ hingegen büßen ihre Plätze im Streuungsraum nicht ein. Selbst wenn einmal schriftlich fixiert, verbleiben sie ja mindestens im Gedächtnis der jeweiligen Erzähler oder in der kollektiven Erinnerung, auch ganz unabhängig vom Artushof. Durch den Transfer in den Sammlungsraum des fiktiven ‚Artusbuchs‘ kommt es folglich nicht (nur) zu einer Demontage des Gesammelten aus seinem ursprünglichen Kontext, sondern zu einer Verdopplung der ‚Erzählobjekte‘ beim Übergang in den neuen Sammlungskontext. Bei jeder ‚Grenzüberschreitung‘ - von der Anderwelt an den Artushof, von der fiktiven Mündlichkeit in die fiktive Schriftlichkeit - wandeln sich die ‚Objekte‘, und zwar vom Erlebnis zur Erzählung, jedoch verbleiben sie in irgendeiner Weise in jedem dieser Räume. Die doppelte Präsenz von ‚Erzählobjekten‘ erlaubt es, nach Vollständigkeit und Wahrheit des Erzählten zu fragen, denn mit der Doppelpräsenz eröffnet sich, rein theoretisch, die Möglichkeit des Vergleichs, und zwar zwischen konkurrierenden Erzählberichten über die eine oder andere Aventüre. 25 Manessiers Troisième Continuation und so auch der Rappoltsteiner Parzifal thematisieren diese Problematik nicht. Der Prosa-Lancelot hingegen, der gleich mehrere Sammel- und Schreibszenen enthält, greift sie implizit auf: 26 Dass Lancelot zentrale Episoden seiner Aven‐ 320 Stefan Abel eydt ob ir eynichen nyder gestochen habent.“ Sie antwurten, sie enwusten keynen, off all ir trúwe. „By mym eyd, so sagen ich uch das er [i.e. Lancelot] der tafelrund me eren erwirbt dann ir alle. Dann were er nit, so solt sie me genÿdert werden dann von uch halben. Darumb dunckt mich das ir númmer me wiedder yn reden oder syn sollent, wann er wol bewißt hatt was er kan, und hatt uwern hochmůt allesamet von der tafelrond genydert.“ Der reden wurden sie so sere zornig das sie darnach Lanceloten nymmer me lieb gewunnen und haßten yn biß inn den dot. Aber sie deten des keynen schyn biß zur zytt das die fruntschafft zwúschen im und der konigin geoffenbaret ward […] (Prosa-Lancelot, Bd. I,3, S. 814 / Z. 24-32 und 816 / Z. 1-4). Vgl. Annie Combes, Les voies de l’aventure. Réécriture et composition romanesque dans le ‚Lancelot‘ en prose, Paris 2001 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 59), S. 78-95, hier 86 (unter Bezug auf die altfranzösische Vorlage M IV,249-251 [LXXX,19f.] [Ausgabe wie in Anm. 35]; vgl. Prosa-Lancelot, Bd. I,3, S. 610 / Z. 30-614 / Z. 19). 27 Der könig errinnerte Lanntzeloten hoch seines aydts, das er ime sagenn solltte, das es alle die höretenn so zugegen warent, was ime allß für abenthewre begegnet were inn der zeytt da er vonn ime gescheydenn was, unnd er ertzehlet ettliche, er verhelet aber viel (Prosa-Lancelot, Bd. II, S. 484, Z. 15-20). 28 Zum ‚behauptenden Eid‘ (iuramentum assertorium) als Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit siehe etwa Augustinus, Sermones de scripturis, sermo 180, cap. 6,6f., in: PL, Bd. 38, Sp. 975, sowie Thomas von Aquin, Summa theologiae II-II q. 89 a. 1 und a. 4. 29 Carol R. Dover, „Imagines historiarum. Text and Image in the French Prose Lancelot“, in: Word and Image in Arthurian Literature, hg. von Keith Busby, New York 1996, S. 79-104, hier 83. 30 Vgl. Paul V. Rockwell, Rewriting Resemblance in Medieval French Romance. Ceci n’est pas un graal, New York 1995 (Garland Studies in Medieval Literature 13), S. 212f.; Hans-Joachim Ziegeler, „Schrift und Wahrheit im deutschen Lancelot“, in: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter / Transfers culturels et histoire littéraire au Moyen Âge. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris, 16.-18.3.1995, hg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini und René Pérennec, Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 201-213. türefahrten verschweigt, 27 so etwa sein Liebesverhältnis zu Ginover und zur Tochter von König Pelles, zeigt nämlich, welche Gefahr darin liegt, dass die ritterlichen Augenzeugen, auch unter Eid (iuramentum assertorium), 28 volle Verfügungsgewalt darüber haben, was und wie sie (letztlich ‚autobiographisch‘) erzählen. „[I]t is therefore open to the distortions of subjectivity rather than to the certification of the eyewitness“: 29 Lancelot hub wiedder an zu sagen wie er in des rychen konig Pelles huß kam und das er den trachen im kirchoff ertot hatt den er off dem sargk fand, und wie der heilig gral erfult die tafeln aller guten spise der welt. Aber er erzalt nit furbaß wie er betrogen was worden von der schönen jungfrauwen, des konigs dochter. Er ließ es nit zu sagen syner schand halb, aber er ließ es umb syner frauwen der konigin willen, das er da mit ir lieb nit verlure wo sie die warheit wust. (Prosa-Lancelot, Bd. I,3, S. 810 / Z. 25-33) Sobald die Augenzeugenberichte unvollständig oder unwahr sind, steht die Verlässlichkeit schriftlich dokumentierter, auch arthurischer ‚Geschichte‘ insgesamt auf dem Spiel. Neben einer offiziellen Geschichte muss daher stets auch eine nur Wenigen bekannte, inoffizielle Geschichte mitbedacht werden. 30 Dass Lancelot gewisse Erlebnisse vor Artus verschweigt, diese jedoch im Prosa-Lancelot auserzählt werden, zeigt zudem die Überlegenheit der Erzählinstanz gegenüber dem ‚Artusbuch‘ als Quelle auf. Der Rezipient des Prosa-Lancelot weiß nun, dass die Vorlage für sein handschriftliches Exemplar eben nicht zwingend auf die am Artushof gesammelten und schriftlich fixierten Aventüreberichte zurückgehen kann. Zwischen seinem Exemplar und dem ‚Artusbuch‘ muss mit dem Erzähler eine dritte Instanz stehen, auf die man sich eher verlassen kann, zumindest was den Bestand an Aventüren 321 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 31 Vgl. Combes (wie Anm. 26), S. 78-95. 32 „Erst wenn eine res gesta mehrfach und unabhängig voneinander erzählt wird, oder wenn eine er‐ zählte res gesta die allein mögliche Verknüpfung zwischen anderweitig gesicherten res gestae abgibt - oft gilt dies nur für einzelne Momente der Erzählung -, ist ein Urteil darüber möglich, ob Erzähltes richtig, wahr oder falsch ist“ (Franz-Josef Schmale, „Fälschungen in der Geschichtsschreibung“, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.-19. September 1986, Teil 1: Kongreßdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung, Hannover 1988 [MGH Schriften 33,1], S. 121-132, hier 122). 33 Schmale (wie Anm. 32), ebd. 34 „Die Verfertigung der Aventiurebücher am Artushof weist in aller Deutlichkeit darauf hin, daß sich solche Wissensstandpunkte oder Perspektiven erst miteinander vermitteln müssen, um in ein kollektives Wissen eingehen zu können. Die vereinzelt ausfahrenden Ritter wissen nicht, was unter‐ dessen ihren Tafelrundengesellen widerfahren ist, und das höfische Kollektiv hat seinerseits keinen unmittelbaren Einblick in die Vielfalt von Aventiure-Ereignissen. Allein die sitte des Berichterstattens und Aufschreibens führt die isolierten Erfahrungen der Ritter wieder zu einer vollständigen Erzäh‐ lung von den abenthuren im Lande Logres zusammen, und nur in dieser Mittelbarkeit eines Sammelns von Erzählungen hat der Artushof Zugriff auf die Welt, die ihn umgibt. Mit dieser Erzähllogik problematisiert der Roman dann auch die Erkenntnismöglichkeiten der Subjekte“ (Klinger [wie Anm. 23], S. 444). betrifft. 31 Gewissheit über Wahrheit und Vollständigkeit einer bestimmten Aventüre ließe sich nur dann erlangen, wenn man unterschiedliche Erzählungen (‚Erzählobjekte‘) über ein und dieselbe Aventüre, womöglich sogar in unterschiedliche Sammlungen integriert, miteinander vergleichen könnte. 32 Die fiktiven Sammel- und Schreibszenen der Artusepik inszenieren sich als Momente historiographischer Textproduktion. Doch [f]ür sich genommen ist ein Werk der Geschichtsschreibung nicht von fiktionaler Literatur zu unterscheiden und schafft aus sich selbst gegenüber fiktionaler Literatur auch nicht die Gewiß‐ heit eines größeren oder andersartigen Realitätsbezuges. Ursache dafür ist der Erzählcharakter der Historiographie, den sie mit der fiktionalen Literatur teilt. Von dieser unterscheidet sie sich im Grunde nur durch den Anspruch, sich auf eine res gesta zu beziehen und diese zutreffend und wiedererkennbar zu erzählen und in diesem Sinne wahr zu sein. […] Dieser Anspruch kann jedoch durch kein Mittel verwirklicht werden, das an ihr selbst in irgendeiner Weise zu beobachten wäre. Die Wahrheit der Erzählung liegt ausschließlich darin - und dies ist durch Erzählung selbst und an ihr selbst nicht beweisbar -, daß sie einer außerhalb ihrer selbst liegenden Wirklichkeit, einer res gesta, entsprechen will und darin, daß der Autor behauptet, es bestehe eine solche Entsprechung. 33 Die Versiegelung des ‚Artusbuchs‘ an einem realgeographischen Ort mag ein solches Mittel sein, um dem fiktiv Niedergeschriebenen Historizität (und Wahrheit) zu verleihen. Das Problem historiographischer Mehrstimmigkeit, 34 das im Prosa-Lancelot implizit deutlich wird, betrifft jedoch nicht nur den Vorgang des Erzählens von Seiten der Artusritter, sondern auch den Vorgang der Niederschrift: Die freud was groß von dem konig und von der konigin und darnach von des koniges rittern allesampt und von alle sym gesinde, das Lancelot und Galahut gesellen waren von der tavelrunden. Des andern tages begund der konig hoff halten durch der großen eren willen die im geschehen was bi synen tagen biß aller heiligen tag. Diß was des siebenden tages vor aller heiligen messe, das der konig Artus 322 Stefan Abel 35 In dieser Reihenfolge steckt ein Ordnungsprinzip, das sich, so ergänzt die altfranzösische Vorlage des Prosa-Lancelot, in den Verästelungen (branches) des Prosaromans widerspiegele: et tout ce fu del conte Lancelot, et tout cil autre furent branche de chestui, et li contes Lancelot fut branche del Graal, si com il y fu ajoustés de la queste Lancelot. Aprés furent misses en escrit les proesses de Hector, par ce qu’il acheva la queste m. s. Gauvain et qui de son conte estoit branche. Aprés furent misses les aventures des autres dis et nuef en escrit et si furent branches del grant conte de Lancelot, et le grant conte de Lanc. couvient repairier en la fin a Perceval qui est chiés en la fin de toz les contes as autres chevaliers, et tuit sont branches de lui, por ce qu’il acheva la grant queste; et li contes Perceval meismes est une branche del haut conte del Graal qui est chiez de tous les contes, car por le Graal se traveillent tuit li bon chevalier dont l’an parole de celui tans (M VIII LXXIa,48 und 48b, in: Lancelot, roman en prose du XIIIe siècle, hg. von Alexandre Micha, 9 Bde., Genf, 1978-1983, hier Bd. 8, S. 488f.). 36 Vgl. Combes (wie Anm. 26), S. 85. Lancelot und Galahot enthielt. Auch wart Hestor desselben tages geselle von der tafelrund durch ir zweyer bett willen und auch durch sin gut ritterschafft. Diße dri gesellen wurden zu tafelrund gesaczt mit großen freuden bi den andern gesellen. Und der konig gebot vier schribern die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben die in sim hofe geschehen. Der ein was Arodion genant von Koln, und der ander was genant Tantamides von Vernaus und der dritt Thomas von Dolete, der vierd was Sapiens genant von Budas. Diße vier schrieben die abentur in des konig Artus hof. Min herre Gawan must zu allererst sagen, wann er heubt was an der suchung, und darnach Hestor und darnach myns herren Gawans gesellen die mit im an der suchung waren.  35 Was sie sagten das wart alles geschriben. Alsus was der konig Artus mit großen freuden uff der Sahsen Vels biß off den dritten tag nach aller heiligen tag. (Prosa-Lancelot, Bd. I,1, S. 1288 / Z. 11-34) Anlässlich der freudvollen Aufnahme Lancelots, Galahots und Hectors in den Kreis der Artusritter ruft der König im Prosa-Lancelot gleich vier namentlich genannte Schreiber herbei, die darzu gesaczt warn, das sie all die abentur schriben, die in sime hofe geschehen (Z. 23f.). Bei diesen Schreibern handelt es sich um Arodion von Köln, Tantamides von Vernaus (i.e. Vercelli im Piemont), Thomas von Dolete (i.e. Toledo) und Sapiens von Budas (i.e. Budapest). Mit diesem Vierertrupp spielt der Prosa-Lancelot sicherlich auf die Vierzahl von Evangelisten an. Das ‚Artusbuch‘, gleichsam ein ‚ritterliches Evangelium‘, erhält dadurch zunächst eine besondere Würde. Mit Köln im Norden, Vercelli im Süden, Budapest im Osten und Toledo im Westen stecken die Schreiber so, wie üblicherweise die Evangelisten, die vier Weltecken ab und stehen daher für eine gewisse Universalität des ‚Artusbuchs‘. Indes macht der Prosa-Lancelot nicht klar, wie die Arbeitsteilung zwischen den vier Schreibern organisiert ist: Schreiben alle zeitgleich dieselben Augenzeugenbe‐ richte sämtlicher Artusritter nieder? Oder teilen sich die Schreiber die Berichte in vier Gruppen auf? Besteht ihre Aufgabe im reinen Diktat oder transferieren sie die Berichte, wie Chrétien de Troyes, später in eine Art mout bele conjointure? 36 Gehen wir einmal, nach dem Vorbild der Evangelisten, davon aus, dass alle vier Schreiber sämtliche Berichte zeitgleich zu Pergament bringen. In diesem Fall tritt auch im Prosa-Lancelot implizit diejenige Problematik zu Tage, die das Christentum im Fall der Evangelien immer wieder beschäftigte: Wie lassen sich Unterschiede zwischen den vier Berichten über Worte und Taten Jesu Christi erklären und auflösen? Origenes (De principiis) etwa sieht im pneumatischen Sinn die Verbindung zwischen den variierenden Berichten, der, seiner Erschließung harrend, im historischen Sinn der von Gott inspirierten, heiligen Schriften 323 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 37 Siehe Origenes, De principis libri IV / Vier Bücher von den Prinzipien, hg., übers., mit kritischem und erläuternden Anmerkungen versehen von Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Darm‐ stadt 3 1992 (Texte zur Forschung 24), I Praef. 8, S. 94f.; vgl. Petra Hörner, Zweisträngige Tradition der Evangelienharmonie. Harmonisierung durch den ‚Tatian‘ und Entharmonisierung durch Georg Kreckwitz u. a., Hildesheim u. a. 2000 (Germanistische Texte und Studien 67), S. 282-295; Helmut Merkel, Die Widersprüche zwischen den Evangelien. Ihre polemische und apologetische Behandlung in der Alten Kirche bis Augustin, Tübingen 1971 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 13), vor allem S. 94-121. 38 Siehe dazu Helmut Merkel, „De consensu evangelistarum“, in: Augustinus-Lexikon, Bd. 1, Basel/ Stuttgart 1986, Sp. 1228-1236; Hörner (wie Anm. 37), S. 295-300; Merkel (wie Anm. 37), vor allem S. 218-261. 39 Vgl. Combes (wie Anm. 26), S. 87. 40 Da sie hetten geeßen in dem hoff, der konig Artus det her vor kůmmen die schriber, die da pflagen zu beschriben die abenture der ritter von dem hoff des koniges Artus. Und da Bohort hett erzalt die abenture von dem heyligen gral, in der wise als er es gesehen hett, und die wurden beschriben und behalten in der abtey von Salaberis. Da von meyster Gatiers machen begund das buch von dem heiligen grale von latin zu welisch, umb konig Heinrichs willen synes herren, den er ser lieb hette (Prosa-Lancelot, Bd. V, S. 540 / Z. 21-29). Vgl. die Ursprungsfiktion der Nibelungendichtung in der Klage (V. 4295-4317, in: Die Nibelungenklage. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Einführung, neuhochdeutsche Übers. und Kommentar von Elisabeth Lienert, Paderborn 2000 [Schönings mediävistische Editionen 5], S. 316). 41 Freimut Löser, „Der deutsche Lancelot-Roman“, in: Große Werke der Literatur. Eine Ringvorlesung an der Universität Augsburg, Bd. X, hg. von Hans V. Geppert und Hubert Zapf, Tübingen/ Basel 2007, S. 11-29, hier 15. eingeschlossen sei. 37 Augustinus glaubt in seiner Schrift De consensu evangeliarum an die Eintracht in der Vielfalt (concors diversitas) der Evangelien in der Sache (res) und an die Legitimität dieser Unterschiede auf Ebene des verbum, denn sie gingen auf die Aufzeichnungen entsprechend unterschiedlicher Erinnerungen der Evangelisten zurück, und dabei seien alle vier, in gleichem Maße, von Gott inspiriert gewesen. 38 Doch wie die Evangelisten so können auch Artus’ Schreiber das utopische Projekt eines ‚totalen Buchs‘ nicht verwirklichen, das mündliche Berichte über das selbst Gesehene und Erlebte mimetisch, d. h. im Maßstab eins zu eins schriftlich festhält; 39 umso mehr noch, als die vier Schreiber die Berichte offenbar nicht direkt auf Französisch, sondern lateinisch niederschreiben: So habe angeblich der Oxforder Archidiakon Walter Map († 1209) den zweiten Teil des Prosa-Lancelot, die Queste del Saint Graal, auf der Grundlage von Bohorts Berichten vor König Artus, für den englischen König Heinrich II. († 1189) verfasst, indem er die Berichte vom Lateinischen ins Französische übersetzt habe. 40 Dennoch bietet der Prosa-Lancelot „nichts anderes als die Summe der bis dahin entstandenen Artusliteratur, die Verbindung dieser Artusliteratur mit dem Gralstoff und eine bewusst vorangetriebene bis in extreme Erzählkompilationen und Erzählkomplikationen gesteigerte Literatur mit Totalitätsanspruch.“ 41 Trotz der Vielzahl an Erzählinstanzen und -perspektiven wird auch der Wahrheitsanspruch an das Erzählte nicht aufgegeben. IV Freude am Sammeln - Sammeln aus Freude Bevor, bei Manessier, die Gralsbotin vom Tod des Fischerkönigs berichtet oder sie, bei Wolfram von Eschenbach und so auch im Rappoltsteiner Parzifal, Parzivals Berufung zum Gral verkündet, feiert die Artusgesellschaft ein freudvolles Fest zu Ehren des Rückkehrers 324 Stefan Abel 42 Nhd. Übersetzung: Perceval der Gralskönig (wie Anm. 15), S. 220. Perceval / Parzival an den Hof (und dessen Halbbruders Feirefiz im Parzival, V. 774,13- 778,12): Quant chascuns ot conté son conte, Si com l’estoire le raconte, Si se sont tuit asis as tables Et lors vindrent mes delitables, Si menjerent et joie font; Trestuit de joie se refont. Huit jors toz plains dura la feste, Et porta li rois sus sa teste Corone trestoz les huit jorz; A joie firent lor sejorz. (Troisième Continuation, Ep. 29, V. 42429-42438) Als ein jeder seine Erzählung vollendet hatte, wie die Geschichte berichtet, setzten sich alle zu Tisch und sahen gar köstliche Gerichte aufgetragen. Sie speisten mit hoher Freude und genossen die Gesellschaft des Königs und der Tafelrunde. Acht volle Tage dauerte das Fest, und an all diesen acht Tagen trug der König die Krone auf dem Haupte und bereitete den Rittern freudigen Aufenthalt. 42 Diese wie alle übrigen, hier untersuchten Sammelszenen oder -rituale sind allesamt emotional ‚gerahmt‘, denn ihnen geht unmittelbar ein Zustand der Freude voraus, und sie sind in höfische Festlichkeiten am Artushof eingebettet, vor allem in zeitlicher Nähe zum gemeinsamen Festmahl. Die für das Sammeln impulsgebende Freude am Beginn ist entweder eine zunächst ganz individuelle: Der König und bisweilen mit ihm die Königin freuen sich über die Rückkehr von lange vermissten Artusrittern an den Hof, über die Ankunft bislang unbekannter Ritter und über deren Aufnahme in die Tafelrunde. Oder aber die Texte geben zu verstehen, dass die freudvollen Ereignisse gleich von der gesamten Hofgesellschaft entsprechend freudig aufgenommen werden (vgl. oben Prosa-Lancelot, Bd. I,1, S. 1288 / Z. 11-14). Diese Freude erlöst den bis dahin gelähmten Artushof aus einer Haltung angespannten Verharrens, wie es etwa Manessier mit dem Bild von König Artus zur Darstellung bringt, der, sehnsuchtsvoll in die Ferne blickend, am Fenster nach dem lange erwarteten Perceval Ausschau hält: L’endemain aprés le servise Que li rois revint de l’iglise, Se fu as fenestres asis Dou palaiz, tristes et pensis. Por Perceval iriez estoit, Que molt durement se dotoit Que il a cort ne venist mie. (Troisième Continuation, Ep. 29, V. 42293-42299) 325 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 43 Nhd. Übersetzung: Perceval der Gralskönig (wie Anm. 15), S. 218. Anspannung und Erlösung sind dem Artushof von außen auferlegt, anders als in der arthurischen und somit von Artus selbst auferlegten costume, nicht eher mit dem Festmahl zu beginnen, bis eine Neuigkeit den Artushof erreicht (so z. B. beim Pfingstfest am Artushof im Mantel des Ambraser Heldenbuchs). Im Gegensatz zu dieser costume, die oftmals am Beginn der Handlung steht und somit über Aventüreberichte Aventürehandlung überhaupt erst auslöst, bilden diejenigen Aventüreberichte im Rappoltsteiner Parzifal und im Prosa-Lancelot, die in die archivalische Konservierung vergangener Aventürehandlung münden, den Abschluss von Handlung(sabschnitten); vgl. Strohschneider (wie Anm. 5), S. 381f. und Strohschneider (wie Anm. 17), S. 247 und 256. 44 Siehe Rüdiger Schnell, „Gefühle gestalten. Bausteine zu einer Poetik mittelalterlicher Emotionsbe‐ schreibungen“, in: PBB 138 (2016), S. 560-606, hier 591-598; vgl. Dietmar Peil, Die Gebärde bei Chrétien, Hartmann und Wolfram. Erec - Iwein - Parzival, München 1975 (Medium Aevum 28), S. 226-231. 45 Schnell (wie Anm. 44), S. 595. Als der König am nächsten Morgen nach dem Gottesdienst von der Kirche zurückkam, setzte er sich traurig und versonnen an die Fenster des Saales. Ihn erfüllte Besorgnis um Perceval, da er fürchtete, er werde doch nicht zu Hofe kommen. 43 Und nur kurze Zeit später steht König Artus voller Freude dem ankommenden Perceval gegenüber. Rüdiger Schnell attestiert dem mittelalterlichen Roman ein sprachlich-rhetorisches Defizit, was die Darstellung von Freude betrifft, ganz anders als im Fall von Leid, Schmerz und Trauer, für die auf einen großen Formelbestand zurückgegriffen werde. Dies zeige sich allein an der unterschiedlichen Variationsbreite bei der Bezeichnung der genannten Emotionen. Stehen den Dichtern nämlich für Leid Begriffe wie kumber, jâmer, sorge, leit, riuwe, ungemach, swære, ungemüete und viele weitere zur Verfügung, so für Freude eigent‐ lich meist nur vreude, wunne und liebe. Dies könnte damit zusammenhängen, dass Freude - im Gegensatz zu Trauer - an sehr viel weniger sichtbaren, physischen Veränderungen festzumachen sei und Schmerz im europäischen Abendland intensiver erlebt werde als Freude. 44 Ein Pendant zum Tränenfluss, dem Erbleichen, dem Haare-Raufen, den Schlägen auf die Brust, dem Schreien und Jammern und den Ohnmachtsanfällen, allesamt ausgelöst durch den Schmerz, findet sich für die Freude nicht. Und auch im Umfeld der Sammelszenen bleibt es hinsichtlich der Freude bei äußerst knappen Emotionserwähnungen. Für die Darstellung von Freude schildern die mittelalterlichen Dichter vielmehr symptomatische Kompensationshandlungen wie etwa Musizieren, Singen, Tanzen und Speisen, losgelöst von den körperlichen Reaktionen des oder der sich Freuenden. Zu diesen Handlungen gehört auch das ereignisbezogene Singen und Dichten von Liedern und Lais, wie das eingangs erwähnte Lai du chèvrefeuille durch Tristram oder aber der lai de joie, der zu Ehren von Érecs Sieg über Mabonagrain gedichtet und gemeinschaftlich gesungen wird, bei Hartmann von Aue von aller dirre menigîn […] mit vrôem wîcsange (Erec, V. 9657 und 9660, siehe Anm. 1). Es handelt sich dabei stets um Ausdrucksformen für kollektive Freude. Und entsprechend werde uns Freude „als ein (intradiegetisches) gemeinschaftliches Erlebnis, Leid hingegen als Begegnung eines Einzelnen mit sich selbst vorgeführt. Dazu passt, dass dort, wo in einem höfischen Roman ausführliche Freudeschilderungen begegnen, fast ausnahmslos kollektive Freude beschrieben wird. Offensichtlich ist kollektive Freude eher darstellbar als die Freude von Einzelnen.“ 45 Freude, aus welchem äußeren Anlass 326 Stefan Abel 46 Die Entstehung einer Vielzahl fiktiver Bücher am Artushof lässt sich dem Prosa-Lancelot entnehmen: Als Lancelot syn abentur erzalt hatt, da wurden sie alle beschriben, dann sie größer waren dann eynich ander. Konig Artus hatt Lancelots abentur auch all inn eyn buch beschriben laßen, das man groß fand, in glicher wiß auch ein buch geschriben biß an syn end, als er verwunt ward biß off den dot im strit von Mordret, als man es hernach findet inn eyner historien (Bd. I,3, S. 812 / Z. 21-27). 47 Zum Begriff siehe Arnold van Gennep, Übergangsriten (Les rites de passage), 3., erweiterte Aufl., Frankfurt a. M. 2005 (Campus Bibliothek). 48 Zur Rolle der Emotionalität in der öffentlichen Kommunikation siehe etwa Gerd Althoff, „Gefühle in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters“, in: Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, hg. von Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten, Köln u. a. 2000 (Literatur, Kultur, Geschlecht. Kleine Reihe 16), S. 82-99: „Man unterstreicht verbal und non-verbal, wie freiwillig, gern, freudig, aus voller Überzeugung, ohne jeden Vorbehalt und Hintergedanken und bereitwillig man das tut, was das Ritual zu tun vorschreibt. Mag die Teilnahme am Ritual auch noch so erzwungen und abgenötigt worden sein, rituelles Handeln nötigt zu Überschwang, in welche Richtung auch immer: überschäumende Begeisterung oder stammelnde Selbstzerknirschung. Rituelles Handeln ist theatralisch, feierlich, festlich oder dramatisch übersteigert“ (S. 85). sie auch immer ausgelöst werden mag, tendiert im mittelalterlichen Roman folglich zur Kollektivierung (wörtlich ‚Sammlung‘) der Freude Einzelner. Auch das arthurische Ritual des Sammelns von ‚Erzählobjekten‘ und des Verschrift‐ lichens von Aventüreberichten in der Gestalt eines oder mehrerer ‚Artusbücher‘ 46 ist eine Form der literarisch vermittelten Symptomatik kollektiver, höfischer Freude. Dieses Ritual, eine symptomatische Ersatzhandlung wie Tanzen und Singen auch, reguliert und diszipliniert (den Ausdruck von) Freude, indem sie einen festlichen und somit rituellen Rahmen erhält. Seit Émile Dürkheim wissen wir um die enge Verzahnung von Ritual, dem Scharnier zwischen Individuum und Gesellschaft, und kollektiver Emotion. Das am Artushof als ideologischer Mitte öffentlich inszenierte, anlassbezogene Sammelritual markiert - im Verbund mit vielen anderen kollektiven Handlungen - eine Zäsur zwischen einem vorherigen emotionalen Zustand - so etwa Trauer, Sehnsucht oder erwartungsvolle Hoffnung - und einem Zustand der Freude danach. Demnach wäre das arthurische Sammel- und Schreibritual, wie wohl die meisten Rituale ohnehin, auch als rite de passage zu klassifizieren. 47 Die emotionale Einbettung des Rituals schließt mit ein, dass Erzähler und Zuhörer der Aventüreberichte durch ein wahres Wechselbad der Gefühle gehen, sei es etwa der Trauer über Kolagrenans’ Tod, der Scham über die Verfehlungen der Artusritter, aber auch der Erbauung und der Freude über ihre ritterlichen Erfolge in der Anderwelt. Letztlich überwiegt diese (höfische) Freude und führt zu einer kollektiven und damit extrovertierten Erregung, dem Außer-sich-Sein (effervescence bei Dürkheim), unter den am Ritual Beteiligten. 48 Emotionen werden im Ritual in ein kollektives Erleben überführt, was bei den Teilnehmenden eine ‚rituelle Einstellung‘ und ‚rituelle Akzeptanz‘ voraussetzt: Die rituelle Einstellung distanziert Akteure und Teilnehmer derart von der Handlung, dass sie diese als ihre eigene anerkennen. […] Sie ist […] eine eigenartige Nicht-Intentionalität, die als Verzicht auf eigene Handlungsbestimmung erfahren wird. […] Rituelle Akzeptanz […] ersetzt beim Menschen den genetischen Code, der den Tieren ein bestimmtes Verhalten vorschreibt. Um 327 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 49 Andréa Belliger und David J. Krieger, „Ritual und Ritualforschung“, in: Ritualtheorien. Ein ein‐ führendes Handbuch, hg. von Andréa Belliger und David J. Krieger, 5., aktualisierte Aufl., Wies‐ baden 2013, S. 7-34, hier 25 (unter Bezug auf Caroline Humphrey und James Laidlaw, „Die rituelle Einstellung“, in: ebd., S. 133-153, und Roy A. Rappaport, „Ritual und performative Sprache“, in: ebd., S. 189-208). 50 Humphrey und Laidlaw (wie Anm. 49), S. 143. 51 Zur (Un-)Gleichzeitigkeit konträrer Emotionen nach mittelalterlichem Verständnis siehe Schnell (wie Anm. 44), S. 579f.; siehe auch Karl Korn, Studien über ‚Freude‘ und ‚Trûren‘ bei mittelhochdeutschen Dichtern. Beiträge zu einer Problemgeschichte, Leipzig 1932 (Von deutscher Poeterey 12). 52 Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, übers. nach der 2., korrigierten Aufl. von Walter Theimer, München 1990 (dtv 4465). 53 Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, übers. von Ludwig Schmidts, Frankfurt a.M. 1981, S. 297 und 316. 54 Zum Begriff siehe etwa Victor W. Turner, „Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage“, in: Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society, hg. von June Helm, Seattle 1964, S. 4-20. 55 Vgl. etwa Barbara H. Rosenwein, „Worrying about Emotions in History“, in: American Historical Review 107 (2002), S. 821-845; Barbara H. Rosenwein, Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca 2006. menschliches Verhalten eine Ordnung zu geben, wird die Beliebigkeit und Willkür subjektiver Intentionen durch eine Verschmelzung des Akteurs mit der rituellen ‚Rolle‘ überwunden. 49 Für das Funktionieren von Ritualen etwa der Trauer ist es somit nicht notwendig, dass vorausgehend sämtliche Teilnehmer in sich von Trauer erfüllt sind. Man weint sozusagen nicht, weil man traurig ist, sondern man wird erst beim (kollektiven) Weinen traurig, das der rituellen Rolle des (öffentlich und gemeinschaftlich) Trauernden eingeschrieben ist. „Im Ritual ist man, und ist man zugleich nicht Autor seiner Handlungen.“ 50 Die Zäsur zwischen zwei emotionalen Zuständen (Trauer - Freude) der vis concupiscibilis  51 wird jedoch erst durch die königlich gebotene Ausrichtung und Konzentrierung der am Artushof Kommunizierenden auf das Erzählen, Hören und Sammeln der reihum erstatteten Aventüreberichte eingeleitet, und zwar durch einen zuerst von Freude erfüllten König Artus, der sich freilich nicht (nur) als Individuum, sondern als öffentliche Person freut, die einem Kollektiv (Artushof) vorsteht. 52 Um dieser seiner Freude Ausdruck zu verleihen, braucht der König das höfische Kollektiv: Wo zunächst das Gespräch am Hof unter den Einzelnen verstreut von statten geht, kommt es auf Artus’ Geheiß hin zu einer gemeinsamen Handlung oder Bewegung (vgl. Rappoltsteiner Parzifal, V. 769,28 1-9 ). Diese sei, so Dürkheim, die Voraussetzung für kollektiv erfahrene und kollektiv zum Ausdruck gebrachte Emotion: „Zweifellos kann ein Kollektivgefühl nur dann kollektiv ausgedrückt werden, wenn eine bestimmte Ordnung eingehalten wird, die den Einklang und die Gesamtbewegungen erlaubt. […] Genau die Gleichartigkeit dieser Bewegungen gibt der Gruppe ihr Selbstgefühl und ruft es folglich hervor.“ 53 In der rituellen Liminalität, 54 d. h. hier im Zustand der Gleich‐ zeitigkeit von Erzählen, Erfreuen und Erinnern, erfährt sich der Artushof zunächst als Erinnerungsgemeinschaft, denn das arthurische Sammel- und Schreibritual dient zunächst der reinen Konservierung von ‚Aventürewissen‘ in Wiedererzählung und Niederschrift. Der Artushof ist jedoch auch eine Emotionsgemeinschaft, 55 der es um die Verfestigung einer emotionalen Haltung oder Einstellung geht, nämlich der höfischen Freude. 328 Stefan Abel 56 Susanne K. Langer, Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art, London/ Oxford 1951, S. 153. 57 Chrétien de Troyes, Le roman de Perceval ou le conte du graal. Édition critique d’après tous les manuscrits, hg. von Keith Busby, Tübingen 1993, S. 384; nhd. Übersetzung: Chrétien de Troyes, Der Percevalroman (Le conte du Graal), übers. und eingel. von Monica Schöler-Beinhauer, München 1991 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 23), S. 525. Im schroffen Kontrast dazu steht die von Parzival noch unerlöste Gralsgesellschaft: man sach dâ selten freuden schal, / ez wære buhurt oder tanz (Parzival, V. 242,4f.). Auch hier erzeugt das Tanzen nicht nachrangig Freude, sondern Freude besteht vorrangig, die dann im Tanzen zum Ausdruck kommt; vgl. Schnell (wie Anm. 44), S. 595, Anm. 113. This attitude […] is an emotional pattern, which governs all individual lives. It cannot be recognized through any clearer medium than that of formalized gesture [Dürkheims ‚gemeinsame Bewegung‘, S. A.]; yet in this cryptic form it is recognized, and yields a strong sense of tribal or congregational unity, of rightness and security. A rite regularly performed […] is not a free expression of emotions, but a disciplined rehearsal of ‚right attitudes‘. 56 Überlegungen und Bezüge zur modernen Ritualforschung lassen schlussfolgern, dass im fiktionalen Raum der matière de Bretagne, hier am Beispiel der untersuchten Texte, nicht Freude am Sammeln herrscht, sondern aus Freude gesammelt und durch das Sammeln kollektive Freude zum Ausdruck gebracht wird. Diese Art der Motivationsumkehr lässt sich auch an anderen kollektiven Betätigungen der höfischen Kultur im Artusroman beobachten. Neben dem Gesang und der Dichtung, wie bereits erwähnt, ist hier außerdem das kollektive Tanzen zu erwähnen: In Chrétiens Conte du Graal - dies ist eine Textstelle, die so nicht in Wolframs Parzival eingegangen ist - wird Gauvain bei seiner Rückkehr ins Château de la Merveille freudig begrüßt. Diese Freude bringen die Mädchen der Königin Ygerne (Wolframs Arnive) tänzerisch zum Ausdruck: Devant le palais fu assise La roïne por lui atendre Et ot fait ses puceles prendre Main a main totes por danser Et por grant joie commencier. Contre lui grant joie commencent, Chantent et carolent et dancent, Et il vient et descent entre eles. Les dames et damoiseles Et les .ii. roïnes l’acolent Et de grant joie a lui parolent. (Conte du Graal, V. 8986-8996) Vor dem Palas saß die Königin, um ihn [i.e. Gauvain] zu erwarten, und sie hatte ihre Jungfern veranlaßt, sich alle bei den Händen zu fassen, um zu tanzen und große [Willkommens]freude einzuleiten. Zu seinem Empfang zeigen sie große Freude, sie singen, (und) drehen sich im Reigen und tanzen, und er kommt und steigt [mitten] unter ihnen ab. Die Damen und Edelfräulein und die beiden Königinnen umhalsen ihn und richten Worte voll großer Freude an ihn. 57 Auch hier erzeugt das Tanzen nicht nachrangig Freude (speziell am Tanz), sondern Freude (über Gauvains Rückkehr) besteht vorrangig, die dann im Tanzen kollektiv zum Ausdruck 329 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns kommt, ebenso wie im Singen und Dichten, gemeinsamen Essen und schließlich im Sammeln von Aventüreerzählungen. Worüber man sich freut, ist nicht (zwingend) identisch mit dem, wodurch Freude zum Ausdruck kommt. Freude und Tanz ereignen sich zwar simultan, bedingen sich aber nur vordergründig, die Freude richtet sich in Wahrheit auf etwas ganz anderes als das Tanzen selbst. V Fazit: Dichten und Sammeln aus Freude und durch freude Dichten und Sammeln sind verwandte Geistestätigkeiten, ausgelöst, so in ihrer literarischen Darstellung, durch den Wunsch nach Archivierung von Erlebnissen und zum Ausdruck ereignisbezogener Freude, die somit ebenfalls konserviert wird. Die Sammlung als Konser‐ vierungsform der nacherzählten Aventüreerlebnisse versetzt die in der schriftlichen Form des Buchs gesammelten ‚Erzählobjekte‘ in ein sinntragendes Bezugssystem (mout bele conjointure). In den vorgeführten Sammel- und Schreibritualen wird Freude am Sammeln umgekehrt zu einem Sammeln aus Freude, anfänglich des Königs, sehr bald auch eines ganzen Kollektivs, der sich freuenden Artusgesellschaft (Ritualgemeinschaft). In der Phase der Liminalität, in der individuell Erlebtes rituell in die kollektive Erinnerung übergeht, überkreuzen sich die Motivationen: Der freudig gestimmte Artus lässt sich und dem gesamten Hof über die erlebten Aventüren Bericht erstatten und sie schriftlich festhalten, und währenddessen erfreut und erbaut sich der Artushof an den einzelnen Berichten, überwiegend ritterliche Erfolgsgeschichten, und stärkt sich dadurch in seinem höfischen Selbstverständnis und auch in seiner höfischen Freude. Dies schließt auch mit ein, dass literarische Figuren Freude am fiktiv Gesammelten empfinden, so in erster Linie König Artus selbst: […] ein welsch buoch […] das der künig Artus hiez schriben von orte unze ende uz von ir aller munde der von der tofelrunde. daz buoch er alle zit gerne laz, wan ez wor und bewert waz. (Rappoltsteiner Parzifal, Epilog / Sch 850,12-18) Auch der höfische Tanz ist Ausdruck kollektiver Freude und dient bisweilen dem Freuden‐ erwerb. So spricht der Erzähler in Wolframs Parzival auch davon, dass man durch freude an den tanz (V. 436,22) gehe, und den von Gawan erlösten Rittern und Damen von Schastel Marveile sei ir freude am tanze grôz (V. 640,11). Ygernes Tänzerinnen (siehe oben) tanzen aus Freude und, um Freude zu stiften (por grant joie commencier). Eine zweckungebundene Freude an ästhetischem Sammeln scheint am fiktiven Artushof nicht von Bedeutung zu sein. Auch blendet die Darstellung fiktiven Sammelns viele andere Aspekte aus, die beim Blick auf das Sammeln in der außerliterarischen Wirklichkeit alsbald in den Blick geraten, und dies, so etwa bei Johannes Hadlaub, auch im Mittelalter: Wâ vunde man sament sô manig liet? man vunde ir niet in dem kunigrîche, als in Zürich an buochen stât. 330 Stefan Abel 58 Johannes Hadlaub, Lieder und Leichs, hg. und kommentiert von Rena Leppin, Stuttgart/ Leipzig 1995, S. 37f. (Nr. III), hier 37. Rüdigers Sohn Johannes teilt die Sammelleidenschaft des Vaters: Sîn sun, der kuster, der treibs ouch dar, / des si gar vil edils sanges, / die herren guot, hânt zemne brâcht. / ir êre prüevet man dabî. / wer wîste sî des anevanges? / der hât ir êren wol gidâcht. / das tet ir sin, der richtet sî nâch êren; / das ist ouch in erborn wol an. / sang, dâ man [ ] frowen wolgetân / wol mitte kan ir lob gemêren, / den wolten sî nit lân zergân (Str. 2, in: ebd., S. 38). des prüevet man dike dâ meister sang; der Manesse rank darnâch endelîche, des er diu liederbuoch nû hât. gegen sîm hove mechten nîgin die singære, sîn lob hie prüeven und andirswâ, wan sang hât boun und würzen dâ; und wisse er, wâ guot sang noch wære, er wurbe vil endelîch darnâ. (Wâ vunde man sament sô manig liet, Str. 1) 58 Weder der Rappoltsteiner Parzifal noch der Prosa-Lancelot schildern das ästhetische Sam‐ meln als langwierige, mühevolle - und daher ehrenvolle -, generationenübergreifende und niemals abschließbare, jedoch auf Vollständigkeit abzielende Unternehmung, wie es Johannes Hadlaub in seinem Preislied auf die Liedersammler Rüdiger (II.) Manesse († 1304) und dessen Sohn Johannes († 1297) tut, wenn auch literarisch stilisiert: Wâ vunde man sament sô manig liet? 331 Erinnerung und Freude als Impulse literarischen Sammelns 1 Karl Kraus, „Reklamefahrten zur Hölle“, in: Die Fackel, Heft 577-582 (1921), S. 96-98, hier S. 98. Mit dem vorliegenden Beitrag kehre ich nach rund zwei Jahrzehnten noch einmal zur Minneopfer-The‐ matik zurück, als deren Herzstück ich den Sangspruch (Pseudo-)Frauenlobs betrachte. Ich danke den Veranstaltern des Colloquiums für die mir eingeräumte Gelegenheit, meine Beschäftigung mit dem Gegenstand, aus dem ursprünglich eine Dissertation hervorgehen sollte, zu einem befriedigenden Abschluss zu bringen. 2 Zur ‚Troja-Formel‘ in der Eingangsstrophe des Nibelungenlieds vgl. Joachim Heinzle, Das Nibelun‐ genlied. Eine Einführung, München/ Zürich 1987 (Artemis Einführungen 35), S. 74-76. 3 Vgl. Das Nibelungenlied. Nach der St. Galler Handschrift, hg. und erläutert von Hermann Reichert, Berlin/ Boston 2 2017, Strophe 1. 4 Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Text und Übersetzung, Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke, Berlin/ New York 3 2003, V. 7,27f. Frau Minnes groteske Schau-Stücke Sammlungen von Eros und Gewalt in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters. Am Beispiel von (Pseudo-)Frauenlob GA-S V, 204 Robert Schöller I Dass der Mensch durch seine Geburt in eine Mördergrube gerät, musste nicht nur Karl Kraus unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs festhalten 1 ‒ auch der mittelalterliche Mensch war sich der Verhängnisse und der Fallstricke, die in der Welt ausgelegt sind, durchaus bewusst. Doch wird in der weltlichen Literatur des Mittelalters mit anderen Kausalitäten operiert, werden andere Bedrohungsquellen für den Menschen benannt, darunter vorrangig eine: die Minne. Die Minne bildet das Epizentrum der mittelalterlichen Literatur, sie ist zuständig für die Erschütterungen des Menschen in positiver, in erster Linie aber in negativer Hinsicht. Wo Frau Minne regiert, da sind Gewalt, Zerstörung und Tod nicht weit. Selbst der Untergang von Reichen und Völkern wird, nach trojanischem Vorbild, dem universalen Prinzip der Liebe angelastet. Das Nibelungenlied versieht den in seinen Wurzeln nicht eben amourösen, bis in die Völkerwanderungszeit reichenden Stoff, der wohl in engem - obgleich dunklem -Zusammenhang mit dem Untergang des Burgunderreichs zu sehen ist, mit einer Helena-Intonation. 2 Die Burgonden des Nibelungenlieds mussten, wie bereits in der Eingangsstrophe der Handschrift B unmissverständlich gesagt wird, wegen einer Frau namens Kriemhild sterben. 3 Ebenso wird die gewaltige Auseinandersetzung zwischen Christen und Heiden, die der Willehalm Wolframs von Eschenbach vorführt, von einer verhängnisvollen Brautwerbung ausgelöst: Arabeln Willehalm erwarp, / dar umbe unschuldic volc erstarp. 4 Der Wilde Alexander schreibt in seinem Leich den dôn fest, der 5 Das Schlussversikel mündet in die Conclusio des Leichs: Swer dînen [Frau Minnes] schilt wil üeben, / den kan niht betrüeben, / ob in daz kint mit der krône / twinget, daz er volget schône / dem dône / den uns Paris über sê / Brâhte von den Kriechen / dô den minnesiechen: / dô die Kriechen gewunnen Troje, / swer dâ truoc der minnen boje, / des croije / was niht wan ach unde owê. Zitiert nach: Deutsche Lyrik des späten Mittelalters. Text und Kommentar, hg. von Burghart Wachinger, Frankfurt a. M. 2006, Nr. 4. Zu den Schmerzensinterjektionen, die den dôn determinieren, vgl. Robert Schöller, Herzwörtchen. Historische Poetik der Interjektion, Bern (masch.) 2017, S. 243-247. 6 Zitiert wird hier und in der Folge: Des Minnesangs Frühling, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann u. a. bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte, 38., erneut revidierte Auflage mit einem Anhang: „Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment“, Stuttgart 1988. 7 Vgl. Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters, hg. von Manfred Kern und Alfred Ebenbauer unter Mitwirkung von Silvia Krämer-Seifert, Berlin/ New York 2003, S. 46, wo neben Candacis auch die Blumenmädchen-Episode des Alexanderromans als mögliche Referenz angeführt wird. 8 Vgl. Friedrich Maurer, „Der Topos von den ‚Minnesklaven‘. Zur Geschichte einer thematischen Gemeinschaft zwischen bildender Kunst und Dichtung im Mittelalter“, in: ders., Dichtung und Sprache des Mittelalters. Gesammelte Aufsätze, Bern/ München 2 1971 (Bibliotheca Germanica 10), S. 224-248, hier S. 224 (zit.; Erstdruck: ZfdPh 27 (1953), S. 182-206). 9 Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissen‐ schaft, Stuttgart 3 1990 (§§ 410-426). stets der Minne folgt: Dessen Grundmelodie, die seit dem Trojanischen Krieg in die Welt gesetzt ist, bildet das ach und owê der Menschheit. 5 Dieser dôn - die gehauchten, geseufzten und gebrüllten Klagelaute ihrer Opfer - ist Musik in den Ohren von Frau Minne. Und die macht keineswegs halt vor großen Namen, im Gegenteil: Gerade die prominentesten und ranghöchsten Vertreter der Menschheit - Kaiser, Könige, Helden und Philosophen - wecken ihr Interesse. Sie sind beliebte Sammlerstücke, die sich Frau Minne in ihre Vitrine stellt. Dabei überwiegen zunächst die Einzelstücke. In einem Lied Heinrichs von Veldeke wird Salomon vorgeführt: Diu minne betwanc Salomône, der was der alrewîseste man, der ie getruoc küniges krône. wie mohte ich mich erwern dan […]. (MF 66,16) 6 Ulrich von Gutenburg wiederum beruft sich in seinem Leich auf Alexander den Großen, wobei hier wohl auf die Candacis-Episode des Alexanderromans angespielt wird: 7 Alexander der betwanc diu lant von grôzer krefte; doch muoste er sunder sînen danc der minne meisterschefte sîn undertân umb eine vrouwen wolgetân, die er erkôs: er enwart ouch nie mê sigelôs. (MF 69,1) Seit Friedrich Maurer den Terminus eher beiläufig einführte, 8 hat man es sich in der mediä‐ vistischen Germanistik angewöhnt, diese historischen Persönlichkeiten unter rhetorischen Gesichtspunkten als Exempla 9 für die zerstörerische Macht der Minne zu kategorisieren und 334 Robert Schöller 10 In der Kunstgeschichte spricht man hingegen in der Regel von ‚Weibermacht‘ und ‚Weiberlist‘, vgl. z. B. das Lexikon der Kunst, Bd. 7, Berlin 2 1999 s.v. ‚Weiberregiment, Weibermacht, Weiberlisten‘. In der frühen Sexualkunde dominierte der Begriff der ‚Weiberherrschaft‘, vgl. etwa Alfred Kindt, Die Weiberherrschaft in der Geschichte der Menschheit, 4 Bde., Wien/ Leipzig 1930. 11 Vgl. Rüdiger Schnell, Causa Amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/ München 1985 (Bibliotheca Germanica 27), S. 475-505 (Kap. „Frauensklave und Minnesklave“); Rüdiger Schnell, „Minnesang I: Die Anfänge des deutschen Minnesangs (ab ca. 1150/ 70)“, in: Germania Litteraria Mediaevalis Francigena, Bd. 3: Lyrische Werke, hg. von Volker Mertens und Anton Touber, Berlin/ Boston 2012, S. 25-82, hier S. 49. 12 Lexikon der antiken Gestalten in den deutschen Texten des Mittelalters (wie Anm. 7), S. 660. 13 Jan-Dirk Müller, Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik, Tübingen 2007, S. 6. 14 Müller (wie Anm. 13), S. 6. 15 Maurer (wie Anm. 8) verwendet ebenfalls an einer Stelle (S. 202) den Begriff ‚Minne-Opfer‘. Vgl. auch z. B. Elisabeth Lienert, „Ritterschaft und Minne, Ursprungsmythos und Bildungszitat - Troja-Anspielungen in nichttrojanischen Dichtungen des 12. bis 14. Jahrhunderts“, in: Die deutsche Trojaliteratur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Materialien und Untersuchungen, hg. von Horst Brunner, Wiesbaden 1990, S 199-243, hier S. 204f.; Christiane Witthöft, „Substitutionen in der minne. Lancelot und Ginover“, in: PBB 132 (2010), S. 62-87, hier S. 74, Anm. 59. Der ‚Frauensklave‘ wäre dann als ‚Frauenopfer‘, der ‚Minnetor‘ bzw. der ‚Minnenarr‘, der in der spätmittelalterlichen (Schwank-)Literatur in grotesker Überzeichnung begegnet, als Unterkategorie des ‚Minneopfers‘ zu fassen. unter dem Terminus ‚Minnesklaven‘ zu subsumieren. 10 Rüdiger Schnell stellte folgerichtig in seiner gewichtigen Studie Causa Amoris dem Minnesklaven den ‚Frauensklaven‘ zur Seite. 11 Er trug damit einem in seiner Bedeutung kaum zu unterschätzenden Transforma‐ tionsprozess Rechnung, in dessen Verlauf der misogyn determinierte Topos des von Frauen besiegten Mannes in der geistlichen Literatur zum höfisch-weltlichen Topos des von der Minne besiegten Menschen, häufig eingebunden in ein „höfisches Mitleidpathos“ 12 , umge‐ formt wird. Die geistliche, mit klaren Wertungen versehene Warnung vor der verderblichen Wirkung der Frau, wie sie insbesondere in Predigten begegnet, wird überführt aus einem klerikalen „Kulturmuster“ 13 hin in ein „relativ selbständiges System ‚Literatur‘“ 14 , das eigenen diskursiven Regeln folgt und weitaus größere Freiheiten in der Ausgestaltung des Themas gestattet. Über die Begrifflichkeit selbst mag man geteilter Meinung sein: Ein ‚Minnesklave‘ oder gar ein ‚Frauensklave‘ erinnert mehr an die erotische Dekadenzliteratur um 1900 denn an den Minnediskurs des Mittelalters. In diesem Beitrag wird daher der in der Forschung gelegentlich begegnende Begriff ‚Minneopfer‘ bevorzugt, 15 der auch die geschlechtsspezifische Perspektive neutraler konturiert. Denn als eine wesentliche Konsequenz des von Schnell herausgestellten Transformationsprozesses ist der Umstand zu begreifen, dass in der weltlichen Ausgestaltung des Topos auch Frauen zu Opfern der Minne werden können. Entsprechend illustriert etwa Heinrich von Neustadt die verderbliche Macht der Minne mit prominenten literarischen Liebespaaren: Fraw Mynne […] Seyt ir ein göttynne Und ain kunigynne? Nain zwar, ir morderynne! Wie mort ir nicht Tristranden Und Ysotten von Irlanden! 335 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 16 Heinrich von Neustadt, ‚Apollonius von Tyrland‘ nach der Gothaer Handschrift, ‚Gottes Zukunft‘ und ‚Visio Philiberti‘ nach der Heidelberger Handschrift, hg. von S[amuel] Singer, Berlin 1906 (DTM 7), Nachdruck: Dublin/ Zürich 1967. 17 Zur enormen Wirkung des Parzival auf die mittelhochdeutsche Literatur noch immer grundlegend: Bernd Schirok, Parzivalrezeption im Mittelalter, Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 174). 18 Zu Veldeke (MF 66,16) siehe oben. Die entsprechende Formulierung im Parzival weist Parallelen zu Veldeke auf: der minne er muose ir siges jehen / diu Salmônen ouch betwanc (V. 289,16f.). Auf die höfisch-positive Besetzung dieses traditionell negativen Exempels im Parzival - wie dies auch bei Veldeke der Fall ist - verweist Ulrike Draesner, Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs Parzival, Frankfurt a. M. u. a. 1993 (Mikrokosmos 36), S. 249-252. Vgl. weiters Fritz Peter Knapp, „Antike und moderne Beispielfiguren in Wolframs Parzival als Stilphänomene und Intertextualitätssignale“, in: Exemplum et similitudo. Alexander the Great and Other Heroes as Points of Reference in Medieval Literature, hg. von Willem J. Aerts und Martin Gosman, Groningen 1988 (Mediaevalia Groningana 7), S. 99-121, hier S. 112. Die Minneopfer-Kataloge bespricht Knapp nicht. 19 Vgl. Gottfried von Straßburg, Tristan, Band I: Text, hg. von Karl Marold, unveränderter fünfter Abdruck nach dem dritten, mit einem auf Grund von Friedrich Rankes Kollationen verbesserten kritischen Apparat besorgt und mit einem erweiterten Nachwort versehen von Werner Schröder, Berlin/ New York 2004, V. 17186-17203. Die Geschichten werden anhand der weiblichen Figuren (Phyllis, Kanake, Byblis, Dido) kenntlich gemacht. 20 Das Erzähler-Ich gibt sich als ‚Wolfram von Eschenbach‘ zu erkennen. Es erscheint mir daher konsequent, von einem ‚Wolfram-Erzähler‘ zu sprechen, der werkübergreifend eine eigene Identität behauptet. Zum Erzähler in Wolframs Werken und zu dessen Einfluss auf die Gestaltung der Erzählerrolle im ‚Jüngeren Titurel‘ vgl. zuletzt Joachim Heinzle, Wolfram von Eschenbach. Dichter der ritterlichen Welt. Leben, Werke, Nachruhm, Basel 2019. 21 Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival, mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/ New York 1999, V. 115,26-30; Willehalm (wie Anm. 4), V. 2,19-22. Pyramus und Tyswe, Den geschach von ewren raten we. (V. 171-178) 16 Dominieren in den Anfängen - wie bei den oben zitierten Dichtern Heinrich von Veldeke und Ulrich von Gutenberg - die Einzelstücke, so werden diese (je nach Gattung in unterschiedlicher Intensität) allmählich zu umfassenden Sammlungen ausgebaut. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere dem vielrezipierten Wolfram und dessen Parzival in der weltlichen Literatur auch in diesem Zusammenhang potenzierende Wirkung zu‐ kommt. 17 Nachdem im ersten Minne-Exkurs (291,1-293,17) zunächst nur einige wenige Beispielfiguren Erwähnung finden, wird im dritten dieser Exkurse (585,5-587,14) eine Vielzahl von Beispielen für die Macht der Minne beigebracht. Wolfram greift jedoch gerade nicht auf die in seinem zeitlichen Kontext zu erwartenden traditionellen biblischen oder antiken Beispielfiguren der geistlichen Literatur zurück; lediglich das wohl an Veldeke (MF 66,16) orientierte Salomon-Exemplum 18 wird abseits der Minne-Exkurse im Rahmen der Blutstropfenepisode angeführt. Während etwa Gottfried von Straßburg seine Protagonisten Tristan und Isolde, unter einer Linde sitzend, einander unglückliche Liebesgeschichten aus dem Ovid erzählen lässt, 19 listet Wolfram seine eigenen von der Minne bedrängten Helden und Heldinnen auf. Es sind keine gelehrten Beispiele aus hehrer, doch weit entfernter Vergangenheit, sondern aus dem Hier und Jetzt seines Romans. Der Wolfram-Erzähler 20 stellt, im Einklang mit dessen programmatischen Selbstaussagen, 21 nicht die eigene Bele‐ senheit aus, sondern kristallisiert das Minneverhängnis exemplarisch aus der eigenen 336 Robert Schöller 22 Michael Müller, Namenkataloge. Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit, Hildesheim u. a. 2003 (Documenta Onomastica Litteralia Medii Aevi, Reihe B, Bd. 3), geht in seiner breit angelegten Studie der Entwicklung der Namenkataloge seit der Antike (Homer, Vergil) bis in die Frühe Neuzeit nach, allerdings ohne Berücksichtigung der Kataloge von Minneopfern. 23 Die Sangspruchdichtung etwa neigt aufgrund ihres lehrhaften, auch und vor allem auf Wissensver‐ mittlung ausgerichteten Charakters im Vergleich zum Minnesang stärker zur Katalogbildung. Die Epik wiederum nutzt den ihr gegebenen breiteren Raum zu einer voluminöseren Entfaltung von Anschauungsmaterial, wobei - thematisch bedingt - Sammlungen von Minneopfern im höfischen Roman weitaus häufiger als in der Heldenepik begegnen. Am Schnittpunkt zwischen lyrischer und epischer Ausformung des Minneopfertopos ist Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst anzusetzen, vgl. Jan-Dirk Müller, Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenlieds, Tübingen 1998, S. 412. 24 Deutsche Liederdichter des 13. Jahrhunderts, hg. von Carl von Kraus. Bd. 1: Text, Tübingen 1952, S. 367 (Rudolf von Rotenburg, Leich III, V. 45-50) und S. 54 (der Dürinc, Lied I, V. 11-18). Vgl. dazu Schirok (wie Anm. 17), S. 84 (Rudolf von Rotenburg) und 101 (Dürinc). Schirok geht - sicherlich zurecht - davon aus, dass der Dürinc „[d]ie inhaltliche Anregung zu dem Lied […] von Wolframs Minneanklage im Parzival erhalten habe“ (S. 101). 25 Eine schier endlose Belegsammlung aus der deutschsprachigen, aber auch aus der altfranzösischen und lateinischen Literatur sowie aus der darstellenden Kunst verzeichnet Heimo Reinitzer, „Über Beispielfiguren im Erec“, in: DVjs 50 (1976), S. 597-639, hier S. 600-602, Anm. 14-16. Erzählung heraus. Ebenso dürfte das Prinzip der Quantifizierung, durch das die Wucht der Minnewirkung anhand der großen, Unüberschaubarkeit suggerierenden Zahl der Opfer veranschaulicht wird, die Zeitgenossen und Nachfahren inspiriert und als Multiplikator gewirkt haben. 22 In den verschiedensten Gattungen, insbesondere im höfischen Roman und in der Sangspruchdichtung, 23 gewinnen Reihungen, auch jene von Minneopfern, neben und nach Wolfram an Gewicht. Dies kann exemplarisch anhand der Parzivalfigur selbst demonstriert werden, die nun als direkte Wolfram-Reminiszenz neben weiteren höfischen, aber auch biblischen Figuren in den Katalogen als Minneopfer geführt wird, etwa im Leich Rudolfs von Rotenburg (KLD I, Leich III), in dem Parzival als Minneopfer neben Meljoth und Clies figuriert, oder im Minnelied des Dürinc (KLD I, Lied I), in dem Parzival als einziger Repräsentant des höfischen Romans etwas überraschend im Verbund mit den biblischen Exempla Adam, Sampson, David und Salomon genannt wird. 24 Die Minneopfer-Sammlungen, die in der höfischen Literatur wie in der darstellenden Kunst auf Schritt und Tritt begegnen, können als Konzentrate des allumfassenden Liebes‐ diskurses des Mittelalters begriffen werden 25 - eines Liebesdiskurses, in dessen Rahmen gerade die destruktiven Facetten der Minne, die in der Epik und in der Lyrik in je eigenen Modi breit entfaltet werden, exemplarisch ausgeleuchtet werden: Wahnsinn, Krieg, Mord, Selbstmord, Erniedrigung, Einsamkeit, gesellschaftliche Ächtung, Untergang (von Individuen und ganzen Reichen), Eifersucht, Vergewaltigung, Verrat. II Unter den Minneopfer-Sammlungen des deutschsprachigen Mittelalters ragt ein Sang‐ spruch heraus, der in der Überlieferung Heinrich von Meißen (Frauenlob) zugeschrieben 337 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 26 Auf die explizite Zuschreibung des Spruchs an Frauenlob in der Würzburger Liederhandschrift verweist auch Gisela Kornrumpf, „Konturen der Frauenlob-Überlieferung“, in: dies., Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhandschrift. Aspekte der Überlieferung, Formtraditionen, Texte, Bd. 1: Untersuchungen, Tübingen 2008, S. 169-197, hier S. 177. 27 Heinrichs von Meissen des Frauenlobs Leiche, Sprüche, Streitgedichte und Lieder, erläutert und hg. von Ludwig Ettmüller, Leipzig 1843 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 16). 28 Auf meine Nachfrage begründete Karl Stackmann den Eingriff mit dem Reihungsprinzip, das er für untypisch für Frauenlobs Werk erachtete: „Es ist v. a. das Priamelhafte, was mich an der Verfasserschaft Frauenlobs zweifeln lässt“ (Brief vom 16. November 2003). 29 Frauenlob (Heinrich von Meissen), Leichs, Sangsprüche, Lieder, auf Grund der Vorarbeiten von Helmuth Thomas hg. von Karl Stackmann und Karl Bertau, 2 Bde., Göttingen 1981 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 119). 30 Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe, unter Mitarbeit von Thomas Riebe und Christoph Fasbender hg. von Jens Haustein und Karl Stackmann, 2 Bde., Göttingen 2000 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge. Nr. 232). 31 Ich zitiere nach dieser Ausgabe (wie Anm. 30), mache aber den - sachlich m. E. kaum zu rechtferti‐ genden - betreffenden Eingriff in Vers 14 (Asahel) rückgängig. Haustein/ Stackmann ersetzten den bestens bezeugten Asahel durch den unikal überlieferten Ismahel, vgl. Robert Schöller, „Ismahel oder Asahel? Anmerkungen zu einem Sangspruch (Pseudo-)Frauenlobs anlässlich seiner Neuedierung im Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausgabe“, in: ZfdPh 122 (2003), S. 416-424. wird. 26 Ludwig Ettmüller nahm den Text daher in seine Frauenlob-Edition auf. 27 Im Anschluss an die Vorarbeiten von Helmuth Thomas eliminierte Karl Stackmann hingegen den Spruch in Folge von Echtheitserwägungen 28 aus seiner heute maßgeblichen Göttinger Frauenlob-Ausgabe. 29 Aufgenommen wurde er dann aber unter der Nummer V, 204 in die gemeinsam mit Jens Haustein erstellten Supplement-Bänden (GA-S), 30 die jene Lieder verzeichnen, die unter Frauenlobs Namen überliefert sind, aber nicht in der Göttinger Ausgabe aufscheinen: 31 Adam, den ersten menschen, den betrog ein wib. Sampsonis lib wart durch ein wib geblendet. David wart geschendet, her Salomon auch gotes richs [ ] durch ein wib gepfendet. Absolons schöne in niht vervieng, in het ein wib betöret. Wie gewaltig Alexander was, dem geschach alsus. Virgilius wart betrogen mit falschen siten, Olofern [ ] versniten. da wart auch Aristotiles von einem wibe geriten. Troie die stat und allez ir lant wart durch ein wib zerstöret. Achilli, dem geschach alsam. der wilde Asahel wart zam. Arthuses scham von wibe kam. Parcifal groze sorge nam. 338 Robert Schöller 32 Beispielsweise schiebt sich der biblische Asahel zwischen die antiken Exempla. 33 Es handelt sich um Minneopfer, da die Frauen durch die Schlussverse deutlich als Werkzeuge der Minne ausgewiesen sind; vgl. Schnell (wie Anm. 11), S. 475-505. 34 Zum Hintergrund der einzelnen Beispielfiguren vgl. Werner Wunderlich, Weibsbilder al fresco. Kulturgeschichtlicher Hintergrund und literarische Tradition der Wandbilder im Konstanzer Haus ‚Zur Kunkel‘, Konstanz 1996, S. 113-156; Marcus Castelberg, Wissen und Weisheit. Untersuchungen zur spätmittelalterlichen Süddeutschen Tafelsammlung (Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4), Berlin/ Boston 2013 (Scrinium Friburgense 35), S. 190-252. 35 Die Überlieferungsträger sind verzeichnet in: Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 65f. (Kommentar zu GA-S V, 204). 36 Vgl. hierzu Schöller (wie Anm. 31), S. 418. 37 Zitiert: Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 357 (Komm. zu V, 206; Abbreviaturen aufgelöst). sit daz fugte der minnen stam, waz schat denn, ab ein reinez wib mich brennet unde fröret? Entworfen wird in diesem Sangspruch ein Panoptikum des universalen Minneverhäng‐ nisses, dargestellt anhand der zentralen Metapher des Minnebaums, der Blätter getrieben hat. Als Ordnungskategorie der Sammlung dient eine in der Anlage nachvollziehbare, aber nicht immer konsequent durchgeführte ‚chronologische‘ Abfolge. 32 Das Spektrum der Minneopfer 33 erstreckt sich von den biblischen Exempla - beginnend mit Adam, dem ersten Menschen und zugleich dem ersten Minneopfer - über antike Herrscher und Philosophen bis in die Gegenwart, die durch das Figureninventar des höfischen Romans (Artus, Parzival) angezeigt wird. 34 Die Sammlung von Minneopfern wird in den Schlussversen in Relation gesetzt zur konkreten Befindlichkeit des ‚Ichs‘, das sich ebenfalls in einer minnebedingt prekären Lage befindet und bereits ovidianische Krankheitssymptome aufweist. Der Sangspruch zählt zu den erfolgreichsten Texten, die unter Frauenlobs Namen tra‐ diert wurden. Der Erfolg des Spruchs manifestiert sich zunächst in seiner - gemessen sowohl an den Dimensionen mittelalterlicher Lyrikals auch der Frauenlobüberlieferung - überaus breiten Reproduktion: Es haben sich insgesamt sieben Überlieferungsträger erhalten. 35 Dass der Text zudem gewissenhaft gelesen wurde, zeigt sich an der überwiegend lateinischen, gelegentlich auch deutschen Glossierung des Spruchs im Hausbuch Michaels de Leone (Würzburger Liederhandschrift) durch eine Hand, die Michael selbst zuzuweisen sein könnte. Diese Glossierungen, die - bezeichnenderweise mit Ausnahme des in diesem Kontext schwer einzuordnenden biblischen Läufer Asahel 36 - jedes Minneopfer gewissenhaft mit Stellenangaben aus Bibel und höfischem Roman versehen, geben einen Hinweis auf einen erweiterten Rezeptionshorizont des Textes, der zumindest in diesem einen Fall als Wissensliteratur gelesen wurde. Für die Popularität des Spruchs spricht des Weiteren die präzise Tonangabe in dem auf 1370/ 80 datierten Engelberger Cantionale (Cod. 314), die einer Priesterlehre vorangestellt ist: Jn der langen wis frŏwenlobs als adam den ersten man den. Darauf folgt in Zierschrift: Ein lied von priester wirdikeit. 37 Die wohl bemerkenswertesten und spektakulärsten Rezeptionsakte aber sind in der visuellen Aufbereitung zu greifen. Graphische Umsetzungen des Spruchs liegen einerseits in Gestalt der Konstanzer Fresken vor, die dendrochronologischen Untersuchungen zufolge frühestens 1319/ 1320 entstanden 339 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 38 Bernd Schirok, „Die Parzivaldarstellungen in (ehemals) Lübeck, Braunschweig und Konstanz“, in: Probleme der Parzival-Philologie. Marburger Kolloquium 1990, hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson und Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1992 (Wolfram-Studien 12), S. 172-190, hier S. 186, Anm. 47. Einen Überblick über die Geschichte der Konstanzer Fresken (inklusive neuer, über Wunderlich (wie Anm. 34) hinausgehende Transkriptionen der Umschriften) bietet ein Anhang in den Sangsprüchen in Tönen Frauenlobs (wie Anm. 30), Bd. 1, S. 35-39. 39 Abb. 1: Homepage des Hauses zur Kunkel: www.lkm.uni-konstanz.de/ otg/ konstanz/ kunkel/ rund gang.php? menu_ID=start [Zugriffe hier und im Folgenden am 31.12.2020]. Abb. 2: Wunderlich (wie Anm. 34), S. 114. Vgl. Steffen Bogen, Birgit Rucker: Das Haus zur Kunkel. Mittelalterliche Wandmalerei in Konstanz, Lindenberg i. Allgäu 2016. 40 Die ‚Süddeutsche Tafelsammlung‘. Edition der Handschrift Washington, D.C., Library of Congress, Lessing J. Rosenwald Collection, ms. no. 4, hg. von Marcus Castelberg und Richard Fasching, Berlin/ Boston 2013 (Scrinium Friburgense 34). 41 Vgl. Castelberg (wie Anm. 34), S. 243. sein können. 38 Die Minneopfer-Medaillons, die mit Umschriften aus dem (Ps.-)Frauenlob-Text versehen waren, sind nicht erhalten, doch existieren Durchzeichnungen auf Karton, die eilig angefertigt wurden, bevor die Wand im 19. Jahrhundert abgerissen wurde. Mehrere Räume des Konstanzer ‚Hauses zur Kunkel‘ waren mit Fresken geschmückt, u. a. mit Motiven aus dem Parzival. Als ob die alles beherrschende Macht der Minne auch in der räumlichen Hierarchie manifest werden sollte, thronen deren Opfer im dritten und obersten Stock: Abb. 1 und 2: Konstanzer Haus zur Kunkel (Gebäudeumriss, Bilddetails). 39 Zum anderen existieren Illustrationen in der im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts entstandenen Süddeutschen Tafelsammlung, die neuerdings von Marcus Castelberg und Richard Fasching in einer Edition zugänglich gemacht wurden. 40 Auf zwei ursprünglich wohl gegenüberliegenden Blättern 41 wird der Sangspruch (Ps.-)Frauenlobs illustriert: 340 Robert Schöller 42 Die Abbildungen sind entnommen: www.loc.gov/ resource/ rbc0001.2006rosen0004. 43 Zu den Hintergründen vgl. Castelberg (wie Anm. 34), S. 229-236. 44 Vgl. Castelberg (wie Anm. 34), S. 237-239; Eckart Conrad Lutz, Spiritualis fornicatio. Heinrich Wittenwiler, seine Welt und sein Ring, Sigmaringen 1990 (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 32), S. 331f. 45 Zu den Liedern in der Tradition (Pseudo-)Frauenlobs vgl. auch die Aufstellung von Walter Röll, Kommentar zu den Liedern du Reimpaarreden Oswalds von Wolkenstein, Teil I: Einleitung und Kommentar zu den Liedern Klein 1-20, Habil. (masch.): Hamburg 1968, S. 35. Abb. 3 und 4: Süddeutsche Tafelsammlung, Washington, D.C., Library of Congress, Rare Book and Special Collections Division, Rosenwald 4 (Bl. 8r und 7v). 42 Auf Blatt 8r ist rechts oben der (Ps.-)Frauenlob eingetragen. Daneben sind vier weitere Minneopfer abgebildet, die - abgesehen von Holofernes, der aus bildsymmetrischen Gründen auf das andere Blatt gerutscht ist - das Figureninventar des Spruchs erweitern: Es handelt sich um Karl den Großen, dem Inzest mit seiner Schwester Gisela und Beischlaf mit seiner toten Ehefrau vorgeworfen wurde, um den (pseudo-historischen) Philosophen Secundus, der in der Legendenbildung seine Mutter verführte, sowie um ein nicht näher zu identifizierendes, unbenanntes Liebespaar. 43 Die großflächige Illustration im unteren Teil zeigt eine Reihe von Minneopfern, die unter Führung des ‚Ichs‘ vor einer spärlich bekleideten Dame aufmarschieren. 44 Auf Blatt 7v werden in insgesamt 15 rechteckigen Miniaturen die knappen Andeutungen der Frauenlobstrophe in Wort und Bild szenisch ausgeführt. Der Erfolg des Spruchs manifestiert sich zuletzt in der produktiven literarischen Aneignung des Textes, die in Gestalt von mehr oder weniger deutlich erkennbaren Adaptationen erfolgen. 45 Zu dieser literarischen Reihe sind zwei Strophen im Langen Ton 341 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 46 Das Lied begegnet in zwei Strophen im Langen Ton Regenbogens in der Kolmarer Liederhandschrift (k Reg/ LangT 36 = RSM Regb/ 4/ 508a); die erste Strophe findet sich zudem in der Handschrift Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibl., Cod. Quart. 564 (f Reg/ LangT/ 116 v 1 = RSM Regb/ 4/ 617a). Die zweifach überlieferte Strophe variiert, abgesehen von einem zwei Verse umfassenden Textausfall in f, nur in wenigen Details. Zur Überlegung einer getrennten Entstehung der beiden Strophen vgl. Frieder Schanze, Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs, 2 Bde., München 1983- 84 (MTU 82/ 83), Bd. I, S. 86; Michael Baldzuhn, Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literarischen Traditionszusammenhang auf der Grundlage der Kolmarer Liederhandschrift, Tübingen 2002, S. 297. Eine getrennte Entstehung der beiden Strophen zöge allerdings, wie Schanze selbst einräumt, die Konsequenz nach sich, dass die Zugriffe auf (Ps.-)Frauenlob unabhängig voneinander erfolgten. Die These setzt demnach ein eher unwahrscheinliches Szenario voraus. Zur mehrmaligen Verwendung einzelner Strophen im Langen Ton vgl. Holger Runow, „Mouvance - Cluster - Edition. Zum Problem der Darstellbarkeit liedübergreifender Überlieferungsformationen in Regenbogens Langem Ton“, in: Sangspruchdichtung zwischen Reinmar von Zweter, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim, hg. von Horst Brunner und Freimut Löser unter redaktioneller Mitarbeit von Janina Franzke, Wiesbaden 2017 ( Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 21), S. 295-308. 47 Der Text folgt hier und im Anhang der in Arbeit befindlichen Edition von Judith Lange für die LDM: k Reg/ LangT 36-38, hg. von Judith Lange, in: Lyrik des deutschen Mittelalters, online hg. von Manuel Braun, Sonja Glauch und Florian Kragl. Für die Bereitstellung des (noch nicht endredigierten) Textes vor Drucklegung bin ich Judith Lange sehr zu Dank verpflichtet. 48 Meisterlieder der Kolmarer Handschrift, hg. von Karl Bartsch, Stuttgart 1862 (Bibliothek des Littera‐ rischen Vereins in Stuttgart LXVIII), Nr. 83, V. 59. 49 Maurer (wie Anm. 8), S. 203, übernimmt die Konjektur von Bartsch kritiklos; Christine Kasper, Von miesen Rittern und sündhaften Frauen und solchen, die besser waren. Tugend- und Keuschheitsproben in der mittelalterlichen Literatur vornehmlich des deutschen Sprachraums, Göppingen 1995 (GAG 547), S. 463, lässt hingegen leise Zweifel an der Gleichsetzung von liemet mit Lunete erkennen. Regenbogens (k Reg/ LangT 36) 46 zu zählen, dessen umfassendere Quantität - zusätzlich zur Verdoppelung der Strophenzahl - eine weiter ausholende, narrative Ausgestaltung der knappen Andeutungen des (Ps.-)Frauenlob und zusätzlich eine differenziertere Argumen‐ tationsstrategie erforderlich machte. So werden etwa die zur Interpretation einladenden (Ps.-)Frauenlob-Verse Arthuses scham / von wîbe kam (V. 15 f.) in einen umfassenderen Motivationskomplex eingebunden: doch Artus muste liden scham von wiben, sehent, ob daz nit wonder were. der werde konig lobesam kam auch von einre meyde in schammes swere: die selbe maget hieß Liemet, daz mercket über al. (V. 9-14) 47 Karl Bartsch besserte den Namen der Frau, die Artus in Bedrängnis brachte (Liemet), kurzerhand zu Lûnete. 48 Friedrich Mauer brachte in der Folge Iwein ins Spiel: „Es ist kein Zweifel, daß der werde künic lobesam nur Iwein sein kann. Sein Name fehlt, vielleicht weil er der Zeit nicht mehr geläufig war.“ 49 Das wäre ein überraschender und unvermittelter Wechsel zum nicht namentlich genannten Iwein, der zudem einen Bruch mit der im Lied vorherrschenden Plausibilisierungsstrategie bedeutete, in deren Rahmen sämtliche Opfer mit Namen bezeichnet und deren Hintergründe ausgeleuchtet werden. Mit Ausnahme von Ector, der Achill zur Seite gestellt wird, wurde das Inventar der Exempla aber nicht 342 Robert Schöller 50 Vgl. hierzu Frieder Schanze, „Luneten Mantel“, in: 2 VL, Bd. 5, Berlin/ New York 1985, Sp. 1068f. 51 Vgl. Gabriel Viehhauser, „Treueproben in Sangspruchtönen. Zur Ausprägung des weltlichen Erzähl‐ lieds am Übergang der Gattung zur Mehrstrophigkeit“, in: Sanspruchdichtung zwischen Reinmar von Zweter, Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim (wie Anm. 46), S. 335-348. 52 Vgl. auch Schanze (wie Anm. 46), Bd. I, S. 86 53 Zum Minnespruch allgemein vgl. Günther Schweikle, Minnesang, Stuttgart/ Weimar 2 1995, S. 127f.; Gert Hübner, Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008, S. 26-28. Zu den Minnesprüchen Frauenlobs vgl. Margreth Egidi, „Poetik der Unterscheidung: Zu Frauenlobs Liedern“, in: Studien zu Frauenlob und Heinrich von Mügeln. Festschrift für Karl Stackmann zum 80. Geburtstag, hg. von Jens Haustein und Ralf-Henning Steinmetz, Freiburg/ Schweiz 2002 (Scrinium Friburgense 15), S. 103-123. 54 Reinmar von Zweter verknüpft ebenfalls die Auflistung von Minneopfern mit einer differenzierten Conclusio. Die den Spruch dominierende wîbes minne (V. 2, 5, 8, 9) sei dort zu ehren, wo sie zur Mehrung männlicher Tugend beiträgt; wo sie jedoch den Mann vom rechten Weg abbringt, dort sei die Minne mit unsinne (V. 12) vermischt. Vgl. Die Gedichte Reinmars von Zweter, hg. von Gustav Roethe, Leipzig 1887, Nachdruck Amsterdam 1966, Nr. 103 (Kommentar S. 596f.). 55 Michael Baldzuhn, „Minne in den Sangspruchtönen Regenbogens. Eine Überschau in typologischer Absicht“, in: Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposium Würzburg, 15. -18. Februar 2006, hg. von Dorothea Klein zusammen mit Trude Ehlert und Elisabeth Schmid, Tübingen 2007, S. 187-242, hier S. 198, spricht von einer „ambivalenten Perspektivierung“ der beiden Strophen. Diese scheint mir aber nur insofern gegeben zu sein, als in der zweiten Strophe (somit der dritten des Dreierbars in der Kolmarer Handschrift) zusätzlich zu den negativen Beispielen der ersten Strophe (der zweiten des Dreierbars) nun auch Beispiele für das positive Wirken der Frauen beigebracht werden, um die ausgewogene Conclusio vorzubereiten. Zu der Annahme einer einheitlichen Konzeption der beiden Strophen liegt hier kein Widerspruch vor. erweitert. Falls der Eingriff von Bartsch das Richtige treffen sollte, dann käme mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit das Erzähllied Luneten Mantel in Regenbogens Briefweise in Frage, in dem Lunete den Artushof mit einer Mantelprobe in Verlegenheit bringt. 50 Bei Liemet ist demnach entweder an die Lunete dieser Mantelprobe oder aber an eine nicht näher zu identifizierende Botenfigur im Rahmen einer der auch im spätmittelalter‐ lichen Erzähllied zahlreich überlieferten Tugendproben zu denken. 51 Der Illustrator der Süddeutschen Tafelsammlung stellt die Artus betreffenden (Ps.-)Frauenlob-Verse denn auch in den Kontext einer Hornprobe; in dem in Regenbogens Zartem Ton gestalteten Lied XLIX (Ausgabe Bartsch) taucht zudem eine Lunet mit dem horn (V. 27) auf. Die markanteste Abweichung vom Prätext - (Ps.-)Frauenlob ist allein schon aufgrund der früh einsetzenden Überlieferung der Vorrang einzuräumen 52 - bildet jedoch die Umgestaltung der Conclusio. Bei (Ps.-)Frauenlob GA-S V, 204 handelt es sich um einen Minnespruch, angesiedelt an der Grenze von Sangspruch und Minnelied. 53 In formaler Hinsicht (Langer Ton, kumulatives Prinzip) dem Sangspruch angehörend, erinnert das von Minnenöten geplagte Ich, das die eigene Befindlichkeit in Relation zu den ‚historischen‘ Minneopfern stellt, zugleich an die subjektive Ausgestaltung der Ich-Position des Minnesangs. Hingegen zielen die Strophen k Reg/ LangT 36 gerade nicht auf ein von den Frauen bedrängtes und bedrohtes ‚Ich‘, sondern münden in eine ausgewogene Schlussbetrachtung: Obwohl die Frauen einen gewichtigen Beitrag zur Entfaltung männlicher krafft (Str. III, V. 22) geleistet hätten, seien sie oft auch zum Verhängnis selbst der herausragendsten Männer geworden. 54 Am Ende hätten stets die Frauen die Oberhand behalten. 55 Die subjektive Kontextualisierung wird in k Reg/ LangT 36 zugunsten einer objektiven Conclusio aufgegeben. 343 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 56 Die Gedichte des Michel Beheim, hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald, 4 Bde., Berlin 1968-1972 (DTM 60; 64; 65,1; 65,2). 57 Die Lieder Oswalds von Wolkenstein, unter Mitwirkung von Walter Weiß und Notburga Wolf hg. von Karl K. Klein, 3., neubearbeitete und erweiterte Aufl. von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf, Tübingen 1987. 58 Nicht vorhanden bei Beheim sind der Troja-Komplex, Asahel, Artus, Parzival. 59 Vgl. Friederike Niemeyer, Ich, Michel Pehn. Zum Kunst- und Rollenverständnis des meisterlichen Berufsdichters Michel Beheim, Frankfurt a. M. u. a. 2001 (Mikrokosmos 59), S. 121-125; Walter Röll, „Oswald von Wolkenstein und andere ‚Minnesklaven‘“, in: Gesammelte Vorträge der 600-Jahrfeier Os‐ walds von Wolkenstein, Seis am Schlern 1977, hg. von Hans-Dieter Mück und Ulrich Müller, Göppingen 1978 (GAG 206), S. 147-177. Zusätzlich ist auf eine mögliche Rezeption des (Pseudo-)Frauenlob im epischen Kontext hinzuweisen. In Ottokars Österreichischer Reimchronik, hg. von Joseph Seemüller, 2 Bde., Nachdruck München 1980 (Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken 5,1 und 5,2, V. 67054-77) wird der Topos von der Minnemacht anhand von König Wenzel von Böhmen vorgeführt, der seiner Gattin nichts abschlagen kann. In dem Katalog begegnen u. a. Azael, aber auch, wie in k Reg/ LangT 36, Hector und Achilles. Zu möglichen Prätexten dieser Stelle vgl. Seemüllers Kommentar (Bd. 2, S. 888). Ebenfalls in die Tradition des (Ps.-)Frauenlob zu stellen sind die Lieder Michel Beheims (Nr. 349) 56 und Oswalds von Wolkenstein (Wenn ich betracht; Kl. 3) 57 , die im Gegensatz zu k Reg/ LangT 36 weitaus freier mit den Vorgaben des Prätextes verfahren. Während Beheim einen Großteil der Exempla übernimmt, 58 diese aber mit detaillierten Erörterungen der Hintergründe versieht, erweitert Oswald das Inventar um biblische Beispiele (Matusalem, Helias, Joseph, sant Johanns babtista) bei gleichzeitiger Streichung der Beispielfiguren aus dem höfischen Roman, woraus eine stärkere Akzentuierung des misogynen geistlichen Horizonts resultiert, verknüpft mit der ausdrücklichen Ermahnung, die bösen weibe (III,14) zu fliehen und sich den frummen freulin rain (III,17) zuzuwenden. Eine Kenntnis (Ps.-)Frau‐ enlobs bei Oswald kann aufgrund der Beibehaltung der einprägsamen Reimwörter geschendet / geplendet des Prätextes ebenso als naheliegend bezeichnet werden wie aufgrund der Übernahme der prägnanten Grundstruktur, die sich aus der Verknüpfung von Auflis‐ tung und Ich-Bezug in der Conclusio konstituiert. Gerade dieser Ich-Bezug wird aber sowohl bei Beheim als auch beim Wolkensteiner insofern konkretisiert, als das ‚Ich‘ nun mit den Namen der Dichter (mir Michel Pehen, V. 40; der von Wolkenstein, III,12) personalisiert wird und die Lieder solcherart zugleich eine Signatur erfahren. 59 Überblickt man die zahlreichen verschiedenartigen Rezeptionszeugnisse, so lässt sich behaupten: so gut wie jeder des Lesens kundige Mensch des deutschsprachigen Mittelalters ab 1300 kannte den einstrophigen Sangspruch (Ps.-)Frauenlobs, der in konzentrierter und pointierter Form die Minneopfer präsentiert. Zum einen wird auf engstem Raum eine Vielzahl von Minneopfern versammelt, zum anderen steuert der Spruch auf eine Conclusio zu, die bis heute nicht konsensfähig aufgeschlüsselt wurde und somit rätselhaft bleibt. Der beeindruckende Erfolg des Sangspruchs könnte in eben dieser Kombination begründet liegen: Das Aufzählungsbzw. Sammlungsprinzip bedient das Bedürfnis nach gelehrtem Wissen, die undeutliche Pointierung hingegen hält das Interesse aufrecht. Der Spruch kann als paradigmatisch für die Minneopferthematik im deutschsprachigen Mittelalter gelten, 344 Robert Schöller 60 Verwiesen sei hier exemplarisch auf Cornelia Herberichs, „Auf der Grenze des Höfischen. Gewalt und Minnesang“, in: Gewalt im Mittelalter. Realitäten - Imaginationen, hg. von Manuel Braun und ders., München 2005, S. 341-364, und Beate Kellner, Spiel der Liebe im Minnesang, Paderborn 2018, insbes. S. 206-239 (Kap. „Rachephantasien, Machtspiele und die Dämonisierung der Dame“). 61 Sangsprüche in Tönen Frauenlobs (wie Anm. 30), Bd. 2, S. 355. 62 Vgl. Schnell (wie Anm. 11), S. 487; Wunderlich (wie Anm. 34), S. 125f.; Werner Wunderlich, „Der wilde Asahel. Der schnellste Mann der Bibel und die Macht der Frauen“, in: Mittellateinisches Jahrbuch 33/ 2 (1998), S. 1-13, hier S. 2. 63 Vgl. Henrike Lähnemann, ‚Hystoria Judith‘. Deutsche Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhun‐ dert, Berlin 2006 (Scrinium Friburgense 20), S. 427. 64 Vgl. André Schnyder, „Auf die Couch mit Oswald? Vorschlag für eine neue Lesart von Kl. 3“, in: GRM N. F. 46 (1996), S. 1-15, hier S. 15, Anm. 49. so wie generell der Minneopfer-Topos als Kristallisationspunkt jener Gewalt angesehen werden kann, die im Minnesang immer auch angelegt ist. 60 Dass die Liebe alles besiegt, hätte im Grunde nicht der umständlichen Beweisführung bedurft; diese Einsicht kann als ein (nicht nur) mittelalterlicher Gemeinplatz bezeichnet werden. Demnach ist die Aufmerksamkeit auf die Schlussfolgerung zu richten, die aus dieser Auflistung gezogen wird. Doch gerade in dieser Beziehung verweigert der Spruch eine eindeutige Aussage mit der Konsequenz, dass bereits der mittelalterliche Glossator des Hausbuchs nur mutmaßen konnte: Als ab er sprech […] ez schat nicht. Dar v(e)m. dar an so e so bezzer.  61 Abb. 5: München, Universitätsbibl., 2° Cod. Ms. 731 (Cim. 4), Bl. 210v (Schlussverse von (Ps.-)Frauenlob GA-S V, 204 und Glossierung). Nun ist die Glosse nicht zur Gänze lesbar, da sie noch vor der Bindung geschrieben wurde und sehr eng in den Bug hineinreicht. Deutlich wird aber doch, wie der Glossator die Verse versteht: ‚Als ob er [das ‚Ich‘] sagen will: Es [die Minne] schadet nicht. Je früher man sich darauf [auf die Minne] einlässt, desto besser.‘ Die ‚als ob‘-Unsicherheit des Glossators in der Interpretation der Schlussverse setzt sich fort bei den modernen wissenschaftlichen Interpreten. Überlegt wurden die hermeneutischen Optionen einer weltlich-höfisch determinierten Parodie auf den klerikalen Misogynismus 62 bzw. einer schwankhaften Aufbereitung der Tradition, 63 einer Empfehlung, sich nur auf reine Frauen einzulassen (ein Rat, der bei Oswald von Wolkenstein Kl. 3 explizit ausgesprochen wird) 64 sowie einer ironiefreien Lesart in der Tradition etwa von Veldeke (MF 66,16) oder Ulrich 345 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 65 Vgl. Schöller (wie Anm. 31), S. 422-424. 66 Thomas Bernhard, „Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? “, in: ders., Prosa, Frankfurt a. M. 1967. 67 Im Annolied, hg., übersetzt und kommentiert von Eberhard Nellmann, Stuttgart 3 1986, sind es Alexanders Männer, die das Seil ins Meer gleiten lassen (V. 207-236). von Gutenburg (MF 69,1), wonach die Minne erst recht den ‚gewöhnlichen‘ Liebenden überwältigt, wenn sie selbst die Größten besiegt. 65 Ob hier, um den Titel einer Erzählung von Thomas Bernhard zu bemühen, 66 eine Komödie oder doch eher eine Tragödie gegeben wird, muss demnach offenbleiben. Fest‐ zuhalten bleibt, dass dieses Oszillieren zwischen Komik und Ernst bei vielen weltlichen Minneopfer-Katalogen begegnet. Das Fatal-Ernste wie auch das Komische scheinen diesen speziellen Liebeskatalogen grundsätzlich eingeschrieben zu sein. III Die vorliegende Sammlung (wie auch weitere vergleichbare Sammlungen dieser Art) kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Unter rhetorischen Gesichtspunkten ist der Fall eindeutig: Der Topos von den Minneopfern wird bemüht, um die alles überwältigende Macht der Minne zu demonstrieren. Das Sammlungsprinzip dient dazu, die Anklageschrift mit der nötigen Beweislast zu beschweren. Die historischen oder auch fiktiven Figuren werden im literarischen Diskurs als Zeugen gegen Frau Minne in den Zeugenstand gerufen. Unter narrativen Gesichtspunkten ist festzuhalten, dass die Biographien der Opfer radikal beschnitten werden, um eine Aufzählung möglichst vieler Opfer und somit den Sammlungscharakter zu gewährleisten. Vorgeführt werden Schwund‐ stufen einer Existenz; die jeweilige Vita wird auf einen bestimmten Punkt reduziert, wobei anzumerken ist, dass diese äußerste narrative abbreviatio stets auf den Tiefpunkt einer Existenz zielt. Dieser Tiefpunkt wiederum wird oft im Unklaren belassen; nicht selten genügt allein die Erwähnung eines prominenten Namens in der Umgebung des Minnemacht-Kontextes ‒ mit der Folge, dass etwa Alexander der Große hier nicht als einer der abendländischen neun Helden gelistet wird, als der er in anderem Kontext aufscheint, nicht als der große Eroberer, der die Welt unterwarf, sondern als ein von Frauen respektive von der Minne Besiegter. Im Kontext der Rede von den Minneopfern wird Alexander dem kulturellen Gedächtnis in einer wenig schmeichelhaften Schwundstufen-Existenz eingeschrieben. Diese äußerste Reduktion eines komplexen Sachverhalts ‒ als der das Leben einer historischen Persönlichkeit zu begreifen ist ‒ auf einen bestimmten und zugleich vage gehaltenen Punkt hat Konsequenzen für den Rezeptionsprozess: Geöffnet wird ein weiter Deutungshorizont, der die Frage nach dem konkreten Bezug nach sich zieht. Die Folge sind Abweichungen in der Einordnung, wie am Beispiel von Alexander dem Großen zu zeigen ist: Während der Glossator der Würzburger Handschrift explizit auf die Candacis-Episode (des Alexanderromans) hinweist, entscheiden sich die Illustratoren der Konstanzer Fresken und der Süddeutschen Tafelsammlung für die Geschichte von Alexanders Tauchfahrt, über die ebenfalls in einigen Alexanderromanen wie auch bereits im Annolied berichtet wird. In einer Version lässt Roxane das Seil fallen, an dessen Ende Alexander in der Taucherglocke den Meeresboden erforscht, und macht sich mit einem Geliebten davon. 67 346 Robert Schöller Abb. 6 und 7: München, Universitätsbibl., 2° Cod. Ms. 731 (Cim. 4), Bl. 210v (Text und Glossierung). Abb. 8 und 9: Alexanders Tauchfahrt: Konstanzer Fresken (Haus zur Kunkel, wie Abb. 1 u. 2 oben), Süddeutsche Tafelsammlung (Library of Congress, wie Abb. 3 u. 4 oben) (Spruchband: Liebe fraw du hast mir schon geben der werlt lön). Der narrative Reduktionismus des Prätextes führt zwangsläufig zu einer Erweiterung der Retexte. Sowohl die visuellen als auch die literarischen Retexte erzählen nicht nur anders und weitgehend eigenständig, sondern auch präziser und ausführlicher. Aus (Ps.-)Frauenlobs vagem und wenig aussagekräftigem Vers Alexander, dem geschach alsus (V. 7) erwachsen eigenständige und detaillierte Erzählungen - die Konstanzer Fresken verzeichnen sogar die Tiere (Hahn und Katze), die Alexander auf seiner Tauchfahrt mit sich führt. Unter samm‐ lungstheoretischen Gesichtspunkten wäre schließlich nach der Grammatik der Sammlung zu fragen. Die sprachliche Oberflächenstruktur des (Ps.-)Frauenlob ist determiniert durch die Verknüpfung von Eigennamen und Verbalphrase, die mit Hilfe des Reims zu einem stets destruktiven Sachverhalt zusammengebunden werden: Da wird geblendet, geschändet und das Seelenheil verspielt (geblendet, geschendet und gepfendet), da wird geköpft und zugeritten (versniten und geriten), verführt und vernichtet (betöret und zerstöret). Die sprach‐ liche Oberfläche wird generiert durch eine grammatische Tiefenstruktur, die allen diesen Sammlungen zugrunde liegt. Diese Tiefenstruktur besteht in der untrennbaren Verbindung von Eros und Gewalt, in einer Triebhaftigkeit, die physische und strukturelle Gewalt hervorruft. Das Fixieren einer menschlichen Existenz im grotesken Zustand, im Zustand des Geritten-, Geschändet- und Verstümmelt-Werdens verdinglicht den Menschen zum Sammlungsobjekt, zum Schau-Stück einer anthropologischen Konstante, die in Gestalt von Frau Minne allegorisiert wird. Versatzstücke von Eros und Gewalt werden zu Sammlungen zusammengesetzt. Und diese Sammlungen können, wie der Rezeptionsprozess zeigt, stets verändert, korrigiert, ergänzt und erweitert werden, sie sind, da universale Gültigkeit postu‐ 347 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 68 Die Forschungspositionen zu diesem Kunstgriff Oswalds referiert Schnyder (wie Anm. 64), S. 13, Anm. 34. Vgl. auch Oswald von Wolkenstein, Lieder. Frühneuhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, ausgewählte Texte hg., übersetzt und kommentiert von Burghart Wachinger. Melodien und Tonsätze hg. und kommentiert von Horst Brunner, Stuttgart 2007, S. 361 (Kommentar). 69 Selbst Asahel, Sinnbild für Schnelligkeit, kann vor der Minne nicht davonlaufen (so im Schleiertüchlein Hermanns von Sachsenheim; vgl. The ‚Schleiertüchlein‘ of Hermann von Sachsenheim. A critical edition with introduction and notes, hg. von Donald K. Rosenberg, Göppingen 1980 (GAG 260)). Entsprechend stünde Methusalem für das hohe Alter, das ebenfalls nicht vor Minnetorheit gefeit ist. liert wird, prinzipiell offen und unabschließbar. Weniger die Korrektheit der Sammlung ist entscheidend, als vielmehr ihr Umfang, der anzeigt, dass die Menschheit in ihrer Gesamtheit in die Sammlung aufgenommen werden kann, repräsentiert durch prominente Beispiele. Zudem können ‚fehlerhafte‘ Objekte (wie Asahel) in Folgesammlungen ersetzt oder entfernt werden. Zugleich ist eben diese Fehlerhaftigkeit dem Typus der Sammlungen inhärent: Oswald von Wolkenstein etwa nimmt kurzerhand Methusalem in seinen Katalog der Minneopfer auf. 68 Offenbar wurden der Autorität und der Sinnbildlichkeit biblischer Namen und grundsätzlich dem kumulativen Prinzip mehr Gewicht zugestanden, als inhaltlicher Folgerichtigkeit. 69 In den mehr oder weniger direkten Bearbeitungen des (Ps.-)Frauenlob wird die Sammlung der Minneopfer laufend aufgestockt, bezeichnenderweise nicht selten durch Persönlichkeiten, denen im historischen Prozess der Beiname ‚der Große‘ (Karl der Große, Konstantin der Große) zugewiesen wurde, wodurch sie zugleich über die erforderliche Fallhöhe verfügen. Es sind, auch in einem wörtlichen Sinn, ‚tod-ernste‘ Sachverhalte, die in diese Minne‐ opfer-Sammlungen eingehen und die dennoch stets auch in einen humoristischen Kontext gebettet zu sein scheinen. Ein mildes Lächeln provoziert das Wöchnerinnentablett, das die namentlich bezeichneten Venusanbeter Achill, Tristan, Lancelot, Samson, Paris und Troilus zeigt, die direkt zum Schoß der Venus ‒ dem Strahlenzentrum ‒ blicken. Abb. 10: Wöchnerinnentablett, Oberitalien, um 1400 (Paris, Musée du Louvre). 348 Robert Schöller 70 Geiler von Kaysersberg, Das Buch der Sünden des Munds (gedruckt 1518): Es stet keinem dapfern vernünfftigen menschen zuo, das er von lachen das maul zerzerr das mann im die zen sehe. Zit. nach Sebastian Coxon, „Hehe! Überlegungen zum erzählten Lachen in Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel“, in: Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250-1750), hg. von Christian Kuhn, Stefan Bießenecker, Bamberg 2012 (Bamberger Historische Studien 8), S. 143-161, hier S. 152, Anm. 30. Zum Minnetoren in der satirischen Literatur vgl. Ute von Bloh, „Die Sexualität, das Recht und der Körper. Kontrollierte Anarchie in vier mittelalterlichen Mären“, in: Böse Frauen - Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Ulrike Gaebel und Erika Kartschoke, Trier 2001 (LIR 28), S. 75-88. Die Opfer, die für die Minne zu erbringen sind - so lässt sich die Semiotik des Wöchnerin‐ nentabletts deuten - erzeugen neues Leben und halten somit die Welt am Laufen. In der satirischen Literatur des 15. bis 17. Jahrhunderts, insbesondere in den Fastnachtsspielen, wird sich dieses Lächeln über die prominenten Minne-Opfer zu einem boshaften Lachen auswachsen, zu einem Lachen mit offenem Maul, das die Zähne zeigt, wie es etwa bei Geiler von Kaysersberg heißt. 70 Denn nur wenigen auserwählten Menschen bleibt es vorbehalten, in die Erinnerung der Nachwelt einzugehen. Doch darauf, wie sie dies tun, haben sie wenig Einfluss. Die der weiblichen Allegorie der Frau Minne zugeschriebene Sammlung sorgt dafür, dass dieser famosen Menschen in einer höchst infamen Weise gedacht wird: als groteske Schau-Stücke, die dem Gedächtnis der Menschheit überantwortet werden. 349 Frau Minnes groteske Schau-Stücke Anhang 1: Texte in der Tradition von (Pseudo-)Frauenlob, GA-S V, 204 (Pseudo-)Frauenlob, GA-S (ed. Haustein/ Stackmann) V, 204 k Reg/ Lang T 38 (ed. Lange), Str. II k Reg/ Lang T 38 (ed. Lange), Str. III Adam, den ersten menschen, den betrog ein wib. Sampsonis lib wart durch ein wib geblendet. David wart geschendet, her Salomon auch gotes richs [ ] durch ein wib gepfendet. Absolons schöne in niht ver‐ vieng, in het ein wib betöret. Wie gewaltig Alexander was, dem geschach alsus. Virgilius wart betrogen mit falschen siten, Olofern [ ] versniten. da wart auch Aristotiles von einem wibe geriten. Troie die stat und allez ir lant wart durch ein wib zerstöret. Achilli, dem geschach alsam. der wilde Asahel wart zam. Arthuses scham von wibe kam. Parcifal groze sorge nam. sit daz fugte der minnen stam, waz schat denn, ab ein reinez wib mich brennet unde fröret? Den ersten menschen, her Adamen, betrog sin wip, als uns die wisen meyster sagen. Samson, der starck, erblendet wart von wibes hant, daz wissent si‐ cherliche. her David auch, alz wir ver‐ nomen, kam auch von einem wib in schande by den tagen. her Salomon von wibes art wart auch gescheiden da von gottes riche. wie schone was her Apsolon und auch wie mechtig Alle‐ xander were, sie mustent nemen swachen lon von wiben, sehent, die warn yn gefere. ir hercz die plagen hoher kunst, und was der vil verlorn, yn holffen wib in grymmelichen zorn. Virgilius also geschach und Olifern, den auch ein wip versneit. do bii man michel wonder sach, daz eynen wisen man eyn fraůwe reyt. der man hies Aristotiles und was der wiseste einre, der ye wart geborn. wie wise er was, doch sin ver‐ nůnst verschriet ein wip: man hette ez wol versworn. Waz man von Ector und Achillen manheyt singet vil oder seit, die hant sie wol erworben ritterliche also, daz man ir lop noch priset in den landen. sie worhtent heldes werck mit willen, wanne ir hertze worent solli‐ cher dogend vol, daz sie mit frauwen worent fro in eren priß und huten sich vor schanden. doch Artus muste liden scham von wiben, sehent, ob daz nit wonder were. der werde konig lobesam kam auch von einre meyde in schammes swere: die selbe maget hieß Liemet, daz mercket über al. vil sorgen drug der werde Pharczifal von wiben, daz man von yme saget und von den heren, die ich han genant. ir liste worden so verjagt, daz sie yn selber worden un‐ bekant. sus hulffent yn wip in arbeit, den best, die ye beschein der eren sal. wie vil ir krafft durch fraůwen det, ie doch behielten wip an yn die wal. 350 Robert Schöller Michel Beheim, (ed. Gille/ Spriewald), Nr. 349 Oswald v. Wolkenstein (ed. Klein), Kl. 3., Str. II u. III Etlicher mich verricht durch mein tarhait pesunder. nun ist es doch kain wunder, ob ich ach pin ain tar, Wann ir worn vil hie var die ser wurden verhawen und sunderlich durch frawen. Adam ain weip verschnit. Mit dem verviel Davit und prach sein elich stat, sein riter er ertat. her Saloman dem weisen sein weisshait waz entreisen ain weib in uber ret, Das er apgat an pet und ach den teufel hane. her Apselon der schöne pult seines vater weip, Dar ümb er ach den leip verlor in disem werke. Samson halff nit sein sterke, ain weip in da mit pfant Schant, des wart er geplant. und Aristatiles wart nit erlassen des. ain weip in uber schraite, mit scharpfen sparen raite und machet in gezem. Den hern Olovernem halff nit sein grasses here und alle seine were, wan in ain weip petabt Und slug im ab daz habt. Virgilius zaberere wart ach petragen sere, sein zaber halff in neit. Seit die nit wurden queit der selben missetat, so ist es ach kain nat und ob mir, Michel Pehen, ain torhait ist peschehen von zarten fröulin vein. II Wirt si geert, so kann si niemt mit hoffart überwüten; ist si versmächt, so tobt ir müt geleich des meres flüten; armt si an wirden oder an güt, so ist si doch der bosshait allzeit reich. Ain weib entert das paradis, des Adam ward geschendet; Matusalem, der starck Samson geswechet und geplendet von weiben; David, Salomon durch frauen sind betrogen frävelich. Aristotiles, ein maister gross, ain weib in überschrait, zwar seiner kunst er nicht genoss, hoflichen si in rait, küng Alexander, mächtig, hön, von frauen viel, und Absolon, der schön. III Ain schön, bös weib ist ain gezierter strick, ain spies des herzen, ain falscher freund der ougen want, ain lust truglicher smerzen; des ward Helias ferr versant, und Joseph in den kärker tieff versmitt. Ain heilger leib, hiess sant Johanns babtista, ward enthoubet durch weibes räch, da vor uns Crist behüt. ouch ward betoubet, gevangen durch ains weibes list der von Wolkenstein, des hanck er manchen tritt. Dorumb so rat ich jung und alt, fliecht böser weibe glanz! bedenckt inwendig ir gestalt, vergifftig ist ir swanz, und dient den frummen freulin rain, der lob ich breis über all karfunkelstain! 351 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 71 Gisela Kornrumpf (Brief vom 9. Dezember 2002) zieht mit Verweis auf Bartsch, Meisterlieder (wie Anm. 48), Nr. 49, V. 27, in Erwägung, dass hier Iblis gemeint sein könnte. Anhang 2: Frau Minnes exklusive Kollektion (Pseudo-)Frauenlob GA-S V,204 und sein Umfeld (Pseudo-) Frau‐ enlob GA-S, V, 204 Weitere hand‐ schriftliche Überlie‐ ferung von GA-S V, 204 Glossierung Würzburger Lie‐ derhs. (Kontextua‐ lisierungen) Konstanzer Fresken (K)/ Süddt. Tafelsamm‐ lung (ST) (Kontextualisierungen) 1 Adam Eva = 2 Samson Dalila = 3 David Bathseba = 4 Salomon Götzendienst = 5 Absolon Absolon mit Neben‐ frauen Davids Tod Absolons (ST) 6 Alexander Candacis Roxane/ Tauchfahrt (K/ ST) 7 Virgilius Listige Frau (im Korb hängend) = 8 Holofernes Judith = (K/ ST) 9 Aristoteles Geritten von Roxane und einer Frau na‐ mens Salusca wip (K)/ Phyllis (ST) 10 Troja Helena = 11 Achill - Ysyas - Kung constantin Polixena Deidamea (K/ ST) 12 Asahel - Ismahel ysahelisch dit --- Mann und Frau (K) / Wild‐ mensch und Frau (ST) 13 Artus ybil[…] (? ) Iblis 71 Ginover (? ; K) / Hornprobe (ST) 14 Parzival Condwiramurs Liebespaar (K) / Frauen‐ dienst (ST) 15 Sänger-Ich (waz schat denn, ab ein reinez wib mich brennet unde fröret? ) = „je eher, desto besser“ --- (K) / Buhlschaft im Baum / „hofft auf Erfolg bei der Liebsten“ (ST) + Jüngling und Frau (ST) + Karl der Große und Kon‐ kubine (ST) + Secundus und dessen Mutter (ST) 352 Robert Schöller Regenbogen, Langer Ton, k Reg/ Lang T 38 Michel Beheim, Nr. 349 Oswald von Wolkenstein, Nr. 3 Adam Adam Adam Samson Samson Samson David David David Salomon Salomon Salomon Absolon Absolon Absolon Alexander --- Alexander Virgilius Virgilius --- Holofernes Holofernes Aristoteles Aristoteles Aristoteles - Hector und Achill (positiv be‐ setzt, keine Frauenopfer) --- --- - Hector und Achill (positiv be‐ setzt, keine Frauenopfer) --- --- --- --- --- Artus + Liemet --- --- Parzival --- --- --- (abweichende Conclusio: Frauen besiegten auch die stärksten Männer) Michel Pehen („das entschul‐ digt meine eigene Minnetor‐ heit“) der von Wolkenstein (Rat an Jung und Alt, sich von den bösen Frauen ab- und den reinen Frauen zuzuwenden) + Methusalem + Elias + Josef + Johannes der Täufer - „ersetzt durch“ / + zusätzlich aufgenommen / = wie in der vorausgehenden Spalte / --fehlt 353 Frau Minnes groteske Schau-Stücke 1 John Elsner, „A Collector's Model of Desire. The Home and Museum of Sir John Soane“, in: The Cultures of Collecting, hg. von John Elsner und Roger Cardinal, London 1994, S. 155-176, hier S. 155-156. 2 Zu Mechthild von der Pfalz siehe Bernhard Theil, „Literatur und Literaten am Hof der Erzherzogin Mechthild in Rottenburg“, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 42 (1983), S. 125-144; Renate Kruska, Mechthild von der Pfalz. Im Spannungsfeld von Geschichte und Literatur, Frankfurt am Main 1989 (Europäische Hochschulschriften 1111); Hans-Martin Maurer, Eberhard und Mechthild. Untersuchungen zu Politik und Kultur im ausgehenden Mittelalter, Stuttgart 1994 (Lebendige Vergan‐ genheit 17); Mechthild (1419-1482) im Spiegel der Zeit. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung des Landesarchivs Baden-Württemberg, Hauptstaatsarchiv Stuttgart, hg. von Erwin Frauenknecht und Peter Rückert, Stuttgart 2019. 3 Der Text wird nach der Edition von Martha Müller zitiert: Der Ehrenbrief Jakob Püterichs von Reichertshausen, die Turnierreime Johann Hollandts, der Namenkatalog Ulricht Füetrers, hg. von Martha Müller, New York/ Ann Arbor 1985. Vgl. Christelrose Rischer, Literarische Rezeption und kulturelles Selbstverständnis in der deutschen Literatur der ‚Ritterrenaissance‘ des 15. Jahrhunderts. Untersuchungen zu Ulrich Füetrers ‚Buch der Abenteuer‘ und dem ‚Ehrenbrief ‘ des Jakob Püterich von Reichertshausen, Stuttgart 1973 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 29), S. 68-93; Klaus Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz Annette Volfing Collecting is inherently a cult of fragments, a sticking together of material bits that stand as metonyms and metaphors for the world they may refer to but are not. Its desire, then, the inspiration for its enlivening and obsessional dynamics, is for the plenitude of objects that once - in some imaginary world - were all together and did not need to be collected. 1 Sammeln als Fragmentenkult, auf der Suche nach einem imaginären Ganzen - so beschreibt John Elsner die Tätigkeit des obsessiv sammelnden Engländers Sir John Soane, der im frühen 19. Jahrhundert in seinem Haus versucht hat, eine idealisierte Vergangenheit wieder auferstehen zu lassen. Das Ergebnis lässt sich noch als Museum in London besichtigen. Sammeln als zwanghafte Reaktion auf die Erfahrung von Verlust und Fragmentierung lässt sich auch auf das Phänomen ‚Literarisches Sammeln‘ übertragen. Der vorliegende Beitrag nähert sich dem Thema ‚Literarisches Sammeln‘ über den Literaturbetrieb im Umfeld Mechthilds von der Pfalz an. 2 Hier geht es vor allem um Texte, die sich als Sammlungen präsentieren, entweder weil sie strukturierte Listen oder ‚Kataloge‘ wie auch immer gearteter Einheiten enthalten, oder weil sie deutlich versuchen, verlorene literarische Welten durch ein Geflecht von Bezügen und Allusionen nachzubilden. Ausgehend vom Ehrenbrief Jakob Püterichs von Reichertshausen, einem Text, der nicht nur einen genealogischen ‚Katalog‘ bietet, sondern auch die Bestände zweier Buchsammlungen vergleicht, soll erkundet werden, wie sich Literaturaneignung im fünfzehnten Jahrhundert im weitesten Sinne vollzogen hat. 3 Im Ehrenbrief liegt der Grubmüller, „Püterich, Jakob, von Reichertshausen“, in: ²VL, Bd. 7, Berlin/ New York 1989, Sp. 918-923; Peter Strohschneider, Ritterromantische Versepik im ausgehenden Mittelalter. Studien zu einer funkti‐ onsgeschichtlichen Textinterpretation der ‚Mörin‘ Hermanns von Sachsenheim sowie zu Ulrich Fuetrers ‚Persibein‘ und Maximilians I. ‚Teuerdank‘, Frankfurt am Main 1986 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 14), S. 87-90; Bernd Bastert, Der Münchener Hof und Fuetrers ‚Buch der Abenteuer‘. Literarische Kontinuität im Spätmittelalter, Frankfurt am Main u. a. 1993 (Mikrokosmos 33), S. 87-91; Andrea Klein, Der Literaturbetrieb am Münchener Hof im fünfzehnten Jahrhundert, Göppingen 1998 (GAG 652), S. 100-113; Bettina Wagner, „Der Ehrenbrief des Jakob Püterich von Reichertshausen“, in: Literaturgeschichte Münchens, hg. von Waldemar Fromm, Manfred Knedlik und Marcel Schellong, Regensburg 2019, S. 40-47. Zu Püterich als Politiker siehe auch Jörg Schwarz, „Politische Kommunikation - Selbstzeugnisse - Rechtfertigungsstrategien. Städtische Gesandtenberichte vom kaiserlichen Hof in Wiener Neustadt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts“, in: König und Kanzlist, Kaiser und Papst. Friedrich III. und Enea Silvio Piccolomini in Wiener Neustadt, hg. von Franz Fuchs, Paul-Joachim Heinig und Martin Wagendorfer, Wien u. a. 2013, S. 89-119. 4 Hermann von Sachsenheim, Die Mörin. Nach der Wiener Handschrift ÖNB 2946, hg. von Horst Dieter Schlosser, Wiesbaden 1974 (Deutsche Klassiker des Mittelalters. Neue Folge 3); Hermann von Sachsenheim, Des Spiegels Abenteuer, hg. von Thomas Kerth, Göppingen 1986 (GAG 451). Vgl. Strohschneider (wie Anm. 3), S. 9-290; Dietrich Huschenbett, „Hermann von Sachsenheim“, in: ²VL, Bd. 3, 1981, Sp. 1092-1106; Burghart Wachinger, „Gespräche in der Mörin Hermanns von Sachsen‐ heim“, in: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation, hg. von Eckart Conrad Lutz, Johanna Thali und René Wetzel, Tübingen 2005, S. 139-154; Dietrich Huschenbett, Hermann von Sachsenheim - Namen und Begriffe. Kommentar zum Verzeichnis aller Namen und ausgewählter Begriffe im Gesamtwerk, Würzburg 2007 (Würzburger Beiträge zur Deutschen Philologie 32); Stefanie Helmschrott, „West-östliche Dialoge in der Mörin Hermanns von Sachsenheim (1453)“, in: East Meets West in the Middle Ages and Early Modern Times. Transcultural Experiences in the Premodern World, hg. von Albrecht Classen, Berlin 2013, S. 625-647; Burghart Wachinger, „Einige Anmerkungen zur Mörin Hermanns von Sachsenheim“, in: PBB 139 (2017), S. 221-242. Fokus vor allem auf Büchern als materiellen Gegenständen, die gesammelt werden können. Püterich (oder sein Sprecher-Ich) unterstreicht aber nicht nur die Emotionen und den Energieaufwand, die er in den Prozess des Bucherwerbs investiert hat, sondern betont auch die grundlegende Bedeutung der kanonischen mittelhochdeutschen Literatur für sein eigenes Selbstverständnis. Die Suche des Sammlers nach konkreten Gegenständen geht demnach Hand in Hand mit Reflexionen über verschiedene Arten imaginärer Räume und dem Versuch, sich kulturelle Paradigmen, die in der Vergangenheit verankert sind, anzueignen und ihnen neue Relevanz zu verleihen. Die Außergewöhnlichkeit von Püterichs doppeltem Ansatz kann durch einen vergleichenden Blick auf Hermann von Sachsenheim, einen Autor, dessen Minnereden (Die Mörin und Des Spiegels Abenteuer) ebenfalls aus einem dichten Geflecht von intertextuellen Anspielungen bestehen, weiter geschärft werden. Während Hermann in diesen Werken kein besonderes Interesse für die Materialität von Büchern zeigt, und deswegen Püterichs Ängste um ihre Fehlerhaftigkeit und mögliche Beschädigung nicht teilt, geht es beiden Autoren jedoch grundsätzlich darum, sich und ihrer Mäzenin Mechthild die klassische mittelhochdeutsche Literatur auf verschiedenen Ebenen zugänglich zu machen. 4 Der 1462 verfasste Ehrenbrief ist als ein persönlicher Brief Püterichs an Mechthild ge‐ staltet, aber keineswegs als Privatkommunikation konzipiert. Um es mit Bettina Wagner zu formulieren: „Die Kontaktaufnahme mit der Pfalzgräfin sollte einer breiteren Öffentlichkeit demonstrieren, dass ein Mitglied eines städtischen Ratgeschlechts durch seine literarische 356 Annette Volfing 5 Wagner (wie Anm. 3), S. 40. Vgl. Rischer (wie Anm. 3), S. 73. 6 Zum ‚Musenhof ‘ in Rottenburg, siehe Mechthild im Spiegel der Zeit (wie Anm. 2), S. 167-196. 7 So Wagner (wie Anm. 3), S. 42. 8 Püterich, Ehrenbrief, S. 111-112 (zwischen Str. 133 und 134). 9 Dietrich Huschenbett, Hermann von Sachsenheim. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhun‐ derts, Berlin 1962 (Philologische Studien und Quellen 12), S. 92; zitiert von Rischer (wie Anm. 3), S. 71; vgl. auch ebd., S. 88-89. 10 Wagner (wie Anm. 3), S. 44. 11 Rischer (wie Anm. 3), S. 74. Zur grundsätzlichen Assoziation zwischen Sammeltätigkeit und Exzentrik siehe den Band Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gonille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998. 12 Vgl. Grubmüller (wie Anm. 3); Rischer (wie Anm. 3), S. 72; Bastert (wie Anm. 3), S. 89, 92; Wagner, (wie Anm. 3), S. 41. 13 Grubmüller (wie Anm. 3), Sp. 922. 14 Strohschneider (wie Anm. 3), S. 90. Kompetenz Anerkennung in höchsten Adelskreisen fand.“ 5 Die verwitwete Adressatin, die zunächst mit Ludwig I., Graf von Württemberg-Urach, dann mit Erzherzog Albert VI. von Österreich verheiratet war, residierte damals in Rottenburg bei Stuttgart, 6 und der Text war wahrscheinlich zum Vorlesen an diesem ‚Musenhof ‘ gedacht. 7 Der Ehrenbrief besteht aus drei sehr unterschiedlichen Teilen. Nach einer Einleitung oder salutatio, die sich hauptsächlich dem Lob Mechthilds persönlicher Eigenschaften widmet (Str. 1-29), gliedert sich der Brief in zwei separate ‚Kataloge‘: eine Liste der turnierfähigen Adelsgeschlechter Bayerns (Str. 30-80) und eine vergleichende, aber unvollständige, Dar‐ stellung der Bibliotheken Püterichs und Mechthilds (Str. 98-148). Zwischen diesen beiden steht eine kurze Passage, in der Püterich sich wieder auf eine eher persönliche Beziehung zu Mechthild konzentriert: Er erwähnt, dass er im Begriff sei, ihr einige seiner anderen literarischen Entwürfe zu schicken (V. 86,1: vier liedt unnd rede dreye) und sie auch mit einem Paar Schuhe zu beschenken (Str. 89). Der Text ist durchgehend in Wolframschen Titurelstrophen verfasst, mit Ausnahme eines kurzen Abschnitts nach Str. 133, in dem Püterich im Zusammenhang seiner Reise zum Grab Mandevilles bei Lüttich das Epitaph in lateinischer und deutscher Prosa wiedergibt. 8 Püterichs Werk bleibt eine literarische Kuriosität, die bis jetzt relativ wenig kritische Aufmerksamkeit - geschweige denn Anerkennung - erhalten hat. In der Literatur klingt in Begriffen wie „Büchernarr“, 9 „Bibliomane“ 10 und „Sonderling“ ein gewisses Befremden über die Konstruktion der Autorbzw. Sprecherrolle an. 11 Auch wenn man die ironische Selbststilisierung Püterichs mit in Betracht zieht, 12 lassen sich die obszönen Anspielungen im Lob auf Mechthild von der Pfalz (die unten näher besprochen werden) besonders schwer als eine positive Bewertung einordnen. Klaus Grubmüller betont Püterichs Galanterie und Raffinesse, 13 doch Peter Strohschneider spricht von der „wenig sublimen Wunschphantasie des bayerischen Ritters“ mit „einem ganz erstaunlichen Freiraum“ innerhalb der Kommu‐ nikationsgemeinschaft. 14 Dies heißt aber nicht, dass der Ehrenbrief völlig den Erwartungen der ursprünglichen Rezipienten entsprochen haben muss. Die Tatsache, dass der Text in beiden der bekannten Handschriften zusammen mit genealogischen und chronistischen Schriften überliefert worden ist, legt den Schluss nahe, dass der genealogische ‚Katalog‘ für spätmittelalterliche Benutzer von größerem Interesse war als der literarische - oder 357 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz 15 Bis vor einigen Jahren war nur eine Handschrift (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 9220) bekannt; diese Handschrift, die in ein Turnierbuch von Georgius Rixner eingegliedert ist, enthält den Ehrenbrief, Johann Hollands Turnierreime und ein Wappenbuch. 2015 machte Klaus Graf einen zweiten, früheren, Textzeugen bekannt (St. Pölten, Landesarchiv, Ständisches Archiv, Hs. 327): „Fiktion und Geschichte. Die angebliche Chronik Wenzel Grubers, Greisenklage, Johann Hollands Turnierreime und eine Zweitüberlieferung von Jakob Püterichs Ehrenbrief in der Trenbach-Chronik (1590)“, in: Frühneuzeit-Blog der RWTH vom 10. Februar 2015, frueheneuzeit.hypotheses.org/ 1847 [Zugriff am 27.9.2019]. 16 Grubmüller (wie Anm. 3), Sp. 921; Müller (wie Anm. 3), S. 16. 17 Hartmann von Aue, Erec, hg. von Manfred Günter Scholz, Frankfurt am Main 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5), Z. 1902-2117. 18 Zur literarischen Genealogie bei Füetrer, siehe Rischer (wie Anm. 3), S. 24-67. Zur Aufzählung von Personen als „monumentale Form“ in der abendländischen Literatur siehe Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin 2003, S. 274-281. 19 Diesen Terminus benutzt Wagner (wie Anm. 3), S. 41. 20 Zu Püterichs „Aufstiegsambitionen“ und seinem Bestreben, „dem höheren Adel zumindest im turniersportlichen Engagement gleichzukommen“, siehe Bastert (wie Anm. 3), S. 91. zumindest, dass der Zusammenhang zwischen den beiden auch von ihnen nicht vollständig verstanden wurde. 15 Es ist aber durchaus möglich, sinnvolle Verknüpfungen zwischen dem genealogischen und den literarischen Teilen herzustellen. Genealogische Texte, wie Hollands Turnierreime, mit denen Püterich sicherlich vertraut war, 16 stellen eine eigenständige Gattung dar - und (fiktive) Listen von Ritternamen kommen sowohl im klassischen Artusroman (zum Beispiel in Hartmanns Erec) 17 wie auch bei Ulrich Füetrer vor. 18 Darüber hinaus dienen beide ‚Kataloge‘ als Zeugen der grundsätzlichen „Sammelwut“ Püterichs. 19 Beide enthalten Formulierungen, die von einer Leidenschaft für Informationsvollständigkeit zeugen. In Bezug auf die bayerischen Aristokraten besteht Püterich darauf, dass Die all mir waren khundig, / in taufnam all mit all (V. 54,1f.); später ist er darüber beunruhigt, nicht alle 94 Bücher Mechthilds zu kennen: Da fandt ich zwainczig und dreie, / die khand ich nit - das war mir wunders gnueg - / auß diser zall neunczig und viere (V. 97,3-5). Diese Grundhaltung wird auch deutlich, wenn er an die Bibliothek von Mechthilds Vater zurückdenkt: der habt ir woll den wuntsch auf diser erd, ob ir die puecher eurs vatters hebt gewalte, die ich zu Haydelberg in seiner liberey sach so gar ungezalde. (V. 95,4-7) Das Wort ungezalde ist hier ambivalent. Es stellt ein hyperbolisches Lob auf den Umfang dieser Sammlung dar, enthält aber auch ein gewisses Unbehagen beim bloßen Gedanken an eine Büchersammlung ohne Bestandskontrolle. Die beiden ‚Kataloge‘ verkörpern allerdings sehr unterschiedliche Arten von Samm‐ lungen. Im genealogischen ‚Katalog‘, der im Wesentlichen eine annotierte Liste darstellt, findet der Prozess des Sammelns auf der Ebene der Zusammenstellung statt: die turnier‐ fähigen bayerischen Adligen existieren in der Realität völlig unabhängig von Püterich; er kann sie sich nicht zu eigen machen, außer in dem sehr allgemeinen Sinne, dass sein Wissen über sie ihm eine gewisse Autorität verleiht. 20 Die Rechtfertigung für die Aufzählung liegt in Mechthilds angeblichem Mangel an Kontakt zu dieser sozialen Gruppe, 358 Annette Volfing 21 Rischer (wie Anm. 3), S. 85f., meint allerdings, dass es im ersten Katalog nicht tatsächlich darum geht, Mechthild zu belehren: „Während er noch zu Beginn der Aufzählung erklärt, Mechthild orientieren zu wollen, legitimiert er retrospektiv sein Unternehmen sehr viel komplexer im Sinne eines Ehrenerweises, zumal Mechthild - wie er ausdrücklich hinzufügt - ihrer bayerischen Abstammung wegen zu solchem Wissen privilegiert sei […]. Parallel zu seiner Deutung des Wittelsbacher Wappens, die ebenfalls auf eine Erhöhung von Mechthilds Lob abzielt, benutzt Püterich auch die Aufzeichnung der bayerischen Turniergeschlechter zur Würdigung der Erzherzogin.“ 22 Klein (wie Anm. 3), S. 113. Siehe auch Rischer (wie Anm. 3), S. 90: „Angesichts dieses breiten Spektrums von Mechthilds literarischen Interessen und der Vielfalt der literarischen Bildung, wie sie sich in Püterichs Ehrenbrief dokumentiert, scheint mir eine unzulässige Verkürzung der Komplexität der Problemstellung, Mechthilds und Püterichs literarische Orientierung durch die Alternative ‚alte‘ Literatur/ ‚moderne‘ Literatur festlegen zu wollen.“ da Püterich von ihrer puel Margarethe von Parsberg gehört habe, wie das vonn gschlecht die besten / im landt / / zu Bayrn eur gnad unkhundig wärn. (V. 29,6f.). Der Grund für Mechthilds Unwissenheit wird nicht explizit gemacht, kann aber im Kontext von Zerspaltungen im Haus Wittelsbach verstanden werden, zu dessen pfälzischer Linie Mechthild gehört hat. 21 Selbst dieser ‚Katalog‘ kann daher wohl als Versuch angesehen werden, ein Element der Fragmentierung in der Welt zu korrigieren, wie es Elnser vorgeschlagen hat; in einer idealen Welt gäbe es keine Spaltungen im Hochadel und Püterich hätte nicht all diese Namen für Mechthild zusammentragen müssen. Im Gegensatz dazu basiert der zweifache ‚Katalog‘ der beiden Bibliotheken auf der Tatsache, dass Bücher Gegenstände sind, die käuflich erworben werden können. Dieser Abschnitt des Werkes wird als angeblicher Nachtrag eingeführt, mit Püterichs Hinweis auf die Bitte des Fürsten Otto II.von Mosbach-Neumarkt, eines bayerischen Cousins von Mechthild, ihm ein bestimmtes Buch zu leihen (V. 92,3: vom pockh das ritterpuech, d. h. Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel). Erst damit wird klar, dass Otto im Auftrag von Mechthild schon vorher ein Inventar von Püterichs Büchern angefordert hatte (Str. 92-93) und dass Püterich selbst über einen Katalog von Mechthilds Bibliothek verfügte (Str. 95 und 97). Püterich zählt einige der 94 Bücher Mechthilds auf (Str. 98-100) und bemerkt, er sei mit 23 von ihnen nicht vertraut. Anschließend listet er 38 seiner eigenen 164 Bände auf. Ein Vergleich der beiden Listen vermittelt den Eindruck, dass Püterichs literarischer Geschmack konservativer war als der Mechthilds. Während ihre Bibliothek über Übersetzungen von Steinhöwel, Niklas von Wyle und Thüring von Ringoltingen verfügt, blickt Püterich auf den Jüngeren Titurel als das haubt ab teütschen püechern (V. 100,2) zurück und gibt offen zu, die moderne Literatur interessiere ihn nicht besonders (V. 122,7: der neuen acht ich niet zu khainer stunden). Püterichs angeblicher Konservatismus ist aber nicht eindeutig. Andrea Klein sieht seine Sammeltätigkeit als ausgesprochen modern, obwohl (oder sogar weil) er eine Vorliebe für frühere Literatur gesteht: „In moderner Manier sammelte er vor allem Werke der vergangenen Ritterklassik.“ 22 Weitere Verbindungen zwischen Genealogie und Literatur ergeben sich aus der Prämisse, dass hohe Minne - eines der Hauptthemen der mittelhochdeutschen Blütezeit - die Domäne des Adels ist. Dem ‚Katalog‘ der turnierfähigen bayerischen Aristokraten wird die Versicherung vorangestellt, diese Fürsten seien allesamt bestrebt, sich aus Liebe zu würdigen Frauen hervorzutun: 359 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz 23 Rischer (wie Anm. 3), S. 73-74. 24 Zimmerische Chronik, urkundlich berichtet von Graf Froben Christof von Zimmern und seinem Schreiber Johannes Müller, hg. von Karl August Barack, 4 Bde., Stuttgart 1869 (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 91-94), Bd. 1, S. 435. Das sint von Bayern die hochgebornen fürsten, / die sich durch werde frauen / vill gerne je nach ehrn liessen dürsten. (V. 30,5-7). Püterich mag selbst kein bayerischer Fürst sein, gestaltet in gewisser Hinsicht seine Interaktion mit Mechthild aber doch nach den Paradigmen der hohen Minne. Dies gipfelt im Wunsch, sein literarischer Dienst möge durch ihre Bereitschaft, seine ameie genannt zu werden (V. 86,3), belohnt werden. Der Text formt eine Geste der hingebungsvollen Hommage, was zum Beispiel in der Behauptung deutlich wird, Püterich und Margarethe von Parsberg, von der er alle seine Informationen über Mechthild bezieht, hätten viele Stunden damit verbracht, Mechthilds Tugenden zu besprechen: Rue wir nie gewunen eur puell unnd ich fürwar, biß unnderganng die sonnen zu reden nicht, dan lob von eurn gnaden clar. (V. 29,1-4) Dennoch wird diese Haltung der respektvollen Bewunderung zeitweise untergraben. Ein Faktor ist der leicht bevormundende Ton, mit dem Mechthild ‚belehrt‘ wird. Ein weiterer Faktor ist die Art und Weise, in der Püterich versucht, seine Beziehung zu Mechthild zu erotisieren, eine Strategie, die weder zu den Konventionen des klassischen Minnesangs, in denen die Minnedame namenlos bleibt, passt, noch zu Christel Rischers Argument, dass eine Funktion des gesamten Textes genau darin bestehe, Mechthilds angeschlagenen Ruf wiederherzustellen, indem er ein Zeugnis ihrer Tugend und Ehre liefere. 23 Rischers Annahme, dass Mechthild eines solchen Zeugnisses bedürfen könnte, basiert in erster Linie auf den Aussagen der Zimmerischen Chronik aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, der zufolge der Hof in Rottenburg ein wahrer Venusberg sei: Also ist sie hernach ir lebenlang zu Rotenburg bliben. Ir wesen und hofhalten ist aller frewden und wollusts, so man erdenken und gehaben mogt, uberflissig vol gewesen; hett auch fraw Venusperg [kunden] genennt werden, darin man sprücht sovil frewden sein, daher auch der alt ritter, herr Herman von Sachsenhaim, ein schön gedicht von ihr gemacht, genannt die Mörin, wie sollichs von bemeltem ritter in reimenweis geschriben und auch in druck ist außgangen, ganz lustig zu lesen.  24 In Püterichs Text gibt es jedoch wenig Anhaltspunkte dafür, dass sein konventionelles Lob als Verteidigung gegen eine spezifische Kritik gelesen werden sollte. Darüber hinaus ist Püterichs Lob auf Mechthilds Ehre von einer merkwürdigen Ambivalenz geprägt. Einerseits besteht er unnachgiebig auf der Reinheit und Tugend ihres Hofes in Rottenburg: Von eurem hof besonnder sagt sy mir wirdt unnd lehr. Euer freülein Pfalcz darunter, wie das regieren sey, frau Säldt unnd Ehr. Eurer jungkhfrauen drey in gottes dienst singent, 360 Annette Volfing 25 Vgl. auch V. 20,7: darumb ich billich stehe vor alter greise. 26 In der Mörin stilisiert sich Sachsenheims Sprecher-Ich ebenfalls als einen älteren, verheirateten Ritter, der zwar gerne flirtet, aber nicht länger fähig ist, seine Fantasien auszuleben: So bin ich laider worden treg. / Ich spring nit hoch, wie wol man pfiff (V. 5846 f.). Zu den weiteren obszönen Anspielungen in der Mörin, siehe Strohschneider (wie Anm. 3), S. 91-107. 27 Rischer (wie Anm. 3), S. 82, spricht von der „Rolle des sozial am niedrigsten bewerteten Dieners“. introit, mit unnd ende, das es zu himel den engeln gleich sey khlingendt. Bayrn, Schwabm und Franckhen seindt billich des gepundten gott lieblich ymer ze dannckhen, das Rotnburckh in im sollich wierd hat funden, gelegen am Negkher ver in Schwabenlandt, darumb sie imermere der wirde haubtstat soll sein benant. (V. 8,1-9,7) An anderer Stelle verleiht er dem Ganzen jedoch einen eindeutig erotischen Beiklang. Seine explizite Ablehnung unseriöser Absichten dient nur dazu, die Aufmerksamkeit auf genau diese Möglichkeit zu lenken: […] so, das ich hiet wellen ain diener sein: das wär nicht tugentlich; nur sonnder ein diener eur diemueten diete, unnd ob ich annderst gedennckhe, do sey gott vor! der mir auch das verpiete. (V. 21,3-7) Er behauptet, erotische Abenteuer seien für einen Mann seines Alters unpassend (V. 24,1f.: Ein Mann von zechczig jaren / soll amorschaft vermeiden), 25 und weist darauf hin, dass seine Ehefrau ein solches Verhalten nicht akzeptieren würde: Ob in die wellt ich sähe, das wendt mir an main weib von Säckhendorf. Unnd spricht: „Laap, dich soll nun gar benüegen unnd laß ein jungen werben nach werd minn! Das thuet sich baß in füegen.“ (Str. 26,3-7) Diese Hinweise auf Alter und Ehe implizieren jedoch, dass es eher seine eigene Situation und nicht Mechthilds Ehre ist, die das eigentliche Hindernis für ein Minneverhältnis darstellt. 26 Darüber hinaus werden beim Geschenk der Schuhe Mechthilds wunschen füessen (V. 89,6), als Objekte der Begierde konfiguriert. Noch verblüffender sind die obszönen Konnotationen von Püterichs Wunsch, Mechthild möge ihn einladen, ihr Ofenheizer zu sein: Das war ein wort: La dir empfohlen seine / mein stubenheiczen khörn! / Darumb gewinst leicht die huldt unnd gnad die meine. (V. 27,5-7). Dies könnte einfach als topischer Ausdruck von Püterichs Unterwürfigkeit gelesen werden. 27 361 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz 28 Zimmerische Chronik, Bd. 1, S. 436. 29 Rischer (wie Anm. 3), S. 82; Strohschneider (wie Anm. 3), S. 87-90. 30 Strohschneider (wie Anm. 3), S. 90: „In den Strophen 22 und 27 seines Ehrenbriefes führt der Autor also einen fingierten obszönen Dialog mit seiner Adressatin“. Laut der Zimmerischen Chronik hatte Mechthild in der Tat eine Beziehung mit einem ihrer Angestellten: Ich hab wol von den alten gehört, das sie ain offenhaiser hab gehabt, genannt der Halberdrein, der ist ir ganz haimlich gewesen, bevorab so der graf von Furstenberg oder herr Veit von Emmershofen nit bei der handt. 28 Str. 27 könnte also auch als ein etwas gewagter Hinweis auf einen realen Skandal interpretiert werden. 29 Aber auch ohne einen konkreten Bezug ist das Bild eines Mannes, der den Ofen einer Dame aufheizt, eindeutig sexuell - und kohäriert nicht recht mit einer programmatischen Verteidigung der Tugendhaftigkeit dieser Dame. 30 Trotz der begrenzten Auflage des Ehrenbriefs besteht die Möglichkeit, den späteren Verdacht auf Mechthilds Vertrautheit mit einem tatsächlichen Ofenheizer einfach als eine Mißdeutung Püterichs Phantasien im Ehrenbrief zu erklären. Im Verlauf des genealogischen Teils schreibt Püterich Mechthild zwei durchaus wider‐ sprüchliche literarische Rollen zu, die beide von Wolfram stammen. Einerseits sei sie rein genug, um Gralskönigin gewesen zu sein: hiet ir gelebt der zeiten / der grall het eur zu khunigen nit vergessen! (V. 15,6f.). Andererseits wird sie jedoch auch indirekt mit der femme fatale-Figur Orgeluse in Verbindung gebracht: Ach möcht mir avß dem garten der ehrn ein khrantz auch werden! Das sollt mein freydt mer zarten, dann thet der khrantz, den Gaban der geherten frau Orgelusen prach durch liebes minne ab Gramoflanzes paume; noch höher freüdt mir daz hercz, muet und sine. (V. 82,1-7) Diese beiden Rollen verkörpern die ambivalente Beziehung Püterichs zu Mechthild perfekt. Einigermaßen absurd ist der Umstand, dass dies auch dem ältlichen Ritter erlaubt, selbst vorübergehend die Rollen von Parzival und Gawan zu übernehmen. Auffällig ist, dass die Minne-Topik völlig ausbleibt, sobald Püterich zu dem Vergleich der beiden Bibliotheken kommt. Hierfür gibt es verschiedene mögliche Gründe. Während die Betonung der sozialen Unterschiede im genealogischen ‚Katalog‘ eine Gelegenheit für die Selbsterniedrigung des Minnedieners bot, ist der Diskurs im zweiten ‚Katalog‘ auf Augen‐ höhe angesetzt. Mechthild und Püterich haben beide eindrucksvolle Büchersammlungen und können von einer potentiellen Kooperation hinsichtlich Tausch und Ausleihe nur profitieren. Das Büchersammeln wird so zu einem wirksamen sozialen Ausgleich. Darüber hinaus könnte argumentiert werden, dass Püterichs Begeisterung für das Sammeln von Büchern als Kompensation seines verdrängten sexuellen Verlangens zu deuten sei: Für einen älteren Mann, der nicht in der Lage ist, echte Liebesbeziehungen zu pflegen, kann das Sammeln von Büchern eine alternative Form von Eroberung darstellen. In der Tat mag bei Püterich das Sammeln von Büchern seit jeher die größte Begeisterung ausgelöst haben. Wie er Mechthild gesteht, habe seine Leidenschaft für dieses Unterfangen den größten Teil seines Erwachsenenlebens geprägt: 362 Annette Volfing 31 Albrecht, Der Jüngere Titurel, I: Strophe 1-1957, hg. von Werner Wolf, Berlin 1955 (DTM 45); II/ 1-2: Strophe 1958-4394, hg. von Werner Wolf, Berlin 1964, 1968 (DTM 55, 61); III/ 1-2: Strophe 4395-6327, nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch hg. von Kurt Nyholm, Berlin 1985, 1992 (DTM 73, 77). Zu Sigunes Verzicht auf das Brackenseil siehe Annette Volfing, Medieval Literacy and Textuality in Middle High German. Reading and Writing in Albrecht's ‚Jüngerer Titurel‘, New York 2007, S. 63-64. 32 Heinrich von Morungen, Lied V (Von den elben), 2,3-4 (MF 126,18-19). MF = Des Minnesangs Frühling, Bd. 1: Texte, unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann, Moriz Haupt u. a., bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren, 38., erneut revidierte Auflage, Stuttgart 1988. Zu den weiteren Gewaltfantasien in Morungens Liedern siehe Beate Kellner, „Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedcorpus Heinrichs von Morungen“, in: PBB 119 (1997), S. 33-66; Beate Kellner, Spiel der Liebe im Minnesang, Paderborn 2018, S. 206-239. Ich gih des hie mein beicht, wie ichs erkhobert han: vierczig jar, mer leicht, zu sameln mir ich sy aller erst begann. In Brabannt, Unngern, zwischen baider lannden mit frag ich sy ersuechet, biß das ich ir sovil bracht ze hannden. (V. 121,1-7) So war ihm möglicherweise die Materialität der Bücher schon immer wichtiger, als die höfisch-erotischen Erfahrungen, die darin beschrieben werden. Für Püterich hat der Besitz von Büchern auch Vorrang vor dem eigentlichen Lesen. So lässt, zum Beispiel, seine Bemerkung, Mechthild besitze fünf Exemplare von Lanzelet, er jedoch nur das eine (V. 98,2), einen gewissen Neid durchblicken, obwohl ein Exemplar eigentlich für jeden genug sein sollte, der sich hauptsächlich für die Handlung interessiert. In einem ähnlich gelagerten Fall räumt er ein, ein bestimmtes Buch zu Ende gelesen zu haben (V. 93,4: doch hab ich mir darin gelesen gnueg); dennoch verdrieße es ihn, es nicht zu besitzen: es sei nie geweßen in meiner gwalte (V. 93,3). Angesichts seiner Begeisterung für den Jüngeren Titurel (V. 100,2: das haubt ab teütschen püechern), eine Erzählung, in der es vor allem um das destruktive Verlangen nach einem ungewöhnlichen Textzeugen geht, besteht eine gewisse Ironie darin, dass Püterich sich nicht Albrechts Sigune als Vorbild nimmt, die alle Ansprüche darauf, das Brackenseil zu besitzen, vernünftigerweise aufgibt, sobald sie die Gelegenheit gehabt hat, sich mit dem Inhalt des Textes vertraut zu machen. 31 Eigentum (das heißt, etwas in seiner gwalte zu haben) wird für Püterich somit als persönliche Ermächtigung oder Eroberung gleichgesetzt, auf gleicher Ebene mit sexuellem Triumph. Hier sei auf die ähnliche Formulierung hingewiesen, die der Minnesänger Heinrich von Morungen verwendet: hei wan muoste ich ir alsô gewaltic sîn, / daz si mir mit triuwen waere bî (MF 126,18-19). 32 Püterich ist stolz auf die Rücksichtslosigkeit und Energie, mit denen er die verschiedenen Objekte seiner Begierde aufgespürt hat: zusamb seind sy gerafolt, / mit stellen, rauben, auch darczue mit lehen. / geschennckht, geschriben, gekhaufft unnd darczue funden (V. 122,3-5). Hier liefert der Jüngere Titurel auch ein Vorbild dafür, wie die zielstrebige Suche nach dem Text als materiellem Gegenstand einen früheren Fokus auf erotische Befriedigung ersetzen oder verdrängen könnte: Tschinotulander setzt seine obsessive und fatale Suche nach dem 363 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz 33 Siehe Volfing (wie Anm. 31), S. 65f. 34 Püterich, Ehrenbrief, Str. 143; Albrecht, Der Jüngere Titurel, Str. 499 A. 35 Zu Mandeville als Edelsteinexperten siehe Rosemary Tzanaki, Mandeville's Medieval Audiences. A Study on the Reception of the Book of Sir John Mandeville (1371-1550), Aldershot 2003, S. 105, 273f. Brackenseil fort, lange nachdem Sigune aufgehört hat, auf dem Besitz dieses Gegenstandes als Liebebedingung zu bestehen. 33 Trotz seines eher emotionalen Zugangs zeigt sich Püterich als anspruchsvoller und gut informierter Sammler. Er macht sich Sorgen um die Genauigkeit seiner Texte und ist sich des Unterschieds zwischen der Originalfassung und den vorhandenen Textzeugen bewusst (V. 142,6f.: woll dreißig Titureln / hab ich gesehen, der khainer nit was rechte). Direkt nach dieser Erwähnung seiner eigenen Erfahrung zitiert er eine vollständige Strophe des Jüngeren Titurel, in der sich der Wolfram-Erzähler weigert, für die von späteren Schreibern begangenen Fehler Verantwortung zu übernehmen (Str. 143). 34 Das Problem eventueller Fehlerhaftigkeit in der Überlieferung dämpft aber keineswegs Püterichs Leidenschaft. Hier liefert Morungens Narzisslied eine weitere Parallele, die zeigt, wie das Wissen um die Unvollkommenheiten eines begehrten Objektes die Intensität des Begehrens nicht notwendigerweise abschwächt oder das Subjekt von dem Verhaltensmuster ablenkt, dem es sich verschrieben hat. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Püterichs Fokus auf Fehler in den Werken Wolframs bzw. Albrechts und seiner Sorge, dass seine eigenen Schriften später korrumpiert werden. Sein vorbeugender Appell an künftige schreiber wilde (V. 144,1) ist eine leicht verzweifelte Mahnung, die Form des Textes, den er zu dienst meiner werden frauen (V. 144,6) verfasst hat, nicht zu verändern; er versteht durchaus, dass seine Sammeltätigkeit, die die Fragmentierung der Vergangenheit beseitigen sollte, ohne Garantie gegen zukünftige Fragmentierung bleiben muss. Püterichs schützende Einstellung zu seinem Text zeigt sich auch in seinen Spekulationen darüber, ob Mechthild den Brief tatsächlich schätzen und sicher aufbewahren werde. An einem Punkt hält er es für möglich, dass der Brief bald gelesen (V. 141,5) und dann vill schier verworffen wird (V. 141,6). Die prekäre Materialität des Briefes wird noch dadurch unterstrichen, dass Püterich betont, er sei Versigelt und verpunden (V. 146,1) und trage für immer den Abdruck seines unfragmentierten Herzens: Zu urkhundt sey mein hercz darauf gedruckhet, / das euch soll ymmer bleibunndt / diennstlichen gancz unnd nindert taill zerstuckhet. (V. 146,5-7). Diese Strophen, in denen Püterich seine Besorgnis darüber zum Ausdruck bringt, ob sein Werk erhalten bleiben werde, stehen in engem Zusammenhang mit seinem Bericht über den Besuch der Gräber Wolframs von Eschenbach und Jeans de Mandeville. Während es nicht verwunderlich ist, dass Püterich dem größten deutschen Schriftsteller aller Zeiten huldigen möchte, lässt sich die Tatsache, dass er nicht nur das Grab Mandevilles besucht, sondern auch dessen Epitaph transkribiert und übersetzt, weniger leicht erklären. Obwohl Mande‐ villes Werke in keiner der beiden Bibliotheken zu finden sind, wird dieser möglicherweise aufgrund seines Interesses am Orient und an Edelsteinen als ein gutes Pendant zu Wolfram angesehen. 35 Klaus Ridder mag recht haben, wenn er sagt, für Püterich gelte „neben Wolfram von Eschenbach der Ritter Jean de Mandeville als Leitfigur gehobener adliger Existenz und die beschwerliche Reise zu seiner Grabstätte als Ausdruck einer literarisch überhöhten 364 Annette Volfing 36 Klaus Ridder, „Werktyp, Übersetzungsintention und Gebrauchsfunktion. Jean de Mandevilles Reise‐ erzählungen in deutscher Übersetzung Ottos von Diemeringen“, in: Reisen und Reiseliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums von 3.-8. Juni 1991 am der Justus-Liebig-Universität Gießen, hg. von Xenja von Ertzdorff und Dieter Neukirch unter redaktioneller Mitarbeit von Rudolf Schulz, Amsterdam 1992 (Chloe, Beihefte zum Daphnis 13), S. 357-388, hier S. 385. 37 Volfing (wie Anm. 31), S. 23. 38 Ebd., S. 18-27. Lebensweise.“ 36 Es bestehen auch deutliche Parallelen zwischen Püterichs beschwerlicher Reise zu den beiden Gräbern und seiner Bereitschaft, Europa - von Brabant nach Ungarn - auf der Suche nach Büchern zu durchqueren (V. 121,5). Der Schlüssel zum Verständnis der Funktion des Mandeville-Abschnitts liegt jedoch in seiner Position zwischen der Beschreibung des Besuchs von Wolframs Grab und der Diskussion der problematischen Textüberlieferung des Jüngeren Titurel. Erzählerisch thematisiert auch dieser die Kontingenz und Vergänglichkeit von Textzeugen: zahlreiche verlorene oder fragmentierte Schriftstücke spielen in der Handlung eine Rolle. 37 Das bemerkenswerteste Beispiel ist die aus Juwelen bestehende Beschriftung des Brackenseils: nachdem das Brackenseil zerrissen worden ist, liegen die Steine auf dem Boden verstreut und ihr textueller Sinn ist verloren. Bei Albrecht ist dieses Beispiel von Fragmentierung Anlass für ein aufschlussreiches Wortspiel: lesen als kognitiver Vorgang der Textaufnahme und lesen im Sinne von ‚sammeln‘ / ‚aufsammeln‘: Swer si do was lesende nach in uf dem plane, / ob Artus were wesende so rich, als ich wen, des was er ane. (Der Jüngere Titurel, V. 5896,1f.). 38 Dieses Wortspiel ist auch auf die Dualität von Püterichs Unterfangen über‐ tragbar. Angesichts der grundsätzlichen Kontingenzen, die nicht nur mit der Überlieferung des Jüngeren Titurel verbunden sind, sondern auch in der Handlung artikuliert werden, liegt möglicherweise eine emotionale Logik in Püterichs plötzlicher Entscheidung, die tröstliche Solidität und Beständigkeit von Mandevilles Grabstein in den Vordergrund zu rücken: Ein sarchstain auf im lage mit ainer uberschrifft in solchem dhon, als euch das epitafium erkhenet; mit puechstab von messinge so was der stain mit solcher laut umbrennet: (V. 133,1-5) Auf einer Ebene wird niemand diese Messinginschrift manipulieren - und niemand wird den Stein abtragen, um ihn seiner Privatsammlung hinzuzufügen. Auf einer anderen Ebene ist es natürlich genau das, was Püterich selbst tut, wenn er den Wortlaut des Epitaphs in seinen Text inkorporiert. Selbst wenn Püterich den Wortlaut fehlerfrei kopiert und übersetzt, unterliegt die Inschrift durch ihre Aufnahme im Ehrenbrief allen Risiken und Zufällen der Textüberlieferung. Der Prozess des Sammelns untergräbt somit sein eigenes Ziel, die Integrität und Vollständigkeit einer fragmentierten Welt wiederherzustellen. In Anbetracht dessen ist Püterichs Behauptung, seine Lebensanstrengungen seien vergeblich gewesen (V. 137,5f.: Was hab ich dran nun hie auf erdreiche? / Mein gwin ist zeit verloren! ) mehr als nur ein topisches Geständnis, sich allzu sehr mit Weltlichem und Materiellem befasst zu haben. Seine Aussage dient auch als Einsicht sowohl in die 365 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz 39 Heinrich von Morungen, Lied XXXII (MF 145,1-32), besonders 4,5-8 (MF 145,29-32): Owê leider, jô wânde ichs ein ende hân / ir vil wunnenclîchen werden minne. / nû bin ich vil kûme an dem beginne. / des ist hin mîn wuune und ouch mîn gerender wân. Zum unwillkürlich destruktiven, repetitiven Verhaltensmuster in diesem Lied siehe Kellner 2018 (wie Anm. 32), S. 224-239, besonders S. 231: „Das Spiegelbild ist so nahe und dennoch so unerreichbar. Wonne und Nähe, oder, mit den Bildern des Mythos ausgedrückt, ein Greifen nach dem schönen Bild, führen dagegen zur Zerstörung […].“ 40 Püterich, Ehrenbrief, V. 98,5: die Morein. abhängig machende Natur des Sammeltriebs, wie auch in das unvermeidliche Scheitern dieses Unternehmens. Wie das lyrische Ich in Heinrichs von Morungen Mir ist geschehen als einem kindelîne stößt der Sammler auf die Erkenntnis, dass Objekte der Begierde, die als Stellvertreter für eine imaginäre Idealität dienen, niemals vollständig besessen werden können und dass jeder Versuch, dies zu erreichen, nur zur Erschaffung weiterer Fehler und Unsicherheiten führt. 39 Hermann von Sachsenheim ist zwar einer der in Mechthilds Bibliothek vertretenen modernen Autoren, 40 sein kultureller Kontext ist aber dem von Püterich sehr ähnlich: Auch er blickt auf ein goldenes Zeitalter der kanonischen mittelhochdeutschen Literatur zurück und interessiert sich besonders für die Werke Wolframs bzw. Albrechts. Hermanns Ansatz zur literarischen Sammeltätigkeit ist einfacher als der Püterichs, da er rein metaphorisch bleibt: Während Püterich versucht, intertextuelle Anspielungen mit einer Darstellung seines tatsächlichen Buchsammelns zu verbinden, beschränkt sich Hermann auf die geistreiche Aneignung und gelegentliche Rekonfiguration früherer literarischer Kontexte. Die Mörin ist mit literarischen Anspielungen überladen, die entweder direkt ans Pu‐ blikum gerichtet sind oder im Gespräch zwischen den verschiedenen Handlungsträgern vorkommen. In Anbetracht der Tatsache, dass dieser Text von der Entführung des älteren Erzählers in das feindliche orientalische Reich von Vrou Venus-Minne erzählt, sind die Willehalm-Anspielungen besonders zutreffend, obwohl sie eher kontrastierend verwendet werden. Wenn der Erzähler zum Beispiel gedemütigt wird, weil er auf einem Maultier reiten muss, bemerkt er, dass Aroffal dört vil anders rait, / Da in Wilhalm der markis schlůg (V. 4850 f.), und nachdem er einen unüberlegten Versuch unternommen hat, mit der mörin zu flirten, weist sie ihn mit den Worten ab: Du ungetrüwer göcken snabel. / Ich bins nit die suß Arabel, / Die dort dem markis wol geviel (V. 401-403). Gelegentlich dienen die Wolfram-Referenzen jedoch dazu, die Ereignisse der Mörin mit der Erzählwelt früherer Texte zu verbinden. Zum Beispiel behauptet der Erzähler, Menschen gesehen zu haben: Uß Tabermunt dem künigrich, / Da Secundil die minneklich / Antfortas gab den richen kra v m (V. 481-483). Ebenso soll Belis, eine weitere im Orient angetroffene Figur, aus der Gral-Gesellschaft stammen: Der belis was uß ainer vest, / Da Tyterol gewaltig was (V. 1602 f.). Trotz seiner Vorliebe für Wolfram-Anspielungen gelingt es Hermann jedoch, eine Vielzahl anderer Autoren, Gattungen und Texte einzubauen: Tannhäuser, der Ehemann der Venus-Minne, dient als Beispiel für die Appropriation einer bekannten literarischen Figur, während Brunhilt, die mörin des Titels, ihren Namen dem Nibelungenlied entlehnt. Weiterhin erwähnt werden Dietrich von Bern (V. 1793, 2442) und Ecke (V. 1793), Herzog Ernst (V. 1019), Freidank (V. 3035), Lunete (V. 3493) und Kalogrenant (V. 3496), Wigalois (V. 2702), Wilhelm von Österreich (V. 4895), Karlmeinet (V. 4298), der Sachsenspiegel 366 Annette Volfing 41 Zu den Hinweisen auf Neidhart Fuchs in der Mörin siehe Huschenbett 2007 (wie Anm. 4), S. 200. 42 Siehe Fußnote 27. 43 Zu dieser Personifikation vgl. Volfing (wie Anm. 32), S. 75-96. (V. 1850), Oswald von Wolkenstein (V. 5324) und der Minnesänger Neidhart (V. 201, 4667). 41 Die Figur von Neidhart Fuchs aus der Schwank-Tradition ist auch ein wichtiges Vorbild für den Erzähler, der, wie Neidhart Fuchs, einen Nonsens-Schwur auf Ziprion (V. 5758 f.) schwört und so seine Flucht aus der Gefangenschaft bewerkstelligt. Ebenfalls unterschiedlich ist die Art und Weise, wie Püterich und Hermann ihre Sammeltätigkeit mit der Person Mechthilds von der Pfalz in Verbindung bringen. Püterichs Strategien wurden bereits diskutiert, einschließlich seiner Wahl der Briefform und seiner Versuche, die Beziehung zu erotisieren, indem er sich auf die Gattungen des Minnesangs und des höfischen Romans beruft. Hermann vermeidet solch ein direktes erotisches Engagement mit Mechthild, auch wenn sein Sprecher-Ich demjenigen Püterichs in vielen Hinsichten ähnelt. 42 Beide sind ältere, verheiratete Männer mit einem etwas lächerlich erscheinenden Interesse an mächtigen Frauen. In der Mörin wird von Mechthild (in der abschließenden Widmung, V. 6043-6047) nur höchst respektvoll gesprochen, während die Lüsternheit des Erzählers eher in seiner Interaktion mit Brunhilt zum Ausdruck kommt. In Des Spiegels Abenteuer findet Hermann jedoch eine innovative und dennoch respekt‐ volle Möglichkeit, Mechthild in die Erzählwelt zu integrieren. Des Spiegels Abenteuer ist im Wesentlichen ein kürzeres Pendant zur Mörin, indem hier auch von der traumatischen Reise des Erzählers, eines schwäbischen Ritters, in eine von schrecklichen Frauenfiguren bevölkerte Anderswelt erzählt wird. Dieser Text ist ebenfalls mit Wolfram-Anspielungen übersät. Sowohl in Des Spiegels Abenteuer wie in der Mörin begegnet man der Personifika‐ tion Fraw Abentur, die eindeutig auf der Personifikation in Parzival und im Jüngeren Titurel basiert, 43 obwohl sie bei Hermann auch eine Rolle als Handlungsträgerin innerhalb der Erzählungen spielt und nicht nur für deren Wahrhaftigkeit bürgt. In Des Spiegels Abenteuer wird behauptet, dass diese allegorische Figur, die die höchste Autorität innerhalb der Erzählwelt darstellt, Mechthild kennt und schätzt. Über diese persönliche Beziehung wird der Erzähler von einem treuen Zwerg zuverlässig informiert: 'myn fraw, die Abentur, die ist der furstin holt: sie git ir richen solt besonder hoh synn.[']. (V. 2682-2685) Indem Hermann Mechthild die Rolle einer Favoritin von Fraw Abentur in Des Spiegels Abenteuer zuschreibt, geht er einen Schritt weiter, um ihre Verbindung zu den Klassikern zu stärken. Es ist also nicht nur der Fall, dass Mechthild viele literarische Werke besitzt und kennt; es wird ihr auch erlaubt, in die Erzählwelt, die angeblich Hermann und Wolfram gemeinsam bevölkern, buchstäblich einzutreten. Diese Verwandlung Mechthilds in eine literarische Figur ergänzt - und relativiert zugleich - die stückweise Art der Aneignung, die man normalerweise mit der Sammeltätigkeit verbindet. Der vorliegende Beitrag hat zwei sehr unterschiedliche Arten des literarischen Sam‐ melns, die beide mit dem Mäzenatentum Mechthilds von der Pfalz verbunden sind, kontras‐ 367 Literarisches Sammeln im Umfeld Mechthilds von der Pfalz tiert. Sowohl Püterich als auch Hermann sind grundsätzlich konservativ in dem Sinne, dass sie auf ein angeblich verlorenes goldenes Zeitalter der deutschen Literatur zurückblicken und sich daran orientieren. Hermann setzt sich jedoch spielerisch mit der Vergangenheit auseinander, macht Anleihen im großen Stil und kreiert neue Konfigurationen literarischer Motive - einschließlich der bewussten Verwischung des Wörtlichen und des Allegorischen sowie der fiktiven und der realen Welt. Püterichs Vorhaben ist weniger geistreich, in vielerlei Hinsicht aber komplexer und ernsthafter. Zwar ähnelt der Ehrenbrief Hermanns Minnereden, da er bekannte literarische Motive zum Lob einer realen historischen Figur einsetzt. Der Ehrenbrief betont auch die Spannung zwischen der Materialität von Büchern und der zum Teil unabhängigen Existenz literarischer Paradigmen und anderer abstrakter Kulturgüter. Die Nichtverfügbarkeit bestimmter Bücher und die Unzuverlässigkeit der Überlieferung sind nur einige der vielen Hindernisse, die den Versuch unterlaufen, die Vergangenheit durch die zwanghafte und quasi-erotische Suche nach literarischen Texten und Kontexten wiederherzustellen. 368 Annette Volfing Aufzählen als poetisches Prinzip 1 Lewis Carroll, The Annotated Alice. The Definitive Edition, hg. von Μartin Gardner, New York 4 2000, S. 138. 2 Bekannteste und für diese Betrachtung relevanteste Beispiele sind die Völkertafeln der Nachkommen Noahs in Gen. 10 und die Ahnenketten und Familienlisten in 1. Chr. 1-8. Siehe: Biblia Sacra Vulgata, hg. von Robert Weber und Roger Gryson, Stuttgart 2007 5 . 3 Homer, Ilias, Griechisch - deutsch, übers. von Hans Rupé, Berlin 16 2013 (Sammlung Tusculum), 2. Gesang, V. 484-759, S. 64-117. 4 Herodotus, with an English translation, in four Volumes, III, Books V-VII, hg. von Alfred D. Godley. Cambridge Mass., 1938, Buch 7, Kap. 60-100, S. 375-403. 5 Homer und Herodot wurden im lateinischen Mittelalter nicht direkt rezipiert. Wichtige Mittels‐ männer für die homerische Tradition waren Dictys Cretensis und Dares Phrygius. Beide liefern auch Varianten des Schiffekatalogs: Dictys und Dares: Krieg um Troja. Lateinisch und deutsch, hg. von Kai Brodersen, Berlin 2019; Daretis Phrygii De excidio Troiae historia, hg. von Ferdinand Otto Meier, Leipzig 1873, Kap. 14, S. 17-19; Dictys Cretensis Ephemeridos belli troiani libri sex, hg. von Ferdinand Otto Meier, Leipzig 1872, Lib. I,17, S. 12-14. Das für die mittelalterliche Rezeption einflussreichste Beispiel aber dürfte Vergils Aeneis sein: Publius Vergilius Maro, Opera, hg. von Roger A. B. Mynors, Oxford 1969, z. B. Lib. IX,1-46, S. 306f. Kataloge ‚heidnischer‘ Heere in der mittelhochdeutschen Literatur als Sammlung zwischen Ordnung und Entgrenzung Wolframs von Eschenbach Willehalm und Ottokars aus der Gaal Buch von Akkon Christoph Pretzer ‘The time has come,’ the Walrus said, ‘To talk of many things: Of shoes — and ships — and sealing-wax — Of cabbages — and kings[.’] Lewis Carroll, The Walrus and the Carpenter  1 Während am Anfang bekanntlich das Wort stand, so kam doch schon kurz darauf die Liste: grundlegende Texte westlicher Literatur- und Geschichtsschreibung wie die Bibel, Homers Ilias oder Herodots Historien nutzen listende Aufzählungen von dynastischen Verbänden und katalogisierende Aufzählungen von Heereskontingenten. Aus diesen und vergleichbaren Texten - den Völkertafeln des Alten Testaments, 2 dem Schiffskatalog Homers 3 und dem Aufmarsch von Xerxes’ Vielvölkerheeres bei Herodot 4 - entwächst der Antike eine reiche Tradition von Katalogen, die durch die lateinischen Autoren späterer Jahrhunderte auch dem Mittelalter weitergereicht werden. 5 Der aufklärerischen Kritik Rousseaus folgend, wurden diese Kataloge in der Neuzeit, auch aufgrund des hohen Maßes an repetitiver Typizität, das sie strukturell auszeichnet, oft 6 Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997, S. 89f.; Jean-Jacques Rousseau, Émile ou De l’éducation, hg. von François und Pierre Richard, Paris 1961, S. 73. 7 Hayden White, The Content of the Form, Baltimore/ London 1987, bes. S. 1-25. 8 Ebd. S. 24. 9 Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/ New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 22), S. 13. 10 Ebd. 11 Hartmann von Aue, Erec, Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg. und übers. von Volker Mertens, Stuttgart 2008. V. 1629-1697. Im Folgenden zitiert als: Erec. 12 Erec, V. 1902-2113. 13 Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe, Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin/ New York 1999, V. 770,1-772,30. Im Folgenden zitiert als: Parz. als Verkörperungen einer antiquierten Wissensordnung gesehen. Diese Wissensordnung betone schlichtes Auswendiglernen und unverstandenes Reproduzieren und halte wenig echte Erkenntnis oder Wissensgewinn bereit. 6 Entsprechend werden sie bis heute von modernen Lesern oft als langweilig abgetan oder gar beim Lesen übersprungen. Als in der Tat oft sehr raumgreifende und langatmige Passagen haben sie durchaus einige Auf‐ merksamkeit in der Forschung erfahren, und die moderne Zurückhaltung ihnen gegenüber wurde relativiert. So versteht Hayden White die Liste als vertikale Ordnungsform, die Ereignishaftigkeit durch ihre Form als ähnlich, vergleichbar und gleichwertig kategori‐ siert. 7 Indem die Liste als historiographische Form auf Narrativität verzichtet, macht sie, White zufolge, dem Publikum erst den eigenen, deplatzierten Anspruch an eine narrative Kohärenz und Integrität von Geschichte bewusst. In ihrer offenen Sequenzialität entspräche sie eher der Art und Weise, in der die Welt sich dem Auge der Betrachtenden präsentiere: „as sequences of beginnings that only terminate and never conclude [.]“ 8 Sabine Mainberger zeigte, dass auch das Enumerative seiner Poetik folgen und somit Kunst sein kann. Wobei sie Kunst dabei im doppelten Sinne versteht: erstens im Sinne von τέχνη als die „Funktionsweisen, Mechanismen, Strategien, Wirkungen der verschiedenen enumerativen Praktiken“ 9 und zweitens als das, was passiert, wenn Aufzählungen „anderes oder mehr tun als die von ihnen erwartete Funktion zu erfüllen, ohne daß wir daran Anstoß nehmen; vielmehr heißen wir es willkommen und sehen darin einen Zugewinn an Erkenntnis, Beweglichkeit, Neuheit, Differenzierung, sinnlichem Vergnügen“. 10 Die mittelhochdeutsche Literatur entwickelt, nicht zuletzt dank der oben aufgeführten biblischen und antiken Vorbilder, ein reiches Repertoire an Listen und Katalogen. Um einen Eindruck von deren Vielfalt zu vermitteln, seien hier nur einige Beispiele angeführt: In Hartmanns von Aue Erec finden sich gleich zwei prominente Listen: zunächst ein Katalog der Ritter, die an der Tafelrunde versammelt sind, 11 dann eine immer wieder durch ekphrastische Passagen erweiterte Aufführung der edelsten Gäste, die zu Erec und Enites Hochzeit an den Artushof kommen. 12 Auch in Wolframs von Eschenbach Parzival finden sich gleich mehrere Listen: etwa als Parzival und Feirefiz, in einem durchaus komisch anmutenden Überbietungswettkampf, der ihrem eigentlichen Duell vorausgeht, die jeweils von ihnen überwundenen Feinde aufzählen, 13 oder auch als Teil der Beschreibung des Betts des Anfortas’, wo eine Sammlung von 58 Edelsteinnamen eingefügt wird. Alle diese Listen entfalten sich innerhalb eines Dreißigers, fügen sich also passgenau in die formalen 372 Christoph Pretzer 14 Vgl. Parz, V. 791,1-30. 15 Das heute meist pejorativ verstandene Wort ‚heidnisch‘ ist in diesem Beitrag stets auf die mittelal‐ terliche Imagination von nichtbzw. vor-christlicher Religion zu beziehen. Siehe dazu Daniel Frei, „Wie Feindbilder entstehen“, in: Feindbild. Geschichte, Dokumentation, Problematik, hg. von Günther Wagenlehner, Frankfurt am Main 1989, insbes. S. 222-226. 16 Kaiserchronik eines Regensburger Geistlichen, hg. von Edward Schröder, Berlin 1895, unv. Nachdruck: Berlin 1964 (Monumenta Germaniae Historica . Deutsche Chroniken 1,1), V. 43-208 u. 3706-42. Im Folgenden zitiert als: Kch. 17 Mainberger (wie Anm. 9), S. 12. 18 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, hg. von Joachim Heinzle, Frankfurt am Main 1991, V. 337,1- 361,30. Im Folgenden zitiert als: Wh. 19 Ottokar von Steiermark, Österreichische Reimchronik, hg. von Josef Seemüller, Unv. Nachdruck: Dublin/ Zürich 1974 (Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters 5.1), V. 47006-47965. Im Folgenden zitiert als: StR. 20 Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen, hg. von Karl Kinzel (Germanistische Handbibliothek 6), Halle 1884, V. 1415-1496. Im Folgenden als: VA. Strukturen des Romans ein. 14 Die anonyme Kaiserchronik schließlich präsentiert Listen der ‚heidnischen‘ 15 Wochentage und Gottheiten, um ihrem mittelalterlich-christlichen Publikum die zeitlichen und religiösen Ordnungssysteme des antiken Roms zu vermitteln. 16 In diesem Beitrag sollen nun Beispiele aus einer, bisher wenig beachteten, Unter‐ gruppe von Listen nebeneinander gestellt und aufeinander bezogen werden: die der Heereskataloge. Hierbei handelt es sich um die in mittelalterlichen Texten bisweilen vor großen militärischen Aufeinandertreffen gebotenen katalogisierenden Darstellungen der Truppenteile und Kontingente eines Heeres, das sich auf Befehl eines Herrschers zur Schlacht sammelt. Hieraus sollen nun nur ‚heidnische‘ Heeresordnungen ins Auge gefasst werden, also Aufstellungen von Truppen, die nicht-christlichen Herrschern folgen. Diese Sammlungen haben gegenüber christlichen Heereskatalogen - zumindest auf den ersten Blick - den Vorteil, dass sie frei von der Belastung sind, für das Publikum eine Form von Identifizierungsangebot entwickeln zu müssen, und somit als Wissensordnung auf anderer Ebene Wirkung entfalten können. Neben diesen inhaltlichen Gründen bieten sich ‚heidnische‘ Heere auch strukturell als in Listen organisierter Untersuchungsgegenstand an. Im Verhältnis zur literarischen Rede, aus der der Großteil der untersuchten Texte besteht, sind Auflistungen als das sprachlich Andere markiert. Gerade in ihrer elementaren Schlichtheit erscheinen sie im Text marginal. 17 Das ‚Heidnische‘ wird, als Gegenstand dieser Listen, dadurch schon durch die Textform als fremd markiert, wodurch der inhaltlichen Charakterisierung als fremd zugearbeitet wird. Daher bieten sich Listen und Kataloge besonders an, Horizonte der Fremdheit zu entwerfen, in denen Sammlungen von exotischen Orts- und Personennamen enthalten sind. Als zentrale Untersuchungsgegenstände sollen zwei solcher Heerschauen betrachtet werden: zum ersten die Heeresordnung Terramêrs in Wolframs von Eschenbach Willehalm aus dem frühen 13. Jahrhundert, 18 und zum zweiten die Heerschau der heiden bei Ottokar aus der Gaal, der gut ein Jahrhundert später in seinem Buch von Akkon, als Bestandteil seiner monumentalen Steirischen Reimchronik, direkt auf Wolframs Willehalm Bezug nimmt. 19 Kontextualisierend sollen auch zwei Beispiele aus dem 12. Jahrhundert hinzugezogen werden: der Heereskatalog des Darius aus dem Vorauer Alexander  20 und die Musterung der 373 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 21 Kch, V. 7292-7360. 22 Mainberger (wie Anm. 9), S. 102-118 (Beschreibung), 262-274 (Genealogie), 61-73 (Koordination). Eine ausführlichere Diskussion dieser Begriffe nach Mainberger erfolgt am Anfang der jeweiligen Abschnitte. 23 Ebd., S. 7. 24 Ebd. feindlichen Heere vor dem Krieg zwischen Kaiser Lucius Accommodus und Alarik in der Kaiserchronik. 21 Sabine Mainberger identifiziert und analysiert in ihrem Buch Die Kunst der Aufzählung zu einer Poetik des Enumerativen mehrere poetische Funktionen der Aufzählung. Drei dieser Funktionen, bei denen es besonders ertragreich erscheint, werden im Folgenden auf die oben skizzierten Kataloge bezogen, um sie so in ihren narrativen Potenzialen zu erfassen und zu beschreiben: 1. die Beschreibung, 2. die Genealogie, 3. Die Koordination. 22 Zu diesem Zwecke werden im ersten Teil dieses Beitrags die verschiedenen Heereska‐ taloge vorgestellt und strukturelle Gemeinsamkeiten identifiziert. Im zweiten Teil werden dann die Heereskataloge der mittelhochdeutschen Literatur auf die von Mainberger entworfene Poetik des Enumerativen bezogen. Mainberger folgend, sollen exemplarische Funktionen des Enumerativen - Mainberger spricht von „Diskurstypen“ 23 - die in diesen Katalogen wirksam sind, sichtbar gemacht, um zu zeigen, wie diese Funktionen erzählerisch genutzt werden. Im dritten und letzten Teil wird dann argumentiert, dass, während die katalogisierende Form der Heerschauen Ähnlichkeit und Vollständigkeit anstrebt und suggeriert, sie - paradoxerweise - inhaltlich fast zwangsläufig ein gegenläufiges Programm entfaltet: Hier werden die dargestellten Heere sowohl räumlich-physisch, als auch zeitlich-historisch entgrenzt, und somit wird die formgebende Mission des Katalogs inhaltlich verunmöglicht. I Funktionen des Enumerativen Nach Sabine Mainberger sammeln „Aufzählungen […] distinkte Elemente und egalisieren sie unter einem thematischen oder formalen Gesichtspunkt“. 24 Diese Definition lässt aber im Unklaren was genau ein einzelnes Element distinktiv macht. Auch zäumt sie das Pferd von hinten auf: praktisch wird bei den meisten Aufzählungen der thematische oder formale Gesichtspunkt am Anfang stehen, bevor die Koordination und Egalisierung erfolgen kann. Mainberger selbst räumt sogleich ein, dass eine Egalisierung der aufgezählten Elemente hierbei nicht so sicher ist, wie sie erscheint, da eine Auflistung durchaus auch Möglichkeiten der Hierarchisierung bietet. In Heereskatalogen sind Mainbergers distinktive und wiederkehrende Elemente mili‐ tärische Kontingente, über deren genaue Darstellung noch zu sprechen sein wird. Die Katalogisierung dieser Elemente im Heereskatalog ist dabei stets zweckgebunden: Die Sammlung des Heeres dient dem Zweck des Einsatzes zur militärischen Entscheidungsfin‐ dung. Die Spannung dieser Listen liegt also zunächst darin, dass ihr Zweck im Moment des Sammelns ganz auf die Projektion von kriegerischer Gewalt in nicht allzu weit entfernter 374 Christoph Pretzer 25 Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26. 26 Siehe unten Anm. 22. 27 Mainberger (wie Anm. 9), S. 7. 28 Rene Nunlist, „Homers Schiffskatalog“, in: Geographische Kenntnisse und ihre Konkreten Ausfor‐ mungen, hg. von Dietrich Boschung, Thierry Greub und Jürgen Hammerstaedt, München 2013 (Morphomata 5), S. 50-73, hier S. 58. Zukunft verengt ist. Dies schließt natürlich eine anders gerichtete Latenz nicht aus. 25 So können die absurden Zahlen der Truppenkontingente und die fantastischen Namen der versammelten Lande, durchaus latent komisch sein oder als Fundgrube für die Wieder- und Weiterverwertung dieser Namen in anderen Kontexten genutzt werden, was im Falle des Willehalm später ja auch geschah. 26 Mainberger führt weiter aus, dass Aufzählungen aus der textuellen Wiederholung der formal immer gleichen Operation bestehen. 27 Als im hier relevanten Kontext des Heeres‐ kataloges formgebend hat Rene Nunlist am Beispiel von Homers Schiffskatalog, dem locus classicus solcher Listen, drei Elemente identifiziert: 28 Erstens die Nennung des Ethnikons der jeweiligen Gruppe bzw. ihrer Heimatstadt oder Heimatlandes, zweitens die Einführung einer zentralen Figur, in der Regel eines Anführers, und drittens die Nennung der Größe des Kontingents, bei Homer die Anzahl der Schiffe, im Falle unserer Heereskataloge die Anzahl der Soldaten: Anführer - Abstammung - Armee. Diese drei Elemente finden sich auch - in Abwandlung - in den hier untersuchten mittelhochdeutschen Katalogen ‚heidnischer‘ Heeresaufgebote, die im Folgenden kurz summarisch vorgestellt werden sollen. Kaiserchronik, V. 7292-7360 In der Kaiserchronik gibt es eine ganze Reihe von Heeressammlungen, die prominenteste wohl als Bestandteil der Lucius Accommodus Episode, in der Alarik, als Anführer einer Partei, die als die ‚Äußeren’ (ûzern Kch, V. 7262) eingeführt wird, ein Heer rüstet, um seinen Herrschaftsanspruch auf Rom kriegerisch durchzusetzen, während Kaiser Lucius Accommodus seinerseits ein Heer der Partei der ‚Inneren‘ (innern, Kch, V. 7263) ausrüstet, um seine Herrschaft in Rom zu verteidigen. a. Alariks Sammlung (die ûzern, Kch, V. 7262) 1. Ethnonym oder Herkunftsort: entweder als ethnisches Kollektiv (z. B. Mêdî Kch, V. 7298; Serzen unt die Môre V. 7302), oder als Ländername (z. B.von Riuzen V. 7319; von Kalâbrîâ / unde von Sicîlîâ V. 7324 f.; von Pulle V. 7327) oder personalisiert (z. B. chunich von Parthe V. 7306; chunich von Jacobîte V. 7310; kunic von Crîchen V. 7314; herzoge von Pôlân V. 7317; chunich von Arâbîâ V. 7321), 2. + entsprechend in 3. Person Plural oder 1. Person Singular: Verb brâhten/ vuorten/ brâht/ sant Kch, V. 7300; 7303; 7308; 7311; 7315; 7322; 7328; 7339), Abweichung: im dô chom (Riuzen V. 7319), 3. + Zahlenstärke des Kontingents: 375 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 29 Jochen Johrendt, „Barbarossa, das Kaisertum und Rom“, in: Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert, hg. von Stefan Burkhardt, Thomas Metz, Bernd Schneidmüller und Stefan Weinfurter, Regensburg 2010, S. 75-110. Herkunft Stärke Versnummer Mêdî 60 000 7301 Serzen & Môre 100 000 7304 chunich von Parthe 50 000 7308 chunich von Jacobîte 50 000 7312 kunic von Crîchen 80 000 7316 herzoge von Pôlân 70 000 7318 von Riuzen 100 000 7320 chunich von Arâbîâ 30 000 7323 von Kalâbrîâ & Sicîlîâ 80 000 7326 von Pulle 12 000 7328 Summe 632 000 b. Sammlung der Römer (die innern, Kch, V. 7263) 1. Ethnonym oder Herkunftsort: entweder personalisiert (z. B. kunic von Britten Kch, V. 7336; kunic von Itâlîâ V. 7340; der von Purgundîâ V. 7341; herzoge von Merân V. 7346) oder als Ländername (z. B. von Lantparten und von Tuskân V. 7344), 2. + Verb 3. Person entsprechend Singular/ Plural: brâht (Kch, V. 7339); samenten sich (V. 7342); vuorten (V. 7343, 7345, 7348), 3. + nicht quantifiziertes Akkusativobjekt: manige(n) + hêrlichen man (Kch, V. 7339); halsperge wîze (V. 7343); helt lussam (V. 7345); helt guoten (V. 7348). 4. Am Ende der Aufzählung Summe aller Kontingente: 300.000 geste (Kch, V. 7352). Auffällig ist, dass die Namen der Länder, aus denen die ‚Äußeren‘ stammen, insgesamt Süditalien und den Orient abdecken, während die Ländernamen der ‚Inneren‘ sich in Norditalien und im transalpinen Europa lokalisieren lassen und damit etwa den Reichsvor‐ stellungen der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entsprechen. 29 Vorauer Alexander, V. 1415-1496 Gegen Ende des Vorauer Alexanders ruft Darius ein Heer aus allen Teilen seines Reiches in Mesopotamien zusammen, um sich Alexander entgegen zu stellen. 1. Dreiteilige Quantifizierung der Anführer: 32 Könige (VA, V. 1440), 270 Grafen (V. 1444) und 803 Herzöge (V. 1448). Beginn der Liste: Nennung der Herkunftsorte 376 Christoph Pretzer 30 Matthias Lexer, Art. samnunge, in: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Leipzig 1876, Bd. 2, Sp. 598. 2. gefolgt von entweder Verb 3. Person Plural: si chômen (Zinnonenses VA, V. 1453); si brâhten (Panfilien V. 1456; Cilicien V. 1464; Armeninlant V. 1468); sie santen (Gâze V. 1473); si nâmen (Frigia V. 1480, India V. 1485), oder Passivwendung: wurden ime gesant (Persin V. 1449; Ninive V. 1465, von dem rôten mere V. 1488). 3. + manchmal Querverweis zur biblischen Relevanz des jeweiligen Landes: Tobias und der Engel, Medinrîche VA, V. 1461 f.; Arche Noah, Armeninlant V. 1469-72, 4. + Quantifizierung der Truppenstärke: Herkunft Stärke Versnummer Persin 70 000 1450 Zinnonenses 50 000 1453 Panfilien 50 000 1456 Cilicien 80 000 1464 Ninive 20 000 1466 Armeninlant 8000 1468 Gâze 1000 1476 Frigia 20 000 1480 India 12 000 1485 von dem rôten mere 1000 1489 Summe 312 000 5. Abschließend: Nennung der Summe aller Kontingente: 630 000 (VA, V. 1491-1495). Entspricht nicht der tatsächlichen Summe der genannten Zahlen, siehe Tabelle. Den beiden Katalogen der Texte des zwölften Jahrhunderts ist gemein, dass sie relativ knapp gehalten sind und stark mit formelhafter Repetition arbeiten. Inhaltlich sind sie beide als Wechsel von Aufruf und Reaktion angelegt: Ein Feldherr ruft Unterstützer herbei und der Katalog bietet dann eine Liste der Länder, die auf diesen Ruf reagieren und Truppen entsenden. Es handelt sich also um eine Sammlung im Wortsinn, die oft durch das mittelhochdeutsche Lexem samnung ausgedrückt wird. 30 Dabei bezieht sich dieses Wort semantisch sowohl auf den ausgehenden Ruf des Herrschers, als auch auf die Versammlung, die als Reaktion auf diesen Ruf zusammenkommt. Als nächstes nimmt in Wolframs Willehalm der Anführer des ‚heidnischen‘ Heeres Terramêr vor der zweiten Schlacht von Alischanz eine Einteilung und Neuordnung seines durch die erste Schlacht dezimierten Heeres vor. 377 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 31 Explizit nur in StR, V. 45305-45314, im Kontext der Darstellung der Tugendhaftigkeit der Figur des alten Sultans. Davon ausgehend wird Ottokars Darstellung der heiden durchgehend von Wolfram geprägt. Siehe: Alfred Raucheisen, Orient und Abendland. Ethisch-moralische Aspekte in Wolframs Epen ‚Parzival‘ und ‚Willehalm‘. Frankfurt 1997 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 17), S. 62-82; Christoph Pretzer, „Die heiden in Ottokars aus der Gaal Buch von Akkon“, in: Germanistik in der Schweiz 14 (2017), S. 83-119. Willehalm, V. 337,1-361,30 Zum größten Teil wird die Neuordnung des Heeres durch die Aufzählung Terramêrs als Tätigkeit in direkter Rede vorgenommen und nicht wie in den anderen Texten durch den Erzähler oder dialogisch im Austausch durch Herrscher und Lehnsleute: iuwer aller helfe ich ger […] ich wil haben zehen schar (Wh, 340,15 und 22). Die Zuweisung der Heeresteile an Halzebier, Tibalt und Ehmereiz und an seine zehn Söhne erfolgen als ein langer Sprechakt Terramêrs. Die anderen Scharen werden dann vom Erzähler vorgestellt. In beiderlei Form ist diese von Terramêr angewiesene Neuordnung syntaktisch freier und stärker in der narrativen Umgebung der Liste aufgelöst, als die Heerschauen des 12. Jahrhunderts. Dennoch folgt die Einsetzung der zehn Scharen von Terramêrs Heer einer grundlegenden und sich bei jeder Schar wiederholenden Ordnung, wobei sich nicht alle Schritte dieser Ordnung bei jeder Schar finden und sie oft unterschiedlich ausführlich vorgenommen werden: 1. Nennung des Anführers und familiäre Beziehung zu Terramêr: Halzebier Wh, 341,4-6; Tîbalt 342,7-20; Sînagûn 344,1-3; die zehen süne 345,1-6; Poidjus 346,22-25; 347,26-30; Aropatîn 348,1-20; Josweiz 349,1-11; 350,2-11; Poidwîz 350,12f.; Marlanz 351,5-10; Terramêr (ze mînen handen) 352,18-22; 354,1-355.30. 2. Aufzählung von verstorbenen und lebenden untergeordneten Heerführern damit ver‐ knüpft die Länder über die sie herrsch(t)en und aus denen ihre Truppen stammen: Halzebier Wh, 341,7-30; Tîbalt 342,21-30; Sînagûn 344,4-26; die zehen süne 345,7-27; Poidjus 346,22-347,23; Aropatîn 348,21-30; Josweiz 349,12-350,2; Poidwîz 350,12-30; Marlanz 351,11-20; Terramêr (ze mînen handen) 352,23-353,30; 356,3-357,11; 358,23- 360,12. Entscheidender Unterschied zu den anderen hier betrachteten Heerschauen ist, dass bei Wolfram keine Quantifizierung der Kontingente stattfindet. Die einzige Zählung im Wortsinn ist die formative Zuweisung der zehn Scharen an zehn Heerführer und ihre Unterführer. Buch von Akkon, StR, V. 47006-47965 Ein gutes Jahrhundert später lässt der steirische Autor Ottokar aus der Gaal, der sich in seinem Buch von Akkon explizit auf Wolfram beruft, 31 ein gewaltiges Heer der heiden vor ihrem im Sterben begriffenen alten soldan und seinem bereits gekrönten Nachfolger antreten, um den Sturm auf Akkon, den letzten Stützpunkt der Kreuzfahrer im Heiligen Land, vorzubereiten: 1. Auftritt und Einführung der jeweiligen namenlosen Könige eines ‚heidnischen‘ Landes mit Nennung des Ländernamens, oft eingebettet in eine Ansprache durch den Sultan, der um Hilfe bittet oder Erwartungen artikuliert (Alexandriâ StR, V. 47117-47119, Val‐ 378 Christoph Pretzer funde V. 47171-47177; Assyriâ V. 47381-47383; Egytenland V. 47399-47401; Berbester V. 47657-47660), an Familienbanden oder Lehnspflichten (z. B. Kolon V. 47136-47143; Toderne V. 47310-47317) erinnert, + manchmal gefolgt von längeren Exkursen in Form von Ansprachen der jeweiligen ‚heidnischen‘ Könige (Marroc V. 47074-47090; Tampasten V. 47194-47221; Egyptenland V. 47402-47427; Palastin V. 47466-47494 und 47507-47529; Tandarnas V. 47544-47635; Berbester V. 47667-47737) + gelegentlich gefolgt von Repliken des Sultans (Tampasten V. 47224-47296; Egypten‐ land V. 47429-47451; Palastin V. 47495-47506). Gefolgt von entweder: 2. Wiederkehrende Formel: lobt ze füeren/ mêren (z. B. Babilonîe StR, V. 47096; Koukasas V. 47099-47104; Kanach V. 47116; Griffan V. 47132-47135; Gricolan V. 47640); swuor ze füeren (z. B. Maroc V. 47070-47072); lobte ze bringen (Cordubîn V. 47166-47169) + davor oder danach Quantifizierung der Truppenstärke, oder: 3. in direkter Rede des jeweiligen Königs nach dem Muster: von mir nim (z. B. Alexandriâ StR, V. 47120 f.; Meden V. 47376 ); der baruc unde dû / von mir suln gewis han (Kolon V. 47160 f.); mir volgen muoz (Valfunde V. 47190); bring ich mit mir (Toderne V. 47329); ich bringe (Arabiâ & Arabes V. 47364 f.; Tandarnas V. 47632); gewart von mîner hant (Egyptenland V. 47456); ich will füeren/ bringen/ mêren (Palastin V.47530f.; Berbester V. 47741; Salaterre V. 47906) + davor oder danach Quantifizierung der Truppenstärke. 4. Quantifizierung der Truppenstärke: Herkunft Truppenstärke Versnummer Marroc 50 000 47072 Babiloniê 80 000 47096 Koukasas 100 000 47104 Kanach 100 000 47114 Alexandriâ 40 000 47121 Griffan 30 000 47132 Kolon 40 000 47162 Cordubîn 20 000 47169 Valfunde 100 000 47188f. Tampasten 40 000 47303 Toderne 70 000 47330 Arabiâ & Arabes 100 000 47365 379 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere Herkunft Truppenstärke Versnummer Meden 20 000 47377 Assyriâ 50 000 47387 Egyptenland 100 000 47459 Palastin 40 000 47531-47533 Tandarnas 30 000 47634 Gricolan 20 000 47641 Berbester 50 000 47740 Salaterre 50 000 47907 Summe 1 130 000 Oft zum Abschluss: 5. Zielrichtung: hinz Akers für die stat (z. B. Koukasas StR, V. 47102; Arabiâ & Arabes V. 47364); wil ich füeren/ bringen dar/ dâhin (Kanach V. 47116; Kolon V. 47163); für Akers (z. B. Valfunde V. 47190; Meden V. 47378; Tandarnas V. 47635, Gricolan V. 47643); vor Akers (Salaterre V. 47908). Manchmal zum Abschluss: 6. Danksagung durch alten und/ oder jungen Sultan und/ oder baruc (z. B. Tampasten StR, V. 47306; Toderne V. 47333; Egyptenland V. 47460 f.; Gricolan V. 47654-47656, Berbester V. 47744; Salaterre V. 47910-47914). Den Heereskatalogen bei Wolfram und Ottokar ist gemein, dass sie narrativ weiter ausge‐ breitet sind und verschiedentlich als Ausgangspunkt für Exkurse in direkter Rede dienen. Die Schlachten, die durch diese Kataloge vorbereitet werden, werden ausführlich und über mehrere tausend Verse und durchsetzt von Exkursen entwickelt. Beiden Schlachten kommt dabei jeweils eine entscheidende Rolle in der weiteren Narration zu: Im Willehalm zeigt die zweite Schlacht von Alischanz den letztendlichen Sieg des christlichen Heeres über das nicht-christliche und markiert somit die Abwehr der Invasion Terramêrs. Im Buch von Akkon werden mit der Eroberung Akkons durch die heiden zahlreiche Märtyrer produziert. Die Ankunft so vieler veredelter Märtyrerseelen im Himmel fülle nach Ansicht des Erzählers die seit dem Fall Luzifers leeren Reihen der himmlischen Chöre und beschleunige durch deren Restauration zu alter Stärke den Fortgang der Heilsgeschichte zu ihrem ultimativen Ende: der Wiederkehr Christi und der Erlösung aller christlichen Seelen (StR, 52359-52414). In der Zusammenschau dieser vier sehr unterschiedlichen Heereskataloge ergibt sich, dass die grundlegenden drei Elemente - Anführer, Abkunft und Armee - zwar vorhanden sind, aber uneinheitlich und auch nicht konsistent genutzt werden. Es scheint, dass nur der Verweis auf den Namen des ‚heidnischen‘ Landes, aus dem das jeweilige Kontingent kommt, in allen Katalogen zuverlässig vorhanden sein muss. Alles weitere ist disponibel: 380 Christoph Pretzer 32 Mainberger (wie Anm. 9), S. 102-118 (Beschreibung), 262-274 (Genealogie), 61-73 (Koordination). 33 Ebd., S. 102. 34 Ebd., S. 102f. Die Aufrechnung der Truppenstärke kann am Ende jedes einzelnen Kontingentes erfolgen wie im Alexander oder im Buch von Akkon, am Ende der gesamten Liste summarisch, wie teilweise ebenfalls im Alexander oder in der Kaiserchronik, oder aber sie kann gänzlich entfallen wie im Willehalm. Die Nennung der Anführer der jeweiligen Kontingente, der im Willehalm zentrale, ja formative Bedeutung zukommt, fällt im Alexander vollständig weg, oder wurde in der Kaiserchronik auf einen einzelnen heroischen Anführer - Willhelm von Apulien, der Alariks Fahnenträger wird und in der Schlacht eine entscheidende Rolle spielt - beschränkt, während im Buch von Akkon die Nennung der Länder und die Einführung der jeweiligen Könige zusammenfallen: die Anführer bleiben namenlos und werden stets nur als König von Land X angesprochen. Auch wird deutlich, dass diese Kataloge ‚heidnischer‘ Heereskontingente nicht der Abbildung eines immer gleich strukturierten Ereignisses dienen: Nur in der Kaiserchronik und im Alexanderlied wird das katalogisierte Heer wirklich gesammelt. Im Willehalm liegt die Sammlung bereits in der Vergangenheit, auch wenn sie mehrfach noch rückblickend kommentiert wird. Die Katalogisierung des Heeres erfolgt aber vor allem anlässlich der Neuordnung des Heeres durch Terramêr, die aufgrund der in der ersten Schlacht erlittenen Verluste notwendig geworden ist. Im Buch von Akkon schließlich überlappen sich Heeressammlung - die sukzessive vorsprechenden ‚heidnischen‘ Könige geloben die Bereitstellung konkret bezifferter Kontingente - und Heerschau, die durch den jungen Sultan befohlen wird, um dem sterbenden, alten Sultan in Gewissheit zu wiegen, dass sein Tod an den Christen gerächt werden wird. In den hier umrissenen Heereskatalogen werden also drei für den Gegenstand dieses Bandes grundsätzliche Tätigkeitsfelder greifbar: das Sammeln, das Ordnen und schließlich das Schauen. Aus diesen drei Tätigkeitsfeldern ergibt sich dann auch die literarische Partizipation der Heereskatalogen an drei Diskurstypen, die von Mainberger - unter vielen anderen - als für Aufzählungen produktiv identifiziert wurden. Tätigkeitsfeld und Diskurstyp bedingen dabei einander; es ist nicht möglich eines generativ vor das andere zu stellen: Das Sammeln führt zur Beschreibung, geht aber auch aus ihr hervor, das Ordnen führt zu Genealogie, die aber auch selbst Ordnung erzeugt und das Schauen führt schließlich zur Koordination, die ihrerseits das Schauen erst ermöglicht. 32 I.1 Sammeln und Beschreibung Laut Mainberger ist es Ziel der Beschreibung, in ihrer Elementarität den Zustand eines Gegenstandes „wie er ist“ 33 vor Augen zu führen. Sie oszilliert zwischen dem Anspruch auf größtmögliche Objektivität und einer defizitären Selbstbeschränkung auf das Oberfläch‐ liche, die nicht zum Wesentlichen der Sache vordringen kann. Das Beschreiben suggeriert in Form und Inhalt, allein der empirischen Wahrnehmung und sonst nichts anderem zu folgen, es ist quasi vor-interpretatorisch und wartet daher mit einem besonderen Wirklichkeitsanspruch auf. 34 381 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere Im Kontext der Heereskataloge drückt sich dieser Anspruch in besonders betonten Quel‐ lenberufungen und Wahrheitsbeteuerungen aus, die diese flankieren. Oft durchbricht der Erzähler zu dieser Gelegenheit den etablierten Erzählgestus und bringt die Erzählsituation ins Bewusstsein der Rezipienten, indem er sich an sein Publikum wendet und sein Erzählen selbst zum Erzählgegenstand macht. So geschieht dies beispielsweise im Vorauer Alexander: nû wil ich iu chunden uber al, wî vil ain scare haben sal, allen den, die des niuht enwizzin: sehs tusint unde sehs hunderet sehsic, des wil ich iuch niht verhelen. die fursten wil ich zellen unt die menige, diu mit samit in chom, alsô Dario wol gezam. wande er de geweltigiste chunich was, dâ man von ie gelas. vil wîten ginch sîn gewalt. (VA, V. 1429-1439) nû vernement, war zû man diz her nam, dô iz al zesamene chom: ze sehs hunderet tûsint wâren si gezalt, dâ was der hof manichfalt, unde dar zû drîzech tûsint. alsus hete sich Darius besant. (VA, V. 1491-1496) In der Kaiserchronik wird das Heer, das Dietrich versammelt, um im Dienste Zenos gegen den Usurpator Etius zu ziehen, als von enormer physischer und gleichzeitig historisch exorbitanter Größe vorgestellt: si hêten sô getâne hers kraft, daz man vur wâr sagen mach, daz der vogel bî den luften mit allen sînen creften nemahte entrinnen, er nemuose nider vallen. (Kch, V. 14028-14033) Es wird ein geradezu kinematographisches Panorama entworfen, von einer derartig weitläufig von Heeresmassen bedeckten Landschaft, dass selbst ein Vogel in ihr keinen Landeplatz mehr finden kann. Die exorbitante Größe des Heeres erfordert offenbar einen sofortigen Quellenberuf unterfüttert durch eine welthistorische Einordnung. Wir hôren diu buoch jehen: âne Juljum Cêsarem so negesamente sich nie sô getân magen. (Kch, V. 14034-14036) Dies geht über den zu erwartenden topischen Superlativismus solcher Beschreibungen hinaus: Mit der Rückberufung auf Cäsar verweist die Chronik hier nicht nur auf den Beginn 382 Christoph Pretzer 35 Susan A. Bacon, The Source of Wolfram’s ‚Willehalm‘, Tübingen 1910 (Sprache und Dichtung 4), S. 15. 36 Carl Lofmark hat am Beispiel der Rennewart-Figur gezeigt, dass Wolfram im Willehalm der Autorität seiner explizit genannten Hauptquelle zum einen sehr verbunden bleibt, aber auch wie er dem Druck der Konvention, der Autorität der Quelle zu folgen, subtil gegensteuert. Siehe: C.L., Rennewart in Wolfram's’ Willehalm’. A Study of Wolfram von Eschenbach and his Sources, Cambridge 1972, S. 3-4 und 71-77. des römischen Reiches, sondern gleichzeitig auch auf den Beginn ihrer eigenen Historio‐ graphie und umfasst somit den gesamten für die Kaiserchronik relevanten Geschichtsraum. Auch vor der ersten Schlacht von Alischanz im Willehalm beteuert der Erzähler die Größe des ‚heidnischen‘ Heeres: mit zal ich iuch bereite: ûf des veldes breite ir gezelt, swenne ich diu prüeven wil, man mac der sterne niht sô vil gekiesen durh die lüfte. niht anders ich mich güfte, wan des mich diu âventiure mant. (Wh, 16,15-21) Diese Quellenberufung ist offenbar fingiert, oder beruft sich zumindest nicht auf Wolframs altfranzösische Vorlage: in der Bataille d’Aliscans findet sich kein Hinweis auf die Größe des ‚heidnischen‘ Heereslagers vor der ersten Schlacht. 35 Umso bemerkenswerter hier Wolframs Behauptung, nicht über die Vorgaben seiner Quelle hinaus zu übertreiben. 36 Angesichts der schieren Größe des Heeres empfindet der Autor offenbar gegenüber seinem Publikum ein gesteigertes Bedürfnis, die Unglaublichkeit des Erzählten zu plausibilisieren. Daher lässt er seinen Erzähler seine tatsächlichen oder imaginierten Informationsquellen darlegen. Dieses Vorgehen findet sich ganz ähnlich und in überaus spannend ausgebauter Weise hundert Jahre später, wenn Ottokar aus der Gaal im Buch von Akkon das Heer der heiden vor Akkon beschreibt. Der Erzähler wendet sich hier - wie der des Willehalm oder des Alexander - direkt an sein Publikum, antizipiert dessen Verwunderung über die Ereignisse und verweist auf die Möglichkeit, sich die wunder direkt durch die Augenzeugen bestätigen zu lassen. Als das ‚heidnische‘ Heer nämlich vor Akkon aufmarschiert, heißt es: [I]st iemen, den des wundert, der frâg der einen, die ez sâhen, dô diu wunder geschâhen, der diu heidenschaft phlac, die wîle man vor Akers lac, sô geloubt erz dester baz. (StR, V. 46692-46697) Dies bedarf einer Konkretisierung der Quellenlage über die eingangs genutzten Topoi hinaus. die mich verrihten der mære, daz wâren brüeder êrbære von der Tempelære orden. (StR, V. 48393-48395) 383 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 37 Zum Konzept der narrativen Ebenen und der Metadiegese siehe Gérard Genette, Die Erzählung, München 1994, S. 162-167. Der Erzähler fährt fort, eine Art dialogische Situation mit seinen Gewährsleuten zu inszenieren, eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er von sich selbst in der ersten Person spricht. ich sprach: „durch got verrihtet mich eins dinges, des ich bin betrogen: sît der heiden zuo zogen für Akers wert sô lange frist, teten siz durch dheinen list oder was ez von ir menige grôz? “ (StR, V. 48402-48407) Der Erzähler verlässt an dieser Stelle seinen üblichen Narrationsgestus und verbalisiert die Fragen seines Publikums. Dies ist ein Zeichen für das erhebliche Irritationspotenzial der Passage, so dass die imaginierten Gesprächspartner des Erzählers auch jâhen alle gelîch (StR, V. 48409), um den vorangegangenen Bericht zu bestätigen. weder dort noch hie wart nie gesehen grœzer volc. als ein strîch unde wolk, diu für sich gêt emziclich, alsô breit was ir strich. (StR, V. 48420-48424) Die Authentifizierungslast des Berichts des Aufmarschs der heiden wird aus der Ebene der Diegesis ausgelagert und metadiegetisch in der Überlieferungskette eine Instanz zurückgeschoben, 37 das heißt von der produktiv rezipierenden Instanz des Erzählers auf die der (putativ) objektiv tradierenden Gewährsleute verlagert, deren Autorität durch ihre konkrete Einordnung als Ordensritter und ihre persönliche Einbindung in historische Evidenz zusätzlich betont wird: si wâren des niht über worden, si heten ouch erliten wê, dô des tôdes rê datze Akers ergie, dô diu kristenheit enphie der heiden gerich. (StR, V. 48396-49401) Der Erzähler wird an dieser Stelle selbst zum Rezipienten, verbleibt an der Seite des Publikums in der Rolle der irritiert Fragenden, deren Weltbild Anstoß an der faktualen Evidenz nimmt und die nun eine Antwort erwarten, die zu geben der Erzähler der Autorität einer von ihm fingierten anderen Erzählinstanz überträgt. Er bringt also seine Quellen wortwörtlich zum Sprechen. Dabei handelt es sich wohl um eine Fiktion, mit der keine besondere Genauigkeit in der tatsächlichen Quellenlage oder ihrer Nutzung durch den Verfasser korrespondieren muss (wohl aber kann), sondern die an dieser Stelle die 384 Christoph Pretzer 38 Samuel T. Colridge, Biographia literaria, hg. von Adam Roberts, Edinburgh 2016, S. 208: „to transfer from our inward nature a human interest and a semblance of truth sufficient to produce for these shadows of imagination a willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith.“ Coleridges Überlegung bezieht sich auf „endeavours […] directed to persons and characters supernatural, or at least romantic“ (ebd.), kann aber auch auf andere Aspekte, welche die Rezeptionserwartungen des jeweiligen Publikums belasten, bezogen werden. 39 Mainberger (wie Anm. 9), S. 102. 40 Ebd., S. 263. Sigrid Weigel schreibt zur „komplexen Konstellation der Genealogie“, dass sich „in ihr Momente von Entstehung und Herkunft verschränken: Emergenz und Genese, das Entspringen und dessen Möglichkeitsbedingungen, die Sichtbarkeit und deren unkenntliche Vorgeschichte, der Ursprung und dessen Voraussetzung, Geburt und Abstammung.“ (S.W., Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, München 2006, S. 21f.) 41 Mainberger (wie Anm. 9), S. 263. 42 Martin Przybilski, sippe und geslehte. Verwandtschaft als Deutungsmuster im ‚Willehalm‘ Wolframs von Eschenbach, Wiesbaden 2000 (Imagines Medii Aevi 4), S. 62-65. Irritation und die mangelnde Bereitschaft zur willing suspension of disbelief  38 von Seiten des Publikums antizipiert und auf deren Auflösung abzielt. Neben Beglaubigung und Objektivierung kommt Beschreibungen eine vorbereitende und vorläufige Funktion zu. Sie bilden den Anfang oder den Durchgang zu folgenden hö‐ herstufigen Operationen, die zum eigentlichen Erkenntnisgewinn führen. 39 Dies erhält im Willehalm eine ganz erzählpraktische Bedeutung, da in der folgenden zweiten Schlacht von Alischanz die heiden in der entsprechenden Reihenfolge in die Schlacht eingreifen, in der sie zuvor von Terramêr in ihre Scharen eingeteilt wurden. Des Weiteren erscheint zumindest im Willehalm und im Buch von Akkon die Heerschau der ‚heidnischen‘ Heere notwendig, um die latente Spannung der bevorstehenden militärischen Situation zu vermitteln und um zu verdeutlichen, was auf dem Spiel steht. Die den Heerschauen folgenden Schlachten sind in beiden Texten die Wasserscheiden inhaltlicher Sinnproduktion: Im Willehalm kann in der invertierten Spiegelung der ersten Schlacht von Alischanz verhandelt werden, wie sich Christen und heiden innerhalb der göttlichen Schöpfung, ja sogar innerhalb desselben familiären Verbandes, zueinander verhalten und positionieren. Und im Buch von Akkon kann nun der Versuch unternommen werden, die in der Heerschau katalogisierte Exorbitanz des ‚heidnischen‘ Heeres als Plausibilisierungsstrategie zu entwickeln, um den Fall Akkons an die Mamluken 1291 als Bruch heilsgeschichtlicher Erwartungshaltung einem christlich-europäischen Publikum zu vermitteln. I.2 Ordnen und Genealogie Die einzelnen Glieder einer Liste können genealogisch miteinander verknüpft werden. Genealogisch im Sinne Mainbergers heißt hierbei, dass legendäre Geschichte erzählt wird, in der es darum geht, eine Lücke zwischen der Gegenwart und der Tiefe der mythischen Vergangenheit zu schließen, denn in den vergangenen Anfängen ist alle Machtfülle gesammelt. 40 Diese Verknüpfung kann in zwei Dimensionen erfolgen: horizontal oder vertikal. Eine vertikale Verknüpfung betont die Deszendenz vom Ursprung bis in die Gegenwart. 41 Dieser genealogischen Anbindung entspricht im Mittelhochdeutschen das Familienkonzept des agnatischen geslehtes. 42 Eine horizontale Verknüpfung hingegen stellt eine Verzweigung und Vervielfachung der vertikalen aus der Vergangenheit kommenden 385 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 43 Mainberger (wie Anm. 9), S. 263. 44 Przybilski (wie Anm. 33), S. 52-55. 45 Mainberger (wie Anm. 9), S. 263. 46 Julius Caesar ist die erste Kaiserfigur, die in der Kaiserchronik auftritt: KCh, V. 247-602 Mit ihm werden die Erfindung des Ihrzens (KCh, V. 519-525) und die Erfüllung der Visio Danielis (KCh, V. 526-590) in Verbindung gebracht. Das Annolied bringt das mittelhochdeutsche Wort keiser explizit mit dem Namen Caesars in Verbindung. Siehe: Das Annolied, Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch, hg. von Eberhard Nellmann, Stuttgart 2005 6 , V. 18.9-10. Linie in der Gegenwart da. 43 Dem entspricht im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch die cognatische Sippe. 44 Beide Verknüpfungen leisten Unterschiedliches: Die Vertikale ermöglicht über die chronologische Koordination diachroner Elemente eine Rückanbin‐ dung an die Anfänge und das Abrufen der historischen Autorität und Legitimität des entsprechenden genealogischen Verbandes. Eine horizontale Verknüpfung hingegen er‐ möglich die Zuschreibung diverser synchroner Elemente zu einer gemeinsamen gens. 45 Übertragen auf Heereskataloge ermöglicht dies die Absteckung des Kampfverbandes, aber auch die Erklärung der Motivation der einzelnen Heeresteile, dem Ruf des Herrschers zu folgen. Konkret erscheint dies in Wolframs Willehalm, wo der gesamte Konflikt im Grunde als Familiendrama angelegt ist und die gesamte Heerschau des ‚heidnischen‘ Heeres vor der zweiten Schlacht von Alischanz als ein großes genealogisches Tableau von Terramêr entwickelt wird. Hier wird sowohl vertikal als auch horizontal genealogisch geordnet. Vertikal behauptet Terramêr von sich zu Beginn der Aufstellung des Heeres die Abstammung von Pompejus: ûf roemisch krône sprich ich sus: der edele Pompêjus, von des gesleht ich bin erborn (ich enhân die vorderunge niht verlorn), der wart von roemischer krône vertriben z’unreht. manec künic ist beliben dâ sît ûf mînem erbe: ich waen, ez noch manegen sterbe. (Wh, 338,25-339,2) Indem er sich als genealogischer Träger des Anspruches des Pompejus auf die römische Krone inszeniert, verlängert Terramêr den Konflikt des Willehalm zurück in die Geschichte des Reiches. Wie das Beispiel der Kaiserchronik zeigt, wurde Caesar als Gründungsfigur und Startpunkt des römischen und später christlichen Reiches betrachtet. 46 Durch die Berufung aus Caesars Gegenspieler Pompejus, der unrechtmäßig von Caesar um seine Krone gebracht worden sei, lässt Terramêr eine verworfene historische Alternative anklingen: Wenn nicht Caesar den römischen Bürgerkrieg und die entscheidende Schlacht von Pharsalus gewonnen hätte, sondern Pompejus wäre nun Terramêr Träger der römischen Krone und nicht Ludwig, der Sohn Karls des Großen, des ersten Erneuerers der weströmischen Kaiserwürde. Konsequent würde dies bedeuten, dass Terramêr auch nicht über ein christ‐ liches, sondern ein heidnisches Reich herrschen würde. Dieses historische Unrecht gedenkt Terramêr mit seiner hervart zu korrigieren. 386 Christoph Pretzer 47 Halzebier als Terramêrs neve: Wh, 341,4f.; Ansprache an seine zehn Söhne: Wh, 345,2f.; Erinnerung an Arofels Wahlverwandtschaft: Wh, 345,22-24; Metusalez als mîner kinde oeheimes sun: Wh, 349,11. si wolden rechen herzenleit und al ir goten vüegen prîs. Oransche und Pârîs si gar zestoeren solten. dar nâch si vürbaz wolten ûf die Kristenheit durh râche. Terramêr den stuol dâ ze Ache besitzen wolte und dannen ze Rôme varen, sînen goten prîs alsô bewaren, swer Jêsus helfe wolde leben, daz der dem tôde wurde geben. sus wold er roemische krône vor sînen goten schône und vor al der heidenschefte tragen. (Wh, 339,28-340,11) In einer eskalierenden Reihe von geplanten Eroberungen wird der gesamte Horizont des weströmisch christlichen Kaisertums zum Ziel erklärt: das herzogliche Orange ist nur der erste Schritt, dem als nächstes das Zentrum des französischen Königtums Paris folgen soll, gefolgt von Aachen, wo die deutschen Könige gekrönt werden und schließlich Rom, dem Sitz des Papstes als Oberhaupt der lateinischen Christenheit und jenem Ort, an dem deutsche Könige die römische Kaiserwürde empfangen können. Mission und Ziel von Terramêrs Heereszug sind also - unter anderem - genealogisch bedingt und gerechtfertigt. Doch seine eigentliche Bedeutung entfaltet die Genealogie als Ordnungsform für Terramêrs Heer in der horizontalen Verzweigung, in der sie die einzelnen Anführer seiner Scharen zu seiner sippe macht. So werden zum ersten einzelne Anführer bei der Zuweisung ihrer jeweiligen Schar explizit genealogisch von Terramêr mit sich verknüpft. 47 Diese Äußerungen werden innerhalb der einzelnen Ansprachen oft noch durch feudale Abhängigkeiten innerhalb der einzelnen Kontingente ergänzt, wie zum Beispiel als er seine Söhne anspricht: ir sît künege über zehen rîchiu lant: iuwer ieslîchem sunder ist benant vil künege, die niht versmâhent, daz si krône von iu enpfâhent. (Wh, 345,7-10) Auf halbem Weg durch die Aufstellung des Heeres pausiert Terramêr, um die bisher eingesetzten Anführer der ersten fünf Scharen verwandtschaftlich enger an sich zu binden, seine persönliche Investition in ihre jeweilige Familienbande zu betonen und damit deutlich zu machen, welches Potenzial für Leid und Kummer für ihn, in der von ihm selbst verkündeten Heeresordnung, angelegt ist. 387 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere Poidjus und Ehmereiz: swâ ich iuch bêde in strîte weiz und ouch die zehen süne mîn, mîn herze hât den selben pîn: dâ sleht man ûf mîn selbes verh. diu rede ist wâr und ninder twerh: Halzebier und Sînagûn, ieweder ist liebehalp mîn sun. mîner mâge sol noch mêr hie sîn. (Wh, 347,23-348,1) Die Weite der horizontalen Verzweigung von Terramêrs Genealogie in der Gegenwart und die Tiefe der vertikalen Anbindung seiner Genealogie an die Vergangenheit drücken sich bereits nach dem Ende der ersten Schlacht von Alischanz in einem Verweis auf die Völkertafel in der Bibel (Gen. 10) aus. Willehalm stößt hier beim Rückzug nach der ersten - verlorenen - Schlacht auf fünfzehn ‚heidnische‘ Könige, die er allesamt besiegt und sie - bis auf Ehmereiz, Giburgs Sohn aus erster Ehe, der die Fünfzehn anführt - allesamt erschlägt. Der Erzähler nimmt dieses Aufeinandertreffen zum Anlass, den weltgeschichtlichen Hintergrund zu erläutern, in dem es zu diesem Kräfteverhältnis von eins zu fünfzehn überhaupt erst kommen kann: ir namen und ir rîche, dâ si gewalteclîche krône vor vürsten hânt getragen, die lât iu nennen unde sagen. sit zwô und sibenzec sprâche sint, er dunket mich der witze ein kint, swer niht der zungen lât ir lant, dâ von die sprâche sint bekant. sô man die zungen nennet gar, ir nement niht zwelve des toufes war; die andern hânt in heidenschaft von wîten landen grôze kraft. (Wh, 73,3-14) Das ungleiche Kräfteverhältnis in den beiden Schlachten von Alischanz, das sich auf Mikroebene in Willehalms Kampf mit den fünfzehn ‚heidnischen‘ Königen widerspiegelt, ist also darauf zurückzuführen, dass die überwiegende Mehrheit von Noahs Nachkommen ‚heidnisch’ verblieben sind, so dass deren Nachfahren bis heute in der ‚heidnischen‘ Welt über große Reiche und Reichtümer gebieten können, während nur eine Minderheit sich taufen ließ. Die Rückverlängerung zielt hier nun auf biblische Vorläufer ab und nicht wie bei Pom‐ pejus auf klassische. Somit sind die beiden wichtigsten mittelalterlichen Ordnungssysteme von Vergangenheit - die Bibel und die klassische Antike - gleichermaßen in die vertikale Genealogie des Willehalm integriert. Zugleich wird durch die Erklärung der zahlenmäßigen Schieflage aber auch der horizontalen genealogischen Verzweigung Rechnung getragen. Repräsentativ für die genealogische Ordnung der Welt tritt Terramêrs durch Familienbande 388 Christoph Pretzer 48 Mainberger (wie Anm. 9), S 241f. vereinte - aber in ihrer weltgeschichtlichen Weite unüberschaubare - ‚heidnische‘ Armee dem kleinen Verband des Heimrichs-Geschlechtes entgegen. I.3 Schauen und Koordination Im Alexanderlied leisten Darius’ Gefolgsleute seinem Ruf Folge und sammeln sich in Mesopotamien, explizit zu dem Zweck, dass er sein Heer beschauen könne. unt chômen mit sô frumen chnehten, die wol getorsten vehten, mit allen ir menegen in daz felt Mesopotamiam. in der breiten owen dâ wolte er sîn her bescowen. (VA, V. 1421-1426) In der imaginierten Situation des Alexanderliedes bleibt es unklar, ob der Blickende stationär bleibt und die Teile des Heeres an ihm vorbeiziehen, oder ob umgekehrt, der Blickende sich an den stationären Reihen seines Heeres entlang bewegt. Der Effekt ist derselbe: Darius’ Blick trifft jedes Element des Defilees nur einmal, ehe es in der Sukzession der distinktiven Elemente vom nachfolgenden abgelöst wird. 48 In der Überschneidung des Herrscherblicks und der Bewegung des Vorbeiziehens entsteht Distinktion, wodurch eine Koordination der einzelnen Elemente überhaupt erst möglich wird. Dieses Prinzip wird im Buch von Akkon, wo die Situation deutlich klarer ist, auf die Spitze getrieben: ein König nach dem anderen wird aufgerufen, angesprochen und tritt vor das Paar aus altem und neuen Sultan, wo dann, manchmal nach einem längeren Austausch oder Exkurs, ein genau beziffertes Heereskontingent versprochen wird. Hier sind es nicht die Truppen selbst, die geschaut werden, sondern die einzelnen Könige, die, da sie namenlos bleiben und nur mit den Namen ihres Herrschaftsgebietes angesprochen werden, zum Atlas der ‚heidnischen‘ Länder werden. Die Heerschau wird zur Performanz der räumlichen Weite der beherrschten Welt für den Blick des Herrschers. Dem koordinierenden Blick des Herrschers entspricht, zumindest in Kaiserchronik und Alexanderlied, der oben gezeigte repetitive syntaktische Parallelismus, der die Aufzäh‐ lungen auch visuell hervorkehrt und formal-visuell vom Rest der Erzählung abhebt. II Die zweiachsige Entgrenzung der Heere: Räumlich-physisch und zeitlich-heilsgeschichtlich Die katalogisierende Form der hier betrachteten Heerschauen stellt auf drei Ebenen Ähn‐ lichkeit her und suggeriert zumindest Vollständigkeit: Die Truppenkontingente werden in der Beschreibung gesammelt, sie werden genealogisch geordnet und durch die schauenden Herrscher (und somit durch Hörende oder Lesende) als distinktive Elemente koordiniert. Doch dabei entfalten sie paradoxerweise inhaltlich fast zwangsläufig ein gegenläufiges Programm. Sowohl die weit verteilten Länder, aus denen die Truppen stammen als auch die fantastischen Zahlen, in denen Soldaten zur Verfügung gestellt werden, entgrenzen die 389 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 49 Marokko: 50 000 + Babylon: 80 000 + Kaukasus: 100 000 + Kanach: 100 000 + Alexandria: 40 000 + Griffan: 30 000+ Kolon 40 000+ Cordubin: 20 000+ Valfunde: 100 000 + Tampasten: 40 000+ Toderne: 70 000+ Arabia & Arabes: 100 000+ Meder: 20 000 + Assyrien: 50 000 + Ägypten: 100 000 + Palastin: 40 000 + Tandarnas: 30 000 + Grikulanje: 20 000 + Berbester: 50 000 + Salaterre: 50 000 = insgesamt: 1 130 000. In dem Katalog der Länder der Könige, die ihm und seinem Sohn Gefolgschaft schwören, finden sich zahlreiche Willehalm-Zitate (vgl. StR, V. 47005-47965): Zwölf der zwanzig hier genannten Länder finden sich auch bei Wolfram wieder. Siehe hierzu Bettina Hatheyer, ‚Das Buch von Akkon‘. Das Thema Kreuzzug in der ‚Steirischen Reimchronik‘ des Ottokar aus der Gaal. Untersuchungen, Übersetzungen und Kommentar, Göppingen 2005 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 709), S. 497. ‚heidnischen‘ Heere physisch und räumlich. Erinnert sei nur an das Bild des Vogels, der über der Unermesslichkeit von Dietrichs Heer keinen Platz zum Landen finden kann. Doch die Entgrenzung der Heere erschöpft sich nicht in Bildern. Nähme man beispielsweise die genannten Zahlen zur Kopfstärke der einzelnen Kontingente aus dem Buch von Akkon als empirisch gemeint an, so käme man für das ‚heidnische‘ Aufgebot zu einer fabulösen Zahl von 1 130 000 Soldaten. 49 Bei Wolfram wird durch das wiederholte Listen exotisch anmutender ‚heidnischer‘ Titel und Namen sowie in der Beschreibung der weiten Wege, welche die einzelnen Heeresteile zurückgelegt haben, um Terramêrs Ruf Folge zu leisten, weniger auf quantitativer, aber dafür auf qualitativer Ebene, ein vergleichbarer Effekt erzielt: an disem râte maneger saz, eskeliere und emerale, amazûre al zemâle und die hoehsten künege über al daz her. eteslîcher über daz vünfte mer mit maneger rotte dar was komen. heten marnaere von den iht genomen, daz enaht ich nicht vür wunder. (Wh, 339,16-23) Konkret werden die beiden Heeresteile, welche die Heerschau beschließen, an den Rändern der bekannten und kennbaren Welt des hohen Mittelalters verortet: und der künec Môrende: der ist jenhalp Katus Erkules mir kumen, geloubet des. dô ich mîne samenunge sprach, über sehs jâr diu geschach: swer mir in den zîten wolde komen, der mohte si wol hân vernomen. bî dem strîte der künec Fârbûr: der hât manegen amazûr über Fîsônen brâht. (Wh, 359,10-359,19) Terramêr hat in einem genau bemessenen Zeitraum von sechs Jahren Heere angezogen, welche, um seinem Ruf zu folgen, selbst die physisch-räumlichen Grenzen der bekannten Welt überquert haben: Von jenseits der Säulen des Herakles, also aus dem extremsten 390 Christoph Pretzer 50 Der Fison ist weniger klar zu lokalisieren als die anderen Paradiesflüsse. Die Bibel beschreibt ihn als den ersten der vier Ströme des Paradieses, der das goldreiche Land Havilah umfliesse, dessen Verortung ebenfalls unklar ist (Gen. 2,10f.). Flavius Josephus identifizierte ihn in seinen Jüdischen Altertümern mit dem Ganges und weist darauf hin, dass der Name für „Vielfalt“ (πληθύν) stehe. Siehe: Flavius Josephus, Antiquitatum Iudaicarum Libri I-V, hg. von Benedikt Niese, Berlin 1887 (Flavii Iosephi opera I), S. 10f. Griechisch nach: www.perseus.tufts.edu/ hopper/ textdoc=Perseus%3Atext%3A 1999.01.0145%3Abook%3D1%3Awhiston%20chapter%3D1%3Awhiston%20section%3D3 [Zugriff am 11.4.2020]. 51 Mainberger (wie Anm. 9), S 10. 52 Siehe oben I.1., S. 383 zu Wh, 16,15-21. Westen der Welt und von jenseits des Fison, eines der vier Paradiesflüsse, also aus dem extremsten Osten der Welt. 50 Die Tatsache, dass diese beiden jenseitigen Kontingente am Ende der langen Aufzählung von Terramêrs Heeresteilen stehen - mit einer Ausnahme von der noch zu reden sein wird - ist bedeutungsvoll. In dieser Position kommt ihnen im Grunde die Bedeutung eines ‚usw. usf.‘ oder ‚etc. pp.‘ zu, das bezeugt, dass die Zahl der Heeresteile Terramêrs zwar prinzipiell endlich aber faktisch nicht zählbar ist, 51 ganz so wie es das Bild der Zelte der Armee, die unzählbar seien wie die Sterne vor der ersten Schlacht von Alischanz bereits nahelegte. 52 Die praktische Unzählbarkeit der prinzipiell aber endlichen Elemente von Terramêrs Armee wird weiter bezeugt dadurch, dass, direkt danach, sobald Terramêr den Aufbruch des nun versammelten und aufgestellten Heeres befiehlt, ein Musikkorps eingeführt wird, das mit tausend Tamburinen und achthundert Trompeten zum Galopp bläst. Angeführt wird dieses Korps von Zernubilé von Ammirafel, einem König, der von Terramêr eigens für diesen Zweck mit seiner Herrschaft belehnt wurde und der in der Heeresordnung zuvor keine Erwähnung gefunden hatte (Wh, 360,1-12). Die Überquerung des Fisons weist nun bereits über eine rein physisch-räumliche Entgrenzung hinaus. Wenn selbst Truppen von jenseits eines der vier Paradiesflüsse dem Ruf Terramêrs gefolgt sind, so liegt hier auch eine heilsgeschichtlich-ideelle Entgrenzung vor. Die Betonung der Größe des Heeres und die heilsgeschichtliche Entgrenzung gewinnen im Buch von Akkon als Niederlagendiskurs eine besondere Bedeutung: Gegen ein Heer zu verlieren, das aller tegelich / als ein fliezunder wâc / wol vierzehen tac / für Akers ûf den plân (StR, V. 48372-48375) aufmarschiert, erscheint nachvollziehbar und entschuldbar, zumal wenn einem diese Information von wârhaften liuten (StR, V. 48349) überbracht wird und diese noch dazu versichern: der die zal möht bediuten der, die dar kômen durch geliger, der ist ninder lebentiger. (StR, V. 48350-48352) Wenn demnach schon die Erfassung der schieren Größe des ‚heidnischen‘ Heeres das übersteigt, was lebende Menschen zu leisten im Stande sind, kann niemand erwarten, diesem Heer zu widerstehen. Auch im welt- und heilsgeschichtlichen Rahmen wird dieses Argument abgesichert: Selbst als kunic Darius / unde sîn sun Zirus / heten besezzen / kunic Walthasarn den vermezzen / ze Babilon in der stat (StR, V. 48357-48361) - immerhin handelte es sich hierbei um die größte Belagerung nâch der schrifte mez (StR, V. 48353) sît diu 391 Kataloge ‚heidnischer‘ Heere 53 Mainberger (wie Anm. 9), S. 10-11. 54 Paul Kunitzsch, „Die Orientalischen Ländernamen bei Wolfram“ in: Wolfram-Studien 2, hg. von Werner Schröder, Berlin 1974, S. 152-173, hier S. 173. werlt ist an gevangen (StR, V. 48356) - erscheint das biblische Ereignis im Vergleich zur Belagerung von Akkon allez ein niht (StR, V. 48364), weswegen der Erzähler, als die Sarazenen schließlich die Stadt stürmen, konstatieren kann: ich hân alsô vernomen, daz man zuo den stunden het in der werlt niht funden ein stat Akers gelîch, diu an liuten wær sô rîch, ê si wart zeruttet. (StR, V. 51322-51327) Konstellation und Evidenz des Erzählgegenstandes sind also im weitestmöglichen Rahmen, den die Axiome des europäisch-christlichen Weltbildes zu denken vermögen, singulär und nur daher in ihrer Exorbitanz rationalisierbar. Denn sonst würde sie die heilsgeschichtli‐ chen Prämissen, innerhalb derer sich die Vorstellungswelt des Publikums konstituiert, sprengen. Abschließend kann festgehalten werden, dass es sich bei den Heereskatalogen Wolframs und Ottokars in Mainbergers Sinne um Listungen von Elementen, die nicht prinzipiell un‐ endlich aber empirisch kaum zu zählen sind, handelt. Die Kataloge streben an „aufzählend in ein (relatives) Unendliches und Offenes zu treiben“. 53 Es stehen die genannten Teile synekdochisch für ein größeres Ganzes, das zwar endlich ist aber sich der Aufzählbarkeit entzieht. Gerade in ihrer Offenheit und formal markierter Marginalität bieten sich diese Kataloge an, um in ihnen das relativ Andere organisierend zu erfassen. In ihnen können so auf der einen Seite exotisches „Wortgeklingel“ 54 und auf der anderen Seite die Namen fremder Länder - Babylon, Indien, Persien -, die vielleicht sogar als bedrohlich empfunden wurden, organisiert und koordiniert werden und somit zur Subordinierung verfügbar gemacht werden. Die gesichtslosen Schrecken einer als endlos empfundenen ‚heidnischen‘ Außenwelt werden somit klassifizierbar, beschreibbar und zählbar. In der listenden Erfassung wird die Bedrohung, die von den ‚heidnischen‘ Heeren ausgeht, nicht nur sichtbar, sondern auch bewältigbar. So kann in diesen Katalogen zwar eine farbenfrohe ‚heidnische‘ Außenwelt gesammelt, geordnet und geschaut werden, aber die Kataloge tragen aufgrund ihrer sowohl räum‐ lich-physischen als auch historisch-heilsgeschichtlichen inhaltlichen Entgrenzung dabei die narrative Verunmöglichung ihrer strukturellen Aufgabe von Anfang an in sich. 392 Christoph Pretzer 1 Vgl. Franz-Josef Holznagel, „Verserzählung - Rede - Bîspel. Zur Typologie kleinerer Reimpaardich‐ tungen des 13. Jahrhunderts“, in: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Literalität von 1200-1230. Cambridger Symposium 2001, hg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 291-306. 2 Die Handschrift hat in der Stricker-Forschung die Sigle A erhalten. Zur Handschrift vgl. die Einträge im Handschriftencensus (handschriftencensus.de/ 1285) sowie in manuscripta.at (manusc‐ ripta.at/ ? ID=11811) mit weiterführender Literatur. Vgl. bes. Hermann Menhardt, Verzeichnis der altdeutschen literarischen Handschriften der österreichischen Nationalbibliothek, Bd. 1-3, Berlin 1960- 1961 (Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Veröffentlichungen des Instituts für deutsche Sprache und Literatur 13), Bd. 1, S. 142-204; Hans-Joachim Ziegeler, „Beobachtungen zum Wiener Codex 2705 und zu seiner Stellung in der Überlieferung früher kleiner Reimpaardichtung“, in: Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Kolloquium 1985, hg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer, Tübingen 1988, S. 469-526; Franz-Josef Holznagel, Der Wiener Codex 2705. Untersuchungen zu Überlieferung und Form kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen des 13. Jahrhunderts, Habil. Köln 1999; Franz-Josef Holznagel, „Die Koblenzer Stricker-Fragmente (Landeshauptarchiv, Best. 701 Nr. 385, Bl. 1 und 2). Mit einer aktualisierten Liste der Stricker-Siglen“, in: ZfdA 140 (2011), S. 141-169. 3 Vgl. den Katalog am Ende des Beitrags. - Hinweis zur Zitierweise der Stücke: Auf alle Stücke aus dem Cod. Vindob. 2705 wird zunächst mittels der von Menhardt (wie Anm. 2) eingeführten Zählung der in dieser Handschrift eingetragenen Stücke verwiesen; zusätzlich zeigt ein Kürzel die einschlägige Edition des Textes an. Diese Kürzel werden am Ende des Katalogs aufgelöst. Die drei Texte aus dem Cod. Vindob. 2705, die im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen, werden zitiert nach: Die Kleindichtung des Strickers, Bd. 1-5, hg. von Wolfgang W. Moelleken, Gayle Agler-Beck und Robert E. Lewis, Göppingen 1973-1978 (GAG 107, I-V). Der vierte Beispieltext, die Rede Die sechs Teufelsscharen, wird in der Fassung der Handschriften H (Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. germ. 341) und K (Cologny-Genève, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodmer 72) interpretiert; auf sie wird deshalb mittels der Nummerierung nach der Handschrift H referiert. Zu den Handschriften H und K vgl. die Einträge im Handschriftencensus (handschriftencensus.de/ 4214; handschriftencensus.de/ 4215). Grundlage der Analyse ist die handschriftennahe Edition von Rosenhagen: Kleinere mittelhochdeut‐ Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts Franz-Josef Holznagel Seit dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts tritt ein Texttypenverbund von geistlichen und weltlichen Verserzählungen, Bîspeln und Reden, in Erscheinung, der das Profil der deutschsprachigen Literatur so stark verändert, dass an seinem Auftreten sogar der Beginn des literarischen Spätmittelalters abgelesen worden ist. 1 Innerhalb dieses wirkungsmäch‐ tigen Verbundes kristallisiert sich eine markante Gruppe von diskursiv organisierten Reimpaardichtungen heraus, die als ‚Registerreden‘ bezeichnet werden sollen, weil ihre Makrostruktur durch das Prinzip des Katalogs und der listenartigen Reihung mehrerer argumentativer Einheiten bestimmt wird. In der Handschrift Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2705 (im Folgenden 2 Cod. Vindob. 2705) 3 , aus dem dritten Viertel des 13. Jahrhunderts, sche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. III. Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341, hg. von Gustav Rosenhagen, Berlin 1909 (DTM 17), S. 86-89 (Nr. 105). 4 Zu ergänzen wären noch die beiden Reden A 1-9 / Moe 11 Vom heiligen Geist und A 137 / Moe 128 Die vier Evangelisten, deren Makrostruktur jedoch nur zum Teil vom Prinzip der registerartigen Aufzählung bestimmt wird und die aus diesem Grund hier nicht behandelt werden sollen. Ausge‐ grenzt werden ferner die acht Verse, mit denen das Stück A 51 (Moe 45 + 46,I Die Äffin und die Nuß) schließt, die jedoch im Cod. Vindob. 2705 auch als separate Nummer (A 166) aufgezeichnet und von Moelleken unter dem Titel Von Eseln, Gäuchen und Affen (Moe 46,II) ediert worden sind. Diese Entscheidung erklärt sich daraus, dass die Sprechhaltung der Verse weniger als diskursiv-erörternd zu bezeichnen ist, sondern eher (an Freidank erinnernd) als sentenzhaft beschrieben werden muss, so dass es zweifelhaft ist, ob es sich bei diesem Stück überhaupt um eine Rede im engeren Sinne handelt. 5 Vgl. Franz-Josef Holznagel, „‚Autor‘ - ‚Werk‘ - ‚Handschrift‘. Plädoyer für einen Perspektiven‐ wechsel in der Literaturgeschichte kleinerer mittelhochdeutscher Reimpaardichtungen“, in: Über‐ lieferungsgeschichte - Textgeschichte - Literaturgeschichte, hg. von Thomas Bein, Bern u. a. 2002 ( Jahrbuch für Internationale Germanistik 34, Heft 2), S. 127-145; Franz-Josef Holznagel, „Autorschaft und Überlieferung am Beispiel der kleineren Reimpaartexte des Strickers“, in: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Akten des XIV. Anglo-deutschen Colloquiums zur deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Elisabeth Andersen u. a., Tübingen 1998, S. 163-184. 6 Vgl. u. a. die grundlegenden Arbeiten von Ute Schwab und Stephen L. Wailes: Die bisher unveröf‐ fentlichten geistlichen Bispelreden des Strickers. Überlieferung - Arrogate. Exegetischer und literarhis‐ torischer Kommentar, hg. von Ute Schwab, Göttingen 1959; Ute Schwab, „Beobachtungen bei der der frühesten und mit Abstand wichtigsten Handschrift, in der kleinere mittelhochdeutsche Reimpaardichtungen (insbesondere des Strickers) zusammengetragen worden sind, ist der Texttyp der Registerreden mit immerhin 23 Stücken vertreten. 4 Dieses Corpus soll nun im Folgenden auf der Basis von vier exemplarisch gemeinten Textanalysen vorgestellt werden. Die folgenden Ausführungen verstehen sich dabei im Rahmen des vorliegenden Bandes dezidiert als Beitrag zum Themenkomplex „Aufzählen als literarisches Prinzip“, in dem Texte behandelt werden, die ein „produktives Aneinan‐ derfügen von Wörtern, Texten und größeren Texteinheiten“ aufweisen (vgl. die Einleitung, S. 12) und dabei spezifische Konzepte der Kohärenzbildung erkennen lassen. Das für die Registerreden typische „Aneinanderfügen“ von literarischen Einheiten lässt sich am besten durch eine Herangehensweise verdeutlichen, die genaue Beobachtungen zur literarischen Faktur der Texte mit der Analyse ihrer grundlegenden Organisations‐ prinzipien verbindet. Eine solche Methode hat den Vorteil, dass die oft unterschätzte literarische Qualität der Einzeltexte herausgearbeitet werden kann. Ferner erlaubt es der vergleichende Blick auf die Textstrukturen und die ihnen zugrundeliegenden Prin‐ zipien, das Feld der Registerreden in vier charakteristische Subtypen zu gliedern, die sich mit Blick darauf, wie in ihnen die einzelnen Textelemente miteinander verbunden werden, merklich unterscheiden. Des Weiteren lassen sich an die Analyse der Textfaktur Überlegungen anschließen zu persuasiven, literarischen und rhetorischen Funktionen der Reihungen, Kataloge und Listen, die in dieser Perspektive nicht nur als bloße Formelemente erscheinen, welche gewissermaßen unabhängig von den Inhalten zu sehen wären, sondern als Gestaltungsmöglichkeiten, denen regelmäßig ein semantischer Mehrwert zuwächst. Andere Fragen, die an dieses Corpus von Reden herangetragen werden müssten, wie die nach der Autorschaft der Texte, 5 die nach ihrer Verortung in zeitgenössischen Diskursen (insbesondere der Theologie) 6 oder die nach den von der Faktur der Texte her gesteuerten 394 Franz-Josef Holznagel Ausgabe der bisher unveröffentlichten Gedichte des Strickers“, in: PBB (Tübingen), 81 (1959), S. 61-98; Ute Schwab, „Zum Thema des Jüngsten Gerichts in der mittelhochdeutschen Literatur. III. Das Bispel „Die beiden Königinnen“ von dem Stricker (Ed. Nr. 132 = A 146). Motivverwandtschaften und Überlegungen zur inneren Kritik“, in: Istituto universitario orientale di Napoli. Annali. Sezione Germanica 4 (1961), S. 11-73 (zit.). Wieder in: dies., Weniger wäre. Ausgewählte Kleine Schriften, hg. von Astrid van Nahl und Inga Middel, Wien 2003 (Studia Medievalia Septentrionalia 8), S. 49- 113; Ute Schwab, „Zur Interpretation der geistlichen Bispelrede“, in: Istituto universitario orientale di Napoli. Annali. Sezione Germanica 1 (1958), S. 153-181 (zit.). Wieder in: dies., Weniger wäre. Ausgewählte Kleine Schriften, hg. von Astrid van Nahl und Inga Middel, Wien 2003 (Studia Medievalia Septentrionalia 8), S. 19-48; Stephen L. Wailes, „Heresy in Austria. A New Look at a Medieval Source“, in: Neuphilologische Mitteilungen 79 (1978), S. 97-101; Stephen L. Wailes, „Stricker and the Virtue Prudentia. A Critical Review“, in: Seminar 13 (1977), S. 136-153; Stephen L. Wailes, Studien zur Kleindichtung des Stricker, Berlin 1981 (Philologische Studien und Quellen 104). 7 Vgl. Elke Brüggen, Laienunterweisung. Untersuchungen zur deutschsprachigen weltlichen Lehrdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts, Habil. Köln 1994, S. 123-138. 8 Arend Mihm (Hg.), „Aus der Frühzeit der weltlichen Rede. Inedita des Cod. Vindob. 2705“, in: PBB (Tübingen) 87 (1965), S. 406-433, hier: S. 411. 9 Vgl. Holznagel, Der Wiener Codex 2705, (wie Anm. 2), Teil III, Kap. 1.1. S. 244-292; Franz-Josef Holznagel, „Inszenierte Vergleiche und metaphorisches Verstehen. Zur Poetik der mittelhochdeut‐ schen Gleichnisrede“, in: Metaphern in Wissenskulturen, hg. von Matthias Junge, Wiesbaden 2010. S. 109-122. 10 Vgl. Holznagel, Der Wiener Codex 2705 (wie Anm. 2), Teil III, Kap. 1.3, S. 337-363; Franz-Josef Holznagel, „‹Fülle› in kleineren mittelhochdeutschen Reimpaardichtungen. Das Beispiel der sog. Kommentarreden“, in: Ästhetiken der Fülle, hg. von Peter Glasner u. a., Berlin 2021. S. 109-123. Formen der handschriftlichen Varianz 7 sollen hingegen in diesem Beitrag zugunsten einer vom Tagungsthema angeregten Untersuchung von genrespezifischen Vertextungsmustern zurücktreten. Was ist nun eine Registerrede? Mit diesem Begriff sollen im Folgenden (eine Anregung von Arend Mihm aufgreifend 8 ) nicht-narrativ organisierte Reimpaardichtungen bezeichnet werden, deren Makrostruktur maßgeblich durch Kataloge, Reihenbildungen oder Auflis‐ tungen von einzelnen, analogen Textelementen bestimmt wird und die sich darin markant von solchen Reden unterscheiden, die ihr ästhetisches und persuasives Kapital aus anderen Formen der Textorganisation beziehen, dem inszenierten Vergleich 9 etwa oder der Verbin‐ dung aus Datenpräsentation und deutendem Kommentar. 10 Die Reihung in sich abgeschlossener, strukturell aber ähnlich konzipierter Textelemente ist demnach ein Strukturprinzip, das die Registerrede nach außen hin von anderen diskursiven Kleindichtungen abgrenzt. Zugleich ermöglicht dieses Prinzip aber auch nach innen hin die Erzeugung von sehr unterschiedlichen literarischen Strukturen, die sich auf der Basis von zwei Gesichtspunkten in vier Subtypen ausdifferenzieren lassen. Der erste Gesichtspunkt betrifft den Modus, in dem die Abschnitte der Registerrede miteinander in Beziehung gesetzt werden, der zweite die Methoden zur Lenkung der Hör- und Leseerwartung. So lässt sich innerhalb der Registerrede eine Gruppe von Dichtungen identifizieren, in denen die Abfolge und die Anzahl der Textelemente durch keine im Text selbst ver‐ merkte Regularität bestimmt wird; diese Stücke lassen sich aufgrund ihres rein additiven, kumulativen Aufbaus als ‚Reihenreden‘ bezeichnen. Ihnen steht eine zweite Gruppe von Registerreden entgegen, in welchen die Anzahl und ggf. auch die Abfolge der Argumente durch klar erkennbare und vor allem textintern auch markierte Prinzipien gesteuert 395 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts werden; für sie schlage ich als Sammelbegriff den Ausdruck ‚symmetrische Reden‘ vor. Der Unterschied zwischen diesen beiden Subtypen bestimmt sich im Wesentlichen danach, ob die Anzahl der gereihten Textelemente und ggf. die Logik, nach der sie angeordnet sind, durch den Text selbst angezeigt wird oder nicht. Die zweite Binnendifferenzierung der Registerreden ergibt sich aus unterschiedlichen Methoden zur Lenkung der Hör- und Leseerwartung, die sich am besten am Beispiel der Reihenreden erläutern lässt. Die meisten Stücke dieses Typs beginnen mit einer allgemein gehaltenen Eingangsthese, die in das Thema des nachfolgenden Textes einführt und bereits den leitenden Gesichtspunkt vorgibt, unter dem dieses Thema verhandelt werden soll. Insofern die einzelnen Textelemente der Reihenrede den in der Eingangsthese konzentriert dargebotenen Sachverhalt entfalten, erläutern und konkretisieren, kann man von einem analytisch-explizierenden Argumentationsverfahren sprechen. Im Gegenzug dazu gibt es eine kleine Anzahl von reihenartig organisierten Reden, die ohne eine solche Vorgabe auskommen. Folglich kann in diesen Fällen erst am Ende des Textes deutlich werden, ob und worin die sachliche Kohärenz zwischen den einzelnen Schritten in der Argumentation besteht; zudem wird diese Aufdeckung des Zusammenhangs nicht vom Text selbst geleistet, sondern an die Rezipienten und an ihr Vermögen der Zusammenschau delegiert. Reihen‐ reden dieser Art lassen sich dementsprechend als ‚synthetisierend‘ bezeichnen. Eine ähnliche Differenz in der Rezeptionssteuerung lässt sich auch in der Gruppe der symmetrischen Reden beobachten; hier bezieht sich die Lenkung aber weniger auf das Generalthema als vielmehr auf die grundlegenden Ordnungsschemata, nach denen sich die Anzahl und ggf. auch die Abfolge der argumentativen Einheiten ausrichten. So kristallisiert sich eine große Anzahl von Stücken heraus, die zumindest eines der steuernden Prinzipien direkt zu Beginn des Textes benennen und auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Hörer / Leser auf die Frage lenken, wie diese Strukturierungsvorgabe im Text realisiert worden ist. Dieser Aufbautyp der Rede ist im Cod. Vindob. 2705 mit neun Beispielen sehr gut vertreten. Auch diese Informationsvergabe möchte ich als analytisch-explizierend cha‐ rakterisieren. Dagegen muss in wenigen Einzelfällen der Gattungsgeschichte der ordnende Grundsatz erst sukzessive im Verlauf des Rezeptionsaktes erschlossen werden. Solcherart synthetisierend-symmetrische Reden lassen sich im Bestand der Wiener Handschrift nicht nachweisen; sie finden sich jedoch in der Parallelüberlieferung der in A bezeugten Stücke, z. B. im Heidelberger Cod. Pal. germ. 341. Kombiniert man die beiden genannten Differenzierungshinsichten miteinander, so ergibt sich für die Redenüberlieferung innerhalb wie außerhalb des Cod. Vindob. 2705 eine Matrix von vier Grundformen der Registerrede, die nun anhand von jeweils einem markanten Beispiel aus den Handschriften A und H charakterisiert werden sollen. 396 Franz-Josef Holznagel 11 Vgl. den Katalog am Ende des Beitrags (I. Reihenreden. A). I. analytisch-explizierend II. synthetisierend A. Reihenrede: bloße Akkumulation der ge‐ reihten Textelemente mit Eingangsthese: A 165 / Moe 158 Die Klage ohne Eingangsthese: A 120 / Moe 111 Die Geistlichen B. symmetrische Rede: Reihung auf der Basis von mindestens einem Ordnungs‐ grundsatz mit Anzeige von Ordnungsprinzipien: A 130 Die drei Gott verhasstesten Dinge ohne Anzeige von Ordnungsprinzipien: A 150 / Moe 141 Die sechs Teufelscharen [in der HK-Fassung: Ro‐ senhagen HHs 105] I Die analytisch-explizierende Reihenrede: A 165 / Moe 158 Die Klage Ein einfaches rhetorisches Mittel, um die Aussagekraft einer allgemein gehaltenen These zu erhöhen, besteht darin, eine Anzahl von parallel gelagerten Beispielfällen anzuführen. Da der Text diese Parallelen aufgrund seiner medialen Bedingungen in eine temporale Folge bringen muss, entsteht als Aufbaumuster eine Reihe von hintereinandergestellten Argumenten, die im Falle der analytisch-explizierenden Reihenrede auf eine Eingangsthese zurückbezogen werden, und zwar ohne dass sie logisch aufeinander aufbauen müssten. Diese Struktur, welche eine abstrakte Eingangsthese mit einer Abfolge konkretisierender Exempel verbindet, findet sich im Cod. Vindob. 2705 in mindestens neun Texten; 11 ein 397 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 12 Zur Klage vgl. u. a. Sabine Böhm, Der Stricker - Ein Dichterprofil anhand seines Gesamtwerkes, Frankfurt a. M. u. a. 1995 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I 1530), S. 74, 90-99, 106, 111, 145, 248; Helmut de Boor, Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang. 1170 - 1250. 1. Aufl. München 1953, 11. Aufl. bearb. von Ursula Hennig, München 1991 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart II), S. 244f.; Helmut Dworschak, Milch und Acker. Körperliche und sexuelle Aspekte der religiösen Erfahrung. Am Beispiel der Bußdidaxe des Strickers, Bern 2003 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 40), S. 263-292 (u. Reg.); Brüggen (wie Anm. 7), S. 129, 132, 136 f., 140, 143-153, 155 f., 172 f., 174-178; Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990 (dtv 4552), S. 293f.; Ulrich Ernst, „Die Auseinandersetzung mit häretischen Strömungen in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts“, in: Geistesleben im 13. Jahrhundert, hg. von Jan A. Aertsen und Andreas Speer, Berlin/ New York 2000 (Miscellanea Mediaevalia 27), S. 362-392, bes. S. 373-378; Hanns Fischer, Strickerstudien. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 13. Jahrhunderts, Diss. München 1953, S. 27, 29, 68-70, 77-79, 84, 90, 95, 119-121, 123, 147, 151, 153-155, 157; Bernd-Ulrich Hergemöller, Krötenkuß und schwarzer Kater. Ketzerei, Götzendienst und Unzucht in der inquisitorischen Phantasie des 13. Jahrhunderts, Warendorf 1996, S. 313-323; Wolfgang Heinemann, „Zur Ständedidaxe in der deutschen Literatur des 13.-15. Jahrhunderts. Teil 1“, in: PBB (Halle) 88 (1966), S. 1-90; Teil 2: PBB (Halle) 89 (1967), S. 290-403; Teil 3: PBB (Halle) 92 (1970), S. 388-437, hier Teil 3, S. 400-402; Ludwig Jensen, Über den Stricker als Bîspel-Dichter, seine Sprache und seine Technik unter Berücksichtigung des „Karl“ und „Amîs“. Als Einleitung zu einer Ausgabe kleinerer Strickerscher Gedichte, Diss. Marburg 1885, S. 28, 30, 33, 36, 44; Rupert Kalkofen, Der Priesterbetrug als Weltklugheit. Eine philologisch-hermeneutische Interpretation des „Pfaffen Amis“, Würzburg 1989 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 49), S. 70-72; Fritz Peter Knapp, „Herrschaftsideale beim Stricker, bei Bruder Wernher und im ‚Buch von Bern‘“, in: Uf der mâze pfat. Festschrift für Werner Hoffmann zum 60. Geburtstag, hg. von Waltraud Fritsch-Rößler unter Mitarbeit v. Liselotte Homering, Göppingen 1991 (GAG 555), S. 277-289, bes. S. 277f., 289; Hedda Ragotzky, Gattungserneuerung und Laienunterweisung in Texten des Strickers, Tübingen 1981 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 221-241; Teresa A. Reilly, The problem of guot in the works of the Stricker, Diss. University of California, Davis 1981, S. 70-72; Daniel Rocher, „Hof und christliche Moral. Inhaltliche Konstanten im Œuvre des Strickers“, in: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997, hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 1999, S. 99-112, bes. S. 103, 110; Guido Schneider, er nam den spiegel in die hant, als in sîn wîsheit lêrte. Zum Einfluß klerikaler Hofkritiken und Herrschaftslehren auf den Wandel höfischer Epik in groß- und kleinepischen Dichtungen des Stricker, Essen 1994 (Item Mediävistische Studien / Item Medieval Studies 1), S. 220-235; Schwab, Beobachtungen (wie Anm. 6), S. 64 A. 5, 65 A. 1, 73 A. 4, 74 f., 77, 92, 94 A. 2; Schwab, „Zum Thema des Jüngsten Gerichts“ (wie Anm. 6), S. 12 A. 1, 51 f., 62-64; Peter Segl, Ketzer in Österreich. Untersuchungen über Häresie und Inquisition im Herzogtum Österreich im 13. und beginnenden 14. Jahrhundert, Paderborn u. a. 1984 (Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. N. F. 5), S. 140-152; Dieter Vogt, Ritterbild und Ritterehre in der lehrhaften Kleindichtung des Stricker und im sog. Seifried Helbling, Frankfurt a. M. 1985 (Europäische Hochschulschriften. Reihe I. 845), S. 127-130; Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 83, 129, 140, 155, 156 A. 13, 157-161, 179, 181 f., 186, 215, 219. typisches Beispiel, an dem sich die literarischen Möglichkeiten dieses Texttyps gut verdeut‐ lichen lassen, ist das Stück A 165 / Moe 158 Die Klage. 12 In der Einleitung (A 165 / Moe 158, V. 1-44) kündigt ein als Autor konturierter Ich-Spre‐ cher die Abkehr von Dichtungen an, die lediglich aus Gründen der churzwile verfasst worden seien, weil ihn die Kenntnis vieler bedrückender Neuigkeiten dazu nötige. Inhalt dieser mære ist der Verlust von froude, der dann im Hauptteil im Gestus der Klage angeprangert wird. Die These des Textes wird hier also einer homodiegetischen Spreche‐ rinstanz in den Mund gelegt; sie lautet: ‚Die Welt ist heutzutage ohne jede Art von Glück, Heiterkeit, Hochgefühl.‘ Als Argumente dienen dann 25 unterschiedlich lange Abschnitte, 398 Franz-Josef Holznagel die litaneiartig mit der Anapher Ich chlage einsetzen und die sowohl die unterschiedlichsten Mängel der Sozialordnung kritisieren (u. a. das Versagen der Mächtigen und ihrer Ratgeber, das Fehlverhalten der Armen, das gestörte Geschlechterverhältnis und den generellen Niedergang moralisch motivierter Umgangsformen) als auch einige Formen des religiösen Fehlverhaltens (u. a. die als Verstoß gegen Gottes Schöpfung interpretierte Homosexualität, ferner die Abweichung von der kirchlichen Orthodoxie oder die zögerliche und verspätete Bußbereitschaft): 1. (Moe 158, V. 45-52) Sündhaftigkeit der Menschen [8 V.] 2. (Moe 158, V. 53-70) Entzweiung von Pfaffen und Laien [18 V.] 3. (Moe 158, V. 71-84) Unglück ungerecht behandelter Damen [14 V.] 4. (Moe 158, V. 85-112) Unrecht der Reichen [28 V.] 5. (Moe 158, V. 113-166) Fehler des Hofes [54 V.] 6. (Moe 158, V. 167-200) Fehlverhalten der Ratgeber [34 V.] 7. (Moe 158, V. 201-212) Rechtsbeugung durch die Richter [12 V.] 8. (Moe 158, V. 213-230) Heuchelei [18 V.] 9. (Moe 158, V. 231-262) Freudlosigkeit der Herren [32 V.] 10. (Moe 158, V. 263-270) Geringschätzung der adeligen Damen [8 V.] 11. (Moe 158, V. 271-274) Geringschätzung der redlichen Männer [4 V.] 12. (Moe 158, V. 275-278) Unterdrückung der tugentrichen [4 V.] 13. (Moe 158, V. 279-286) Lug und Betrug [8 V.] 14. (Moe 158, V. 287-292) Undankbarkeit und Egoismus [6 V.] 15. (Moe 158, V. 293-310) Überschätzung des Reichtums [18 V.] 16. (Moe 158, V. 311-328) unrecht erworbene Güter der Armen [18 V.] 17. (Moe 158, V. 329-338) fehlende Unterstützung der Armen [10 V.] 18. (Moe 158, V. 339 f.) Hass der Ehefrau auf ihren Mann [2 V.] 19. (Moe 158, V. 341 f.) Schädigung der Ehefrau durch ihren Mann [2 V.] 20. (Moe 158, V. 343-346) Pessimismus der Armen [4 V.] 21. (Moe 158, V. 347-362) mangelnde Urteilsfähigkeit im Umgang der Geschlechter [16 V.] 22. (Moe 158, V. 363-416) mangelnde Beständigkeit im Umgang der Geschlechter [54 V.] 23. (Moe 158, V. 417-502) Homosexualität [86 V.] 24. (Moe 158, V. 503-674) Abweichung von kirchlicher Orthodoxie [172 V.] 25. (Moe 158, V. 675-708) mangelnde oder verspätete Bußbereitschaft der Sünder [34 V.] 399 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 13 Sabine Mainberger, Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen, Berlin/ New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. N. F. 22), S. 10f. 14 Mainberger, Kunst des Aufzählens (wie Anm. 13), S. 10. Um die Makrostruktur von A 165 genauer zu erfassen, ist es nötig, die Art der Reihung im zweiten Teil der Rede noch einmal genauer zu analysieren; ich möchte dazu vor allem drei Besonderheiten herausstreichen: a. die relative Selbstständigkeit aller Inhaltsabschnitte, b. die Häufung der darin genannten Argumente als Strategie für die Plausibilisierung der Eingangsthese und c. den synekdochischen, stets auf das Ganze der vom Sprecher anvisierten Gesellschaft abzielenden Charakter dieser Argumente. Die Makrostruktur dieser Rede ist zunächst dadurch bestimmt, dass jeder Einzelabschnitt der Argumentation in sich abgeschlossen und vollständig ist, für sich alleine wirkt und die Kenntnis eines anderen Abschnittes nicht voraussetzt. Da die einzelnen Abschnitte nicht aufeinander aufbauen, ergibt sich von der Sache her auch keine streng geregelte Abfolge, in der die jeweiligen argumentativen Schritte im Text erscheinen. Vielmehr scheint sich die Reihung der Abschnitte einer eher lockeren, assoziativen Logik zu verdanken. Dieses Textmerkmal ist insbesondere für die Abgrenzung gegenüber den symmetrischen Reden sehr wichtig. Ferner lässt sich festhalten, dass die literarische Wirkung dieses Aufbauprinzips im Wesentlichen auf der Häufung vergleichbarer oder ähnlicher Argumente beruht. Die Akkumulation parallel gelagerter Einzelfälle dient dabei als Plausibilisierungsstrategie: Sie kann zwar nicht die Allgemeingültigkeit einer These beweisen; jedoch kann mit ihr dem Einwand entgegengewirkt werden, dass sich die Grundaussage des Textes lediglich auf einen einzigen Kasus stützt. Aus diesem Grund ist die konkrete Anzahl der Einzelargumente letztlich nebensächlich, solange nur der für diesen Aufbautyp notwendige Eindruck von Fülle erzeugt wird. Nimmt man als Vergleichsmaßstab für die relative Größe der ‚Fülle‘ der in A 165 aufgebotenen Klagen die durchschnittliche Anzahl der in Registerreden des Wiener Codex verzeichneten Textelemente oder -bausteine, dann lässt sich festhalten, dass in der Klage ausgesprochen viele Elemente hintereinandergeschaltet werden. Des Weiteren ist festzuhalten, dass die Abfolge der Argumente in A 165 zu einem Typ der literarischen Reihe gehört, der nach den Überlegungen von Sabine Mainberger eine endliche Anzahl von Elementen umfasst, die aber empirisch kaum zu zählen sind (Typ 3). 13 Die Anzahl der vom Ich-Sprecher von A 165 beklagten Missstände ist also weder unendlich wie die Liste der Zahlen, die sich beispielweise aus der mathematischen Formel (x+1)² ergibt (Typ 2), noch endlich in der Art, wie die überschaubare Anzahl von sieben Wochentagen durch eine einfache Regel begrenzt wird (Typ 1). Für endliche, aber nicht erschöpfend darzustellende Reihen dieser Art hält nun Mainberger fest, dass die bloße Aufzählung von Einzelelementen nicht ausreicht, um ein Bild vom Ganzen zu evozieren; vielmehr verhalte es sich so, dass in diesen Fällen die „tatsächlich genannten Elemente […] synekdochisch für sehr viel mehr“ stehen müssen. 14 Diese Einschätzung trifft sehr genau auf A 165 zu. Auch die Evokation einer Welt, die aus der Sicht des Ich-Sprechers in A 165 vollkommen aus 400 Franz-Josef Holznagel 15 Brüggen, Laienunterweisung (wie Anm. 7), S. 144, weist allerdings darauf hin, dass sich die Aus‐ führungen des Ich-Sprechers, sähe man von den Homosexuellen und den Ketzern als ständisch indifferenten Gruppierungen einmal ab, auf die adelige Laiengesellschaft konzentrieren. 16 Dies gilt etwa für die Klagen über die Störung des Geschlechterverhältnisses, die sich u. a. in den Abschnitten 3, 10, 18, 19 und 21 f. finden. Auch die Aussagen zu Armut und Reichtum sind auf mehrere Abschnitte (u. a. auf die Abschnitte 4, 5, 15-17, 20) verteilt. den Fugen geraten ist, kann nicht alleine durch den Akt der Auflistung von Missständen gewährleistet werden (dazu gibt es viel zu viele); vielmehr gelingt sie nur dann, wenn alle Textelemente als Krisensymptome eingeführt werden, die bereits als Einzelne in der Lage sind, das Ganze zu repräsentieren. Deshalb lässt sich die Abfolge der Textelemente im zweiten Teil von A 165 als eine Kette von Synekdochen beschreiben, die so geartet sind, dass die Hinweise des Ich-Sprechers auf singuläre gesellschaftliche Missstände zugleich auf das Ganze, also auf die von ihm angenommene allgemeine Störung der gesellschaftlichen Ordnung, abzielen. Die drei genannten Besonderheiten des Aufbaus erlauben nun (ohne dass der Text Gefahr liefe, unverständlich zu werden) eine extrem lockere Fügung von sehr disparaten Einzelelementen, die sich im Hinblick auf ihren Umfang sowie hinsichtlich der Art und der Relevanz des angesprochenen Missstandes erheblich unterscheiden: - Längere Texteinheiten (wie die Abschnitte 5, 22, 23 oder 24) mit einer ausführlichen Argumentation wechseln sich mit kurzen Stellungnahmen ab, die (wie die Abschnitte 11, 12, 18, 19 oder 20) nur zwei bis vier Zeilen umfassen und dadurch den Charakter verknappt-apodiktischer Behauptungen erhalten. - Die Kritik beschäftigt sich mit geistlichen wie weltlichen Institutionen und richtet sich an vollkommen disparate Adressaten (Pfaffen und Laien, adelige Damen und Herren, die Hofgesellschaft und die Armen; Ratgeber, Richter, Heuchler, Homosexuelle, Ketzer). 15 - Die Klage über das unterstellte Versagen zentraler gesellschaftlicher Einrichtungen wie des Hofes (z. B. im Abschnitt 5) oder des Rechtswesens (v. a. im Abschnitt 7) steht neben dem Lamento über vergleichsweise Nebensächliches wie die Freude der Armen über unrecht erworbenes Gut (im Abschnitt 16) oder die mangelnde Bereitschaft, empfangene Dienstleistungen zu entgelten (im Abschnitt 14). Alles in allem entsteht ein Eindruck von Sprunghaftigkeit und Unübersichtlichkeit, der noch dadurch verstärkt wird, dass manche Passagen eine größere Anzahl von sehr unterschiedlichen Themen behandeln, während sich umgekehrt Aussagen zu inhaltlich zusammengehörenden Komplexen an verschiedenen Stellen des Textes finden. 16 Diese Inszenierungseffekte hängen nun auf das Engste mit der Darstellungsabsicht des Textes zusammen: Offenbar soll sich das Bild einer aus den Fugen geratenen Welt, wie es von dem parteiischen Ich-Sprecher entworfen wird, in der Flut der gewissermaßen atemlos artikulierten Kette von extrem disparaten, aber auf das Ziel der Gesellschaftskritik hin zugespitzten Einzelaussagen spiegeln. Der rhetorische Überschuss dieser Art von Reihenrede besteht also im Falle von A 165 im Aufbau einer Form-Inhalts-Korrespondenz. Gewiss lässt sich auch sehr geordnet über die Störungen von Ordnung sprechen, wie dies z. B. die beliebten Ständereihen des hohen und 401 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 17 Vgl. hierzu das umfangreich gesammelte Material von Heinemann (wie Anm. 12) sowie Alfred Hubler, Ständetexte des Mittelalter. Analysen zur Intention und kognitiven Struktur, Tübingen/ Basel (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 6). 18 Auch in anderen Reden mit Eingangsthese wird die asyndetische Reihung von Argumenten als ein Ausdrucksmittel eingesetzt, das die zentrale Aussageabsicht des Textes unterstreicht. In A 95 / Moe 86 Ehemanns Rat dienen die Sprunghaftigkeit, die Beliebigkeit und die Widersprüchlichkeit in der Reihung der vom Ich-Sprecher vorgetragenen misogynen Argumente dazu, die Sprecherinstanz als diskursunfähigen Schwadronierer zu desavouieren, während dem Ich-Sprecher in A 73 / Moe 3 Die Frauenehre die prinzipielle Unabgeschlossenheit der Lobrede als Ausweis für die unerschöpflich große Anzahl der positiven Eigenschaften von höfischen Damen gilt. 19 A 111b / Moe 102 Mahnung zu rechtzeitiger Buße; A 120 / Moe 111 Die Geistlichen; A 147 / Moe 138 Der Wucherer; A 149a / Moe 139 Die gerechten Schläge Gottes; A 149b / Moe 140 Treue gegen Vater und Gott. 20 Zu der Rede Die Geistlichen vgl. u. a. Böhm (wie Anm. 12), S. 73, 75; Dworschak (wie Anm. 12), S. 18, 77-87; Fischer (wie Anm. 12), S. 147, 148, 150 A. 1; Christa Ortmann und Hedda Ragotzky, „significatio laicalis. Zur Autorrolle in den geistlichen Bispeln des Strickers“, in: Die Vermittlung geistlicher Inhalte im deutschen Mittelalter. Internationales Symposion, Roscrea 1994, hg. von Timothy R. Jackson, Nigel F. Palmer und Almut Suerbaum, Tübingen 1996. S. 237-253, bes. S. 252f.; Daniel Rocher, „Der Stricker, ein Quasi-Häretiker oder ein Verteidiger der Kirche? Ein Essay“, in: Ze hove und ander strâzen. Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr „Sitz im Leben“. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, hg. von Anna Keck und Theodor Nolte, Stuttgart/ Leipzig 1999, S. 232-236, bes. S. 233; Rocher, „Hof und christliche Moral“ (wie Anm. 12), S. 111; Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 83, 102. späten Mittelalters tun; 17 in der Klage bildet sich jedoch die vom Ich-Sprecher entworfene negative Sicht auf die Gesellschaft im Modus seiner Rede selbst ab: Die homodiegetische Sprecherinstanz erscheint auf diese Weise als ein von den kritisierten Umständen Betrof‐ fener und als ein die Veränderung der Verhältnisse einfordernder Akteur, als Klagender und als Ankläger mithin, wie dies ja auch die textgliedernden Anaphern Ich chlage indizieren. Die Form-Inhalts-Korrespondenz und die damit verbundene Konturierung der Sprecherin‐ stanz dienen nun ihrerseits als rhetorische Strategien zur Sicherung der Glaubwürdigkeit, gewissermaßen als Selbstlegitimation durch den Ausweis von Betroffenheit, und nicht zuletzt als ein Mittel zur Sympathielenkung und der captatio benevolentiae. 18 II Die synthetisierende Reihenrede: A 120 / Moe 111 Die Geistlichen Fünf Reden des Cod. Vindob. 2705 19 sind so organisiert, dass sie eine Anzahl von argumen‐ tativen Einheiten hintereinanderschalten, die sich zwar mit dem gleichen oder zumindest einem ähnlichen Thema beschäftigen, die jedoch nicht auf eine zu Beginn des Textes programmatisch formulierte These zurückbezogen werden. Die Folge dieses Aufbaus ist, dass die Gedankenführung gewissermaßen von einem Abschnitt zum nächsten springt, ohne in irgendeiner Form prognostizierbar zu sein. Allerdings kann ein Schlussstück das bis dahin Ausgeführte unter einer vereinheitlichenden Deutungsperspektive bündeln, so dass sich die Argumentation wenigstens vom Ende des Textes her als zielgeleitet erweisen lässt. Als Beispiel für solch eine nicht-explizierende, synthetisierende Kette von Argumenten kann die Rede A 120 / Moe 111 Die Geistlichen dienen. 20 Sie gliedert sich in fünf Abschnitte. In der knappen Einleitung (Moe 111, V. 1-4) kündigt ein Ich-Sprecher Auskünfte über die 402 Franz-Josef Holznagel 21 Vielleicht handelt es sich auch um Schreiberverse, die eine Verbindung zu dem thematisch ähnlichen Bîspel A 119 / Moe 110 Der untreue Knecht herstellen wollen. Das Demonstrativpronomen Ditz, mit dem der erste Vers von A 120 beginnt, bezöge sich dann auf die Güterhäufung der Geistlichen, die im Auslegungsteil von A 119 kritisiert wird, und die vom Sprecher-Ich angekündigten weiteren Störungen der rechten Ordnung würden auf die nachfolgende Polemik gegen insgesamt drei Verfehlungen der Priester hinweisen. 22 Hinzu kommen noch andere Kritikpunkte wie der Kleiderluxus oder der als Hochmut charakterisierte Widerstand gegen den namentlich erwähnten Papst Innozenz III. und die Beschlüsse des von ihm einberufenen IV. Laterankonziels. ungefuoge einer nicht weiter konkretisierten Personengruppe an. Diese Aussagen sind so allgemein und so unklar, dass sie kaum mehr sind als eine sprachliche Eröffnungsgeste. Vorgaben hinsichtlich des Inhalts und der Struktur der nachfolgenden Argumentation werden jedenfalls nicht gemacht, so dass es wenig überraschend ist, dass diese Verse in der Parallelüberlieferung fehlen. 21 Die nächsten drei Abschnitte benennen und beschreiben dann die eingangs erwähnten Formen der ungefuoge: - Die Verse Moe 111, V. 5-48, verurteilen es als Missbrauch der geistlichen Verwandt‐ schaft, wenn der Priester bei einer Frau liegt, die aufgrund der Taufe als sein geistliches Kind zu bezeichnen sei. - Die Verse Moe 111, V. 49-108, beklagen, dass die geizigen pfaffen Güter anhäuften und sie lieber sinnlos verschleuderten, statt sie zugunsten von Bedürftigen einzusetzen. - In den Versen Moe 111, V. 109-194, wird v. a. die Ämterhäufung und die damit verbundene Vernachlässigung des Kirchenvolkes angeprangert. 22 Diese drei Ausführungen werden auf sprachlicher Ebene kaum miteinander verbunden; vielmehr endet die Argumentation am Ende eines jeden Abschnittes recht abrupt, um dann ohne Rekurs auf das Vorangegangene neu einzusetzen. Auf diese Weise fehlen dem Text neben einer rezeptionssteuernden Eingangsthese auch noch kohärenzstiftende Überleitungen. Gleichwohl kristallisiert sich im Verlauf von A 120 ein thematischer Rahmen heraus, weil sich alle drei Abschnitte mit dem evidenten Fehlverhalten von Geistlichen in ihrem Verhältnis zu den Laien beschäftigen. Die Vermutung, dass hierin der gemeinsame thematische Nenner von A 120 besteht, wird durch den letzten Abschnitt der Rede (Moe 111, V. 195-238) bestätigt, in dem der Ich-Sprecher die allgemeine Verweltlichung der Priester als Versagen im Amt attackiert (Moe 111, V. 195-212) und ihnen vorrechnet, dass sie, wenn sie sich solchermaßen vom sündhaften Lebensstil der Laien anstiften ließen, mit diesen auch in die Hölle fahren würden (Moe 111, V. 220 f.), so wie ein führerloser Wagen auch die Zugtiere mit in den Graben reiße (Moe 111, V. 213-238). Der persuasive Mehrwert dieser Art von Argumentation beruht vor allem darauf, dass sie ein höheres Maß an Deutungsaktivität und eine verstärkte Aufmerksamkeit einfordert als die Bauform der analytisch-explizierenden Reihenrede, weil sie die Rezipienten dazu nötigt, im induktiven Durchgang durch die Vergegenwärtigung von Einzelphänomenen auf etwas Allgemeines zu schließen, das nicht bereits durch eine Eingangsthese formuliert worden ist. Dabei besteht die Leistung der Rezipienten zunächst darin, dass sie die im Mittelteil der Rede aufgeführten Sünden der Geistlichen (Missbrauch der geistlichen Verwandtschaft, 403 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 23 Vgl. A 1-9 / Moe 11 Vom heiligen Geist; A 86a / Moe 81 Von der Hoffart; A 124 / Moe 115 Die sieben himmlischen Gaben; A 126 / Moe 117 Des Teufels Ammen; A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhaßtesten Dinge; A 137 / Moe 128 Die vier Evangelisten; A 144 / Moe 135 Die sechs Versuchungen; A 150 / Moe 141 Die sechs Teufelsscharen; A 196 / Mihm FdwR 6a Vier Lügen; A 269 / Moe 166 Die fünf teuflischen Geister. 24 Zu der Rede Die drei Gott verhaßtesten Dinge vgl. u. a. Anton Avanzin, „Anmerkungen zu den Strickerischen bîspels der Melker Handschrift“, in: Germanistische Abhandlungen, hg. von K[arl] K. Klein und E[ugen] Thurnher, Innsbruck 1959 (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 6), S. 111-127, bes. S. 118f.; Böhm (wie Anm. 12), S. 75, 117; Fischer (wie Anm. 12), S. 146 A. 1, 147; Schwab, „Zum Thema des Jüngsten Gerichts“ (wie Anm. 6), S. 47; Christoph Steppich, „Zum Begriff der ‚wisheit‘ in der Kleindichtung des Strickers“, in: Dialectology, Linguistics, Literature. Festschrift für Carrol E. Reed, hg. von Wolfgang Moelleken, Göppingen 1984 (GAG 367). S. 275-316, bes. S. 284; Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 53 A. 71, 130 A. 45. 25 Die zum Verständnis nötigen Verse Moe 121, V. 12a-b, sind in A ausgefallen. Geiz und Simonie) überhaupt als Einzelfälle zu identifizieren vermögen, die sich auf ein gemeinsames, fallübergreifendes Gesamtphänomen, hier den Amtsmissbrauch der Kleriker, beziehen lassen. Des Weiteren muss dieses übergeordnete Phänomen im vergleichenden Hin und Her zwischen den drei Textelementen peu à peu erschlossen werden. Diese Aktivierung der Leser- und / oder Hörertätigkeit erinnert durchaus an die Anforderungen, die beim Lösen von Rätseln gestellt werden, deren Grundprinzip ja darin besteht, dem Rezipienten aufzuerlegen, einen auf den ersten Blick nicht ersichtlichen Zusammenhang zwischen präsentierten Elementen zu entdecken oder einen nicht vorgestellten sachlichen oder semantischen Kontext zu erschließen. Jedes Rätsel drängt auf seine Auflösung, und so ist es nicht verwunderlich, dass der sachliche Konnex zwischen den drei im Mittelteil genannten Verfehlungen am Ende des Textes durch das Sprecher-Ich hergestellt und mit dem einprägsamen Bild vom führerlosen Wagen, der auch die Leittiere mit ins Verderben zieht (Moe 111, V. 236-238), unterstrichen wird. III Die analytisch-explizierende symmetrische Rede: A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhaßtesten Dinge Im Unterschied zu den reihenartig gebauten Texten, die in den beiden vorangegangenen Abschnitten beschrieben worden sind, ist in den symmetrischen Reden die listenartige Abfolge der Binneneinheiten von mindestens einem Ordnungsschema gesteuert; im Corpus des Cod. Vindob. 2705 lässt sich solch ein regelgesteuerter Katalog in mindestens zehn Texten feststellen. 23 Als ein Paradebeispiel für eine solche symmetrische Rede kann der Text A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhaßtesten Dinge gelten. 24 Dieser beginnt mit einer unvermittelt aufgestellten These: Ein Ich-Sprecher vertritt nämlich die Meinung, dass drei Verfehlungen (der Hochmut der Armen, das Lügen der Mächtigen und die Hurerei der Alten) Gott besonders verhasst und der Welt beschwerlich seien, obgleich sie von den Sündern als recht gering eingeschätzt würden (Moe 121, V. 1-12 sowie 12a-b). 25 Dieser Eingangsteil steuert nun in zweierlei Hinsicht den Fortgang der Argumentation: - Zum Ersten drängt die in den ersten Versen von A 130 vorgestellte These auf eine Explikation: So werden zwar Hoffart und Unkeuschheit traditionell zu den vitia capitalia gezählt, und auch die Lüge gilt als ein schweres Vergehen, aber warum der 404 Franz-Josef Holznagel Text gerade diese drei Sünden herausgreift und als besonders gravierend einschätzt, ist keinesfalls selbstevident. Noch weniger einsichtig ist, warum der soziale Status der Sünder betont wird. Aufgrund der Rätselhaftigkeit der Aussagen in Moe 121, V. 1-12b, ist es deshalb nur konsequent, dass der zweite Teil der Rede (V. 13-68) die (vom Ich-Sprecher in V. 12 angekündigte) Erläuterung der Thesen präsentiert. - Zum Zweiten lässt die in V. 1-12b vorgenommene Parallelisierung von drei Vergehen erwarten, dass die anschließenden Darlegungen auf jede einzelne Sünde zu sprechen kommen, und zwar in der Abfolge ihrer Nennung, so dass der erste Teil nicht nur darauf hindeutet, dass der zweite Teil katalogartig angelegt ist, sondern überdies die Anzahl und die Reihung der nachfolgenden argumentativen Einheiten des zweiten Teils festlegt. Solch eine Steuerung der Rezeption ist für symmetrische Reden, die mit einer analytisch-ex‐ plizierenden Informationsvergabe arbeiten, typisch. Sie beruht im Wesentlichen darauf, dass die Explizierbarkeit des im ersten Teil Ausgeführten ein Interesse an der verhandelten Thematik weckt, das gleichzeitig durch Strukturierungsvorgaben (hier in der Form der Zahlenangabe) kanalisiert wird. Die Funktion des zweiten Teils besteht nun darin, sowohl das thematisch-inhaltliche Interesse zu befriedigen als auch die Strukturierungserwartung zu erfüllen. In A 130 wird dies dadurch erreicht, dass der Ich-Sprecher eine dreifache, jedoch parallel verlaufende Überlegung durchspielt: Er konstruiert am Beispiel des hochmütigen Armen (Moe 121, V. 13-26), des verlogenen Reichen (Moe 121, V. 27-38) und des unzüchtigen Alten (Moe 121, V. 39-56) den Fall, dass jemand aufgrund seiner sozialen Position keinen Anlass hat oder auch nur die Möglichkeit, eine bestimmte Sünde zu begehen, jedoch den festen Vorsatz dazu besitzt. Dann werden die Folgen abgeschätzt, die eintreten würden, wenn die genannten gesellschaftlichen oder gesundheitlichen Einschränkungen wegfielen. Das Resultat dieser hypothetischen Überlegungen ist in allen drei Fällen gleich: Wäre der hochmütige Arme auch noch mächtig, der lügnerische Reiche auf einmal arm und der alte huorer im Besitz seiner jugendlichen Kräfte, so wären sie schlimmer als alle anderen Sünder. Mit diesem dreifachen Gedankenexperiment wird nun zunächst die Rätselhaftigkeit der anfangs formulierten These aufgelöst: Im Nachhinein rechtfertigt sich die ungewöhnliche Zusammenstellung der behandelten Problemfälle dadurch, dass sie aus der Sicht des Ich-Sprechers auf die gleiche innere Einstellung zurückgehen; zudem wird die überra‐ schende Behauptung, dass Gott und die Welt ausgerechnet die superbia der Armen, die Lügenhaftigkeit der Reichen und die huore der Alten als den Gipfel der Sünde einschätzen, mit Blick auf die unterstellte Maßlosigkeit der Gedanken plausibilisiert. Des Weiteren erfüllt der dreigliedrige Aufbau des zweiten Teils die Strukturierungser‐ wartung, die mithilfe der Zahlenangabe in Moe 121, V. 1, und der Aufzählung der drei Sünden in Moe 121, V. 3-7, aufgebaut worden ist, und erzeugt dadurch im Unterschied zu den prinzipiell unabgeschlossenen Reihenreden den Eindruck einer in sich geschlossenen, abgerundeten Argumentation. Mit Blick auf Mainbergers Einteilung der Reihen haben wir 405 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 26 Vgl. oben Anm. 13. 27 Die Vulgata wird zitiert nach: Andreas Beriger, Widu-Wolfgang Ehlers und Michael Fieger (Hg.), Hieronymus. Biblia sacra vulgata. Lateinisch-deutsch, Bd. 1-5, Berlin/ Boston 2018 (Tusculum). 28 Zum sprichwörtlichen Gebrauch dieser Stelle vgl. Carl Schulze, Die biblischen Sprichwörter der deutschen Sprache, Göttingen 1860, Nachdruck hrsg. und eingeleitet v. Wolfgang Mieder, Bern u. a. 1987 (Sprichwörterforschung 8), S. 115; die in A 130 vorgenommene Autorzuschreibung findet sich in deutschsprachigen Dichtungen des Hochmittelalters z. B. auch bei Heinrich von Mügeln und Rumelant von Sachsen. Zu der Stelle aus A 130 vgl. bereits Avanzin (wie Anm. 24), S. 118f.; zur Rezeption in der Sangspruchdichtung vgl. Horst Brunner und Burghart Wachinger (Hg.), Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts, unter Mitarbeit von Eva Klesatschke u. a., Bd. 1-16. Tübingen 1986-2002, hier: Bd. 16, S. 300. Vgl. zusammenfassend auch Peter Kern (Hg.), Die Sangspruchdichtung Rumelants von Sachsen. Edition - Übersetzung - Kommentar, Berlin/ Boston 2014, S. 299-302 (Kommentar zu Spruch II, 3), bes. S. 300. 29 Vgl. Beriger, Ehlers, Fieger (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 1126f. 30 Vgl. Beriger, Ehlers, Fieger (wie Anm. 27), Bd. 3, S. 1126-1129. es hier mit dem Typ 1 zu tun, der die Anzahl der aufgelisteten Elemente durch eine Regel begrenzt. 26 Aufschlussreich für die Faktur von A 130 ist nun, dass sich diese textstrukturierende Regel direkt aus der biblischen Tradition ableitet. In den Versen Moe 121, V. 57-68, sichert nämlich der Ich-Sprecher die Richtigkeit seiner Lehre mit dem Hinweis auf das Alte Testament ab: Bereits Salomon habe ausgeführt, dass die drei hier zur Diskussion stehenden Sünden den gleichen Lohn von Gott und der Welt erhalten würden (Moe 121, V. 57-59). A 130 verweist damit auf die Verse 25,3-4 des Liber Ecclesiastici ( Jesus Sirach), 27 der bis ins späte Mittelalter hinein regelmäßig als Werk Salomons gilt. 28 Das Kapitel 25 dieses alttestamentlichen Buches wird mit zwei sich kontrastiv ergän‐ zenden Zahlensprüchen eröffnet: - Der erste (Eccli 25, 1 f.) beschwört an drei signifikanten Einzelfällen den Wert der concordia: 1 in tribus placitum est spiritui meo / quae sunt probata coram Deo et hominibus 2 concordia fratrum et amor proximorum / et vir et mulier sibi consentientes „An drei Dingen fand mein Geist Gefallen, die gutgeheißen sind vor Gott und den Menschen: Die Eintracht der Brüder und die Liebe der Nächsten und Mann und Frau, die übereinstimmen.“ 29 - Der zweite (Eccli 25, 3 f.) setzt dem die auch in A 130 genannten drei Formen eines problematischen Sozialverhaltens entgegen. 3 tres species odivit anima mea / et adgravor valde animae illorum 4 pauperem superbum et divitem mendacem / et senem fatuum et insensatum „Drei Arten 〈von Menschen〉 hasste meine Seele, und ich bin sehr besorgt um ihre Seele: Den hochmütigen Armen und den reichen Lügner und den närrischen und unvernünftigen Alten.“ 30 Der kommunikative Sinn dieser Kontrastierung von drei positiv bewerteten Beispielen sozialen Handelns mit drei Negativexempeln liegt auf der Hand - sie läuft auf die Auffor‐ derung hinaus, in der Lebenspraxis das eine zu fördern und das andere zu lassen. In A 130 wird nun die discordia-Reihe aus dem Liber ecclesiasticus übernommen, zugleich aber aus ihrem alttestamentlichen Kotext herausgelöst und in andere diskursive Zusammenhänge 406 Franz-Josef Holznagel 31 Zur Fassungsdivergenz vgl. bereits Konrad Zwierzina (Hg.), „Beispielreden und Spruchgedichte des Strickers“, in: Mittelhochdeutsches Übungsbuch. 2. vermehrte und geänderte Aufl, hg. von Carl von Kraus, Heidelberg 1926 (Germanische Bibliothek. III. Reihe: Lesebücher. Zweiter Band), S. 83-108, 279-287, hier: S. 103 (Apparat). 32 Zur Rede Die sechs Teufelsscharen vgl. Avanzin (wie Anm. 24), S. 115; Böhm (wie Anm. 12), S. 34, 73, 155; Dworschak (wie Anm. 12), S. 16 A. 25, 20, 92 A. 177; Fischer (wie Anm. 12), S. 27, 82 A. 2, 147; Eberhard Lämmert, Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden. Stuttgart 1970, S. 40 A. 77, 97 A. 215, 235; Schwab, „Zur Interpretation“ (wie Anm. 6), S. 178 A. 6; Schwab, „Zum Thema des Jüngsten Gerichts“ (wie Anm. 6), S. 71 A. 1; Steppich (wie Anm. 24), S. 294; Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 54-73, 80, 91, 99, 106, 124f. 33 Die Vorstellung, dass das sündhafte Verhalten des Menschen seinen Ursprung in den tentationes des Teufels hat, ist gebräuchlich und findet sich auch mehrfach in den geistlichen Texten des Cod. Vindob. 2705. Vgl. als direkte Parallele etwa A 269 / Moe 166 Die fünf teuflischen Geister. 34 Wailes hat zu Recht darauf verwiesen, dass dieser Rückzug aus der Welt nicht notwendigerweise mit einem Leben im Kloster verbunden sein muss. Vgl. Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 69-73. gestellt: Bezwecken die Sirach-Verse vorwiegend eine Normierung des äußeren Verhaltens, bietet A 130 eine psychologische und auf die Gesinnung der Sünder abzielende Erklärung, was denn das Frevelhafte der angesprochenen Verfehlungen überhaupt ausmacht. Der Text redet damit ganz eindeutig einer hochmittelalterlichen Variante der Gesinnungsethik das Wort, die bei der Beurteilung von Sünden ein deutlich stärkeres Augenmerk auf die Intentionen des Handelnden richtet, statt allein die faktisch vollzogene Tat als Maßstab für gutes oder schlechtes Verhalten zu setzen. Die Argumentation in A 130 schreitet also in Anlehnung an seinen Prätext von der all‐ gemein gehaltenen These zur konkretisierenden und illustrierenden Darstellung voran; im Unterschied dazu sind andere symmetrische Reden gewissermaßen gegenläufig organisiert. Das beste Beispiel für solch einen Typ der symmetrischen Rede ist die Vulgatfassung 31 von Moe 141 Die sechs Teufelsscharen, die u. a. im Heidelberger Cod. Pal. germ. 341 als Nummer H 105 aufgezeichnet worden ist; sie soll im Folgenden die literarische Leistung des synthetisierenden Aufbauprinzips in den symmetrischen Reden verdeutlichen. IV Die synthetisierende symmetrische Rede: Rosenhagen HHs 105 Die sechs Teufelsscharen Die Rede H 105 32 beginnt mit einer konventionellen Erklärung für das sündhafte Verhalten der Menschen: 33 Lucifer habe seine Teufel ausgeschickt, die sich vor die Menschen plat‐ zieren, um Männer wie Frauen zu versuchen (Rosenhagen HHs 105, V. 1-22). Nach dieser Diagnose über die Ursachen der Seelengefährdung erfolgt dann in den nächsten Versen (Rosenhagen HHs 105, V. 23-37) eine Belehrung über das angemessene Heilmittel: Wer den höllischen Scharen entgehen will, solle sich aus der Welt zurückziehen und ein kontemplatives, gottesfürchtiges Leben führen. 34 Mit dieser Paränese könnte der Text prinzipiell abgeschlossen sein; überraschenderweise setzt die Argumentation in Rosenhagen HHs 105, V. 38, jedoch wieder neu ein. Es zeigt sich nämlich, dass der contemptus mundi aus der Perspektive des Sprechers zwar notwendig für die Sicherung des Seelenheils ist, aber keineswegs hinreichend. Diese Einschätzung wird im Text dadurch verdeutlicht, dass der reuige Sünder, nachdem er sich bereits von der Welt abgewandt hat, der Reihe nach von fünf weiteren diabolischen Scharen 407 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts 35 Sie umfassen zwischen 30 und 45 Verse. Die exakten Angaben können der Übersicht weiter unten entnommen werden. 36 Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 71f., erkennt in der Abfolge der einzelnen Versuchungen kein zeitliches Schema und bestreitet mit Hinweisen auf Einzelheiten in der Argumentation die Identität der Versuchten; daran, dass es die „Fiktion des Gedichtes [will], dass die sechs Teufelsscharen einen und denselben Bekehrten reihenweise versuchen“, wie Wailes selbst konzediert (S. 70), besteht jedoch kein Zweifel. bedrängt wird, die jeweils von einer anderen Richtung angreifen und dabei ein spezifisches Verführungspotential entfalten, dem jedes Mal mit einem anderen, passenden Remedium begegnet werden muss. Auf diese Weise teilt sich der Hauptteil der Rede in sechs Abschnitte ähnlichen Umfangs ein, 35 die nach einem einheitlichen Schema gestaltet sind: Zunächst wird die Position der Teufelsgruppe in der Kette der sechs Scharen und ihre Angriffsrichtung vermerkt. Dann führt der Text vor, womit die Boten Lucifers versuchen, den Menschen von seinem gottesfürchtigen Leben abzulenken, und zum Abschluss erfolgt dann die Belehrung über das Mittel, das gegen diese Versuchung eingesetzt werden kann: Teufelsschar Angriffsrichtung Versuchung Remedium 1. Schar (V. 1-37) vorne durch die Welt Rückzug aus der Welt 2. Schar (V. 38-66) rechts durch Freunde und Ver‐ wandte Abbau freundschaftlicher und familiärer Bindungen 3. Schar (V. 67-97) links durch Verleumder Geringschätzung des Ruhms; Fortführung der moralischen Lebensweise 4. Schar (V. 98-134) hinten durch die Erinnerung an vergangene Ehren Erinnerung an vergangene Sünden 5. Schar (V. 135-164) unten durch den Leib Verzicht auf Bequemlichkeit 6. Schar (V. 165-208) oben durch den Hochmut über andere, die mehr gesün‐ digt haben sollen Demut und Selbsterniedrigung Da jede Teufelsgruppe erst dann zum Zuge kommt, wenn die unmittelbar vorangegangene an der Gegenwehr der Versuchten gescheitert ist, belästigen die Scharen Lucifers den Menschen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander. 36 Mit dieser Technik der zeitlichen Verkettung von sechs nach dem gleichen Muster von Aktion und Reaktion, von Teufelsan‐ griff und Abwehr der Versuchung, organisierten Vorgängen wird in H 105 der Prozess einer zunehmenden religiösen Vervollkommnung skizziert und in sechs charakteristische Stadien gegliedert. Versucht man die Grundsätze, nach denen der Aufbau von H 105 gestaltet worden ist, etwas präziser zu bestimmen, so ergibt sich Folgendes: 408 Franz-Josef Holznagel 37 Zu Senaren als Ordnungsschemata vgl. u. a. Heinz Meyer, Die Zahlenallegorese im Mittelalter. Methode und Gebrauch, München 1975 (MMS 25), S. 129-133; Heinz Meyer und Rudolf Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, München 1987 (MMS 56), Sp. 442-479. Zur Vorstellung „Sechs unter Sieben“ vgl. Meyer und Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen, Sp. 444. 38 Diese wurde in der Tradition u. a. mit der arithmetischen Überlegung begründet, dass die Sechs die Summe aus den Zahlen darstellt, durch die sie geteilt werden kann (1, 2 und 3). Vgl. Meyer und Suntrup, Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen (wie Anm. 37), Sp. 443. 39 3 [I]n carne enim ambulantes / non secundum carnem militamus 4 nam arma militiae nostrae non carnalia sed potentia Deo / ad destructionem munitionum / consilia destruentes. - „Denn obwohl wir im Fleisch gehen, kämpfen wir 〈jedoch〉 nicht gemäß dem Fleisch. Denn die Waffen unseres Kriegsdienstes sind nicht fleischlich, sondern durch Gott mächtig, zur Zerstörung der Festungen, indem wir Pläne zerstören.“ Vgl. Beriger, Ehlers, Fieger (wie Anm. 27), Bd. 5, S. 846f. 40 10 [D]e cetero fratres confortamini in Domino et in potentia virtutis eius 11 induite vos arma Dei / ut possitis stare adversus insidias diaboli 12 quia non est nobis conluctatio adversus carnem et sanguinem / sed adversus principes et potestates / adversus mundi rectores tenebrarum harum / contra spiritalia nequitiae in caelestibus 13 propterea accipite armaturam Dei / ut possitis resistere in die malo / et omnibus perfectis stare 14 state ergo succincti lumbos vestros in veritate / et induti loricam iustitiae 15 et calciati pedes in praeparatione evangelii pacis 16 in omnibus sumentes scutum fidei / in quo possitis omnia tela nequissimi ignea extinguere 17 et galeam salutis adsumite / et gladium Spiritus / quod est verbum Dei. - „Im Übrigen, Brüder, tröstet euch im Herrn und in der Macht seiner Kraft! Kleidet euch in die Rüstung Gottes, damit ihr gegen die Nachstellungen des Teufels bestehen könnt! Denn wir haben nicht einen Kampf gegen das Fleisch und das Blut, sondern gegen Fürsten und - Die Rede setzt sich aus sechs argumentativen Einheiten zusammen, die mit der Zählung der Teufelsschar, der Angabe ihrer Angriffsrichtung, der Beschreibung der damit verbundenen Versuchung und der Präsentation eines angemessenen Remediums analog strukturiert sind. - Die Anzahl der Einheiten ergibt sich zunächst aus der Anwendung des verhältnismäßig oft verwendeten numerologischen Schemas ‚Sechs unter Sieben‘ 37 demzufolge die Sechs trotz aller perfectio im Letzten defizitär bleibt, so wie die sechs Tagwerke des Schöpfungsberichtes 38 nur die endlichen Geschöpfe Gottes und die Werke des Menschen repräsentierten, dies im Kontrast zur Zahl Sieben, die mit der Vorstellung der Ewigkeit und der absoluten Perfektion verbunden wird, weil die Schöpfung mit dem siebten Tag, dem Ruhetag Gottes, nicht nur vollendet, sondern auch überschritten worden sei. Zwischen den Stadien der Weltabkehr in H 105 und der durch die Sieben eingeschränkten Bedeutung der Sechs besteht nun insofern ein evidenter Zusammenhang, als auch die sechs Stufen der religiösen Perfektionierung endliches Werk bleiben müssen (wie andere Senare der menschlichen opera auch), so dass der durch die Weltabkehr erstrebte himmlische Lohn erst im Jenseits und nach Gottes Entscheidung im Jüngsten Gericht erreicht werden kann. - Eine Besonderheit von H 105 ist nun, dass dieses numerologische Schema im Rückgriff auf eine räumliche Vorstellung motiviert ist, die sich ihrerseits wieder aus einer textstrukturierenden Metapher ableitet. - Das Basiselement der Rede, gewissermaßen sein semantisches Kraftfeld, ist die spätes‐ tens durch Paulus (2 Cor 10, 3 f.) eingeführte Metapher des Gläubigen als geistlicher Streiter oder Soldat, der nicht mit den irdischen, sondern mit den von Gott verliehenen Waffen kämpft. 39 Für die Bildlichkeit von H 105 sind insbesondere die Verse Eph 6,10-17 einschlägig. 40 Sie fordern die frühchristliche Gemeinde dazu auf, die Rüstung Gottes 409 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts Mächte, gegen die Herrscher der Welt dieser Finsternis, gegen den Geist der Nichtigkeit in göttlichen Angelegenheiten. Daher empfangt die Rüstung Gottes, damit ihr am bösen Tag widerstehen könnt und bestehen, nachdem alles vollendet ist! Steht daher die Lenden gerüstet mit Wahrheit und bekleidet mit dem Brustpanzer der Gerechtigkeit und eure Füße beschuht mit der Vorbereitung der Botschaft des Friedens! Nehmt in allem den Schild des Glaubens auf, mit dem ihr alle feurigen Geschosse des Widersachers auslöschen könnt, und nehmt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, das das Wort Gottes ist.“ Vgl. Beriger, Ehlers, Fieger (wie Anm. 27), Bd. 5, S. 898f. 41 Dass H 105 mit dieser militärischen Umschreibung für den Dienst des Christen in der Welt operiert, lässt sich insbesondere an der Häufung von Verben wie widerstriten (V. 16), widerstan (V. 19; V. 53) oder sich erweren (V. 24) ablesen; vgl. überdies die Verben an gesigen (V. 157; V. 205) und die Phrase die schar vertriben (V. 191). 42 Siehe dazu Wailes, Studien (wie Anm. 6), S. 69f. 43 In gewisser Weise ist das räumliche Schema also der zeitlichen Gliederung untergeordnet; damit könnte auch der Umstand zusammenhängen, dass die Angriffsrichtungen nicht wie in A 144 / Moe 135 Die sechs Versuchungen zu klaren Oppositionspaaren geordnet sind. 44 In diesem Zusammenhang sind v. a. die verbindenden Übergänge zwischen den einzelnen Ab‐ schnitten wichtig, ferner die Baugleichheit der sechs argumentativen Einheiten sowie die früh ermöglichte Einsicht in das räumliche Ordnungsschema. anzulegen, um den listigen Anschlägen des Teufel zu widerstehen; diese Passage listet überdies dezidiert sechs Teile der Bewaffnung auf (den Gurt der Wahrheit, den Panzer der Gerechtigkeit, die Schuhe des Friedens, den Schild des Glaubens, den Helm des Heils und das Schwert des Geistes), um eine entsprechende Anzahl von moraldidaktischen Tugenden (Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe, Friedfertigkeit, Heilsgewissheit und den Glauben an den Hlg. Geist) formulieren zu können. 41 - Auf solch eine tropologische Allegorese der Waffen verzichtet die Rede H 105; sie transformiert stattdessen die Vorstellung des geistlichen Kämpfers in ein räumliches Ordnungsschema, indem sie die Vorstellung evoziert, dass der miles dei aus allen sechs Grundrichtungen (von vorne, rechts, links, von hinten, unten und oben) durch die Teufel attackiert werden kann. Die Zuordnung der tentationes zu einer Angriffs‐ richtung ist dabei keineswegs beliebig, sondern erklärt sich wenigstens zum Teil aus der assoziativen Zuordnung der Versuchungen zu gebräuchlichen Bildfeldern. Hierzu gehört beispielsweise die konnotative Verbindung zwischen der Sünde Hoffart und der Raumangabe ‚oben‘ oder der Konnex von nostalgischer Vergangenheitsorientierung und der Richtung ‚hinten‘. 42 - Die Reihenfolge der Abschnitte ist schließlich so gewählt, dass der Eindruck eines Prozesses zunehmender religiöser Perfektionierung entsteht, der sich in sechs aufein‐ ander aufbauende Stadien gliedert. 43 H 105 weist im Unterschied zu A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhaßtesten Dinge weder eine einführende These auf, die als Explikandum fungieren könnte, noch eine Strukturie‐ rungsvorgabe, die den Aufbau der Rede festlegte. Dies hat zur Folge, dass das komplizierte Ineinander des numerologischen, des räumlichen und des zeitlichen Schemas und der textstrukturierenden Metapher von Ordensleuten als milites dei oder christiani, das diesen Text auszeichnet, vollständig erst im Nachhinein erfasst werden kann; allerdings kommt die Einsicht in den Textaufbau auch nicht gänzlich überraschend, weil sich einige seiner charakteristischen Grundzüge bereits während des Rezeptionsaktes so klar abzeichnen, dass in Grenzen Prognosen über den weiteren Verlauf der Argumentation möglich sind. 44 410 Franz-Josef Holznagel 45 Gleichwohl ist diese Bauform der symmetrischen Rede sicherlich eine Ausnahme. Das zeigt sich u. a. daran, dass die im Cod. Vindob. 2705 eingetragene Fassung der Rede (A 150) bereits am Anfang klare Signale bezüglich der Argumentationsstruktur setzt. Wichtig ist vor allem der Umstand, dass den Ausführungen über die sechs Teufelsscharen die Rede des Ich-Sprechers vorangeschickt wird, der eine Aufklärung darüber ankündigt, wie der Teufel den Menschen jage, und Ratschläge verspricht, wie man sich vor diesen Nachstellungen schützen kann (Moe 141, V. 1-4). Diese ersten vier Verse können als Instrument einer analytisch-explizierenden Informationsvergabe verstanden werden. Diese kurze Einleitung hat den Vorteil, dass die Rede nicht so unvermittelt einsetzt wie in H 105. Gleichzeitig gefährdet sie die Wirkung des nachfolgenden Hauptteils nicht, weil sich die Vorgabe nur auf die Struktur der einzelnen argumentativen Einheiten richtet, nicht aber auf deren Anzahl und Reihenfolge, so dass keines der drei Schemata, die sich gemäß dem synthetisierenden Aufbauprinzip erst sukzessive enthüllen sollen, von den Eingangsversen vorweggenommen wird. Das Fehlen einer eingangs formulierten Strukturierungsvorgabe bedeutet demnach nicht, dass unter den Bedingungen einer synthetisierenden Informationsvergabe der Textaufbau überhaupt nicht antizipiert werden könnte; 45 aufgrund der straffen und auffällig markierten Textgliederung ist (anders als im Falle der locker gebauten Reihenrede! ) sehr wohl eine Hypothese über den Fortgang der Argumentation möglich - und zwar zu einem recht frühen Zeitpunkt des Rezeptionsaktes. Die Informationen zum Textaufbau werden zwar nicht wie bei den Strukturierungsvorgaben der analytisch-explizierenden Reden direkt versprachlicht und durch die Autorität des Textes abgesichert, sondern müssen von den Hörern / Lesern durch eine Interpretation der o. a. Gliederungsmerkmale sukzessive erschlossen werden; allerdings ist der Text ganz offensichtlich daraufhin angelegt, die zunächst vorläufigen Vorstellungen, die der Rezipient von der Gliederung des Textes entwerfen kann, zu bestätigen und zu präzisieren. Dieser Hinweis zum Rezeptionsmodus von H 105 soll den Durchgang durch vier Texte und vier unterschiedliche Konfigurationen der Registerrede abschließen. Ich versuche ein kurzes Fazit, das die wichtigsten Aussagen meines Beitrags noch einmal benennt. - Registerreden bilden innerhalb der kleineren Reimpaardichtungen des 13. Jahrhun‐ derts eine markante Gruppe, die nach außen hin über das grundlegende Prinzip der literarischen Reihe von anderen Reden abgegrenzt werden kann und die sich nach innen mithilfe von zwei Distinktionsbasen in vier deutlich unterschiedene Subtypen ausdifferenzieren lässt. - Mit Blick auf die gewählten Strategien der Rezeptionssteuerung lassen sich analy‐ tisch-explizierende und synthetisierende Formen der Registerrede unterscheiden. Als Kennzeichen der ersten kann gelten, dass sie die Wahrnehmung der Hörer / Leser durch eingangs vermittelte Informationen lenken. Dabei kann es sich um eine Ein‐ gangsthese handeln, die es im fortschreitenden Rezeptionsprozess zu beurteilen gilt, oder aber um die Benennung von Ordnungsgesichtspunkten, nach denen sich die Struktur der nachfolgenden Argumentation ausrichtet. Das Merkmal der zweiten ist, dass zu Textbeginn weder die Anzahl noch die Reihung der für die Registerreden typischen Reihung von Elementen angezeigt wird und auch kein Prinzip benannt wird, aus dem sich die Struktur der nachfolgenden Argumentation ergäbe. Dies hat zur Konsequenz, dass sich die im Text gestifteten Kohärenzen erst im Nachgang erkennen lassen; synthetisierende Formen der Registerrede fordern damit ein deutlich höheres 411 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts Maß an Hörer- oder Leseraktivität ein als die steuernden analytisch-explizierenden Formen. - Hinsichtlich des Modus, in dem die gereihten Elemente von Registerreden miteinander in Verbindung gesetzt werden, zeichnet sich eine Differenzierung in Reihenreden und symmetrische Reden ab. Reihenreden bilden argumentative Ketten nach dem Mainberger-Typus 3 aus; die Anzahl ihrer Elemente ist also prinzipiell endlich, aber empirisch kaum zu zählen; typisch für symmetrische Reden ist dagegen, dass ihre Reihungen dem Mainberger-Typus 1 zuzurechnen sind: Die Anzahl der gereihten Elemente kann durch eine Regel begrenzt werden, ist demnach prinzipiell endlich und erschöpfend darstellbar. - Im hier untersuchten Corpus der symmetrischen Reden wird die Anzahl (und mitunter auch die Abfolge) der gereihten Abschnitte durch drei, durchaus miteinander kombi‐ nierbare Ordnungsmuster geregelt: a. numerologische Schemata (Die drei Gott verhaßtesten Dinge; Die sechs Teufels‐ scharen), b. räumliche Schemata (oben - unten - rechts - links - vorne - hinten) und c. zeitliche Schemata (sechs Stufen der Selbstperfektionierung). - Symmetrische Reden können überdies über textstrukturierende rhetorische Tropen gesteuert werden (wie z. B. die Metapher vom Gläubigen als miles dei in H 105), und zwar insbesondere dann, wenn sich aus ihnen konkrete Zahlenverhältnisse ableiten lassen, anhand derer dann die Argumentation organisiert werden kann (wie die sechs Himmelsrichtungen, die sich in H 105 aus dem zentralen Bild vom geistlichen Kämpfer ergeben). - Dabei besitzen die Schemata, die in symmetrischen Reden zu beobachten sind, nicht nur eine gliedernde (und damit mnemotechnische) Funktion, sondern können, wie die Überlegung zur Bedeutung der Sechszahl in H 105 gezeigt hat, auch einen semantischen Mehrwert generieren. - Ähnliches lässt sich für die Ordnungsprinzipien mancher Reihenreden festhalten, etwa dann, wenn die Art, in der einzelne Textelemente hintereinandergestellt werden, für die Konturierung von textinternen kommunikativen Instanzen genutzt wird (so etwa, wenn in A 165 die abundante, aber in sich heterogene Klage über den mundus perversus dazu dient, die innere Betroffenheit des Ich-Sprechers anzuzeigen). Anhang: Corpus der Registerreden im Cod. Vindob. 2705 I. Reihenreden A analytisch-explizierende Reihenreden (Reihung mit Eingangsthese) 1. A 73 / Moe 3,II Die Frauenehre 2. A 95 / Moe 86 Ehemanns Rat 3. A 136 / Moe 127 Von Edelsteinen 4. A 151 / Haupt Weiberzauber 5. A 165 / Moe 158 Die Klage 6. A 172 / Mihm FdwR 7 Acht Schätze 412 Franz-Josef Holznagel 7. A 181 / Wackernagel LM I Lügenmäre; Brunner NL 8. A 208 / Mihm FdwR 8 Die Falschheit der Welt 9. A 210 / Hagen WS, S. 307f. Aberglaube B synthetisierende Reihenreden (Reihung ohne Eingangsthese) 1. A 111b / Moe 102 Mahnung zu rechtzeitiger Buße 2. A 120 / Moe 111 Die Geistlichen 3. A 147 / Moe 138 Der Wucherer 4. A 149a / Moe 139 Die gerechten Schläge Gottes 5. A 149b / Moe 140 Treue gegen Vater und Gott II. Symmetrische Reden A analytisch-explizierende symmetrische Reden (mit Anzeige von Ordnungsprinzipien) 1. A 86a / Moe 81 Von der Hoffart 2. A 124 / Moe 115 Die sieben himmlischen Gaben 3. A 126 / Moe 117 Des Teufels Ammen 4. A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhaßtesten Dinge 5. A 137 / Moe 128 Die vier Evangelisten 6. A 144 / Moe 135 Die sechs Versuchungen 7. A 150 / Moe 141 Die sechs Teufelsscharen [AN-Fassung] 8. A 196 / Mihm FdwR 6a Vier Lügen 9. A 269 / Moe 166 Die fünf teuflischen Geister B synthetisierende symmetrische Reden (ohne explizite Anzeige von Ordnungsprinzipien) H 105 / Rosenhagen HHs 105 Die sechs Teufelsscharen Rosenhagen [HK-Fassung von A 150 / Moe 141] III. Sonderfälle A 1-9 / Moe 11 Vom heiligen Geist A 137 / Moe 128 Die vier Evangelisten A 166 / Moe 46, II Von Eseln, Gäuchen und Affen Auflösung der Editionskürzel Brunner NL Horst Brunner, „Der notorische Lügner“, in: ders., Von achtzehn Wachteln und dem Finkenritter. Deutsche Unsinnsdichtung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Mittelhochdeutsch / Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg., übers. und komment., Stuttgart 2014 (Reclams Universal-Bibliothek. 19212), S. 18-25. Hagen WS Friedrich H. von der Hagen (Hg.), „Aberglaube“, in: ders., „Aus dem Welt- und Sittenspiegel, vermuthlich des Stricker, um Mitte des 13. Jahrhunderts in Oesterreich“, in: Germania 8 (1848), S. 307f. 413 Reihungen, Kataloge und Listen in Registerreden des 13. Jahrhunderts Haupt Moriz Haupt (Hg.), „Weiberzauber von Walther von Griven“, in: ZfdA 15 (1872), S. 245f. Mihm FdwR Arend Mihm (Hg.), „Aus der Frühzeit der weltlichen Rede. Inedita des Cod. Vindob. 2705”, in: PBB (Tübingen) 87 (1965), S. 406-433. Moe Wolfgang W. Moelleken, Gayle Agler-Beck und Robert E. Lewis (Hg.), Die Kleindichtung des Strickers, Bd. 1-5, Göppingen 1973-1978 (GAG 107, I-V). PfABs Franz Pfeiffer (Hg.), „Altdeutsche Beispiele“, in: ZfdA 7 (1849), S. 318-382. Rosenhagen HHs Gustav Rosenhagen (Hg.), Kleinere mittelhochdeutsche Erzählungen, Fabeln und Lehrgedichte. III. Die Heidelberger Handschrift cod. Pal. germ. 341, Berlin 1909 (DTM 17). Wackernagel LM I Wilhelm Wackernagel (Hg.), „Drei Lügenmärchen“, in: ZfdA 2 (1842), S. 560- 569. 414 Franz-Josef Holznagel * Für wertvolle Hinweise danke ich Jan-Dirk Müller, Alexander Rudolph, Jodok Trösch und Klaus Kipf sehr herzlich. Zitiert wird nach: François Rabelais, Œuvres complètes, hg., eingeleitet und kommentiert von Mireille Huchon unter Mitwirkung von François Moreau, Paris 1994 (Bibliothèque de la Pléiade); vgl. dazu François Rabelais, Œuvres complètes, hg., eingeleitet und kommentiert von Guy Demerson, Originaltext hg. von Michel Renaud, die lateinischen Texte hg., eingeleitet, kommentiert und übersetzt von Geneviève Demerson, 2., korrigierte Aufl., Paris 1995; vgl. auch die deutsche Übersetzung: François Rabelais, Gargantua, übersetzt und kommentiert von Wolf Steinsieck, Nachwort von Frank-Rutger Hausmann, Stuttgart 1992; Johann Fischart, Geschichtklitterung, mit einem Glossar hg. von Ute Nyssen, Düsseldorf 1963 (Text von 1590); vgl. daneben auch Johann Fischart, Geschichtklitterung (Gargantua), synoptischer Abdruck der Bearbeitungen von 1575, 1582 und 1590, hg. von Albert Alsleben, Halle a. S. 1891; Johann Fischart, Geschichtklitterung. Gargantua, synoptischer Abdruck der Fassungen von 1575, 1582 und 1590, neu hg. von Hildegard Schnabel, 2 Bde., Halle a. d. S. 1969 (Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 70/ 71). 1 Grundlegend zur Quellenerschließung bei Rabelais noch immer: Jean Plattard, L’Œuvre de Rabelais. Sources, invention et composition, Paris 1967; Madeleine Lazard, Rabelais l’humaniste, Paris 1993; vgl. zur Störung der verschiedenen Kontexte untereinander bereits Hans U. Gumbrecht, „Literarische Gegenwelten, Karnevalskultur und die Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur Renaissance“, in: Literatur in der Gesellschaft des Spätmittelalters, hg. von dems., Heidelberg 1980 (Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters, Begleitreihe 1), S. 95-144, hier S. 136-144. In Michail Bachtins für die Rabelais-Forschung zentraler Studie wird die gelehrte Dimension der Pentalogie durchgängig zu wenig berücksichtigt. Bei aller Betonung des Somatischen sowie der komischen und grotesken Momente in Rabelais’ Œuvre, die Bachtin zu Recht herausarbeitet, besteht die Besonderheit der Pentalogie doch vor allem in der Verknüpfung der humanistisch-gelehrten Interessen des Autors mit Vorstellungen von einer überbordenden Leiblichkeit. Vgl. Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, übers. von Gabriele Leupold, hg. und mit einem Vorwort versehen von Renate Lachmann, Frankfurt a. M. 1995 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1187). 2 Vgl. dazu besonders Michael A. Screech, Rabelais, Paris 1992 (Bibliothèque des idées); Huchon (Hg.), Œuvres complètes (wie Anm. 1); Huchon, Rabelais, Paris 2011 (Biographies NRF Gallimard). Poetik der Liste * Rabelais’ Gargantua in Fischarts Geschichtklitterung Beate Kellner I Rabelais’ Gargantua und Fischarts Geschichtklitterung Die von François Rabelais in seiner Pentalogie erzählte Geschichte einer Riesenfamilie ist mit Wissen unterschiedlichster Provenienz durchsetzt. 1 Der exploratorische und expe‐ rimentelle Charakter des Rabelais’schen Schreibens ist durch Polyphonie semantischer, klanglicher und musikalischer Art gekennzeichnet. Rabelais zeigt sich als Repräsentant eines neuen Sprachbewusstseins im 16. Jahrhundert und illustriert die Bedeutung der französischen Volkssprache. 2 Dies wird auf den unterschiedlichsten Ebenen manifest, etwa 3 Vgl. besonders Rainer Warning, „Konterdiskursivität bei Rabelais“, in: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, hg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider, Berlin/ New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 21-39, mit zahlreichen Hinweisen auf die romanistische Forschung. 4 Vgl. Terence Cave, Cornucopia. Figures de l'abondance au XVI e siècle: Erasme, Rabelais, Ronsard, Montaigne, Paris 1997 (Argô Macula). 5 Grundlegend zur Quellenerschließung bei Fischart: Adolf Hauffen, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegenreformation, 2 Bde., Berlin/ Leipzig 1921/ 1922; Ulrich Seelbach, Ludus Lectoris. Studien zum idealen Leser Johann Fischarts, Heidelberg 2000 (Beihefte zum Euphorion 39); ders., „Fremde Federn. Die Quellen Johann Fischarts und die Prätexte seines idealen Lesers in der Forschung“, in: Daphnis 29 (2000), S. 465-583. 6 Vgl. dazu etwa Erich Kleinschmidt, „Die Metaphorisierung der Welt. Sinn und Sprache bei François Rabelais und Johann Fischart“, in: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit, hg. von Wolfgang Harms und Jean-Marie Valentin, Amsterdam/ Atlanta 1993 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 37-57; Jan-Dirk Müller, „Texte aus Texten. Zu intertextu‐ ellen Verfahren in frühneuzeitlicher Literatur, am Beispiel von Fischarts Ehzuchtbüchlein und Geschichtklitterung“, in: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, hg. von Wilhelm Kühlmann und Wolfgang Neuber, Frankfurt a. M. u. a. 1994 (Frühneuzeit-Studien 2), S. 63-109; Rüdiger Zymner, Manierismus. Zur poetischen Artistik bei Johann Fischart, Jean Paul und Arno Schmidt, Paderborn u. a. 1995, S. 86-167; Nicola Kaminski, „Gigantographie. Fischarts ‚Geschichtklitterung‘ zwischen Rabelais-imitatio und aemulatio mit des Gargantua vnnachtzuthuniger stärck“, in: Die Präsenz der Antike im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1999 bis 2002, hg. von Ludger Grenzmann u. a., Göttingen 2004 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-Historische Klasse. Dritte Folge 263), S. 273-304; Jan-Dirk Müller, „Fischarts Gegenkanon. Komische Literatur im Zeichen der imitatio“, in: Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert, hg. von dems. und Jörg Robert, Berlin 2007 (Pluralisierung & Autorität 11), S. 281-321; Beate Kellner, „Spiel mit gelehrtem Wissen. Fischarts Geschichtklitterung und Rabelais’ Gargantua“, in: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik, hg. von Jan-Dirk Müller, Mün‐ chen 2007 (Schriften des Historischen Kollegs 64), S. 219-243; Beate Kellner, „Verabschiedung des Humanismus. Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003, hg. von Nicola McLelland, Hans-Jochen Schiewer und Stefanie Schmitt, Tübingen 2008, S. 155-181; Tobias Bulang, im kreativen Umgang mit Lauten und Silben, im Spiel mit Klangphänomenen, im Wechsel von Vers und Prosa, im Experimentieren mit Metrik und Rhythmus, in der komisch-gro‐ tesken Permutation der Wörter, in der phantasievollen Wortschöpfung, den zahlreichen Sprach- und Wortspielen, aber auch in der Bewahrung archaischer Sprachformen sowie in der Vielfalt der Sprachen und ihrer Hybridisierung. 3 Rabelais᾽ Schreibweise führt zu einer Proliferation des Textes, der eine Rhetorik der amplificatio zugrunde liegt. 4 Besonders bemerkenswert sind hier die im Sinne eines syntagmatischen Textverlaufs oft überschüssig und geradezu dysfunktional wirkenden Einschübe, die zu kolonnenartigen Auflistungen werden können. Johann Fischart hat François Rabelais’ Gargantua (1534/ 1535) in seiner Geschichtklitte‐ rung in den Ausgaben von 1575, 1582 und 1590 übertragen und auf den dreifachen Umfang erweitert. 5 In einer Mischung aus imitatio und aemulatio greift er die spezifische Schreib‐ weise Rabelais’ auf, doch er übersetzt nicht im eigentlichen Sinne, sondern er gestaltet den französischen Text kreativ weiter und setzt gegen Rabelais᾽ feinsinnigen Humanismus, seine Allegorien und Verrätselungen im Gelehrtenmilieu des späten 16. Jahrhunderts eigene Akzente. 6 Ist bereits Rabelais’ Text von der Kritik an einer erstarrten Kirche und einem 416 Beate Kellner „Ursprachen und Sprachverwandtschaft in Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: GRM N. F. 56 (2006), S. 127-148; Tobias Bulang, „Literarische Produktivität - Probleme ihrer Begründung am Beispiel Johann Fischarts“, in: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit, hg. von Corinna Laude und Gilbert Heß, Berlin 2008, S. 89-118; Tobias Bulang, Enzyklopädische Dichtungen. Fallstudien zu Wissen und Literatur in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Berlin 2011 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 2); Beate Kellner, „Literatur als Symposion. Zu François Rabelais’ Gargantua und Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: Poetica 47 (2015), S. 195-221; Elsa Kammerer, „Vberschrecklich lustig. Einige Denkanstöße zur Geschichtklitterung als Nachdichtung eines komischen Romans“, in: Johann Fischart, genannt Mentzer. Frühneuzeitliche Autorschaft im intermedialen Kontext, hg. von Tobias Bulang unter Mitarbeit von Sophie Knapp, Wiesbaden 2019 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 37), S. 189-210; Jan-Dirk Müller, „Fischarts Altdeutsch. Sprachgeschichtliche Spielereien“, in: ebd., S. 263-272; Tobias Bulang, „Pantagruelismus und Hexenangst. Johann Fischart als Übersetzer von François Rabelais und Jean Bodin“, in: Daphnis 47 (2019), S. 495-527. 7 Vgl. den Hinweis im Titel des Binenkorbs Deß Heyl. Roͤmischen Jmenschwarms, Straßburg 1580. Hier heißt es, das Werk sei mit Mentzerkletten durchzirt. lebensfernen passiven Mönchtum geprägt, so verändert sich die Perspektive bei Fischart vollends im Zeichen der Reformation. Bei ihm geht es nicht mehr um Möglichkeiten der Erneuerung der Kirche, sondern um den Kampf gegen alles Katholische und Papistische, der sich besonders seit der Ausgabe von 1582 allenthalben in scharfer konfessioneller Polemik zeigt. Zudem weicht Rabelais’ Vorstellung von einer im positiven Sinne formbaren Veranlagung des Menschen, die es durch Erziehung und Bildung zu vervollkommnen gilt, bei Fischart dem Blick auf die erbsündige, gefallene, triebhafte Natur, die im Bild der Riesen in all ihrer Affektivität grobianisch dargestellt wird. Neben diesen zentralen Perspektivenwechseln ist es auf der poetologischen Ebene von Interesse, dass Fischart Rabelais’ virtuosen Umgang mit der Sprache im Deutschen fortführt und die beim französischen Autor angelegte enzyklopädische Ansammlung von Wissen noch weiter steigert. Illustriert Rabelais die Möglichkeiten der französischen Sprache, so möchte Fischart gleichziehen und zeigen, dass das Deutsche nicht nachsteht. Daher schreibt er nicht nur Rabelais’ Wortkolonnen und Register aus, sondern er fügt in weiterer amplificatio auch neue Wort- und Sprachspiele sowie neue Reihen und Kataloge hinzu. Als sogenannte Mentzerkletten (Mainzer Kletten) werden diese zum besonderen Signum seiner Schreibweise. 7 Tatsächliche und aus heutiger Sicht vermeintliche Etymologien nutzend, werden Wörter, Silben und Laute im Sinne einer beständigen Permutation wie in einem alchemistischen Ofen aufgelöst und verschmolzen. Im Spiel mit Metrik, Rhythmus und Klang ist Fischart in seinem Element, und die Rabelais’sche Sprachenvielfalt eignet auch seinem Text. Fischarts Apologie der Volkssprache führt nicht zu einem Purismus des Deutschen, vielmehr treibt er die Hybridisierung der Wörter, Sprachen, Schriftzeichen und Alphabete auf die Spitze. Bei aller Vorliebe für neuartige Wortkombinationen und Wortschöpfungen gibt es auch bei ihm eine Tendenz zur Archaisierung. Das Resultat ist ein oft schwer zu entzifferndes und zu entwirrendes Gemenge von Sprachen und Sprachstufen, 417 Poetik der Liste 8 Vgl. jetzt etwa Elsa Kammerer, „Enthousiasme, fureur et ergeysterung. Une nouvelle hypothèse d’interprétation du Glucktratrara de Johann Fischart (1575-1590)“, in: Langues hybrides. Expérimen‐ tations linguistiques et littéraires (XV e -déb. XVII e siècles). Hybridsprachen. Linguistische und literarische Untersuchungen (15.‒Anfang 17. Jh.), hg. von Anne-Pascale Pouey-Mounou und Paul J. Smith, Genf 2019 (Travaux d’Humanisme et Renaissance DXCVIII. De lingua et linguis VI), S. 349-366; Tobias Bulang, „Sprachhybridisierung und Mythensynkretismus in Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: ebd., S. 367-384; Beate Kellner, „Sprachspiel, Sprachenvielfalt und Hybridisierung in Johann Fischarts Geschichtklitterung“, in: ebd., S. 385-402; vgl. Müller, „Fischarts Altdeutsch“ (wie Anm. 7). 9 Vgl. auch Fischarts Bücherverzeichnisse in der Geschichtklitterung, Ein und VorRitt, S. 23f., und Kap. 17, S. 204-207; und vor allem Johann Fischart, Catalogus Catalagorum perpetuo durabilis (1590), mit Einleitung und Erläuterungen hg. von Michael Schilling, Tübingen 1993 (Neudrucke Deutscher Literaturwerke N. F. 46); vgl. dazu etwa Erich Kleinschmidt, „Die konstruierte Bibliothek. Zu Johann Fischarts Catalogus catalogorum (1590)“, in: Études Germaniques 50 (1995), S. 541-555; Jan-Dirk Müller, „Universalbibliothek und Gedächtnis. Aporien frühneuzeitlicher Wissenskodifikation bei Conrad Gesner (Mit einem Ausblick auf Antonio Possevino, Theodor Zwinger und Johann Fischart)“, in: Erkennen und Erinnern in Kunst und Literatur. Kolloquium Reisensburg, 4.-7. Januar 1996, hg. von Dietmar Peil, Michael Schilling und Peter Strohschneider in Verbindung mit Wolfgang Frühwald, Tübingen 1998, S. 285-309, zu Fischart S. 306-309; Dirk Werle, Copia librorum. Problemgeschichte imaginierter Bibliotheken 1580-1630, Tübingen 2007 (Frühe Neuzeit 119), S. 180-203. 10 An dieser Stelle sei aus der Fülle an Forschung nur hingewiesen auf: Helmut Zedelmaier, Bibliotheca Universalis und Bibliotheca Selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit, Köln u. a. 1992 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 33); Wilhelm Schmidt-Biggemann, Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft, Hamburg 1983 (Paradeigmata 1); Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenschaftskompilatorik in der Frühen Neuzeit, hg. von Frank Büttner, Markus Friedrich und Helmut Zedelmaier, Münster 2003 (Pluralisie‐ rung & Autorität 2). Dialekten und Soziolekten, das sich auf der Ebene einzelner Laute, Silben, Wörter und Begriffe, aber auch größerer Textpassagen ergibt. 8 Die Rhetorik der Abundanz zeigt sich, wie in Rabelais’ Gargantua so auch in Fischarts Geschichtklitterung, ganz besonders in den genannten Katalogen und Listen. Hier wird die Anreicherung der Texte mit Wissen durch die Suspension des Fortgangs der Erzählung und die Konzentration auf die Paradigmen der Kataloge sozusagen auf engstem Textraum geleistet. 9 Die Listen stellen Aufzählungen dar, die der rhetorischen Stilfigur der Häufung folgen und jederzeit erweiterbar sind. Statt eine klare Form zu haben, eignet ihnen in ihrer programmatischen Unabgeschlossenheit eine Tendenz zur ausufernden Wucherung. Rabelais und Fischart dekontextualisieren res und verba aus ihren ursprünglichen Zusam‐ menhängen und bauen neue Paradigmen auf. Die Listen dienen zwar auch als Sammlung und Schauraum von Wissen und zeigen bestimmte Organisationsprinzipien, doch sie sind mehr als enzyklopädische Erweiterungen des Textes, die lediglich Wissen in die Romane inkorporieren. Bereits bei Rabelais stellen sie weniger eine neue Systematik aus, als dass sie zeitgenössische und ältere gelehrte Ordnungen und Praktiken verspotten, und zwar allen voran jene der Sorbonne. In grotesker Verzerrung gelehrter und literarischer Texte wird auch bei Fischart zeitgenössisches und älteres Wissen parodiert. Darüber hinaus bezieht sich die Persiflage beider Autoren aber auch auf die zeitgenössischen Versuche der Anordnung des Wissens, die Modelle seiner Verwaltung, Bewahrung und Repräsentation, wie sie besonders in enzyklopädischen Werken zum Ausdruck kommen, die Begriffe wie Theatrum, Bibliotheca oder Florilegium im Titel führen. 10 Indem die Listen und Kataloge die zeitgenössischen Bestrebungen der Akkumulation von Dingen, Büchern und Wörtern 418 Beate Kellner 11 Vgl. aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Konzepten des Sammelns generell und beson‐ ders auch in der Literatur etwa: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998 (Literatur und Anthropologie 1); Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, hg. von Anke te Heesen und Emma C. Spary, Göttingen 2001; Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, hg. von Barbara Marx und Karl-Siegbert Rehberg, München/ Berlin 2006, darin besonders: Karl-Siegbert Rehberg, „Schatzhaus, Wissensverkörperung und ‚Ewigkeitsort‘. Eigenwelten des Sammelns aus institutionenanalytischer Perspektive“, S. XI-XXXI; Collectors’ Knowledge. What is Kept, What is Discarded. Aufbewahren oder wegwerfen - Wie Sammler entscheiden, hg. von Anja-Silvia Goeing, Anthony Grafton und Paul Michel, Leiden/ Boston 2013 (Brill’s Studies in Intellectual History 227); Ulrich Stadler und Magnus Wieland, Gesammelte Welten. Von Virtuosen und Zettelpoeten, Würzburg 2014; Sammeln. Eine (un-)zeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017 (Würzburger Ringvorlesungen 12). 12 Vgl. Umberto Eco, Die unendliche Liste, München 2011, S. 244-275. 13 Vgl. etwa Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. nachbilden und gleichzeitig parodieren, werden Rabelais’ und Fischarts Romane selbst zum Medium des Sammelns und zugleich zu seiner Reflexionsform. 11 Dadurch dass gerade auch das Niedrige und Lächerliche in schier unendlicher Reihung geboten wird, wirken die Listen nicht selten absurd. Das zeigt sich zum Beispiel in der Zusammenstellung der verschiedensten Arten, sich den Arsch zu wischen (Gargantua, c. 13, S. 38-42; Geschichtklitterung, Kap. 16, S. 196-201) oder an den Reihen von vollen und leeren Hoden (Tiers livre, c. 26, S. 432-434, und c. 28, S. 439-441) oder der nicht enden wollenden Liste von Gargantuas Spielen (Gargantua, c. 22, S. 58-64; Geschichtklitterung, Kap. 25, S. 238-251). Im Blick auf Rabelais hat Umberto Eco von einer Rhetorik des Exzesses gesprochen, 12 für Fischart gilt das einmal mehr. Zugleich verschiebt sich im Zusammenhang mit den Listen, Einschüben und Katalogen das Interesse immer wieder auf Phänomene der Sprache, auf Metrik, Rhythmus und Klang. Gerade wenn der Sachbezug in den Hintergrund tritt, geht es häufig eher um die Relationen zwischen den Signifikanten als um diejenigen zwischen den Signifikaten. Im literarischen Kontext ist ohnehin stets der Doppelaspekt der enumeratio von res und verba im Blick zu behalten. Insgesamt rückt die Ebene der Performativität in den Vordergrund. Listen, Reihen und Kataloge sind jedenfalls weder bei Rabelais noch bei Fischart eine den Handlungsverlauf bloß störende Zutat, mit der die Forschung in der Regel, abgesehen von der positivistischen Erschließung der versteckten Verweise, wenig anzufangen wusste. Bei näherem Zusehen spielen gerade diese Phänomene, in denen sich die parodistische Verkehrung der Diskurse und Ordnungsprinzipien des zeitgenössischen Wissens sowie der zeitgenössischen Sammlungskonzepte immer wieder Bahn bricht, eine besondere Rolle für die Poetik des Textes, denn sie stellen diese wie in einer mise en abyme aus. II Die Liste und die Genealogie des Helden. Zum ersten Kapitel in Fischarts Geschichtklitterung Das im Mittelalter und der Frühen Neuzeit gleichermaßen als Muster der Legitimierung von Herrschaft verbreitete Denkmodell der Genealogie 13 wird bereits bei Rabelais ad absurdum geführt. Ganz im Stil genealogischer Rekonstruktionen wird der Stammbaum 419 Poetik der Liste 14 Auch hier wird zitiert nach Huchon (Hg.), Œuvres complètes (wie Anm. 1). 15 Rabelais, Pantagruel, c. 1, S. 217-222. 16 Vgl. Rabelais, Pantagruel, c. 1, S. 217. 17 Ab 1535 werden sie getilgt. 18 ‚Und der erste war Chalbroth, der zeugte Sarabroth, der zeugte Faribroth, der zeugte Hurtaly, der ein großer Suppenesser war und zur Zeit der Sintflut regierte; […] der zeugte Mabrun, der zeugte Foutasnon, der zeugte Hacquelebac, der zeugte Vitdegrain, der zeugte Grandgousier, der zeugte Gargantua, der zeugte den edlen Pantagruel, meinen Gebieter‘. der Riesenfamilie im Pantagruel (1531/ 1532), 14 dem der Entstehung nach ersten Buch der Pentalogie, entwickelt und auch entsprechend den genealogischen Leitideen von hohem Alter und lückenloser Kontinuität in ununterbrochener Linie bis zu den Erzvätern des Alten Testaments hinabgeführt. 15 Indem Rabelais vom Ursprung der Genealogie des Pantagruel erzählen will, gibt er vor, sich an die historiographische Praxis verschiedener Völker anzuschließen. 16 Die Hinweise auf Matthäus und Lukas und damit auf die Stammbäume Jesu in den Evangelien (Mt 1,1-17; Lc 3,23-38) finden sich zwar nur in den frühesten Ausgaben des Pantagruel, 17 dennoch ist die Genealogie des Helden ganz deutlich an den biblischen qui-genuit-Stammbäumen des Alten und Neuen Testaments orientiert, in denen die Matrix mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Modelle des Genealogischen zu sehen ist. Um einen Eindruck zu geben, seien der Anfang und das Ende der Genealogie Pantagruels zitiert: El le premier fut Chalbroth, Qui engendra Sarabroth, Qui engendra Faribroth, Qui engendra Hurtaly, qui fut beau mangeur de souppes, et regna au temps du deluge, Qui engendra Nembroth, Qui engendra Athlas, […] Qui engendra Mabrun, Qui engendra Foutasnon, Qui engendra Hacquelebac, Qui engendra Vitdegrain, Qui engendra Grand Gosier, Qui engendra Gargantua, Qui engendra le noble Pantagruel mon maistre. (Pantagruel, c. 1, S. 219-221) 18 Die Liste der genealogischen Vertreter des Stammbaums stellt eine Digression im Erzählver‐ lauf dar, die vermeintlich lückenlose Abfolge der Generationen wird durch die Zusammen‐ stellung erfundener und nicht erfundener Namen aus der Bibel, der griechisch-römischen Mythologie, der mittelalterlichen und zeitgenössischen Literatur sowie der Geschichte und nicht zuletzt auch durch die in den Namen der Giganten versteckten Späße und Obszönitäten als Fiktion entlarvt. So sind die ersten drei Namen des zitierten Ausschnitts, Chalbroth, Sarabroth, Faribroth erfunden, aber in der Wortbildung und klanglich an Namen aus dem Alten Testament angelehnt. Mit Nembroth (Nimrod) kommt der in Gen 10,8f. erwähnte Jäger ins Spiel, nach ihm wird die Reihe mit Athlas, dem Titanensohn, fortgeführt. Nach Mabrun, einer Gestalt aus dem Fierabras, sind die letzten oben aufgeführten Namen 420 Beate Kellner 19 Für die Erschließung des Kapitels waren die wichtigsten Hilfsmittel: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854-1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971; vgl. dazu die Neubearbeitung durch die Arbeitsstellen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (im Folgenden zitiert als DWB, zweite neu bearb. Aufl. online verfügbar unter: http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB [Zugriff am 31.3.2020]); Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, derzeit 15 Bde, Berlin u. a. 1989-2018. 20 Vgl. DWB, Bd. 25, Sp. 69f. 21 Vgl. DWB, Bd. 3, Sp. 798f. 22 Ausgeführt bei Rabelais im Pantagruel, c. 1, S. 217-222. der Reihe vor Grand Gosier (Grandgousier) wieder Phantasienamen mit teilweise deutlich obszönem Doppelsinn, so z. B. Foutasnon zu foutre, beischlafen, oder Vitdegrain, eine Bildung mit vit (‚Hahn‘) für Penis. Immer wieder werden die ‚großen‘ Vorfahren mit nichtigen Erfindungen und Tätigkeiten zusammengebracht: Erinnert sei etwa auch an Happemousche, den Fliegenhascher, welcher das Räuchern von Rindszungen im Kamin erfunden haben soll, oder Enay, der sich im Entfernen von Milben aus den Händen ausgezeichnet habe (Pantagruel, c. 1, S. 220). Die Parodie und Kritik des Genealogischen als Modell der Legitimierung von Herrschaft sowie als Begründung von Ehre und Ansehen, die Rabelais im Pantagruel am Modellfall der Riesengenealogie durchgespielt hat, wird im Gargantua verallgemeinert. Fischart führt diese Tendenz in seiner Übertragung weiter und übersteigert sie im Kapitel Von veralteter Ankonfft des Gorgollantua von Gurgelstroslingen, unnd wie wunderlich dieselbige Antiquitet erfunden und biß hieher erhalten worden (Kap. 1, S. 32-44). 19 Der Ausdruck veraltete Ankonfft ist zum einen auf die verspätete Geburt Gargantuas zu beziehen, denn die Schwangerschaft der honigsüßen Gargamella dauert elf Monate, zum anderen verweist sie aber auf die vermeintliche Herkunft des Knaben von einer Dynastie hohen Alters und zum dritten deutet sie mit dem veralten im Sinne von unbrauchbar werden auch schon die Kritik an den genealogischen Ableitungen an. 20 Überdies ist die Einführung Gargantuas auch im Erzählablauf mehr als überfällig. Der zweite Teil der Überschrift kündigt dagegen die wunderlich, d. h. merkwürdige, aber auch wundersame Auffindung des Stammbaums im Riesengrab an. Die Semantik des Verbums erfinden umfasst ähnlich dem lateinischen invenire frühneuhochdeutsch das Finden an einem Ort, das Entdecken und das Erfinden als sich etwas Ausdenken 21 und bietet mithin schon erste Hinweise darauf, dass die Genealogie und die Geschichte von der Entdeckung des Stammbaums im Riesengrab erfunden sind. Man könnte darin eine poetologische Spiegelung der Fiktionalität der Geschichte sehen, zugleich aber auch ein Spiel mit der Topik als Feld der Rhetorik, wo man die Argumente und Beispiele - räumlich gedacht - an loci communes auffinden kann. Der letzte Teil der Überschrift betont dann aber gegenläufig zur Vorstellung der Erfindung, dass sich der Stammbaum von hohem Alter (Antiquitet) tatsächlich erhalten habe. Die Überschrift des Kapitels zeigt jedenfalls Fischarts Prinzip der Übersteigerung der Rabelais’schen copia verborum und des damit verbundenen Anspielungsreichtums bereits deutlich an. Der französische Autor beginnt sein Kapitel überraschend mit einer Aussparung, näm‐ lich einem Hinweis auf die Genealogie des Gargantua, die er an dieser Stelle nicht erzählen wolle und die man im Pantagruel, dem zweiten Buch der Pentalogie, nachschlagen könne (Gargantua, c. 1, S. 9). 22 Fischart erweitert die Hinweise zu dem, was die Erzählerfigur zu 421 Poetik der Liste 23 DWB, Bd. 10, Sp. 88f. 24 Ich danke Tim Jackson für den Hinweis, dass kern im Irischen ‚Krieger‘, ‚Soldat‘ bedeutet, eine Bedeutung, die hier vielleicht mitschwingen könnte. tun oder zu lassen beabsichtigt, erheblich. Indem er die Leser mit der Vorstellung eines nach Wasser lechzenden Pferdes in Verbindung bringt, überträgt er die Idee des Lesens poetologisch auf die Ebene des Trinkens bzw. Saufens von Tieren: Damit nicht das Wasserlechtzend Pferd mit durstgirigem übertrincken verfang, muß ich euch die erste brunst anzihen unnd einzäumen: Dann was wer mir mit euerem schaden gedienet? derhalben laßt es euer lieb nicht verschmehen, daß ich so frü die auff die Haberweid schlag, und gleich nun zu anfang hindersich zu ruck inn die grosse Pantagruelinische oder Alldürstige Chronic verweise. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 32) Der Erzähler möchte die Leser vor dem gierigen und übermäßigen Trinken und Luft Schnappen (übertrincken) bewahren, ihr übermäßiges und wildes Begehren nach dem Text (brunst) im Zaum halten und zügeln (anzihen unnd einzäumen), um sie, wie er vorgibt, zu schützen und nicht zu Schaden kommen zu lassen. Stattdessen will er die Leser alias Pferde auff die Haberweid schicken, den abgemähten Haferacker, wo sie noch die verbliebenen Reste nach der Mahd abweiden könnten. Da die in Süddeutschland bezeugte Redensart, ‚jemanden auf die Haberweide schlagen‘ so viel bedeutet, wie ihn schlecht versorgen und vernachlässigen, 23 will Fischart die Leser in vermeintlicher und vorgetäuschter Fürsorge vom Besseren abhalten, indem er sie auf das Schlechtere verweist. Er spielt mit der Erwartungshaltung der Leser und enttäuscht sie, doch zugleich antizipiert er auch schon, was die Leser im zweiten Buch des Pantagruel finden werden, und dies wächst sich zu einer ersten kleinen Liste dieses Kapitels aus: allda ihr im andern Buch, welches auff diß folgt, werd unsers Gurgel Lantua Ururan register, Geschlechttafel, unnd Geburtsstafel nach allem begeren zuvernemmen haben, wie die Risen, die Siren, die Recken, die Kern, die Kerles, die Helden auff die Welt kommen, und unser Gurgelstrossa nach direchter gerader lini von ihnen abgestigen seie. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 32) Der deutsche Autor vertröstet die Leser hier auf ein Buch, das er später nicht übersetzen wird, auf das er sein Publikum aber nichtsdestotrotz schon neugierig macht. Lexikalisch verdreifacht er hier nicht nur die Vorstellung des Geschlechtsregisters (Ururan register, Geschlechttafel, unnd Geburtsstafel), indem beide Nomen des Kompositums variiert werden - Ururan, Geschlecht und Geburt sowie -register, -tafel und -stafel - und besonders lange, die zeitliche Tiefe anzeigende Wörter wie Ururan register über die Verdopplung der Silbe Urerzeugt werden, sondern es wird vor allem auch das Thema der Riesengenealogie angeschlagen und durchgespielt. So wird mit Risen ein Buchstabenspiel betrieben, indem die ersten drei Buchstaben von hinten gelesen und daran die zwei letzten angehängt werden. Siren ahmt Risen nicht nur klanglich nach, sondern darin stecken auch als zusätzliche Dimension ‚die Herren‘ von altfranzösisch sire. Die Recken sind eine Variante für Helden, ebenso die Kern, 24 in denen man auch die Quintessenz, den Kern eines Geschlechts sehen kann. Von ihnen geht es lautlich weiter zu den Kerlen (Kerles) und dann zu den Helden, von 422 Beate Kellner 25 Vgl. Rabelais, Pantagruel, c. 1, S. 217. 26 Dies gilt zum Beispiel im Umkreis Kaiser Maximilians bei Jacob Mennel, der besonders im soge‐ nannten Zaiger, einer bilderbuchartigen Kurzversion zu seinem Werk Fürstliche Chronick, genannt Kayser Maximilians Geburtsspiegel, Wien, Österr. Nationalbibl., cvp 3072*-3077, mit der Symbolik der Leitern arbeitet. Vgl. Österr. Nationalbibl., cvp 7892, Bl. 23r-25r. Vgl. dazu und allgemeiner zu genealogischen Legitimationsmustern am Kaiserhof Beate Kellner, „Formen des Kulturtransfers am Hof Kaiser Maximilians I. Muster genealogischer Herrschaftslegitimation“, in: Kulturtransfer am Fürstenhof. Höfische Austauschprozesse und ihre Medien im Zeitalter Kaiser Maximilians I., hg. von Matthias Müller, Karl-Heinz Spieß und Udo Friedrich, Berlin 2013 (Schriften zur Residenzkultur 9), S. 52-103. denen Gargantua in gerader Linie herabgestiegen sei, was das im Wort Geburtsstafel ent‐ haltene Bild einer Leiter wieder aufnimmt und in einem Kontinuitätsphantasma entfaltet. Sodann gerät der deutsche Text bereits über Rabelais’ Ausruf ins Stocken, wie gut es doch wäre, wüsste jeder seine Herkunft von Noah an bis zur Gegenwart (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 9). Fischart dreht und wendet diese Vorstellung hin und her, indem er die Idee der genealogischen Kontinuität von der Sintflut bis zur Gegenwart und mithin Rabelais’ Rede von Quelle und Ursprung (source et origine) im Pantagruel  25 beim Wort nimmt und schließlich auf das Schöpfen von Wasser aus der Arche Noah bezieht, um im nächsten Schritt auch dieses Bild sprachlich weiter zu bearbeiten: O wie köstlich gut wer es, daß jederman sein geburtsregister von staffel zu staffel und stigenweiß so gewiß auß dem Schiff Noe schöpffen, Bronnenseylen, auffkranen, dänen und ziehen könte […] (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 32). Auch hier lässt sich sehr gut erkennen, wie das Prinzip der Erweiterung bei Fischart funktioniert: Die Vorstellung, man sollte seine Genealogie Glied für Glied bis in die älteste Vergangenheit kennen, wird über die Doppelung von staffel zu staffel und stigenweiß auf Sprosse, Stiege, Leiter und Treppe übertragen, die tatsächlich in der Frühen Neuzeit als Darstellungsprinzipien des Genealogischen verwendet wurden. 26 Dann wechselt die Metaphorik auf das Schiff Noe und die mit ihm verbundene Vorstellung des Wassers, aus dem man schöpfen kann. Hinter dem Schiff ist paradigmatisch der Begriff der Arche zu sehen, der im Griechischen für Anfang und Ursprung steht. Das Bildfeld des Wassers wird dann auf die Quelle und insbesondere den Brunnen übertragen, aus dem man Wasser mit einer Seilwinde oder einem Kran (Bronnenseylen, auffkranen) aus der Tiefe heraufbringen kann, wobei der Gedanke des Ziehens über seylen, auffkranen, dänen und ziehen vervierfacht zum Ausdruck gebracht wird. Parodiert wird damit nicht nur das Bemühen, Genealogien bis auf ihren Anfang zurückzuführen, sondern zugleich auch das humanistische Programm einer Rückkehr zu den alten ‚Quellen‘, die es aufzufinden gilt, um aus ihnen zu schöpfen, was im späteren Verlauf des Kapitels noch eine größere Rolle spielen wird. Doch zunächst richtet sich Fischarts Aufmerksamkeit im endlosen Durchspielen des mater certa, pater incertus zunehmend auf den Aspekt der sexuellen Vermischung der Geschlechter und Völker, der jede genealogische Zuordnung subvertiert, da es angesichts der überbordenden Promiskuität in der Welt keine genealogische Gewissheit geben könne. Der genealogische Diskurs mündet hier nicht in Inszenierungen des Wunderbaren, des Be‐ 423 Poetik der Liste 27 Vgl. dazu ausführlicher auch Kellner (wie Anm. 9), hier S. 389-393. 28 Das Wort kegel gibt es in beiden Bedeutungen. Vgl. DWB, Bd. 11, Sp. 387, Sp. 389. 29 Vgl. DWB, Bd. 11, Sp. 384, mit Belegen. 30 Dies wird besonders deutlich, wenn man hinter Schnacken/ Schnaken nicht nur die Mücken, sondern auch die Bedeutungen ‚Geschwätz‘, ‚witziger Einfall‘, ‚Anekdote‘ und ‚scherzhafte Erzählung‘ mithört. Vgl. die Belege unter „Schnack, schnacke, schnake“, in: DWB, Bd. 15, Sp. 1151‒1157. sonderen und des Transzendenten zur Auszeichnung und Legitimierung von Geschlechtern und ihrer Ursprünge, sondern in Gewalt und sexuellen Exzess: 27 Also kugelts im kreiß herumb, wie solt es nicht kegel geben: Ja daß ich geschweig des verreisens, migrirens, verruckens unnd auffbrechens etwann gantzer Länder unnd Völcker von wegen plagung der Mäus und Schnacken. Darvon gantze Postillen von Noe Kasten auß vorhanden, der Goten, Wandeln, Langparten, Nortmannen, Saracenen, Marckmannen, Wenden, Sclaven, Rugen, Walen, die untereinander gehurnauset, gewalet, gewandelt und gewendet haben, wie ein Hafen voll Beelzebub‐ mucken: also daß es dem Wolffio im Scipionischen Himmel noch ein lust herab zusehen gibt, daß die Mirmidonische zweibeynige Omeysen hie unten noch also durch einander haspeln unnd graspeln. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 34) Im Bildfeld des Kugelns, Kreisens und der Kegel, das die genealogische Vermischung der Reiche, Völker, Stämme und Religionen im alliterierenden Klangspiel zum Ausdruck bringt, wird die Vorstellung nahegelegt, dass aus dem Kugeln und Wälzen der Eltern im Geschlechtsakt kegel im Sinne von groben, rohen Kerlen und unehelichen Kindern hervorgehen. 28 Zugleich kann man vielleicht auch an das Umhauen der Kegel durch die Kugel im in der frühen Neuzeit weit verbreiteten Kegelspiel denken, 29 was zum Gedanken der Umwälzung der Reiche, der Ersetzung des einen durch ein anderes Reich und der Migration der Völker passen würde, bei der ein Volk an die Stelle eines anderen rückt. Darum geht es, wenn Fischart auf die paradigmatische Kette des verreisens, migrirens, verruckens unnd auffbrechens etwann gantzer Länder unnd Völcker zu sprechen kommt und mit der Begründung dieser Wanderungen durch Mäuse- und Mückenplagen den Gedanken auf die biblischen Plagen wie die Stechmückenplage (Ex 8,13) bezieht, zugleich aber mit Nichtigkeit unterlegt und parodiert. 30 Wenn aus den Völkerwanderungen ganze Postillen aus Noe Kasten gekommen sein sollen, so wird hier nicht nur erneut an die Arche Noah erinnert, sondern in der Postille verbergen sich einerseits die Nachfahren, posteri, sowie andererseits vor allem auch Predigtbücher, die ausgehend von den Sonntags- und Festtagsevangelien oder den entsprechenden Episteln (post illa verba sacrae scripturae) verfasst sind und sich daher auch in gewissem Sinne ‚genealogisch‘ davon ableiten lassen. Gerade hier sieht man, wie über den Klang plötzlich ein ganz anderes Themenfeld eingespielt wird. Möglicherweise zielt Fischart zugleich auch auf die Missionierung der heidnischen Völkerschaften durch biblische, paränetische und katechetische Texte. Das Hervorkehren der Aspekte von Sexualität und Gewalt wird immer wieder durch das Ausmünzen obszöner Zweideutigkeiten der Sprache potenziert. Im Sinne semantischer Steigerungen wird schon bei der Aufzählung der Völkernamen und Völkerwanderungen das sexuelle Thema angeschlagen, etwa in den Wendungen, die zugleich mit den Völker‐ namen spielen, die untereinander gehurnauset, gewalet, gewandelt und gewendet haben und noch also durch einander haspeln und graspeln. Zugleich zeigt sich in gehurnauset auch 424 Beate Kellner 31 Vgl. Howard Bloch, Etymologies and Genealogies. A Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago/ London 1983. 32 Vgl. Hieronymus Wolfs Scholien zum Somnium Scipionis, Basel 1596; und Hieronymus Wolf, In Ciceronis Officia, Catonem, Laelivm, Paradoxa, Et Scipionis Somnivm. Commentarij atque Scholia, Basel 1584. 33 Zugleich könnte die Passage auch auf den Traum des Zeussohnes Aiakos zielen: Jener träumte, dass von einer Zeus geweihten Eiche große Mengen von Ameisen fielen, die zu Männern wurden. Vgl. Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 34. Nyssens Kommentar zur zitierten Stelle ist allerdings sehr lückenhaft und ergänzungsbedürftig. 34 Vgl. etwa Fischart, Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 35. die Vorstellung von den Völkern als Hornissenschwärmen. Fischart reizt die Namen der Völker aus und parodiert auf diese Weise auch die in genealogischen Ableitungen der verschiedensten Völker und Geschlechter genutzte Nähe von Genealogie und Etymologie. 31 Dass die sexuelle Vermischung der Völker und Stämme als Bastardisierung abgewertet wird, zeigt sich auch im Vergleich mit dem Hafen voll Beelzebubmucken. Man denkt nicht nur an einen Schwarm von Mücken, der in einem Topf kreist und sich fortpflanzt, sondern die Vorstellung wird über den Beelzebub auch als teuflisch gekennzeichnet. Dann springt Fischart von der Erwähnung des Teufels gedanklich sozusagen in den Himmel, aber nicht in den christlichen, sondern in das Jenseits des ciceronianischen Som‐ nium Scipionis. Einem gewissen Wolffio, hinter dem sich wohl der Augsburger Humanist Hieronymus Wolf verbirgt, 32 sei es eine Lust, von dort aus auf das Treiben der Menschen herabzusehen, das aus seiner Perspektive wie das Durcheinander eines Ameisenhaufens wirke: also daß es dem Wolffio im Scipionischen Himmel noch ein lust herab zusehen gibt, daß die Mirmidonische zweibeynige Omeysen hie unten noch also durch einander haspeln unnd graspeln. Fischart mengt in dieses Bild auch einen Mythos ein, indem er auf Myrmidon anspielt, dessen Tochter von Zeus in Gestalt einer Ameise verführt worden sei. 33 An den zitierten Textstellen wird deutlich, wie die Wanderung, Verschiebung und Vermischung von Völkern, Reichen und Geschlechtern in Beziehung zu Schädlingen wie Mäusen und Insekten wie Hornissen, Mücken und Ameisen gesetzt wird. Zugleich zeigt Fischart in diesem Kapitel der Geschichtklitterung immer wieder, dass die Unzucht der Mönche und Nonnen an der Verwirrung und Vermischung der Völker, Geschlechter und Sprachen einen ganz besonderen Anteil hat. 34 Im Folgenden ersetzt der deutsche Autor den Gedanken Rabelais’, Gargantuas Genea‐ logie sei lückenloser erhalten als jede andere außer der des Messias (Gargantua, c. 1, S. 10), durch den Hinweis, die Genealogie des Bürschchens (bürstlein) sei durch den Einfluss des Himmels ihrer Substanz (in Esse von lat. esse) sowie ihrem Alter und ihrer Größe nach (Altiquitet spielt mit ‚Antiquität‘, mit deutsch ,alt‘ und lateinisch altus für ‚hoch, tief ‘) besser als andere überliefert (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 39). Die vielen anderen werden dann in einer exuberanten Geschlechterliste zusammengestellt: Ich sprich, daß auß sonderer Inflissung des Himmels zu lieb dem eingissenden bürstlein, die Altiquitet, und das geschlecht des Herren Gorgulantua vor andern sey in Esse erhalten: und vil besser dann der Harlunger, Amelunger oder Bechtunger Stammen, oder des Mandafabul, des treiäugigen Horribel, Riß Rupran, Goffroi mit dem Zan. Ja dann des faulschalen Dietrichs von Bern Gapt unnd Hundsleyter: des Margeckischen unnd Beckischen Brabons Handwerber: des Werlischen Antier Kükopff, dann des Preto 425 Poetik der Liste 35 Vgl. zur Liste die relativ wenigen und nicht selten von den folgenden Ergebnissen abweichenden Hinweise bei Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 39f., und bei Gerd Schank, Etymologie und Wortspiel in Johann Fischarts ‚Geschichtsklitterung‘, 2., mit Literaturnachträgen ergänzte Auflage, Kirchzarten 1978, S. 272-471, passim. 36 Vgl. zu den bisherigen Angaben auch Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 39. 37 Des streitbaren Helden Amadis auß Franckreich Sehr schoene Historien, Das Ander Buch, Frankfurt a. M. 1583, S. 75. Johan Davidsstamm: des Schiffmans unnd Volterra Abentinischer Perleon: des Gebwilers Noachisch Priam: dann Leckus unnd Zechauß, des Humels Danman, Angul und Gramm: der Engelländer Brut: der Schotischen Königsmänner Barn, Fergauß unnd Malcolm: der Venetisch Antenor: der Zürcherklößlin Arlischer Turich: der Tellischen Brudermörder Tschei Schwiter, wie auch der Römer Wolffsauger Rümel, der Winckelritischen Unterwälder Silvanischer Rumo, der Laterner zorniger Sepilat, und meiner Treuwoner unnd Treierischen Semiramischer Treues Treiwetta, der Statt Damasc und Trier Schwester Solotorn Sol Abraham, gleich wie der Märckischen Saltzwedeler Sol, der Basilisckischen Baßlerlößlin Basilius, meiner Menzerischen Landsleut Trauianischer Magunt, der Metzer Römisch Metius, der Ama‐ zonischen Augspurger Japetisch Frau Eisen, der Kölner Troianisch Colon, der Brantenburger Wallisch Brenno, der Grüninger Priamisch Grun, der Wickbodischen unnd Trutgrimmischen Lubecker Bonnisch Luba: der Brothaufisch Berenringer, der Lonenburger Jobstisch Frau Laun, deren von Turs Rutulischer arm verjagter Teuffel Turnus, der Frantzosen Gilischer unnd Ronsardischer Priamischer Francio, der Treisener von Dreux Panische Trutenfüß, der Nortwindigen Nörtlinger unnd Nörnberger Nero, der Windwunischen Wiener Blauer Bonenfresser Fabian, der Marckmirischen Marburger Mördischer Mars, der Francksachsischen Franckforter Frau Helena, der Wimpfischen Weiberpeiniger Jungfrau Corneli, der Müllerischen Erforter Erfft, der Fechterischen Hamburger Starckhaterischer Hama, der Offenburger Heiser Englischer König Ofen: der Grochauer Lechischer Cracke: der Gewürtzherben Wurtzeldelber Wörtzburger Plutonischer Herebus: wie auch der Clareanischen Schweitzer Höllvatter Pluto: der Magdeburger Kräntzlinmacherin Jungfrau Venus: der Zwickauer Cidnus, der Churer Kurio: der Wädelburger Wadelloser begrabener Quedelhund: der Mänicher gefundener Mönchskopff, wie der Cartager Roßkopff, unnd der Indischen Bucephaler Kufalkopff Und entlich (daß ich auß der Welt komm) viel besser als der schönsten wüsten unfletigen Parisischen Pastetenbecken, Weibische Hundsfutt Paris von Troia: oder deren, die nur ihr geschlecht auß Armenien und Archadien, von Römern, Kolumnesern und Ursinern herzihen wöllen. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 39f.) 35 Zuerst werden mit den Harlungern und Amelungern, also den Amalern, ostgotische Königsgeschlechter genannt, deren Schicksale in den Sagen um Dietrich von Bern fortleben, von dem wenig später die Rede ist. Ihnen an die Seite werden die Berchtunger (hier: Bechtunger) gestellt, die von Berchtung von Meran, einer Figur aus der Wolfdietrichsage abgeleitet sind. Zum Umfeld der germanischen Heldensage, das Fischart hier aufruft, passt auch der Riese Rupran oder Kupran, bei dem es sich um einen Gegner Siegfrieds im Hürnen Seyfrid handelt. 36 Manafabul aus dem Amadisroman  37 ordnet sich hier über das Stichwort ‚Riese‘ zu. Der im Französischen ( Jean d’Arras; Couldrette) und Deutschen (Thüring von Ringoltingen) bezeugten Melusinensage, in der die Genealogie eine zentrale Rolle spielt, entstammen die in der Liste zitierten Melusinensöhne Goffroi mit dem Zan und der dreiäugige Horribel. In der Phrase des faulschalen Dietrichs von Bern Gapt und Hundsleyter wird eine Verbindung des hier über die beiden Adjektive faul und schal als zweifelhaft und negativ gekennzeichneten Helden Dietrich von Bern mit dem bei Jordanes erwähnten 426 Beate Kellner 38 Vgl. Schank (wie Anm. 36), S. 322, mit Belegen. 39 Vgl. Jan F. D. Blöte, Das Aufkommen der Sage von Brabon Silvius, dem brabantischen Schwanritter, Amsterdam 1904 (Verhandelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam. Afdeeling Letterkunde. Nieuwe Reeks. V, 4). 40 Vgl. ebenfalls Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 38: daher der Weckenruffer Goropius sagt, […]. 41 Vgl. Johannes Goropius Becanus, Origines Antwerpianae, Antwerpen 1569, lib. II, S. 137. Die Geschichte wird noch heute auf einer Statue vor dem Antwerpener Rathaus gezeigt. 42 So auch bei Johannes Stumpf, Gemeiner Loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen vnd Völckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung, 2 Bde., Zürich 1548, Bd. 2, Bl. 207rv, der auf die Nachricht des Raphael Volaterrenus als Herleitung der Habsburger eingeht. 43 Ebenfalls bei Stumpf (wie Anm. 43) erwähnt, Bl. 207v. Möglicherweise diente Stumpf als Quelle für beide Hinweise. 44 Vgl. Liederbuch aus dem 16. Jahrhundert, hg. von Karl Goedeke und Julius Tittmann, Leipzig 1867 (Deutsche Dichter des 16. Jahrhunderts 1), S. 382f. 45 Vgl. etwa Friedrich Wilhelm von Wedel-Jarlsberg, Abhandlung über die ältere scandinavische Ge‐ schichte von den Cimbrern und den Scandinavischen Gothen, Kopenhagen 1781, mit Quellenverweisen, S. 286. Stammvater der ostgotischen Amaler namens Gapt hergestellt. 38 Mit Brabo für Silvius Brabo kommt der sagenhafte Stammvater der Brabanter ins Spiel. 39 Als Quelle verweist Fischart über Beckisch auf den Niederländer Johannes Goropius Becanus (1518-1572), auf den er auch sonst öfter Bezug nimmt. 40 In seinen Origines Antwerpianae berichtet Goropius den Gründungsmythos Antwerpens, nach dem der Held Silvius Brabo einen Riesen getötet, ihm die rechte Hand abgeschlagen und ihn danach in den Fluss geworfen haben soll. Zur Erin‐ nerung an diese Tat sei ein castrum mit dem Namen Hantwerpum errichtet worden, wovon der Name Antwerpen abgeleitet worden sei. 41 Fischarts Handwerber erweist sich vor diesem Hintergrund als ein Wortspiel mit dem Epitheton des Helden ‚Handwerfer‘. Die Wendung des Werlischen Antier Kükopff erklärt sich über den Stier als Wappentier (Antier, ‚Ahntier‘) der Fürsten Werle in Mecklenburg. Das fürstliche Haus Werle mit seinem Stammvater Nikolaus I. (1227-1277) stellt eine Nebenlinie des mecklenburgischen Fürstengeschlechts der Obodriten dar. Erwähnt wird auch der Davidsstamm des sagenhaften Priesterkönigs Johannes, Preto Johan, und kryptisch angedeutet ist die auf Raphael Volaterrenus (Raffaele Maffei da Volterra, italienischer Humanist, 1451-1522) zurückgeführte Vorstellung, die Grafen von Habsburg seien auf das altrömische, am Aventin ansässige Geschlecht des Pe‐ trus Perleon zurückgegangen. 42 Auf die Straßburger Chronik des Humanisten Hieronymus Gebwiler (1480-1545) führt Fischart die genannte Abstammung des Priamus von Noah zurück, womit eine Verbindung der von Troja hergeleiteten Genealogien mit den biblischen Genealogien geleistet wird: des Gebwilers Noachisch Priam. 43 Mit Leckus, dem Kumpan von Lumpus spielt Fischart möglicherweise auf ein Meisterlied im kurzen Ton des Hans Sachs an, 44 die Zusammenstellung mit Zechauß, verstanden als Spottname für einen Trinker im Sinne von ‚die Zeche ist aus‘, zeigt, dass es sich hier um Fresser und Säufer handeln soll, deren vermeintliche Genealogie in parodistischer Absicht, passend zu Gargantuas Fress- und Sauflust, in den Katalog geschmuggelt worden ist. Hinter Humels Danman, Angul und Gramm verbergen sich dagegen die sagenhaften dänischen Könige Humblo und seine Nachfahren Dan und Gram sowie Angul, der Epo‐ nymos der Angeln. 45 Mit dem Engelländer Brut ist zweifellos Brutus von Troja gemeint, der als direkter Nachfahre des Aeneas galt. Nach der Historia regum Britanniae des 427 Poetik der Liste 46 Geoffrey of Monmouth, The history of the kings of Britain. An edition and translation of ‚De gestis Britonum‘ (‚Historia regum Britanniae‘), hg. von Michael D. Reeve, Woodbridge 2009, lib. 1, c. 3-18. 47 Vgl. Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 39. 48 Vgl. Ilse Haari-Oberg, Die Erfindung von Geschichte in der Schweizer Chronistik. An den Beispielen der Trierer Gründungssage und der ‚Germania‘ des Tacitus im 16. und 17. Jahrhundert, Basel 2019, S. 91. Der Ausdruck Zürcherklößlin spezifiziert die Zürcher als ‚Klöße‘, dumme Menschen, Tölpel. Vgl. DWB, Bd. 11, Sp. 1248. 49 Vgl. Stumpf (wie Anm. 43), mit Berufung auf Aegidius Tschudis Chronicon Helveticum, Bd. 1, 268r, Bd. 2, 177rv. Ich danke Klaus Kipf für wertvolle Hinweise dazu. 50 Vgl. Viktor Weibel, Schwyzer Namenbuch. Die Orts- und Flurnamen des Kantons Schwyz, unter Mitarbeit von Albert Hug hg. vom Kuratorium Schwyzer Orts- und Flurnamenbuch unter der Leitung von Toni Dettling, 6 Bde., Schwyz 2012, Bd. 4, S. 402-408, mit reichem Belegmaterial. Der wohl erste Beleg (zitiert ebd., S. 405f.) findet sich in der aus dem Jahr 1479 stammenden Superioris Germanie Confoederationis descriptio des Mönches Albrecht von Bonstetten (Kloster Einsiedeln): A Svedia igitur Svitenses vocati vel eo, quod ex ductoribus eorum unus appellatus fuit Switerus, qui fratrem suum (ut asserunt) naturalem in duello pro nomine ipso interfecit (QW 3, 2, 2, 37). Bonstetten sagt, dass die Schwyzer aus Schweden stammten. Einer von ihnen habe Switerus geheißen und habe, um seinen Namen zu behaupten, seinen Bruder im Zweikampf getötet. 51 Vgl. ebd. Geoffrey von Monmouth ist er der legendäre Gründerkönig Britanniens. 46 [D]er Schotischen Königsmänner Barn, Fergauß unnd Malcolm könnte sich auf Malcolm I. beziehen, einen schottischen König des 10. Jahrhunderts und den Sohn (Barn, ‚Kind‘) Donald II., in dessen genealogischer Linie es mehrere Vertreter dieses Namens gab. Mit Fergauß wird wohl Fergus oder Fearghus († 1161) gemeint sein, der erste König oder Herr der schottischen Region von Galloway. Der Venetisch Antenor bezieht sich zweifellos auf den Trojaflüchtling Antenor, einen Schwager des Priamos, der sich der Sage nach im Gebiet der Adria niederließ 47 und von Fischart wohl als Stammvater von Venedig betrachtet wird. Mit der Zürcherklößlin Arlischer Turich ist der sagenhafte König und Stammvater der Helvetier Thuricus, König von Arelat, angesprochen, von dem auch der Name Zürichs, Turicum, herkommen soll. 48 Die Wendung der Tellischen Brudermörder Tschei Schwiter verweist nach einer Anspielung auf die Tellsage und damit die Schweizer Vorzeit auf die bereits in der frühen Schweizer Chronistik etwa bei Johannes Stumpf genannten sagenhaften Anführer der Cimbern, die ins Gebiet der Schwyz eingewandert sein sollen, Tschei und Schwiter, als Ahnherrn. 49 Gut bezeugt ist die Sage vom Bruderkampf zwischen diesen beiden, den Schwit/ Schwiter gewonnen haben soll, weshalb die Schwyz nach ihm benannt worden sei. 50 Ausgehend vom Stichwort Brudermord kommt Fischart auf Romulus, den Gründer Roms, den Römer Wolffsauger Rümel, zu sprechen, der nach der Sage von einer Wölfin gesäugt worden ist. Von Romulus springen die Assoziationen des Autors wohl auf dessen Zwillingsbruder Remus über, der verballhornt durch Silvanischer Rumo als Sohn der Rhea Silvia gekennzeichnet wird. Über die Formulierung der Winckelritischen Unterwälder Silvanischer Rumo wird dieser aber auch mit der Geschichte Unterwaldens und wiederum mit der Einwanderung der Cimbern in der späteren Schweiz verbunden: Zum einen galt ein gewisser Rümo nach Ausweis der Schweizer Chronistik wie Tschei und Schwiter als Anführer der Cimbern bei ihrer angeblichen Einwanderung in Schweizer Gebiete, 51 zum anderen wird wohl 428 Beate Kellner 52 Dieser hatte in der Schlacht von Sempach den Eidgenossen zum Sieg gegen die Habsburger verholfen (1386). 53 Stumpf (wie Anm. 43), Bd. 1, Bl. 268rv, Zitate ebd. 54 Gesta Treverorum, hg. von Georg Waitz, in: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 8 (1848), S. 111-200, hier S. 130. 55 Belegt sind Verbindungen mit Mettius Fufetius, dem letzten Diktator der Stadt Alba Longa sowie einem Feldherrn Metius zur Zeit Caesars. Vgl. Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 39. auf den Schweizer Helden Arnold Winkelried aus Unterwalden angespielt. 52 Mit der von Wald (silva) abgeleiteten Semantik könnte Silvanisch dem Autor als gedankliche Brücke zwischen der Geschichte von Remus und der Vorgeschichte Unterwaldens gedient haben. In den gleichen Zusammenhang der grauen Schweizer Vorzeit scheint die später folgende Phrase der Clareanischen Schweitzer Höllvatter Pluto zu gehören. Johannes Stumpf vermeldet nämlich, Glarean (Glarean/ us, Heinrich Loriti, 1488-1563, Schweizer Musiker, Musiktheoretiker, Humanist und Universalgelehrter) habe die Etymologie der Helvetier als Hell-Vetter bestimmt. Der Begriff wird aus der Verehrung Plutos durch die Helvetier erklärt, aufgrund derer sie als seine freünd und vettern aufgefasst worden seien. 53 Fischart macht aus den Hell-Vettern den Höllvatter Pluto und damit genealogisch einen Ahnherrn der Helvetier. Die Phrase der Laterner zorniger Sepilat ist auf die etymologische Ableitung Luzerns von lateinisch lucerna (Leuchte) zurückzuführen. Sepilat erklärt sich über den Luzerner Hausberg Pilatus und den Pilatus-See respektive See Pilat. Der Name des Sees leitet sich zwar vom lateinischen pila (‚Pfeiler, Strebe‘) her, wurde aber auch mit Pontius Pilatus in Verbindung gebracht. Es gab die Sage, dieser habe im Pilatussee seine letzte Ruhestätte gefunden. Das Besteigen des Berges war bis ins 16. Jahrhundert verboten, um Pilatus nicht in seiner Totenruhe aufzuschrecken. Man glaubte, dass etwaige Störungen dazu führten, ihn zu erzürnen und Unwetter heraufzubeschwören. Der Treuwoner unnd Treierischen Semiramischer Treues Treiwetta ist zu Trier zu stellen, das der Gründungssage nach auf den Volksstamm der Treverer zurückgeht und hier etymo‐ logisch auch mit Treue verbunden wird. Nach den Gesta Treverorum (12. Jahrhundert) soll Trier von dem sagenhaften Sohn des Assyrerkönigs Ninus Trebeta (Treiwetta) gegründet worden sein, als dieser, vertrieben von seiner Stiefmutter, der Königin Semiramis, mit Gefolgsleuten nach Europa geflohen und an der Mosel ansässig geworden sei. 54 Dem Muster des Heros Eponymos entsprechend, folgen eine ganze Reihe von Städten mit ihren vermeintlichen Gründervätern, so wird Solothurn von Sol Abraham abgeleitet, Salzwedel in der Altmark ebenfalls von Sol, dem Sonnengott, Basel von Basilius, womit die Stadt wahrscheinlich mit der Semantik von König (griechisch Basileus) verbunden werden sollte. Gleichzeitig spielt Fischart mit Basilisckischen Baßlerlößlin Basilius auf den Basilisk (Misch‐ wesen aus Hahn, Drache und Schlange) im Wappen der Stadt Basel an. Mainz wird auf die keltische Gottheit Magunt, Mogon und Magontia, zurückgeführt, mit der auch der römische Name für Mainz, Mogontiacum, zusammenhängt; zusätzlich spielt Fischart über die Römer und Kelten noch auf Troja an, indem er Magunt aus Troja stammen lässt (Trauianischer Magunt). Metz wird mit dem römischen Namen Metius verknüpft. 55 Bei Augsburg greift dasselbe Muster wie bei Solothurn, eine biblische Gestalt und eine heidnische Gottheit werden kombiniert, wie dort Sol und Abraham so hier Japethos (Japetisch), der Sohn Noahs, der als Stammvater der nördlichen und westlichen Welt galt, und Isis (Frau Eisen). Köln wird 429 Poetik der Liste 56 Vgl. zu Brennus Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 39. 57 Vgl. dazu die allerdings wenig weiterführenden Erklärungen bei Schank (wie Anm. 36), S. 305. 58 Vgl. zu Starkaðr und Hama Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 40. 59 Vgl. ebd. 60 Vgl. ebd. als trojanische Gründung ausgegeben und auf Colon zurückgeführt, die Brandenburger, wahrscheinlich abgeleitet von der Brennaburg, auf einen Brenno, in dem man vielleicht die antiken Gestalten eines Führers im Keltenzug oder eines Galliers, der Rom zerstörte, sehen kann. 56 Nach den nun hinlänglich bekannten Mustern einer Mythographie und Pseudo-Etymo‐ logie werden darüber hinaus etwa noch Lübeck mit Luba, Lüneburg mit Frau Laun, Tours mit dem Rutuler Turnus, dem Gegner und Rivalen des Aeneas, die Franzosen über die Phrase der Frantzosen Gilischer unnd Ronsardischer Priamischer Francio mit dem aus dem Priamosgeschlecht stammenden Francio verbunden, einem Nachkommen Hektors, der nach den mittelalterlichen Quellen als Stammvater der Franken angesehen wurde, was sich bis zu Pierre de Ronsards Versepos La Franciade (1572) durchhielt, worauf Fischart ebenfalls anspielt. Die als Treisener bezeichneten Einwohner von Dreux werden mit Pan und dem Symbol des Drudenfußes für das Pentagramm in Verbindung gebracht. 57 In der Phrase der Wimpfischen Weiberpeiniger Jungfrau Corneli führt Fischart das mittelalterlich bezeugte Wimpina (regia Wimpina) auf eine etymologische Verbindung erstens mit pîn für ‚Pein‘ und zweitens mit Wi, diphthongiert zu Wei, für ‚Weiber‘ zur Deutung der Wimpfener (heute Bad Wimpfen) als Weiberpeiniger. Hinter der Herleitung der Wimpfener von einer Jungfrau Corneli als Ahnfrau steckt die Überzeugung, Wimpfen ginge auf eine als Cornelia bezeichnete römische Ansiedlung zurück, woraus Fischart eine Ahnfrau Corneli/ Cornelia konstruiert. Zugleich gibt es vor Ort eine Kirche, die zunächst der heiligen Jungfrau Maria geweiht war, aber seit dem 15. Jahrhundert auch als Cornelienkirche bezeichnet wurde, was die Zusammenstellung Jungfrau Corneli provoziert haben könnte. Es folgen unter anderem noch die fabelhaften Gründerväter und Ahnfrauen Nero von Nördlingen und Nürnberg, Mars von Marburg, Helena von Frankfurt, Erfft von Erfurt, Herebus über Gewürz und herba von Würzburg, Venus von Magdeburg, Cidnus von Zwickau und Kurio von Chur. Die Wendung der Fechterischen Hamburger Starckhaterischer Hama ist auf die achtarmige nordische Mythengestalt aus der Wikingerzeit Starkaðr zu beziehen, gegen die Hama, ein sächsischer Held, der als Heros Eponymos der Hamburger dargestellt wird, gekämpft haben soll. 58 Offenburg wird auf den englischen König Ofen zurückgeführt, gemeint ist wohl Offa von Mercien, der erste Angelsachse, der sich als König von England betitelte. 59 Wien wird mit dem Bonenfresser Fabian verknüpft, was zum einen über die pseudo-etymologische klangliche Brücke Vindobona für Wien läuft, zum anderen über lateinisch faba, ‚Bohne‘, an das römische Geschlecht der Fabier (Fabii Maximi) anklingen könnte. Fischart parodiert hier wohl die Vorliebe mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Geschlechter, sich auf römische Familien zurückzuführen. Quedlinburg wird mit dem hier als wadellos (‚ohne Penis‘) 60 bezeichneten Hund Quedel in Verbindung gebracht, der sich im Wappen der Stadt findet und um den sich verschiedene 430 Beate Kellner 61 Nach einer Variante rettete er die Stadt vor einer Räuberbande, nach einer anderen Variante handelt es sich um den treuen Hund der Tochter Kaiser Heinrichs III., Mathilde, zu dessen Ehren sie die Abtei Quedlinburg errichtete. 62 Zugrunde liegt die Vorstellung der vulva canina, die als besonders geil galt (vgl. DWB, Bd. 10, Sp. 1934). 63 Stellvertretend werden hier genealogische Herleitungen wohl von den Geschlechtern der Colonna und Orsini genannt: die nur ihr geschlecht […] von Römern, Kolumnesern und Ursinen herzihen wöllen (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 40). Vgl. dazu Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 40. Sagen ranken. 61 München wird von den Mönchen abgeleitet, hier ausgedrückt durch den Mönchskopff, der auf mittelalterlichen Stadtsiegeln dargestellt ist. Parallel dazu wird den Karthagern ein Roßkopff zugeordnet, ein Symbol, das man auf alten karthagischen Münzen gefunden hat, und den Indern ein Kuhrespektive ein Ochsenkopf, dessen Name von Fischart mit dem berühmten Pferd Alexanders des Großen, Bukephalos (‚Ochsenköpfiger‘), in Verbindung gebracht wird, was zu einem Bucephaler Kufalkopff verdichtet wird. Hier ist höchstwahrscheinlich auch an die indische Mythologie mit ihrer Hochschätzung der Kühe zu denken. Gegen Ende hält sich Fischart selbst nach einer schier endlosen enumeratio zur Fortsetzung der Erzählung an (daß ich auß der Welt komm), nicht ohne noch auf die Herleitung der Pariser von Troja zu verweisen: viel besser als der schönsten wüsten unfletigen Parisischen Pastetenbecken, Weibische Hundsfutt Paris von Troia. Stellvertretend nennt Fischart hier die schönsten, aber unflätigsten Pariser Pastetenbäcker (Pastetenbecken) und den Priamossohn und Geliebten Helenas Paris, der mit dem äußerst derben Schimpfwort Hundsfutt belegt wird, 62 das für einen weibischen Feigling steht. Insofern werden die Pariser zwar durch ihre vermeintliche Herkunft aus Troja geadelt, aber doch - aus Fischarts deutscher Sicht auf die Welschen - zugleich abgewertet. Summarisch und kritisch wird abschließend noch auf die beliebte Herleitung von Genealogien aus Armenien, Arkadien und Rom verwiesen. 63 Die Liste hat sich längst verselbständigt, der Grundgedanke, es handele sich um Genealogien, die alle hinsichtlich des Alters und der Überlieferung jener des Gargantua nachstehen, gerät in den Hintergrund, so dass man ihn als Rezipient irgendwann vergessen kann. Was der Katalog dagegen bietet, ist ein Potpourri der Auflistung tatsächlicher und erfundener genealogischer Ableitungen. Er bedient sich aus der Literatur, bevorzugt der Heldensage, der Mythologie, der Landes- und Stadtchronistik sowie der Wappenkunde und summiert die verschiedensten Gründungslegenden und Gründungssagen. Auf diese Weise verdichtet er genealogisches Wissen und Pseudowissen auf dem engen Textraum eines Katalogs und entwickelt eine Art Kompendium des Genealogischen. Die Liste inkorporiert die verschiedenen Geschichten und ersetzt die zugrunde liegenden Narrationen durch Stichwörter, durch Hinweise auf die Gründerväter und Ahnfrauen sowie auf Quellen, Sagen und Mythen. Fischart schreitet hier verschiedene Kulturräume, Länder, Regionen und Städte ab, neben Frankreich, Italien (Rom! ), Skandinavien und England sind über Troja auch Kleinasien und unter anderem über den Priesterkönig Johannes selbst Indien präsent. Im Vordergrund stehen aber die deutschen Länder und Schweizer Stämme sowie die deutschen und schweizerischen Städte. Auch hierin kommt Fischarts Tendenz zum Ausdruck, alles in einen Teutschen Model zu gießen, wie es im Titelblatt zur Ausgabe von 1590 heißt. 431 Poetik der Liste 64 Vgl. Anm. 10 und die dort verzeichnete Literatur. 65 Vgl. dazu Beate Kellner, „Ein Lob auf die Bücher. Rabelais’ Abtei Thélème als Ort der Bibliothek in Fischarts Geschichtklitterung“, in: Johann Fischart, genannt Mentzer. Frühneuzeitliche Autorschaft im intermedialen Kontext, hg. von Tobias Bulang, Wiesbaden 2019 (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 37), S. 225-245. 66 Vgl. Rabelais, Gargantua, c. 1, S. 9. Leitend für den Katalog ist das Phantasma einer Universalbibliothek, das nicht nur Fischarts Catalogus Catalogorum  64 zugrunde liegt, sondern auch der in der Geschichtklitte‐ rung vorgenommenen Transformation der Abtei Thélème in das Antikloster Willigmut als einen Ort des in der Klosterbibliothek versammelten universellen Wissens mit dem inserierten langen Lob auf die Bücher und den Buchdruck. 65 Dennoch ist Fischarts Katalog, der einen Zusatz zu Rabelais’ Text darstellt, gerade keine genealogische Enzyklopädie in einem wissenschaftlichen Sinne, sondern er breitet Wissen aus und parodiert zugleich die Denkform des Genealogischen, was die bereits bei Rabelais vorgegebene Perspektive des gesamten ersten Kapitels der Geschichtklitterung noch einmal bündelt. Die mit der Liste vordergründig verfolgte Strategie der Auszeichnung des Gargantuageschlechts hinsichtlich des Erhaltungszustandes und Alters der Genealogie ist von vornherein fragwürdig, da vorher bereits deutlich gemacht worden ist, auf welchen Unwägbarkeiten alles Genealo‐ gische beruht. Die parodistische Tendenz des Katalogs bezieht sich besonders auf die Aporie des genealogischen Ursprungs und die Form der Ableitung von ihm her. Da jeder Mensch wieder zwei Eltern hat, lässt sich jede Genealogie beliebig in die zeitliche Tiefe verlängern, was Fischart mit den zahlreichen genealogischen Rekursen auf die Römer, Trojaner, schließlich auf Noah und andere biblische Gestalten oder auf heidnische Götter reichlich zitiert. Dennoch soll über die Vorstellung eines Gründervaters oder einer Ahnfrau ein Ursprung konstruiert werden, über den ein Geschlecht als ein distinktes und besonders ausgezeichnetes ausgewiesen ist, was einen Widerspruch in sich mit sich bringt. Fischarts Liste der Gründerväter und Ahnfrauen trifft damit genau den wunden Punkt vormodernen genealogischen Denkens. Zudem wird das genealogische Schema als beliebig dargestellt, wenn gezeigt wird, in wie vielen Fällen es in gleicher Weise angewendet wird und wie die Ableitung noch dazu stets über das einfache Muster der klanglichen Nähe und Pseudo-Etymologie erfolgt (etwa Köln von Colon, Solothurn von Sol). Auf diese Weise wird auch der für mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschlechter zentrale Aspekt der Verbindung von Etymologie und Genealogie ins Lächerliche gezogen. Was als Belege für die Bedeutung und das Alter der Könige von Utopien herbeizitiert wird, kippt ins Gegenteil. Insofern passt die Liste zu dem schon bei Rabelais geäußerten 66 und von Fischart übernommenen Gedanken, daß heut manche König, Fürsten, Bäpst und Herrn seien, fürnemlich die so schindische Tirannische Prachtschaben sind, (dann ein lasterhaft gemüt, zeigt an ein unadelich geblüt) die nur von eim Torhüter, Stallfincken, Eseltreiber, Holtzträger, Schnapphanen und Kistenfeger herkommen. Wie im gegenspil manche arme Teuffel, Landläuffer, Gartenstreiffer, Pfannenpletzer, Quiengoffer unnd Zwicker von Königen, Bapsten und Bischofen mögen hoch geboren sein. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 33) 432 Beate Kellner 67 Vgl. dazu Kellner (wie Anm. 9), S. 398-402. 68 Der Hinweis auf Aristoteles führt ins Leere. Vgl. Huchon (Hg.), Œuvres complètes (wie Anm. 1), S. 1068f. 69 Altwilisch stellt wohl eine Zusammensetzung aus alt und wile für Zeit dar. Anders DWB, Bd. 1, Sp. 275: Hier wird Altwilisch von altwil, altvil, altfil für ‚Zwitter‘ abgeleitet. 70 Vgl. den Hinweis bei Rabelais, Gargantua, c. 1, S. 10, der Stammbaum sei nicht auf folgenden Materialien geschrieben: […] non en papier, non en parchemin, non en cere: mais en escorce d’Ulmeau (‚nicht auf Papier noch auf Pergament oder Wachs, sondern auf Ulmenrinde‘). Fischart umschreibt hier Pergament durch Geißfell, fügt gegenüber der Vorlage den Marmor hinzu und variiert die Ulmen mit Rüstbaumrinden. Statt die Genealogie Gargantuas nun endlich mitzuteilen, wird bei Rabelais und Fischart die Auffindung des Riesengrabs in der Touraine erzählt, 67 wo man auch ein altes stinkendes Buch mit dem Stammbaum gefunden habe (Gargantua, c. 1, S. 10f.; Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 40-44). Bei Rabelais wird der Erzähler zum humanistischen Gelehrten stilisiert, welcher - zu Rate gezogen und zum Grab herbeigekommen - mit seiner Brille das alte abgefressene, schon verfaulte Dokument entziffern soll: practicant l’art dont on peut lire lettres non apparentes (Gargantua, c. 1, S. 10). 68 Komisch gebrochen wirft Rabelais damit ein Licht auf die humanistischen Interessen, die alten Quellen zu rekonstruieren und wiederzugeben, das ad fontes wird als Abstieg ins Riesengrab wörtlich ausgeführt. Rabelais parodiert auf diese Weise die humanistischen Interessen der Rekonstruktion alter Quellen. Auch in Fischarts Adaptation des Rabelais’schen Textes spielen Fragen nach Lesbarkeit und Unlesbarkeit der gefundenen Quelle eine Rolle (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 40-44), doch an dem im Riesengrab noch vorhandenen Büchlein mit dem Stammbaum interessiert den deutschen Autor zuvorderst sein schlechter Erhaltungszustand (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 42f.), es geht ihm weniger um die Schrift als um deren Zerstörung, die er weit über seine Vorlage hinaus thematisiert. Heißt es bei Rabelais, die mittlere der im Grab gefundenen Flaschen sei auf einem Büchlein gestanden, das als gros, gras, grand, gris, joly, petit, moisy sowie als stärker, aber nicht besser riechend als Rosen beschrieben wird (Gargantua, c. 1, S. 10), so erweitert Fischart diese auf der Basis von Alliterationen und Klängen operierende descriptio zu eim lustigen, rostigen, grossen, fetten, dicken, kleynen, schmutzigen, rotzigen, kleberigen unnd verschimmelten Büchlein, welchs viel stärcker, doch nicht vil besser, als rosen roche (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 42). Er fügt auf der einen Seite den Aspekt des Vergnüglichen (lustigen) hinzu und suggeriert damit bereits auch das Vergnügen möglicher Rezipienten beim Lesen des Stammbaums, auf der anderen Seite verstärkt er die bei Rabelais angelegten Merkmale des Schmutzigen, indem er das Büchlein nicht nur mit Schimmel, sondern etwa auch mit klebrigem Rotz in Verbindung bringt und insofern als ekelhaft darstellt. Was den Stammbaum betrifft, betont Fischart im Anschluss an Rabelais, dass er in Kanzleischrift verfasst war, fügt aber ein Wortspiel aus Art, ars und Schrift hinzu und kennzeichnet die Schrift darüber hinaus als deutsch und alt: nach rechter Altwilischer Cantzeliischer Teutischer Schrifftartlickeyt, unnd Artschrifftlichkeyt (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 43). 69 Die Tatsache, dass diese Schrift nit auff Papir, nit in Wachß, nit in Geißfell, nit in marmor, sonder auff Olmen oder Rüstbaumrinden (ebd.) verzeichnet worden ist, überträgt Fischart aus Rabelais, 70 sein Hauptaugenmerk richtet sich jedoch nicht auf die Auflistung dieser Materialien, sondern wiederum auf den Aspekt der Verderbnis. Es geht 433 Poetik der Liste 71 Vgl. dazu bereits die Entschlüsselung bei Seelbach, Ludus Lectoris (wie Anm. 6), S. 206f. 72 Torellus Sarayna, De origine et amplitudine civitatis Veronae, virisque illustribus, et Monumentis Antiquis urbis libri V, Verona 1540. 73 Vgl. etwa Hubertus Goltzius, Thesaurus rei antiquariae Huberrimus; ex antiquis tam numismatum quam marmorum inscriptionibus pari diligentia qua fide conquisitus et descriptus, Antwerpen 1579. wiederum weniger um die Schrift, als um deren Zerstörung: welche doch das schabenessig und Madenfressig alter […] also verzert, abgenützt, durchlöchert, zerkerfft, vergettert, zerflötzt, abgeetzt und zerfetzt hat, daß man kaumlich den anfang und das end am rand und bort hat können erkennen (ebd.). Im Folgenden erweitert Fischart Rabelais’ Parodie der humanistischen Quellensuche um eine kryptische Auflistung von Gelehrten. Neben antiken Vorläufern lässt er eine Reihe wichtiger Quellenforscher, Inschriftenkundler, Numismatiker, Grammatiker, Lexi‐ kographen und Verfasser namenkundlicher Werke, Archäologen und Emblematiker des Humanismus Revue passieren: Derhalben ward ich (als mit züchten eyn unschuldiger Bürstenbinder) der damals auff Pithagorisch Seelwechselig wie der Finckenritter in Muter Leib reyset, zu ergribelung diser Antiquitet erfordert: da praucht ich mich warlich, wie der Pfarrherr zu Tettenhofen, scharffsichtig genug mit vier plintz‐ lenden Augen durch Finger und Prillen: Und regt die Epidaurisch Probisch, Agrippisch, Sarreinisch, Marlianisch, Calepinisch, Huttichisch, Vicisch, Peutingisch, Toscanellisch, Altisch, Stradisch, Goltzisch unnd Alciatdispunctisch kunst, die vertipfelte, verzwickte, Geradprechte, verzogene, zeychentrügliche, zifferreterische, abgeprochene, außgehauene, abgefallene, versunckene, unsichtbare, geschundene, unnd (daß ich wider Atham hol) die geschendte, geplendte buchstaben und wörter außzulegen. (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 43) 71 Genannt werden hier in mehr oder weniger verklausulierter Form der antike Grammatiker Marcus Valerius Probus aus dem ersten Jahrhundert nach Christus, sodann der besonders für seine Occulta philosophia berühmte Humanist Heinrich Cornelius Agrippa (1486-1535), ferner Torellus Sarayna, der sich um die Erforschung der Stadtgeschichte Veronas verdient gemacht hat, 72 Giovanni Bartolomeo Marliani (1488-1566), dessen Antiquae Romae topogra‐ phia in der Frühen Neuzeit den Charakter eines Standardwerks gewann, der Lexikograph Ambrosius Calepinus (vermutlich 1440-1509/ 1510), dessen Dictionarium linguae latinae vom 16. bis 18. Jahrhundert sehr verbreitet war, Johann Huttich (1490-1544), der neben einer Geschichte der römischen Kaiser vor allem mit einer Sammlung von römischen Inschriften aus Mainz und Umgebung, den Collectanea antiquitatum, hervorgetreten ist, der italienische Kupferstecher Enea Vico (1523-1567), der sich besonders auch mit antiken Münzen und Medaillen beschäftigte, der Humanist, Antiquar und Stadtschreiber Augsburgs Konrad Peutinger (1465-1547) sowie der Grammatiker, Lexikograph und Übersetzer klas‐ sischer antiker Werke Orazio Toscanella (1510-1580). Altisch verweist auf den Drucker Aldus Pius Manutius (1449-1515) und seine Editionen antiker Quellen und humanisti‐ scher Werke, Stradisch auf den italienischen Gelehrten, Kunstsammler, Maler, Architekten und Numismatiker Jacopo de Strada (1507-1588) und Goltzisch wahrscheinlich auf den niederländischen Maler-, Kupferstecher, Numismatiker und Inschriftenkundler Hubertus Goltzius. 73 Die Phrase Goltzisch unnd Alciatdispunctisch kunst verknüpft dessen Namen mit dem des sonst in erster Linie für seinen Emblematum liber bekannten Andreas Alciatus, 434 Beate Kellner 74 Vgl. ausführlicher zu diesem Katalog: Seelbach, Ludus Lectoris (wie Anm. 6), S. 206f. und S. 337-375, passim; vgl. dazu auch Nyssen, Glossar (wie Anm. 1), zu S. 43 (mit einigen Missverständnissen). 75 Im ergribeln, abgeleitet von grübeln, für ‚suchen, erforschen, nachforschen‘, klingt lautlich auch das Verb graben an. Vgl. zu grübeln und der Verwandtschaft mit der Wurzel von graben DWB, Bd. 9, Sp. 612-617. 76 Man sagte den Bürstenbindern eine Neigung zum Trinken von Alkohol nach. Vgl. DWB, Bd. 2, Sp. 552, mit Verweisen auch auf Fischart. 77 Johannes Annius von Viterbo (1437-1502), der am Papsthof als Historiker tätig war, brachte die vermeintlichen Schriften des Berossus/ Berosus in seinem 1498 erschienenen Werk Antiquitatum variarum volumina XVII in Umlauf. auf den hier, über sein Werk Dispunctionum libri quatuor, als Erforscher von Inschriften angespielt wird. 74 Mit diesem Katalog wird die für Rabelais zentrale Problematik der Les- und Deutbarkeit von Zeichen in Fischarts Umsetzung der Vorlage gewissermaßen in eine enzyklopädische Liste von Gelehrten verwandelt. Durchschaut man den überlangen und maßlos überfüllten Satz (da praucht ich […]), wird erst auf den zweiten Blick deutlich, dass der Erzähler vorgibt, dem Stammbaum der Riesenfamilie mit der kunst all dieser Gelehrten zu Leibe rücken zu wollen, was die Liste immerhin lose an den Handlungsverlauf bindet. Ungeachtet der zur Schau gestellten überbordenden Gelehrsamkeit wird die bei Rabelais angelegte Absurdität der Entzifferung des unleserlichen Stammbaums im deutschen Text noch gesteigert. Dies zeigt sich schon darin, dass die Reihe der ‚Zifferräter‘ mit dem obskuren Pfarrherr[n] zu Tettenhofen eröffnet wird oder dass der zu ergribelung diser Antiquitet, d. h. zur Entschlüsselung des alten Stammbaums, 75 gerufene Erzähler sich selbst nicht als Spezialist, sondern als bloß unschuldiger Bürstenbinder bezeichnet, 76 der sich im literarischen Vergleich mit dem Finckenritter und in Anspielung auf pythagoreische Seelenwanderungslehren als ein vor seiner Geburt im Mutterleib Reisender stilisiert. Die Gelehrsamkeit enzyklopädischen Ausmaßes wird also im deutschen Text inszeniert, aber sogleich wieder parodistisch gebrochen. Zudem bringt sie Fischart wenig später über das Stichwort Berosisch (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 44) mit den unter dem Namen des Berossus/ Berosus, eines chaldäischen Astronomen aus dem vierten respektive dritten vorchristlichen Jahrhundert, erschienenen Genealogien von Germanenstämmen in Verbin‐ dung, die bereits im 16. Jahrhundert als Fälschungen erkannt wurden. 77 Der Erzähler möchte den Stammbaum also nicht nur mit der geballten Expertise all der genannten tatsächlichen Kapazitäten entziffern, sondern er bringt auch höchst zweifelhafte Autoritäten ins Spiel. Schließlich mündet der ganze Katalog in die Vorstellung von der Unsichtbarkeit und Unleserlichkeit der Buchstaben, was deutlich macht, wie wenig all diese Gelehrsamkeit angesichts des Zustandes der Überlieferung ausrichten kann. Diesen Aspekt baut Fischart im Verhältnis zur französischen Vorlage erneut erheblich aus, wenn er sagt, es ginge darum, die getüpfelte (vertipfelte), schwierige (verzwickte), gewaltsam verstümmelte (Geradprechte), entstellte (verzogene), um ihren Zeichengehalt betrogene, unleserliche und betrügerische (zeychentrügliche), geheimnisvolle, schwierig und nur durch Raten zu entziffernde (zifferreterische), abgebrochene, herausgeschlagene (außgehauene), weggefallene (abgefallene), durch das Alter untergegangene (versunckene) und unsichtbare, abgeschabte (geschundene) und geschändete (geschendte, geplendte) Schrift auszulegen (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 43, Zitat siehe oben). Auch hier verlagert sich das Interesse wieder auf die Vorstellung von der schlechten Überlieferung und der gewaltsamen 435 Poetik der Liste 78 In Anlehnung an Rabelais, Gargantua, c. 1, S. 11, betont Fischart, Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 44: Aber die schandliche Mäuß und Ratten, Schaben und Maden, oder (daß ich weniger lüg) sonst schädliche Thier, hatten den anfang und das forder theil (hei daß ihnen der Teuffel das hinder theyl gesegene) gar vernaget. Zerstörung der Buchstaben. Dass der Erzähler beim Aufzählen all dieser Verben atemlos zu werden vorgibt (daß ich wider Atham hol, ebd.), zeigt, dass es um das Aussprechen einer möglichst großen copia verborum und ihrer Klangfülle geht. Dementsprechend finden sich viele lautliche Anklänge, Alliterationen und Repetitionen von Silben und Vorsilben in dieser Auflistung. Besonders in solchen Passagen wird deutlich, wie wichtig die performative Dimension der Geschichtklitterung ist. Überdies werden die vorher genannten Experten über die (im Zusammenhang mit dem von Schädlingen arg zernagten Traktat, der dem Stammbaum angehängt ist, 78 ) später erfolgende Aufzählung von Armen Protsamschluckern, Winckelschlupffern, Wändschabern, Steynweschern, Seulengaffern, Tulkräpsen und Heydochsen […] schimmeligen Steynschabern, unnd Müntzgaffern (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 44) in ihrer Profession ex post noch einmal desavouiert. Gelehrte, die sich um Überreste aus der Vergangenheit bemühen, erscheinen jetzt als Leute, die jedes übrig gebliebene Stückchen Brot auflesen und schlucken wollen, in Winkel schlüpfen, die Wände abschaben, Steine abwaschen, Säulen angaffen, sich in Erdvertiefungen (Tüle im Sinne von ‚Mulde‘) graben und sich so wie Krebse und Eidechsen verhalten, oder wie Leute, die an schimmeligen Steinen schaben und Münzen angaffen. Auch hier zeigen sich wieder eine ganze Reihe von Assonanzen und klanglichen Intensivierungen, die besonders in der Performanz eines lauten Vortrags den parodistischen Schwung intensivieren. Die Negativreihe der ‚Zifferräter‘, die meiner Ansicht nach als komplementär zum vorhergehenden Gelehrtenkatalog zu sehen ist, kulminiert in dem Vorwurf, die Gelehrten würden auch eyn gebuckleten Schröter für eyn Antiwitet auffheben, und jedes Mißgewechß auffkleben (Geschichtklitterung, Kap. 1, S. 44), also einen gepanzerten Käfer, sprich jedes Nichts und jede Miss- und Ausgeburt als ‚Antiquität‘ aufheben und aufkleben. Hier soll nicht nur die Hoffnungslosigkeit der Rekonstruktionsbemühungen angesichts des schlechten Erhaltungszustandes des Überlieferten ausgestellt werden, son‐ dern das Sammeln von ‚Antiquitäten‘ wird auch selbst als Nichtigkeit entlarvt. Vor diesem Hintergrund hebt der Erzähler dazu an, im zweiten Kapitel der Geschichtklitterung nun freilich nicht die Genealogie des Gargantua, aber dannoch den überrest des Traktats zu präsentieren und dies, in höchstem Maße ironisch gebrochen, zu ergetzung (ebd.) der gerade vorher verunglimpften Antiquare. Die Darstellung ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit von Fülle und Leere. Die Menge der Gelehrten kann nicht rekonstruieren, was bereits verblichen, zerfressen und damit unwiederbringlich verloren ist. Das humanistische Bestreben, die alten Überreste zu sammeln und zu konservieren, führt ins Leere und erscheint als absurde Tätigkeit. Dem Wunsch nach Wiederfinden und Sammeln, der auf Bewahren zielt, steht das Scheitern aufgrund der Verderbnis der Überlieferung gegenüber. Was bleibt, ist die copia der Zeichen, der Wörter und Namen, mit denen Fischart die Leere der Überlieferung durch die Poesie seiner Listen füllt. So schiebt er die Liste der Genealogien anderer Geschlechter und die Liste der Gelehrten und ‚Zifferräter‘ an die Stelle der Genealogie, die nicht mehr auffindbar ist. 436 Beate Kellner 79 Zur Vorstellung der Unabgeschlossenheit und des ‚und weiter so‘ der Listen vgl. Eco (wie Anm. 13). III Fazit In seinen Digressionen und Wortspielereien sprengt Fischart die Rabelais’schen Gedan‐ kengänge nicht nur auf und erweitert sie enzyklopädisch, sondern er transformiert das genealogische Thema des ersten Kapitels auch erheblich. Bereits bei Rabelais wird die genealogische Denkform als Strategie der Legitimierung eines Geschlechts unter Hinweis auf ihre Unsicherheit parodiert. Fischart führt dies amplifizierend fort und zeigt, dass die genealogische Vermischung aller Völker, Geschlechter und Stände in der durch nichts zu unterbindenden Promiskuität, sexuellen Begehrlichkeit und Sündhaftigkeit der menschlichen Natur begründet ist. Im Zeichen der Reformation hat sich das optimistische Menschenbild Rabelais’, das auf Vervollkommnung des Menschen zielt, verschoben. Die Darstellung des Unflätigen, der erbsündigen Natur des Menschen, die sich in sexueller Gewalt, Ausschweifung und Vermischung aller mit allen manifestiert, ist ins Zentrum gerückt. Verbunden mit der Verspottung alles Genealogischen ist auch die Parodie auf das humanistische Interesse der Auffindung, Rettung und Rekonstruktion der antiken Überreste und Zeugnisse. Diese Tendenz wird von Fischart im Verhältnis zu Rabelais stark ausgeweitet und paradigmatisch in Listen und Katalogen von großen Gelehrten und zweifelhaften Autoritäten durchgeführt. Dabei wird über Rabelais hinaus sowohl immer wieder der schlechte Erhaltungszustand der Zeugnisse als auch die Nichtigkeit der Bemühungen betont. In den bei Rabelais angelegten Digressionen, die als Mentzerkletten zum Markenzeichen der Fischart’schen Schreibweise werden, erscheinen die res wie Stichwörter und Ausgangs‐ punkte für eine sich in Signifikantenketten zeigende überbordende Akrobatik der verba, in der die Phantasie der Autoren sich austoben kann. Die Rabelais’sche Subversion des Verhältnisses von verbum und res führt Fischart fort und treibt sie auf die Spitze, was zur Folge hat, dass sich die Kataloge und Listen, angeordnet nach Topoi und Stichwörtern, zu Enzyklopädien en miniature entwickeln können. Auf engstem Textraum bieten sie eine Fülle von Material, zitieren literarische Texte, Mythen, Sagen, Geschichtsschreibung oder summieren Arteswissen und Gelehrte. Auf diese Weise sammelt und inkorporiert die Geschichtklitterung Wissen aller Art und gewinnt über Rabelais hinaus selbst den Charakter einer Universalbibliothek. Gegenläufig zu dieser gelehrten enzyklopädischen Tendenz gilt aber auch, dass gerade in den Katalogen und Reihen das Phantastische und Groteske immer wieder die Oberhand gewinnen kann. Der logische Zusammenhalt der Listen ist schon bei Rabelais, mehr noch bei Fischart, oft nur lose. Kohärenz wird formal über Alliterationen, Rhythmisierungen, Wiederholungen von Silben oder Lauten hergestellt, während der Sachbezug und damit die Ordnung und die Systematik aus dem Ruder laufen kann. Die Listen wachsen immer wieder über ihren begrifflichen Ausgangspunkt hinaus, werden bisweilen kaum noch von einem Oberbegriff zusammengehalten und sind tendenziell immer noch erweiterbar und unabgeschlossen. 79 Jenseits gängiger Vorstellungen von der Kohärenz eines Textes als Syntagma entsteht ein kreativer paradigmatischer Textraum mit einer Vielzahl von ana- und kataphorischen Verweisen. Stichwörter und klanglich-lautliche, im weiteren Sinne 437 Poetik der Liste 80 Vgl. Warning (wie Anm. 4), S. 25. performative Aspekte leisten den Zusammenhalt des Textes eher als eine Abfolge von Handlung oder eine logische Entwicklung von Argumenten. Man könnte von einer Poetik der Verausgabung sprechen, in der es vor allem auch um Performativität sowie die Zurschaustellung der Sprache in all ihrer Abundanz, ihren Facetten und Möglichkeiten geht. Die Listen und Kataloge erweisen sich somit nicht nur als besonders kennzeichnend für die Poetik Rabelais’ und Fischarts, sondern sie sind auch ein Prüfstein für die Frage nach der Kohärenz eines Textes, der durch Sammlung von Material, Texten und Wissen überhäuft wird. Vor dem Hintergrund der genaueren Betrachtung der Listen und Kataloge wird deutlich, dass Fischart zwar von den großen in Rabelais’ Pentalogie behandelten hermeneutischen Problemen und humanistischen Entwürfen Ab‐ stand nimmt, dass er den französischen Autor aber dennoch kongenial überträgt, weil er vom eigentlichen Kern 80 Rabelais’schen Schreibens ausgeht. Das Phantastische und Groteske, das sein Text im Spiel mit Sprachen und Wörtern gewinnt, ergibt sich gerade aus der literarischen Transgression des Wissens und dem ludistischen Umgang mit den verschiedenen Kontexten. 438 Beate Kellner Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis 1 Heidelberg, Universitätsbibl., Cod. Pal. germ. 848 = Codex Manesse, Bl. 372r. Übersetzt lautet die Stelle: ‚Wo fände man so viele Lieder beisammen? / Man fände sie nirgends sonst im Königreich, / wie sie hier, in Zürich, in Büchern stehen! / Deshalb befasst man sich da eifrig mit dem Sang der Meister. / Der Manesse hat sich zielstrebig darum bemüht, / so dass er nun die Liederbücher beisammen hat. / Vor seinem Hofe sollten sich die Sänger neigen, / sein Lob verkünden, hier und anderswo, / denn da hat die Sangeskunst Stamm und Wurzeln. / Und erführe er, wo es noch kunstgerechte Lieder gäbe, / er setzte alles dran, sie zu erwerben.‘ Zitierter Text und Übersetzung aus: Freimut Löser, „Mittelalterliche Sammelhandschriften. Gesammelte Bemerkungen“, in: Sammeln. Eine (un-)zeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017 (Würzburger Ringvorlesungen Bd. 12), S. 95-114, hier S. 107. Gesammelte Sammlungen Hadlaubs Loblied auf das (Lieder-)Sammeln und Meister Eckharts gesammelte Werke Freimut Löser I Wâ vunde man sament sô manig liet? man vunde ir niet in dem künigrîche, als in Zürich an buochen stât. Des prüevet man dike dâ meister sang; der Manesse rank darnâch endelîche, des er diu liederbuoch nû hât. gegen sîm hove mechten nîgin die singære, sîn lop hie prüeven und andirswâ, wan sang hât boun und würzen dâ; und wisse er, wâ guot sang noch wære, er wurbe vil endelîch darnâ.  1 Aus Hadlaubs Loblied im Codex Manesse auf den Codex Manesse habe ich in einem kleinen Essay über mittelalterliche Sammelhandschriften einige kurze Schlussfolgerungen zu ziehen versucht: 2 Ebd. Hadlaub singt hier das Hohe Lied des Liedersammelns […]. Sein Loblied ist wichtiger Bestandteil der Sammlung, eigens für diese verfasst, und es sagt viel über Sammler: - Sammler wollen viel (sô manig liet) - Sammler konkurrieren mit anderen (man vunde ir niet in dem künigrîche, als in Zürich an buochen stât) - Sammler sammeln lang (rank darnâch endelîche) - Sammler versammeln Gleichgesinnte - und Sammler sind nie zufrieden. 2 II Aus diesem Lied kann man aber insgesamt einige weitere Beobachtungen über das Sammeln als solches ableiten: Die Formulierung Wâ vunde man sament sô manig liet? zeigt, dass das Wesen des Sammelns darin besteht, Vieles und Verschiedenes (manig eben) in Eines zu fügen: sament. Man könnte - und bei einem Beitrag über Eckharts gesammelte Werke liegt dies nahe - von einer ‚Mystik des Sammelns‘ sprechen, von der Einheit des Vielen, das zur Vereinigung strebt. Das Eine wäre die Sammlung, das Viele wären die Teile und damit die Sammlungsgegenstände. Das Wort sament wäre dann aber gleichzeitig ein Signal für Einheit wie für Differenz, denn Vieles zusammen zu bringen bedeutet ja nun gerade nicht, dass dieses Viele Eines ist. Mit Eckhart gesprochen: Wahre Einheit wäre etwas anderes als die Vereinigung des Vielen, denn was ver-eint ist, ist immer noch getrennt. Sammlungen sind damit per se einerseits durch Heterogenität gekennzeichnet, die ihrerseits aber nach einer Vereinigung des Heterogenen strebt. Man kann also Sammlungen unter den Gesichtspunkten des Vielen und des Einen betrachten und sehen, welches Prinzip in der Sammlung vorherrscht: steht das Vereinende, gar das Eine im Zentrum, oder ist die Heterogenität das vorherrschende Prinzip? Soll möglichst Vieles versammelt werden oder eint ein gemeinsamer Gesichtspunkt das Gleiche? Sammlungen von Eckhart-Predigten beispielsweise, in denen das Prinzip ‚éin Eckhart‘ im Vordergrund steht, würden dann - und das tun sie - unter dem ‚Gesichtspunkt Eckhart‘ sammeln („dies alles hier ist deutsch und nennt Eckhart namentlich“.) Dabei wird aber - scheinbar paradoxerweise - die Heterogenität eher noch gefördert, wenn nicht nur deutsche Predigten zum Kirchenjahr, sondern auch thematische Homilien oder gar pseudopredigthafte deutsche Quæstionen, kurze thematisch orientierte Traktate oder gar sogenannte ‚Eckhart-Legenden‘ unter die Predigten geraten, weil sie von Eckhart stammen (sollen), um Eckhart kreisen, Eckhart sprechen oder die Figur Eckhart auftreten lassen. Bildet die Kategorie Predigt das Einende, treten neben Eckhart-Predigten womöglich Predigten anderer Autoren, die Eckhart nahe sind. Eine solche Vereinigung des Heterogenen, die Sammlungen auszeichnet, zieht gleich‐ zeitig die Frage der Ordnung nach sich: Sammlungen können für den Betrachter erklär‐ lich oder unerklärlich sein, sie können ein vorherrschendes Ordnungsprinzip sichtbar hervortreten lassen, dieses nur schwer erkennbar sein lassen, oder sie können tatsächlich 442 Freimut Löser 3 Gottfried Keller, Sämtliche Werke in sieben Bänden, hg. von Thomas Böning, Frankfurt 1989 (Biblio‐ thek deutscher Klassiker 46), Bd. 5, S. 57. weitgehend ungeordnet sein. Vor allem gilt: Sammlungen benötigen Platz, meist viel Platz. In Hadlaubs Fall wird er in Büchern zur Verfügung gestellt. Dabei taucht die Frage auf, wie sich solche Bücher organisieren lassen, um Sammlungen anlegen zu können und zu erschließen. Im Codex Manesse ist der Ordnungswille evident: Autorenverzeichnis, Anordnung der Werke nach einer Hierarchie der Autoren, Autorenbildnisse als Markierung der unterschiedlichen Werke, Markierung der Lieder und Strophen, Platz für eventuelle Nachträge und die ganz eigene Ästhetik der Sammlung unterstreichen ihn. Die Einheit der Sammlung ergibt sich aus ihrem Gegenstand, aber vor allem auch aus der Ästhetik ihrer Ordnung. Solche Ordnungsmuster sind vor allem nötig, wenn Sammlungen eine gewisse Größe erreichen. Und das tun sie fast immer. Denn das Streben nach Größe und nach immer mehr ist der Sammlung inhärent. Hadlaub rühmt Manesse dafür, dass nirgends im gesamten Königreich so viele Lieder in Büchern auf einmal beisammen zu finden seien wie bei ihm in Zürich; die beste Sammlung ist also die mit dem Meisten vom Vielen und damit die größte. Neben der schieren Größe der vorgestellten idealen Sammlung wird dabei auch gleichzeitig der Konkurrenzcharakter sichtbar: Sammlungen haben einen ihrer vielen Zwecke darin, mit anderen Sammlern in Konkurrenz zu treten, was zu Wettläufen um Sammlungsgegenstände, aber auch zu Interaktion von Sammlungen führt. Wenn man sich nur Kinder vorstellt, die die bekannten Fußball-Klebebilder sammeln: Die Gesichter der Jungfußballer strahlen, wenn sie den wichtigsten Star einer Fußballweltmeisterschaft schon in ihr Heft einkleben konnten; am Pausenhof herrscht eine rege Konkurrenz unter den jungen Sammlern (wer hat denn nun das vollständigste Exemplar sämtlicher Fußballer einer WM? ). Diese Konkurrenz löst dann aber auch bestes Einvernehmen und einen regen Tauschverkehr unter den Konkurrenten aus („meine zwei Beckenbauer für Deinen Pele? “). Sammeln besteht also in einer Interaktion verschiedener Sammler und Sammlungen und der Organisation dieser Interaktion wie ihrer Resultate. Gottfried Keller hat das in seinen Züricher Novellen, im Hadlaub, für die Manessesche Liedersammlung anschaulich beschrieben: Das Unternehmen der Liedersammlung wurde nun eifrigst in den Gang gesetzt, das Verzeichnis der Minnesinger täglich vervollständigt durch die Herren Manesse, den Vater und den Sohn, welche sich keine Mühe gereuen ließen und nach allen Seiten in mündlichen und brieflichen Verkehr traten, wo es die Gelegenheit mit sich brachte. Gleichzeitig wurde an das Herbeischaffen der fehlenden Lieder geschritten und Johannes Hadlaub häufig in Städte, Klöster und Burghäuser gesendet, um Abschriften zu nehmen, wenn die dort aufbewahrten Pergamente nicht erhältlich waren. Ebenso wurde für jeden schon vorhandenen Dichter ein Buch eingerichtet und mit dem Ein‐ schreiben der Lieder begonnen, in der Weise, daß alle die einzelnen Bücher nachher zusammen‐ gelegt und zu einem Gesamtbande vereinigt werden konnten. 3 So spielte sich das in der Vorstellung Kellers ab. Der wirkliche Hadlaub selbst (oder besser gesagt: derjenige, der in der Manesseschen Sammlung auftritt) bringt diese Verhältnisse zum Ausdruck, wenn er in seinem Loblied sagt, der Manesse habe unablässig danach 443 Gesammelte Sammlungen gestrebt, bis er jetzt endlich die Liederbücher hat: Er rank darnâch endelîche, des er diu liederbuoch nû hât. Die Ausdrücke endelîche und nû hât dokumentieren die Zielhaftigkeit des Sammelns ebenso wie einen gewissen Abschluss. Ein solcher Abschluss kann aber immer nur ein vorläufiger sein, denn Sammlungen wohnt einerseits ein Streben nach Vollständigkeit inne, sie besitzen andererseits aber auch und gerade den Charakter der Vorläufigkeit, Offenheit und Unabschließbarkeit. Sammeln ist immer work in progress und Prozess. Das Klebeheft mit den Fußballerbildern der letzten WM ist voll, aber wann ist eigentlich die nächste? Aus der Sammlung im Klebeheft wird die Sammlung von Klebeheften; neben sein Hausbuch will Michael de Leone den zweiten Band stellen. Das Wesen des Sammelns besteht demnach nicht in der Sammlung, sondern im Sammeln und Suchen und Jagen nach den Sammelgegenständen, sowie dann (im Blick auf die Überprüfbarkeit der Vollständigkeit) auch im Archivieren, Ordnen, Verzeichnen und Registrieren des Gesammelten. Was ist in dieser meiner Sammlung bereits vorhanden, was nicht? Sammeln ist also auf ein Ende hin angelegt und doch eine unendliche Aktivität wie der angestrebte Abschluss dieser Aktivität gleichzeitig, der eigentlich nie erreicht werden kann. Die Vollständigkeit einer Sammlung würde das Ende des Sammelns bedeuten und entweder die Verlagerung auf das nun unendlich werdende Archivieren und Verzeichnen oder das Ende und den Tod der Sammlung, die bevorstehende Zerflederung und womöglich die Zerstreuung in andere Sammlungen. Die Unabschließbarkeit wird in Hadlaubs Bildern dort besonders deutlich, wo sich die Sänger vor dem Auftraggeber verneigen, weil die Sangeskunst bei ihm, durch ihn und in ihm sowohl ihre Wurzeln geschlagen hat als auch den Stamm des Baums und neue Blüten hervortreibt. Der ideale Sammler sammelt nicht nur die ihn faszinierenden Kunstprodukte, sondern er wirkt dabei mit, dass sie immer mehr werden. Die Sammlung als solche bringt neue Sammelobjekte hervor. Das also wäre das Perpetuum mobile des Sammlers: Der Galerist sammelt die Bilder, die der Maler malt, weil der Galerist sie sammelt, der sie sammelt, weil der Maler sie malt. Die Sammlung selbst generiert das, was sie sammelt. Die Sammlung von Minnesang treibt Minnesang hervor, und schon deshalb sind die Produzenten der Kunstgattung dem Sammler zu Dank verpflichtet. Der wahre Sammler ist nicht nur Sammler und Mäzen, sondern er fördert die Produktion und kontrolliert sie bis zu einem gewissen Grad. Das Lob der singære für Manesse, das Hadlaub hervorhebt, macht aber auch deutlich, dass der Sammler durch den repräsentativen Charakter seiner Sammlung selbst Ansehen gewinnt, d. h. die Würde des Sammlungsgegenstandes und die schiere Größe, gar die mögliche Vollständigkeit der Sammlung bedeuten Ruhm und Ansehen für den Sammler. Umgekehrt adelt ein solcher in Ruhm und Ansehen stehender Sammler aber auch das Ansehen der von ihm gesammelten Gegenstände. Die Repräsentativität einer solchen Sammlung bedeutet hohe Kosten für den Sammler, selbst dort, wo es ‚nur‘ um die Sammlung von Texten geht (denn Handschriften benötigen beispielsweise ganze Herden von Schafen allein zur Herstellung des Pergaments). Damit ergibt sich auch eine Spannung zwischen dem repräsentativen Charakter einer Sammlung und dem ‚Nutzwert‘. Es gibt Sammlungen, die angelegt sind, um im Gebrauch zu stehen und unmittelbaren Nutzen zu haben, es gibt Sammlungen, deren Wert im Repräsentativen zu sehen ist. 444 Freimut Löser 4 Ebd., S. 89f. Hadlaub beschreibt schließlich, dass der Sammler, wenn er wüsste, wo noch guter Sang zu haben wäre, danach streben würde, diesen in seine Sammlung zu integrieren - und die für Nachträge freigelassenen Seiten und Spalten im Codex Manesse legen beredt Zeugnis davon ab, dass dies tatsächlich so war. Das heißt, Sammler müssen wissen, was sie sammeln, wie ihre Sammlung angelegt ist, wo Lücken in ihrer Sammlung bestehen, und sie verspüren den Drang nach der Vervollständigung dieser Lücken. Erfolgreiches Sammeln besteht dann vor allem im Organisieren des Sammelns. Bei der Suche nach den Sammlungsgegenständen scheint aber sowohl der Plan als auch der Zufall eine Rolle zu spielen. Wenigstens ist Gottfried Kellers Hadlaub auf seiner Jagd nach weiteren Liedern vom Plan getrieben, aber vom Zufall begünstigt, auch wenn der gefährlich und abenteuerlich ist auf dem Tullner Feld, wo nach einer wilden Schlägerei die Ruhe wieder einkehrt, aber auch der Tod: Johannes hatte seine Gesellen längst verloren. Ganz ernüchtert, aber mit zerrissenem Rock und blutendem Gesicht entzog er sich dem Getümmel, dessen bavarische Rauheit ihm ungewohnt und erschreckend war. Besorgt suchte er in der nächtlichen Verwirrung den alten Spielmann; er fand ihn an der Straße nach Wien mit blutigem Kopfe bewußtlos liegen; […] Johannes brachte den armen Alten mit Sorge und Mühe nach der Herberge. Dort kam er nochmals zum Bewußtsein; er […] bat Johannes, daß er seine Ledertasche mit den Liedern an sich nehmen und behalten möchte, worauf er den Geist aufgab. Am anderen Morgen untersuchte Johannes das Häufchen beschriebenen Pergamentes genauer, das vor ihm lag. Heutzutage würde man für jedes der verblichenen Büchlein und Röllchen, Stück für Stück, hundert rheinische Gulden bezahlen; Johannes dagegen wußte nicht viel damit anzufangen, da er ein einziges Heftchen fand, das einen Namen trug. Es war das Dutzend kleiner Lieder des von Kürenberg, die wir kennen in ihrer altertümlichen Gestalt, Erzeugnisse eines wirklichen und ganzen Dichters, deren Ursprünglichkeit und Schönheit Hadlaub empfand. Erstaunt ahnte er in diesen kleinen Proben einen von hundert anderen Singern unterschiedenen Geist, der in unbekannter Einsamkeit waltete, und der tote Spielmann, der diesen Namen allein aufzubewahren für würdig gehalten hatte, erschien ihm erst jetzt in einem geheimnisvoll ehrwürdigen Lichte. 4 Sammeln ist damit eine stete und langfristige Tätigkeit, die eine gewisse Unabschließbarkeit in sich schließt. Sie mag planvoll angelegt sein, ist aber auch vom Schicksal abhängig; Stich‐ worte wie ‚aufbewahren‘, ‚altertümlich‘ und ‚Ursprünglichkeit‘ machen einen weiteren Wesenszug von Sammlungen, und gerade von Textsammlungen, erkennbar. Sie bewahren der lebendigen Gegenwart (und der Zukunft) Texte der sterbenden Vergangenheit. Die Sammlung sichert das kostbare Gut der Vergangenheit für die Gegenwart und archiviert es für die Zukunft. Und sie tut dies umso besser, je mehr der Sammler sammelt und je mehr er alles sammelt, was der Fall ist, denn nur das Wertvolle zu sammeln, hieße, heute schon zu wissen, was morgen wertvoll sein kann. Hier zeigt sich der Spannungsbogen zwischen der Aura des Vergangenen und der Latenz der Zukunft, den Peter Strohschneider aufgewiesen 445 Gesammelte Sammlungen 5 Peter Strohschneider, „Das Neue Alte. Museum und Archiv, Sammeln und Forschen“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 60, Berlin/ Boston 2016, S. 635-651, bes. S. 637-639 und 647. 6 Vgl. Löser (wie Anm. 1), S. 103. hat. 5 Sammeln hat aber auch einen eminent gegenwärtigen Charakter, wenn man bedenkt, dass Sammeln eben ein Akt ist, der unaufhörlich ausgeübt wird. Sammlungen zeichnen sich durch ihren prozesshaften Charakter aus. Dieser wird besonders dort deutlich, wo man Sammlern - wie jetzt hier anekdotisch - beim Sammeln zuschaut: Wenn ich mit der Sammeltätigkeit der Manesse die Sammeltätigkeit meines Sohnes als Kleinkind vergleiche, fällt mir auf: Die Tätigkeit des Sammelns hängt vom Lebensalter des Sammlers ab und sie neigt dazu, sich unabhängig von der Sammlung und den Gegenständen der Sammlung zu verselbstständigen und sich Moden des Sammelns zu unterwerfen. Die Sammlungen, die mein Sohn angelegt hat, waren von Moden geprägt, die eine Sammelindustrie steuerte, die Sammelgegenstände zu dem Zweck produzierte, dass sie gesammelt würden. Zu einer Zeit beispielsweise wurden Saurier gesammelt, zu einer anderen Zeit Schlümpfe, dann Klebebilder, dann Glasschnuller, während die Mädchen der gleichen Grundschulklasse gleichzeitig auch auf der Jagd nach verschiedenfarbig schillernden Einhörnern waren. Die Glasschnuller wurden transgenderartig getauscht, Einhörner und Fußballklebebilder eher weniger. Etliche Jahre zuvor, im Kleinkindalter, hatte mein Sohn sich noch damit begnügt, im Wald Stöcke zu sammeln: „Die Stöcke sind prima, die Stöcke kann man gebrauchen.“ Vom Gebrauch der Stöcke war aber keine Rede, sie sammelten sich unter einer Balkontreppe und wurden schließlich zu Hunderten anlässlich eines Umzugs entsorgt. Sammlungen sind demnach auch fluktuierend und werden in manchen Fällen von anderen Sammlungen fortgesetzt oder abgelöst. Sammeln macht süchtig und unterliegt oft einem gewissen Rechtfertigungsdruck, der zu meist sekundärer Rationalisierung führt. Der Satz von den „brauchbaren Stöcken“ macht freilich deutlich, dass Sammlungen - wie etwa die Büchersammlungen von Forschern (mindestens ihrem Grundsatz nach und zu früheren Zeiten) - einem recht simplen Zweck dienten: dem Gebrauch und der Nutzanwendung. Auch wenn vielleicht eine Rezeptsammlung sich in dieser Hinsicht vom Codex Manesse unterscheiden mag: auch dessen mögliche simple Nutzbarmachung oder Weiterverwendung ist zu bedenken. Michael de Leone war sich beim Hausbuch auch dieser Bedeutung seiner Sammlung bewusst. Er hielt seine Sammlung zudem, wie ich anderenorts versucht habe zu zeigen - für weitergebenswert an seine Nachkommen, (d. h. Sammeln stiftet Familienzusammenhang und memoria - und so sah ja auch Gottfried Keller Vater und Sohn Manesse beim Sammeln gemeinsam am Werk), - für erzieherisch wertvoll, - für bedeutend unter regionalen Gesichtspunkten und sein unmittelbares Lebensumfeld betreffend, - für literarisch bedeutend. 6 Die Sammlungen inhärente Latenz der Zukunft, von der Strohschneider spricht, wird hier besonders deutlich greifbar: Michael hatte seine Erben im Blick. 446 Freimut Löser III Wenn man den Blick von solchen Grundbedingungen des Sammelns nun auf die Samm‐ lungen von Werken Meister Eckharts lenkt, ergeben sich eine Reihe von Beobachtungen, etwa die folgenden: Die Art des Sammlungsgegenstandes bedingt die Anlage der Sammlung und das Vorgehen der Sammler. Die Überlieferungssituation der lateinischen und der deutschen Werke Eckharts unterscheidet sich grundlegend. Dies liegt einmal an den Sammlern, die (wie Cusanus) im gelehrten lateinischen Bereich anders agieren als bei der Sammlung volkssprachlicher Texte (Dominikanerinnen, Schwestern und Laienbrüder auch anderer Orden, Mystik-interessierte Laien, Beginen). Das betrifft aber auch schon die unterschied‐ liche Entstehung: Lateinische Bibelkommentare sind umfangreiche Werke, die anders konzipiert und anders geschrieben werden als die vielen verschiedenen Predigten in der Volkssprache zu einzelnen Fest- oder Feier- oder Sonntagen des Jahres, die ihren Gebrauchszusammenhang in der unmittelbaren Predigt vor Ort und großteils auch in einem mündlichen Charakter haben. Demgemäß sind die lateinischen Handschriften der Eckhart’schen Kommentare aber auch der lateinischen Sermones seltener zu finden, und sie überliefern ihren Gegenstand / ihre Gegenstände geschlossener als die Handschriften mit einzelnen deutschen Predigten. Hier zeigt sich auch eine Gattungsproblematik, die noch deutlicher wird, wenn man die Pariser Quæstiones mit heranzieht, die in der Regel in Sammelhandschriften von Studierenden bewahrt sind, die in Paris eben die Quæstiones aufgezeichnet haben, die im akademischen Betrieb stattgefunden haben, weitgehend unabhängig davon, welcher akademische Lehrer diese Quæstiones diskutiert oder vorge‐ tragen haben mag. Auch im Bereich der deutschen Traktate wie etwa der nach Kapiteln strukturierten rede der underscheidunge oder dem Buch der göttlichen Tröstung, das von Anfang an in der Schriftlichkeit zuhause war, ergibt sich schon von den Textmengen her gesehen eine andere Grundlage für das Anlegen von Sammelhandschriften als im Predigtbereich. Es ergibt sich so die unterschiedliche Überlieferung nach Gattungen; diese dann unter einem Autornamen zusammenzufassen, wäre entweder die Aufgabe des Autors selbst gewesen, der alle seine Werke etwa im Sinne einer Ausgabe letzter Hand vereint hätte (wie in Seuses Exemplar) oder die Aufgabe gutinformierter Redaktoren oder Redaktorinnen (wie Elsbeth Stagel eben auch im Fall Seuses). Ein solches Konzept der ‚opera omnia‘ hat für Meister Eckhart freilich nie vorgelegen. Heterogene Sammlungen entstehen später dort, wo Eckharts Predigten mit den Traktaten (womöglich in Auszügen) zusammenkommen und sich mit anderen ‚mystischen‘ Kurztexten mischen. Seine ‚opera omnia‘ hat Eckhart also weder selbst vorgelegt, noch wurden sie von anderen vorgelegt. Dies war und ist das Ziel erst seiner neuzeitlichen Editoren, die freilich bis heute nicht ans Ziel ihrer Sammeltätigkeit gelangt sind. Die Frage aber, die sich angesichts dessen stellen muss, ist die, ob Eckhart selbst Eckhart sammelte. Meine eigenen früheren Arbeiten oder neuere von Loris Sturlese deuten darauf hin, dass Eckhart selbst über eine Sammlung seiner deutschen Predigten verfügte und diese auch schriftlich bearbeitet hat; wenigstens machen entsprechende Äußerungen in Predigten darauf aufmerksam: 447 Gesammelte Sammlungen 7 Eduard Sievers, „Predigten von Meister Eckhart“, in: ZfdA 15 (1872), S. 373-439, hier S. 427,84f. 8 Pr. 28, DW II, S. 62,3f. Die Werke Meister Eckharts werden zitiert nach: Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hier: Die deutschen Werke, Bd. 1 bis Bd. 5, hg. von Josef Quint und Georg Steer unter Mitarbeit von Wolfgang Klimanek, Freimut Löser und Heidemarie Vogl, Stuttgart 1957-2019 (zitiert als DW I-DW V). 9 Ebd., Pr. 14, DW I, S. 237,6-8. 10 Meister Eckhart, Werke I. Texte und Übersetzung von Josef Quint, hg. von Niklaus Largier, Frank‐ furt/ Main 1993 (Bibliothek deutscher Klassiker 91 = Bibliothek des Mittelalters 20), S. 893 Anm. zu 168,23-26 und vgl. u. a. Loris Sturlese, „Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen“, in: Meister Eckhart in Erfurt, hg. von Andreas Speer und Lydia Wegener, Berlin 2005 (Miscellanea Mediaevalia 32), S. 393-408; Freimut Löser, „Eckhart im Original? Überlegungen zum Stand der Eckhart-Philologie heute“, in: Meister Eckhart im Original, hg. von Freimut Löser und Dietmar Mieth, Stuttgart 2014 (Meister Eckhart Jahrbuch 7), S. 45-87, bes. S. 79-82. 11 Vgl. Freimut Löser, „Welche deutschen Predigten hielt Meister Eckhart wann in Köln? Antwortver‐ suche“, in: Meister Eckhart in Köln, hg. von Freimut Löser, Regina Schiewer und Andreas Speer (MEJb 14), Stuttgart 2021, S. 7-34. 12 Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985 (2. Aufl. 1989), S. 60. von den andern zwei wie god die sele leidet und wie her ir lôn ist, daz ist anderswô geschriben.  7 Ich schreip einest in mîn buoch: der gerehte mensche endienet weder gote noch den crêatûren, wan er ist vrî […].  8 mer ich gedachte zo nachte, dat got inthoeget solde werden, neit ey alle me ey in, ind sprycht also vyle as inthoeget got, dat myr also wayle behagede, dat ich it in myn boich schryff. (Mêr ich gedâhte zer nahte, daz got enthœhet sölte werden, niht ie al, mêr ie inne, und sprichet als vil als enthœhet got, daz mir alsô wol behagete, daz ich ez in mîn buoch schreip.)  9 Wie Eckharts hier von ihm selbst erwähntes buoch ausgesehen hat, ist umstritten. Die einen (Nikolaus Largier) vermuten dahinter ein Notizbuch, die anderern (Loris Sturlese und ich) ein ähnlich wie im vergleichbaren lateinischen Sermones-Bereich angelegtes Handexemplar der deutschen Predigten als stets im Fluss befindliches Arbeitsinstrument. 10 Mindestens kann man sehen, dass Eckhart die deutschen Predigten systematisch bearbeitet hat. Ihm war dabei offensichtlich auch ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der Texte eigen; dies sieht man an den vielen Selbstzitaten, in denen zahlreiche Predigten jeweils andere Predigten zitieren (sogenannte Rückverweise) und an der Verbindung von Einzeltexten zu Zyklen. So ist es in den letzten Jahren gelungen, einen ‚Zyklus von der Gottesgeburt‘ (vier Predigten) und zwei verschiedene, jeweils in sich, aber auch untereinander zusammenhängende Zyklen in Köln gehaltener Predigten zu konstituieren, die auch inhaltlich eng verbunden sind. 11 Eckharts eigene Sammlung, hat es sie gegeben, hat sich nicht erhalten. Und Kurt Ruh hat im Prinzip recht, wenn er schon 1985 festgestellt hat: Wir dürfen zwar annehmen, daß Eckhart seine Predigten, etwa zur Tischlektüre für Dominikane‐ rinnen, aber auch für andere monastische Gemeinschaften, zusammengestellt und autorisiert hat, aber diese ‚Erstausgaben‘ sind restlos verlorengegangen. 12 448 Freimut Löser 13 Göttingen, Georg-August-Universität, Diplomatischer Apparat, 10 E IX Nr. 18; vgl. Freimut Löser, „Wie weit reicht Meister Eckhart? Zur Überlieferung seiner Werke“, in: Reichweiten. Dynamiken und Grenzen kultureller Transferprozesse in Europa 1400-1520, Bd. 1: Internationale Stile - Voraussetzungen, soziale Verankerungen, Fallstudien, hg. von Nikolaus Henkel, Thomas Noll und Frank Rexroth, Berlin/ Boston 2020 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Göttingen N. F. 49/ 1), S. 171-203, hier S. 178-183. 14 Wolfenbüttel, Herzog August Bibl., Cod. 1066 Helmst. 15 Vgl. Freimut Löser, „Pahncke versus Quint. Zu einem Streitfall der Eckhart-Philologie“, in: ZfdA 123 (1994), S. 173-200. Ganz so restlos vielleicht denn doch nicht, denn frühe Eckhartsammlungen, wie z. B. das Göttinger Fragment 13 zeigen eher Spuren solcher frühen ‚Ausgaben‘; sie zeichnen sich dadurch aus, dass ihre äußere Gestalt auf eine systematisch angelegte größere Sammlung hindeutet. Die Sorgfalt, mit der geschrieben wurde, sichert die Textgestalt erstaunlich fehlerfrei und der breite untere Rand ermöglicht weitere Nachträge. Dass es schon zu Eckharts Lebzeiten in den frühen 20er Jahren des 14. Jahrhunderts oder mit Karin Schneiders Frühdatierung des Fragments sogar noch etwas zuvor zu derart sorgfältig angelegten Predigtabschriften kam, zeugt davon, dass es ein frühes Interesse am Bewahren der deutschen Predigten Eckharts und an der sicheren Aufzeichnung ihrer Textgestalt gab. Solche Handschriften machen den Eindruck einer gültigen und repräsentativen Sammlung und einer Sammlung, die an der Sorgfalt auch des Wortlautes interessiert war. Früh nachweisbar und ebenfalls in die Nähe des Autors führend ist aber auch eine andere Überlieferungsform, die ich als schlichtes Predigtheft bezeichnen würde, so wie sie sich meiner Ansicht nach etwa in der Wolfenbütteler Handschrift findet, die in der Eckhartforschung unter der Sigle Wo1 bekannt ist. 14 Solche frühen Erscheinungen von sechs bis sieben miteinander blockweise verbundenen Predigten scheinen darauf hinzudeuten, dass der Autor bestimmte Predigten bewusst miteinander verknüpft in die Öffentlichkeit entlassen hat, bevor sie zu einem Jahrgang oder gar zu mehreren Jahrgängen von Predigten miteinander vereinigt wurden. Das bedeutet dann aber auch, dass Predigten schon früh zirkuliert haben und von Redaktoren und Schreibern noch zu Lebzeiten des Autors bearbeitet werden konnten. Die Reaktion Eckharts im Prozess auf Texte, die ihm vorgehalten werden, zeigt, dass er diese Texte in der Regel als seine eigenen anerkennt, dass er aber im Einzelfall, wie bei Predigt 2 z. B., der vorliegenden Textform widerspricht und den Schreibern der Texte Irrtümer vorwirft, die nicht auf ihn selbst zurückgehen, sondern auf einer fehlerhaften Überlieferung beruhen. 15 Das bedeutet, dass es schon zu seinen Lebzeiten Texte gab, die in Sammlungen Eingang fanden, die eben nicht autorisiert waren. Auf der anderen Seite wird der Wortlaut der allermeisten Predigten von Eckhart verteidigt und als wahr anerkannt, was eine Autorisierung auch der überlieferten und gesammelten Formen zeigt. In der Regel sind also die früh existierenden Aufzeichnungen zwar auf den Autor selbst zurückzuführen, dann aber durch die Hände von verschiedenen Redaktoren und Schreibern gegangen. Dabei existieren selbstständige Faszikel, die nur Eckhart-Predigten enthalten, also Faszikel mit Einzelpredigten, deren Verbindung ein Autor mit dem Namen Eckhart ist, auch wenn dieser Name durch den Kopisten dann nicht mehr immer eigens genannt wird. D. h. es gab auch ein frühes Sammelinteresse an Texten des Verfassers Eckhart. 449 Gesammelte Sammlungen 16 München, Bayer. Staatsbibl., Cgm. 133; vgl. Karin Schneider, „Die Eckhart-Handschrift M1 (Cgm 133)“, in: Mittelhochdeutsch. Beiträge zur Überlieferung, Sprache und Literatur, hg. von Ralf Plate und Martin Schubert, Berlin 2011, S. 165-176. 17 Vgl. Freimut Löser, „Predigten in dominikanischen Konventen. ‚Kölner Klosterpredigten‘ und ‚Paradisus anime intelligentis‘“, in: ‚Paradisus anime intelligentis‘. Studien zu einer dominikanischen Predigtsammlung aus dem Umkreis Meister Eckharts, hg. von Burkhard Hasebrink, Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer, Tübingen 2009, S. 227-263. 18 Vgl. Freimut Löser, Meister Eckhart in Melk. Studien zum Redaktor Lienhart Peuger. Mit einer Edition des Traktats ‚Von der sel wirdichait vnd aigenschafft‘, Tübingen 1999 (Texte und Textgeschichte 48), 604 S. (= Diss., Würzburg 1987). 19 London, Victoria and Albert Museum, National Art Libr., MSL/ 1955/ 1810 (olim L 1810-1955); vgl. Freimut Löser, „Als ich mê gesprochen hân. Bekannte und bisher unbekannte Predigten Meister Eckharts im Lichte eines Handschriftenfundes“, in: ZfdA 115 (1986), S. 206-227, bes. S. 208, 220- 225, 226 f. (mit Nachweis gedruckter Parallelüberlieferung zu 21 Predigten, Zuweisung von zwei ungedruckten Predigten ‚Sente Peter‘ und ‚Alle dy schar‘ an Eckhart und Nachweis von zwei Predigten in den ungedruckten ‚Kölner Klosterpredigten‘ unter Meister Gerhard). Frühe Eckhart-Sammlungen, wie die ebenfalls durch Karin Schneider sehr früh, nämlich in die 20er Jahre des 14. Jahrhunderts, datierte Münchener Handschrift, 16 zeigen gleichzeitig aber auch, dass Eckhart-Texte schon bald in den Kontext mit anderen Eckhart-nahen Texten gerieten und damit schon zu Eckharts Lebzeiten auch einen nichtmystischen Zusammenhang eingingen. So etwa, wenn die Predigten Meister Eckharts mit Predigten aus den sogenannten ‚Kölner Predigten‘ verbunden werden, die eine Konkurrenzsituation der Dominikaner innerhalb der deutschen Predigt offenbaren. Die ‚Kölner Predigten‘ sind in ihrem gesamten Sammlungszusammenhang dezidiert anti-eckhartisch und wenden sich zu einer Zeit, bevor Eckhart selbst in Köln tätig war, eher an einen weiblichen Benutzerkreis. 17 In der genannten Münchener Handschrift kommt es dennoch zu Überlieferungsüberschnei‐ dungen. Es gab aber auch, wie gesehen, schon früh ein Interesse von Sammlern an der Dokumentation des Autornamens; dies manifestiert sich - ähnlich wie in den großen Minnesanghandschriften - auch in der Ordnung nach dem Autorprinzip, kombiniert mitunter mit Themen und liturgischer Ordnung: Die bekannte vor 1340 entstandene Sammlung des Paradisus anime intelligentis ist am Thema orientiert und versammelt von einem Dominikaner angelegt und gut dominikanisch deutschsprachige Predigten zum Thema der Vorrangstellung der vernünftichheit vor dem Willen oder der Liebe (was der franziskanischen Position entspräche). Dabei werden zugleich die dominikanischen lectores und magistri der Ordensprovinz Saxonia dokumentiert. Leitgestalt ist Meister Eckhart. Das Register des Paradisus (Abb. 1) fasst das die Predigtinhalte präzis zusammen, nennt die Autoren und ordnet diese ein. Die großen Eckhart-Sammlungen des 15. Jahrhunderts werden meiner Einschätzung nach besonders von diesem Autor-Prinzip getragen. Die Laienbrüderbibliothek im bene‐ diktinischen Tegernsee versammelt, inspiriert durch die Melker Reform, eine ganze Reihe eckhartscher Predigten, hat ihre Information, dass es sich dabei um Eckhart-Predigten handelt, aber aus älteren dominikanischen Quellen, deren Angabe, die Texte stammten vom Mitbruder Eckhart, übernommen werden. 18 Die Londoner Eckhart-Handschrift Lo4 beispielsweise versammelt, ohne Eckharts Namen zu nennen, nahezu ausschließlich Predigten Meister Eckharts. 19 Die Nürnberger 450 Freimut Löser 20 Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. IV, 40; Franz Jostes, Meister Eckhart und seine Jünger. Ungedruckte Texte zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg (Schweiz) 1895 (Neudruck mit einem Wörterver‐ zeichnis von Peter Schmitt und einem Nachwort von Kurt Ruh, Berlin/ New York 1972). Abb. 1: Paradisus anime intelligentis, Bodleian Libraries, University of Oxford, MS Laud Misc. 479, Bl. Ir. Der Abdruck erfolgt unter CC-BY-NC 4.0. Handschrift N4, auf der Franz Jostes‘ Edition beruht, 20 ist eine - freilich nicht ausschließlich Eckhart geltende - der größten Eckhart-Sammlungen überhaupt, die noch von den Melker Eckhart-Handschriften und dem sogenannten Basler Taulerdruck (BT; VD 16 J 784) überboten wird. Dieser Druck Adam Petris vom August 1521 sammelt Predigten eindeutig nach dem Autorprinzip und bietet zunächst eine Reihe von Predigten Johannes Taulers, die auch entsprechend unter Taulers Namen eingeführt werden. Klar davon abgehoben werden im zweiten Teil dann Predigten, deren Autorschaft fraglich erscheint: 451 Gesammelte Sammlungen Hie volget das ander teyl der predigen so newlich funden / und mit fleissiger arbeit zuosamen gelesen send / des obbedachten hochgelerten Joan. Tauleri. Wie wol an etlichenn eyn zweifel möcht sein / laß dichs nit hinderen / dann sy von einem recht gelerten seiner zeit (das ist gewiß) gemacht seind / denn sy sich auff einen grundt ziehen / das ist auff rechte gelassenheyt / und bereitung innerliches gemüts mit got. (BT, Bl. 165ra; u/ v-Ausgleich; Superskripte vereinfacht: ä, ö. ü, uo) Der dritte Teil versammelt die Predigten Meister Eckharts, die Eckhart auch als Autor hervorheben und die über diesen Autor zahlreiche Aussagen machen: Folgen hernach etlich gar subtil und trefflich kostlich predigen / etlicher vast gelertter andechtiger vätter vnd lerern / auß denen man achtet Doctorem Tauler etwas seins grundes genommen haben. Namlich vnd in sonders meister Eckarts (den er under weylen in seinen predigen meldet)der ein fürtreffenlich hochgelerter man gewesen ist / und in subtilikeiten natürlicher und göttlicher künsten so hoch bericht / das vil gelerter leüt zuo seinen zeiten in nit wol verstuonden / Deßhalb seiner ler ein teyl auch in etlichen stücken und articklen verworffen ist / und noch von einfeltigen menschen gewarsamlich gelesen werden sol. Wiewol hiehar in diß buoch mit fleiß nüt gesetzet ist / dann das gemeinlich wol verstanden und erlitten werden mag / Das ist ein teil seiner ler und predig / darauß man spüren mög / wie gelert und subtil er gewesen sey / und uff was grund all sein ler und predig (wie Doctor Taulers)gevestnet gewesen sey. Hievor man weyter mercken mag / daz vorzeiten (doch nit als yetz) auch gelert leüt gewesen seyen in aller hand künsten die auch in teütschen landen geschinen haben. (BT, Bl. 242va) Es zeigt sich, dass hier ein klares Bewusstsein der Bedeutung Meister Eckharts hervortritt, dass die Sammlung eindeutig an der Autorschaft dieser Predigten interessiert ist, die eben deswegen gesammelt werden, weil sie von diesem berühmten und subtilen Meister Eckhart stammen. Wo Hadlaubs Manesse darnâch rank des er diu liederbuoch nû hât, weiß der Drucker Adam Petri (oder der gelehrte Verfasser seiner Vorlagen), die gesammelten Pre‐ digten und predigbuoch miteinander in Relation zu setzen, Abhängigkeiten von Predigern untereinander zu kommentieren und Texte ihrer Bedeutung nach einzusortieren. Zum Sammelinteresse kommt ein philologischer Zug, das Interesse historischer Einordnung, sowie theologische Beschlagenheit und Vorsicht. Eine solche Art der Sammlung ist mehr als eine schlichte Textsammlung. Man könnte fast sagen, dass solche Sammler - und erst solche Sammler - geradezu den Namen des Autors machen. Aus den Predigern Johannes Tauler und Meister Eckhart werden die Marken Tauler und Eckhart. Die Sammlung will wirken; sie zielt auf das ‚Subtile‘ und sie will gleichzeitig durch ihren Auswahlcharakter die Rechtgläubigkeit sicherstellen. Sie ist keine selbstbezogene Aktivität des Sammlers, sondern sie will benutzt und gelesen werden. Das ist aber bei einem kommerziell ausgerichteten Unternehmen und bei einer Textsorte, die man heute wohl am ehesten als Klappentext eines Buches oder als Werbetexts eines Verlages bezeichnen könnte, kaum verwunderlich. So gesehen verändern die Sammlungen der Dru‐ cker den Sammlungscharakter von der Dokumentation (wie im Paradius anime intelligentis) hin zu Publikumsorientierung und Nutzanwendungscharakter, bewahren sich aber die Autor-Orientierung und verstärken diese im Blick auf den eher ‚reißerischen Klappentext‘ sogar noch, ohne dabei freilich die philologische Genauigkeit der Identifikation der Autoren aufzugeben. 452 Freimut Löser 21 Vgl. Löser (wie Anm. 18). 22 Melk, Stiftsbibl., Cod. 1865 (586 / L5) (= Me1), Bl. 307va, 313va, und an zahlreichen weiteren Stellen der genannten zweiteiligen Sammlung; zweiter Band: ebd., Cod. 705 (371 / G33) (= Me2). 23 Ebd., Cod. 1865, Bl. 156v. 24 Vgl. Löser (wie Anm. 18). 25 Adolf Spamer, Über die Zersetzung und Vererbung in den deutschen Mystikertexten, Diss. Gießen 1910, S. 13. 26 Ebd., S. 22. Ähnlich verhält es sich freilich schon mit den großen Eckhart-Sammlungen, die der Laienbruder Lienhart Peuger im benediktinischen Stift Melk im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts handschriftlich angelegt hat. 21 Hier lässt Peuger dem Benutzerkreis der Laienbrüder in Melk den gelehrten Magister der Pariser Universität gegenübertreten. Folglich sind Eckharts deutsche Predigten mit solchen aus der Universität Wien (Nikolaus von Dinkelsbühl und andere Magister) kombiniert, die nach dem Jahreszyklus geordnet sind: Dabei wird Eckhart als Autor stets klar identifiziert, wenn er immer wieder zu Beginn einer Predigt als Autor genannt wird: Ein andere predig Maister Ekcharts von paris, Ein predig vom advent Maister Ekcharts von paris.  22 Dabei wird sogar klar differenziert, von wem welche Predigt stammt und von wem nicht: Ein predig von vnser frawen mitleiden aws der ler sand pernharts vnd nit maister Niclas.  23 In all diesen bisher erwähnten Eckhart-Sammlungen werden Eckhart-Predigten zwar im Blick auf das Laienbrüderpublikum entscheidend verändert (sprachlich und inhaltlich vereinfacht, weniger radikal und didaktischer, ‚katholischer‘ gestaltet als ihre Ausgangs‐ version 24 ), aber dennoch als solche überliefert und gesamthaft bewahrt. Dagegen gibt es aber auch eine Tendenz, Eckhart’sche Aussagen auch in Mosaiktraktaten einzubauen oder Spruchsammlungen mit Sentenzen von Meister Eckhart anzulegen. Es ist dies ein Feld, mit dem sich Adolf Spamer schon früh beschäftigt hat, für den feststand, daß man die Worte, an denen man sich erbaute, da hernahm, wo man sie am leichtesten und zugleich suggestivsten fand. Wer als Schöpfer hinter diesen Worten stand, war dabei zumeist einerlei. Nur in verhältnismäßig seltenen Fällen schrieb man den Namen dessen hinzu, von dem man die Worte selbst gehört hatte, oder den man für ihren Verfasser hielt, um ihnen durch eine Autorität ein größeres Gewicht zu geben. Möglich auch, daß sich schon früh eine Art Sport herausbildete, die Aussprüche berühmter und beliebter Meister zu sammeln. 25 Spamer stellte dabei auch den manchmal geradezu ausgestellten Sammlerstolz der Kompi‐ latoren fest: So ist es begreiflich, daß die Kompilation, als Selbstverständlichkeit geübt, meist keines besonderen Hinweises auf ihre Arbeitsweise bedarf, daß aber da, wo sich ein solcher doch findet, er einen ge‐ wissen Stolz nicht verkennen läßt. Er läßt sich heraushören, nicht nur aus den gemächlich-breiten Bekenntnissen zu kompilatorischer Arbeitsweise, wie etwa bei der Dorothea von Hof (Einsiedeln 752 in 4 0 […]), die ihre nachgaenden lere us vil buecher…zuosamen gelessen und zu gezougen und zesament gesetzt hat, oder in dem Heiligenleben des Hermann von Fritzlar […] Diz buch ist zu sammene gelesen uzze viele anderen bucheren und uzze vile predigaten und uzze vil lererern.  26 453 Gesammelte Sammlungen 27 Melk, Stiftsbibl., Cod. 1569 (615 / L27), Bl. 85r-87v); vgl. Löser (wie Anm. 18). Abb. 2: Melk, Stiftsbibl. Cod. 1569 [615 / L27], Bl. 87r. Bei diesen Kompilationen und Mosaiken können Eckhart-Aussagen wegen ihres passenden Inhaltes anonym unter die Steinchen von Mosaiken geraten, es kann aber durchaus auch der Autor, sein Name, seine Bekanntheit und seine Bedeutung im Mittelpunkt stehen. Etwa wenn so viele Aussagen Eckharts zur Eucharistie wie irgend möglich zusammengetragen und in einen nahezu ausschließlich Eckhart-Materialien enthaltenden Traktat versammelt werden, 27 oder wenn ganze Seiten mit quasi ausgeschnittenen und neu montierten Sätzen von Meister Eckhart zur Dreifaltigkeit gefüllt werden, wie in Melk, Stiftsbibl., Cod. 1569 [615 / L27], Bl. 87r (Abb. 2): Ob der fleißige Sammler damit immer die seiner Intention entsprechende Wirkung erzielte, scheint freilich mehr als fraglich angesichts der warnenden Bemerkung, die ein 454 Freimut Löser späterer Benutzer am unteren Rand hinterlassen hat: Dye materij der siben pletter ist hoͤch und dem menschen wenig nucz. darumb verstee es recht. Beim ‚Eckhart-Sammler‘ Peuger in Melk kann man auch eine Veränderung der Sammel‐ tätigkeit beobachten: Es beginnt um 1418 mit einzelnen Predigten, hat dann um 1450 ein großes Reservoir solcher Predigttexte in großen Folianten erreicht und verlegt sich jetzt auf die Neukombination thematisch gesammelter Sätze in ‚Eckhart-Traktaten‘. Solche kenntnisreichen Neukombinationen, Mosaik- und Komposittraktate sind nur möglich, weil die Arbeitsmaterialien beisammen sind und die Arbeitsbedingungen ideal, hinter denen eine eigene Organisation steht: Die Bibliothek. Der Organisationsgrad solcher Sammlerbibliotheken ist dabei insgesamt ganz unterschiedlich: Das reicht von einfachen Katalogen bis zu differenzierten Handschriftenerschließungen und -registern (wie bei dem Zisterzienser Nikolaus von Landau), zu den Exzerptsammlungen und Zettelkästen Peugers oder zu Querverweisen, in welcher Handschrift oder in welchem Frühdruck der Bibliothek welche Predigt in ähnlichem oder anderem Wortlaut noch einmal vorhanden ist (wie bei den Taulerhandschriften und -drucken in Tegernsee). Spätestens im 15. Jahrhundert aber weitet sich der Sammlungshorizont von der Sammelhandschrift zur Bibliothek. Das heißt, einzelne Meister-Eckhart-Handschriften verbinden sich zu wahren Eckhart-Bibliotheken. Das traf im lateinischen Bereich schon auf Cusanus zu, der sich an Eckhart so interessiert zeigte, dass er nicht nur seine Kommentare, sondern eben auch seine Sermones kopieren ließ. Dies trifft eingeschränkt auch früh auf die Erfurter, Basler und Buxheimer Kartausen zu, wo mehrbändige Eckhart-Sammlungen teils beabsichtigt, teils zufällig zusammenkommen; es trifft zu auf die Bibliothek der benediktinischen Laienbrüder in Tegernsee, wo freilich Tauler vorherrscht, und es trifft besonders auf Melk zu, auf die Dominikanerinnen in Nürnberg, im Elsass und in Augsburg. Eckhart löst gemeinsam mit Tauler geradezu eine gewisse Sammelleidenschaft aus. Dies lässt sich am Beispiel von Daniel Sudermann eindrücklich zeigen, der elsässische Handschriften vornehmlich aus St. Nikolaus in Undis zusammenträgt und dabei ebenso glücklich wie davon überzeugt ist, dass er die Werke der bedeutenden Mystiker Tauler und Eckhart in Händen hält und daher die Handschriften an den Rändern mit seinem Besitzereintrag wie mit eigenen Notizen zur Identifikation der Autoren versieht (Abb. 3): Sudermann ist gleichzeitig stolzer Besitzer einer Handschriftensammlung, auf deren Besitz er Anspruch erhebt und den er sich sichern will. So notiert er auf dem unteren Rand zu Beginn des hier abgebildeten kleinen Codex seinen Namen und die Mahnung: Mein freunt, hast Jesum Christum lieb / so werd an diesem buch kein dieb. Der Sammler Sudermann wird dabei nicht müde, die Texte Eckharts und Taulers aus seiner Kenntnis heraus zu identifizieren; etwa wenn er sie immer wieder mit Randnotizen versieht wie: M. eckhart oder Taulerus oder Eckhart halt ich oder Tauler (München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 818, Bl. 24r und 118r). Der Sammler wird dabei gleichzeitig zur Autorität, wenn er eigenständig und eigenhändig die Expertise einträgt (Eckhart halt ich). Und er verwendet Eckhart’sche Lehren wie die von der menschlichen Gottesverwandtschaft zur Produktion eigener Verse (ebd., Bl. 129v), eignet sich Eckhart also an und verwandelt sich ihn in gewisser Weise sogar an. Er weiß schließlich ganze (wenn auch falsche) Geschichten von Eckhart zu berichten, die die hochgradige Identifikation des Schwenkfeldianers (1550-1631) mit seinem Sammelgegenstand und dessen Faszinosum für ihn zeigen: 455 Gesammelte Sammlungen 28 Zitiert nach Spamer (wie Anm. 25). Abb. 3: München, Bayer. Staatsbibl., Cgm 818, Bl. 1r. Magister Eckhart, welcher Anno 1300 zu Heydelberg von seinen widerwertigen Cathol. vmbkommen, drúmb sie den von Gott hoherleüchten mann nit verstúnden, wie noch geschicht. Doch behaltens in den Clöstern ihm vnd wider seine schrifften in hohem werde vnd lassens sie nit gern vnterm gemeine man kommen, darúmb das vil Irrtümber dadurch offenbar werden. (Berlin, SBPK, Ms. Germ. fol. 79, Bl. 1v). 28 Das heißt alles in allem: Die mittelalterlichen Sammlungen von deutschen Eckhart-Pre‐ digten reichen gewissermaßen von Meister Eckhart selbst bis zu einer produktiven Rezep‐ tion im 16. und 17. Jahrhundert und besitzen durchaus unterschiedlichen Charakter. Bezieht man jetzt die Beobachtungen zum mittelalterlichen Textsammeln, die zu Beginn anhand anderer Textsorten gemacht wurden, ein, ergibt sich: Im Spannungsfeld zwischen Reprä‐ sentation und Nutzen überwiegt bei den Eckhart-Sammlungen der Gebrauchscharakter. Sammlungen von Eckhart’schen Jahrespredigten dienen, evtl. ergänzt um die Texte anderer 456 Freimut Löser 29 Franz Pfeiffer, Meister Eckhart, Deutsche Mystiker des 14. Jahrhunderts Bd. 2, Leipzig 1857 (Neudruck Aalen 1962), S. 3. 30 Vgl. Freimut Löser, „Rezeption als Revision. Marquard von Lindau und Meister Eckhart“, in: PBB 119 (1997), S. 425-458. Prediger, der eigenen Lektüre. Aussagen Eckharts werden gar von anderen Predigern wie dem Zisterzienser Nikolaus von Landau schon um 1340 oder dem Franziskaner Marquard von Lindau in brauchbare Einheiten und Sätze zerlegt und in eigene Predigten integriert, ohne den ursprünglichen Autor zu nennen. Im Copy-and-paste-Verfahren werden Eckharts Texte so eigenen Bedürfnissen und Ansichten angepasst. Auf der anderen Seite, etwa in Peugers Verehrung für den ‚Meister von Paris‘ oder in Sudermanns Hochschätzung, spiegelt sich auch eine gewisse Repräsentativität, die den hohen Stellenwert des Gesammelten auf den Status des Sammlers abfärben lässt. Das gipfelt in der kurzen Inhaltsbeschreibung, die der Basler Taulerdruck den Eckharttexten voranstellt (‚hochgelehrt und subtil‘) oder noch mehr in den wahrhaft überzeugten Behauptungen, die die Stuttgarter Handschrift St2 (Cod. brev. 88), den Eckhartpredigten DW IV Nrr. 101 und 104A beigibt: Diz ist meister Eckehart dem got nie nút verbarg. Und: Diz ist ovch meister Eckehart der lerte dú warheit alle vart. Eine solche Eckhart-Begeisterung und ein solches Eckhart-Vertrauen hat auch die heute immer noch wirkmächtigste Sammlung von Eckhartpredigten geprägt: Franz Pfeiffer beginnt seine Ausgabe von 1857, indem er die erste und die dritte Predigt exakt so einleitet. Dass Eckhart stets die Wahrheit lehrte, steht der dritten Predigt voran und der Hinweis: DIZ IST MEISTER ECKEHART DEM GOT NIE NIHT VERBARC eröffnet, fett und in Großbuchstaben gedruckt, die erste Predigt und die gesamte Edition. 29 Damit stilisiert Pfeiffer seine Ausgabe quasi zu einer mittelalterlichen Sammlung und transportiert die Eckhart-Gefolgschaft des mittelalterlichen Schreibers in seine Gegenwart und in die Zukunft; denn mit Pfeiffers Sammlung, die die Eckhart-Philologie prägte, findet die Eckhart-Begeisterung einzelner Sammler(innen) des Mittelalters und Eckhart-Jünger des deutschen Idealismus ihren Weg in die Neuzeit; und wahrscheinlich sind zahlreiche Leser Eckharts auch heute von der Wahrheit dieser Aussagen überzeugt, dass Gott dem Meister Eckhart nie etwas verbarg und der Meister stets die Wahrheit lehrte (und heute noch lehrt). Demgemäß - und auch dies scheint ein Kriterium, das man an Sammlungen anlegen kann - sind einige der Eckhart-Sammler durchaus an der Bewahrung des originalen Wortlautes interessiert, während andere (wie der Melker Laienbruder Peuger oder die Prediger Marquard von Lindau und Nikolaus von Landau) die Texte Eckharts ganz nach ihrem Gutdünken verändern und den eigenen Bedürfnissen und denen ihres Publikums anpassen: Bei Peugers Bearbeitungsweise greift man stets die Zielrichtung auf sein Publikum hin (Laienbrüder seines Klosters), Nikolaus von Landau sammelt und schreibt im Blick auf die Novizen seines Ordens, denen ein Predigt-Lehrbuch zur Verfügung gestellt werden sollte, und bei Marquard von Lindau kann man gar von ‚Rezeption als Revision‘ sprechen. 30 Im Vordergrund der Sammeltätigkeit steht aber, und dies war für mich überraschend, bei den großen Sammlungen eher der Autor als das Thema. Die Sammelhandschriften und Drucke stellen Eckhartpredigten zusammen, wobei mitunter (Fehlzuschreibungen sind wie beim Minnesang in Einzelfällen möglich) Fremdgut in die Sammlungen gerät. Das steuernde Bewusstsein aber sucht dezidiert nach Eckhart-Predigten. Und selbst wenn ein Thema im Mittelpunkt steht (wie beim Paradisus anime intelligentis), tritt auch hier der 457 Gesammelte Sammlungen 31 Ruh (wie Anm. 12), S. 60. 32 Ebd. 33 Vgl. Löser (wie Anm. 30). Autor durchaus mit in den Vordergrund, etwa wenn neben dem Leitthema vernünfticheit die Person Eckhart - alle anderen Autoren weit überragend - mit mehr als 30 Texten zur Leitfigur der Sammlung wird. Die Bedeutung der Regionalität und der gegenseitigen Vernetzung für Sammlungen, wie sie etwa auch am Codex Manesse (und erst recht in Kellers Erzählung darüber) spürbar wird, ist auch bei den Eckhartsammlungen zu greifen. Der Paradisus ist die dominikanische mitteldeutsche Sammlung, der in Melk die südostdeutsch-bairische Sammlung gegenüber‐ steht, die sich freilich aber - man war offenbar gut vernetzt - aus mitteldeutschen Quellen speist. Im Schwäbischen sticht Buxheim hervor, nicht ohne sein Netzwerk denkbar, das ebenso wie die Rebdorfer Eckhart-Sammler gute Drähte zur Devotio moderna hat. Kurt Ruhs Aussage von 1985, dass die uns erhaltenen Sammlungen „insgesamt sekundäre Sammlungen“ sind, „frühestens gegen Mitte des 14. Jahrhunderts redigiert“ trifft im We‐ sentlichen zu. Dass es aber dabei „keinem der Redaktoren […] wohl irgendwie um Meister Eckhart“ ging, 31 kann heute so nicht mehr stehen bleiben. Man schuf auch „Anthologien mit mystischen und aszetischen Schriften“, 32 aber man sammelte eben auch ganz bewusst Texte, die man - manchmal nicht ohne Stolz - in seine ‚Eckhart-Sammelhefte‘ einkleben konnte. Aber sie alle sammeln eben nicht nur Eckhart, sondern immer auch anderes. Eckharttexte sind Bausteine in ihren eigenen Gebäuden, die sich vieler unterschiedlicher Bausteine bedienen; und diese Gebäude sind weder Museen noch Archive, sondern Schulen zur geistlichen Unterweisung anderer. Eckhartsammler und Eckharttextjäger wie Cusanus, Lienhart Peuger und der Redaktor des Paradisus legen zudem schon ihre Eckhart-Sammlungen mit durchaus unterschied‐ lichen Intentionen an. Dabei gibt es offenbar kaum einen Eckhartsammler und kaum eine Bibliothek, die die Grenzen zwischen den lateinischen und den deutschen Texten überspringt und beides gleichzeitig versammelt. Die Ausnahme bildet Marquard von Lindau, der sowohl den lateinischen Johanneskommentar als auch eine Fülle an deutschen Predigttexten kennt und nutzt, diese freilich in Sätze zerlegt, die er in eigene Texte einbaut und dabei auch inhaltlich seinen Bedürfnissen anpasst, was so weit geht, dass er inhaltliche Aussagen stark verändert und revidiert. 33 Man wird auch sagen können, dass es keinem der Eckhart-Sammler irgendwie um Vollständigkeit ging. Mit einer Ausnahme: Die fleißigen Eckhartjäger, die im Auftrag von Eckharts Kölner Gegnern unterwegs waren, waren bestrebt, möglichst viele häresiever‐ dächtige Sätze aus Eckharts Werken (den deutschen und den lateinischen) ‚auszuschneiden‘ und in ihre Anklageschrift zu ‚kleben‘. Gerade diese Sammlung gerade dieser Eckhartjäger aber war die wirkmächtigste, denn sie prägt bis heute unser Eckhartbild. Deshalb muss abschließend wenigstens kurz darauf eingegangen werden, wie neuzeit‐ liche Editoren und Sammler von Eckharts gesammelten Werken mit Eckhart umgehen und wie sie ihrerseits Eckhart sammeln. Dabei ist festzustellen - und das kann hier nur noch kurz ausgeführt werden - dass der Ansatz vor Josef Quints Eckhart-Ausgabe ein ganz anderer war als nach Quint. Heute exemplarisch zeigen kann man das an den Editoren 458 Freimut Löser 34 Jostes (wie Anm. 20). 35 Pfeiffer (wie Anm. 29), S. IX. 36 Ebd., S. XI. und Forschern Pfeiffer, Strauch, Jostes, Brethauer, Pahncke und Spamer. Bei ihnen allen stehen die mittelalterlichen Sammlungen selbst im Mittelpunkt. Das heißt, der neuzeitliche Eckhart-Editor und Eckhart-Sammler des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, der den Anspruch hat, Eckharts gesammelte Werke, wenn nicht Eckharts gesamtes Werk zu edieren, ließ sich von den mittelalterlichen Sammlungen leiten, die ihm Eckhart-Predigten als Eckhart-Predigten präsentierten. Beispielhaft dafür kann Franz Jostes’ Ausgabe der Nürnberger Textsammlung stehen, die eine der größten Textsammlungen Eckharts, die der Nürnberger Dominikanerinnen, bekannt gemacht hat. Jostes sagt von seinen Untersuchungen: Sie ziehen eine Eckharthandschrift ans Licht, die nicht nur zu den ältesten sondern auch zu den reichhaltigsten ihrer Art gehört. Ich fand sie in der Nürnberger Stadtbibliothek Cent. IV, 40. […] Diese Sammlung ist aus kleineren Sammlungen zusammengesetzt, die man von verschiedenen Seiten her bekommen hatte; man sieht es der Sprache noch an, dass das eine in ziemlich weiten Umkreisen, anderes direkter aus Eckharts Heimat herübergekommen war. 34 Auch Franz Pfeiffer tritt uns im Vorwort seiner Eckhart-Ausgabe quasi mit einem Schmet‐ terlingsnetz entgegen, in dem er im Zuge einer langen Jagd viele schöne bunte Lepitoptera Eckhardi fing: Die vorliegende erste abtheilung enthält […] alles, was ich während achtzehn jahren unablässigen forschens und sammelns aus gedruckten büchern und handschriften von Eckhart erlangen konnte. 35 Jagdinstrument und Sammelwiese Pfeiffers gleichzeitig sind dabei die mittelalterlichen Handschriften, ihr Zeugniswert und ihre Ordnung, die er übernimmt: Ich glaube daher, mich lediglich an meine quellen und die reihenfolge, in welchen diese die einzelnen predigten mir darboten, halten zu sollen. Zu diesem ende wurden die handschriften, die sich durch alter und zuverlässigkeit des textes auszeichnen, und unter diesen wieder diejenigen vorangestellt worin die stücke durch überschriften als Eckhardische bezeichnet sind. 36 Dies ändert sich erst mit Josef Quint, den als Eckhart-Sammler vor allem eine Frage interessiert: Ist wirklich Eckhart drin, wo Eckhart draufsteht? Quint versucht, die Echt‐ heitsfrage durch die stete Rückbeziehung auf Aussagen des Eckhart-Prozesses zu klären, indem er einzelne Sätze aus den erhaltenen überlieferten Predigten in den Exzerpten des Prozessmaterials nachweist und damit stringent beweisen will, dass die jeweiligen vollständigen Predigten, die derart im Prozess zitiert wurden, denn auch als ganze von Meister Eckhart sind. Das heißt: Bis Quint las man das als Eckhart, was die mittelalterlichen Eckhartsammler als Eckhart sammelten. Nach Quint liest man Quints Eckhart als Eckhart. Aber auch Quint macht sich abhängig von einer ganz anderen Art von Sammlung: Der 459 Gesammelte Sammlungen Sammlung eben häresieverdächtiger Sätze, die die Eckhartjäger an Handschriften und Predigtmit- und -abschriften erhaschen konnten und aus Eckharts Texten exzerpierten. Was Quint so sammelt, ist dann eben jener häresieverdächtige Eckhart. Georg Steer hat im letzten Predigtband der Ausgabe (DW IV) insgesamt dann weder das eine (mittelalterliche Handschriften) noch das andere Prinzip (Echtheitsnachweis qua Prozess und abgestufte Echtheitskriterien) konsequent weiterverfolgt, sondern in wechselnder Folge ausgewählte Predigten ediert, zuletzt in DW IV,2 sogar solche, die seiner Meinung nach gar nicht von Meister Eckhart sind, und die ich entdeckt hatte, weil ich in mittelalterlichen Eckhartsammlungen Texte sammelte, die die Forschung bis dato übersehen hatte. Das heißt, auch die neuzeitlichen Eckhart-Ausgaben bis heute sind letztendlich der Aus‐ fluss verschiedenartiger Sammelprinzipien und Sammlungen des Mittelalters. Dass dieses Sammelns kein Ende ist, das haben die vielen Entdeckungen von Eckharthandschriften und ‚eckhartverdächtigen‘ Texten der letzten Jahrzehnte gezeigt. In Eines setzen lassen wird sich dies alles schwer. Es wird wohl eher beim Vielen bleiben. Zum Glück (? ) steht der per se unendlichen Sammlung heute mit der neuen Technik das nahezu unendliche digitale Sammelalbum zur Verfügung. 460 Freimut Löser 1 Vgl. z. B. Sammeln. Eine (un-)zeitgemäße Passion, hg. von Martina Wernli, Würzburg 2017 (Würz‐ burger Ringvorlesungen 12), Einleitung, S. 7-26, hier S. 19; Aleida Assmann bestimmt die Sammlung als „Ordnungssystem“, vgl. Aleida Assmann, „Sammeln, Sammlungen, Sammler“, in: Erleben, Erleiden Erfahren. Die Konstitution sozialen Sinns jenseits instrumenteller Vernunft, hg. von Kay Junge, Daniel Suber und Gerold Gerber, Bielefeld 2008, S. 345-353, hier S. 349; zum Prozess der Etablierung von Sammlungen Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800, hg. von Andreas Grote, Opladen 1994 (Berliner Schriften zur Museumskunde 10); zur wirkungsmächtigen Konzeption des kulturellen Gedächtnisses Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 2 Vgl. z. B. Nikolaus Staubach, „Diversa raptim undique collecta. Das Rapiarium im geistlichen Reform‐ programm der Devotio moderna“, in: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen, hg. von Kaspar Elm, Wiesbaden 2000, S. 115-147; zu den Sammelpraktiken der Biblio‐ thek des Dominikanerinnenkonvents St. Katharinental bei Diessenhofen Hans-Jochen Schiewer, „Uslesen. Das Weiterwirken mystischen Gedankenguts im Kontext dominikanischer Frauengemein‐ schaften“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 581-603. 3 Vgl. die Textedition Die Offenbarungen der Katharina Tucher, hg. von Ulla Williams und Werner Williams-Krapp, Tübingen 1998 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 98). Textzitate sind dieser Ausgabe entnommen, wenn nicht anders angegeben. Ich danke Dr. Christine Sauer (Stadtbibliothek Nürnberg) herzlich dafür, dass sie mir gestattet hat, die Sammelhandschriften Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 57, Cent. VI, 53, Cent. VI, 59, Cent. VI, 81 und Cent. VI, 100 zu untersuchen. Die Forschung datiert die Offenbarungen aufgrund einer textinternen Jahresangabe um 1421 (Eintrag 82, S. 65, 22 f.) und zur Zeit der weltlichen Witwenschaft der Katharina Tucher, dazu Karin Schneider, „Tucher, Katharina“, in: 2 VL, Bd. 9, Berlin/ New York 1995, Sp. 1132-1134, hier Sp. 1132. Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht Die Offenbarungen der Katharina Tucher und Texte ihrer Büchersammlung als Literatur im Kloster Simone Kügeler-Race I Einleitung In der fächerübergreifenden Forschungsdiskussion sind Praktiken und Formen des Sam‐ melns als ordnungs- und bedeutungsstiftende Kulturtechniken in den vergangenen Jahren verstärkt in den Fokus des Interesses gerückt. 1 Ein aufschlussreiches Fallbeispiel für den Bereich der mittelalterlichen Literaturproduktion, für die das Sammeln eine basale Tätigkeit der Textproduktion und -bewahrung in den verschiedensten Erscheinungsformen und Ge‐ brauchszusammenhängen darstellt, 2 bieten die Offenbarungen  3 (um 1421) der Nürnberger 4 Die Klassifizierung der Sammelhandschrift Cent. VI, 57 basiert auf der von Jürgen Wolf präzisierten Typologie, vgl. J.W., „Sammelhandschriften - mehr als die Summe der Einzelteile“, in: Überliefe‐ rungsgeschichte transdisziplinär. Neue Perspektiven auf ein germanistisches Forschungsparadigma, hg. von Dorothea Klein, Horst Brunner und Freimut Löser, Wiesbaden 2016 (Wissensliteratur im Mittelalter 52), S. 69-82, bes. S. 70-73 zum Typ der Buchbindersynthese; weiterhin sein Beitrag in diesem Band, S. 121-142, der diese Typologie der Sammelhandschriften mit Blick auf das Buchganze als Sammlung entfaltet; One-Volume Libraries. Composite and Multiple-Text Manuscripts, hg. von Michael Friedrich und Cosima Schwarke, Berlin/ Boston 2016 (Studies in Manuscript Cultures 9); Erik Kwakkel, „Towards a Terminology for the Analysis of Composite Manuscripts“, in: Gazette du livre médiéval 41 (2002), S. 12-19. 5 Vgl. zur diffizilen Frage des Klostereintritts, der nicht durch Quellen belegt ist, sondern um das Jahr 1433 anhand der textinternen Jahreszahl 1421 und der jüngsten datierbaren Handschrift der Büchersammlung (Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. V, 28 vom 13. März 1433) angesetzt wird, Schneider (wie Anm. 3), Sp. 1132 und Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 3f. 6 Vgl. Antje Willing, Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster, Münster/ New York 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4), S. 82. 7 Vgl. Die Bibliothek des Klosters St. Katharina zu Nürnberg. Synoptische Darstellung der Bücherverzeich‐ nisse Band 1, hg. von Antje Willing, Berlin 2012, Einleitung S. XXVIII; Karin Schneider, „Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft“, in: Studien zum städtischen Bildungswesen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978-1981, hg. von Bernd Moeller, Hans Patze und Karl Stackmann, Göttingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, Nr. 137), S. 70-82, bes. S. 73-75; Volker Honemann, „Laien als Literaturförderer im 15. und frühen 16. Jahrhundert“, in: Laienlektüre und Buchmarkt im späten Mittelalter, hg. von Thomas Kock und Rita Schlusemann, Frankfurt am Main u. a. 1997 (Gesellschaft, Kultur und Schrift 5), S. 147-160, hier S. 156-159 zur Büchersammlung als Teil der „Tucherschen Familienbibliothek“. 8 Vgl. Schneider (wie Anm. 7), S. 71; zu Anstieg und Verbreitung volksprachlicher Erbauungsliteratur im Rahmen der Observanzbewegung vgl. Werner Williams-Krapp, „Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert“, in: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991, hg. von Joachim Heinzle, Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 14), S. 301-313, hier S. 302-305; Barbara Steinke, Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster zwischen Klosterreform und Reformation, Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe 30), S. 71-92; Willing (wie Anm. 6), bes. S. 11-58. 9 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 15-20 mit dem Handschriftenverzeichnis. Laienschwester Katharina Tucher aus dem Reformkonvent St. Katharina und ihre umfang‐ reiche Büchersammlung. Die Offenbarungen, die mystische Kurzdialoge, Lesefrüchte und sentenzenhafte Christusreden umfassen, liegen in Form von 94 Einträgen als Autograph vor in der zeitgenössischen Bindesynthese der Komposithandschrift 4 Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 57, Bl. 263r-292v. Bisher geht die Forschung davon aus, dass Katharina Tucher dem berühmten Dominikanerinnenkonvent St. Katharina ihre Büchersammlung bei ihrem Klostereintritt 5 übertragen hat, wobei sie die Offenbarungen als ‚Privateigentum‘ in ihrer Klosterzelle aufbewahrte. 6 Die Tucher-Sammlung stellt die größte Buchschenkung in der gesamten Geschichte des Katharinenklosters dar, 7 das vor allem als Zentrum der dominikanischen Ordensreform und Literaturproduktion 8 Prominenz erlangt hat. Nach heutigem Kenntnisstand sind 16 Codices der Büchersammlung erhalten, 9 die die Forschung als Einheit im Sinne des vermeintlichen ehemaligen ‚Privatbesitzes‘ betrachtet. Allerdings kann die um die Mitte des 15. Jahrhunderts zusammengestellte Sammelhandschrift Nürn‐ berg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 59, die zur Büchersammlung gezählt wird, demonstrieren, 462 Simone Kügeler-Race 10 Zur eingehenden Problematisierung des Begriffs ‚Erbauung‘ vgl. Susanne Köbele, „aedificatio. Erbau‐ ungsemantiken und Erbauungsästhetiken im Mittelalter. Versuch einer historischen Modellbildung“, in: Die Versuchung der schönen Form. Spannungen in ‚Erbauungs‘-Konzepten des Mittelalters, hg. von Susanne Köbele und Claudio Notz, Göttingen 2019 (Historische Semantik 30), S. 9-41, insbes. S. 27: Erbauungsliteratur lasse sich durch ihren belehrenden Charakter „als umfassend verstandene, ästhetisch, kognitiv und affektiv ansetzende instructio morum“ fassen. 11 Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 100, Bl. 206r-211v, Auszug des Heinrich von St. Gallen zugeschriebenen Extendit manum-Passionstraktats, Gemeinschaftsarbeit Katharina Tuchers und der professionellen Schreiberin Margareta Kartäuserin. Williams-Krapp identifiziert den Auszug auf Bl. 208r-211v als Hand der Katharina Tucher, vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 21. Zum Extendit manum-Passionstraktat vgl. Hardo Hilg und Kurt Ruh, „Heinrich von St. Gallen“, in: 2 VL, Bd. 3, Berlin/ New York 1981, Sp. 738-744, hier Sp. 740-742; sowie die Textausgabe, Der Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen, hg. von Kurt Ruh, Thayngen 1940. 12 Cent. VI, 53, Bl. 202v-203r: Johannesevangelium Io 1,1-14. Zur Bestimmung der Schreiberhand vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 21. 13 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 12: „Könnte eine eventuelle Trinksucht das mystische Erleben Katharinas mitgeprägt haben? “; Ralph Frenken, Kindheit und Mystik im Mittelalter, Frankfurt a. M. 2002 (Beihefte zur Mediaevistik 2), zum vermeintlichen Alkoholismus S. 265 und S. 268 zu „sexuellen Themen als Hauptgegenstand der Offenbarungen“; Schneider (wie Anm. 3), Sp. 1133: „Katharina Tucher hatte nicht die Absicht, ihre religiöse Vita aufzuzeichnen.“ Willing (wie Anm. 6), S. 82 zu „Unkeuschheit und Alkoholkonsum in der Zeit ihrer mystischen Erfahrungen“. 14 Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 13. 15 Zum Begriff der codexübergreifenden Mitüberlieferung, d. h. den Sammel- und Gruppierungsprin‐ zipien in Bibliotheken, die einer Handschrift einen Platz in einer bestimmten Überlieferungsge‐ meinschaft zuweisen vgl. Bernhard Schnell, „Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte“, in: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung, hg. von Kurt Ruh, Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 221-230, hier S. 221; zur Mitüberlieferung als Textgemeinschaft Wolf, „Sammelhandschriften“ (wie Anm. 4), hier S. 69. 16 Vgl. die bereits erwähnte Handschriftenübersicht in Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 15-20 mit Kurzbeschreibungen; Wolf, „Sammelhandschriften“ (wie Anm. 4), S. 70 und 79 f. hat die genauere Aufarbeitung der Mitüberlieferung von Sammelhandschriften in der mediävistischen Forschung als allgemeines Problem identifiziert. Bisher ist Katharina Tuchers Schreibtätigkeit in fünf Sammel‐ handschriften aus dem Katharinenkloster nachweisbar: Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 53; Cent. VI, 59; Cent. VI, 81; Cent VI, 100; Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms.2195. Diese Handschriften stammen aus der ersten Hälfte bzw. um die Mitte des 15. Jahrhunderts, vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 15-20. dass Katharina Tucher Erbauungstexte 10 im Katharinenkloster kopiert hat, die im Rahmen der Tischlesung rezipiert worden sind. Hier bietet sich ein möglicher Ansatzpunkt für eine Revision der Überlegungen zur Büchersammlung und für eine differenziertere Betrachtung der Offenbarungen, die im Folgenden skizziert werden sollen. In Zusammensicht mit den von Katharina Tucher wohl ebenfalls im Katharinenkloster geschriebenen Textauszügen in Nürnberg, Stadtbibl. Cod. Cent. VI, 100 11 und Nürnberg, Stadtbibl. Cod. Cent. VI, 53 12 können sie ein anderes Licht auf das von der Forschung konstruierte Bild einer ungeübten, an Trunksucht und Lebenskrisen leidenden Schreiberin werfen, 13 die die Offenbarungen als mystisches Tagebuch im Sinne einer „kreativen Lebensbewältigung für Frauen“ 14 verfasst habe. Der folgende Beitrag betrachtet die von Katharina Tucher kopierten Erbauungstexte als codexübergreifende Mitüberlieferung, 15 die bisher kaum näher in den Blick genommen wurde. 16 Denn, wie schon gesagt, sieht die Forschung in den verrätselt wirkenden Offenbarungen ein tagebuchartiges Zeugnis von „sehr privater 463 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht 17 Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 5; vgl. auch Schneider (wie Anm. 3), Sp. 1133. 18 Zur institutionellen Verortung der dominikanischen Viten- und Offenbarungsliteratur des Klosters Engelthal vgl. Susanne Bürkle, Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts, Tübingen/ Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), bes. S. 57-72 und S. 159f. 19 Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25. 20 Vgl. Bürkle (wie Anm. 18), S. 53 im Hinblick auf die Einschätzung der dominikanischen Klosterlite‐ ratur des 14. Jahrhunderts durch die Forschung. 21 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 5; Willing (wie Anm. 6), S. 82. 22 Der Bibliothekskatalog wird im Folgenden zitiert nach der Ausgabe von Paul Ruf, Mittelalterliche Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz. III, 3: Bistum Augsburg, Eichstätt, Bamberg, München 1939, S. 570-670. Insgesamt sind vier mittelalterliche Bücherverzeichnisse erhalten: Die Buchmeisterin Kunigunde Niklasin legte den Bibliothekskatalog um 1455/ 1457 an, der in der Sammelhandschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 79, Bl. 88r-167v überliefert ist, vgl. Willing (wie Anm. 7), S. XIX; zu Anlage und Konzeption des Bibliothekskatalogs, S. XIX-XXXI; zum ebenfalls von Kunigunde Niklasin erstellten Inventar der privaten Bücher in Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 92, Bl. 1r-45r, S. XXXIII-XXXIX; der zweite jüngere Lektiokatalog, den Kunigunde Niklasin zeit‐ gleich mit dem Bibliothekskatalog verfasst hat, findet sich vor dem Bibliothekskatalog in Cent. VII, 79, Bl. 3r-87r (S. XXXIX). Das ältere, wohl zwischen 1436-1442 entstandene Tischlesungsverzeichnis in Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VII, 25, Bl. 1v-48r stammt aus der Hand der Reformschwester Elisabeth Karlin (S. XXXIX) und ist durch den zweiten Lektiokatalog der Kunigunde Niklasin ersetzt worden; zur Systematisierung von Bibliothek und Katalog vgl. die Darlegung des Amtes der Buchmeisterin im ‚Amptbuch‘ von Johannes Meyer ( Johannes Meyer, Das Amptbuch, hg. von Sarah Glenn DeMaris, Rom 2015 [Monumenta Ordinis Fratrum Prædicatorum Historica 31], S. 302-307). Natur“, das „in der uns überlieferten Form auch bei einem mittelalterlichen Publikum Ratlosigkeit hervorgerufen haben dürfte“. 17 Den Hintergrund dieser Betrachtungsweise bildet die neuzeitliche Vorstellung eines individuellen, tagebuchartigen Schreibens, das eher in Opposition zu unserem Wissen um die spezifischen Entstehungsbedingungen mystischer Viten- und Offenbarungsliteratur und ihrer institutionellen Einbindung in die Lebensvollzüge des Klosters steht. 18 II Spuren der Buchbetreuung: Der Offenbarungen-Faszikel in Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 57 Die eher problematische Vorstellung von ‚privaten‘ Aufzeichnungen basiert auf der Deutung des physischen Erscheinungsbildes des Offenbarungen-Faszikels: Werner Wil‐ liams-Krapp betrachtet die Ausführung in einer vermeintlich „unbeholfen wirkenden Bastarda“ 19 mit einem in Tintenfarbe und Schreibduktus variierenden Schriftbild, die frei‐ händig angebrachten Schriftspiegelbegrenzungen und das Fehlen von Initialen als Ausweis eines individuellen, erfahrungsbezogenen Schreibakts. 20 Daher seien die Offenbarungen den Mitschwestern im Katharinenkloster unbekannt geblieben. 21 Allerdings sind die Offenba‐ rungen in der uns vorliegenden Form in Cent. VI, 57 einzig als Teil der Sammelpraxis und Buchbetreuung des Katharinenklosters fassbar. Die Aufnahme in die Klosterbibliothek lässt sich an der mittelalterlichen Signatur M.IX, der Signaturengruppe der Traktatliteratur, und dem Besitzeintrag des Katharinenklosters auf Bl. Iv ablesen. Dabei geht die systematische Erfassung des Buchbestandes im mittelalterlichen Bibliothekskatalog 22 auf die Ziele der Observanzbewegung nach Einführung der Ordensreform im Jahr 1428 zurück, die die vita 464 Simone Kügeler-Race 23 Vgl. Schneider (wie Anm. 7), S. 71; zur Tischlesung im Katharinenkloster als Teil der ‚Klosterreform als Bildungsreform‘ vgl. Burkhard Hasebrink, „Tischlesung und Bildungskultur im Nürnberger Katharinenkloster. Ein Beitrag zu ihrer Rekonstruktion“, in: Schule und Schüler im Mittelalter, hg. von Martin Kinzinger, Sönke Lorenz und Michael Walter, Köln/ Weimar/ Wien 1996 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 42), S. 187-216, bes. S. 189 u. S. 202-216. 24 Vgl. z. B. Anke Wrigge und Frank Eisermann, „Der Nürnberger Pfarrer und Prediger Albrecht Fleischmann (gestorben 1444)“, in: Predigt im Kontext, hg. von Volker Mertens, Hans-Jochen Schiewer, Regina Schiewer u. a., Berlin/ Boston 2013, S. 193-232; Willing (wie Anm. 7), S. XI. 25 Vgl. Willing (wie Anm. 7), S. CXV. 26 Vgl. die ausführlichere Handschriftenbeschreibungen Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 24-25; Karin Schneider, Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg. Bd. 1 Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, Wiesbaden 1965, S. 189-193. Aufgrund von Platzgründen kann die Mitüberlieferung auf der Ebene der Handschrift nur knapp skizziert und nicht in allen Einzelheiten erfasst werden. Zur Problemstellung vgl. den Beitrag von Jürgen Wolf in diesem Band und Wolf, „Sammelhandschriften“ (wie Anm. 4), S. 69 und 79. 27 Vgl. Georg Steer, „Mönch von Heilsbronn“, in: 2 VL, Bd. 6, Berlin/ New York 1987, Sp. 649-654. 28 Vgl. die Texteditionen: Eduard Schäfer, Meister Eckharts Trakat Von Abegescheidenheit, Bonn 1956; Meister Eckhart, Von abegescheidenheit. Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke, Bd. 5, hg. und übers. von Josef Quint, Stuttgart 1963; dazu bes. Markus Enders, Gelassenheit und Abgeschiedenheit. Studien zur Deutschen Mystik, Hamburg 2008; Burkhard Hasebrink, „Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart“, in: Meister Eckhart im Original, hg. von Freimut Löser und Dietmar Mieth, Stuttgart 2014 (Meister-Eckhart-Jahrbuch 7), S. 139-154. 29 Vgl. Thomas Hohmann und Georg Kreuzer, „Heinrich von Langenstein“, in: 2 VL, Bd. 3 Berlin/ New York 1981, Sp. 763-773, bes. 768-770; weiterhin die Textedition: Heinrich von Langenstein, Erchant‐ communis durch strenge Klausur, Aufgabe von Privatbesitz, Chorgebet und Tischlesung 23 zu erneuern suchte und den Bestandsaufbau durch das klostereigene Skriptorium und Buchschenkungen der Schwestern und Nürnberger Patrizier 24 vorantrieb. Die Anlage der Komposithandschrift Cent. VI, 57 lässt aufgrund der Spannbreite der Textzusammenstellung vermuten, dass in der Vielfalt der erbaulichen Themenkomplexe eine Art ‚Programmʻ angedeutet ist, welches auf die breitgefächerten Sammelinteressen der Schwesterngemeinschaft an religiöser Gebrauchsliteratur zurückgeht. Das Sammelin‐ teresse bezog sich vorwiegend auf volkssprachliche Erbauungsliteratur, die sowohl im gemeinschaftlichen Konventsleben, z. B. bei der Tischlesung, als auch bei der persönlichen Andacht der Dominikanerinnen genutzt werden konnte. 25 Cent. VI, 57 kombiniert Texte, die den Sakramenten der Buße und Eucharistie, Passionsbetrachtungen, aber auch dem aus der mystischen Schau ergangenen Wissen und einer interiorisierten Gottbegegnung zentrale Bedeutung zumessen. Der Inhalt lässt sich an ausgewählten Beispielen folgendermaßen skizzieren: 26 Faszikel 1 (Bl. 1r-55v) enthält den populären Eucharistietraktat des Mönchs von Heilsbronn. 27 Faszikel 2 (Bl. 58r-115v) tradiert Traktate, z. B. über die Dreifaltigkeit als Brunnen und die 10 inwendigen Leiden Christi mit Gebeten. Der im Katharinenkloster entstandene Faszikel 3 (Bl. 116r-154r) überliefert einen Auszug von Offenbarungen, die zur Birgittenregel gehören. Faszikel 4 (Bl. 155r-240v) bietet unter anderem drei Traktate zur Passionsthematik wie z. B. Vom Betrachten des Leidens Christi. Dann folgen drei Texte zum Eucharistieempfang, fünf Tauler-Predigten, zwei mystische Predigten und schließlich der Meister Eckhart zugeschriebene Traktat Von Abgeschiedenheit. 28 Faszikel 5 (Bl. 241r-262v) enthält den Heinrich von Langenstein zugeschriebenen Bußtraktat Erkenntnis der Sünde, 29 465 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht nuzz der sund, hg. von Rainer Rudolf, Berlin 1969 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 22). 30 Zu dieser Problemstellung vgl. den Beitrag von Jürgen Wolf in diesem Band; Wrigge und Eisermann (wie Anm. 24), S. 215. 31 Vgl. zur Konzeption der Signaturengruppe M Willing (wie Anm. 7), S. XIX-XXIII. 32 Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25f. 33 Die Abschrift bietet eine Predigt, die Gerhard Comitis, der Lesemeister des Nürnberger Dominika‐ nerklosters, 1425 in Unterlinden gehalten hat. Vgl. Gundolf Keil, „Comitis, Gerhard“, in: 2 VL, Bd. 2, Berlin/ New York, 1980, Sp. 1-30. 34 Vgl. Marie-Luise Ehrenschwendtner, Die Bildung der Dominikanerinnen in Süddeutschland vom 13. bis 15. Jahrhundert, Stuttgart 2004 (Contubernium 60), S. 304; Schneider (wie Anm. 26), S. XXIX zu den der Forschung bekannten Lebensdaten der Nürnberger Patriziertochter und Buchmeisterin Klara Keiperin. 35 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25f. 36 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25. 37 Ich habe Professor Jürgen Wolf, Philipps-Universität Marburg, herzlich dafür zu danken, dass er die Bestimmung des Schrifttyps als vollausgeführte Schleifenbastarda mit allen Entwicklungsmerk‐ malen bestätigt hat. Er datiert die Schrift vor die Mitte des 15. Jahrhunderts, möglicherweise in die 30er und 40er Jahre des 15. Jahrhunderts, was sich mit der textinternen Jahresangabe 1421 und einem Eintrag im Todenkalender des Katharinenklosters deckt, der das Sterbejahr einer Laienschwester namens Katharina Tucher für das Jahr 1448 verzeichnet. Vgl. Toden-Kalender des St. Katharinenklosters in Nürnberg, hg. von Andreas Würfel, Altdorf 1769, S. 50: Juli III. Nou. obiit Katharina Tucherin, conversin, anno 48. einen Traktat von den Geboten und eine unvollständige Predigt. Faszikel 6 überliefert die Offenbarungen. Durch die Textzusammenstellung in Cent. VI, 57 sind die Offenbarungen Teil einer umfangreichen Sammlung geworden, deren zugrunde liegende Selektionsprozesse sich kaum mehr erfassen lassen. Moderne Ordnungskategorien, wie Textsorten und Gattungsbegriffe, bieten allenfalls Hilfskategorien, die den mittelalterlichen Praktiken des Sammelns vermutlich nicht gerecht werden, 30 wie sich an den aus neuzeitlicher Sicht unterschiedlichen Texttypen in Cent. VI, 57 zeigt, die alle unter die Signaturengruppe M der Traktatliteratur subsumiert werden. 31 Ebenso problematisch nehmen sich die von der Forschung gemachten Rückschlüsse aus dem Erscheinungs- und Schriftbild des Offenbarungen-Faszikels aus. 32 Was Layout und Schriftniveau betrifft, unterscheidet sich Faszikel 6 mit den Offenbarungen jedenfalls kaum von anderen im Katharinenkloster kopierten Texten. So findet sich z. B. in der größtenteils im Katharinenkloster geschriebenen Sammelhandschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 53 die Hand der Klara Keiperin in einer Predigtabschrift (Bl. 85v-86r). 33 Die Hand der Klara Keiperin, der Nachfolgerin der Buchmeisterin Kunigunde Niklasin, 34 weist hier spitze und vereinfachte Buchstabenformen einer Kursivschrift des 15. Jahrhunderts auf, die nur schwer lesbar ist und wie in den Offenbarungen über die Schriftspiegelbegrenzungen hinausgeht. Daher lässt sich die über die Schriftspiegelbegrenzungen hinausgehende Schrift kaum als Ausdruck einer spontanen Niederschrift deuten, wie für die Offenbarungen vermutet. 35 Die Bewertung der Schrift als eher ungelenk 36 erscheint ebenfalls diskussionswürdig. Denn das regelmäßige Schriftbild der Offenbarungen ist in einer voll ausgebildeten Schlei‐ fenbastarda auf hohem Niveau ausgeführt und deutet darauf hin, dass Katharina Tucher eine relativ geübte Schreiberin war, 37 wie es auch die von ihr kopierten Erbauungstexte 466 Simone Kügeler-Race 38 Vgl. Anm. 21 oben. 39 Cent. VI, 57, Bl. 275r; Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 47. 40 Die Korrektur demonstriert, dass hier keine „wörtliche Identität gewährleistet ist“, wie Wil‐ liams-Krapp irrtümlich meint; vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25. 41 Der ursprüngliche Eintrag in den Offenbarungen Cent. VI, 57, Bl. 275v lautet: so scholtvs vor dein avgen haben vnd scholt deiner vbel det niht vergeszen. daz fvnft: dv ein gantzzen zv ker. Der Nachtrag der späteren Schreiberhand auf Bl. 276r lautet: scholtu vor dei[n] auge[n] habe[n] vn[d] scholt dein[er] vbel & tet nicht v[er]gesse[n]. daz v: thu ei[n] gancze[n] czu ker czu mir mit he[r]cz[e]n, mit gedancke[n], gemut. 42 Vgl. das Gebet in Cent. VI, 57, Bl. 262v, das in einzelnen Formulierungen an Ps 9,5-9 erinnert: Deus qui sedes sup[er] tronu[m] iudicas orbem terra in equitate noli despicere quos ipse redemisti precioso sa[n]guine tuo et exaudi nos ad te clama[n]tes […]. 43 Zur Tradition mittelalterlicher Textamulette, die etwa in Form eines endlosen, beschrifteten Flecht‐ bandknotens apotropäischen Schutz gewährten vgl. Don C. Skemer, Binding Words. Textual Amulets in the Middle Ages, Pennsylvania 2006, S. 171-235, bes. S. 204; zur Typenbildung verschiedener Flechtornamente, die in mittelalterlichen Handschriften oftmals den Anfang eines Textes visuell her‐ vorheben, Wolfgang Augustyn, „Flechtornament“, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 9, 1995, Sp. 851-980, in: RDK Labor, URL: www.rdklabor.de/ w? / oldid=89523 [Zugriff am 30.3.2021]. 44 So warnt z. B. der Nürnberger Dominikanerprior Eberhard Mardach im sogenannten Sendbrief von wahrer Andacht davor, dass Visionen ihren Ursprung in der menschlichen Vorstellungskraft oder in in Cent. VI, 53, Cent. VI, 59 und Cent. VI, 100 nahelegen. Auch kann nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass die Offenbarungen den Mitschwestern in St. Katharina vollkommen unbekannt waren. 38 Dagegen spricht, dass eine spätere wohl kurz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts zu datierende Schreiberhand einen Nachtrag in einer schleifenlosen Bastarda zu einer Streichung in der Christuslehre Bl. 275r vorgenommen hat. Dieser Nachtrag findet sich auf einem gehefteten Pergamentstreifen mit Nachtragszeichen auf Bl. 274v. Der ursprüngliche Eintrag der Offenbarungen lautet: Iesv Cristvm czv lob. Dv scholt dich hvten vor vppiger er, frevd diesser werlt.  39 Die Nachtragshand verbessert: 40 du scholt dich hut vor vpigkeit, er, frevd diss[er] w[er]lt. Eine ähnliche Korrektur ist in einer späteren schleifenlosen Bastarda im oberen Rand auf Bl. 276r eingetragen. 41 Die Verbesserung der Fehler demonstriert, dass die Offenbarungen im Rahmen der klösterlichen Buchbetreuung einer genauen Lektüre unterzogen worden sind und daher zumindest einigen Schwestern bekannt gewesen sein müssen. Jedenfalls indizieren die Korrekturen und die Aufnahme der Offenbarungen in den Überlieferungsverbund von Cent. VI, 57, dass der Text nach der Klosterreform als bewahrungswürdig galt. Den Kontext klösterlicher Andachtspraxis legt eine in schwarzer Tinte ausgeführte Federzeichnung auf Bl. 262v des fünften Faszikels nahe, die durch das Zusammenbinden der Faszikel fünf und sechs gegenüber den Offenbarungen auf Bl. 263r platziert worden ist. Die Illustration zeigt eine gerahmte Flechtband-Konstruktion aus ineinander verschlungenen Schriftbändern mit einem lateinischen Gebet in einer regelmäßig ausgeführten Kursiv‐ schrift des 15. Jahrhunderts. 42 Die Zusammenstellung des apotropäischen Textamuletts 43 mit dem Beginn der Offenbarungen suggeriert, dass die Gebetskraft der lateinischen Schutzanrufung gewissermaßen auf den gegenüberliegenden Textbeginn ausstrahlt, der auf diese Weise eine Art ‚Absegnung‘ erhält. Vielleicht lässt sich die Zusammenstellung auf die observante Frömmigkeits- und Andachtspraxis zurückführen, die die genaue Prüfung einer persönlichen Gotteserfahrung voraussetzt. 44 Zumindest indiziert die durchgängige 467 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht teuflischen Anfechtungen haben könnten und daher mit Vorsicht zu behandeln seien, vgl. Cent. VI, 53, Bl. 159v-160v, vgl. die Transkription in Steinke (wie Anm. 8), S. 33. 45 Zur Lagennummerierung vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 25. 46 Vgl. Anm. 29 oben zur Buß- und Sündenlehre Erkenntnis der Sünde. 47 Klaus Wolf, „Propter utilitatem populi: durch des nucz willens seines volkes. Die ‚staatstragende Rezeption‘ der ‚Summa de vitiis‘ des Guilelemus Peraldus in der spätmittelalterlichen Wiener Schule“, in: Laster im Mittelalter. Vices in the Middle Ages, hg. von Christoph Flüeler und Martin Rohde, Berlin/ New York 2009 (Scrinium Friburgense 23), S. 187-200, hier S. 189. 48 Vgl. Cent. VI, 57, Bl. 166v: Die alle dinck nemen so sie von got geornt sint oder von im verhenget werden, das seint die geistlichen [hier Korrektur in der Hand Katharina Tuchers gotzlichen] der freund gots. 49 Vgl. die Überlegung von Williams-Krapp, Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 23. 50 Vgl. die Provenienzvermerke der ‚Tucher-Büchersammlung‘ im mittelalterlichen Bibliothekskatalog, Ruf (wie Anm. 22), S. 600-625. Dabei finden sich Formulierungsunterschiede bei den Provenienzan‐ gaben: Vier Bände (LXXXI, M.VII, N.II und N.XV) weisen die Formulierung das vor geschriben puͤchlein hat swester Katherina Tucherin selig in das closter procht auf, vgl. z. B. Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms.2195 (L.XXXI), Ruf (wie Anm. 22), S. 622. 20 Handschriften sind mit der abgewandelten Formel das puch procht swester Kathrein Tucherin herein im Bibliothekskatalog verzeichnet, vgl. z. B. Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. IV, 93 (K.II), Ruf (wie Anm. 22), S. 618: Item ein puch; daran stet von den kaißerlichen rechten. das puch procht swester Kathrein Tucherin herein. Vgl. dazu S. 477 unten. 51 Vgl. Ruf (wie Anm. 22), S. 626, 10: Item ein puch; do stet zu erst von den VI nomen unsers herrn leichnam; dornoch von den VII sacramenten, die beteuten VII prunen, und die regel salvatores und etlich ander und collecten und von unsers [herren] leiden und von dem heilligen sacrament, warumb sich unser herr selber enpfing, und ander matery. Lagennummerierung I-VI am jeweiligen Lagenanfang der Faszikel fünf und sechs, dass die beiden Faszikel offenbar als Einheit gedacht worden sind. 45 Auf diese Weise stehen die Offenbarungen im Überlieferungsverbund mit dem katechetischen Traktat Erkenntnis der Sünde, 46 der auf das Sakrament der Buße in der „ständeübergreifenden Allgemeingültigkeit der Sündenkatechese“ 47 , die Beschreibung der einzelnen Todsünden und Anleitungen zu ihrer Vermeidung zentriert ist. Die Offenbarungen reflektieren die Thematik der Buße, Sündenvergebung und erlösenden Gotteskraft aus der persönlich wirkenden Perspektive der Gnadendialoge und veranschaulichen sie am Beispiel der Katharina-Figur. Ob die Lagennummerierung der Faszikel fünf und sechs und eine Korrektur aus der Hand Katharina Tuchers im Erbauungstraktat Vom Leiden (Bl. 166v) 48 in Faszikel vier tatsächlich darauf hindeuten, dass die Teile der Handschrift ursprünglich aus ihrem Besitz stammen, 49 lässt sich kaum mehr bestimmen. Denn der detaillierte mittelalterliche Bibliothekskatalog, der für insgesamt 24 Codices vermerkt, dass sie von Katharina Tucher ins Katharinenkloster eingebracht worden sind, 50 weist keinen Provenienzvermerk für Cent. VI, 57 auf. 51 Vielmehr ist der von Katharina Tucher rezipierte Erbauungstraktat gemeinsam mit den Offenbarungen zu einer Textsammlung des Klosters vereinheitlicht worden, wie die Signatur M.IX (Bl. 1r) und der Besitzeintrag der Klosterbibliothek (Bl. Iv) anzeigen. 468 Simone Kügeler-Race 52 Vgl. zur Tradition der Andacht der fünf Kreuzeswunden und zu Gebeten, die oftmals detaillierte Zahlenangaben zu den Wunden Christi enthalten, Arnold Angenendt u. a., „Gezählte Frömmigkeit“, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1-71, bes. S. 45f.; Heike Schlie betont, dass besonders gegen Ende des 14. Jahrhunderts der typische, von Wunden gezeichnete Schmerzensmann „zum allgegenwärtigen Erscheinungsbild Christi“ und damit zum Bild eines im Gebet adressierbaren Ge‐ genübers geworden sei, vgl. Heike Schlie, „Erscheinung und Bildvorstellung im spätmittelalterlichen Kulturtransfer. Die Imago Pietatis als Selbstoffenbarung Christi in Rom“, in: Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter, hg. von Andreas Gormans und Thomas Lentes, Berlin 2007, S. 59-121, hier S. 103. 53 Die Invokationsformel Iesv zv lob sein lieplichen fvnf bvnden findet sich durchgängig über den Ein‐ trägen 1-29, vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 31-45 und dann erneut nach leicht abgewandelten Invokationsformeln über den Einträgen 47-55; 57-59; 65-69; 71; 73-79; 82-90; 93; 94. Die Variation Iesv Cristvm zv lob bzw. Iesv Cristvm bieten die Einträge 30-46, vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 45-51. Die Anrufung Iesv Cristvm dient als Einleitung der Einträge 33, 34, 37 und 38. Eintrag 56: Got zv aim ewigen wol gefaln; Einträge 60, 62, 76 Iesv, Maria zv lob. 54 Vgl. ebd., Eintrag 9, S. 34f.; 29, S. 45f.; 56, S. 56f.; 85, S. 67f.; 86, S. 67f. 55 Vgl. ebd., Eintrag 60, S. 57f. Die Katharina-Figur berichtet, wie sie von teuflischen Dämonen in Versuchung geführt wird, während sie vor einem Andachtsbild der Gottesmutter kniet und betet. Durch ihre Standfestigkeit wird ihr ein Gespräch mit Maria zuteil (S. 58). 56 Vgl. die Transkription des Gebets von Steinke (wie Anm. 8), S. 150: O min ewige liebe, Jesu Christe, fur mich ellendiclichen gecr[eu]cziget, kum auch in mich vnd durch grab alzo min hercze nv mit den nageln vnd mit dem spere diner ewigen minne, daz ich sin minnsamlichen gebar werde. […] O du aller lustliche freude innerliche, mein herre Jesu Christe, wen sol ich dich auch frolichen sechen […] wen sol ich in [Bl. 85r] dir trvnken werden? wen sol ich gegenburtiglichen bey dir sin? Wen sol ich eines mit dir berden […]? Die Formulierungen gebar und gegenburtiglichen deuten hier die Unmittelbarkeit der sinnlich wahrnehmbaren Gottesbegegnung an, die das Text-Ich im Gebet erfleht. Williams-Krapp meint dagegen, dass sich die Bedeutung der Formulierung mir wart gegenbvrtig in den Offenbarungen nicht eruieren lasse, vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 9. 57 Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 10, S. 35, 13-15 mit der einleitenden Formel ich wil dir ain ler geben; Eintrag 18, S. 39, 2f.: Ich wil dich leren: Daz erst: Hvt dich vor zorn, in dem wolt dich der tevffel bekoren […]. Eintrag 27, S. 44, 24-45, 10; Eintrag 31, S. 46, 20-30. III Iesv Cristvm zv lob sein lieplichen fvnf bvnden: Die Offenbarungen als Andachtsübung Den Kontext der spätmittelalterlichen Namens- und Wundenverehrung 52 demonstrieren die in variierender Form auftretenden Invokationsformeln Iesv zv lob sein lieplichen fvnf bvnden, 53 mit denen jeder einzelne Eintrag der Offenbarungen beginnt und als Teil einer ‚Sammlung‘ nach dem Prinzip der Aneinanderreihung ausgewiesen ist. Eine Form der losen Strukturierung über das Prinzip der Reihung suggeriert auch die in die Einträge 3, 9, 29, 56, 60, 85 und 86 inserierte Formel mir wart gegenbvrtig, die Dialoge mit der Gottesmutter Maria, mit Christus 54 und mit Teufeln einleitet, die die Ich-Sprecherin in Versuchung führen. 55 Ein Blick auf die Mitüberlieferung des Katharinenklosters in Form eines Gebets aus einem Brief Venturins von Bergamo in der Sammelhandschrift Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 58 (Bl. 84v-85r) legt nahe, dass die formelartige Wendung mir wart gegenbvrtig die in den Dialogen unmittelbar erfahrene Gottesnähe ausdrückt. 56 Neben diesen Unmittelbarkeit suggerierenden Gnadendialogen mit Christus und der Gottesmutter bietet der Text instruierende Christuslehren, die oftmals durch eine Abwandlung der Formel ich wil dir ain ler geben kenntlich gemacht sind. 57 Einen dritten Typus von Offen‐ barungen stellen die Visionsberichte dar, in denen die Seele sowohl positiv konnotiert als 469 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht 58 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 15, S. 36, 26-37, 29. Die Ich-Sprecherin erhält die Aufforderung, sich mit Maria unter das Kreuz zu stellen. Sie ‚erlebt‘ die Vorbereitungen für die Grablegung Christi (S. 37, 8f.: Mir wahs wie man in begraben wolt, Iesvm, den hailler aller der werlt) und sie bietet Maria ihren Dienst an. Zur literarischen Tradition solcher ‚Augenzeugenberichte‘ der Heilsgeschichte in der frauenmystischen Viten- und Offenbarungsliteratur des Spätmittelalters vgl. Simone Kügeler-Race, Frauenmystik im europäischen Kontext. The Book of Margery Kempe und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts, Köln/ Weimar/ Wien 2020 (Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters 2), S. 308f. 59 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 24, S. 42, 10-43, 15. 60 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 25, S. 43, 17-44, 8. Der Visionsbericht endet mit brautmys‐ tischen Anklängen, vgl. S. 43, 36-44, 8: Vnd mir wahs wie mich zben engel fvrten sam ein pravt fvr den kvnnig. Er raicht mir daz zepter, er kronnet mich, er klaidet mich, er gab mir ein schon klainnet an mein arm vnd vber all, er stisz mir ein fingerlein an vnd gemehelt mich. Er sprach zu dem vater: Daz ist mein gebvnnen gvt, daz ist mein gemahel. 61 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 27, S. 44, 22-45, 10. 62 Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 1, S. 31, 2; Eintrag 28, S. 45, 20. 63 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 28, S. 45, 12-22, bes. S. 45, 12f.: Mir wahs reht, wie mich die jvden fvrten in tempel vor aller mennig. „Das ist die eprecherin.“ „Es ist war, her, erparm dich vber mich.“ Vgl. auch den ähnlich gestalteten Eintrag, der auf einen biblischen Schauplatz referiert, Eintrag 29, S. 45, 24 zu Gn 29,9-17. 64 Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 75, S. 63, 12-20. 65 Vgl. Susanne Bürkle, „Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners. Episodenstruktur - Text-Ich und Au‐ torschaft“, in: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-Lastin, Tübingen 2000, S. 483-513. Die mit minneclichen spruch über‐ schriebene Textpassage der Medinger Gnadenvita bietet ‚persönlich’ wirkende Liebeserklärungen und Beteuerungen, die der Brautmystik entlehnt sind. 66 Vgl. zu der Identitätskonstitution einer begnadeten Visionärin, die in dialogischer Interaktion mit Gott Gestalt annimmt, Almut Suerbaum, „Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg“, in: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999, hg. von Nikolaus Henkel, Martin H. Jones, Nigel F. Palmer, Tübingen 2003, S. 239-255, bes. S. 239f. Augenzeugin des Passionsgeschehens, 58 als Taube, himmlische Braut bei der Hirschjagd 59 und beim Würfelsspiel, 60 als Geladene des Turnhierhofs im ewigen Jerusalem 61 figuriert und auch in negativ besetzten Rollen als Sünderin 62 und angeklagte Ehebrecherin 63 in einer als persönliche Erfahrung gestalteten ‚Nacherzählung‘ der Johannesperikope (Io 8,1-13) auftritt. Ein vierter Typus von Offenbarungen lässt sich als göttliche Liebesversicherungen fassen, 64 wie wir sie etwa aus den dominikanischen Gnadenviten Margareta und Christine Ebners kennen, insbesondere aus der dialogischen Schlusspartie der sogenannten minneclichen spruch des Medinger Gnadenlebens der Christine Ebner. 65 Gemeinsam ist diesen verschiedenartigen Offenbarungsdialogen und Christusreden, dass sie die Katharina-Figur als Empfängerin der Gnadenerweise voraussetzen, selbst wenn ihr Redeanteil stark reduziert bzw. nicht mehr vorhanden ist. In diesem Sinne fungiert das Text-Ich der Offenbarungen primär in der Rolle einer Dialogpartnerin und Adressatin. Zwar ist das Text-Ich durch vereinzelt in den Text inserierte biographische Versatzstücke lebensweltlich profiliert, aber durch seine im religiösen Diskurs konstituierte Identität 66 steht es einfachen Rückschlüssen auf eine realhistorische Person eher entgegen. Denn auf der textinternen Ebene verbleibt die Konturierung der Katharina-Figur umrisshaft: Ihre 470 Simone Kügeler-Race 67 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 55, S. 55, 22-23. 68 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 18, S. 39, 2-3. Christus bietet den Rat, sich vor Zorn zu hüten. Die Christusrede Eintrag 55, S. 55, 23-24 zählt Zorn an zweiter Stelle der Sünden auf; vgl. auch Eintrag 68, S. 60, 22-28; Eintrag 69, S. 60, 30-31: Dv scholt wiszen, daz dv in den drein wochen fil genad verlorn hast […]. Daz macht dein zorn vnd dein vndanckperkait vnd dein aigenner wil, daz dv den niht zum pestem kerst. 69 Vgl. zu diesen biographisch-lebensweltlichen Versatzstücken Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 76, S. 64, 3 Namensnennung ihres Vaters; Eintrag 64, S. 59, 9-10 und Eintrag 66, S. 59, 31. 70 Suerbaum (wie Anm. 66), S. 243. 71 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 50, S. 53, 16-17: Dv scholt wissen, Katrei, ich pin dein peiht fater […]. Eintrag 83, S. 66, 21-22: „Liebew Tvcherin, dv sehst gern, daz deim man genod geschech […].“ 72 ebd., S. 66, 21-22. 73 Bisher bezieht die Forschung die Rolle als Witwe ausschließlich auf die Ebene der faktischen Textentstehung, vgl. Schneider (wie Anm. 3), Sp. 1133; Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 2f. 74 Vgl. das prominente Beispiel der Patrizierwitwe Kunigunde Schreiberin, mit deren Erbe die Reform des Katharinenklosters finanziert worden ist, Schneider (wie Anm. 7), S. 76; zur Vernetzung zwischen dem Katharinenkloster und dem Nürnberger Patriziat vgl. Anne Simon, The Cult of Saint Katherine of Alexandria and Late-Medieval Nuremberg. Saint and the City, Farnham 2012, S. 3, S. 252 und S. 264. 75 Vgl. Henrike Lähnemann, „Belehrung zwischen Kloster und Stadt. Das ‚Witwenbuch‘ des Erhart Groß“, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters, hg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger und Hans-Joachim Ziegeler, Tübingen 2000, S. 305-328, bes. S. 318 zum Witwentum als geistlichen Stand; vgl. für die Beschreibung der Handschrift Debrecen, Großbibl. des Reformierten Kirchendistrikts, Cod. R 521, die der Forschung als Autograph des ‚Witwenbuchs‘ gilt und einen Besitzeintrag des Katharinenklosters aufweist, András Vizkelety, Be‐ schreibendes Verzeichnis der altdeutschen Handschriften in ungarischen Bibliotheken, Bd. 2, Wiesbaden 1973, S. 122f. 76 Vgl. Werner Williams-Krapp, „Frauenmystik in Nürnberg. Zu einem bisher unbekannten Werk des Kartäusers Erhart Groß“, in: Grundlagen. Forschungen, Editionen und Materialien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Rudolf Bentzinger, Ulrich Dieter Oppitz, Jürgen Wolf, Stuttgart 2013, S. 181-195 (ZfdA Beiheft 18), hier S. 195. Williams-Krapp arbeitet diesen Umstand am Beispiel des von Erhart Groß um 1431 verfassten Abecedarius heraus, der unter ‚Eigenschaften‘, wie ihre Unkeuschheit, 67 ihr Zorn 68 und ihre familiären Beziehungen, 69 werden ihr von Gott und anderen Figuren in Dialogen zugesprochen. Die Figur Katharina Tucher ist daher nur im Rahmen dieser Inszenierung von Gesprächen präsent, die gewisser‐ maßen „das Zentrum ihrer Existenz“ bilden. 70 Einzig eine Aufforderung aus dem Mund ihres Beichtvaters (Eintrag 50) und eine Christusrede (Eintrag 83) dechiffrieren ihre namentliche Identität im zweiten Teil des insgesamt 94 Einträge umfassenden Textes. 71 Ihr Status als Witwe kann der Fürbitte für ihren verstorbenen Mann entnommen werden, die mit der Adressierung als liebew Tvcherin  72 in Eintrag 83 einhergeht. Dabei verweist die entfaltete Rollenfiguration der wohlhabenden Witwe 73 vielleicht auch auf den vernetzten Rezeptionsraum von Stadt und Kloster, der in der Sammlung der Klosterbibliothek konkretisiert erscheint. Denn die Schwestern stammen ausschließlich aus den Reihen der Töchter und Witwen der Nürnberger Oberschicht. 74 Textintern ruft die Katharina-Figur in der Rolle einer von Gott begnadeten Witwe das Witwentum als geistlichen Stand auf, wie es etwa aus dem 1446 entstandenen Witwenbuch des Nürnberger Kartäusermönchs Erhart Groß bekannt ist, das ebenfalls Aufnahme in die Bibliothek des Ka‐ tharinenklosters gefunden hat. 75 Den in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Erbauungsschriften des Erhart Groß lässt sich entnehmen, dass insbesondere Witwen und Jungfrauen aus Nürnberg im Ruf besonderer Gnadenerwähltheit standen. 76 In diesem Sinne 471 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht anderem die Offenbarungen zweier Nürnberger Witwen, der sogenannten Uslingerin und der Anna Grundherrin, enthält, vgl. ebd., S. 187-190 und S. 193f. 77 Vgl. zur einflussreichen Stellung der Familie Tucher im 15. Jahrhundert, deren Mitglieder wieder‐ holt in die höchsten Ämter der Stadtregierung aufsteigen, Antonia Landois, Gelehrtentum und Patrizierstand. Wirkungskreise des Nürnberger Humanisten Sixtus Tucher (1459-1507), Tübingen 2014 (Spätmittelalter, Humanismus und Reformation 77), bes. S. 12 und 20 f. Landois hält fest, dass für die Familie Tucher ein besonderes Interesse an ihrer Genealogie feststellbar sei, das sich z. B. im Tucherschen Memorialbuch (1386-1454) und in Endres Tuchers Memorial (1421-1440) zeige (ebd., S. 12). Vgl. auch Peter Fleischmann, Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft des Ratsgeschlechts vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, 3 Bde, Neustadt/ Aisch 2008, bes. Bd. 2, S. 1003- 1042. Die wirkungsmächtige Aura angenommener Verwandtschaftsbeziehungen demonstriert das Beispiel der Dominikanerinnen Margareta und Christine Ebner, die lange Zeit fälschlicherweise als Schwestern galten und eine bedeutende Rolle in der genealogischen Repräsentation der Nürnberger Patrizierfamilie Ebner von Eschenbach einnahmen; vgl. Urban Federer, Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margaretha Ebner, Berlin/ New York 2011 (Scrinium Friburgense 25), bes. S. 417 und 426f. 78 Vgl. zur Relation von spiritueller Ökonomie und merkantiler Logik, Simon (wie Anm. 74), S. 16 und S. 235. 79 Diese Rolle stellt ihr Christus im Dialog in Aussicht, z. B. in Eintrag 52, S. 55, 2-5: Wiltv billig mein dinerin sein, die weil dv lebst, vnd an meim tag mir dinen mit eim liht vnd xiiii pater noster knient mit avf gespanten arm peten? Eintrag 59, S. 57, 21-23: Dv waist niht, daz got die svnder also lieb hat, wen sie zv mir kern. 80 Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 31, 2-4. 81 Vgl. die Begriffsbestimmung der Umkehr als perfectio in der sogenannten geistlichen Belehrung, die Georg Falder-Pistoris, Prior des Nürnberger Dominikanerklosters (Februar 1429-1434) und Reformtheologe, in die aus dem Katharinenkloster stammende Sammelhandschrift Cent. VI, 43 q , Bl.1r-162v eingetragen hat, zitiert nach Steinke (wie Anm. 8), S. 110: ein gancz vmwenden vnd ein plozz abkeren von dem pösen zu dem güten, von dem guten zu dem pessern, von dem pessern zu dem aller pessten. 82 Vgl. die Beobachtung von Williams-Krapp, Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 10, z. B. Eintrag 51, S. 54, 29-31, Aufruf zur Wahrnehmung des Leidens: Daz drit, daz dv scholt daz leiden Iesv Cristvm stetiklichen vor deinen avgen haben vnd stetiklichen dar an gedencken […]. Also lvg, nim war meins leidens. Eintrag 59, S. 57, 22-23; Eintrag 82, S. 65, 23-66, 19 mit einem Dialog zu Leiden, Gehorsam und Sündenvergebung. entfaltet die Rollenfiguration der Witwe in Kombination mit der Namensnennung Katrei Tucherin eine Art Authentisierung, die die Offenbarungen mit der Aura des mächtigen Tucher-Geschlechts umgibt. 77 Auf diese Weise ‚verkörpert‘ die textinterne Katharina-Figur gewissermaßen eine christuszentrierte Andachts- und Frömmigkeitspraxis und zugleich die auf memoria und Repräsentation bedachte reichsstädtische Oberschicht. 78 Sie figuriert in einer stereotypisch anmutenden Rolle als zur Umkehr bereite Christus‐ dienerin, 79 wie aus der Adressierung Christi im ersten Dialog hervorgeht: Ach dv armev svnderin, dv armer schlepsack, also haistv dich selber. Wies, kint meins, wiltv haben mein leiden, dar inen all tvgent peslozsen sein? 80 Signifkant erscheint dabei, dass die initiierende Gottesrede der Katharina-Figur den Status einer Berufenen verleiht, wobei ihr Redeanteil auf einen Satz beschränkt ist: Ia, lieber her, dez wegert mein hertz vnd mein sel. Diese erste Replik verdeutlicht die Bereitschaft der Katharina-Figur, den Aufruf zur Leidensnachfolge gehorsam zu vollziehen. 81 Die Thematik des Gehorsams, des Sündenbewusstseins, der Annahme des Leidens, der Buße und Sün‐ denvergebung durchziehen insbesondere den zweiten Teil des Textes ab Eintrag 48. 82 Dabei 472 Simone Kügeler-Race 83 Friedrich Ohly, Metaphern für die Sündenstufen und die Gegenwirkungen der Gnade, Opladen 1990 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G. 302), S. 11f. 84 Michael Hopf, Mystische Kurzdialoge um Meister Eckhart. Editionen und Untersuchungen, Stuttgart 2019 (Meister-Eckhart-Jahrbuch Beihefte 6), S. 20 im Rückgriff auf die Überlegungen von Peter von Moos, „Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte der Dialogform im Mittelalter“, in: ders. Rhetorik, Kommunikation und Materialität. Gesammelte Studien zum Mittelalter. Band II, hg. von Gert Melville, Berlin 2006, S. 1-43, hier S. 8. 85 Walter Haug, „Gotteserfahrung und Du-Begegnung. Korrespondenzen in der Geschichte der Mystik und der Liebeslyrik“, in: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters (wie Anm. 75), S. 195-212, S. 200 als „neues Denk- und Vorstellungsmuster für die Gottesbegegnung.“ 86 Vgl. Ruf (wie Anm. 22), S. 633 zu Cent. VI, 53, N.XXVIII, S. 625 zu Cent. VI, 59, M.VI, S. 609 zu Cent. VI, 100, E.XLIII. 87 Vgl. die Überlegung von Williams-Krapp, Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 21 im Rückgriff auf Kurt Ruh, „Johannes-Evangelium 1,1-14“, in: 2 VL, Bd. 4, Berlin/ New York 1983, Sp. 832-833. 88 Vgl. Ehrenschwendtner (wie Anm. 34), S. 233, die auf das sogenannte ‚Schwesternbuch‘ in der Handschrift Wil (Kanton St. Gallen), Klosterarchiv St. Katharina, Schwesternbuch verweist; vgl. die Textedition Das ‚Konventsbuch‘ und das ‚Schwesternbuch‘ aus St. Katharina in St. Gallen. Kritische Edition und Kommentar, hg. von Antje Willing, Berlin 2016 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit 54), S. 612f. Diese Handschrift, die auch Exzerpte von Briefen der Nürnberger Priorin des Katharinenklosters an das gleichnamige Katharinenkloster in St. Gallen aus der zweiten Hälfte entfalten die Dialoge ein eigentümliches Spannungsverhältnis, da die „Gegenwirkungen der Gnade“ 83 in Form der Verfehlungen der Katharina-Figur im Zustand ihrer ‚persönlichen‘ Gnadenerfahrung konkretisiert erscheinen. Auf diese Weise führt der Text den Akt der göttlichen Berufung in der „dramatisierten Theologie“ (Michael Hopf) 84 mystischer Dialoge vor. In den Umkreis observanter Spiritualität passt, dass die Katharina-Figur in den Offenbarungen eher als passive Empfängerin der Gnade dargestellt ist, die ihr in stiller Kontemplation zuteil wird. Insgesamt bietet der Text eine facettenreiche Vielfalt katechetischer, sünden- und gnadentheologischer Themengebiete und Inhalte, die zumeist in Gesprächsbzw. Redeform dargeboten werden. Die Offenbarungen vermitteln diese theologischen Themenkomplexe in der anschaulichen Unmittelbarkeit des Gesprächs, in dem das Text-Ich der Katharina-Figur die „Du-Begegnung“ 85 mit dem göttlichen Partner exemplarisch vorführt. IV Heilswirkung des Schreibens und des Sammelns Auf der Ebene der Handschriften zeigt sich, dass Katharina Tucher in die Schreib- und Sammeltätigkeit des Katharinenklosters involviert war, was vielleicht ein anderes Licht auf die von der Forschung perpetuierte These einer dem Alkohol verfallenen religiösen ‚Exzentrikerin‘ werfen kann. Die Handschriften Cent. VI, 53, Cent. VI, 59 und Cent. VI, 100 enthalten Erbauungstexte, die Katharina Tucher offenbar im Kloster abgeschrieben hat. Wie Cent. VI, 57 (Offenbarungen) tragen sie im Bibliothekskatalog keinen Hinweis auf Katharina Tucher als Vorbesitzerin. 86 Der von Katharina Tucher kopierte Auszug des Johannesevangeliums (Io 1,1-14) im zweiten Teil von Cent. VI, 53 (Bl. 202v-203r) fungiert vielleicht nicht ausschließlich als eine Art Schutzsegen für das Buch, 87 sondern auch als Schreibübung, die die Priorin für neue Schwestern im Katharinenkloster festlegte. 88 Dies 473 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht des 15. Jahrhunderts tradiert, bietet auf Bl. 176r folgende Anweisung: Die wirdig muͤtter priorin befilch jren jungen schwoͤstren ze schriben und ze machen sant johannes ewangelÿ. 89 Vgl. Cent. VI, 53, Bl. 203r: den die do gelavbten in seinen namen die niht von der sippe [Nachtrag mit Einfügungzeichen & dez plutz] noch von dem willen dez mannes noch von dem willen dez [Korrektur svnder dy auz got geporn sein] [Nachtrag mit Einfügungszeichen vnd daz wort ist] fleisch [Nachtrag mit Einfügungszeichen worden] vnd want pei vns vnd wir haben gesehen sein erre als die ere eins [Nachtrag mit Einfügungszeichen ein]geporen kindez voller genaden vnd warheit ihu. 90 Vgl. Willing (wie Anm. 7), S. XXXIII zu Barbara Rützin, die im sogenannten Inventar der Privatbücher als Schwester aufgeführt ist und im Jahr 1472 verstarb. 91 Vgl. Willing (wie Anm. 7) S. XX und S. XXXI zu Klara Keiperin, die wahrscheinlich nach 1428 ins Katharinenkloster eingetreten ist und Kunigunde Niklasin im Amt der Buchmeisterin von 1457-1498 nachfolgte. 92 Vgl. die Namensnennung im rubriziert gerahmten Kolophon Cent. VI, 53, Bl. 179r. 93 Vgl. Ehrenschwendtner (wie Anm. 34), S. 289 mit dem entsprechenden Zitat aus Wil (Kanton St. Gallen), Klosterarchiv St. Katharina, Schwesternbuch, Bl. 177r; Willing (wie Anm. 88), S. 613: Es haut muͦter Margret Cartuserin mer denn xxx iar canterin gesin vnd hat staͤt darzuͦ geschriben und genotiert. Die ist der reformiererin aini irs closters vnd haut gross schriben vil iar geton, vnd alle ire gesangbucher by kurtzen iaren nuw geschriben und notiert, soͤlichi schoͤni bucher, wer die siecht, dem ist es nit wol zuͦ gelobind, dz ain frowenbild so wol kan arbaiten, und haut denocht ir ampt on sumnus im chor geton. 94 Schneider vermerkt für den ersten Faszikel, dass er im Katharinenkloster geschrieben worden sei, vgl. Schneider (wie Anm. 26), S. 198. Sie vermutet, dass es sich bei diesem ersten Teil um den schon vor der Reform 1428 im Kloster befindlichen Teil handelt. Vgl. den Katalogeintrag zu Cent. VI, 59 Ruf (wie Anm. 22), S. 625: Das vor geschriben puch das erst teil ist uns worden von der junckfrawen Barbara Kressin seligen, das ander teil ist vor der reformyrung hynnen gewest. 95 Vgl. Offenbarungen (wie Anm. 3), S. 17. geht zumindest aus den Verbesserungen auf Bl. 203r hervor, die in Form von Streichungen und Ausbesserungen mit Nachtragszeichen in einer Kursivschrift des 15. Jahrhunderts über fehlerhaft abgeschriebenen Evangelienversen platziert sind. 89 Dass Katharina Tucher den Auszug im Kloster geschrieben hat, indiziert der Überlieferungsverbund der Handschrift, da sich z. B. im zweiten Teil des Codex neben einer von den Schwestern Barbara Rützin 90 und Klara Keiperin 91 angefertigten Predigtabschrift eine Sammlung kleiner Sprüche und Lehren (Bl. 172v-179r) findet, die Kunigunde Schreiberin abgefasst hat. 92 Ein eindrückliches Indiz für Katharina Tuchers Schreibtätigkeit im Katharinenkloster bietet Cent. VI, 100 (E.XLIII) mit dem Auszug des Extendit manum-Passionstraktats (Bl. 206r-211r), den sie gemeinsam mit der für ihre Schreibkünste bekannten Reformschwester Margareta Kartäuserin 93 aufgezeichnet hat. Und auch die von Katharina Tucher geschrie‐ benen Erbauungstexte im ersten Faszikel der Komposithandschrift Cent. VI, 59 (Bl. 9r-71r, 84r-95v, 110r-140r) 94 müssen nicht unbedingt aus ihrem früheren Besitz stammen, wie Williams-Krapp meint. 95 Die Tucherin kopiert eine Ausdeutung des Buches Esther auf Christus und die minnende Seele (Bl. 9r-41v), einen Traktat über die Verkündigung (Bl. 45v-60v), Sprüche von Bonaventura, Bernhard und Augustinus zum Leiden Christi (Bl. 84r-v), einen geistlichen Brief an eine Schwester (Bl. 86r-94r), Traktate zum Nutzen der Betrachtung des Leidens Christi (Bl. 94r-95v) und von fünferlei Menschen (Bl. 110r-112v), Vom Namen Jesu (Bl. 113r-115r), eine Bußpredigt über Mt 3,2 (Bl. 115r-127r), einen Spruch Bernhards (Bl. 127r), Quaestiones zum Fasten nach Thomas von Aquin (Bl. 131r-137r) 474 Simone Kügeler-Race 96 Die Überschriften sind der Handschriftenbeschreibung von Schneider (wie Anm. 26), S. 199-201 entnommen, da in der Handschrift selbst nur vereinzelte Texte eine paratextuelle Überschrift aufweisen, z. B. Bl. 84r Von dem leide[n] vns[er]s herrn und Bl. 131r Von der vasten frogt sant thomas. 97 Die Buchmeisterin Kunigunde Niklasin hat den zweiten Lektiokatalog zeitgleich mit dem Biblio‐ thekskatalog um 1455/ 1457 angelegt, vgl. Willing (wie Anm. 7), S. XXXIX. 98 Zur Erstellung des ersten Lektiokatalogs um 1429-1431 durch Elisabeth Karlin, vgl. Ruf (wie Anm. 22), S. 639; Willing (wie Anm. 7), S. XLII datiert den ersten Lektiokatalog dagegen um 1436-1442. 99 Vgl. ebd., S. 926. Willing identifiziert die Handschrift als Cent. VI, 59, verzeichnet sie in ihrer Erläuterung allerdings wohl versehentlich als Cent. VI, 56, Bl. 9r-41v. Die Auslegung des Buches Esther ist in Cent. VI, 59, Bl. 9r-41v überliefert. 100 Vgl. ebd., S. 929. M.VI ist in den Erweiterungen zum ersten Lektiokatalog wiederum nur als rotes puch verzeichnet: Item an dem roten puch stet auch von dem namen Jhesus und hebt sich [an] ‚Es sch[r]eibt Saloman‘. 101 Vgl. ebd., S. 939. M.VI. puch, ein predig von der puß, am CXV. plat. 102 Vgl. ebd., S. 941, hier der Eintrag des zweiten Lektiokatalogs: M.VI. puch, aber ein predig von der vasten, am CXXXI. plat. 103 Ehrenschwendtner (wie Anm. 34), S. 179; zur Restitution und Bedeutung der Tischlesung im Rahmen der Ordensreform vgl. Willing (wie Anm. 7), S. XLI; Hasebrink (wie Anm. 23), S. 202-212. und Von den neun Chören der Engel (Bl. 137v-140r). 96 Für vier der Texte, die Auslegung des Buches Esther, den Traktat vom Namen Jesu, die Bußpredigt über Mt 3,2 und die Quaestiones zum Fasten nach Thomas von Aquin, kann die Verwendung im Rahmen der Tischlesung nachgewiesen werden, wie die entsprechenden Einträge der Lektiokataloge 97 zeigen. Denn der erste Lektiokatalog, den die Reformschwester Elisabeth Karlin aus Schönensteinbach im Katharinenkloster konzipiert hat, 98 enthält einen Eintrag unter dem Festtag Conceptio Marie (25.03) zu der Auslegung des Buches Esther, die Katharina Tucher in Cent VI, 59 (M.VI) abgeschrieben hat: Item dornoch mag man leßen ein klein puchlein, das sagt von der schunen Ester Maria. 99 Den Traktat vom Namen Jesu in Cent. VI, 59, Bl. 113r-115r verzeichnet der zweite Lektiokatalog als M. VI. puch, aber von dem suͤßen namen Jhesu, am CXIII. plat als Lesung zum Festtag Circumcisio domini (01.01).  100 Die Bußpredigt über Mt 3,2 aus M.VI ist im zweiten Lektiokatalog für Feria II. post Estomihi vorgesehen. 101 Für Feria IV. post Estomihi sind die Quaestiones zum Fasten nach Thomas von Aquin im zweiten Lektiokatalog festgelegt. 102 So lässt sich die Gebrauchsfunktion von vier Erbauungstexten, die Katharina Tucher in Cent. VI, 59 abgeschrieben hat, als Lektüre für die Tischlesung bestimmen, die im reformierten Katharinenkloster ein „Grundelement des Klosterlebens“ 103 darstellt. Bei den von Katharina Tucher in Cent. VI, 59 kompilierten Texten dominiert ebenfalls ein Fokus auf bestimmte erbauliche Themenkomplexe, die Passionsbetrachtungen (z. B. den Traktat Nutzen der Betrachtung des Leidens Christi), theologische Erörterungen einer personalen Gottesbeziehung in der Tradition der Hoheliedexegese (z. B. in der Auslegung über das Buch Esther, dem Bernhard-Spruch Bl. 45v), Weltabkehr (z. B. im Bernhard-Spruch Bl. 127r), Anleitungen zu rechter Buße (Bußpredigt über Mt 3,2, Bl. 115r-127r) und Askese (Quaestiones zum Fasten nach Thomas von Aquin) einschließen. Die Textzusammenstel‐ lung der Handschrift vermittelt den Eindruck, dass sie eine Art ‚Handbibliothek‘ zu zentralen pastoraltheologischen Fragen und Themengebieten bereitstellt. Auf der Ebene des Inhalts zeigen sich thematische Überschneidungen zwischen Offenbarungen und den von 475 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht 104 Vgl. Haug (wie Anm. 85), S. 200. Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 8, S. 34, 9, der als die red mit der sell bezeichnet ist und motivische Übereinstimmungen aufweist. 105 Vgl. zur jüdischen und christlichen Tradition der exegetischen Literatur zum Buch Esther, Jo Carruthers, Esther through the Centuries, Oxford 2008 (Blackwell Bible Commentaries), bes. S. 10-13. 106 Cent. VI, 59, Bl. 9r. 107 Vgl. die Begriffserklärung von Anthonius H. Touber zur Verwendung im 15. Jahrhundert in Das Donaueschinger Passionsspiel, hg. von Anthonius H. Touber, Stuttgart 1985, S. 263. 108 Cent. VI, 59, Bl. 9r: wan von ir stet geschriben in de[m] pvch der lieb: sie ist schon inwendig vnd avswendig […] vnd dor vun so sprach der herr avch in de[m] pvch der lieb: ste auf mein frevndin, meine tavb vnd mein aller schonste. vnd dise hohzeit macht noch hevt vnd alle tag vnser lieber her Jhesus Cristus in alle warin andehtige[n] hertzen, die sich dar nach schicken. Sie mvse[n] aber geleichait haben mit der zarte[n] schon ester, mit maria der kvnigin himel. 109 Cent. VI, 59, Bl. 11v: dis ist ain vigur der schon ester, maria der himelkaiserin, der auf geseczt ward die zart junckfravlich kron, als johannes schreibt in dem puch der taugen. Vgl. Carruthers (wie Anm. 106), S. 12; Anselm Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens in der deutschen Literatur und lateinischen Hymnenpoesie des Mittelalters, Unv. Nachdruck: Darmstadt 1967, bes. 473-476. 110 Vgl. z. B. Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 5, S. 32, 12-13; Eintrag 6, S. 32, 28-33,18; Eintrag 21, S. 40, 10-41, 31; Eintrag 27, S. 45, 6-7; Eintrag 29, S. 45, 24-25; Eintrag 67, S. 60, 10. 111 Cent. VI, 100, Bl. 208r: mit schevtzziglichem jamer mit kleglichem geperde den werden heiligen leichnam sol ein yeglicher mensche an sehen. 112 Cent. VI, 100, Bl. 210r: vnd ein riter stach in seine seite und det im die avf mit einem scharpfen sper, dar avs ran plvt vnd wahser mit dem wir gekavft sind dem tod vnd gewaschen von allen svnden. […] wer im wil nutzze machen daz leiden Christi, der sol also sehen avf daz leiden Christi: des ersten, daz er im nach volge; zvm andern mal, daz er hab mitleiden; zum tritten mal, daz er sich der leiden bvnder; zum furdem, daz er sich des leidens freve; zum funfften, das er dar innen zu zufliesze; zum funften (! ), das er dar innen ruve […]. der Tucherin geschriebenen Erbauungstexten in Cent. VI, 59. So etwa besonders im Hinblick auf das Hohelied als Denk- und Vorstellungsmuster einer persönlichen Gottesbegegnung, 104 wie aus der Auslegung des Buches Esther auf Christus und die minnende Seele hervor‐ geht. 105 Bl. 9r ist rubriziert überschrieben mit über die sel, was ein besonderes Interesse der Schwesterngemeinschaft an diesem Text und die Verwendung bei der Tischlesung signalisieren kann. Der himelisch vater, vnser lieber her, der wil ain hohzeit machen seim svn, vnserm lieben hern Jhv Xp, dem wil er vertreven ain schon avserwelte jvnckfravn vnd dez hab wir ain vigvr.  106 Der Begriff vigvr kann im Sinne von ‚Bild‘ 107 auf die Anschaulichkeit des Textes bezogen werden. Die ‚Eigenschaften‘ der Braut und die Ansprache des göttlichen Bräutigams werden auf das Verhältnis der andehtigen hertzen übertragen. 108 Der mittelalterlichen Exegese gemäß präfiguriert Esther die Gottesmutter Maria. 109 Biblische Zitate und Motive durchziehen die dargestellten Sinnbilder wie in den Offenbarungen. 110 Möglichkeit zur Leidensnachfolge und Kontemplation des Kreuzesgeschehens, die in der Invokationsformel Iesv zv lob sein lieplichen fvnf bvnden der Offenbarungen anklingt, entfaltet der bereits erwähnte Auszug des Extendit manum-Traktats, den Katharina Tucher gemeinsam mit Margareta Kartäuserin in Cent. VI, 100 abgeschrieben hat. Die Textpartie, die Katharina Tucher abgefasst hat (Bl. 208r-211v), beginnt mit einer Aufforderung zur Be‐ trachtung des gemarterten Christuskörpers. 111 Der Lanzenstich (Io 19,34) dient als Übergang zu einer pointierten Zusammenfassung der Erlösungstheologie und einer anschließenden Meditationsanweisung, 112 so dass die Seitenwunde „metonymisch für den ganzen Erlöser 476 Simone Kügeler-Race 113 Christoph Huber, „Wohnen in der Wunde. Zu einem passionsmystischen Metaphernkomplex,“ in: Verletzungen und Unversehrtheit in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIV Anglo-German Colloquium Saarbrücken 2015, hg. von Sarah Bowden, Nine Miedema, Stephen Mossman, Tübingen 2020, S. 65-81, hier S. 78. 114 Cent. VI, 100, Bl. 210r. 115 Offenbarungen (wie Anm. 3), Eintrag 84, S. 67, 7-8. 116 Vgl. Willing (wie Anm. 6), S. 56 verzeichnet diese vier Bände mit dem Provenienzvermerk, allerdings ohne Angabe der heutigen Handschriftensignaturen. 1. L.XXXI Strasbourg, Bibliothèque nationale et universitaire, Ms. 2195, Ruf (wie Anm. 22), S. 622; 2. M.VII Nürnberg, Stadtbibl., Cod. Cent. VI, 43 d , Ruf, S. 625; 3. N.II Berlin, Staatsbibl. - Preuß. Kulturbes., Ms. germ. oct. 137, Ruf, S. 628; 4. N.XV Nürnberg, Stadtbibl. Cod. Will II, 19.8 o , Ruf, S. 632. 117 Vgl. Willing (wie Anm. 6), S. 55; Willing (wie Anm. 7), S. XXIV. 118 Vgl. bes. Schneider (wie Anm. 7), S. 72f. 119 Vgl. Kügeler-Race (wie Anm. 58), S. 368. 120 Vgl. Schneider (wie Anm. 7), S. 71. Als Hauptbelege für diese These nennt Willing (wie Anm. 6), S. 25f., dass Bücher nicht unter den Gegenständen und Besitztümern aufgeführt seien, die die Schwestern im Jahr der Einführung der Reform 1428/ 1429 der Priorin bzw. den Predigerbrüdern und dem Provinzial und sein salvatorisches Werk steht“. 113 Dieser Textabschnitt schließt mit der formelartigen Wendung wan das leiden Christi ist vnser regel nach der wir schvln leben vnd ist vnser pilde. 114 Diesen Gedanken reflektieren die Offenbarungen auf ähnliche Weise, wenn Christus sein Leiden folgendermaßen beschreibt: Vnd ist ain schvl, dar inen man lernt vnd geoffenbart wirt, daz svst dem menschen verporgen ist. 115 V Das Sammeln im Katharinenkloster als gelebte Frömmigkeitspraxis Was bedeuten die vorangegangen Überlegungen für das Sammeln religiöser Texte als kulturelle Praxis? Der vorliegende Beitrag hat versucht zu zeigen, dass die Offenbarungen und Texte der Büchersammlung in den Gebrauchs- und Funktionszusammenhängen der Klosterbibliothek situiert werden können. Dabei finden sich drei verschiedene Gruppie‐ rungen der mit Katharina Tucher assoziierten Bücher: Vier Bände mit den Signaturen L.XXXI, M.VII, N.II und N.XV weisen im Bibliothekskatalog die Provenienzvermerke das vor geschriben puͤchlein hat swester Katherina Tucherin selig in das closter procht  116 auf, die bedeuten könnten, dass diese vier Handschriften erst nach ihrem Tod in den Besitz der Klosterbibliothek übergegangen sind. 117 Die umfangreichste zweite Gruppe ist im Katalog mit der Formel das puch procht swester Kathrein Tucherin herein eingetragen und eine dritte Gruppe bilden die oben diskutierten Handschriften Cent. VI, 53, Cent. VI, 59, Cent. VI, 100 und Cent. VI, 57 mit den Offenbarungen, die keinen Hinweis auf die Tucherin als ‚Besitzerin‘ enthalten. Welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Vorstellung einer privaten Büchersammlung ziehen, wie sie die Forschung vertreten hat? 118 Müsste sich die These einer persönlichen Sammlung nicht auf die vier Bücher L.XXXI, M.VII, N.II und N.XV beziehen, die offenbar bis zu ihrem Lebensende im Besitz der Tucherin verblieben sind? Hier zeichnet sich die übergeordnete Fragestellung ab, inwiefern der Begriff ‚Privatbesitz‘ überhaupt eine adäquate Betrachtungskategorie für die Einordnung der religiösen Sammelhandschriften aus dem Katharinenkloster bietet. 119 Die Forschung geht zwar davon aus, dass Bücherbesitz im Katharinenkloster nicht unter die Regelung fiel, jegliches Privateigentum nach der Reformierung aufzugeben, 120 aber es fehlt bisher 477 Die vor geschriben puͤchlein hat swester Kathrein Tucherin herein gepracht übergeben mussten. Zudem verzeichne das bereits erwähnte ‚Inventar der privaten Bücher‘ in Cent. VII, 92, Bl. 1r-45r 113 Bücher als Eigentum namentlich benannter Schwestern. 121 Lähnemann (wie Anm. 75), S. 314. 122 Vgl. zur Überlegung, dass die spirituelle Dimension von Stiftungen das Andenken einzelner Personen bereits übersteigt, Christian Kuhn, „Totengedenken und Stiftungsmemoria. Familiäres Vermächtnis und Gedächtnisbildung der Nürnberger Tucher (1450-1550)“, in: Haus- und Familienbücher in der städtischen Gesellschaft des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Brigit Studt, Köln/ Weimar/ Wien 2007 (Städteforschung 69), S. 121-134, hier S. 122. eine genauere Bestimmung des Begriffs ‚Besitz‘ im Kontext der Observanzbewegung. Der Bibliothekskatalog, der die VorbesitzerInnen der Bücher akribisch verzeichnet und Rückschlüssse auf Büchersammlungen angesehener Stadtbürger und Klosterschwestern zulässt, kann jedenfalls „die enge Symbiose von Kloster und Stadt“ 121 illustrieren. Denn die Katalogeinträge halten das Andenken an den sukzessiven Aufbau der Bibliothek und die namentlich benannten BuchstifterInnen wach und lassen sich als Teil der klösterlichen Erinnerungskultur sehen. Die Bibliothek vereinigt die einzelnen Sammlungen zu einer Kollektion von Klosterliteratur, deren spirituelle Dimension über das Andenken einzelner Personen als Akt zur Jenseitsfürsorge hinausgeht. 122 Und auch die Offenbarungen lassen sich in diesem komplexen Beziehungsgeflecht als Teil der Literatur des Klosters verstehen. 478 Simone Kügeler-Race 1 Vgl. Werner Röcke, „Fiktionale Literatur und literarischer Markt. Schwankliteratur und Prosaroman“, in: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, hg. von dems. und Marina Münkler, München/ Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der Literatur 1), S. 463-506, bes. S. 467-479. 2 Zu den in den Vorreden explizierten Intentionen der Sammler des 16. Jahrhunderts vgl. bes. Bärbel Schwitzgebel, Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1996 (Frühe Neuzeit 28); zum ethisch-ästhetischen Doppelprogramm von utilitas und delectatio in Erzählsammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts Nikola Roßbach, Lust und Nutz. Historische, geistliche, mathematische und poetische Erquickstunden in der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2015. 3 Die Begrifflichkeit nach dem Vorschlag von Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Universität“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26, der besonders das je unterschiedlich modellierte zeitliche Verhältnis der Sammlungstypen zu Aura und Latenz herausstellt; zu den artifiziellen Akten des Anordnens und Bearbeitens von (Text-)Objekten in Sammlungen vgl. Justin Stagl, „Homo Collector. Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns“, in: Sammler - Bibliophile - Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Godmille und Gabriele Rippl, Tübingen 1998, S. 37-54; sowie Jochen Brüning, „Die Sammlung als Text. Text als Sammlung“, in: ZfG 13 (2003), S. 560-572. Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis Sammeln und Ordnen in Job Fincels Wunderzeichen-Chronik (Tl. I, Jena 1556) Caroline Emmelius I Sammeln und Ordnen kleiner narrativer Formen im 16. Jahrhundert: Gattungen, Buchtypen, Sammlungsmodelle Das Sammeln von kleinen narrativen Texten hat im 16. Jahrhundert Konjunktur. Die medialen Möglichkeiten des Drucks begünstigen die Verfügbarkeit der Vorlagen, erzeugen einen literarischen Markt für die Sammlungen und eröffnen ökonomische Perspektiven für die Sammler. 1 Die quantitative Dimension des Sammelns von Texten erzeugt dabei Beschleunigungs- und Intensivierungseffekte, die Konkurrenzprojekte ebenso erklären hilft wie die z. T. dichte zeitliche Folge von Bearbeitungen und Erweiterungen der Samm‐ lungen. Die Habitus, Motive und Intentionen der Sammler sind heterogen: Gesammelt wird mit humanistischen, konfessionellen, moraltheologischen, ökonomischen und gesel‐ ligkeitsorientierten Absichten im topischen Spektrum von lust und nutz. 2 Wo gesammelt wird, stellt sich zugleich die Frage nach den Ordnungsmustern und -kategorien, die für die Präsentation des gesammelten Textmaterials zur Anwendung kommen, denn ohne Ordnung keine Sammlung, sondern bestenfalls ein Vorrat, gegebenenfalls aber auch nur ein Sammelsurium. 3 Dass die unterschiedlichen thematischen, visuellen und drucktechnischen Ordnungsbestrebungen der Sammler und Kompilatoren, der Verleger und Drucker von 4 So programmatisch Frieder von Ammon und Michael Waltenberger, „Wimmeln und Wuchern. Pluralisierungsphänomene in Johannes Paulis Schimpf und Ernst und Valentin Schumanns Nacht‐ büchlein“, in: Pluralisierungen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit, hg. von Jan-Dirk Müller, Wulf Oesterreicher und Friedrich Vollhardt, Berlin u. a. 2010 (Pluralisierung und Autorität 21), S. 273-301. 5 Vgl. Röcke, „Fiktionale Literatur und literarischer Markt“ (wie Anm. 1), S. 468; Klaus Grubmüller, Die Ordnung, der Witz und das Chaos. Eine Geschichte der europäischen Novellistik im Mittelalter. Fabliau - Märe - Novelle, Tübingen 2006, S. 330-333; Gerd Dicke, „Fazetieren. Ein Konversationstyp der italienischen Renaissance und seine deutsche Rezeption im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Literatur und Wandmalerei II. Konventionalität und Konversation. Burgdorfer Colloquium 2001, hg. von Eckart C. Lutz, Johanna Thali und René Wetzel, Tübingen 2005, S. 157-190; zu den literarischen Topoi, denen sich die Funktionsbestimmungen der Titel und Vorreden verdanken, Caroline Emmelius, Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin u. a. 2010 (Frühe Neuzeit 139), S. 370-374; vgl. zu den Raummetaphern für das gesellige Wiedererzählen auch Roßbach (wie Anm. 2), S. 90-102. 6 Das zeigt nicht nur der Blick in die motivgeschichtlichen Kommentare zu den edierten Erzählsamm‐ lungen des 16. Jahrhunderts von Hermann Österley und Johannes Bolte, sondern auch die von Bolte und Polivkas Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm ihren Ausgang nehmenden motivgeschichtlichen Großprojekte der volkskundlichen Erzählforschung wie die Enzy‐ klopädie des Märchens und die Erzählmotiv-Indices von Antti Aarne und Stith Thompson, The types of the folktale. A classification and bibliography, Helsinki 1961 (Folklore Fellows‘ Communication 184), und Hans-Jörg Uther, The types of international folktales. A classification and bibliography. Based on the system of Antii Aarne and Stith Thompson, 3 Bde. Helsinki 2004; ders., Deutscher Märchenkatalog. Ein Typenverzeichnis, Münster, New York 2015. Nach diesen Arbeiten zitierte Erzählmotive werden im Folgenden mit der entsprechenden AaTh-Nummer angegeben. 7 Vgl. zu den Schwanksammlungen Denes Monostory, Der Decamerone und die deutsche Prosa des 16. Jahrhunderts, Den Haag 1971 (Studies in German Literature 16); sowie den instruktiven narratologischen Versuch zum Schwank von Hauke Stroszeck, Pointe und poetische Dominante. Deutsche Kurzprosa im 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1970; ferner den Forschungsbericht von den Texten der Sammlungen wiederum unterlaufen werden und in ein ungeordnetes ‚Wimmeln und Wuchern‘ umschlagen können, 4 ist dabei ebenso zu bedenken, wie dass die Sammlungen im Zuge der Redaktions- und Druckgeschichte dynamischen Prozessen, Änderungen und Verschiebungen unterliegen können. Im Bereich der kleinen narrativen Formen manifestiert sich die ‚Sammelwut‘ des 16. Jahrhunderts in Fabel-, Fazetien- und Schwanksammlungen, sowie Prodigien- und Exempelsammlungen. Zu deren Anordnungslogiken scheint es zwei konkurrierende An‐ sätze zu geben: Die kurz nach der Jahrhundertmitte entstehenden Erzählsammlungen von Jörg Wickram, Jakob Frey, Martin Montanus und Nachfolgern verzichten auf eine explizierte, buchtechnisch sichtbar gemachte Anordnung des gebotenen Materials und präsentieren sich in den Vorreden als offene Thesauren für einen mündlichen Wiederge‐ brauch. 5 Neben diesen offenen Sammlungsformen haben jedoch vor allem Sammlungen Konjunktur, die, wie Exempel- und Wunderzeichensammlungen, an tradierte Modelle des Sammelns und Kompilierens anknüpfen und diese mit den Möglichkeiten des Buchdrucks weiterentwickeln. Für die weitere Rezeptionsgeschichte der gesammelten kleinen Formen erweisen sich diese dezidiert geordneten Sammlungen sogar als besonders erfolgreich, weil sie ihr Material gerade für den strukturiert suchenden Blick aufbereiten. 6 Die literaturgeschichtliche Forschung hat sich bislang vor allem für die offenen (Schwank-)Sammlungen interessiert. Im Anschluss an gattungs- und funktionsgeschicht‐ liche Untersuchungen 7 sind sie in den letzten Jahren zum Gegenstand von diskurs- und 480 Caroline Emmelius Peter C. M. Dieckow, „Um jetzt der Katzenborischen art Rollwagenbücher zu gedenken. Zur Erfor‐ schung deutschsprachiger Prosaerzählsammlungen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, in: Euphorion 90 (1996), S. 76−133; zur Fazetie: Wilfried Barner, „Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetien“, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts, hg. von Walter Haug und Burghart Wachinger, Tübingen 1993 (Fortuna vitrea 8), S. 287-310; J. Klaus Kipf, Cluoge geschichten. Humanistische Fazetienliteratur im deutschen Sprachraum, Stuttgart 2010 (Literatur und Künste der Vormoderne 2); zur Funktionsgeschichte der Sammlungen mit ausschließlichem Fokus auf die Paratexte Schwitzgebel (wie Anm. 2). 8 Vgl. hierzu die im Teilprojekt B6 des Münchener SFB 573 ‚Autorität und Pluralisierung‘ entstandenen Arbeiten von Peter Strohschneider, „Heilswunder und fauler Zauber. Repräsentationen religiöser Praxis in frühmodernen Schwankerzählungen“, in: PBB 128 (2007), S. 438−468; und Michael Walten‐ berger, „‚Einfachheit‘ und Partikularität. Zur textuellen und diskursiven Konstitution schwankhaften Erzählens“, in: GRM 56 (2006), S. 265-287; ders., „…so ist nun von noeten, das ich etwas von klaeglichen dingen schreibe… Not- und Kontingenzerfahrung im Wegkürzer des Martin Montanus“, in: Sonderfor‐ schungsbereich 573. Mitteilungen 2006, Heft 2, S. 6-14; ders., „Geltendes im Nichtigen. Beobachtungen zur Autorisierung ‚niederen‘ Erzählens in der Gartengesellschaft (1557), in Maeynhincklers Sack (1612) und im Roldmarsch Kasten (1608)“, in: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert, hg. von Beate Kellner u. a., Berlin/ New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 303-328; ders., „Vom Zufall des Unglücks. Erzählerische Kontingenzexposition und exemplarischer Anspruch im Nachtbüchlein des Valentin Schumann (1559)“, in: PBB 126 (2007), S. 286-312; als Teil eines protojournalistischen Diskurses untersucht die Schwanksammlungen Christian Meierhofer, Alles neu unter der Sonne. Das Sammelschrifttum der Frühen Neuzeit und die Entstehung der Nachricht, Würzburg 2010 (Epistemata 702). 9 Vgl. Seraina Plotke und Stefan Seeber, „Ko- und Kontexte. Kurzerzählungen zwischen Handschrift und Buchdruck“, in: Schwanksammlungen im frühneuzeitlichen Medienumbruch. Transformationen eines sequentiellen Erzählparadigmas, hg. von dens., Heidelberg 2019 (GRM-Beiheft 96), S. 3-12. 10 Zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Buchtyps Schwankbuch, sowohl in Bezug auf Kontinui‐ täten zur spätmittelalterlichen kleinepischen Sammelhandschrift als auch in Bezug auf benachbarte Sammlungsformen des Druckzeitalters gibt es mehrere, ähnlich argumentierende Beiträge, vgl. J. Klaus Kipf, „Auf dem Weg zum Schwankbuch. Die Bedeutung Frankfurter Drucker und Verleger für die Entstehung eines Buchtyps im 16. Jh.“, in: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, hg. von Robert Seidel und Regina Toepfer, Frankfurt a. M. 2010, S. 195−220; ders., „Das Schwankbuch als frühneuzeitlicher Buchtyp. Dargestellt am Beispiel von Jörg Wickrams Rollwagenbüchlein (1555)“, in: Ordentliche Unordnung. Metamorphosen des Schwanks vom Mittelalter bis zur Moderne. Festschrift für Michael Schilling zum 65. Geburtstag, hg. von Bernhard Jahn, Dirk Rose und Thorsten Unger, Heidelberg 2014 (Beihefte zum Euphorion 79), S. 79-92; ders., „Die humanistische Fazetiensamm‐ lung als Buchtyp. ‚Missing link‘ zwischen der spätmittelalterlichen Kleinepikhandschrift und dem gedrucktem [sic] Schwankbuch? “, in: Plotke/ Seeber (wie Anm. 9), S. 91−122; ders., „Von der Sam‐ melhandschrift zum gedruckten Schwankbuch. Überlieferungstypen von Schwänken“, in: Die Kunst der ,brevitas‘. Kleine literarische Formen des deutschsprachigen Mittelalters. Rostocker Kolloquium 2014, in Verbindung mit Ricarda Bauschke-Hartung und Susanne Köbele hg. von Franz-Josef Holznagel und Jan Cölln, Berlin 2017 (Wolfram-Studien 24), S. 299-330. wissensgeschichtlichen Ansätzen geworden, die im offenen Sammlungstyp auch eine epistemische Offenheit gespiegelt sehen. 8 In jüngster Zeit stehen mediengeschichtliche Interessen an den Schwanksammlungen im Vordergrund: 9 Vor allem die Arbeiten von Klaus Kipf plädieren dafür, die offenen Prosaerzählsammlungen als einen eigenen Buchtyp zu beschreiben, der mit den im Umfeld publizierten stärker ordnenden Sammlungen aber jeweils punktuelle Gemeinsamkeiten aufweist. 10 Kipfs Beiträge machen vor allem deutlich, dass die literaturgeschichtlich privilegierten Schwanksammlungen im 16. Jahrhundert 481 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 11 Die hier präsentierten Überlegungen verstehen sich als Vorarbeiten zu einem Projekt, das die Motivgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Sammlungsgeschichte der kleinen Formen reformulieren möchte, vgl. hierzu demnächst Caroline Emmelius, „Von der Motivzur Sammlungs‐ geschichte. Geschichten von der Bösen Adelheit in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Erzählsammlungen“. Das Projekt knüpft an die rezenten Bemühungen der Mären- und Fabelfor‐ schung an, die Sammlungskontexte von narrativen Reimpaarverstexten für die Interpretation der Texte fruchtbar zu machen, vgl. u. a. Nicola Zotz, „Sammeln als Interpretieren. Paratextuelle und bildliche Kommentare von Kurzerzählungen in zwei Sammelhandschriften des späten Mittelalters“, in: ZfdA 143 (2014), S. 349-372; Nicole Eichenberger, Geistliches Erzählen. Zur deutschsprachigen religiösen Kleinepik des Mittelalters, Berlin/ Boston 2015 (Hermaea N. F. 136); Margit Dahm-Kruse, Versnovellen im Kontext. Formen der Retextualisierung in kleinepischen Sammelhandschriften, Tü‐ bingen 2018 (Bibliotheca Germanica 68); für die Fabelforschung: Michael Schwarzbach-Dobson, Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation, Berlin 2018 (Literatur - Theorie - Geschichte 13); Inci Bozkaya, Der ‚Esopus‘ des Burkhart Waldis und die Fabel der Frühen Neuzeit. Gattungstradition und -transformation, Autorisierungsstrategien, Deutungsmöglichkeiten, Berlin/ Boston 2019 (FNZ 228). kein isoliertes Phänomen darstellen, sondern Teil einer größeren Literaturgeschichte des Sammelns kleiner narrativer Formen sind. Der vorliegende Beitrag versteht sich vor diesem Hintergrund als Probebohrung: Er stellt mit Fincels Wunderzeichen-Chronik eine explizit geordnete Sammlung in den Mittelpunkt, die bislang nicht im Fokus der Literaturgeschichte stand. Obgleich sie hinsichtlich der versammelten Materialien durchaus markante Überschneidungen mit den bekannteren Schwanksammlungen aufweist, gilt sie als pragmatisches Produkt des konfessionellen Zeitalters. Statt die Differenz zwischen offenen und strukturierten, zwischen ‚literarischen‘ und pragmatischen Sammlungen zu betonen, soll im Folgenden das Selbstverständnis der Sammlung und ihr Umgang mit den gesammelten kleinen narrativen Formen ausgelotet werden. Die Hypothese hierzu lautet, dass die Verfahren und Strategien des Sammelns und Ordnens unabhängig von den gewählten Makrostrukturen durchaus vergleichbar sind, auch wenn der diskursive Kontext und sogar die narrative Struktur der kleinen Formen in den Einzelsammlungen dabei ganz unterschiedlich ausfallen mögen. Die Lektüre von Fincels Wunderzeichen als literarische Sammlung ermöglicht auf diese Weise Einblicke in kompilatorische Verfahren, die das Sammeln und Ordnen kleiner literarischer Formen präziser konturieren und im Vergleich auch die Wahrnehmung für die Sammelverfahren der Schwanksammlungen schärfen können. 11 482 Caroline Emmelius 12 Fincel wird in den späten 1520er Jahren in oder bei Weimar geboren; er studiert ab Mitte der 1540er zunächst in Erfurt, dann in Jena und schließlich bei Melanchthon in Wittenberg. 1549 erwirbt er den Magister Artium, zeitgleich nimmt er ein Medizinstudium auf. Mit seinem Freund und Mentor, dem Dichter und Rhetorikprofessor Johann Stigel geht er an die 1558 neugegründete Universität Jena, wo er für kurze Zeit ein Lektorat für Philosophie innehat. Als er die Stelle nicht wiedererhält, widmet er sich vermehrt der Medizin, wird 1562 zum Doktor promoviert und ist seit 1563 als Assessor an der medizinischen Fakultät greifbar. 1568 verlässt er Jena, geht für das Physikat kurzfristig nach Weimar und wird schließlich Stadtarzt in Zwickau. Dort stirbt er 1589. Literarisch tritt Fincel zunächst mit lateinischer Gelegenheitsdichtung hervor. Ferner gibt er den Nachlass seines Freundes Stigel in neun Bänden heraus und macht sich mit Schriften zur Pest einen Namen. Vgl. zu Fincels Biographie und Werk Heinz Schilling, „Job Fincel und die Zeichen der Endzeit“, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974, S. 326-392, hier S. 327-332; sowie ders., „Fincelius, Job“, in: VL 16, Bd. 2, Berlin/ Boston 2012, Sp. 349-354; den neuesten Stand verzeichnet Björn Aewerdieck, Register zu den Wunderzeichenbüchern Job Fincels, Frankfurt a. M. u. a. 2010 (Kieler Werkstücke, Reihe G 5), S. 10-19. 13 Wunderzeichen. Warhafftige beschreibung vnd gruendlich verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen vnd Geschichten / die von dem Jar an 1517. bis auff jtziges Jar 1556. geschehen vnd ergangen sind / nach der Jarzal. Durch Jobum Fincelium ( Jena: Christian Rödinger d. Ä. 1556; VD 16 F 1103; im Folgenden abgekürzt als Wz I), verwendet ist das Exemplar München, Bayer. Staatsbibl., Res/ Phys.m. 441 g (daten.digitale-sammlungen.de/ ~db/ 0002/ bsb00028890/ images/ [Zugriffe hier und im Folgenden am 30.3.2021]); Der ander Teil Wunderzeichen. Gruendlich verzeuchnis schrecklicher Wunderzeichen vnnd Geschichten / so innerhalb viertzig Jaren sich begeben haben. Durch Jobum Fincelium (Leipzig: Jacob Bärwald 1559; VD 16 F 1106, im Folgenden abgekürzt als Wz II), verwendet ist das Exemplar Halle, Universitäts- und Landesbibl. Sachsen-Anhalt, Hb 5404 o (2) (digitale.bibliothek.uni-halle.de / vd16/ content/ titleinfo/ 995066); Wunderzeichen / der dritte Teil / so von der zeit an / da Gottes wort in Deudschland / Rein vnd lauter geprediget worden / geschehen / vnd ergangen sind. Durch Jobum Fincelium ( Jena: Donatus Richtzenhain, Thomas Rebart 1562; VD 16 F 1107, im Folgenden abgekürzt als Wz III), verwendet ist das Exemplar München, Bayer. Staatsbibl., Res/ Phys.m. 62 (reader.dig itale-sammlungen.de/ resolve/ display/ bsb10208390.html). Überschreibungen in den Vorlagen sind aufgelöst. Da die Bände nicht fortlaufend foliiert sind, übernehme ich die Lagen- und Bogenzählung der Drucke. Für eine Übersicht zu den Druckausgaben der Wunderzeichen-Bände vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 61-71. 14 Vgl. ‚Wunderzeichen‘, in: DWB, Bd. 30, Leipzig 1960, Sp. 2001-2007, hier Sp. 2004. 15 Rudolf Schenda, „Wunder-Zeichen. Die alten Prodigien in neuen Gewändern. Eine Studie zur Geschichte eines alten Denkmusters“, in: Fabula 38 (1997), S. 14-32, hier S. 15; vgl. auch Schendas grundlegende Studie: „Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963), S. 638-710; sowie aus mediengeschichtlicher Perspektive Jörg J. Berns, „Wunderzeichen am Himmel und auf Erden. Der frühneuzeitliche Prodigiendiskurs und dessen medientechnische Bedingungen“, in: Neue Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, hg. von Herbert Jaumann und Georg Stiening, Berlin 2016, S. 99-161. II Fincels Wunderzeichen im Kontext des frühneuzeitlichen Prodigiendiskurses Job Fincel, Wittenberger Theologiestudent und späterer Mediziner in Jena und Zwickau, 12 legt mit seinen Wunderzeichen ab 1556 eine dreibändige Chronik der ersten nachreformato‐ rischen Jahrzehnte vor. 13 Das Titelwort Wunderzeichen übersetzt das lateinische prodigium in der Bedeutung „anzeichen, vorzeichen, bedeutungsschwerer Vorgang“, für die „unaus‐ gesprochen religiöse[r] Bezug“ vorausgesetzt wird. 14 Bezeichnet werden damit jede Art von „ungewöhnlichen, bemerkenswerten oder erstaunlichen Vorgänge(n)“ 15 der natürlichen Umwelt, seien es meteorologische Phänomene (Kometen, Himmels- und Wettererschei‐ nungen), Fehlbildungen an Mensch und Tier oder aber Natur- und andere Katastrophen, 483 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 16 Vgl. Stefan Maul u. a., „Divination“, in: Der neue Pauly, Bd. 3, Stuttgart/ Weimar 1997, Sp. 703-718; Götz Distelrath, „Prodigium“, in: Der neue Pauly, Bd. 10, Stuttgart/ Weimar, 2001, Sp. 369 f.; sowie: Veit Rosenberger, Gezähmte Götter. Das Prodigienwesen der römischen Republik, Stuttgart 1998 (Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 27). 17 Zur Bedeutung der Obsequens-Schrift für den Wunderzeichen-Diskurs des 16. Jahrhunderts vgl. Schenda, „Die deutschen Prodigiensammlungen“ (wie Anm. 15), Sp. 639-641; Berns (wie Anm. 15), S. 142-145. 18 Vgl.: J. Klaus Kipf, Wolffhart (Lycosthenes), Conrad, in: VL 16, Bd. 7, Berlin/ Boston 2018, Sp. 167-178, hier Sp. 172; vgl. auch ebd, Sp. 170 f. zu Lycosthenes eigener Prodigiensammlung Prodigiorum ac Ostentorum Chronicon (1557). 19 Vgl. Wz I, Bl. F6v-7r; X5v-X6r. 20 Der Beitrag der Chronistik des 15. und 16. Jahrhunderts zum Wunderzeichendiskurs ist nur in Ansätzen untersucht, vgl. hierzu Hartmut Kühne, Der Prediger als Augur - Prodigien bei Span‐ genberg, in: Reformatoren im Mansfelder Land. Erasmus Sarcerius und Cyriakus Spangenberg, hg. von Stefan Rhein und Günter Wartenberg, Leipzig 2006, S. 229-244; sowie ders., „Prophetie und Wunderzeichendeutung in der Reformation und im frühneuzeitlichen Luthertum. Beobachtungen zu wenig beachteten Zusammenhängen“, in: James M. Stayer und ders., Endzeiterwartung bei Thomas Müntzer und im frühen Luthertum. Zwei Beiträge, Mühlhausen 2011 (Veröffentlichungen der Thomas Müntzer-Gesellschaft Nr. 16), S. 26-53, hier S. 53 mit Anm. 100. 21 Vgl. Schenda, „Die deutschen Prodigiensammlungen“ (wie Anm. 15), Sp. 642 f. zum Flugschriften‐ autor Joseph Grünpeck; zur grundsätzlichen Bedeutung der Flugpublizistik für den Prodigiendiskurs vgl. Berns (wie Anm. 15), S. 120-128. die wie Erdbeben, Seuchen, Brände, aber auch schwere Verbrechen soziale Gemeinschaften schädigen. Solche Wunderzeichen werden entweder sehr allgemein als Anzeichen göttli‐ chen Zorns und Vorboten des nahenden Endgerichts interpretiert oder ganz spezifisch als Vorausdeutungen für politische Konflikte, Herrschertode oder Kriegshandlungen gewertet. Zum Teil werden die Zeichen, wie Erdbeben oder Überschwemmungen, auch bereits selbst als göttliche Strafhandlung interpretiert. In jedem Fall bieten sie Anlass für dringliche Mahnungen zu Buße und Umkehr. Dem Begriff und der Sache nach sind Prodigien kein christliches Proprium, sondern gehen auf die römische Praxis der Divination zurück, in der es galt, den sich in himmli‐ schen und irdischen Wunderzeichen manifestierenden Zorn der Götter zu besänftigen. 16 Überliefert sind Wunderzeichen vor allem in der historiographischen Literatur. Für das 16. Jahrhundert sind die antiken Prodigia zum Beispiel in der spätantiken Sammlung des Julius Obsequens aus dem 4. Jahrhundert greifbar, die göttliche Vorzeichen der Jahre 195-11 v. Chr. u. a. aus Titus Livius’ Ab urbe condita exzerpiert und in chronikalischer Form anordnet. 17 Diese Schrift wird erstmalig 1508 in Venedig in einer Edition von Plinius-Briefen gedruckt. Wirkmächtig wird sie allerdings erst durch die Veröffentlichung des Basler Humanisten Konrad Wolfhart, genannt Lycosthenes, der Obsequens’ Prodigien 1552 mit zwei zeitgenössischen Prodigienschriften zusammenstellt. 18 Auch Job Fincel kennt die Obsequens-Schrift und verweist gelegentlich auf darin verzeichnete analoge Fälle. 19 Seine Sammlung von ungewöhnlichen Ereignissen der jüngeren und jüngsten Vergangenheit lässt sich auf Grund der chronikalen Ordnung durchaus als zeitgenössische Fortsetzung des spätantiken Prätextes verstehen. Berichte von aktuellen Wunderzeichen werden seit Ende des 15. Jahrhunderts zum einen in der Chronistik, 20 zum andern im Medium der Flugpublizistik, in Flugschriften und - zumeist illustrierten - Einblattdrucken vertrieben. 21 Sebastian Brant ist einer der ersten, der 484 Caroline Emmelius 22 Zu den Wunderzeichenflugblättern Sebastian Brants vgl. die Arbeiten von Dieter Wuttke, „Sebastian Brants Verhältnis zu Wunderdeutung und Astrologie“, in: Studien zur deutschen Literatur und Sprache des Mittelalters. Festschrift für Hugo Moser zum 65. Geburtstag, hg. von Werner Besch u. a., Berlin 1974, S. 272-286; ders., „Wunderdeutung und Politik. Zu den Auslegungen der sogenannten Wormser Zwillinge des Jahres 1495“, in: Landesgeschichte und Geistesgeschichte. Festschrift für Otto Herding zum 65. Geburtstag, hg. von Kaspar Elm, Eberhard Gönner und Eugen Hillenbrand, Stuttgart 1977, S. 217- 244; ders., „Sebastian Brants Sintflutprognose für Februar 1524“, in: Literatur, Sprache, Unterricht. Festschrift für Jakob Lehmann zum 65. Geburtstag, hg. von Michael Krejci und Karl Schuster, Bamberg 1984, S. 41-46; ders., „Der Erzaugur Sebastian Brant deutet Überschwemmungen“, in: Margarita amicorum. Studi di cultura europea per Agostino Sottili, 2. Bde., hg. von Fabio Forner u. a., Mailand 2005, S. 1137-1155; sowie übergreifend: Michael Schilling, „Die Flugblätter Sebastian Brants in der Geschichte der Bildpublizistik“, in: Sebastian Brant (1457-1521), hg. von Hans-Gert Roloff, Berlin 2008 (Memoria 9), S. 143-167. 23 Vgl. Franz M. Mauelshagen, Wunderkammer auf Papier. Die ‚Wickiana‘ zwischen Reformation und Volksglaube, Diss. masch. Zürich 2008, bes. S. 10-26. 24 Vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 33. Bei Berns (wie Anm. 15), S. 100f. ist dieser mediengeschichtlich wichtige Sammlungstyp als Voraussetzung für die gedruckten Kompilationen nur ganz am Rande erwähnt. 25 Vgl. zu Fincels Quellengebrauch Heinz Schilling, „Job Fincel und die Zeichen der Endzeit“ (wie Anm. 12), S. 371-379; sowie ausführlich Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 21-29, ferner das Register zu den zitierten Quellen S. 105 und die inhaltlichen Kurzbeschreibungen mit Nachweisen der Prätexte S. 128-270. 26 Vgl. zu Wicks kommunikativen Netzwerken Mauelshagen (wie Anm. 23), S. 167-178. 27 Vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 23-26. 28 Vgl. Werner Röcke, „Die Zeichen göttlichen Zorns. Monster und Wunderzeichen in der Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit“, in: Literarisches Leben in Zwickau im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Vorträge eines Symposiums anläßlich des 500jährigen Jubiläums der Ratsschulbibliothek Zwickau am 17. und 18. Februar 1998, hg. von Margarete Hubrath und Rüdiger Krohn, Göppingen 2001 (GAG 686), S. 145-168; im zeitlichen Umfeld erscheinen aber rasch weitere volkssprachige Prodigiensammlungen, hierzu Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 26-29; eine Übersicht auch bei Schenda, „Die deutschen Prodigiensammlungen“ (wie Anm. 15), Sp. 649-669. mit explizitem Bezug auf die antike Prodigiendeutung aktuelle Wunderzeichen auf zeitge‐ nössische politische Ereignisse auslegt und in illustrierten Flugblättern, z. T. in Kombination von deutschen und lateinischen Textanteilen, publik macht. 22 Flugblätter und Flugschriften werden wiederum schon zeitgenössisch gesammelt und zu thematischen Korpora zusam‐ mengestellt. Das zeigt insbesondere die umfangreiche multimodale Sammlung des Zürcher Chorherrn Johann Jakob Wick, die einen inhaltlichen Schwerpunkt auf meteorologische, anatomische und historische Wunderzeichen legt. 23 In mediengeschichtlicher Hinsicht wird man in ihr, auch wenn sie etwas jünger als Fincels Wunderzeichen-Chronik ist, ein Analogon zu jener Sammlung sehen können, die Fincel für die Arbeit an seiner Kompilation angelegt haben dürfte. 24 Fincel bezieht das Material für die Wunderzeichen zu großen Teilen aus dem Tages‐ schrifttum. 25 Eine weitere wichtige Informationsquelle dürften, auch wenn hierzu keine Nachweise überliefert sind, ähnlich wie bei Wick, gelehrte Korrespondenzpartner gespielt haben. 26 Für den Aufbau eines entsprechenden Netzwerks stellt Fincels Position an der jungen Universität Jena einen geeigneten Ausgangspunkt dar. 27 In Deutschland ist Fincel der erste, der aktuelle Wunderzeichenberichte sammelt und sie in der Volkssprache in den Druck bringt. 28 Seine dreibändige Chronik wird damit zu einer wichtigen Relaisstelle für 485 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 29 Zum quantitativen Umfang dieses Diskurses schätzt Berns (wie Anm. 15), S. 101, dass „von etwa tausend bis zweitausend Flugblättern, 200-600 Flugschriften und ungefähr 60-100 Büchern auszugehen [ist].“ 30 Vgl. zur Prodigiendeutung im Umfeld Maximilian I. die in Anm. 22 genannte Literatur zu Sebastian Brant; sowie Albrecht Dröse, „Von Vorzeichen und Zwischenwesen. Transformationen antiker Prodigiendeutung bei Brant und Luther“, in: Grenzen der Antike. Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen, hg. von Anna Heinze, Sebastian Möckel und Werner Röcke, Berlin 2014, S. 117-144; lesenswert zum astrologischen Wissen der Reformatoren noch immer Aby Warburg, „Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920)“, in: ders., Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1980 (Saecula spiritalia 1), S. 199- 303; zum Prodigienglauben im frühen Luthertum aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Kühne, „Prophetie und Wunderzeichendeutung“ (wie Anm. 20); sowie Robin B. Barnes, Astrology and Reformation, New York 2016. 31 Vgl. für die zweite Jahrhunderthälfte v. a. Robin B. Barnes, Prophecy and gnosis. Apocalypticism in the wake of the Lutheran reformation, Stanford 1988; Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548-1618, Heidelberg 1999 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 69), S. 45-50 zur konfessionellen Spezifik der Endzeiterwartung; Thomas Kaufmann, Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006 (Spätmittelalter und Reformation 29). Zu den konfessionellen Gewichtungen im Prodigiendiskurs schon Schenda, „Die deutschen Prodigiensammlungen“ (wie Anm. 15), Sp. 668 f.; korrigierend Berns (wie Anm. 15), S. 120f., 138 f.; eine ausführliche Diskussion bei Irene Ewinkel, De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts, Tübingen 1995 (Frühe Neuzeit 23), S. 15-58. 32 Philipp Melanchthon und Martin Luther, Deuttung der zwo grewlichen Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbs zu freyberg jn Meyssen funden (Wittenberg: Johann Rhau-Grunenberg 1523; VD 16 M 2987); zur Rolle der Flugschrift für den protestantischen Prodigiendiskurs Berns (wie Anm. 15), S. 132-134. 33 Vgl. die Verzeichnung der Wundergeburt für das Jahr 1523 mit dem Hinweis: Die Contrafactur dieses kalbes findestu eigentlich / mit der auslegung Doctoris Lutheri / im andern teil der Bucher Lutheri / zu Jhena ausgangen. folio 389. Vnd in Jacobo Ruef. fol. 48 (Wz I, Bl. E2v). Der zweite Verweis zielt auf die Schrift De conceptu et generatione hominis (Zürich 1554) des Zürcher Arztes Jakob Rueff, vgl. hierzu Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 105. den volkssprachigen Prodigiendiskurs der Frühen Neuzeit. 29 Die Konjunktur dieses Dis‐ kurses um die Mitte des 16. Jahrhunderts lässt sich zum einen mit einem gelehrten Interesse an den prophetischen Dimensionen von Astrologie und Teratologie, 30 zum anderen mit apokalyptischen Konzepten des Luthertums in Verbindung bringen. 31 Das Endzeitdenken ist in den Jahrzehnten um die Reformation, besonders aber nach Luthers Tod eine gängige Form der Kontingenzbewältigung: Dass angesichts von Religionsspaltung, Türkenkriegen und Pestwellen das jüngste Gericht vor der Tür stehe, hält insbesondere das reformatorische Lager für evident. Die protestantischen Wunderzeichensammler und -deuter können sich dabei auf einen prominenten Prätext berufen: Melanchthons und Luthers Flugschrift von 1523 mit den Deutungen von Papstesel und Mönchskalb. Ausgehend vom Fund einer Eselsleiche im Tiber und eines fehlgebildeten Kalbs im sächsischen Freiberg deuten die beiden Reformatoren die grewlichen Figuren als Hinweis auf das Ende des Papsttums und auf die Falschheit der geistlichen Orden. 32 Im ersten Band der Wunderzeichen erwähnt Fincel nicht nur diese beiden Wundergeburten, sondern verweist auch auf deren autoritative Deutung: Während er das Mönchskalb bei den Zeichen des Jahres 1523 einordnet, 33 erhält der Papstesel eine exponierte Position am Ende der Chronik. Mit dem abschließenden 486 Caroline Emmelius 34 Zitate folgen den in Anm. 13 genannten Exemplaren. 35 Vgl. Schilling, „Job Fincel und die Zeichen der Endzeit“ (wie Anm. 12), S. 363-369 zu analogen endzeitlichen Konzepten bei Luther und Fincel. 36 [V]on dem Jar an M. D. XVII. bis auff jtziges Jar M. D. LVI (Wz I, Titelblatt). 37 Von 223 Blättern in Band I entfallen gut 30 auf die Vorreden; zu Funktion und Umfang der Vorreden grundsätzlich Schwitzgebel (wie Anm. 2), S. 3-5, 8-10, zu Fincels Wunderzeichen S. 17, allgemein zu den Vorreden von Prodigiensammlungen S. 31-36. Hinweis auf den Prätext: Die auslegung aber findestu im andern teil der Buecher Lutheri / zu Jhena ausgangen / Fol. 286 (Wz I, Bl. e2r) 34 schafft Fincel einen programmatischen Rahmen, indem er die lutherische Konzeption der Wunderzeichen als Warnzeichen Gottes explizit ausstellt. 35 III Die Wunderzeichen-Chronik als Buch: Titel, Aufbau und Paratexte Der oktavformatige, 223 Blatt umfassende erste Band der Wunderzeichen, 1556 bei Christian Rödinger d. Ä. in Jena erschienen, präsentiert sich zeittypisch mit einem zweifarbig gesetzten Titelblatt, das den Kompilator, Ort, Drucker und Jahr nennt. Der trichterförmig angeordnete Titel kündigt Beschreibung und Verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen und Geschichten an und hebt mit dieser Doppelformel bereits hervor, dass die Sammlung auch einen narrativen Charakter hat. Sie versteht sich selbst als Chronik der jüngeren Vergangenheit, in der die Wunderzeichen chronologisch (nach der Jarzal) für die vier Jahrzehnte von der Reformation bis ins Jahr des Drucks aufgeführt werden. 36 Diese Zeitspanne gilt auch für die beiden folgenden Teile der Wunderzeichen-Chronik (Leipzig: Bärwald 1559; Jena: Richtzenhain/ Rebart 1562). Alle drei Bände umfassen jeweils die vier Jahrzehnte nach der Reformation bis in die unmittelbare Gegenwart. Dabei addieren die Teilbände II und III das neue Material nicht zum bereits Gesammelten hinzu, sondern präsentieren jeweils eigenständige Chroniken. Will man sich also über alle Wunderzeichen zu einem Jahr informieren, muss man jeweils in allen drei Bänden nachschlagen. Fincels Chronik ist durch eine Vielzahl von Paratexten programmatisch gerahmt: Band I wird durch mehrere Bibelzitate und insgesamt drei umfangreiche Vorreden eröffnet; 37 Inhaltsverzeichnis, Register oder Quellennachweise sind hingegen in keinem der Bände vorhanden. Schon das Zitat aus der Johannesoffenbarung (Apc 14) auf dem Titelblatt von Band I stellt die Chronik in einen apokalyptischen Denkhorizont: Fuerchtet Gott / und gebet im die Ehre / denn die zeit seines Gerichts ist komen / vnd betet an / den / der gemachet hat Himel und Erden / vnd Meer / vnd die Wasserbrunnen (Wz I, Titelblatt). Die weiteren Paratexte des Buchs verstärken diesen Hinweis: Der Band eröffnet mit einer Weissagung aus dem alttestamentarischen Propheten Joel ( Joel 3,2-4), in dem der Schöpfergott des vorausgehenden Zitats aus der Apokalypse als endzeitlicher Weltenrichter skizziert wird, der das jüngste Gericht durch natürliche Schreckzeichen ankündigt. Vor allem aber weist das Zitat den Titelbegriff der Sammlung als biblisch verbürgten Begriff aus ( Joel 3,3): Auch wil ich zur selbigen zeit beyde uber knecht vnd megde / meinen Geist ausgiessen vnd wil wunderzeichen geben in Himel vnd auff Erden / Nemlich blut, / fewer vnd rauchdampff / die Sonne 487 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 38 Maria von Sachsen (1515-1583) ist in etwa gleich alt mit Fincel und Tochter des Kurfürsten Johann des Beständigen. Seit 1536 ist sie mit Philipp I. von Pommern verheiratet, ab 1560 verwitwet. 1556, zur Zeit der Publikation des ersten Bandes der Wunderzeichen, residiert sie auf Schloss Wolgast. Ihre Hochzeit mit Philipp sorgte für den Anschluss Pommerns an die reformierten Landstände, vgl. Hans-Günther Leder, „Pommern“, in: TRE, Bd. 27, 1997, S. 39-54, hier S. 44. 39 Es wird aber / dieweil wir solche Wunderzeichen / noch zur zeit nicht verstehen / die kuenfftige zeit die auslegung vber dis buch machen (Wz I, A3v). 40 Vgl. ausführlich zur Wunderzeichenkonzeption bei Luther und Fincel Schilling (wie Anm. 12), S. 363-371; ergänzend Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 43f. sol in Finsterniss vnd der Mond in blut verwandelt werden / ehe denn der grosse vnd schreckliche tag des HErrn kompet. (Wz I, A1v) Auf die insgesamt drei Vorreden folgt abschließend die Wiedergabe von Psalm 29, der laut Überschrift von den Wunderzeichen und wercken Gottes spricht (Wz I, D5r-D6r). Die Fundierung des Wunderzeichen-Begriffs in der biblischen Überlieferung wird damit explizit herausgestellt. Die Bibelzitate rahmen insgesamt drei Vorreden: eine Widmungsvorrede an Maria von Sachsen (Wz I, A2r-A4r), eine umfangreiche Vorrede auff die Wunderzeichen (Wz I, A4v-D1r) sowie eine Vorrede an den Christlichen Leser (Wz I, D1v-D4v). In diesen Texten erläutert und begründet Fincel sein Projekt ausführlich. Auch wenn sich die Vorreden hinsichtlich der zentralen Argumente gleichen, lassen sich drei unterschiedliche rhetorische Zugriffe auf die Gegenstände der Sammlung ausmachen. Die Widmung an Maria von Sachsen, Tochter von Johann Friedrich I. und zugleich Herzogin von Pommern, erbittet die Aufnahme des Buchs am kurfürstlichen Hof 38 und betont damit die Selbstzuordnung von Autor und Werk zur protestantischen Landesherr‐ schaft. Maria wird nicht allein als treue Anhängerin der neuen Lehre sondern auch für ihr Kunstverständnis gepriesen: dieweil ich fuerwar weis / das E.F.G. Gottes allein selig machendes wort / vnd wunder / hoch halten / auch sonsten gute kuenste lieb haben / vnd die selben gnediglich foerdern (Wz I, A4r). Wunderzeichen werden hier, wie auch in den folgenden Vorreden, als allgemeine Busprediger (Wz I, A2v) aufgefasst. Mit dem Hinweis, die genaue, konkrete Deutung der Zeichen werde die künftige Zeit bringen, 39 ordnet sich Fincel einer Auffassung von Wunderzeichen zu, wie sie auch Luther, z. B. in der Auslegung des Freiberger Mönchskalbs, vertritt. 40 In der umfangreichsten zweiten Vorrede auff die Wunderzeichen entfaltet Fincel seine Konzeption von Wunderzeichen als biblisch und historisch fundierten göttlichen Mahn‐ zeichen, die Strafhandlungen Gottes ankündigen. Seine Belege sind hierfür zum einen die alttestamentarische Erzählung von der Zerstörung von Sodom und Gomorrha, zum anderen die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im jüdischen Krieg, die Fincel als göttliche Strafe für die Verkennung des Messias ansieht. In beiden Fällen habe sich die göttliche Strafe durch Wunderzeichen und Propheten angekündigt, in beiden Fällen seien diese nicht wahrgenommen und beherzigt worden. Die historische Situation der Tempelzerstörung ist ihm wiederum Analogon für die eigene Gegenwart: So wie Jerusalem werde es auch Deutschland ergehen: Die Menschen wähnten sich fälschlich in Sicherheit und ignorierten die Mahnzeichen. Die Unbußfertigen sind für Fincel dabei keineswegs nur der gottlose hauff der Papisten / sondern auch die jenigen so Gottes wort rein vnd lauter haben / sich desselben rhuemen vnd gute Christen sein wollen (Wz I, B1v). Das Sodom der Gegenwart ist 488 Caroline Emmelius 41 Zeitgeschichtliche Rahmungen für die Annahme, dass das jüngste Gericht vor der Tür stehe, sind in den politischen Niederlagen der Protestanten in den 1540er und 1550er Jahren (Schmalkaldischer Krieg, Augsburger Interim) zu sehen, sowie in der Erfahrung des Todes von Leitfiguren der Reformation, wie dem Luthers oder dem von Fincels Landesherrn Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen (gest. 1554), vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 29-31; Leppin (wie Anm. 31), S. 14 und 19-21; Kaufmann (wie Anm. 31), S. 21-25, 29-66. 42 Vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 33-35. 43 Vgl. Wz II, A4v-C4v; zum Wunderzeichenkonzept dieser Vorrede vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 34; sowie demnächst Caroline Emmelius, „Die Ordnung der Zeichen. Wunderzeichenbücher des 16. Jahrhunderts“, in: Wunderkammern. Materialität, Narrativik und Institutionalisierung von Wissen, hg. von Jutta Eming und Marina Münkler, erscheint vorauss. Berlin 2022. entsprechend ein zweifaches: Es besteht in der sündhaften Lebensführung der Menschen und in den Praktiken der Papstkirche, aus deren Irrungen erst der heilige Man Doctor Luther die Menschen geführt habe (Wz I, B6v). Fincel argumentiert wiederholt, Bibel und Historie belegten, dass Wunderzeichen und Propheten göttliche Strafen notwendig folgen lassen, sofern die Menschen nicht ihre Sünden bereuen und Buße tun. Das gehäufte Auftreten von Wunderzeichen in der Gegenwart versteht er entsprechend als bedrohliches Alarmsignal: So drauwen vns die vielfeltigen Wunderzeichen allerley Jamer vnd elend / der denn in wenig jaren vber die mas viel geschehen / das man jr schier nicht mehr acht / vnd so man alle historien durch lieset / wird man nirgents finden / das jemals so viel Wunderzeichen auff einander gangen weren / als jtziger zeit / das auch kaum eins dem andern raum lesset / ehe eins vergehet kompt ein anders / das one zweiffel Gott etwas grosses im sinne hat. (Wz I, B8r) Hier lässt sich bereits ein mediengeschichtlicher Effekt der Prodigienwahrnehmung aus‐ machen: Das Wahrnehmen, Sammeln und Verzeichnen der Wunderzeichen erzeugt schon rein quantitativ eine Form der Intensivierung, die das apokalyptische Denken nicht nur bestätigt, sondern befeuert. Sodom ist in dieser Lesart nicht nur ein historisches Analogon für die Gegenwart (vgl. B4v: Denn das Sodom ist heuttigs tages ja so greulich vnd schendlich / als jenes / das 2047 jar nach erschaffung der welt versuncken ist), sondern Messlatte einer apokalyptischen Aemulatio: So gleub ich das jtziger zeit die suenden grosser vnd viel grewlicher sind / denn sie je zu Sodom gewest / Denn als denn heissen die sunden recht Sodomitische sunden / wenn sie gar in die gewonheit komen vnd one schew geschehen. (Wz I, C5r) Die Überbietungslogik gegenüber der biblischen Historie gilt auch für die Art der göttlichen Strafe: Waren die Sintflut, die Zerstörung Sodoms und Jerusalems und selbst noch die Eroberung Konstantinopels jeweils zeitliche Strafen, die die Menschheit überleben konnte, droht nun der jüngste Tag, das letzte und endgültige Gericht: Denn die ax [sic] ist an baum gelegt / vnd lest sich ansehen / als wollte Gott nicht mit einer veterlichen Ruten / wie bisher geschehen / sondern mit eim henckers schwerd Deudschland daheim suchen (Wz I, D1r). 41 In dieser eschatologischen Ausrichtung ordnet Fincel anders als etwa Sebastian Brant himmlische und irdische Wunderzeichen fast ausschließlich der christlich-jüdischen Tra‐ dition zu. 42 Die antik-pagane Tradition der Prodigiendeutung blendet er im ersten Band seiner Chronik hingegen ganz aus, trägt sie allerdings unter dem Eindruck konkurrierender Prodigiensammlungen in der aktualisierten Vorrede zum zweiten Band nach. 43 489 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 44 Die Wunderzeichenberichte werden in aller Regel aus der Perspektive eines extradiegetisch-hetero‐ diegetischen Chronisten wiedergegeben. Dass wie im Fall des autonarrativen Visionsberichts des Schmalkaldener Ratsherren Sigmund Gadaner die erste Person erhalten bleibt (vgl. Wz I, E4v-E8r), ist die Ausnahme. Hier wird das Zeugnis als authentischer Bericht eingeführt (vgl. ebd., E4v). Die dritte Vorrede an den Christlichen Leser stellt eine Reihe möglicher Einwände gegen die Signifikanz von Wunderzeichen in den Mittelpunkt, zeichnet sich aber vor allem durch eine Veränderung im Stil aus: An die Stelle der geschichtstheologischen Argumentation treten hier Entgegnungen, die den Anschein persönlicher Kommunikation, einer Rhetorik der Nähe, erzeugen. Fincel erzielt diesen Eindruck durch direkte Ansprachen der Rezipienten und rhetorische Fragen. Auf den Einwand, natürliche Zeichen gebe es allenthalben, nicht notwendig müsse darauf Unglück folgen (Wz I, D2r), antwortet er seinem christlichen Leser: Lieber sag mir / warumb lesset sonst Gott so viel Wunderzeichen geschehen / so sie nicht kuenfftig vnglueck bedeuten? Meinstu Gott spiel damit am himel / vnd wolle dir mit seltzamen Figuren die zeit vortreiben / wie man sonst lust halben gemelde ansicht / Nein / Gott thuts / dein steinern hertz damit zu erweichen / Denn dieweil du weder drawung noch Exempel achtest / stelt er dir schreckliche gesicht fur die augen / ob du dich ein mal wolltest bewegen lassen. (Wz I, D2v-D3r) Die Rhetorik des Schreckens, die das steinerne Herz der Verstockten erweichen soll, stellt sich wiederum nur ein, wenn die Wunderzeichen als authentisch wahrgenommen werden. Daher betont Fincel, die versammelten Zeichen nach bestem Gewissen recherchiert zu haben. Niemand möge auf den Gedanken fallen, sie seien hin vnd wider zusammen bracht / muegen sobald erticht / als war sein (Wz I, D3v), vielmehr: Sol ein jeder wissen / das ich viel gemelte Prodigia nicht leichtfertig / one bedacht zusamen ge‐ rafft / sondern sie von frommen / glaubwirdigen Leuten bekomen / deren schrifften ich bey mir habe / die auch zum teil sie selbst gesehen haben eins teils habe ich sie ausgedruckten Exemplarn entlenet / das sich in dem stueck niemands zubefaren hat. (Wz I, D4r) Der Charakter der Chronik als einer sorgfältig angelegten, auf Auswahl basierenden Textsammlung wird hier expliziert. Dabei sind Wunderzeichen zwar ein sinnlich wahr‐ nehmbares Phänomen, sie liegen der Sammlung aber immer schon als Text - sei es als mündlicher oder schriftlicher Bericht - voraus. Als solcher gehen sie ins das Buchmedium der Chronik nicht one bedacht (ebd.) ein. Insofern erhalten sie in der Sammlung nicht nur einen spezifischen Kon-Text, sondern auch eine spezifische textuelle Gestalt. 44 IV Fincels Wunderzeichen als Textsammlung: Anordnen, Kommentieren, Erzählen Die eigentliche Chronik setzt unter der Überschrift Warhafftige beschreibung vnd kurtz verzeichnus schrecklicher Wunderzeichen vnd geschichten / die von der zeit an / da Gottes wort in Deudschland angangen / am Himel Erden vnd andern Creaturen geschehen sind. Nach der Jarzal (Wz I, D6v) mit dem Jahr 1517 ein. Zentriert gesetzte Jahresangaben in 490 Caroline Emmelius 45 Vgl. Wz I, D6v: Das M.D. XVII Jar., D7r: Das M. D. XIX Jar., D7v: Das M. D. XX. Jar. 46 Zentriert gesetzt ist auch die Überschrift Res gesta, mit der weitere Ereignisse zu einem Jahr nachgetragen werden (vgl. z. B. Wz I, G5v). 47 Wz I, D6v: IM jar 1517. Da erstlich D. Luthers Schlusrede wider das Ablas ausgangen sind. 48 Wz I, C2v-C3r: so sind in wenig jaren fast die besten gelertsten Leute vnd trewe prediger goettlichs Worts verschieden die Gott fur dem kuenfftigen vbel zu sich nimpt / vnd von der argen Welt aufrafft / als den heiligen Man doctor Luther / des tod one zweiffel Deudschland allerley jammer drewet / vnd nu die zwey erleuchten heubter Deudschlandes / den gottseligen hochloeblichen Churfuersten zu Sachsen vnd sein gemalh / Fraw Sibillen / Gott auch zu sich in die ewige ruhe genommen hat / damit er auch was schrecklichs drawet. Zur Wahrnehmung des Todesjahr Luthers als Zeitmarke Kaufmann (wie Anm. 31), S. 430-435. größerer Schrifttype 45 sind dabei das zentrale visuelle Mittel zur Orientierung innerhalb der Chronik. 46 Der erste Wunderzeichenbericht verknüpft den Beginn der Chronik geschickt mit dem Programm der Vorreden. Zum einen hebt er mit dem Verweis auf Luthers Rede gegen den Ablass den Beginn der reformatorischen Zeitrechnung der Chronik heraus. 47 Das erste Zeichen selbst, ein blutrotes Kreuzzeichen am Himmel über Weimar in der Christnacht, versieht den Beginn der Reformation zugleich im Sinne der Vorreden mit einer apokalyptischen Vision, wenn es intradiegetisch von den wahrnehmenden Figuren, den beiden sächsischen Fürstenbrüdern Friedrich dem Weisen und Johann dem Beständigen, als Zeichen für die Religionsspaltung gedeutet wird: Die beiden Brüder hätten dafuer ge‐ halten / das durch solch erschrecklich zeichen die Zwispalt der Religion / vnnd die fuerstehende gefar des Hauses zu Sachsen bedeutten wuerden. (Wz I, D7r). Die Nennung der Kurfürsten, sowie des Sohns von Johann, Johann Friedrich, verbindet die Chronik mit der Widmung an die kurfürstliche Familie und ruft in Erinnerung, dass mit der prophezeiten gefar des Hauses zu Sachssen auch auf das Ableben der Stammhalter angespielt wird. Todesfälle hochrangiger Persönlichkeiten gelten wiederum schon der Vorrede auf die Wunderzeichen als apokalyptisches Mahnzeichen. 48 Die chronikalische Ordnung der Sammlung bedingt ein hohes Maß an Varianz der versammelten Zeichen, bei der die kontingente Reihung des Ungleichartigen Prinzip ist. Für die Jahre 1519-1523 finden sich zum Beispiel folgende Einträge: 1519 Geburt eines Hermaphroditen in Zürich; 1520 An einem Mittag im September ertönt in Weissenburg am Rhein ein großer Lärm in der Luft. In Erfurt werden drei Sonnen am Himmel beobachtet. In Wien wird über dem Stephansdom eine Himmelserscheinung aus Mond, Sonne, Regenbogen und einem Balken gesehen. 1521 In Mailand explodiert ein Pulverturm. Etliche Menschen sterben. 1522 In Thüringen gibt es eine Mäuseplage. 1523 In Neapel ereignet sich ein Unwetter mit Sturzregen. Heterogen sind nicht nur die Zeichentypen, sondern auch ihre geographische Situierung. Die Aufmerksamkeit Fincels gilt besonders Ereignissen aus seiner mitteldeutsch-thürin‐ gischen Heimatregion, daneben aber auch Berichten aus dem gesamten deutschen und 491 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 49 Vgl. Schilling, „Job Fincel und die Zeichen der Endzeit“ (wie Anm. 12), S. 335; Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 25f. und 27 zum „helvetischen Einschlag“ in den Wunderzeichen-Teilen II und III, die sich mit der Exzerpierung von Lycosthenes Prodigiorum Chronicon begründen lassen. 50 Berns (wie Anm. 15), S. 145f., Zitat S. 146. 51 Wunderzeichen mit Figuren. Warhafftige beschreibung und gruendliche verzeichnus / schrecklicher Wunderzeychen vnd Geschichten / die von dem Jar an 1517. bis auff jtziges Jar 1556. geschehen vnd ergangen sind / nach der jar=zal. Auffs new vbersehen vnd gebessert. Durch Jobum Fincelium (Leipzig: Jakob Bärwald 1557; VD 16 F 1105). Eingesehen wurde das Exemplar Halle, Universitäts- und Lan‐ desbibl. Sachsen-Anhalt, Pon Vc 1036 b (3) (digitale.bibliothek.uni-halle.de/ vd16/ content/ pageview/ 7711056). In Ergänzung der medienhistorischen Überlegungen von Berns (wie Anm. 15), S. 126-128, ließe sich jedoch auch argumentieren, dass die Bildausstattung des Bandes die ‚Finalakzeleration‘ der Chronik nicht steigert, sondern hemmt oder entschleunigt. In jedem Fall bietet sie der Imagination des Schreckens ein alternatives Medium. 52 Vgl. zu dem Effekt, dass sich durch das Fortschreiten der Zeit „Menetekel[.] des unmittelbaren Untergangs“ zu „bedauerlichen historischen Ereignissen wandeln“ Bruno Bleckmann, „Apokalypse und kosmische Katastrophen: Das Bild der theodosianischen Dynastie beim Kirchenhistoriker Philostorg“, in: Endzeiten - Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, hg. von Wolfram Brandes und Felicitas Schmieder, Berlin/ New York 2008 (Millennium-Studien Band 16), S. 13-40, hier S. 40. 53 Dazu zählen Todesfälle hochrangiger Personen sowie Kriegshandlungen und Schlachten, vgl. z. B. die Deutung zur Vision des ungarischen Bauern auf den Tod König Ludwigs II. von Böhmen und Ungarn (Wz I, E2r); sowie die Deutung zu einer Ansammlung von Störchen auf kriegerische Unruhen in Thüringen (ebd.); ferner auch die Verdichtung von Wunderzeichen und Kommentaren um große Zeitereignisse wie die Schlacht von Mühlberg (1547) oder von Sievershausen (1553), vgl. Wz I, O5r-P7r; Z5r-a3r. europäischen Raum, wobei je nach den verwendeten Vorlagen spezifisch regionale Ten‐ denzen sichtbar werden können. 49 Die vom Chronisten Fincel behauptete Wahrnehmung verkürzter Abstände zwischen einzelnen Zeichen und einer grundsätzlichen Häufung in der jüngsten Vergangenheit (vgl. z. B. Wz I, B8rf.) erzeugen, verstärkt durch das annalistische Stakkato der berich‐ teten schrecklichen Vorgänge, die „Finalakzeleration des Zeitenlaufs“: 50 Der Leser gerät gleichsam in einen Sog des Schreckens, der unausweichlich auf das jüngste Gericht zuzu‐ führen scheint. Intensiviert wird die Erzeugung apokalyptischen Schreckens in der zweiten Auflage des ersten Wunderzeichenbandes durch die Ausstattung mit Holzschnitten, die sowohl die willkürliche Varianz der Wunderzeichen betonen als auch die Imagination der Zeichen anleiten. 51 Dem endzeitlichen Sog der Schreckzeichen wird man freilich mit jedem weiteren Teil der Chronik aufs Neue ausgesetzt, wobei die chronistische Verzeichnung jeweils bis an die unmittelbare Gegenwart des Druckjahrs herangeführt wird. Das hat zugleich den Effekt, dass das prognostizierte Ende mit jedem Teilband der Wunderzeichen immer wieder aufgeschoben werden muss. 52 In der Konzeption der Chronik gibt es zugleich aber auch Gegenbewegungen zu dieser Beschleunigungsfigur. Dazu zählen zum einen deutende Kommentare des Chronisten, die die annalistische Verzeichnung unterbrechen. Solche Deutungen bietet Fincel dann, wenn sich das Wunderzeichen mit einem konkreten, z. B. politischen Ereignis verbinden lässt. 53 Auf die gesamte Chronik gesehen, sind spezifische Deutungen von Wunderzeichen jedoch in der Minderzahl. In den meisten Fällen werden die Zeichen lediglich knapp beschrieben. Gerade in der unkommentierten Häufung liegt ihre Signifikanz als Zeichen der Endzeit und 492 Caroline Emmelius 54 Die Tendenz, auf konkrete politische Deutungen von Wunderzeichen zugunsten einer allgemeinen endzeitlichen Vorzeichensymbolik zu verzichten, zeigt sich auch in den Einblattdrucken der Jahr‐ hundertmitte, vgl. am Fallbeispiel der Monstrablätter Ewinkel (wie Anm. 31), S. 15-58, bes. S. 57f. 55 Der Bericht findet sich zum Jahr 1536, wird aber auf 1535 datiert (Wz I, H5v). Vorboten göttlicher Strafe, wie sie in den Vorreden hinlänglich entfaltet ist. 54 Das bestätigt etwa ein Kommentar im zweiten Teil der Chronik, wo es zu einer Himmelserscheinung in Böhmen aus dem Jahr 1540, bei der Feuer vom Himmel gefallen und eine Geißel mit drei Riemen zu sehen gewesen sei, heißt: Was durch dergleichen fewrige Wunderzeichen bedeutet werde / habe ich in meim ersten Buch von den Wunderzeichen durch Exempel und Historien gnugsam angezeiget / Fuernemlich / den grossen zorn Gottes / vber die verachtung seines worts / vnd grosse vndanckbarkeit / Die er hie zeitlich straffen wird / durch Krieg / Pestilentz vnd tewre zeit / wie denn solche drey straffen durch die drey Riemen bedeutet werden / darnach wird durchs fewr das Juengste Gericht bedeutet / welches / wie S. Petrus meldet / im fewer geschehen wird / vnd nu mehr fuer der Thuer ist. (Wz II, G4r-v) Um solche Deutungen, Kommentare und Rückverweise deutlicher von den verzeichneten Berichten zu trennen, führt Fincel im zweiten Teil der Chronik ein Verfahren zur optischen Auszeichnung ein. Ein am Rand gesetzter Asterisk markiert, wo sich der Chronist reflek‐ tierend zu Wort meldet. Die auf diese Weise leicht auffindbaren Kommentare stellen so ein System von Querverweisen dar, mit deren Hilfe die Rezipienten durch die Teilbände der Chronik navigieren können. Entschleunigende Effekte stellen sich bei der Lektüre der Chronik aber ganz besonders dort ein, wo sich das Verzeichnis der Schreckzeichen dem Erzählen von Geschichten öffnet. Das ist dann der Fall, wenn sich ein Wunderzeichen nicht wie eine Kometenerscheinung oder eine Wundergeburt nennen oder allenfalls kurz beschreiben lässt, sondern ein kom‐ plexeres Handlungsgeschehen impliziert. Beispiele hierfür sind die Explosion eines Pulver‐ turms in Mailand 1521 (Wz I, D8r-E1r), die Vision des Schmalkaldener Ratsherrn Gadaner 1526 (Wz I, E4v-E8r) oder der ausführliche Bericht über ein Unwetter in der schlesischen Stadt Oels (1535), 55 der in zwanzig Artikeln detailliert die Schäden durch eine Windhose aufführt und die Betroffenen nennt (Wz I, H5r-K3v). Solche umfänglichen Berichte werden typographisch durch zentrierte Überschriften von den umgebenden Einträgen abgehoben, und sind damit leichter auffindbar. Der Chronist zeigt hier auch seine erzählerischen Qualitäten. So kontrastiert der Bericht über das Unwetter in Oels die Wahrnehmung aus christlicher und jüdischer Perspektive (Wz I, J6v-J8r): Der Sturm zerstört eine jüdische Druckerei, in der ein kommentierter Bibeldruck in jiddischer Sprache vorbereitet wird, und verteilt die Druckbögen mit den hebräischen Schriftzeichen bis auf die umliegenden Felder und in die Häuser der Christen hinein, was für die Christen den apokalyptischen Charakter des Sturms intensiviert: AUch sind die bogen oder Carten den Leuten in die heuser zun fenstern vnd innerlichen gebeuden hienein so seltzam geflogen komen / das man gnugsam dauon nicht reden kan (Wz I, J7v). Von der jüdischen Gemeinde wird im Gegenzug berichtet, dass sie den aufziehenden Sturm zunächst als Ankunft des Messias deutet und die Türen der Synagoge weit öffnet, angesichts der ausfallenden Heftigkeit des Sturms allerdings von dieser Annahme Abstand nimmt: Wenn ir Messias nicht anders den also komen wolte / solt er nur aussenbleiben / sie wolten seiner vff solche weise nicht erwarten (Wz 493 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 56 Vgl. Schenda, „Die deutschen Prodigiensammlungen“ (wie Anm. 15), S. 652f. Dieser Befund ist sicher ein Grund für die rege Rezeption der Wunderzeichen-Chronik, hierzu Schilling, „Job Fincel und die Zeichen der Endzeit“ (wie Anm. 12), S. 379-388. 57 Vgl. Aewerdiecks Vorbemerkungen zur Einrichtung der inhaltlichen Kurzbeschreibungen (wie Anm. 12), S. 128, der diese Historien nicht zu den ‚Stammprodigien‘ zählt und sie entsprechend als Zusätze markiert. 58 Vgl. Wz I, G4v-G5r; zur Rezeption der Geschichte: Rainer Alsheimer, „Katalog protestantischer Teufelserzählungen des 16. Jahrhunderts“, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974, S. 417-519, hier Nr. 51; sowie Lydia Merten, „Ein diabolisches Gemunkel. Die Darstellung des Teufels in den Schilderungen zu Schiltach“, in: Turpiloquium. Kommunikation mit Teufeln und Dämonen in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jörn Bockmann und Julia Gold, Würzburg 2017 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie 41), S. 211-229. 59 Die Geschichte vom Hamelner Kinderauszug wird nachweislich erst seit 1566 mit der Erzählung vom geprellten Rattenfänger kombiniert, vgl. Hans-Jörg Uther, „Rattenfänger von Hameln“, in: EM, Bd. 11, Berlin/ New York 2004, Sp. 300-307, bes. Sp. 301f. 60 Fincel erklärt die historia zu einem schrecklich Exempel Göttlichs zorns (Wz I, G5v). Zum Pfeifen des Teufels Merten (wie Anm. 58), S. 218-225. 61 Vgl. zum concatenatio-Prinzip in lyrischen Sammelhandschriften Franz-Josef Holznagel, Wege in die Schriftlichkeit. Untersuchungen und Materialien zur Überlieferung der mhd. Lyrik, Tübingen/ Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 32), S. 650 (Reg.); zu Mären-Sammelhandschriften Kipf, „Von der Sammelhandschrift zum gedruckten Schwankbuch“ (wie Anm. 10), S. 306-324; Fallbeispiele auch bei Sarah Westphal, Textual Poetics of German Manuscripts 1300-1500, Columbia 1993 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). Zu den Schwanksammlungen des 16. Jahrhunderts vgl. die in Anm. 8 genannten Arbeiten von Waltenberger; sowie Alexander Lasch, „Überlegungen zur ‚Logik‘ der Sammlung und zur Relationierung von Einzeltexten in Jakob Freys Gartengesellschaft (1557)“, in: Erzählen und Episteme (wie Anm. 8), S. 267-285. Welche durchaus unterschiedlichen Verfahren von kotextueller Verknüpfung unter dem bislang nur sehr pauschal verwendeten Oberbegriff gebündelt werden, wäre allerdings, insbesondere für handschriftliche und gedruckte Medien, genauer zu differenzieren. I, J8r). Christliche Erwartung des Strafgerichts und jüdische Erlösungshoffnung werden hier effektvoll kontrastiert, freilich mit der erwartbaren schwanktypischen Wendung, die die christliche Sicht als überlegen ausweist. Fincel agiert hier nicht allein als Chronist der Zeitgeschichte, sondern zugleich auch als geschickter Erzähler. 56 Das zeigt sich auch dort, wo er aktuelle Wunderzeichen um vergleichbare oder sogar analoge Vorgänge aus der Geschichte ergänzt. Die entsprechenden Weiterungen werden in der Regel explizit eingeführt und von der zweiten Auflage des ersten Teils an mit Asterisk gekennzeichnet. 57 Der zeitgenössische Bericht über den Teufel von Schiltach, der mit Hilfe einer Magd das schwäbische Städtchen im Jahr 1533 in Brand gesetzt haben soll, 58 ist dem Chronisten Anlass für die Mitteilung der Geschichte vom Hamelner Kinderauszug, die er der dortigen Stadtchronik entnimmt: VOn des Teufels gewalt vnnd bosheit / wil ich hie ein warhafftige Historiam melden. Vngefehrlich vor 180. jaren hat sichs begeben zu Hammel in Sachssen an der Weser (Wz I, G5r). 59 Die Verknüpfung des zeitgenössischen Prodigiums mit der älteren historia ist hier über die Hauptfiguren motiviert, denn beide Teufel sollen durch lautes Pfeifen auf sich aufmerksam gemacht haben. 60 Solche kotextuellen Verknüpfungen, in der Forschung concatenatio-Prinzip genannt, sind ein übliches Mittel der Kohärenzstiftung in Sammlungen. 61 Sie ermöglichen Fincel die Einbindung zusätzlichen narrativen Materials und die Anbindung seiner zeitgenössischen Chronik an die historiographische Tradition. 494 Caroline Emmelius 62 Vgl. Alsheimer (wie Anm. 58), Nr. 57. 63 Alsheimer (wie Anm. 58), Nr. 58. 64 Vgl. André Schnyder, „Teufelspakt“, in: EM, Bd. 13, Berlin/ New York 2010, Sp. 447-455. 65 Vgl. Michael Belgrader, „Fluch, Fluchen, Flucher“, in: EM, Bd. 4, Berlin/ New York 1984, Sp. 1315-1328, bes. Sp. 1320-1323. 66 Entsprechend lassen sich hier keine flugpublizistischen Quellen nachweisen, vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 165; zum literarischen Typus dieses Legendenmärchens Siefried Neumann, „Teufel als Advokat“, in: EM, Bd. 13 Berlin/ New York 2010, Sp. 413-416. 67 Entsprechende narrative Cluster finden sich auch z. B. in der Prodigiensammlung Caspar Goltwurms und in Hondorffs Promptuarium, vgl. hierzu im Katalog von Alsheimer (wie Anm. 58) die Nummern 247-248, 290-297. Zu Teufelserzählungen in frühneuzeitlichen Erzählsammlungen auch Marco Frenschkowski und Daniel Drascek, „Teufel“, in: EM, Bd. 13, Berlin/ New York 2010, Sp. 383-413, bes. 394-403. Die Einspielung thematisch verwandter Narrative zeigt sich in ähnlicher Weise bei den Einträgen zum Jahr 1551: Verzeichnet ist hier der Bericht über eine Mecklenburgerin, die an Pfingsten mit anderen Leuten beim Bier sitzt, kräftig flucht und den Teufel mehrfach nennt. Sie wird daraufhin in die Luft entführt und stürzt etwas entfernt wiederum vor den Augen der Leute tot zu Boden (Wz I, T3v-T4r). 62 Ergänzt wird diese Episode bestraften Fluchens durch folgende warhafftige Historiam, die sich in der Mark zugetragen haben soll (Wz I, T4r): Ein Landsknecht wird auf der Durchreise krank und gibt der Wirtin sein Geld zur Verwahrung. Als er es wieder gesundet zurückfordert, verweigern es ihm die Wirtsleute. Es kommt zum Streit und zur Rangelei, der Landsknecht beschädigt die Tür und wird schließlich von der Obrigkeit festgesetzt. Ein Gericht verurteilt ihn zum Tode. Der Teufel tritt auf, bietet sich dem Landsknecht als Advokat an, und rollt den Fall neu auf. Er entlarvt den Betrug der Wirtsleute und entführt den Wirt, der sich ihm mit dem Satz: Wenn ichs [das Geld, C.E.] habe / so fuere mich der Teufel weg übereignet (Wz I, T6v). 63 Trotz der regionalen Verortung in der Mark wird hier eine vor allem literarische Teufelserzählung erzeugt, in der mehrere populäre Erzähltypen vom erschwindelten Kredit (AaTh 1617), vom Teufelspakt, 64 vom Teufel als Advokat (AaTh 821A) und vom Teufel, der den Flucher holt, 65 verbunden sind. 66 Der kotextuelle Bezug zur Vorgängerepisode aus Mecklenburg ist vor allem über das Schlussmotiv vom bestraften Flucher hergestellt. 67 Solche narrativen Erweiterungen der Chronik, die sich kotextuellen Bezugnahmen verdanken und damit das chronologische Modell der Sammlung punktuell unterbrechen, können sich zu kleinen thematischen Exkursen formieren: Der 1559 bei Jakob Bärwald in Leipzig gedruckte zweite Teil der Wunderzeichenchronik verzeichnet zum Jahr 1541 eine Begebenheit über eine adlige Dame aus Franken, die den Armen milte verwehrt und dafür mit Status- und Selbstverlust bestraft wird (Wz II, H2v-H3v). Daran schließt die Dis‐ kursinstanz zunächst eine ausführliche Betrachtung zum Thema Wucher und Geiz in den gegenwärtigen letzten Zeiten an und diskutiert den Ausspruch eines Zeitgenossen, den der Chronist selbst gehört habe (ebd., H4v). Nach dem bereits vorgestellten Verfahren schließt sich eine durch Asterisk und Glosse markierte Histori von einem Gottlosen Reichen an, die sich fuer Menschen Gedencken in Halberstadt zugetragen haben soll (Wz I, H5r). Darauf folgen zwei weitere Historien über Reiche und Geizige, die durch zentrierte Titel (Ein ander Histori vom Wucher, Wz I, H6r und H7r) als Zusätze ausgewiesen sind und beide undatiert 495 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 68 Zu diesen Historien sind entsprechend keine Parallelen aus der Flugpublizistik oder Chronistik nachgewiesen, vgl. Aewerdieck (wie Anm. 12), S. 196. 69 Vgl. Berns (wie Anm. 15), S. 141. 70 Caspar Goltwurm, Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fuernemste Goettliche / Geist‐ liche / Himlische / Elementische / Irdische vnd Teuflische wunderwerck / so sich in solchem allem von anfang der Welt schoepfung biß auff vnser jetzige zeit / zugetragen vnd begeben haben / kuertzlich vnnd ordentlich verfasset sein / Der gestalt vor nie gedruckt worden (Frankfurt: David Zephelius 1557; VD 16 G 2602). 71 Vgl. zu Goltwurms Sammlung Bernward Deneke, „Kaspar Goltwurm. Ein lutherischer Kompilator zwischen Überlieferung und Glaube“, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tra‐ dierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974, S. 124-177; sowie die Beiträge des Bandes Kaspar Goldwurm Athesinus (1524-1559). Zur 450. Wiederkehr seines Todesjahres. Akten des 6. Symposiums der Sterzinger Osterspiele, Sterzing 6.-8. April 2009, im Auftrage des Vigil-Raber-Kuratoriums Sterzing, hg. von Max Siller, Inns‐ bruck 2011 (Schlern Schriften 354); Christine Thumm, Erzählen und Überzeugen. Rhetorischer Impetus bleiben. 68 Ein mahnender Kommentar über gottlosen Reichtum beschließt diesen Exkurs. Die Wunderzeichenchronik öffnet sich hier einem klassischen Lasterdiskurs und damit einem topischen Ordnungsverfahren, wie es für Exempelsammlungen kennzeichnend ist. V Fazit Fincels Wunderzeichen kompilieren Prodigienberichte aus der zeitgenössischen Flugpubli‐ zistik, der Historiographie und vermutlich auch persönlichen Korrespondenzen in eine Chronik der ersten vier postreformatorischen Jahrzehnte und weisen sie in den ausführli‐ chen Paratexten als Buchprojekt einer lutherischen Apokalyptik aus, die sich im Jahrzehnt nach Luthers Tod von den aktuellen Todesfällen protestantischer Landesherren und den politischen Niederlagen des reformierten Lagers bestätigt und verstärkt sieht. Zeitgenos‐ senschaft und Dichte der berichteten Vorfälle erzeugen dabei eine Intensität des Schreckens, die das nahe Ende als unausweichlich erscheinen lässt, auch wenn es mit jedem Teilband der Chronik weiter aufgeschoben werden muss. Zugleich schafft die Chronik aber auch Gegen‐ bewegungen zu dieser ‚Finalakzeleration‘, die als Entschleunigungsphasen wahrgenommen werden können: Die das Stakkato der chronistischen Ereignisliste unterbrechenden aus‐ führlichen historiographischen Berichte leisten dies ebenso wie historische Retrospektiven und thematische Serien, die innerhalb der zeitlichen Ordnung der Sammlung topische Cluster bilden. Das chronologische Verzeichnis zeitgenössischer Wunderzeichen öffnet sich so, wie es schon die Titelformulierung ankündigt, zur Sammlung von Geschichten. In Fincels Prodigienchronik deutet sich damit eine Interferenz von zeitlich-chronikalischem und topisch-systematischem Ordnungsmuster an, die auch andere Sammelprojekte der zweiten Jahrhunderthälfte kennzeichnen. 69 Ein Beispiel hierfür bietet das 1557 in Frankfurt bei David Zephelius gedruckte Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch Caspar Goltwurms. 70 Die Sammlung ist insofern ein Gegenstück zu Fincels Buch, als sie eine systematische Ordnung von Wunderzeichen nach Kategorien (himmlischen, elementischen, göttlichen, teuflischen etc.) bietet. Innerhalb der Zeichenkategorien ordnet Goltwurm sein Material wiederum chronologisch. Anders als Fincel begrenzt er sein Sammelprojekt nicht auf die jüngere Vergangenheit, sondern stellt Prodigien vom Anbeginn der Welt bis in die Gegenwart zusammen. 71 Die Verknüpfung von chronikalen und topischen Ordnungsmus‐ 496 Caroline Emmelius protestantischer Literatur bei Kaspar Goldtwurm (1524-1559) im Zeitalter der Konfessionalisierung, Wiesbaden 2020; vergleichend zu den Sammlungen von Fincel und Goltwurm demnächst Emmelius (wie Anm. 43). 72 Andreas Hondorff, Promptuarium Exemplorum.Historienn vnd Exempel buch […] (Leipzig: Jakob Bärwald 1568; VD 16 H 4729); verwendet wurde das Exemplar München, Bayer. Staatsbibl. 2 Mor. 82 (https: / / reader.digitale-sammlungen.de/ resolve/ display/ bsb10148052.html), Sigle: PE. Zu Hondorffs Sammlung: Ruth von Bernuth, „Hondorff, Andreas“, in: VL16, Bd. 3, Berlin/ Boston 2014, Sp. 397-401; sowie Heidemarie Schade, „Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum“, in: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus, hg. von Wolfgang Brückner, Berlin 1974, S. 647-703; Burkhard Wachinger, „Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. Der Große Seelentrost, das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff und die Locorum communium collectanea des Johannes Manlius“, in: Exempel und Exempelsammlungen, hg. von Walter Haug und dems., Berlin/ Boston 1991 (Fortuna Vitrea 2), S. 239-263. 73 Das zeigen nicht nur das Format, der lateinische Titel, sondern vor allem auch Paratexte und Einrichtung: Zusätzlich zu den Vorreden bietet das Buch ein Verzeichnis der [exzerpierten] Authoren (PE, 3v-4v) sowie einen Index locorum, der die Ordnungssystematik transparent macht (PE, 4v-7v). Die kompilierten Historien und Exempel sind sehr häufig mit genauen Quellennachweisen versehen. 74 Zur literarischen Tradition Wachinger (wie Anm. 72), zu Hondorff hier S. 245-251. 75 Zur systematischen und zeitlichen Ordnung des Promptuarium vgl. Schade (wie Anm. 72), S. 653-655, 661-663. 76 PE, 241r: Anno 1535. Hat im Wirttemberger Lande / ein Gastgebe / den Gesten von einem Schweins‐ heupte fuergesatzt / das zuuor ein toerichter hund gebissen hatte Bald sind die Geste rasende worden / vnd ineinander gefallen / vnd sich wie die toerichten Hunde todt zerrissen. 77 Vgl. Wz I, H4v. tern prägt auch die großen lutherischen Exempelsammlungen des 16. Jahrhunderts, die intertextuell eng mit den Prodigienchroniken verbunden sind. Ein prominentes Beispiel ist etwa Andreas Hondorffs Promptuarium Exemplorum, eine Exempelsammlung, die erstmals 1568 in Leipzig bei Jakob Bärwald gedruckt wird. 72 Das folioformatige Buch präsentiert sich - anders als Fincels Wunderzeichen - von vornherein als gelehrte Sammlung. 73 Hondorff, lutherischer Prediger im sächsischen Droyßig, ordnet die Exempel für den Predigtgebrauch nach dem Dekalog an. 74 Unterhalb dieser Makroordnung operiert er mit topischen loci communes, zu denen er das Material wiederum lose zeitlich ordnet. Auf Historien und Exempel aus biblischen, antiken und mittelalterlichen Prätexten folgen Einträge aus der jüngeren Vergangenheit, für die insbesondere die Prodigienliteratur exzerpiert wird. 75 Zum fünften Gebot bilden Grewliche Exempel etlicher Moerder vnd schreckliche Geschicht, so da sich zu vnsern zeiten zugetragen (PE, Index, 6v) einen eigenständigen locus, der datierte und undatierte Einträge in etwa zu den 1530er-1550er Jahren in asynchroner Folge aufweist (PE, 237v-242r). Zum Jahr 1535 verzeichnet Hondorff den laut Quellennachweis bei Fincel ent‐ nommen Fall eines Wirts, der seinen Gästen Fleisch eines mit Tollwut infizierten Schweins vorsetzt, worauf die Gäste sich infizieren und gegenseitig umbringen. 76 Der Wortlaut ist gegenüber dem Eintrag in Fincels Chronik nahezu unverändert, 77 signifikant ist aber die Verschiebung aus dem chronikalischen in den systematisch-topischen Sammlungskontext: Während die grausige Begebenheit in Fincels Chronik als ein die Endzeit ankündigendes Zornzeichen Gottes gewertet wird, steht sie bei Hondorff als Exempel für die Geltung des fünften Gebots. Der Zeitindex des Prodigiums wird dabei der systematischen Ordnung der 497 Lutherischer Prodigienglaube als literarische Praxis 78 In anderen Fällen geht die Übernahme der kleinen narrativen Form in einen neuen Sammlungszu‐ sammenhang im Sinne von Brüning (wie Anm. 3), S. 566f., auch mit gestalterischen (i.e. stilistischen, strukturellen, die Wertung betreffenden) Veränderungen des Textobjekts einher, vgl. hierzu Caroline Emmelius, „Zwischen Unrecht und Unheil. Der Fall des Kindsmörders Hans von Berstatt in mediengeschichtlicher Perspektive“, in: Prekäre Heilbringer. Das Anderssein des Helden in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Margreth Egidi und Markus Greulich (erscheint 2021). 79 Eher wird man mit Wachinger (wie Anm. 72), S. 250f., eine kolloquiale Nutzung des Exempelbuchs annehmen wollen, wie sie in den Widmungsvorreden späterer Auflagen antizipiert wird, zu der sich dann auch Episoden wie die genannte gut fügen würden. Exempelsammlung untergeordnet. 78 Ob die Begebenheit der tollwütigen Gäste je für die Verwendung in der Predigt, gar im Kontext einer Auslegung des fünften Gebots, genutzt wurde, ist dabei sicher mehr als fraglich. 79 Für die Funktionsweise der Kompilationen kleiner narrativer Formen im 16. Jahrhunderts ist aber gerade dies nicht entscheidend. Die Sammlungen zeigen vielmehr, wie altes und neues Weltwissen in ganz unterschiedliche Ordnungsmodelle eingehegt, aus diesen entlassen und wiederum neu konfiguriert werden kann. Solchen Modellen sowie ihren Interdependenzen und Dynamiken auf die Spur zu kommen, wäre Aufgabe einer Sammlungsgeschichte kleiner narrativer Formen des 16. Jahrhunderts. 498 Caroline Emmelius Fazit der Tagung „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ Fazit zur Tagung Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden Das XXVI. Anglo-German Colloquium hat sich zum Ziel gesetzt Fallstudien zu literarischen Praktiken des Sammelns in Texten des Mittelalters und der frühen Neuzeit zusammenzu‐ tragen. Im Rückblick auf die unterschiedlichen Beiträge zeigt sich, wie präsent Sammlungen in der mittelalterlichen Literatur sind, aber auch, wie lohnenswert es ist, Texte hinsichtlich ihrer Sammlungen oder des in ihnen Gesammelten zu untersuchen. Auf diese Weise konnte eine Reihe bestehender Forschungsergebnisse überdacht oder sogar widerlegt werden und es wurden neue Perspektiven auf Texte und Ansätze ihrer Untersuchung entwickelt. Mit seinem Einführungsvortrag „Alles in Einem. Werk - Handschrift - Sammlung“ lenkte Jürgen Wolf (Marburg) den Blick auf die mittelalterlichen Verhältnisse der hand‐ schriftlichen Überlieferung, welche sich deutlich von der in der mediävistischen Literatur‐ wissenschaft traditionell betriebenen Einzeltextforschung unterscheidet. Letztere hat zur Etablierung von Begrifflichkeiten und Kategorien wie beispielsweise Werk, Autor oder Gattung geführt, die es erlauben, sich über Texte zu verständigen und diese zueinander in Beziehung zu setzen. Wenngleich dies grundsätzlich nützlich und gewinnbringend ist, ist der Blick der Fachtradition dennoch ein verstellter, wenn er mittelalterliche Texte allein auf Grundlage dieser modernen Kategorien erforscht, da moderne und mittelalterliche Kategorien in der Regel nicht deckungsgleich sind. Oft werden zahlreiche Informationen, die in der handschriftlichen Überlieferung vorliegen - auch wenn sie sich auf den ersten Blick nicht unbedingt erschließen -, bei einzeltextlichen Untersuchungen ausgeblendet. Gerade die summarisch als ‚Sammelhandschriften‘ bezeichneten Manuskripte bieten ein bislang nicht erschöpfend bearbeitetes Forschungsfeld, um grundlegende literaturwissen‐ schaftliche Termini wie Autor, Werk und Gattung zu überdenken und sie an handschrift‐ lichen Gegebenheiten zu messen. Zu diesem Zweck entwarf Wolf eine Nomenklatur, um mittelalterliche Handschriften und die ihnen zugrundeliegenden Konzepte ihrer Samm‐ lungen terminologisch genauer beschreiben zu können. Durch die Handschriften und ihre Sammlungskonzepte, so Wolfs Fazit, sei ein Zugriff auf zeitgenössische literarische Praktiken möglich. Durch sie können mittelalterliche Verstehensdimensionen greifbar werden und dazu anregen, etablierte Fachtraditionen zu überdenken. Die erste Tagungssektion „Sammlungen in Handschriften und Frühdrucken“ gab Bei‐ spiele, wie Konzepte des Sammelns aussehen können. Anhand der Desideratenliste des Murbacher Bibliothekskatalogs arbeitete Julia Frick (Zürich) den konzeptuellen Entwurf 1 Vgl. Peter Strohschneider, „Faszinationskraft der Dinge. Über Sammlung, Forschung und Univer‐ sität“, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2012), S. 9-26. einer idealen Bibliothek heraus. Die Liste orientiere sich nicht nur an den verfügbaren Beständen der Nachbarklöster, sondern habe einen literarischen Bezugspunkt in Cassiodors Bildungsprogramm. Auch wenn die Liste konkret der systematischen Bestandsergänzung dienen könne, entwerfe sie aber auch ein Modell einer idealen Bibliothek als Garant des Bewahrens der ursprünglichen göttlichen Wissensordnung der Vergangenheit für die Zukunft. In der Terminologie Strohschneiders gesprochen, werde damit in der Sammlung sowohl eine auratische Vergangenheit aufgerufen als auch das Potenzial einer Latenz kreiert. 1 Ein handschriftliches Sammlungskonzept präsentierten Klaus Kipf und Pia Rudolph (München) am Beispiel des einheitlich angelegten und geplanten Kodex München, Univer‐ sitätsbibl., Cim. 102. Die additiv aneinandergereihten chronikalischen Texte lassen einen deutlichen Gestaltungswillen des Sammlers oder Auftraggebers und vielleicht auch ersten Besitzers erkennen, der allerdings nicht in die inhaltliche oder poetologische Gestaltung der Einzeltexte hineinwirke. Dennoch wurde anhand dieses Beispiels deutlich, dass das Textar‐ rangement einen aktiven Aneignungsprozess voraussetzt. Noch deutlicher sichtbar wurde ein solch aktiver Aneignungsprozess in der handschriftlichen Schwanksammlung Dietrich Marolds, die Linus Möllenbrink (Freiburg) vorstellte. Überzeugend konnte er gegen die bisherige Forschung exemplarisch nachweisen, dass in Marolds Handschrift nicht allein ein archivierendes Sammeln greifbar wird, sondern diese durchaus synthetisch-komponierte Passagen enthält. Almut Suerbaum (Oxford) führte in ihrem Vortrag eindrücklich vor Augen, dass das Aktive eines Aneignungsprozesses nicht unbedingt an einen Autor oder eine Autorin ge‐ bunden sein muss. Insofern impliziert das Nachdenken über Aneignungsprozesse auch, die Rolle des Schreibers und Sammlers wie den Autorbegriff neu zu diskutieren, zu reflektieren und zu erweitern. Anhand geistlicher Liedersammlungen verdeutlichte Suerbaum, dass diese gerade nicht nur das Interesse einer Einzelperson widerspiegeln, sondern oftmals soziale Netzwerke voraussetzen. Zudem lassen sie die in Netzwerken gepflegten kulturellen Praktiken greifbar werden. So kann beispielsweise die Sammlung von Liedertexten aus dem St. Katharinentaler Schwesternbuch keiner einzelnen Autorin zugeordnet werden, aber einem Kollektiv, das erst die Voraussetzungen für die Sammlung schafft und sich darüber konstituiert. Dies werde insbesondere durch die Querbezüge zu den ebenfalls im Kodex überlieferten Schwesternviten deutlich, in denen vom gemeinschaftlichen Gesang begleitete Visionen einzelner Schwestern ihre Darstellung finden. Auf diese Weise ergibt sich geradezu ein intrikates Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Einzelner, das über das handschriftliche Sammlungskonzept transportiert wird. Es griffe daher zu kurz, eine solche Handschrift nur als Textarchiv oder additive Sammlung bezeichnen zu wollen, da eine Handschrift eben deutlich mehr ist als die Summe ihrer Einzelteile. Ob man sie mit Wolf als intensiv oder philologisch komponiert bezeichnen möchte, auch wenn es d i e Komponistin dabei nicht unbedingt gibt, wäre zu diskutieren. Wie kulturelle Praktiken und Aneignungsprozesse von Texten, ihr Sitz im Leben durch ihre handschriftliche Materialität und Sammlungskontexte fassbar werden können, exemp‐ 502 Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden lifizierte Sarah Bowden (London) anhand der Zwettler Federproben, die die Anfangsworte der Vorauer Sündenklage wiedergeben. Ihr Vortrag regte dazu an, den Werkbegriff zu reflektieren, da identische Textanfänge in unterschiedlichen Sammlungskontexten allein noch nicht dazu berechtigten, sie als ein- und dasselbe Werk zu bezeichnen. Inwiefern Sammeln geradezu werkbzw. gattungskonstituierend sein kann, arbeitete Cornelia Herberichs (Fribourg) am Beispiel von Legendaren heraus. Legendaren liegen unterschiedliche Einzeltexte zu Grunde, die nach gemeinsamen stilistischen Prinzipien bearbeitet, in eine gemeinsame Struktur eingegliedert und zu einem Ganzen komponiert werden. Vergleichbares führte Stephen Mossman (Manchester) am Beispiel der deutschen Mosaiktraktate vor. Nach ähnlichen Prinzipien wie die lateinische Cento-Dichtung konzi‐ piert, werden Einzelpassagen aus religiösen Texten herausgelöst und gleich Steinen eines Mosaiks verwendet, um ein neues Gesamtwerk zu erschaffen - wobei allerdings nur ein außerordentlicher Kenner in der Lage wäre, aus dem philologisch komponierten Werk die Einzelbausteine herauszulesen. Deutlicher als Bausteine erkennbar sind die Sprichwörter des Teufels in der Historia von D. Johann Fausten, die Silvia Reuvekamp (Münster) in ihrem Vortrag in den Blick nahm. Anders als bislang in der Forschung behauptet, handelt es sich bei der Sprichwort-Tirade, mit der der Teufel Faust überschüttet, nicht um eine plump eingefügte Sammlung von All‐ tagssprichworten, sondern um allein im Kontext der lutherischen Rechtfertigungstheologie verwendete Sprichworte. Auf diese Weise werde die Stimme des Teufels gewissermaßen mit der Luthers imprägniert, so dass sich vollkommen neue Deutungshorizonte eröffnen. Durch das sorgfältige Inserieren der Sammlung entfalte diese geradezu eine literarische Produktivität. Eine solche Produktivität von Sammlungen oder zumindest eine Analogie zwischen dem Arrangement einer Sammlung, genauer einer frühneuzeitlichen Wunderkammer, und der Zimmerischen Chronik machte Gerhard Wolf (Bayreuth) zum Thema seines Abendvortrags. So finden sich methodische Analogien zwischen Wunderkammer und Chronik, wenn in sie unüblicherweise auch Beschreibungen von Artefakten oder Naturalia eingelagert werden oder wenn ihren Rezipient: innen einzelne Ereignisse aus multimodaler Perspektive dargestellt werden. In der Sektion, „Sammeln als literarisches Thema“, erörterte Robert Schöller (Bern) in seinem Vortrag die ästhetischen Qualitäten der in verschiedenen Text- und Bildmedien vorliegenden prinzipiell nicht abgeschlossenen Sammlung von Minneopfern, durch die diese auf den Tiefpunkt ihrer Existenz reduziert quasi als „Schwundstufenexistenz“ im Verhältnis zur übermächtigen Minne gelistet werden. Stefan Abel (Bern) behandelte die literarische Produktivität im Artusroman, wo das Sammeln von Texten stellenweise selbst zum Thema wird, etwa wenn davon erzählt wird, wie die mündlichen Berichte der Artusritter im festlich freudvollen Rahmen des Hofs in die Schriftlichkeit überführt werden. Dass das Sammeln und das Erstellen der Liste auch mit Verlusterfahrung und Fragmen‐ tierung einhergeht, weil die Suche nach dem imaginären Ganzen nicht gelingen kann und der Sammler dies schmerzlich einsieht, zeigte Annette Volfing (Oxford) an den Bücherlisten in Püterichs Ehrenbrief. Dieser sehr anspruchsvolle Sammler, dessen literarische Vorliebe für den Jüngeren Titurel über das eigene einverleibende Sammelverhalten gegenüber Büchern motiviert ist, formuliert am Ende die Einsicht in das Scheitern der projektierten 503 „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ Sammlung: die perfekte Liste gibt es nicht - einen positiven Ausweg bietet im Vergleich der metaphorische Sammelanspruch, den Hermann von Sachsenheim gegenüber der höfischen Literatur um 1200 verfolgt. Der eine Autor listet Bücher, der andere vergangene literarische Paradigmen. Nicht nur anhand dieses Beispiels wurde deutlich, dass Listen oder Kataloge als Teile poetischer Textverfahren fungieren, dass „Aufzählen als literarisches Prinzip“ - so der Sektionstitel - verstanden werden kann. Sie sind ebenfalls beliebte Präsentationsformen, wenn man die Fülle des Gesammelten nicht im Hintergrund verfügbar halten, sondern kon‐ kret darstellen will. Nicht die ohnehin viel besprochenen Listen aus dem Parzival wurden thematisiert, wohl aber die in Wolframs Willehalm, für die Christoph Pretzer (Oxford) die narrative Funktion des Enumerativen in den Katalogen heidnischer Heere analysierte und in den Wissensdiskurs einordnete. Die Listen bedienten einerseits eine Suggestion der Vollständigkeit, z. B. durch den weiten Kreis der genannten Länder, zugleich aber auch eine Entgrenzung durch die hyperbolischen Zahlenangaben für die Truppenstärke. Pretzer präsentierte den Katalog als literarisches Mittel, um das Andere zu erfassen: Die heidnische Welt wird mit dem Katalog klassifizierbar, zählbar, zugleich stellen die hohen Zahlen die Bedrohung noch einmal deutlich heraus. Geradezu gattungskonstitutiv ist die Liste, der Katalog bzw. die aufzählende Reihung für die Registerreden, die Franz-Josef Holznagel (Rostock) in einer Gattungstypologie vorstellte. Es war zu beobachten, wie sich die Rezeptionsästhetik verändert, wenn vorab die These oder Struktur einer Reihe benannt wird oder diese erst vom Publikum aus der Reihe erschlossen werden muss. Für die Registerreden wurde deutlich, wie sich die Formen der Textorganisation bei der Reihung direkt auf das persuasive Kapital der Rede auswirken, auf das die Gattung der Rede in ihrem Kern stets zielt. Die völlige Entgrenzung von Listen führte Beate Kellner (München) für Rabelais sowie vor allem für Fischarts Geschichtklitterung vor. Es ergibt sich ein kreativer Textraum, da sich die Liste vom eigentlichen Ausgangspunkt entfernt, um sich in Klangkunst und Wortakrobatik zu ergehen. Hier wird Fülle mit der Liste nicht bewältigt, sondern als ein Unhandhabbares und letztlich auch Unsagbares ausgestellt. Einerseits ist die Liste also eine sehr naheliegende Präsentationsform für eine Sammlung, zugleich wird aber auch gerade an der Liste die Entgrenzung, das Nichtbewältigen der Fülle demonstriert - Fischart erreicht dies mittels der amplificatio, aber er arbeitet zugleich in der Kürze der einzelnen Listeneinträge auch mit der abbreviatio. So ergibt sich eine Beschleunigung der Sinnbildung, die das Publikum an seine Grenzen führt. Über die Sektionsgrenzen hinweg beschäftigten sich mehrere Beiträge mit der Fülle des Materials, die oft auch eine Reflexion über die Handhabbarkeit in einer Ordnung und über ihre literarische Darstellbarkeit auslöste. So ergab sich ein Anschluss an Strohschneiders Überlegungen zum Transzendieren der Sammlung: Eine Sammlung bietet Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit zugleich. Die Unverfügbarkeit ergibt sich, wie sich an den Beispielen zeigte, nicht nur über die großen Kategorien von Aura, Latenz und Artifizialität, sondern oftmals ganz einfach in pragmatischer Perspektive durch den Aspekt der Fülle oder Überfülle. Nikolaus Henkel (Freiburg) konnte an Sebastian Brants Kommentaren zur Stultifera navis zeigen, wie das dort eingefügte Verweissystem nicht nur den lateinischen Text, sondern auch das Narrenschiff über eine Sammlung im Hintergrund anreichert. Brants Zeigehände 504 Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden verweisen auf eine konkrete Büchersammlung, aber auch auf ein Buchwissen als ein Imaginäres, auf das sich eine intellektuelle Elite geeinigt hat. Die Sammlung des akademi‐ schen Wissensmaterials wird nicht direkt sichtbar, aber von Brant zugleich als elementare Voraussetzung für die literarische Produktion ausgewiesen, denn ohne diese Rückführung hält er Lochers lateinische Übertragung seines Narrenschiffs für unvollständig. „Das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis“ geriet zu einem in diversen, keinesfalls auf die gleichnamige Sektion beschränkten Beiträgen berücksichtigten Aspekt und damit zu einem der Kernthemen der Tagung. Im Vortrag von Freimut Löser (Augsburg) standen mit Meister Eckhart ein Autor, dessen eigene sammelnde Tätigkeit und die sammelnde Organisation seines Werks im Mittelalter im Fokus, um daran anschließend über Fragen einer angemessenen modernen Edition seiner Schriften nachzudenken. Simone Kügeler-Race (Cambridge) stellte die Bücherschenkung der Laienschwester Katharina Tucherin an das Nürnberger Katharinenkloster vor und beschrieb sowohl die Sammelpraxis einer einzelnen Frau als auch die klösterlich institutionalisierte Sammlungspraxis samt der dadurch zu erschließenden Bildungsinteressen. Auch ging sie dem Thema der literarischen Textproduktion der dominikanischen Laienschwester im Kontext der Ordensreform nach wie der Rolle ihrer Büchersammlung innerhalb der sukzessive anwachsenden klösterlichen Bibliothek. Caroline Emmelius (Düsseldorf) konnte an Job Fincels Wunderzeichen heraus‐ arbeiten, wie das Publikum in der chronikalischen Abfolge der negativen Ereignisse in einen Sog, eine Beschleunigung gerät und zugleich im Erzählen eine Gegenbewegung des Retardierens erreicht wird. Die Interferenz von chronikalischer und topischer thematischer Ordnung wurde ganz bewusst gesetzt. Mit Blick auf eine Sammlungsgeschichte des 16. Jahrhunderts wurde dieser Befund konsequent als literaturgeschichtlich und auch literarästhetisch relevantes Paradigma gelesen. Ein wiederkehrender Diskussionspunkt in mehreren Sektionen war die Frage nach einer historischen Semantik des Sammelns, nach den zeitgenössischen Terminologien, die sich nun auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes niederschlagen. Neben der reinen Begrifflichkeit kam auf der Tagung auch die Frage auf, mit welchen Mikronarrativen das Sammeln beschrieben wird. So wurde etwa für Püterich von Reichertshausen die Mühsal des Büchersammelns herausgearbeitet - im Panorama der Erzählmöglichkeiten über das Sammeln bemüht Püterich das Anstrengungsnarrativ, das gern in Kombination mit dem Sorgfalts- oder Fleißnarrativ vorkommt. Freimut Löser (Augsburg) bot in der Gegenüberstellung von Manesse und Eckhart eine begriffliche Fokussierung und entwickelte ausgehend vom mittelhochdeutschen Verb samenen das Narrativ einer Mystik des Sammelns, das auf dem Zusammenspiel von Einem und Vielem basiert. Das Spektrum der Narrative lässt sich erweitern um das Konkurrenznarrativ, das Tauschnarrativ, das Stolznarrativ und auch das Rechtfertigungsnarrativ. Das Sprechen über die Sammlung und das Sammeln kann auch metaphorisch werden und bezieht sich dabei häufig auf den Ort, an dem man das Gesammelte vereint. Der Kasten im Roldmarsch Kasten ist ebenso eine Metapher wie der Wagen im Rollwagenbüchlein, und auch bei den von Gerhard Wolf (Bayreuth) untersuchten Wunderkammern öffneten sich die realen Kammern in der literarischen Beschreibung der Chroniken ins Metaphorische. 505 „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ Gerade das also, was im musealen Kontext die Festigkeit der Exponate garantiert und ihre Präsentation sicherstellt, lief in den Texten mehrfach ins Uneigentliche. Inwiefern Sammeln als ästhetische Praxis verstanden werden kann, zog sich als Frage durch die Sektionen und wurde so aus ganz unterschiedlichen Perspektiven betrachtet. Zeichenhaft eröffnete sich der Zusammenhang von Sammlung und Ästhetik in einem Textbeispiel von Almut Suerbaum (Oxford) aus dem St. Katharinentaler Schwesternbuch, nämlich im Visionsbericht über die goldene Scheibe, die von Gott herabgeschickt wird, auf der die Namen der Sängerinnen eingeschrieben werden und die durch ihre Kostbarkeit die Namenssammlung zu einem ästhetischen Objekt macht. Hier liegt eine Sammlung geistlicher Lieder vor, die auf einen performativen Vollzug in einer Gemeinschaft zielt, sich aus einer konkreten religiösen Praxis speist und zugleich die sorgfältige Bearbeitung der Lieder und das Umgehen damit als ästhetische Praxis erkennbar werden lässt. Mathias Herweg (Karlsruhe) sah die Gattung Roman, aus der Historiographie kommend, als prädestiniert für Sammlung und Aufzählen an und wies sie als genus colligens aus. Der Autor ist auch Sammler, genau wie der Historiograph, so dass es zu einer enzyklopädisier‐ enden Anreicherung kommt. Genau wie Herzog Ernst und Reinfried auf ihren Reisen Dinge und Erfahrungen sammeln, gibt es auch einen sammelnden Erzähler. Bei den Protagonisten ist das Sammeln ein Lebensentwurf, beim Erzähler ist es ein poetisches Textverfahren, das in Exkursen und Beschreibungen ausgestellt wird und gerade auch in der Spiegelung zwischen Figur und Autor selbstreflexiv ist. Für die ersten beiden Bücher des Parzival analysierte Elke Brüggen (Bonn), wie der Erzähler Dinge aus Isenharts Besitz auf Gahmuret überträgt. In einem close reading wurde ein deutlich komponiertes Erzählverfahren sichtbar: Der Autor sammelt höfische, auffällig kostbare Dinge und fügt diese sinnträchtig zusammen. Als ästhetisches Verfahren zeigt sich deutlich, dass der Erzähler die gesammelten Dinge mit großer Energie zusammenhält, sie wiederholt aufruft und dass ihnen dann im Montieren des eigenen Wappens und mit der Grabinschrift die eigene Lebensgeschichte eingeschrieben wird. Auf den gesammelten Dingen wird somit eine Metaerzählung eingeschrieben; sie dienen als ästhetische Reflexionsfigur. Für die verschiedenen Drucke von Feyerabends Heldenbuch demonstrierte Rabea Kohnen (Bochum), wie die Wiederverwendung von Holzschnitten durch das in der Druckerei vorhandene Inventar der Stöcke und damit durch pragmatische Zusammenhänge bestimmt ist. Die Wiederholungen seien nicht allein als ökonomische Strategie zu verstehen, sondern im pragmatischen Rahmen des Inventars werde ein feinsinniges Netz der intertextuellen Entsprechungen gesponnen. In diesem Sinne kann man von einer Poetik oder auch Ästhetik des Inventars sprechen, lässt sich die markierte Wiederholung als ästhetische Praxis der Sinnsetzung unter den pragmatischen Bedingungen eines gegebenen Inventars fassen. Cornelia Herberichs (Fribourg) präsentierte mit den beiden Redaktionen von Der Heiligen Leben ein Beispiel, das zwei Formen des Umgangs mit einer Sammlung kennt, nämlich die quantitative Erweiterung der ersten Redaktion sowie als nächste Stufe bei einem fixen Corpus die Veränderung auf der Textebene, die sich nicht unter simple Labels wie Emotionalisierung fassen ließ. Redaktion I war auf die Arbeit am Corpus fokussiert, Redaktion II auf die Arbeit am vorhandenen Text. Redaktion I kultivierte eine Sorgfalt des Sammelns, Redaktion II eine der textuellen Bearbeitung. Die Diskussion mündete in die - auch übergeordnet relevante - Frage, ob man nur die textuelle Bearbeitung oder doch 506 Kathrin Chlench-Priber und Sandra Linden 2 Vgl. für diesen Minimalkonsens das online zugängliche Forschungsprogramm des Tübinger SFB 1391 Andere Ästhetik: https: / / uni-tuebingen.de/ de/ 159607 [Zugriff am 19.7.2022]. beide Formen der Beschäftigung mit dem Text als ästhetische Verfahren verstehen sollte, nämlich als unterschiedliche ästhetische Auseinandersetzungen mit einem vorhandenen und zu erschließenden Sammlungsmaterial. Die Thematisierung von Kohärenz oder Logik einer Sammlung oder sogar einer Poetik des Sammelns führte zu der übergeordneten Frage nach Möglichkeiten einer ästhetischen Bewertung der Sammlertätigkeit, nach einer Ästhetik des Sammelns. Es erschien wenig sinnvoll, für das Sammeln eine Ästhetik als Theorie der Schönen Künste im Sinne Baum‐ gartens anzusetzen. Vielmehr wurde für die Frage, ob Sammeln als etwas Ästhetisches zu verorten ist, ein Ästhetikbegriff favorisiert, der ohne normative Zuschreibung funktioniert und eher als heuristischer Suchbegriff von den Dingen selbst ausgeht. So ließ sich für das, was im Kontext des Sammelns als ästhetisch zu bezeichnen ist, eine bewusst einfache Definition ansetzen: 2 Es gibt erstens eine sinnlich-materiale Ausgangsbasis, also ein konkretes Material, aber ebenso Worte, Melodien usw. Zu dieser sinnlich-materialen Ausgangsbasis tritt zweitens eine gewisse Sorgfalt in der Ausgestaltung, z. B. in einer reflektierten Anordnung von Elementen, durch die Verwendung eines bestimmten Mate‐ rials oder Aufbewahrungsrahmens usw. Diese Sorgfalt der Ausgestaltung ist im Objekt erkennbar und führt drittens dazu, dass die spezifische Gestaltung zu einer eigenen und dem Objekt wesentlichen Aussageebene wird. Das Ästhetische erlangt so eine Tendenz zur Markierung und Markiertheit. Zu einer so verstandenen Ästhetik gehört aber nicht nur eine artistische Eigenlogik, sondern es spielen auch pragmatische Aspekte eine Rolle, etwa die Alltagslogik, in die ästhetische Objekte eingebunden sind, oder soziale Bezüge, durch die sie sich konstituieren. Lässt sich Sammeln in diesem Sinne als ästhetische Praxis fassen? Und daran anschlie‐ ßend: Ergeben sich aus dem Nachdenken über das Sammeln und die Sammlung, im Beschreiben von Sammlungsverfahren, -strategien und -zielen auch Möglichkeiten einer ästhetischen Selbstreflexion? Zu beschreiben, wie man Texte, Bilder oder Dinge sammelt und wie man die Elemente anordnet usw., wäre zunächst eine ganz basale und einfache Möglichkeit, sich der eigenen literarischen Produktion anzunähern und dazu in einen reflektierenden Bezug zu treten. Zugleich lässt sich diese Reflexion über das Sammeln möglicherweise als ein in höherem Maße ästhetisches Konzept ausweisen, als man es aus einer modernen Perspektive zunächst annehmen würde. 507 „Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der frühen Neuzeit“ Nachruf Nigel F. Palmer Während der Redaktionsarbeiten an diesem Band verstarb Nigel Palmer am 8. Mai 2022 nach kurzer, schwerer Krankheit. Am Kolloquium in Ascona hatte er noch begeistert teilgenommen und wie immer die Diskussionen durch seine Detailnachfragen, Anregungen und sein immenses Wissen zur mittelalterlichen deutschen und lateinischen Literatur bereichert. Fast von Anfang an war er beim Anglo-German Colloquium beteiligt, das sein Vorgänger Peter Ganz zusammen mit Werner Schröder 1967 begründet hatte. Nigel Palmer hatte in Oxford am Worcester College zwischen 1965 und 1969 Germanistik studiert und war anschließend bei Peter Ganz mit einer Arbeit zu den Fassungen der Visio Tnugdali promoviert worden. Ab 1970 war er Dozent an der Universität Durham, wo er seine Frau Sue kennenlernte. Im Oktober 1976 nahm er eine Stelle als University Lecturer in Oxford an und wurde Fellow in Oriel College; 1992 wurde er als Nachfolger von Peter Ganz auf die Professur für mittelalterliche deutsche Literatur und Sprache berufen und zum Fellow von St Edmund Hall ernannt. In seiner Arbeit war Nigel Palmer von Anfang an interdisziplinär orientiert, trug zu historischen Diskursen ebenso bei wie zum Dialog mit Kunstgeschichte, Mittellatein, Philosophie, Romanistik, Slavistik und Theologie. Er befreite die Paläographie und Kodikologie vom Ruf als ‘Hilfswissenschaften’, indem er lange vor dem ‘material turn’ aufzeigte, dass die genaue Kenntnis der handschriftlichen Überlieferung nicht nur für die Erstellung von Editionen, sondern für jedes Verständnis mittelalterlicher Texte unabdingbar ist. Aus seinen vielfältigen fachlichen Kontakten entstanden informelle Netzwerke, in denen über alle Grenzen hinweg Austausch über das stattfinden konnten, was ihm am Herzen lag: mittelalterliche Handschriften und ihre Geschichte. Zugleich hatte er die Gabe, über den fachlichen Dialog Freundschaften zu stiften. Nicht nur sein Fachwissen, sondern auch die ihm eigene Offenheit, die ihn das Gespräch mit dem so genannten ‘Nachwuchs’ suchen ließ - ein Begriff, von dem er sich immer leicht ironisch distanzierte, weil er bereits Statusgrenzen markiere - waren etwas Besonderes. Ganz wesentlich hat er zur Atmosphäre des Anglo-German Colloquium beigetragen. Er wird uns sehr fehlen. Die Verantwortlichen des Anglo-German Colloquium Verzeichnis der Autorinnen und Autoren PD Dr. Stefan Abel, Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggass-Strasse 49, CH-3012 Bern, Email: stefan.abel@unibe.ch Dr. Sarah Bowden, Department of German, King's College London, Virginia Woolf Building, 22 Kingsway, GB-London WC2B 6LE, Email: sarah.bowden@kcl.ac.uk Prof. Dr. Elke Brüggen, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Abteilung für Germanisti‐ sche Mediävistik, Am Hof 1d, D-53113 Bonn, Email: ebruegge@uni-bonn.de Prof. Dr. Mark Chinca, University of Cambridge, German Section, Faculty of Modern and Medieval Languages and Linguistics, Sidgwick Avenue, GB-Cambridge CB3 9DA, Email: mgc1000@cam.ac.uk Prof. Dr. Kathrin Chlench-Priber, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Abteilung für Germanistische Mediävistik, Am Hof 1d, D-53113 Bonn, Email: kchlenpriber@uni-bonn.de Prof. Dr. Manfred Eikelmann, Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut, Universitätsstraße 150, D-44801 Bochum, Email: manfred.eikelmann@rub.de Prof. Dr. Caroline Emmelius, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitäts‐ allee 1, D - 85072 Eichstätt, Email: caroline.emmelius@ku.de Dr. Julia Frick, Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, CH-8001 Zürich Email: julia.frick@ds.uzh.ch Prof. Dr. Nikolaus Henkel, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar, Germanistische Mediävistik, Raum 3532 KG III, Platz der Universität 3, D-79098 Freiburg, Email: nikolaus.henkel@germanistik.uni-freiburg.de Prof. Dr. Cornelia Herberichs, Universität Freiburg, Departement für Germanistik, MIS 05 bu. 5239, Av. de l'Europe 20, CH - 1700 Fribourg, Email: cornelia.herberichs@unifr.ch Prof. Dr. Mathias Herweg, Karlsruher Institut für Technologie, Campus Süd, Institut für Germanistik: Literatur, Sprache, Medien, Kaiserstraße 12, Geb. 20.30, D-76131 Karlsruhe, Email: mathias.herweg@kit.edu Prof. Dr. Franz-Josef Holznagel, Universität Rostock, Institut für Germanistik, Kröpe‐ liner Straße 57, D - 18055 Rostock, Email: franz-josef.holznagel@uni-rostock.de Prof. Dr. Beate Kellner, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deut‐ sche Philologie, Schellingstraße 3 RG, D - 80799 München, Email: beate.kellner@germa‐ nistik.uni-muenchen.de PD Dr. Johannes Klaus Kipf, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstraße 3 RG, D -80799 München, Email: klaus.kipf@germa‐ nistik.uni-muenchen.de Ass.-Prof. Dr. Rabea Kohnen, Universität Wien, Institut für Germanistik, Universitäts‐ ring 1, A-1010 Wien, Email: rabea.kohnen@univie.ac.at Dr. Simone Küegeler-Race, University of Cambridge, German Section, Faculty of Modern and Medieval Languages and Linguistics, Sidgwick Avenue, GB - Cambridge CB3 9DA, Email: sk706@cam.ac.uk Prof. Dr. Sandra Linden, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Deutsches Seminar, Wilhelmstraße 50, D-72074 Tübingen, Email: sandra.linden@uni-tuebingen.de Prof. Dr. Freimut Löser, Universität Augsburg, Werner-von Siemens-Straße 6 (Sigma Techno-park), D - 86159 Augsburg, Email: freimut.loeser@philhist.uni-augsburg.de Dr. Linus Möllenbrink, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar, Ger‐ manistische Mediävistik, Raum 3530 KG III, Platz der Universität 3, D - 79085 Freiburg, Email: linus.moellenbrink@germanistik.uni-freiburg.de Dr. Stephen Mossman, Department of History, University of Manchester, Samuel Alexander Building, Oxford Road, Manchester M13 9PL, United Kingdom, Email: Ste‐ phen.Mossman@manchester.ac.uk Dr. Christoph Pretzer, Institut für Klassische Philologie, Länggass-Strasse 49, CH-3012 Bern, Email: Christoph.pretzer@unibe.ch Prof. Dr. Silvia Reuvekamp, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germanisti‐ sches Institut, Abt. Literatur des Mittelalters, Stein-Haus, Schlossplatz 34, D-48143 Münster, Email: reuvekamp@uni-muenster.de Dr. Pia Rudolph, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Katalog der deutschspra‐ chigen illustrierten Handschriften des Mittelalters, Zimmer 231, Alfons-Goppel-Str. 11, D - 80539 München, Email: pia.rudolph@dlma.badw.de PD Dr. Robert Schöller, Universität Freiburg, Department für Germanistik, Av. de l'Europe 20, CH - 1700 Fribourg, Email: robert.schoeller@unifr.ch Prof. Dr. Michael Stolz, Universität Bern, Institut für Germanistik, Länggass-Strasse 49, CH-3012 Bern, Email: michael.stolz@unibe.ch Prof. Dr. Almut Suerbaum, Somerville College, GB - Oxford OX2 6HD, United Kingdom, Email: almut.suerbaum@some.ox.ac.uk Prof. Dr. Volfing, Annette Oriel College, GB - Oxford OX1 4EW, Email: annette.vol‐ fing@oriel.ox.ac.uk Prof. Dr. Julia Weitbrecht, Universität zu Köln, Institut für Deutsche Sprache und Literatur I, Abteilung für Ältere deutsche Sprache und Literatur, Albertus-Magnus-Platz, D - 50923 Köln, Email: j.weitbrecht@uni-koeln.de 512 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Gerhard Wolf, Universität Bayreuth, Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät, Ältere deutsche Philologie, Universitätsstraße 30, D-95447 Bayreuth, Email: gerhard.wolf@uni-bayreuth.de Prof. Dr. Jürgen Wolf, Universität Marburg, Germanistik und Kulturwissenschaften, Abt. Deutsche Philologie des Mittelalters, Institutsgebäude (Raum: +1/ 004), Deutschhausstraße 15, D - 35032 Marburg, Email: juergen.wolf@staff.uni-marburg.de Prof. Dr. Christopher Young, University of Cambridge, German Section, Faculty of Modern and Medieval Languages and Linguistics, Sidgwick Avenue, GB - Cambridge CB3 9DA, Email: cjy1000@cam.ac.uk 513 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Register Im Register aufgeführt sind alle Namen literarischer und historischer Personen (einschließ‐ lich biblischer Figuren und Heiligennamen), Ortsnamen und Werktitel; mittelalterliche Handschriften sowie Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts sind einzeln unter dem jeweiligen Stichwort aufgelistet. Abraham 136, 426, 429 Abschalom (Absolon, Apsolon, Apselon, bibl. Figur) 338, 350, 351, 352, 353 Achilles (Achill, Achilli) 249, 338, 342, 344, 348, 350, 352, 353 Achilleus Tatios Leukippe und Kleitophon 236, 238 Acta Sanctorum 146, 158f. Acta Theclae 165 Adam (bibl. Figur) 19, 92, 129, 337, 338, 339, 350-353 Aëtius (Etius) 382 Agnes (Heilige) 163-171 Agricola, Johannes Sprichwortsammlung 261f. Agricola, Rudolf 179 Agrippa, Heinrich Cornelius Occulta philosophia 434 Alarik 374, 375, 381 Albert VI. von Österreich, Erzherzog 357 Albertanus von Brescia Melibeus und Prudentia 126 Albrecht Jüngerer Titurel 242, 244, 247, 250, 263, 295, 359, 363, 364, 365, 366, 367, 503 Albrecht der Lahme, Herzog 283 Albrecht V., Herzog 78, 269, 270, 273, 274 Albrecht von Eyb Ehebüchlein 129 Alciatus, Andreas Dispunctionum libri quatuor 435 Emblematum liber 434 Alcuin 30, 44 Alemannisches Verba seniorum 215, 216 Alexander der Große 50, 81, 123, 134, 136, 229, 248, 250, 334, 338, 346, 347, 350, 351, 352, 353, 431 Alexanderroman (Alexander, Alexanderlied, Ale‐ xandreis, Baseler Alexander, Straßburger Alex‐ ander, Ulrich von Etzenbach, Vorauer Alex‐ ander) 51, 58, 135, 136, 232, 237, 242, 246, 247, 250, 242, 353, 373, 374, 376 f., 380, 381, 382, 383 Alexanderstoff 239, 245 Alsted, Johannes 245 Ältere Judith 51 Amadisroman 426 Amann, Jost 200 Ambraser Heldenbuch 326 Ambrosius von Mailand (Legende) 32, 35, 154, 155, 156 Ambrosius von Mailand 31, 32, 34, 153, 154, 164 De virginibus 164 Passio S. Agnetis 164 Anegenge 56 Anna von Köln 65, 69-72, 73 Anna von Montfort, Gräfin 316 Annolied 346, 386 Anselm von Rappoltstein, Freiherr 316 Anton Ulrich von Braunschweig 240 Antonios Diogenes Wunder jenseits von Thule 236 Apolloniusstoff 239 Apuleius Metamorphosen 220 Arigo Decameron (Übersetzung) 102, 103, 105, 107, 109, 110, 111, 112, 113, 115 Aristoteles (Aristotiles) 250, 352, 353, 338, 350, 351, 433 Artus (Arthus) 313, 314, 315, 316, 317, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325-330, 338, 339, 342-344, 350, 352, 353, 365 Artusroman, -stoff 199, 233, 241, 317, 329, 358, 503 Asahel (Azael, bibl. Figur) 338, 339, 344, 348, 350, 352 Augustinus 16, 31, 32, 33, 34, 35, 37, 38, 150, 212, 214, 216, 219, 321, 324, 474 Contra Faustum Manichaeum 150 De consensu evangeliarum 324 Sermones de scripturis 321 Ausonius 217-222, 224, 225 Frau Ava Leben Christi 50 Axius Paulus (Rhetoriker) 217, 220 Baalam (bibl. Figur) 50 Bachtin, Michail 237, 240, 241, 415 Bämler, Johann 90 Bartholomäus von Andlau, Abt 27, 28, 29, 31, 43, 44 Bärwald, Jakob 483, 487, 492, 495, 497 Basel 65, 173, 183, 184, 316, 429 Basler Liedersammlung 65f., 69, 73 Bataille d’Aliscans 383 Bathseba (bibl. Figur) 352 Becanus, Johannes Goropius Origines Antwerpianae 427 Beda Venerabilis 29, 31, 32, 33, 38, 40, 148, 150 Historia ecclesiastica gentis Anglorum 34 Beheim, Michel (Pehen) 344, 351, 353 Beleth, Johannes Summa de ecclesiasticis officiis 144 Belial 89 Benjamin, Walter 11, 12, 145, 157 Bernhard I. (Propst von Vorau) 49, 51 Bernhard von Clairvaux 220, 474, 475 Bernhard, Thomas 346 Bibel 31, 62, 77, 79, 80, 82-84, 92, 127, 136, 173, 182, 187, 219, 226, 234, 272, 339, 371, 388, 391, 420, 447, 487, 488, 489, 493 Biblia pauperum 90 Bibliotheca 30, 42, 138, 285, 418 Boccaccio, Giovanni 104, 105, 107, 110-113, 115, 127, 221 Bodel, Jehan 241 Boethius Consolatio Philosophiae 40, 187 Bolland, Jean 159 Bollandisten 159 Bollstatter, Konrad 88, 90, 126, 127, 137 Bonaventura 474 Bracciolini, Poggio 32, 183 Brandans Meerfahrt 79, 83 f., 85, 88, 92 Brant, Sebastian 173-175, 177, 178-181, 186, 220, 484, 485, 489 Marianische Gebete 220 Narrenschiff 173-176, 177, 178-182, 184, 186, 187, 188, 504f. Brosamer, Hans 192, 197, 204 Bůch der heilgen megde und frowen 18, 145, 161- 172 Buch der Könige alter ê und niuwer ê 78-82, 83, 87, 91, 92 Buchdruck 90, 99, 115 f., 117, 147, 193, 204, 216, 432, 480 s. Drucke des 15. Jahrhunderts Buchheim, Lothar-Günther 271 Bucholtz, Andreas Heinrich 240 Budapest 323 de Bussy-Rabutin, Roger 117 Büttner, Wolfgang 110 Byblis 176, 336 Caesar, Gaius Julius 81, 134, 382, 386, 429 Calepinus, Ambrosius Dictionarium linguae latinae 434 Candacis 334, 346, 352 Cassiodor 502 Institutiones divinarum et saecularium litte‐ rarum 34, 35, 41 516 Register Castelvetro, Lodovico Poetica D’Aristotele vulgarizzata et sposta 105 Celestina 204 Cento nuptialis 217, 218, 219, 224, 225 Centones Claromontani 219 Chaucer, Geoffrey 47 Chrétien de Troyes 241, 243, 297, 312, 323 Conte du Graal (Perceval) 297, 312, 313, 329 Érec et Énide 311, 318 Chromatius und Heliodorus, (vermeintlicher) Briefwechsel mit Hieronymus 150 Chronik von allen Königen und Kaisern 79 Cicero, Marcus Tullius 32 De inventione 32 De officiis 32, 219, 225, 425 De oratore 32, 102 Topica 40 Clifford, James 47, 56, 57, 62 Cligès (Clies, Artusritter) 337 Codex Justinianus 184, 185 Colin, Philipp Rappoltsteiner Parzifal 244, 312-317, 319, 320, 324, 326, 328, 330, 331 Comitis, Gerhard 466 Compendium Basileense Operis tripartite 211 Condwiramurs 352 Constantia (Tochter Kaiser Konstantins) 164, 167 Cornwall 311 Couldrette 426 Crescentia (Legende) 131, 133 Curtius, röm. Kaiser 86 Cyprian (Kirchenschriftsteller) 31, 32, 35, 37 Dalila (bibl. Figur) 352 Damasus (Kirchenvater) 164 Dares Phrygius 371 Darius (pers. König) 248, 373, 376, 382, 389, 391 David (Davit, bibl. Figur) 62, 133, 337, 338, 350, 351, 352, 353 Deidamea 352 Depositio martyrum 164 Dinckmut, Konrad 77, 79, 87 Dictys Cretensis 371 Dido 175, 336 Die Blume der Schauung 211, 216 Dietrichs Flucht 129 Digesten (Sammlung antiker Rechtsgrund‐ sätze) 185 Dindimus Buch 129 Diocletian (röm. Kaiser) 86 Diodor aus Sizilien (griech. schreibender Histo‐ riker) 183, 186 (Ps.-)Dionysius Areopagita (Dyonisius) 212 Dives ait (literarischer Verstext) 52-55 Donald II. (Sohn Malcolms I.) 428 Donaueschingen, Fürstlich Fürstenbergische Sammlung 130 Dorlisheim 316 Dracontius De laudibus Dei 219 Drei Jünglinge im Feuerofen (bibl. Figuren) 50, 51 Drucke des 15. Jahrhunderts (Inkunabeln) Auslegung des Lebens Jesu Christi (Ulm: Jo‐ hann Zainer d.Ä., nicht vor 1478; GW 3084, ISTC ia01399000) 90 Herzog Ernst (Augsburg: Anton Sorg, um 1476; GW 12534, ISTC ie00102900) 116 Lirer, Thomas, Schwäbische Chronik und Gmünder Kaiserchronik, (12.1.1486; GW M18412, ISTC il00226000) 77, 79, 87, 92 Lucidarius (Augsburg: Anton Sorg, 1479; GW M09336, ISTC il00332200) 85 Speculum humanae salvationis (Augsburg: Günther Zainer, um 1473, nicht nach 1475; GW M43054, ISTC is00670000) 90 Drucke des 16. Jahrhunderts Arigo, Decameron (Straßburg: Jakob Cammer‐ lander, 1535; VD16 B 5821) 102 Fincel, Job, Wunderzeichen ( Jena: Christian Rödinger d.Ä. 1556; VD16 F 1103) 479-498 Fincel, Job, Der ander Teil Wunderzeichen (Leipzig: Jacob Bärwald 1559; VD16 F 1106) 483 517 Register Fincel, Job, Wunderzeichen / der dritte Teil ( Jena: Donatus Richtzenhain, Thomas Rebart 1562; VD16 F 1107) 483 Fincel, Job, Wunderzeichen mit Figuren (Leipzig: Jakob Bärwald 1557; VD16 F 1105) 492 Fortunatus (Frankfurt am Main: Hermann Gülfferich, 1549; VD16 ZV 32427) 193, 201 Goltwurm, Caspar, Wunderwerck vnd Wun‐ derzeichen Buch (Frankfurt: David Zephelius, 1557; VD16 G 2602) 496 Heldenbuch (Frankfurt am Main: Sigmund Feyerabend / Weigand Han, 1560; VD16 H 1568) 19, 191-194, 196, 197 Hondorff, Andreas, Promptuarium Exemp‐ lorum. Historienn vnd Exempel buch […] (Leipzig: Jakob Bärwald, 1568; VD16 H 4729) 495, 497 Der Hürnen Seyfrid (Frankfurt am Main: Wei‐ gand Han, 1559; VD16 H 4074) 197, 198, 204 Kaiser Octavian (Frankfurt am Main: Weigand Han, um 1560; VD16 ZV 15951) 192, 196, 204 Luther, Martin / Melanchthon, Philipp, Deut‐ tung der zwo grewlichen Figuren Bapstesels zu Rom vnd Munchkalbs zu freyberg jn Meyssen funden (Wittenberg: Johann Rhau-Grunen‐ berg, 1523; VD16 M 2987) 486 Manlius, Johannes, Libellus medicus variorum experimentorum (Basel: Johann Oporinus, 1563; VD16 M 591) 102 Melusine (Frankfurt am Main: Hermann Gülf‐ ferich, 1549; VD16 M 4475) 196, 201 Melusine (Frankfurt am Main: Weigand Han, 1556; VD16 M 4476) 192, 196, 201 Nas, Johannes, Secunda Centuria (Ingolstadt: Alexander und Samuel Weißenhorn, 1568; VD16 N 99) 102 Osiander, Lucas d.Ä., Ableinung Der Lugen / Verkerungen vnnd Loͤsterungen (Tü‐ bingen: Erben Ulrich Morharts d.Ä., 1569; VD16 O 1161) 103 Taulerdruck Basel (Basel: Adam Petri, August 1521; VD16 J 784) 451, 457 Wickram, Georg, Rollwagenbüchlein (Mühl‐ hausen: Hans Schirenbrand und Peter Schmid, um 1557; VD16 W 2394) 110, Dürinc 337 Ebner, Christine 470, 472 Ebner, Margareta 472 Ebner von Eschenbach, Nürnberger Patrizierfa‐ milie 472 Ecce dominus protector (Liturgischer Gesang) 66 Eckenlied 127 Meister Eckhart 20, 209, 211, 212, 221, 223-228, 442, 447-460, 505 Von abegescheidenheit 216, 465 ‚Liber positionum‘ 225 Opus tripartitum 211 Predigten (auch Zuschreibungen) 212, 214, 215, 217, 225 Rechtfertigungsschrift 227 ‚Sprüche‘ 215, 225 Egenolff d.Ä., Christian (1550) 112, 193 von Eichendorff, Joseph 239, 240, 241, 251 Elias (bibl. Figur) 344, 351, 353 Elisabeth von Volkersdorf 61 Ephesiaka 235 Eraclius (Heraclius, röm. Kaiser) 135 Erasmus von Rotterdam Adagia 12, 255f. Erkinger von Monhaim 282 Es kommt ein schiff geladen (Lied) 67 Étienne de Bourbon Tractatus de diversis materiis praedicabi‐ libus 108 Eulenspiegel 204 Eusebius 84, 150-152 Eva (bibl. Figur) 92, 352 Evangelium Nicodemi 126 Exempel, Exempla 15, 86, 92, 114, 145, 175, 176, 178, 237, 245, 263, 284, 337, 339, 342, 344, 397, 480, 490, 493, 494, 497 Extendit manum-Passionstraktat 463, 474, 476 Ezzolied 57 Fabier (Fabii Maximi, röm. Geschlecht) 430 518 Register Falder-Pistoris, Georg Geistliche Belehrung 472 Faltonia Betitia Proba 219 Fearghus (schott. Herrscher) 428 Ferdinand I. (röm.-dt. Kaiser) 273, 277, 278 Ferdinand II. von Tirol, Erzherzog 273, 274 Fincel, Job 479-498 Wunderzeichen-Chronik 483-496, 505 Finckenritter 434, 435 Fischart, Johann 20, 245, 415-438 Catalogus Catalogorum 418, 432 Geschichtklitterung 251, 415-437, 504 Flaubert, Gustave 229, 245f. Flavius Josephus 184, 391 Florilegium, Florilegien 37, 178, 179, 285, 312, 319, 418 Florus von Lyon Centones 219 Folz, Hans Fastnachtsspiele 129 Fortunatus 192, 200, 204, 237, 245 Foucault, Michel 275, 276, 285 Frankfurt am Main 430 Frauenlob 19, 337, 338, 339, 343 (Ps.-)Frauenlob 333-353 Freidank 366, 394 Frey, Jakob 104, 480 Gartengesellschaft 100, 103 Friedrich III. der Weise, Kurfürst von Sachsen 491 Friedrich von Evensheim, Ritter 283 Froben Christoph von Zimmern Zimmerische Chronik 271, 275-287, 360, 362, 503 Füetrer, Ulrich 244, 358 Fürstenspiegel Eyn kurcz ordenonge in gemeyne allen den die da regieren huss dorffere oder stede 129f. Fürstenspiegel Wiewol all menschen erstlich ent‐ sprungen aus ainer wurczel Adam 129 Gadaner, Sigmund (Schmalkaldener Rats‐ herr) 490, 493 Gebwiler, Hieronymus Straßburger Chronik 426, 427 Geiler von Kaysersberg, Johann 349 Geoffrey von Monmouth Historia regum Britanniae 427f. Georg (Heiliger) 195, 199 Georg Ernst, Graf von Henneberg-Schleu‐ singen 114 Meister Gerhard 450 Gesta Romanorum 78, 79, 85-87, 88, 89, 91, 92, 108 Gesta Treverorum 429 Ginover 321, 352 Gisela (Schwester Karl des Großen) 341 Ein gleichnus Eines Juden der Religion 108 Gmünder Kaiserchronik 77, 79, 87 Goltwurm, Caspar Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch 495, 496f. Goltzius, Hubertus 434 Gottfried von Fürstenberg-Haslach, Graf 316 Gottfried von Straßburg 336 Göttweiger Trojanerkrieg 244 Gower, John 47 Gregor der Große (Papst) 35 Moralia in Job 57 Groß, Erhart Witwenbuch 471 Grundherrin, Anna 472 Gülfferich, Hermann (Drucker) 192f., 196, 197, 200 Gülfferich/ Han (Druckerei) 200, 201, 204 Hadlaub, Johannes Wâ vunde man sament sô manig liet 20, 330 f., 331, 441-445, 452 Han, Weigand (Drucker) 191-194, 196, 197, 200, 201, 202, 204 Handschriften Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. Oet‐ tingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,20 149 Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. Oet‐ tingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,21 149 519 Register Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. Oet‐ tingen-Wallerstein III, 1,2 0 ,2 149 Basel, Universitätsbibliothek, B XI 8 (Basler Liederhandschrift) 65 Basel, Universitätsbibliothek, E VI 26 135, 136 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kultur‐ besitz, Ms. germ. fol. 548 129 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kultur‐ besitz, Ms. germ. fol. 923 Nr. 12 + 34 133 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kultur‐ besitz, Ms. germ. oct. 137 477 Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kultur‐ besitz, Ms. germ. oct. 280 69 Budapest, Országos Széchényi Könyvtár (Széchényi-Nationalbibliothek), Cod. Germ. 48 149 Colmar, Archives Départementales du Haut-Rhin, Cartulaire Abbaye Murbach Nr. 1 27, 28 Cologny-Genève, Bibliotheca Bodmeriana, Cod. Bodmer 72 393 Debrecen, Großbibliothek des Reformierten Kirchendistrikts, Cod. R 521 471 Eisenach, Bibliothek der Wartburg-Stiftung, Ms. 1361-50 ((Eisenacher) Wartburg-Hand‐ schrift) 225 Engelberg, Stiftsbibliothek, Cod. 314 (Engel‐ berger Cantionale) 339 Evanston (Illinois), University Library, Wes‐ tern Ms. 13 129 Firenze (Florenz), Biblioteca Nazionale Cent‐ rale, Conv. Sopp. J. 6. 29 219 Frankfurt, Universitätsbibliothek, Ms. germ. qu. 12 91 Frauenfeld, Kantonsbibliothek Thurgau, Cod. Y 74 (St. Katharinentaler Liedersamm‐ lung) 66-69, 502, 506 Genève, Bibliothèque de Genève, Ms. lat. 21 29, 40 Göttingen, Georg-August-Universität, Diplo‐ matischer Apparat, 10 E IX Nr. 18 449 Hamburg, Bibliothek der Patriotischen Ge‐ sellschaft, ohne Signatur 136 Heidelberg, Universitätsbibliothek., Cod. Pal. germ. 60 84 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 341 393, 396, 407, 414 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 368 131 Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cod. Pal. germ. 848 (Codex Manesse) (Manessehand‐ schrift, Manessesche …) 12, 20, 63, 64, 65, 76, 441, 443, 445, 446, 458 Jena, Universitäts- und Landesbibliothek, Ms. El. f. 101 (Jenaer Liederhandschrift) 63, 64, 73 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 93 130 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 97 312 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 145 91 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Lichtenthal 69 (Bůch von den heilgen megden und frowen) 145, 162, 163, 168, 169, 170, 171, 172 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 85 209, 212, 214-216, 223-225 Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, St. Peter perg. 102 209, 212-215 Kassel, Universitätsbibliothek / LMB, 2° Ms. poet. et roman. 21 101 Kassel, Universitätsbibliothek / LMB, 4° Ms. theol. 33 112 Klagenfurt, Landesarchiv, Cod. GV 6/ 19 50 Kopenhagen, Arnamagnæanske Institut, Cod. AM 372.2 136 London, Victoria and Albert Museum, Na‐ tional Art Library, MSL/ 1955/ 1810 (olim L 1810-1955) 450 Lübeck, Stadtbibliothek, Ms. Lub. 2° 4 136 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 705 (371 / G33) 453 Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1569 (615 / L27) 454 520 Register Melk, Stiftsbibliothek, Cod. 1865 (586 / L5) 453 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 133 450 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 252 126, 137 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 535 149, 152-156 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 536 149-156 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 572 116 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 818 455, 456 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5249/ 51a 80, 133 München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 9220 358 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660 und 4660a (Carmina Burana) 63 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 8107 33 >München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 17212 54 München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 147 78 München, Universitätsbibliothek, 2° Cod. ms. 731 (Cim. 4) (Würzburger Liederhandschrift; Hausbuch des Michael de Leone) 76, 78, 128, 339, 345, 346, 347, 352, 444, 446 München, Universitätsbibliothek, Cim. 102 (früher 2° Cod. ms. 688) 18, 75-77, 80, 84-88, 90, 91, 93-96, 502 New Haven (Conn.), Yale University, Bein‐ ecke Rare Book and Manuscript Library, MS 968 67 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. IV, 40 451, 459 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. IV, 93 468 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. V, 28 462 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 43 d 472 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 53 461, 463, 466, 467, 468, 473, 474, 477 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 56 475 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 57 461, 462, 464-468, 477 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 58 469 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 59 461-463, 467, 473-477 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 81 461, 463 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VI, 100 463, 467, 473, 474, 476, 477 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII, 25 464 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII, 79 464 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Cent. VII, 92 464, 478 Nürnberg, Stadtbibliothek, Cod. Will II, 19.8° 477 Oxford, Bodleian Library, MS 342 54 Oxford, Bodleian Library, MS Junius 25 40 Oxford, Bodleian Library, MS Laud Misc. 479 451 Rom, Biblioteca Casanatense, Ms. 1409 312 Rostock, Universitätsbibliothek, Mss. theol. 33 136 Salzburg, Stiftsbibliothek Nonnberg, Cod. 23 D 21 131 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 857 (Codex Sangallensis, St. Galler Epenhand‐ schrift) 122, 333 St. Pölten, Niederösterreichisches Landesar‐ chiv, Ständisches Archiv, Hs. 327 358 Solothurn, Zentralbibliothek, Cod. S 451 145 Strasbourg (Strassburg), Bibliothèque natio‐ nale et universitaire, Ms. 1 57 Strasbourg (Strassburg), Bibliothèque natio‐ nale et universitaire, Ms. 2119 134 521 Register Strasbourg (Strassburg), Bibliothèque natio‐ nale et universitaire, Ms. 2195 463, 468, 477 Stuttgart, Württembergische Landesbiblio‐ thek, Cod. brev. 88 457 Stuttgart, Württembergische Landesbiblio‐ thek, Cod. Donaueschingen 27 130 Stuttgart, Württembergische Landesbiblio‐ thek, Cod. HB XIII 1 (Weingartner Liederhand‐ schrift) 63 Stuttgart, Württembergische Landesbiblio‐ thek, Cod. theol. et phil. 4 o 216 Vorau, Stiftsbibliothek, Cod. 276 (Vorauer Handschrift) 18, 48-52, 53, 55, 57, 58, 76, 122 Washington (D.C.), Library of Congress, Ro‐ senwald Collection, ms. no. 4 (Süddeutsche Tafelsammlung) 339-341 Weimar, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Cod. Quart. 564 342 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 413 138 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2693 135 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2705 393-397, 402, 404, 407, 411, 412- 414 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2721 50 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2779 129 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2922 135 Wil (Kanton St. Gallen), Klosterarchiv St. Ka‐ tharina, Schwesternbuch 66, 67, 473, 474, 502, 506 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 15.2 Aug. 2° 125, 132, 133 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. 1066 Helmstedt 449 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 1.11 Aug. 2° 89, 97 Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf 41.1 Aug. 2° 29 Wrocław (Breslau), Biblioteca Uniwersy‐ tecka, Akc. 1948/ 208 89, 96 Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. Hist. 27 39 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 1 55 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 49 55 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 73 48, 52-56, 58, 59 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 95 55 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 285 55 Zwettl, Stiftsbibliothek, Cod. 293 55 Hans Mair von Nördlingen Buch von Troja 134 Harsdörffer, Georg Philipp 258, 259 Hartlieb, Johannes 237 Hartmann von Aue 243, 306 Erec 241, 306, 311, 326, 358, 372 Iwein 129, 199, 342 Haunsperger, Agathe (Äbtissin) 131 Hektor (Hector, Ector) 88, 430 Die Heidin 129 Der Heiligen Leben, Redaktion 18, 143-159 Heinrich II. (röm.-dt. Kaiser, Heiliger) 171 Heinrich II., König von England 324 Heinrich III. (röm.-dt. Kaiser) 431 Heinrich III. von Rappoltstein, Freiherr 316 Heinrich Anselm von Ziegler und Klip‐ hausen 240 Heinrich Arnoldi 174 Heinrich von Bozen (Heiliger) 110 Heinrich von Langenstein Erkenntnis der Sünde 465, 468 Heinrich von Meißen, siehe: Frauenlob Heinrich von Morungen 363 Mir ist geschehen als einem kindelîne 364, 366 Heinrich von München Weltchronik 133 Heinrich von Neustadt Apollonius von Tyrland 237, 239, 247, 250, 335f. 522 Register Heinrich von St. Gallen Extendit manum-Passionstraktat 463, 474, 476 Heinrich von dem Türlin Diu Crône 129, 199 Heinrich von Veldeke 334, 336, 345 Eneasroman 131, 296 Heldenbuch Heldenbuch 1 (H1), Straßburg: Prüss, um 1484 194, 196-198, 200, 201 Heldenbuch 2 (H2), Augsburg: Schönsperger, 1491 193, 194, 198 Heldenbuch 3 (H3), Hagenau: Gran für Knob‐ loch, 1509 193, 194 Heldenbuch 4 (H4), Augsburg: Stainer, 1545 194 Heldenbuch 5 (H5), Frankfurt am Main: Han und Feyerabend, 1560 19, 191, 192, 193, 194, 196, 197, 199, 200, 202, 204 Heldenbuch 6 (H6), Frankfurt am Main: Feyer‐ abend, 1590 194 Heldenbuch-Prosa 193 Helena 333, 352, 426, 430, 431 Helias 344, 351 Heliodor 236, 238 Aithiopika 235, 237 Helvius Pertinax 82 Henneberg, Grafengeschlecht 113, 114 Henselin (Schreiber) 312 Herbort von Fritzlar Liet von Troye 131 Herder, Johann Gottfried 229, 233, 252 Hermann von Fritzlar 453 Hermann von Niederalteich (Abt) 138 Hermann von Sachsenheim 19, 366, 504 Die Mörin 356, 360, 361, 366 Das Schleiertüchlein 348 Des Spiegels Abenteuer 356, 367 Herodot 371 Herold, Johannes Basilius (Basler Histo‐ riker) 280 Herzelaude, Tochter des Grafen Gottfried von Fürstenberg-Haslach 316 Herzog Ernst 83, 116, 123, 229-233, 237, 245, 246, 247, 248, 250, 336, Hieronymus 31, 32, 34, 35, 84, 150, 151, 152, Ps.-Hieronymus 150, 158 Historia Apollonii 235, 236, 239 Historia septem sapientum 86 Historia von D. Johann Fausten 19, 232, 245, 246, 253, 253-269 Historienbibel 79, 82 f., 84, 92, 136 Hohelied 62, 70, 82, 163, 442, 476 Hohenack 316 Hohenwang, Ludwig (Drucker) 127 Holland, Johann Turnierreime 358 Holofernes (Olifern, Olofern, Olovernes, bibl. Figur) 338, 341, 350, 351, 352, 353 Holzschnitt 85, 87, 89, 90, 127, 182, 187, 191-193, 194, 197, 198, 200-204, 492, 506 Homer 217, 223, 234, 238, 337, 375 Ilias 371 Odyssee 234 Hondorff, Andreas Promptuarium Exemplorum 495, 497 Horaz 178 Hortus sanitatis 219 Hrabanus Maurus 30, 44, 52 Der Hürnen Seyfrid 197, 198, 204, 426 Huttich, Johann Collectanea antiquitatum 434 Iblis 352 Isidor von Sevilla 32, 153 Etymologiae 219 Iskar (Abt von Murbach) 28, 31, 40, 42 Ismael (Ismahel, bibl. Figur) 338, 352 Isolde (Ysotte) 335, 336 Ivo von Chartres 30 Iwein (Artusritter) 342 Jacobus de Voragine Chronica Januensis 144, 146 Legenda Aurea 143-146, 149, 150, 155, 157, 167-169 Jacopo de Strada 434 Jafet ( Japethos, Sohn Noahs, bibl. Figur) 429 523 Register Jean d’Arras 426 Jean de Berry, Herzog 272, 273, 277 Jean de Mandeville 357, 364, 365 Reisebeschreibung 123, 126, 134 Jesaja (Ysyas) 183, 187, 352 Johann der Beständige, Kurfürst von Sachsen 488, 491 Johann Friedrich I., Kurfürst und Herzog von Sachsen 488, 489, 491 Johann Egolph von Knöringen, Pfalzgraf 78 Johann von Rappoltstein, Freiherr 316 Johann Werner d.Ä. von Zimmern 276 Johann von Würzburg Wilhelm von Österreich 243 Johannes der Täufer (bibl. Figur) 344, 351, 353 Johannes de Rupescissa Vade mecum in tribulatione, dt. 134 Johannes von Hildesheim Historia trium regum, dt. 134 Johannes von Sterngassen, Dominikaner 223 Johannes von Tepl Der Ackermann aus Böhmen 127 Johannes von Zimmern 282 Jordanes (spätantiker Gelehrter) 426 Joseph ( Josef, bibl. Figur) 83, 344, 351, 353 Jovinianus (röm. Kaiser) 86 Judith (bibl. Figur) 50, 352 Justinian (röm. Kaiser) 82 Kaiser Octavian 196, 204 Kaiserchronik 49-52, 58, 75, 80, 81, 87, 91, 125 f., 129, 131, 132, 133, 135 f., 138, 236, 373, 374, 375 f., 381, 382 f., 386, 389 Kanake 336 Karl der Große (röm.-fränk. Kaiser) 80, 125, 341, 348, 352, 386 Karl IV. (röm.-dt. Kaiser) 87 Karlin, Elisabeth 464, 475 Karlmeinet 366 Kartäuserin, Margareta 463, 474, 476 Keiperin, Klara 466, 474 Keller, Gottfried 443, 445, 446, 458 Kirchhof, Hans Wilhelm 100, 104 Wendunmuth 104f., 110, 118 Köln 211, 227, 323, 426, 429, 432, 448, 450, 458 Königsfelder Chronik 283 Konrad IV., König 283 Konrad von Stoffeln Gauriel von Muntabel 359 Konrad von Würzburg 54, 65, 250 Trojanerkrieg 244 Konstantin der Große (röm. Kaiser), auch: Kung constantin 80, 150, 151, 164, 348, 352 Konstanzer ‚Haus zur Kunkel‘ 340 Konstanzer Fresken 339f., 346, 347, 352 Kraus, Karl 333 Kriemhild 198, 333 Kulturelles Handeln 175 Kunigunde (Gattin Kaiser Heinrichs II.) 171 Lamprecht Alexander 373 Lancelot en prose 312 Landsperger, Volk (Schreiber) 134 Lanzelet 296, 363 Laurin 193, 194, 198 Legendar von Bödekken 147 Lehrsystem der deutschen Mystik (Compilatio mystica) 212, 213, 224, 228 Lelio Capilupi Centones ex Virgilio 220 Leopold (Propst von Vorau) 51 Libri Beati Cecilij Cipriani 32 Liederbuch der Anna von Köln 65, 69-72, 73 Liemet 342, 343, 350, 353 Lirer, Thomas 77, 78, 79, 87 f., 92 Liturgisch 30, 64-66, 68, 72, 73, 150, 152, 158, 173, 272, 450 Livius, Titus Ab urbe condita 32, 484 Lob Salomons 51 Locher, Jakob 180-182 Stultifera navis 180-189, 504f. von Lohenstein, Daniel Casper 240 Losbuch 127 Lotman, Jurij 230 Lucan Bellum civile 29 524 Register Lucidarius 78, 79, 84 f., 91, 92, 126, 127 Lucius Accommodus (Commodus), röm. Kaiser 374, 375 Ludolf von Sudheim Reisebuch 126 Ludovico de Varthema 204 Ludwig I. der Fromme, röm.-frk. Kaiser 80, 386 Ludwig II. der Deutsche, König des Ostfranken‐ reichs 40, 82 Ludwig II., König von Böhmen und Ungarn 492 Ludwig I., Graf von Württemberg-Urach 357 Lukas (Evangelist) 81, 420 Lukian 236 Lukrez De rerum natura 32 Lunete (Lunet) 342, 343, 366 Luneten Mantel 342 Luther, Martin 19, 64, 159, 173, 261-267, 283, 486-489, 491, 496, 503 Kommentar zum Buch des Propheten Jona 264 Wider Hans Worst 266f. Luther, Martin und Philipp Melanchthon Deuttung der zwo grewlichen Figuren Bapste‐ sels zu Rom vnd Munchkalbs zu freyberg jn Meyssen funden 486 Magnificat 62 Magnum nomen domini (Lied) 69 Malcolm I., König von Schottland 426, 428 Manderscheid-Blankenheim, Grafenge‐ schlecht 130 Manesse, Johannes 331, 446 Manesse, Rüdiger II. 331, 441, 443, 444, 446, 452, 505 Manessier Troisième Continuation (Conte du Graal) 313-316, 320, 325 Manlius, Johannes Libellus medicus variorum experimen‐ torum 102 Der Mantel 326 Manutius, Aldus Pius (Drucker) 434 Map, Walter 324 Mardach, Eberhard 467 Margarethe von der Pfalz, Herzogin von Loth‐ ringen 61 Margarethe von Österreich, Statthalterin der habsburg. Niederlande 273 Margarethe von Parsberg 359-360 Maria von Sachsen, Herzogin von Pom‐ mern-Wolgast 488 Marie de France Lai du chèvrefeuille 311, 326 Marliani, Giovanni Bartolomeo Antiquae Romae topographia 434 Marold, Dietrich 99-119 Marold, Ortolph 114 Marold, Vinzenz 106 Marquard von Lindau 457, 458 Martyrologium des Usuardus 148, 150 Martyrologium Hieronymianum 150, 151, 152 Mathesius, Johannes Historie, Von des Ehrwirdigen in Gott Seligen thewren Manns Gottes, Doctoris Martini Lu‐ thers 265 Matthäus (Evangelist) 420 Matthias von Burgau 279 Maximilian I. (röm.-dt. Kaiser) 486 Mechthild von der Pfalz 355 Mechthild von Magdeburg 71 ‚Meister des Lehrgesprächs‘ (sog.) Der menschen adel, val vnd erlösung 213 Meisterlin, Sigismund 26-29, 43, 44 Epistola de Tapecijs antiquis 27 Melanchthon, Philipp 179, 483, 486 Meljoth 337 Melusine 127, 192, 196, 197, 201-204, 426 Messerschmidt, Georg Brissonetus 250-251 Methusalem (Matusalem, bibl. Figur) 348, 353 Meyer, Johannes (Reformer) 68, 69, 464 Michael de Leone 76, 446 Hausbuch 78, 128, 339, 444, 446 Michell hal 85, 90, 91 Monachus, Robertus Historia Hierosolymitana 127 525 Register Mönch von Heilsbronn 465 Montanus, Martin 100, 480 Wegkürzer 103 Moritz von Hessen, Landgraf 106 Mosaiktraktate 209-228 Mülich, Georg 88, 90 Mülich, Hektor 88, 90 Murbacher Annalen 27 Murbacher Hymnen 40 Mussato, Albertino 219 Narr, Claus 110 Nas, Johannes Secunda Centuria 102 Neidhart 367 Neophyta (Heilige) 170 Nero (röm. Kaiser) 426, 430 Nibelungenklage 324 Nibelungenlied 333, 366 Nicolaus Cusanus 447, 455, 458 Niklas von Wyle 127, 358 Boccaccios Decameron 127 Niklasin, Kunigunde 464, 466, 474, 475 Nikolaus I., Stammvater des fürstl. Hauses Werle 427 Nikolaus von Dinkelsbühl 84, 453 Nikolaus von Landau 455-457 Noah 371, 377, 388, 423, 424, 427, 429, 432 Notker III. von St. Gallen 40 Novalis (Georg Philipp Friedrich von Harden‐ berg) 240 Nun suesse lieff al eynich (Lied) 69 Nunc dimittis 62 Obsequens, Julius 484 Odysseus (Ulysses) 231, 247 Offa von Mercien 430 Ordinarium juxta ritum sacri ordinis fratrum praedicatorum 213 Origenes 32, 34, 38 De principiis 323 Ortnit 129, 193-198 Osiander, Lucas d. Ä. Ableinung Der Lugen / Verkerungen vnnd Loͤs‐ terungen 102-103 Oswald von Wolkenstein 344, 345, 348, 351, 353 Otto II. von Mosbach-Neumarkt 359 Otto von Diemeringen Jean de Mandeville, Reisebeschreibung 123, 126, 134, 365 (dt. Übersetzung) Otto von Freising Gesta Friderici imperatoris 49 Ottokar III., Markgraf 49-50 Ottokar aus der Gaal 372, 392 Buch von Akkon 373, 378-381, 383-385, 389, 390-391 Steirische Reimchronik 344, 373 Ovid 102, 176, 177, 178, 250, 336, 339 Oxford 54, 122, 324 Paris 334, 348, 387, 426, 431, 447, 453, 457 Parzival 338, 350 Passio Gallicani 164 Passional 146, 147-149, 155 Pauli, Johannes Schimpf und Ernst 100, 110 Paulinus von Mailand Vita Ambrosii 155 Paulus (Heiliger) 216, 223, 409 Persius Flaccus, Aulus 186 Petrarca, Francesco 110, 112, 219, 220 Petri, Adam (Drucker) 173, 451, 452 Petrus Perleon 493 Peuger, Lienhart 211, 450, 453, 455, 457, 458 Von der sel wirdichait vnd aigenschafft 450 Peutinger, Konrad 434 Philipp I., Herzog von Pommern-Wolgast 488 Photios 236 Phyllis 336, 352 Piemont 323 Pierdomenico de Boane 110 Pilatus, Pontius 429 Pilatus-Legende 126 Pine, Samson 312 Pippin, Vater Karls des Großen 82, 87 Polethicon 178, 180 Polixena 352 Polo, Marco Reisen 126 526 Register Pomian, Krzysztof 62, 114, 115, 296, 297 Pompeius, Gnaeus Magnus (Pompejus) 249 Pontianus (Vater des röm. Kaisers Diocle‐ tian) 86 Predigt 33, 56, 86, 121, 135, 138, 169, 212, 214- 217, 219, 223-227, 255, 262-263, 265, 335, 424, 442, 447-453, 455-460, 465-466, 474-475, 497-498 Première Continuation (anonyme Fortsetzung des Conte du Graal) 313 Primasius (afrikan. Bischof) 32, 34 Proba, Faltonia Betitia (christl. Dichterin des 4. Jhs.) 219 Probus, Marcus Valerius (Grammatiker) 434 Prosakaiserchronik 79-82, 86, 91-92, 125-126 Prosa-Lancelot 312, 315-316, 319-327, 331 Prosper Aquitanus 32-34, 38 Proverbia Salomonis 185, 187 Prozessbüchlein 126 Prudentius 164, 178 Psalmen 54-55, 62, 64, 488 Pseudoclementinen 237 Puer nobis nascitur 69 Püterich von Reichertshausen, Jakob 19, 355- 368, 503 Pyramus 336 Quiccheberg, Samuel 274 Rab, Georg (Drucker) 197 Rabelais, François 20 Gargantua 415-421, 423, 425, 427, 431-433, 436 Pantagruel 417, 420-423 Tiers livre 419 Rabenschlacht 129 Raphael Volaterrenus (Raffaele Maffei da Vol‐ terra) 427 Rappoltstein (Hohen-Rappoltstein) 316 Rappoltsteiner Parzifal 19, 244, 312-317, 319, 320, 324, 326, 328, 330, 331 Rather von Verona Predigten 219 Reformulierung 153, 157, 181 Regenbogen, Liedstrophen in seinen Tönen 341-343, 350, 353 Regula 161-172 Reichenauer Gedenkbuch 39 Reichenweier 316 Reihenpredigten zu Io 14-15 262, 263, 265 Reihenreden in Wien, Österr. Nationalbibl., Cod. 2705 396, 405, 412, 413 A 1-9 / Moe 11 Vom heiligen Geist 394, 404, 413 A 51 / Moe 45 + 46,I Die Äffin und die Nuss 394 A 73 / Moe 3 Die Frauenehre 402, 412 A 86a / Moe 81 Von der Hoffart 413 A 95 / Moe 86 Ehemanns Rat 402, 412 A 111b / Moe 102 Mahnung zu rechtzeitiger Buße 402, 413 A 119 / Moe 110 Der untreue Knecht 403 A 120 / Moe 111 Die Geistlichen 413 A 124 / Moe 115 Die sieben himmlischen Gaben 404, 413 A 126 / Moe 117 Des Teufels Ammen 404, 413 A 130 / Moe 121 Die drei Gott verhasstesten Dinge 397, 404-407, 410, 412, 413 A 137 / Moe 128 Die vier Evangelisten 394, 404, 413 A 144 / Moe 135 Die sechs Versuchungen 404, 412, 413 A 147 / Moe 138 Der Wucherer 402, 413 A 149a / Moe 139 Die gerechten Schläge Gottes 402, 413 A 149b / Moe 140 Treue gegen Vater und Gott 402, 413 A 150 / Moe 141 Die sechs Teufelscharen 397, 407-411, 413 A 165 / Moe 158 Die Klage 397-402, 412 A 196 / Mihm FdwR 6a Vier Lügen 404, 413 A 269 / Moe 166 Die fünf teuflischen Geister 404, 407, 413 Moe 46,II Von Eseln, Gäuchen und Affen 413 Moe 141 Die sechs Teufelsscharen 393, 397, 407, 411, 413 527 Register Rosenhagen HHs 105 Die sechs Teufels‐ scharen 397, 407, 413 Reinfrit von Braunschweig 242, 246, 247, 250 Reinmar von Zweter 343 Reise ins Heilige Land 127 Rennewart 247, 383 Retractationum libri duo 33, 35 Ringwaldt, Bartholomäus Die Lautere Wahrheit 111 Rödinger d.Ä., Christian (Drucker) 483, 487 Roldmarsch Kasten 18, 99-119 de Ronsard, Pierre La Franciade 430 Rosengarten zu Worms 193, 198 Roxane 346, 352 Rudolf II. (röm.-dt. Kaiser) 220, 270, 274 Rudolf von Ems 246 Rudolf von Rotenburg 337 Rueff, Jakob (Zürcher Arzt) 486 Ruodlieb 234 Rüttel, Friedrich (Historiker) 280 Rützin, Barbara 474 Sachs, Hans 108, 110, 427 Der Jued mit den dreyen ringen 108 Sachsenspiegel 366 Sächsische Weltchronik 134, 136 Salisbury 315, 316 Salomon (Saloman, Salomo, bibl. Figur) 50, 51, 62, 82, 83, 92, 112, 133, 334, 336, 337, 338, 350, 351, 352, 353, 406, 475 Salusca 352 Salutati, Coluccio 219 Salzburger Domkapital 51 Samson (Sampson, bibl. Figur) 348, 350-353 St. Florian in Niederösterreich 51 St. Katharinentaler Schwesternbuch (St. Kathari‐ nentaler (früher: Diessenhofener) Schwestern‐ buch, St. Katharinentaler Liederbuch) 65, 66- 69 Sarayna, Torellus (Historiker) 434 Schertz mit der Warheyt 103, 107, 109, 111, 112, 113 Schiltberger, Hans Reisebuch 134 Schlegel, Friedrich 240 Schreiberin, Kunigunde 471, 474 Schumann, Valentin 104 Schwabenchronik 79 Schwabenspiegel 80, 125-126 Schwäbische Chronik 77, 87-88 Sechs Fragen vnd Antwort. Von allen Christlichen Bergwercken 102 Seckau, Augustiner-Chorherrenstift 49, 51-52 Secundus (Philosoph) 341, 352 Selbsterkenntnis 111, 173, 174 Seneca 183, 187 Seuse, Heinrich 70, 447 Vita 221-222 Die sieben weisen Meister 78, 85-87, 91, 92 Sigimar (Abt von Murbach) 39 Smaragdus von St. Mihiel 30, 44 Soane, John 355 Solis, Virgil 200 Somnium Scipionis 425 Spamers Mosaiktraktate 209-228 Speculum humanae salvationis 127 Spiegel der Seele 211, 224 Stagel, Elsbeth 221, 447 Stagl, Justin 115 Steinhöwel, Heinrich 107, 109, 110, 111 Griseldis 127 Von den synnrychen erlúchten wyben 127 Straßburg 67, 214, 279, 316 Straßburger Alexander 232, 237, 246, 247 Straßburger Chronik 427 Der Stricker 394, 395, 398, 402, 404, 407 Stumpf, Johannes 427 Sudermann, Daniel 68, 455, 457 Summarium Heinrici 138 Tacitus, Publius Cornelius Annalen 272 Tauler, Johannes 67, 68, 451, 452, 455, 457, 465 Tertullian 219 Theatrum 275, 281, 418 Thisbe (Tyswe) 176, 336 528 Register Thomas von Aquin 30, 321, 474, 475 Summa theologiae 51 Thomas von Cantimpré 245 Thomasîn von Zerclære 244 Thüring von Ringoltingen 359 Melusine 127, 203 Tiberius (röm. Kaiser) 82, 86 Tiroler Christenspiegel 131 Toledo 323 Toscanella, Orazio (Grammatiker, Lexikograph und Übersetzer) 434 Tristan (Tristram, Tristrand) 311, 326, 336, 348, 335 Tristrant und Isalde 204 Trithemius, Johannes 173-175, 179, 187 Troilus 348 Tucher, Endres 472 Tucher, Katharina 20 Offenbarungen 461-478 Tuchersches Memorialbuch 462, 472 Udo von Magdeburg (Legende) 131 Ulrich von Etzenbach Alexander 237, 239, 242, 247 Ulrich von Gutenburg 334, 346 Ulrich von Rappoltstein, Freiherr 316, 319 Uns ist geborn ein kyndelyn (Lied) 69 Uslingerin 472 Usuardus 148, 150 Väterbuch 145, 167 Vedius Pollio 272 Velser, Michel 126 Venturin von Bergamo 469 Venus 175, 348, 360, 366, 426, 430 Vercelli 323 Vergil (Virgil, Virgilius) 32, 45, 178, 181, 217, 218, 220-224, 227, 247, 337, 338, 350-353 Aeneis 32, 44, 181, 371 Bucolica 32 Georgica 32 s.a.: Appendix Vergiliana 32 Vespasian, röm. Kaiser 82 Vico, Enea (ital. Kupferstecher) 434 Vinzenz von Beauvais 245 Speculum historiale 134 Vita Christi 89 Vita S. Pauli primi eremitae 215 Von dem überschalle 215, 216 Vorau, Augustiner-Chorherrenstift 48, 51 Vorauer Alexander 373, 376, 382 Vorauer Bücher Mosis 51 Vorauer Sündenklage 48, 52, 53, 56, 57 Wagnerbuch 251 Walahfrid Strabo 39 Walter von Châtillon Alexandreis 234 Wauchier de Denain Deuxième Continuation (Conte du Graal) 313, 314, 315 Wenzel, König von Böhmen 344, 358 Werle, fürstliches Haus in Mecklenburg 427 Meister Wichwolt Cronica Allexandri des grossen konigs 134 Wick, Johann Jakob 285 Wickram, Georg ( Jörg) 110, 177, 480 Ritter Galmy 204 Rollwagenbüchlein 101, 103, 104, 110, 118, 481 Wirnt von Grafenberg Wigalois 199, 276, 296, 366 Der Wilde Alexander 333 Wilhelm IV., Graf von Henneberg-Schleu‐ singen 113 Wilhelm von Kyerwilre, Deutschordens‐ ritter 131 Wilhelm Werner von Zimmern 273, 276, 277, 278, 279, 280, 284, 289 Winkelried, Arnold 429 Wisse, Claus Rappoltsteiner Parzifal 19, 244, 312, 313, 314, 315, 316, 317 Wittenwiler, Heinrich 245, 246, 341 Der Ring 246, 341 Wolf, Hieronymus 425 Wolfcangus (Schreiber) 49 Wolfdietrich 192, 193, 195-199, 201 529 Register Wolfhart, Konrad (genannt Lycosthenes) 484, 492 Wolfram von Eschenbach 19, 242, 243, 253, 297, 333, 336, 337, 362 Parzival 19, 199, 276, 293-301, 306, 307, 308, 312-315, 317, 319, 324, 325, 329, 330, 336, 337, 339, 340, 344, 352, 353, 367, 372, 504, 506 Titurel 295, 357 Willehalm 293, 295, 333, 336, 366, 373, 375, 377, 378, 380, 381, 383, 385, 386, 388, 390, 504 Würfelbuch für Liebende 127 Xerxes (Zirus, pers. König) 371 Zabulon (Savilon) 247 Zainer, Günther (Drucker) 89, 90, 97 Zainer, Johann (Drucker) 89, 90, 97 Zaleucus 86 Zeno, röm. Kaiser 382 Zettelkasten 179, 246, 250 Zschorn, Johannes 237, 238 Zwettl, Zisterzienserstift 48, 52, 55 530 Register ISBN 978-3-7720-8748-6 ISBN 978-3-7720-8748-6 Die im Band vereinten Beiträge untersuchen das Phänomen des Sammelns als grundlegende Voraussetzung sozialer und kultureller Entwicklung in literarischen Textzeugnissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei gerät ein breites Spektrum an Texten, Gattungen, Diskursen und kulturellen Umfeldern in den Blick. Schwerpunkte bilden die in mittelalterlichen Handschriften erkennbaren Sammelpraktiken, das Aufzählen und Anhäufen als literarische Themen sowie das Sammeln literarischer Texte als kulturelle Praxis. Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit XXVI. Anglo-German Colloquium Ascona 2019 Mark Chinca · Manfred Eikelmann Michael Stolz · Christopher Young (Hrsg.) XXVI. Anglo-German Colloquium Ascona 2019 Sammeln als literarische Praxis im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit