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Kritisches Denken

2021
978-3-8233-9197-5
Gunter Narr Verlag 
Ulrike Job

Kritisches Denken ist ein zentrales Werkzeug geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Eigenes Urteilsvermögen zu stärken und kritisches Denken zu wagen, gehört zu den wichtigsten übergeordneten Zielen eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Diese Metakompetenz verleiht speziellen Kompetenzen erst ihren Sinn. Die Beiträge aus verschiedenen Disziplinen gehen der Bedeutung dieser unverzichtbaren Fähigkeit für Geisteswissenschaftler:innen nach und zeigen auf, welche Ausprägungen kritisches Denken in den Geisteswissenschaften disziplinspezifisch annehmen kann.

Kritisches Denken Verantwortung der Geisteswissenschaften C H A L L E N G E S # 3 Ulrike Job (Hrsg.) Kritisches Denken Challenges for the Humanities Herausforderungen für die Geisteswissenschaften herausgegeben von Gabriele Alex, Anya Heise-von der Lippe, Ingrid Hotz-Davies, Dorothee Kimmich, Niels Weidtmann, Russell West-Pavlov Band 3 C H A L L E N G E S Ulrike Job (Hrsg.) Kritisches Denken Verantwortung der Geisteswissenschaften © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de CPI books GmbH, Leck ISSN 2568-4019 ISBN 978-3-8233-8197-6 (Print) ISBN 978-3-8233-9197-5 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0321-3 (ePub) Umschlagabbildung: Graffiti, North Fitzroy, Melbourne, Australia 2006. Foto: Russell West-Pavlov Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® 7 17 31 71 93 109 125 141 161 181 Inhalt Ulrike Job Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Recki Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kristin Bührig Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Berns und Paul Hamann-Rose Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft - Pigoons und andere Gentechnische Visionen in Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake . . . Inke Gunia Kritisches Denken im Kontext der Zensur: am Beispiel einer Druckschrift aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) . . . . . . . . . . . . . Martin Jörg Schäfer Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung am Beispiel der Hamburger Performance-Installation Söhne & Söhne von SIGNA (2015) . . Joan Kristin Bleicher Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen . . . . . . . . . . . . . . . Joan Kristin Bleicher Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Nikulka Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 217 231 251 Christoph Dartmann Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert . . . . . . . . . . Sonja Keller Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Schindler Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? Nachhaltigkeitsdiskurse im antiken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Renker Die Klassische Philologie in Bewegung - Überlegungen zum kritischen Potenzial einer Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Inhalt 1 Paul; Elder (2003). Kritisches Denken. Begriffe und Instrumente. 2 Kruse (2017). Kritisches Denken und Argumentieren. Eine Einführung für Studierende, 11. 3 Jahn (2012). Kritisches Denken fördern können - Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals, 124. Einleitung Ulrike Job Unsere globalisierte, mobile und beschleunigte Welt verändert sich durch Be‐ völkerungswachstum, schwindenden sozialen Zusammenhalt, durch Umwelt‐ zerstörung, Klimawandel und Pandemien in rasantem Tempo. Diese ‚grand challenges‘, aber auch Unwägbarkeiten in individuellen Lebensentwürfen, ver‐ ursachen Unsicherheiten. Sie drücken sich u. a. in Fake News, alternativen Fakten, politischen Wutreden oder Verschwörungserzählungen aus. Um solche Desinformationen kritisch prüfen zu können, Tatsachen von Fälschungen, Irrtü‐ mern und Meinungen unterscheiden und die Konditionen unseres Zusammen‐ lebens aushandeln zu können, muss die Welt gut verstanden werden. Kreativität und neue Denkansätze sind dafür nötig. Aber vor allem das Vermögen zu kritischem Denken ist letztendlich die Grundlage für die eigene Beurteilungs‐ möglichkeit und eine mündige, gestaltende Bürgerschaft in unsicheren Zeiten. Kritisches Denken ist „jene Art des Denkens (gültig für alle Gegenstände, Inhalte oder Probleme), bei der eine Person die Qualität ihres Denkens steigert, indem sie es sich zur Pflicht macht, die inhärenten Strukturen des Denkens sachkundig zu befolgen und sie an intellektuellen Normen zu messen.“ 1 Diese Definition macht deutlich, dass wir im kritischen Denken Selbst-Verantwor‐ tung für die Qualität unseres Denkens übernehmen und Kriterien geleitet unsere Denkgewohnheiten überprüfen, 2 dabei Angemessenheit, Reichweiten und Grenzen reflektieren 3 . Kritisches Denken gilt als eine zentrale menschliche Fähigkeit, eigene und fremde Annahmen herauszuarbeiten, sie im Hinblick auf Richtigkeit und Gültig‐ keit zu hinterfragen, anschließend Alternativen zu suchen, um den Denkrahmen 4 In diesem Sinn nach Brookfield (2012) Teaching for Critical Thinking. Tools and Techni‐ ques to Help Students Question Their Assumptions. Aber auch intuitive Entscheidungen gelten in bestimmten Lebenssituationen als überlegener Denkstil, der nicht unbedingt zu schlechten Ergebnissen führen muss. 5 Rauning (2008). „Was ist Kritik? Aussetzung, Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“. 6 Facione (1990). Critical Thinking: A Statement of Expert Consensus for Purposes of Educational Assessment and Instruction. größer und vollständiger zu fassen und auf dieser „vor-gedachten“ Grundlage informierter handeln und entscheiden zu können. 4 Umgangssprachlich verwenden wir ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ oft im Sinne einer häufig intuitiven und ausschließlich negativen Beurteilung, einer Abwer‐ tung, Beanstandung oder Bemängelung. Wenn man aber nach der Wortherkunft schaut, so ist der ursprünglich griechische Begriff aus dem Verb κρίνειν krínein abgeleitet, das ‚(unter-)scheiden, entscheiden, beurteilen‘ bedeutet. Und so ist der korrekte Sprachgebrauch von ‚Kritik‘ und ‚kritisieren‘ eine Beurteilung nicht nur nach Unwert, sondern vor allem nach dem Wert. Kritik und kritisieren ist dann nicht das intuitive Ergebnis einer ablehnenden Haltung, sondern viel mehr das Vermögen, Eigenschaften, Argumente, behauptete Tatsachen, Fakten, aber auch Vermutungen, Hypothesen aus verschiedensten Blickwinkeln, nach Wert und Unwert, nach richtig und falsch, nach Glauben und Wissen informiert zu prüfen und den Geltungsbereich der Beurteilung zu erörtern. Grundlage für kritisches Denken ist das selbstständige und umfassende Nachforschen und Überprüfen von Informationen unabhängig von der eigenen favorisierten Meinung, d. h. ohne Suche nur von Informationen, die der eigenen Meinung entsprechen, bzw. Vernachlässigung solcher, die der eigenen Position entgegengesetzt sind. Eine in diesem Sinne kritische Haltung − verbunden mit intensiver und vollständiger Prüfung und Beurteilung aus verschiedensten Blickwinkeln − nimmt Gegebenes nicht hin, sondern bewahrt hoffentlich vor Täuschung und Irrtum. Sie eröffnet aber auch Neues in der eigenen Urteilsbil‐ dung. Somit ist Kritik ein produktiver Prozess der Neuzusammensetzung. 5 Kritisches Denken ist nicht nur eine Methodenfähigkeit der „bewusste(n), selbstregulative(n) Urteilsbildung, welche Interpretation, Analyse, Bewertung und Schlussfolgerung beinhaltet“ 6 , sondern es ist auch eine Haltung, eine Persönlichkeitseigenschaft: Man muss kritisches Denken für notwendig halten, sensibel und selbstverantwortlich bereit dafür sein. Wichtig sind die Grundein‐ stellung und Erkenntnis, dass man nie sicher wissen kann, was „wahr“ ist. Man könnte annehmen, dass es in der menschlichen Natur liegt, kritisch zu denken. Kritisches Denken als Methodenfähigkeit und als persönliche Bereit‐ schaft entwickeln sich jedoch nicht automatisch, sondern müssen in diskursiven 8 Ulrike Job 7 European Qualifications Framework (EQF) (2008). Descriptors. 8 Jahn (2012) entwirft einen innovativen theoretischen Rahmen für ein didaktisches Konzept, um pädagogische Professionals in der Förderung kritischen Denkens zu unterstützen. Die methodische Aufschlüsselung in Kernelemente kritischen Denkens ist Kruse (2017) vorbildhaft gelungen. Prozessen erlernt und eingeübt werden, sonst bleibt es ungeschult und voller Vorurteile. Damit kommt insbesondere Erziehungs- und Bildungseinrichtungen eine hohe Verantwortung zu, sich der Herausforderung zu stellen, junge Men‐ schen in der Entwicklung von kritischem Denken zu unterstützen, damit sie selbstbestimmt, verantwortlich und zukunftsorientiert in allen möglichen Be‐ reichen des öffentlichen wie persönlichen Lebens handeln können. Somit muss kritisches Denken auch als anerkanntes Ziel von Hochschullehre in Haltung und als Methode ausgebildet und trainiert werden. Kritisches Denken ist ein Markenzeichen, eine zentrale Eigenschaft in der Wissenschaft. Es ist Grundlage für eine skeptische, gründliche und Ergebnis offene, wissenschaftliche Arbeitshaltung und gilt als bestakzeptiertes Lernziel in allen Wissenschaftsdisziplinen 7 . Oft wird es implizit durch vorbildliches Nach‐ ahmen vermittelt, eher weniger explizit mit einem Metablick und systemischem Wissen als Methode erläutert 8 . Wissenschaft hat eine aufgeklärte Sicht auf Wahrheit: Sie produziert An‐ näherungswissen und muss häufig mit widersprüchlicher Evidenz umgehen. Guter Standard für den Umgang mit Wahrheit bzw. Annäherungswissen ist aber der Anspruch auf dessen Überprüfbarkeit und Nachvollziehbarkeit. Wis‐ senschaftler*innen müssen ihre Quellen offenlegen und so argumentieren, dass ihre Annahmen nachvollziehbar sind. In der Wissenschaft ist Kritik im Sinne einer kritischen Haltung Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens und dient der gründlichen Prüfung des zu untersuchenden Objekts bzw. des Sachverhaltes im Hinblick auf dessen Einwandfreiheit, Vollständigkeit, Widerspruchsfreiheit, Vorverständnis sowie auf dessen positive wie negative Merkmale. Denn alles, was wir − insbesondere in der Wissenschaft − zu wissen glauben, steht unter Vorbehalt, niemand kennt die endgültige Wahrheit. Die Geisteswissenschaften ermöglichen mit vielen Einzeldisziplinen, die Welt in ihren kulturellen Ausprägungen (Sprache, Literatur, Kunst, Kultur, Medien, Religionen, Weltanschauungen usf.) besser zu verstehen. Als großer Wissens-, Diskurs- und Reflexionsraum von und über Kultur dienen sie der kulturellen Selbstvergewisserung und bieten eine wissenschaftliche Bedeutungslehre von Kultur, in dem sie das, was Kultur offenbart, untersuchen. In der wissenschaft‐ lichen Auseinandersetzung mit ihren Untersuchungsobjekten ist kritisches 9 Einleitung 9 Kunze (2020). „(Geistes-)Wissenschaft - online und präsent“. 10 Pörksen (2016). „Wissenschaft: Die postfaktische Universität“. Denken das Kerngeschäft der Geisteswissenschaften, das als Haltung und Methode diskursiv ausgehandelt und in betreuter Übung trainiert wird. Durch Lesen, Schreiben und Diskutieren werden wissenschaftliche Um‐ gangsformen eingeübt, wie in den jeweiligen Einzeldisziplinen das Weltver‐ stehen der Geisteswissenschaften funktioniert. „Mit diesem Ansatz von „doing science“ werden Studierende in vielen kleinen vorantastenden Gedanken‐ schritten zu urteilsfähigem Selbstdenken herangebildet.“ 9 Die vorliegenden Beiträge in diesem Sammelband sind aus Vorträgen einer Ringvorlesung zum Thema „Kritisch denken in den Geisteswissenschaften“ ent‐ standen, die im Sommersemester 2017 in der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Hamburg stattgefunden hat. In dieser Ringvorlesung haben die Vortragenden geisteswissenschaftliche Deutungs- und Erkenntnisprozesse exemplarisch nachvollzogen, um dazu beizutragen, den Unterschied zwischen überprüfbarem Argumentieren und leichtfertigen Behauptungen aufzuzeigen und Teilnehmer*innen der Ringvorlesung für kritisches Denken tiefer zu sensi‐ bilisieren. Sicher war der Anstoß für das Thema ‚kritisch denken‘ das weltpolitisch auf‐ regende Jahr 2016, in dem der Begriff ‚postfaktisch‘ zum Wort des Jahres gekürt wurde. Da stellte sich die Frage, ob und was wir Geisteswissenschaftler*innen dieser anti-aufklärerischen Haltung entgegenzusetzen haben. Denn, wie Bernhard Pörksen vor einiger Zeit in der ZEIT treffend feststellt, reicht es heute nicht mehr aus, „aufzuklären, indem man Wissen bereitstellt. Notwendig geworden ist eine Aufklärung zweiter Ordnung, die neben der Vermitt‐ lung von Inhalten systematisch auch über die Prozesse ihres Zustandekommens informiert (…).“ 10 Den spannenden Auftakt für den Sammelband macht BIRGIT RECKI (Philo‐ sophie) mit einer grundlegenden Klärung des Methodenbegriffs ‚Kritik‘. An die in der Frankfurter Schule und deren Kritischer Theorie angeprangerte Lebensform der Unmündigkeit knüpft Recki an, um uns mit Kants einflussrei‐ chen Gedanken zur Methode der Kritik vertraut zu machen: Als Philosoph der Aufklärung ermutigt Kant den mit Vernunft ausgestatteten Menschen, seinen ei‐ genen Verstand zur Erkenntnisgewinnung zu nutzen und sein Urteilsvermögen nicht von außen, also etwa von gesellschaftlichen Verhältnissen, abhängig zu machen, um sich so aus (selbstverschuldeter) Unmündigkeit mit eigener Kraft eigenverantwortlich zu befreien. Jedoch: diese aufklärerische Kritikvorstellung 10 Ulrike Job unterliegt in der heutigen Zeit mit suggestiver und manipulierender Informati‐ onspolitik weitaus herausfordernden Bedingungen als noch zu Kants Zeiten. KEVIN DREWS, SANDRA LUDWIG, ANDREA RENKER, FRIEDERIKE SCHÜTT und ANN-KATHRIN HUBRICH (Doktorandenkolleg Geistes‐ wissenschaften) bieten in fünf Facetten Reflexionen dazu, was Fragen als me‐ thodische Vollzugsformen von kritischem Denken in den Geisteswissenschaften leisten. Kevin DREWS charakterisiert das Infragestellen als elementares Werk‐ zeug, um festgefahrene Vorstellungen zu lockern und neue Perspektiven zu ermöglichen. Sandra LUDWIG rückt den rechten Zeitpunkt des Fragens in den Fokus und betont die Relevanz der günstigen Gelegenheit als kritischen Faktor des Fragens, aber auch des Antwortens. Andrea RENKER hebt die Uneindeutigkeit geisteswissenschaftlicher Untersuchungs- und Befrageobjekte hervor und betont die Notwendigkeit in den Geisteswissenschaften, polyvalente Antworten auf die deutende Befragung eines Werks geben zu können und nicht auf letztgültige Antworten abzuzielen. Friederike SCHÜTT konzentriert sich auf die Relevanz, noch offen gebliebene Fragen zu entdecken und Fragelücken zu schließen. Ann-Kathrin HUBRICH schließlich beleuchtet die kritische Bildbetrachtung und unterstreicht die Wichtigkeit, die politische Bedeutung von Bildern in den Medien zu hinterfragen. An einem sprachkritischen Beispiel aus der Jugendsprache exemplifiziert KRISTIN BÜHRIG (Linguistik des Deutschen mit dem Schwerpunkt „Deutsch als Zweit- und Fremdsprache“) wie schwierig und erklärungsbe‐ dürftig hinweisende, deiktische Partikel im Deutschen für eine Anwenderschaft zu handhaben sind, die solche Partikel in ihrer Muttersprache nicht kennt. Da diese Partikel auf Sachverhalte verweisen, gestalten sie ganz besonders den Prozess des Wissensaufbaus und der Wissensverarbeitung. Sprachkritik als Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch sei − so argumentiert sie − ein dominanter Faktor für den Bildungserfolg und müsse daher fundiert an Hoch‐ schulen eingeübt werden. Nur so können zukünftige Lehrer*innen die sprach‐ liche Entfaltung und damit auch die Wissensentfaltung von Schüler*innen mit geringer Zweitsprachenkompetenz bzw. mit Migrationshintergrund bestmög‐ lich unterstützen. UTE BERNS und PAUL HAMANN-ROSE (Anglistische Literaturwissen‐ schaft) machen uns die methodischen Schritte des wissenschaftlich-kritischen Lesens deutlich, das sich nicht (nur) dem genussvollen Lesen hingibt, sondern geschult Mehrdeutigkeiten, Indizien für Tabuisiertes und opak transportierte Hinweise auf gesellschaftliche Verhältnisse aufdeckt. Ein so geschultes Lesen ermöglicht gesellschaftskritische Perspektiven auf die Welt und eröffnet Vor‐ 11 Einleitung stellungsräume, die zum Mit- und Weiterdenken einladen und den Blick auf die Welt erweitern. INKE GUNIA (Romanische Literaturwissenschaft) unternimmt an einer Druckschrift des argentinischen Erziehungsministeriums aus der Zeit der Mi‐ litärdiktatur eine kritische Schriftprüfung, um konkrete Repressionen in der damaligen Bildungspolitik sichtbar zu machen. Sie untersucht die Druckschrift textkritisch und gelangt so zu einem vertieften Verständnis dieses Textes, den sie uns als ein komplexes Superzeichen mit kontextueller Einbettung und einem intendierten Leser zugänglich macht. MARTIN JÖRG SCHÄFER (Germanistische Literaturwissenschaft) hebt am Beispiel der Kunstform ‚Performance‘ unter Beteiligung von Zuschauern auf die Funktion von Theater als einer ‚als-ob‘-Darstellung und damit Kritikmög‐ lichkeit unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens ab. Der wissenschaftliche Blick auf (theatrale) Darstellungs- und Erlebnisweisen unseres Zusammenle‐ bens macht nachvollziehbar, wie Theater die Grenzen und Möglichkeiten der jeweils individuellen Wahrnehmung schöpferisch aushandelt. JOAN BLEICHER (Medien-und Kommunikationswissenschaften) unter‐ sucht fernsehkritisch medieninterne Fernsehkritik. In einem fernsehgeschicht‐ lichen Senderrückblick stellt sie Sendeformate aus den Bereichen Information und Unterhaltung vor, die mit einer kritischen Von-Innen-Betrachtung ver‐ mitteln, wie Fernsehen durch Recycling und Sampling von Sendungen seine Position als Leitmedium an das Internet zu verlieren droht. Insbesondere in kabarettistischen Formaten erhält die ironische Selbstkritik einen neuen Un‐ terhaltungswert, die fortlaufende Sendungsbeobachtung und so entstehendes Wiedererkennungswissen des Publikums voraussetzen. JOAN BLEICHER (Medien- und Kommunikationswissenschaften) stellt ‚Filmkritik‘ als Mittel, sich mit Kunst auseinanderzusetzen und sich Kunst anzu‐ eignen, in das Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft. Sie hebt autodidaktisch betriebene Filmkritik mit subjektiven und durchaus unterhaltenden Geschmacksurteilen von einer wissenschaftlich basierten Film‐ bewertung ab, die zu ihrem Untersuchungsobjekt analytische Distanz hält, das Sehverhalten schulend zwischen Kunst und Trivialität unterscheidet und versucht, gesellschaftliche Schlüsselprobleme zu dechiffrieren. Ihre Wirkung ist bildungsbezogen und selbstaufklärerisch. FRANK NIKULKA (Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie) macht deutlich, dass die Archäologie, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften aus der Menschengeschichte befasst, nicht zu unumstößlichen Wahrheiten 12 Ulrike Job in Bezug auf die Vor- und Frühgeschichte gelangen kann und somit auf Rekonstruktionen und korrigierbare Hypothesenbildung angewiesen ist, die fortlaufend einer kritischen Prüfung unterzogen werden muss. Durch neue Funde werden zunächst gesicherte Ergebnisse wieder in Frage gestellt, machen alternative Deutungsansätze möglich und nähern sich der ‚Wahrheit‘ nur an. Mit dieser kritischen Grundhaltung übernimmt Wissenschaft hohe gesellschaftliche Verantwortung. CHRISTOPH DARTMANN (Mittelalterliche Geschichte) lädt uns zu einer kritischen Wahrnehmung des Mittelalters ein. Er hinterfragt populäre Klischees und vereinfachende Geschichtsbilder, die in Filmen und Fantasyromanen vermittelt werden, und stellt sie Ergebnissen fundierter wissenschaftlicher Mittelalterforschung entgegen. Damit zeigt er auf, welche Gefahren in der unkritischen Übernahme falscher Geschichtsbilder liegen, und unterstreicht das aufklärerische, kritische Potenzial der Geschichtswissenschaft. SONJA KELLER (Evangelische Theologie) zeigt auf, wie sich die theolo‐ gische Wissenschaft kritisch (i. e. wissenschaftlich) mit dem menschlichen Phänomen ‚Glauben‘ auseinandersetzt, mit dem sie nicht zu verwechseln ist. Die Theo-logie als ‚Rede von Gott‘ untersucht u. a. Bibeltexte als historische Dokumente mit philologischen Methoden der Schriftauslegung. Mit ihrer wis‐ senschaftlichen Durchdringung der Grundlagen, der Inhalte und des Vollzugs von christlichem Glauben schafft die Theologie eine wichtige Voraussetzung für den Dialog in unserer multiethnischen und religionspluralen Gesellschaft. CLAUDIA SCHINDLER (Klassische Philologie) hebt in ihrem Beitrag auf die Schulung kritischen Denkens durch kritisches Lesen von antiken Texten ab, die durch eine 2000-jährige intensive Rezeption Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden sind. In der Beschäftigung mit den zeitlich distanten „Klassikern“ können Vorstellungen der antiken Welt und deren mediale Ver‐ mittlung durch Literatur untersucht und mit heutigen Annahmen und deren Diskursen verglichen werden. Am Beispiel von Nachhaltigkeitsvorstellungen und -diskursen in zentralen Werken der antiken Literatur macht Schindler deutlich, dass eine kritische Lektüre von sogenannten Klassikern die Sensibili‐ sierung im Umgang mit manipulativen medialen Diskursen in der heutigen Zeit zu unterstützen vermag und sich bestens dazu eignet, aktuelle Nachhaltigkeits‐ diskurse kritisch hinterfragen zu können. STEPHAN RENKER (Klassische Philologie) beschließt diesen Sammelband mit einer wissenschaftskritischen Erkundung der Entwicklungsbereiche der deutschsprachigen ‚Klassischen Philologie‘. Dabei befragt er die Disziplin nach 13 Einleitung ihren grundsätzlichen Orientierungsbedingungen, um in der global vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts relevante Beiträge zur aktiven Bewältigung gesell‐ schaftlicher Herausforderungen leisten zu können. Er erhofft sich von seiner Disziplin eine hohe Bereitschaft zur Autointerrogation, verbunden mit einem neuen Gespür für offene Richtungswechsel. Sein Begriff von kritischem Denken imaginiert auf diese Weise Möglichkeitsräume, in denen Theorie (disziplinin‐ tern) und Politik (als Wechselwirkung zwischen Fach und Gesellschaft) gestal‐ terisch zusammenfließen. Der Sammelband möchte das Thema ‚kritisch denken‘ multiperspektivisch beleuchten und exemplarisch aufzeigen, mit welchen Forschungsanliegen und Methoden geisteswissenschaftliche Disziplinen arbeiten, um so der Verantwor‐ tung nachzugehen, kritisches Denken als unverzichtbaren Bestandteil von Wissenschaft für die Geisteswissenschaften selbst anzuwenden und Studierende durch Nachahmung zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung in und außerhalb der Hochschule zu befähigen. Literatur Brookfield, Stephen D. (2012). Teaching for Critical Thinking. Tools and Techniques to Help Students Question Their Assumptions. San Francisco, Jossey-Bass. Facione, Peter. A. (1990). Critical Thinking: A Statement of Expert Consensus for Purposes of Educational Assessment and Instruction - The Delphi Report. Millbrae, CA: California Academic Press. Jahn, Dirk (2012). Kritisches Denken fördern können - Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals. Aachen: Shaker Verlag. Kruse, Otto (2017). Kritisches Denken und Argumentieren. Eine Einführung für Studierende. Konstanz: UVK. Kunze, Rolf-Ulrich (2020). „(Geistes-)Wissenschaft - online und präsent“. In: Forschung und Lehre 8, 671. Internetquellen European Qualifications Framework (EQF) (2008), Descriptors. Official Journal of the European Union, 06.05.2008.https: / / eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do? uri= OJ: C: 2008: 111: 0001: 0007: EN: PDF (06.01.2021). Paul, Richard; Elder, Linda (2003). Kritisches Denken. Begriffe und Instrumente. Ein Leitfaden im Taschenformat. Stiftung für kritisches Denken. https: / / www.criticalthin king.org/ files/ german_concepts_tools.pdf (06.01.2021). 14 Ulrike Job Pörksen, Bernhard (2016). „Wissenschaft: Die postfaktische Universität“. ZEIT Campus, 15.12.2016 http: / / www.zeit.de/ 2016/ 52/ wissenschaft-postfaktisch-rationalitaet-ohnm acht-universitaeten (06.01.2021). Rauning, Gerald (2008). „Was ist Kritik? Aussetzung, Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“. transversal texts, 27. Juli 2018. https: / / transversal.at/ transv ersal/ 0808/ raunig/ de (06.01.2021). 15 Einleitung 1 Horkheimer; Adorno (1947). Dialektik der Aufklärung; Horkheimer (1967). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft; Adorno (1951). Minima Moralia; Ders. (1966). Negative Dialektik. 2 Adorno (1970). Ästhetische Theorie. - Siehe auch Recki (1984). Aura und Autonomie. Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“: Was heißt heute Aufklärung? Birgit Recki Kritische Theorie Wenn heute in den Geistes- und Sozialwissenschaften von Kritik und kriti‐ schem Denken die Rede ist, dann darf der Hinweis auf eine Richtung des gesellschaftskritischen Denkens nicht fehlen, die auf die Zeit Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgeht: die Kritische Theorie der Gesellschaft. Mit der Aufnahme der Leitmotive im Denken von Karl Marx und dessen Kronzeugen Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat sie sich die konsequente Kritik aller Formen von Herrschaft und gesellschaftlicher Entfremdung zum Programm gemacht. Unter dem Namen Frankfurter Schule sollte sie eine der wirkungsmächtigsten Varianten des Marxismus im 20. Jahrhundert werden. Die Namen ihrer philosophischen „Gründerväter“ Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sind - mit Titeln wie Dialektik der Aufklärung, Kritik der instrumentellen Vernunft, Negative Dialektik, 1 aber auch mit der Ästhetischen Theorie (dem letzten, posthum veröffentlichten Werk Adornos, in dem die Kunst zur letzten Instanz der Gesellschaftskritik in einem aussichtslos verstellten Zustand gesell‐ schaftlicher Negativität erklärt wird) 2 - wohl die berühmtesten. Zu nennen ist aber auch Herbert Marcuse, der nach Jahrzehnten des Wirkens in den USA mit seinen gesellschafts- und kulturkritischen Büchern, in denen er das analytische Instrumentarium der marxistischen Gesellschaftskritik durch die Einsichten der Freud’schen Psychoanalyse zu schärfen suchte, Ende der 60er Jahre zu 3 Siehe Marcuse (1965). Triebstruktur und Gesellschaft; ders. (1967). Der eindimensionale Mensch; ders. (1969). Versuch über die Befreiung. 4 Siehe vor allem Habermas (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit; ders. (1968). Erkenntnis und Interesse; ders. (1981). Theorie des kommunikativen Handelns; Ders. (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. 5 Als exponierte Protagonisten der Kritischen Theorie im letzten Drittel des 20. Jahrhun‐ derts und im Übergang zum 21. sind vor allem zu nennen: Albrecht Wellmer, Herbert Schnädelbach, Axel Honneth, Rainer Forst, Klaus Günther, Rahel Jaeggi, Peter Niesen, Martin Saar. einer der wichtigen Bezugspersonen der kalifornischen und der europäischen Studentenbewegung wurde. 3 Nachdem sich die Erschütterung über die Zivilisationsbrüche des 20. Jahr‐ hunderts, über die nationalsozialistische Herrschaft, den Zweiten Weltkrieg, den Völkermord an den Juden und den Vietnamkrieg, bei der ersten Generation der Denker der Frankfurter Schule in der radikalen Kritik einer als Instrument der Herrschaft völlig disqualifizierten Vernunft niedergeschlagen hatte, sollte dem produktivsten und einflussreichsten Kritiker der folgenden Generation: Jürgen Habermas, das Verdienst zukommen, durch eine neue Grundlegung der politischen Ethik das Vertrauen in die immer auch kommunikative und normative Kraft der Vernunft zurückzugewinnen und damit nicht zuletzt die Möglichkeit von Kritik vor dem performativen Selbstwiderspruch einer völligen Verwerfung der Vernunft in Sicherheit zu bringen. 4 Bei allen Differenzen und Differenzierungen teilen diese Autoren (und eine stattliche Reihe weiterer, die im Rahmen einer eingehenden Auseinanderset‐ zung zu nennen wären) 5 generell das Programm der Kapitalismuskritik - und speziell gemäß der von Marx aufgenommenen Intuition, dass die Organisations‐ strukturen des ökonomischen Wirtschaftens sich prägend auf die Lebensformen einer Gesellschaft auswirken, die Kritik aller gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Formen des menschlichen Bewusstseins und der kommunikativen Praxis, in denen sich Unfreiheit und illegitime Herrschafts‐ strukturen geltend machen. Wenn an der so genannten Basis die arbeitsteilige Organisation der ökonomischen Produktion auf ungleiche Eigentumsverteilung und die darauf beruhenden Herrschaftsverhältnisse aufgebaut ist, dann teilen sich diese Herrschaftsstrukturen dem Bewusstsein der Menschen mit: ihrem Denken, Fühlen, Handeln, ihrer kommunikativen Praxis, und das gesamte Zusammenleben in allen seinen sozialen, politischen und kulturellen Formen - der gesamte Überbau - wird die Züge dieser Herrschaft annehmen. In einer warenproduzierenden Gesellschaft werden vermittelt über das Bewusstsein der in Arbeits- und Konsumsphäre verbundenen Menschen schließlich alle menschlichen Verhältnisse und Verhaltensweisen Züge der Warenproduktion, 18 Birgit Recki 6 Siehe exemplarisch Duhm (1973). Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit. des Warenbesitzes und des Warentauschs tragen. 6 Diese Vorstellung skizziert Marx in einem Lehrstück, das seine Leser und Interpreten den „dialektischen Materialismus“ genannt haben, und die in diesem Titel behauptete Dialektik wäre nicht Dialektik, wenn es sich in diesem Verhältnis von Basis und Überbau nicht um ein Wechselverhältnis handelte - wenn es nicht auch eine Rück‐ wirkung des Überbaus auf die Basis gäbe, des Bewusstseins auf die basalen Verhältnisse, von denen es geprägt ist. Hier muss eine kritische Theorie wie die hier vorgestellte ihre Chance sehen: ihre Chance auf Veränderung des Bewusstseins und der Lebensformen durch Aufklärung und kritische Analyse am Leitfaden der Idee von Herrschaftsfreiheit. Den Ansätzen und Differenzierungen innerhalb der kritischen Theorie der Gesellschaft in dem einen und anderen Punkt ein Stück weit kritisch nach‐ zugehen, wäre ein interessanter Einstieg in ein weites Feld der sozialwissen‐ schaftlich informierten Gegenwartsphilosophie und ihrer Resonanzen in der Literaturwissenschaft, in der Kunst-, Architektur- und Filmkritik, und in der Musikwissenschaft. Nach der einleitenden Erinnerung an eine bis heute produk‐ tive und einflussreiche Theorie, die ihr Selbstverständnis im programmatischen Begriff der Kritik artikuliert, soll der folgende Beitrag sich jedoch auf einen Philosophen konzentrieren, dessen wahrhaft radikaler Ansatz am Grunde des modernen Selbstverständnisses steht und den man als den großen Kritiker schlechthin ansprechen darf. Kritik der Vernunft - und dabei unter anderem auch Kritik der Gesellschaft - ist das Programm, das damit in den Blick gerät. Zeitalter der Aufklärung und der Kritik - Annäherung an Immanuel Kant Der Begriff der Kritik ist einer der grundlegenden philosophischen Methodenbe‐ griffe. Entscheidend ist in der Philosophie immer, dass man sich im Nachdenken über die Probleme, die zum Nachdenken veranlassen, reflexiv auch über die Voraussetzungen und die Methode(n) dieses Nachdenkens verständigt. Kritik der verwendeten Begriffe, kritische Reflexion auf einen jeweils erreichten Stand der Klärung, kritische Revision früherer Phasen der Forschung und Auseinandersetzung: Kritik ist das Element allen problembewussten Denkens, aller Theorie. Sucht man nach einem exemplarischen Beispiel, an dem man sich vor Augen führen kann, wie das zu verstehen, wie diese Einsicht umzusetzen ist, dann ist man gut beraten, auf Immanuel Kant (1724-1804) zurückzugehen. 19 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ 7 Es war dann Moses Mendelssohn, der mit der Formulierung vom „alles zermalmenden Kant“ (Mendelssohn (1785). Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, 3) die Rede vom „Alleszermalmer“ Kant auf den Weg bringen sollte. 8 Kant (1784a). „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “, 40. Die Aufklärung, diese intellektuelle Bewegung, die dem 18. Jahrhundert seinen Epochen-Namen gegeben hat und die in ganz Europa auf die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens abzielte, war auf ihrem Höhepunkt, und Kant war schon ein Mann von 60 Jahren, er hatte sich seinen Ruf als rücksichtsloser Kritiker der traditionellen Metaphysik schon erarbeitet, 7 als er 1784 in seinem berühmten Aufsatz in der Berlinischen Monatsschrift auf die Frage, ob „wir“ denn „in einem aufgeklärten Zeitalter“ lebten, die Antwort gab: „Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ 8 Was meint Kant mit seinem Programmbegriff, und in welchem Verhältnis steht der Anspruch auf Aufklärung zum Begriff der Kritik? Aufklärung ist ein Prozess der Erweiterung des Wissens, des Bewusstseins und der Denkungsart. Mit diesem altmodischen Ausdruck „Denkungsart“, den man auch mit „Gesinnung“ oder „Bildung“ wiedergeben kann, ist die grund‐ sätzliche Einstellung gemeint - die gleichermaßen theoretische wie praktische Einstellung gegenüber den Dingen, den anderen Menschen, der Welt und nicht zuletzt auch gegen sich selbst. Dass es im Prozess der Aufklärung zwar um Belehrung, Kenntnisse, Wissenszuwachs geht, aber niemals bloß um sie, sondern dabei immer zugleich um die Art und Weise, wie ich damit umgehe, was ich daraus mache, wie ich bereit bin, mich nach meinen Einsichten auch zu richten - das soll dieser Begriff der Denkungsart kenntlich machen: Was nützen alle Kenntnisse, wenn sie bloßes Kreuzworträtselwissen bleiben und ich nicht imstande bin, selbstständig Zusammenhänge herzustellen und zu bedenken? Was nützt ein enzyklopädisches Wissen, wenn es mich zu einer Art von wandelndem Lexikon macht, ich dabei aber nicht imstande bin, in der komplexen, unübersichtlichen Wirklichkeit meine Interessen wahrzunehmen, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, mein Leben selbstständig zu führen? Was nützt Wissenschaft aller Art, wenn der Horizont meines Denkens verstellt ist, wenn ich eine engstirnige, illiberale und intolerante Person bin, die in jeder kommunikativen Herausforderung versagt, jede Abweichung vom Vertrauten als Angriff empfindet, den Andersdenkenden verachtet, den Bettler vom Hof jagt, in jedem Fremden einen Abgesandten der Finsternis vermutet? Aufklärung ist niemals bloß Anhäufung von Wissen, sondern immer auch Einübung in den angemessenen Umgang damit, Erschließung eines Horizontes, liberale Gesinnung. An zwei Stellen dieses kurzen Aufrisses wurde bereits in voller Absicht das Prädikat „selbstständig“ verwendet, einmal im selbstständigen 20 Birgit Recki 9 Ebd., 35. Umgang mit Wissen, das andere Mal in der selbstständigen Lebensführung. Damit soll darauf hingewiesen sein, dass Aufklärung, so wichtig auch die Läuterung des Wissens und Reform des Denkens ist, niemals bloße Theorie bleiben kann, sondern immer auch Auswirkungen auf die Praxis, das Handeln hat. Die Befreiung des Menschen auf der Grundlage einer Läuterung des Wissens und Reform des Denkens - es gibt keine Formel, durch die auch die Philosophie Kants in ihrem programmatischen Anspruch auf die Einheit von theoretischer und praktischer Verbesserung des Menschen besser umschrieben wäre. Wenn Kant in seinem Aufsatz die Aufklärung als den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt, dann hat er im Sinn, dass die Menschen, die in den zeitgenössischen Herrschaftsstrukturen unterdrückt, befangen, bevormundet sind, zunächst einmal ermutigt werden müssen, Er‐ kenntnisse zu sammeln und den eigenen Erkenntnissen auch zu vertrauen. „Sapere aude. Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! “ 9 Und er sieht in den Verhältnissen seiner Zeit den vordringlichen Gegenstand des damit verbundenen Anspruchs auf Selbstständigkeit in der Religion. In einer Zeit, in der die Bürger in aller Regel durch Zwang der Obrigkeit die Konfession ihres Landesherrn (sei er nun Kaiser, König, Kurfürst) haben mussten (und wenn ein Landstrich durch Kriegseroberung unter eine andere Regierung fiel, dann konnte es auch nach dem Westfälischen Frieden passieren, dass die Menschen, die bis dahin Protestanten gewesen waren, sich gleichsam über Nacht als Katholiken wiederfanden - und umgekehrt), ist die Religionsfreiheit ein vordringliches Gut, für das es sich lohnt, zu argumentieren, zu streiten, sich einzusetzen. Denn es ist ganz deutlich, dass Art und Grad der Bevormun‐ dung, die durch Religionszwang bis in die innersten Belange eines Menschen ausgeübt wird, eine besonders empfindliche Art der Unmündigkeit darstellt. Entsprechend widmet Kant den größeren Teil seines Aufsatzes diesem Thema und preist den großen preußischen König, der als Erster den Ehrentitel eines aufgeklärten Monarchen verdient habe, weil er dekretiert hat, dass in seinem Land jeder nach seiner Façon selig werden solle - also: jeder selbst entscheiden können solle, welcher Religion er angehören will. Die Religion, so findet Kant, ist das exemplarisch ausgezeichnete Feld der Mündigkeit, nach der der freie Mensch als Bürger strebt - exemplarisch, und damit nicht das einzige. Von hier ausgehend, nach dem Modell der Religionsfreiheit soll in allen Bereichen des Lebens die Idee der Aufklärung umgesetzt werden. An Kants Stellungnahme zu diesem Herzstück der aufgeklärten, eigenverant‐ wortlichen Lebensweise wird deutlich, welche Rolle der methodische Ansatz 21 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ 10 Kant (1781/ 87). Kritik der reinen Vernunft, A XI. der Kritik in seiner Philosophie spielt. Ebenso gut kann man sagen: Es ist der für Kants gesamtes Werk grundlegende Gedanke der Kritik, der sein Denken als genuin aufklärerisch ausweist. Schon 1781 hatte Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Anspruch der Vernunftaufklärung auf den Punkt gebracht, indem er formuliert: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. 10 Freie und öffentliche Prüfung - das ist das Leitmotiv des kritischen Denkens. Was stellt sich aber Kant unter Kritik vor? Kritik ist ein Lehnwort aus dem Griechischen (krinein = unter/ entscheiden, beurteilen), und es bedeutet die methodische Einschätzung nach begründeten Maßstäben. Während für uns heute umgangssprachlich der Ausdruck meistens mit der negativen Bewertung identifiziert wird (so dass wir etwa sagen: Sie steht dem ganzen Plan kritisch gegenüber, wenn wir meinen: Sie hält nichts davon), meint der philosophische Sprachgebrauch gleichermaßen die Abwägung von Wert und Unwert; gemeint ist grundsätzlich die Erörterung von Geltungsansprüchen. Die einzige Autorität, deren Anerkennung bei der allseitigen Kritik der Geltungsansprüche (von Religion, Gesetzgebung, also: Politik - und Kant hätte umstandslos auch die Wissenschaft noch hinzufügen können) vorausgesetzt wird, ist die Vernunft als Instanz des Erkennens, des Denkens und Urteilens. Das aber wäre eine Inkonsequenz - wenn es denn so gemeint wäre, dass dabei die Vernunft im toten Winkel der Orientierung bliebe. Man kann nicht alles und jedes mit den Mitteln und Ansprüchen der Vernunft kritisieren, und die Vernunft selbst unkritisiert einfach so voraussetzen. Die Frage muss schon auch lauten, ob die Vernunft das, was ihr da als Leistung unterstellt wird, auch zu leisten vermag. Und eben diese Frage und die kleinteiligen Einzelfragen, die daran hängen, stellt Kant in dem Buch vor, in dessen Vorrede er vom Zeitalter der Kritik spricht - das heißt auch: Diese Frage ist zu einem guten Teil in umfänglichen Analysen bereits beantwortet, wenn er 1784 dann Mut machen will, dass sich der Mensch seines eigenen Verstandes bediene. 22 Birgit Recki 11 Kant (1784b). „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, 18f. 12 Kant (1786). „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“, 112. Kants Programm der Vernunftkritik Kants gesamtes Werk ist der Kritik gewidmet - der Kritik derjenigen Fähig‐ keiten, die den Menschen als vernünftiges Wesen in seinem Anspruch auf Freiheit und Selbstständigkeit auszeichnen. In seiner eigenen kritischen Philo‐ sophie, die er als systematische Selbstkritik der Vernunft begreift, untersucht er, was die Vernunft aufgrund welcher Vermögen leisten kann, und was ihre Vermögen übersteigt. Was ist Kritik der Vernunft? Der Programmtitel des Auf‐ klärers ist absichtsvoll doppeldeutig, gemeint ist nämlich erstens Kritik an der Vernunft (genitivus obiectivus), zweitens Kritik durch die/ mit den Mitteln der Vernunft (genitivus subiectivus). Es geht also um Kritik der Vernunft durch sich selbst: die selbstreflexive Analyse der Fähigkeiten und Grenzen der Vernunft. Dieses Programm ist in epochemachender Weise zu Buche geschlagen: Kritik der reinen Vernunft 1781 (Erkenntnistheorie); Kritik der praktischen Vernunft 1788 (Ethik); Kritik der Urteilskraft 1790 (Ästhetik/ Theorie der zweckmäßigen Natur). Kant bezieht sich dabei auf den Begriff einer Vernunft als Fähigkeit zu gegenständlicher Erkenntnis, zum Urteilen, zur Hervorbringung von Grund‐ sätzen und Ideen, und zu rein begrifflicher Spekulation. Thematisch sind das lauter grundlegende kognitive oder intellektuelle Grundfähigkeiten, die er im Sprachduktus seiner Zeit als „Vermögen“ bezeichnet. Damit ist das bezeichnet, was ich vermag - also eine Fähigkeit/ Kapazität für bestimmte Leistungen. Die Vernunft ist das Vermögen, das wir in allen möglichen Leistungen einsetzen, dabei immer auch als Instanz der Kritik aus konsequentem Selbstbegriff. „Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe“, heißt es in einer der kleinen ge‐ schichtsphilosophischen Schriften der 80er Jahre, 11 und in einer anderen: das „Vermögen […], das sich über die Schranken, worin alle Thiere gehalten werden, erweitern kann“. 12 So fasst Kant in dieser Zeit das menschliche Selbstverständnis zusammen, das sich in den Leistungen der Vernunft äußert und auf das er sich auch in seiner Auffassung von Aufklärung beruft. Es geht ihm in seiner kritischen Philosophie darum, die Leistungen und die Grenzen der menschlichen Vernunft zu ermessen. Bereits 1781 in der Kritik der reinen Vernunft legt Kant die systematische Spannweite seines Unternehmens einer Vernunftkritik in der Formulierung von drei Fragen auseinander: „Was kann ich wissen? - Was soll ich tun? - Was darf ich hoffen? “ In der Logik-Vorle‐ 23 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ 13 Siehe Recki (2004). Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. 14 Kant (1781/ 1787). Kritik der reinen Vernunft, B XVIf. sung (1800) greift er diese Fragen wieder auf und fasst sie zusammen in der Frage „Was ist der Mensch? “ Die Systematik dieser 3 Fragen führt zunächst direkt zu einer Aufteilung der vernunftkritischen Problemstellung in theoretische Philosophie (Erkenntnistheorie und Ontologie), praktische Philosophie (Moral‐ philosophie und politische Philosophie), Theologie und Religionsphilosophie. Wir können im Nachvollzug von Kants kritischer Philosophie auch sehen, wie sich diese drei Fragen in der Sache bereits den drei großen Werken, den drei Kritiken zuordnen lassen: Die erste Frage Was kann ich wissen? der Kritik der reinen Vernunft, die zweite Was soll ich tun? der Kritik der praktischen Vernunft und die dritte Frage Was darf ich hoffen? der Kritik der Urteilskraft, in welcher auf dem Weg über die Analyse der ästhetischen Gefühle angesichts des Schönen und Erhabenen der Natur der spekulative Begriff einer zweckmäßigen Natur und des in ihr wirkenden Willens entwickelt wird. Der Mensch als erkennendes, han‐ delndes und fühlend reflektierendes Wesen und die Geltungsansprüche seiner theoretischen, praktischen und ästhetischen Urteile sind dabei thematisch. 13 Das alles übergreifende Thema ist das Selbstverständnis des Menschen als des vernünftigen Wesens, dessen intellektuelle Leistungen in den drei Teilen der Vernunftkritik untersucht werden. Zunächst einmal muss die Erkenntnis auf sichere Fundamente gestellt werden, und nicht allein die empirische Erkenntnis, wie sie in der hoch organi‐ sierten Form der Wissenschaften kulminiert, sondern auch die metaphysische Erkenntnis der Philosophie. Der Gedanke, mit dem Kant Epoche macht, als er die Fundamente der Erkenntnis zu sichern sucht, ist die Einsicht, dass diese sicheren Fundamente in den erkennenden Subjekten, genauer: in den Strukturen ihrer Intelligenz - und nicht in den Dingen und den Verhältnissen der äußeren Welt liegen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten […]. Es ist hiemit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. 14 24 Birgit Recki 15 Mit dem Ausdruck „Anschauung“, der auf den Gesichtssinn verweist, ist bei Kant pars pro toto jede sinnliche Wahrnehmung gemeint. 16 Kleist (1801). „Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22.3.1801“, 401. 17 Kant (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 393. Die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, das soll heißen: Wir können alles nur so erkennen, wie es unsere Erkenntnisbedingungen zulassen, wir können die Dinge immer nur so erkennen, wie sie uns durch die formalen Vorgaben unseres Erkenntnisvermögens, durch die ‚Anschauungen‘ unserer Sinne 15 und durch die Begriffe unseres Verstandes erscheinen. Wir können uns diesen grundstürzenden Gedanken, mit dem sich die Analyserichtung von den Objekten zum Subjekt der Erkenntnis wendet, mit der anschaulichen Analogie verständlicher machen, die ein Zeitgenosse und früher Leser Kants, der Dichter Heinrich von Kleist in einem Brief an seine Verlobte für diesen Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft findet: „Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urtheilen müssen, die Gegenstände welche sie dadurch erblicken, sind grün und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzuthut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande.“ 16 Eines ist ganz klar: Diese Einsicht, dass wir im Erkennen zu den Dingen strukturell etwas vom Erkenntnisobjekt Unablösbares „hinzutun“, was dem Funktionieren unserer Erkenntnisbedingungen geschuldet ist, kann nur dazu führen, umso entschiedener zu analysieren, wie denn diese Erkenntnisbedingungen funktionieren - also lautet Kants Programm: Kritik der Vernunft in der Analyse ihrer Leistungen. Der damit vorgestellte Gedanke der Erkenntniskritik ist tatsächlich einer der beiden berühmtesten Gedanken Kants: die kopernikanische Wende. Diese methodische Wende zu den Bedingungen, die das Subjekt der Erkenntnis mitbringt, ist seither bis in unsere Tage immer wieder einmal zum Modell erkenntnistheoretischer und auch wissenschaftstheoretischer Positionen geworden - und dabei häufig unter dem Titel des Konstruktivismus: Wir „konstruieren“ in einem übertragenen, nämlich: epistemischen Sinne, die Welt erst, insofern wir sie erkennen. Doch nicht nur der erkennende Verstand, von dem Kant dann sagen wird, man solle Mut haben, sich seiner zu bedienen, ist eine der Leistungen der Vernunft, auch der an Grundsätzen orientierbare Wille, der sich im Handeln artikuliert, ist eine Vernunftleistung. „Es ist überall nichts in der Welt, ja über‐ haupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“ 17 So lautet der erste Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, der Schrift, mit der Kant die Kritik der praktischen Vernunft vorbereitet. Es ist eigentlich ganz klar, dass es einen Bereich 25 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ 18 Ebd., 429. im Leben wie in der Philosophie gibt, in dem der kritische Anspruch allen problembewussten Denkens besonders prägnant wird, den Bereich, wo sich das Denken auf das menschliche Handeln in seiner Orientierungsbedürftigkeit, seiner Korrekturbedürftigkeit bezieht: die Moral - und damit philosophisch die Ethik. Kritik ist das genuine Element der Moral, und hier zeigt sich ganz besonders prägnant die für das vernunftkritische Programm unhintergehbare Dimension der Selbstkritik, denn in der moralischen Einstellung stellt sich ein Handelnder immer die Frage nach der Angemessenheit und Rechtfertigung des eigenen Handelns: Was soll ich tun? Und in der Auseinandersetzung mit diesem alles Handeln begleitenden normativen Anspruch, zugespitzt auf die Frage: Wann ist der Wille ein guter Wille? gelingt Kant der zweite seiner beiden berühmtesten Gedanken, der Kategorische Imperativ: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ 18 Auch wenn man nicht so viel Zeit hat, wie man brauchte, um diesen Gedanken in angemessener Gründlichkeit zu behandeln - so viel sieht man in diesem Gebot der Achtung vor der Würde der Person, in diesem Instrumentalisierungsverbot, auf einen Blick: Der Kategorische Imperativ ist Ausdruck einer Ethik der wechselseitigen Achtung vor der Freiheit des Anderen. Beide Aspekte, der Aspekt der theoretischen Verstandesleistung im (rich‐ tigen) Erkennen wie der Aspekt der praktischen Leistung im (moralischen) Handeln, sind gemeint, wenn wir Kant als den großen Kritiker der Vernunft ansprechen. In beiden Aspekten macht Kant Dimensionen der menschlichen Freiheit geltend. Es ist bereits ein Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich mich selbstständig ohne Bevormundung durch einen Anderen meines Verstandes bediene, es ist ein anderer, nämlich praktischer Gebrauch meiner Freiheit, wenn ich so handle, wie ich es als richtig eingesehen habe. Im Anschluss daran und mit Rekurs auf einen häufig beanstandeten Punkt lässt sich die Rolle der Kritik in Kants Verständnis von Aufklärung abschließend konkreter fassen: Was hat es zu bedeuten, dass Kant in seiner Aufklärungsschrift von 1784 von selbstverschuldeter Unmündigkeit spricht? Sollte die Quintessenz des kritischen Bewusstseins darin bestehen, dass der Kritiker den Menschen für die Verhältnisse der Unterdrückung und der Knechtschaft, in denen sie unmündig sind, weil sie bevormundet werden, auch noch selbst die Schuld gibt und auf diese Weise die Unterdrücker: die Herren - wie man mit Blick auf feudale Herrschaftsverhältnisse ruhig sagen darf - vom Vorwurf entlastet? Dieser Verdacht trifft nicht Kants Position und Pointe. 26 Birgit Recki 19 Kant (1793). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 188. Ich gestehe, daß ich mich in den Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigenthümers sind zur Freiheit noch nicht reif; und so auch: die Menschen über‐ haupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt worden ist (man muß frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmäßig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand; allein man reift für die Vernunft nie anders, als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein muß). 19 Man sieht an dieser Argumentation: Kant denkt nicht daran, es den Herr‐ schenden bequem zu machen, indem er sie von ihrem Anteil an Herrschafts‐ verhältnissen entlastet. Mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist keine Verharmlosung von manipulativen, autoritären oder sogar totalitären Verhältnissen zu sehen. Man muss die Pointe der Rede von selbstverschuldeter Unmündigkeit in etwas anderem sehen: in dem provokativen rhetorischen Hinweis, dass zu jedem Herrschaftsverhältnis zwei gehören - einer, der die Herrschaft ausübt und einer, der sie sich gefallen lässt. Gerade der mit den Begriffen von Aufklärung und Mündigkeit gestellte Anspruch auf die eigene Zuständigkeit, auf Freiheit ist nicht zu realisieren ohne die vorgängige Bereit‐ schaft zur Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten. Insofern ist mit der Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit die Ausflucht verstellt, den Anderen oder den Verhältnissen pauschal die Verantwortung für die eigenen Lebensverhältnisse zuzuschieben; in dem Prädikat „selbstverschuldet“ hat man den indirekten, aber heftigen Appell zu sehen, sich nach Kräften - und dabei immer aus eigener Kraft - aus der Unmündigkeit herauszuarbeiten. Schluss: Die Aktualität von Kritik und Aufklärung Wie fällt heute unsere Antwort auf die Frage aus, die Kant in seinem Auf‐ satz von 1784 mit illusionsloser Zuversicht so differenziert beantwortet hat? Auch wir, selbst als Bürger einer globalisierten Welt, einer jahrzehntelangen Erfolgsgeschichte der Demokratisierung und der Einhegung des Krieges, einer weltweiten Ausdehnung des öffentlichen Kommunikationsnetzes auf der Basis einer technologischen Entwicklung, die zugleich die schlimmsten Formen harter 27 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ 20 Siehe Kant (1795). Zum Ewigen Frieden. Arbeit und epidemischer Krankheiten abzuschaffen geholfen hat, können die Frage, ob wir in einem aufgeklärten Zeitalter leben, nur verneinen. Denn unter den Bedingungen polarisierter wirtschaftlicher und politischer Machtinteressen und asymmetrischer Verteilung von Ressourcen aller Art müssen wir uns selbst in einer Entwicklungsdynamik, die man unter Kantischer Optik in der Orien‐ tierung an den Ideen von Freiheit und Frieden 20 als Fortschritt ansprechen würde, offenbar jederzeit auf Rückschläge gefasst machen. Dabei ist es gar nicht einmal sicher, ob wir uns angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Problemlage immerhin zutrauen dürfen, auch den zweiten Teil der Antwort noch wie Kant zu formulieren: Nein - aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung. Ob wir weiterhin wenigstens in einem Zeitalter der Aufklärung leben, dürfte zu einem entscheidenden Teil davon abhängen, ob wir es uns zutrauen, an der Idee der Kritik - und an der Kraft zu ihrer praktischen Umsetzung festzuhalten. Selbstverständlich ist das nicht. Das Interesse an Aufklärung hat sich zeitge‐ nössisch in einem Spannungsverhältnis der Extreme zu bewegen: Auf der einen Seite steht das historische Bewusstsein, dass die Herrschaftsverhältnisse eines monarchisch regierten Staates mit eingeschränkter politischer Partizipation der Bürger der Vergangenheit angehören. Wir leben in einem Verfassungsstaat, der sich als parlamentarische Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, Gewaltentei‐ lung und Minderheitenschutz und unter den Bedingungen freier Öffentlichkeit organisiert. Auf der anderen Seite steht der Einwand, dass sich die Verhältnisse in der Welt seit Kants Zeiten nicht verbessert hätten, ohne sich zugleich verschlimmert zu haben: Das Netz der anti-aufklärerischen Kräfte hat sich in Zeiten der hochtechnologisch instrumentierten Globalisierung verdichtet, die Formen der Herrschaft sind teils drastischer, teils unsichtbar geworden. Doch als Epochendiagnose tragen solche Einsichten auch dann nicht, wenn die Analyse richtig sein sollte. Denn wo eine solche Einschätzung möglich wird, hat immer schon kritische Erkenntnis stattgefunden - und wo diese möglich ist, da ist es auch möglich, die Kritik methodisch und zielstrebig weiterzuführen. Wir haben es dabei allerdings in einem Punkt mit erschwerten Bedingungen zu tun: Es gibt in der heutigen Welt Kräfte der Bevormundung, der Unmündigkeit, der Manipulation, von denen der Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts sich noch nichts träumen ließ. Und diese Kräfte wirken mit einem beständigen Angebot auf uns ein, in dem sich Wissen (unter dem bezeichnenden Titel der „Information“), Unterhaltung und die Suggestion basisdemokratischer Meinungsbildung in einer schwer durchdringlichen Melange durchmischen, sodass wir gut daran tun, das Programm der Kritik der Vernunft zu verstärken und zum einen 28 Birgit Recki 21 Kant (1784a), 35. „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “. den Aspekt der Selbstkritik, der in Kants Ansatz der Vernunftkritik so stark gemacht ist, noch um einiges zu intensivieren; es zum anderen zu erweitern mindestens um die Kritik der Rhetorik öffentlichen Sprechens und die Kritik der manipulativen Bilderflut. Die Anlässe für kritisches Denken in aufklärerischer Absicht sind somit nicht weniger geworden. Wir müssen offenbar mehr denn je bereit sein, im Prinzip alle Instanzen in der Welt (so wie Kant die Religion und die Gesetzgebung) der kri‐ tischen Prüfung der von ihnen erhobenen Geltungsansprüche zu unterziehen. Das ist in jedem Fall ein anstrengendes Unternehmen, das neben sensibilisierter Aufmerksamkeit, klaren Erkenntnissen und Entschiedenheit auch Ausdauer, Disziplin und Frustrationsresistenz verlangt. Faulheit und Feigheit  21 sind da auch weiterhin die Versuchungen, die einen dazu bewegen können, es sich in der Anpassung bequem zu machen. Wer wollte behaupten, dass Kants Rede vom „Mut“, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, hier veraltet wäre? Literatur Adorno, Theodor W. (1951). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1966). Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1970). Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Duhm, Dieter (1973). Warenstruktur und zerstörte Zwischenmenschlichkeit. Köln: Rosa-Lu‐ xemburg-Verlag. Habermas, Jürgen (1962). Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied am Rhein: Luchterhand. Habermas, Jürgen (1968). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981). Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1991). Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, Max (1967). Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main: S. Fischer. Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W. (1947). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam: Querido. Kant, Immanuel (1781/ 87). Kritik der reinen Vernunft. In: Akademie-Ausgabe Bd. III. Kant, Immanuel (1784a). „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “ In: Aka‐ demie-Ausgabe Bd. VIII, 33-42. 29 Mut zum eigenen Verstand gegen „selbstverschuldete Unmündigkeit“ Kant, Immanuel (1784b). „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“. In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 15-32. Kant, Immanuel (1785). Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. In: Akademie-Ausgabe Bd. IV, 385-464. Kant, Immanuel (1786). „Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“. In: Aka‐ demie-Ausgabe Bd. VIII, 107-124. Kant, Immanuel (1793). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. In: Akademie-Ausgabe Bd. VII, 1-202. Kant, Immanuel (1795). Zum Ewigen Frieden. In: Akademie-Ausgabe Bd. VIII, 341-386. Kleist, Heinrich von (1801). „Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22.3.1801“. Zitiert nach Cassirer, Ernst (1921). „Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie“. In: Ders. (2001). Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Band 9 (Aufsätze und kleine Schriften (1902-1921). Hrsg. von Birgit Recki, Text und Anmerkungen bearbeitet von Marcel Simon. Hamburg: Felix Meiner. Marcuse, Herbert (1965). Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marcuse, Herbert (1967). Der eindimensionale Mensch. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Marcuse, Herbert (1969). Versuch über die Befreiung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mendelssohn, Moses (1785). Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes. Berliner Ausgabe 2014. Recki, Birgit (1984). Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann. Recki, Birgit (2004). Die Vernunft, ihre Natur, ihr Gefühl und der Fortschritt. Aufsätze zu Immanuel Kant. Münster: mentis. 30 Birgit Recki 1 Kant (1998). Kritik der reinen Vernunft. Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich Einleitung Fragen zu stellen, einem wissenschaftlichen Gegenstand durch Fragen auf die Spur zu kommen, durch kritisches Hinterfragen von überlieferten Denk‐ formen und traditionellen methodischen Herangehensweisen allgemeingültige Annahmen auf den Prüfstand zu stellen, gehört zu den grundlegendsten Formen, in denen geisteswissenschaftliches Arbeiten sich selbst seines kritischen Im‐ pulses versichert. Was dabei in Frage gestellt werden darf, wie weit kritisches Nachfragen gehen kann, mag von unterschiedlichen akademischen Kontexten, institutionellen Rahmenbedingungen oder diskursiven bzw. disziplinären Ord‐ nungsgefügen abhängen. Die Form des kritischen Nachfragens als solche scheint dabei jedoch eine ganz unproblematische Praktik im Selbstverständnis des geisteswissenschaftlichen Arbeitens zu sein. Dabei beginnt das moderne Nachdenken über Kritik als In-Frage-Stellen überlieferter Annahmen und Prä‐ missen des Erkennens und Denkens doch mit äußerst problematischen Fragen. In der Vorrede der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, jenem Epoche machenden Werk, in dem das Erkennen auf die Frage nach der Möglichkeit und Grenze der Vernunft verwiesen wird, setzt Immanuel Kant mit Fragen ein, die nicht gestellt werden, sondern sich aufdrängen: Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkennt‐ nisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. 1 In der Geschichte des Denkens neigte der Mensch, so Kant, allzu häufig dazu, diesen unlösbaren Fragen etwa nach der Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt mit transzendenten Urteilen zu begegnen, die aber letztlich unbeweisbar 2 Kant (1998). Kritik der reinen Vernunft. sind und als dogmatische Setzungen den Geltungsraum menschlicher Erkennt‐ nisfähigkeit überschreiten. Nicht diese philosophische Kritik an dogmatischer Metaphysik soll hier aber weiter verfolgt, sondern viel grundlegender der Einsatzpunkt des Fragens selbst betrachtet werden. Das Fragen am Beginn der Kritik der reinen Vernunft, und darauf liegt hier der Fokus, ist nicht ein‐ fach eine unproblematische Denkpraktik, mit der man sich langsam einem Gegenstand nähern kann, um ihn sukzessive durch immer kleinteiligere und konkretere Frageformen erkennen, denken und bestimmen zu können. Am Anfang des modernen kritischen Denkens stehen vielmehr Fragen als Probleme, als Bedrängnis. Die Frage wird nicht aktiv gestellt, sondern drängt sich der menschlichen Vernunft auf, bedrängt und führt beinahe eine Art Eigenleben, zu dem sich der Mensch verhalten muss. Damit wird der kritische Einsatzpunkt des Denkens zuerst und grundlegend ein Nachdenken über die richtigen Frage‐ formen, über die Art und Weise, wie Fragen so zu stellen sind, dass sie dem menschlichen Erkenntnisapparat entsprechen und nützlich sein können. Fragen ist demnach nicht eine unproblematische Praxis geisteswissenschaftlichen Ar‐ beitens, sondern betrifft vielmehr ganz entschieden die Frage nach der Art des Fragens selbst: bevor wir Fragen nach dem was des Erkennens stellen können, müssen wir also zunächst nach dem wie dieses Fragens selbst fragen. Kant hat dieses Problem des Fragens in der Kritik der reinen Vernunft bekanntlich auf ein philosophisches Projekt verpflichtet, das die Bestimmung der Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnisfähigkeit des Menschen zum Ausgangspunkt hat. Diese Form der Kritik ist aber nicht nur eine Untersuchung des Erkenntnisapparats um seiner selbst willen, sondern auch ein aufkläreri‐ sches Projekt als Kritik durch Infragestellung anmaßender Geltungsansprüchen von Religion oder Staat. Daher heißt es in der Vorrede weiter: Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können. 2 Die historische Zäsur, die sich hier in Immanuel Kants Vorrede als Unter‐ scheidung zwischen metaphysischem Dogmatismus und kritischer Aufklärung ankündigt, ist nicht die Beschreibung, Protokollierung eines notwendig ge‐ schichtsimmanenten Prozesses, sondern eine starke performative Setzung, die 32 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 3 Foucault (2005). Was ist Aufklärung? , 687. 4 Ebd., 694. 5 Vogl (1999). „Einleitung“, 8. 6 Ebd. 7 Foucault (2005). Was ist Aufklärung? , 839. 8 Ebd. im Akt des Fragens selbst diesen historischen Prozess initiiert. Indem Kant eine historische Differenz zwischen der Vergangenheit und der eigenen Gegenwart markiert, ruft er zugleich eine spezifische Form der Kritik aus, nämlich die Aufklärung im Modus des kritischen Hinterfragens, die dabei allerdings, und das gilt es zu betonen, zuallererst die Frage nach dem Modus des Fragens selbst befragt: Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass das epochale Ereignis vor allem darin besteht, dass mit dieser Frage das Fragen selbst in der Geschichte als kritische Vollzugsform eines Denkens auftaucht, das uns bis heute als Aufgabe beschäftigt. Zu Kants Text „Was ist Aufklärung“ schreibt er: Ein Text zweiten Ranges, vielleicht. Doch, wie mir scheint, tritt mit ihm eine Frage diskret in die Geschichte des Denkens ein, die zu beantworten die moderne Philoso‐ phie nicht imstande war, von der sie sich aber auch nie frei zu machen vermochte. 3 Was hier mit der berühmten Frage nach der Aufklärung diskret in die Geschichte eintritt, ist, so Foucault weiter, die Frage nach der eigenen Gegenwart, der Aktualität, der „Reflexion über ‚heute‘ als Differenz in der Geschichte und als Beweggrund für eine eigenständige philosophische Aufgabe[…].“ 4 Joseph Vogl hat im Anschluss an Foucault nochmals nachdrücklich darauf hingewiesen, dass diese historische Differenzmarkierung entschieden „an die Frageform selbst geheftet“ 5 sei, dass mithin die Herausforderung der dem Text immanenten Bruchlogik „in der Festigung der Frageform selbst liegt.“ 6 Mit der Proklamation von Aufklärung als Frage wird demnach das Fragen selbst zum herausragenden Ort der Selbstverständigung. Das Fragen ist seitdem jene kritische Vollzugsform, die sich als unabschließbares (Selbst-)Befragen immer erneut als Problem aktua‐ lisiert. Die philosophische Frage, die bis heute „ihre eigene diskursive Aktualität problematisiert“ 7 , betrifft nicht nur die Philosophie als eigenständige Disziplin, sondern ist gleichermaßen allen geisteswissenschaftlichen Disziplinen als Auf‐ gabe gestellt. Diejenigen Fragen zu formulieren, worin die Geisteswissenschaft „zugleich ihre eigene Daseinsberechtigung und die Grundlage für das, was sie sagt, zu finden hat“ 8 , bedeutet auch, die eigenen Selbstbeschreibungen und Darstellungsformeln dergestalt kritisch an die Bestimmungen ihrer Gehalte zu knüpfen, dass damit zugleich auch immer das Problem der Bestimmung ihrer gegenwärtigen (gesellschaftsrelevanten) Aufgabe bedacht ist. Damit kommt 33 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 9 Bei Foucault heißt es zu diesem Doppelcharakter von Ereignis und Prozess treffend: „Schließlich ist, wie mir scheint, die Aufklärung als einzigartiges Ereignis, das die europäische Moderne einleitet, und zugleich als permanenter Prozess, der sich in der Geschichte der Vernunft, in der Entwicklung und Einrichtung der Formen von Rationalität und Technik, der Autonomie und Autorität des Wissens bekundet, für uns nicht einfach nur eine Episode in der Geschichte der Ideen. Sie ist eine seit dem 18. Jahrhundert in unser Denken eingeschriebene philosophische Frage.“ (ebd., 846 f.). 10 Foucault (1992). Was ist Kritik? , 8. 11 Vogl (1999). Poetologien, 8. 12 Kant. Kritik der reinen Vernunft, 5 [A VII]. 13 Ebd., 73 [B 19]. 14 Foucault (1992). Was ist Kritik? , 30. der Frage als modus operandi der Bedingungsmöglichkeit für das Ereignen gesellschaftlicher Wirkungseffekte ein Prozesscharakter zu, durch den das Fragen selbst unabgeschlossen bleibt und nicht in einer letztgültigen Antwort stillgestellt werden kann. 9 Bezeichnenderweise hat Foucault diese Unabschließ‐ barkeit auch für die Kritik betont, wenn er diese als ein „Projekt“ bezeichnet, „das sich unablässig formiert, sich fortsetzt und immer wieder von neuem ersteht […].“ 10 . Frage und Kritik, darauf haben die bisherigen Ausführungen hindeuten wollen, stehen also seit Kant und der Koppelung des kritischen Projekts der Aufklärung an den historischen „Einfall der Frage selbst“ 11 in einem produktiven Wechselverhältnis. Bekanntlich hat dieses Wechselverhältnis bei Kant drei Fragedimensionen: 1. Anthropologisch: Auf dieser ersten Ebene betrifft das Fragen ganz allgemein (und überhistorisch) die menschliche Vernunft, denn diese wird, so Kant, „durch Fragen belästigt […], die sie nicht abweisen kann.“ 12 Hier ist das Fragen an die menschliche Konstitution als solche gebunden und gehört elementar zu unserem Dasein. 2. Historisch: Auf dieser Ebene betrifft das Fragen den bereits angezeigten historischen Einschnitt um 1800. Mit der Frage Was ist Aufklärung? wird das Fragen selbst zu einem spezifischen historischen Ereignis. 3. Metaphysisch/ Erkenntnistheoretisch: Hier leitet das Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis - besonders durch die Frage „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? “ 13 - Kants großes kritisches Projekt ein. Gerade mit dieser letzten Fragerichtung nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis wird, so Foucault, allerdings im Anschluss an Kant im 19. und 20. Jahrhundert das Projekt der Aufklärung auf eine spezifische Form von Kritik verkürzt, sodass die politische Dimension der Aufklärung zugunsten eines Wahrheitsdiskurses und dessen „Konstituierungs- und Legitimationsbedingungen“ 14 eingeschränkt wird. Dann geht es nicht mehr um die kritische Reflexion der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern nur 34 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 15 Foucault (1992). Was ist Kritik? , 30. 16 Foucault (2005). Was ist Aufklärung? , 848. noch um die Immunisierung eines Denkens der Wahrheit gegenüber jeglicher gesellschaftlicher Implikation. Die Voraussetzung dieses Wahrheitsdiskurses liegt in einem substanzialisierten, a-historischen Bild der Wahrheit, das nur noch eine Frage zu formulieren vermag: „[W]elche falsche Idee hat sich die Er‐ kenntnis von sich selbst gemacht […]? “ 15 Foucaults Gegenperspektive zu diesem Diskurs manifestiert sich in der Forderung nach einer kritischen „Ontologie der Gegenwart“ 16 , die der historischen Verschränkung von Macht und Wissen Rechnung trägt. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation an den Universitäten und speziell in den Geisteswissenschaften lässt sich sagen, dass die Gegenspielerin (und Verbündete? ) dieses a-historischen Wahrheitsbildes heute wohl weniger eine kritische Hinterfragung der Gegenwart ist als die Einfassung der Wissen‐ schaft in eine Zweck-Mittel-Logik und in ein Verwertungskalkül, das das Fragen nicht offen hält, sondern permanent seine Nützlichkeit zu berechnen versucht. Die nachfolgenden Beiträge erheben daher auch nicht den Anspruch, Foucault im Versuch einer kritischen Ontologie zu folgen, sondern wollen vielmehr bei der Fraglichkeit der Frage noch einen Moment innehalten und den Fokus auf die (inter-)disziplinären Wirkungseffekte legen, die sich möglicherweise mit einer kritischen Perspektive auf die geisteswissenschaftliche Praxis des Fragens ergeben. Dabei scheint jedoch eins zunächst unhinterfragt zu gelten: Sowohl das Fragen als auch die Kritik, meist sogar in ihrer Verknüpfung als kritisches Hinterfragen, scheinen an Universitäten nicht zu fehlen. Im Gegenteil: Niemand würde wohl bestreiten, dass Kritikfähigkeit (im doppelten Sinne) grundlegend als soft skill im Studium erworben werden soll, wenngleich kritisch angemerkt wird, dass gerade die Rahmenbedingungen dieses Studiums kaum mehr Raum dafür lassen. Doch welche Art kritischen Fragens wird überhaupt adressiert? Wer stellt die Fragen? Wer verfügt über das Fragen und die Zeit, die das Formu‐ lieren von Fragen benötigt? Und was bedeutet es für die Geisteswissenschaften, sowohl für ihre interne Selbstverständigung als auch für die Inszenierung nach außen, wenn die grundlegende Eigenschaft des geisteswissenschaftlichen Fragens in ihrer Offenheit und konstitutiven Unabgeschlossenheit liegt? Wie legitimiert es sich, wenn sie sich qua Selbstverständnis einer unmittelbaren Verwertung entzieht und sich gesellschaftliche Wirkungseffekte, wenn über‐ haupt nur äußerst vermittelt und unvorhergesehen einstellen? Diese Frage der Verwertung und Nützlichkeit, die allzu oft als Bedrängnis empfunden und nicht als solche kritisch benannt, sondern euphemistisch als Frage nach der 35 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 17 Derrida adressiert seine Rede an die Humanities. Die Differenzen und Konsequenzen, die sich hier einstellen, müssen an dieser Stelle ausgespart werden. Derridas Anmer‐ kungen zur Fraglichkeit der Frage sind hier eher als bedenkenswerter Einsatzpunkt aufgegriffen, um sie auf die geisteswissenschaftliche Praxis des Fragens zu lenken. 18 Derrida (2001). Die unbedingte Universität, 50. 19 Ebd., 14. 20 Ebd., 12f. 21 Ebd., 75. Bedeutung abgelenkt wird, markiert genau die Einsatzstelle des notorischen und omnipräsenten Krisendiskurses in den Geisteswissenschaften. Den folgenreichsten Beitrag zur Frage der Geisteswissenschaft und letztlich auch zu ihrer Krise hat in den letzten Jahren Jacques Derrida mit seinem Bekenntnis zur unbedingten Universität geliefert. Derrida antwortet auf die neuen Herausforderungen der Geisteswissenschaften 17 mit einem Bekenntnis zur „Verantwortung“ 18 , die in der Ausübung der geisteswissenschaftlichen Praxis an den Universitäten liegt; mithin einer Verantwortung im Verhältnis von Wissen und Denken innerhalb eines Prozesses der Globalisierung, der Wissen selbst zu einer ökonomischen Ressource macht. Es lässt sich feststellen, dass das Plädoyer für eine unbedingte Universität im Anschluss an Derrida als Perspektive für die Geisteswissenschaften mittlerweile gleichwertig neben den unentwegt reproduzierten (Meta-)Diskursen über die Krise der Geisteswissen‐ schaften steht. Der Diagnose eines scheinbar unauflösbaren Zusammenhangs von allgemeiner Verwertungslogik an den Universitäten und Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften widerspricht Derrida dabei mit einer Forderung: „Die Universität müßte also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht“. 19 Diese immer wieder aufgerufene Forderung verspricht als Möglichkeit eines gesteigerten Selbstbewusstseins zwar zunächst einen potenziellen Bedeutungs‐ gewinn in der geisteswissenschaftlichen Selbstreflexion, hält allerdings einen konkreten Bezug offen. Vielmehr stellt die Forderung sogar „noch die Form und Autorität der Frage, die Form des Denkens als Befragung“ 20 zur Diskussion. Das In-Frage-Stellen der Autorität des Fragens ließe sich, vielleicht ohne damit Derridas eigener Argumentation stricto sensu zu folgen, an dasjenige knüpfen, was er über das „Souveränitätsphantasma“, das „Phantasma der souveränen Verfügung“ 21 sagt. Dann ließe sich ein Unterschied im Fragen aufzeigen, der das (kritische) Fragen als soft skill vom Fragen als radikale Vollzugsform geisteswissenschaftlicher Kritik trennt. Dem souveränen Fragen (und der Praxis seiner Einübung) liegt ein Bild vom Subjekt zugrunde, das dergestalt über das Objekt der Frage verfügt, dass es dieses uneingeschränkt anzusprechen vermag. Es verfügt in der Frage über dieses Objekt, ohne selbst konstitutiv in das Fragen eingeschlossen zu sein. Eine kritische Denkarbeit, die die Fraglichkeit der 36 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 22 Weber (1992). Wissenschaft als Beruf, 93. 23 Rauning (2008): „Was ist Kritik? Aussetzung, Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“. www.eipcp.net/ transversal/ 0808/ raunig/ de. Frage hervorhebt, muss hingegen die konstitutive Involviertheit des Subjekts in die Frage mit einbeziehen. Das Subjekt wird somit selbst Teil der Fragen: Warum stelle ich diese Fragen? In welchen diskursiven Zusammenhängen steht das Fragen? Welche Blickrichtungen und -bahnen werden dadurch abgelenkt? Die Einbeziehung des Subjekts in das Fragen betrifft dann gleichermaßen die Objekte und die Haltung des Subjektes zu seinem Gegenstand, der Disziplin, den institutionellen Rahmenbedingungen. Diese kritische Frage nach dem Subjekt des Fragens klingt bereits in Max We‐ bers berühmtem Vortrag über Wissenschaft als Beruf an, indem er auf den heiklen Punkt des selbstreflexiven Moments in der Frage nach der Frage hinweist und implizit eine Frage aufwirft, der meist nur in den unterschiedlichen Facetten der geisteswissenschaftlichen Krisendiskurse des Sinns begegnet wurde: Die Tatsache, daß sie [die Wissenschaft] diese Antwort [nach dem Sinn] nicht gibt, ist schlechthin unbestreitbar. Die Frage ist nur, in welchem Sinne sie ‚keine‘ Antwort gibt, und ob sie stattdessen nicht doch vielleicht dem, der die Frage richtig stellt, etwas leisten könnte. 22 Die Abwesenheit des Fragezeichens am Ende des zitierten Satzes ins Licht geisteswissenschaftlicher Selbstreflexion zu rücken, ist der Anspruch der nach‐ folgenden Beiträge. Diese Frage lautet: Was kann das Fragen leisten, das nicht auf eine letztgültige Antwort zielt? Im besten Falle stellt sie, so die These der nachfolgenden Beiträge, die unhinterfragte disziplinäre Ordnung der Dinge dergestalt in Frage, dass ihre Zusammensetzung und Organisation als erklä‐ rungsbedürftig erscheint. Das verbindet die Frage nach den Fragerichtungen der Disziplinen innerhalb eines diskursiven Rahmens mit der Kritik. Gerald Rauning hat in seiner Analyse von Foucaults Was ist Kritik? Kritik als „produktive[n] Prozess der Neuzusammensetzung“ 23 bestimmt, der hier auf den Modus des Hinterfragens ausgerichtet werden kann, sodass gerade in der Frage der Blick auf andere Formen des Arrangierens, Kombinierens, Komponierens geöffnet wird. Um diesen produktiven Prozess in Gang zu setzten, so unsere Annahme, muss jedoch die Frage der Kritik zugleich eine Kritik der Frage sein: ihrer Blickrichtung und ihrer institutionellen, disziplinären Rahmungen, also dessen, was ohne ein anderes Fragen nicht wahrnehmbar, sichtbar und sagbar bliebe. Mit dieser Adressierung der geisteswissenschaftlichen Fragepraxis in der Form einer Frage an die Geisteswissenschaften versteht dieser Beitrag sich allerdings keineswegs außerhalb, in einem Außen des Fragens. Mit der Frage nach 37 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 24 Die Beiträge der interdisziplinären Tagung Geisteswissenschaften [frage-zeichen], die am 13. Januar 2017 im Hamburger Warburg-Haus stattfand, sind versammelt in Drews et al. (Hrsg.) (2019). Die Frage in den Geisteswissenschaften. Herausforderungen, Praktiken und Reflexionen. der Involviertheit des Fragenden, der „kritischen Haltung“ (Foucault) ist sein In-Mitte-Sein in disziplinäre, institutionelle und gesellschaftliche Rahmungen immer mit angesprochen. In den ersten beiden Beiträgen wird es daher auch um die grundlegenden Bestimmungsmöglichkeiten dieser Haltung gehen: dem Raum und der Zeit des Fragens, um anschließend in drei exemplarischen Lektüren das Verhältnis von sichtbaren und abgeblendeten Objekten geisteswis‐ senschaftlichen Fragens zu untersuchen. Kevin Drews nimmt ein Kunstwerk, das als Rauminstallation im Foyer der Universitätsbibliothek Erfurt zu sehen ist, zum Anlass, um daran kritische Anmerkungen zur Zirkelstruktur eines Fragens nach dem Fragen zu knüpfen und den Ort des Fragenden zu bestimmen. Sandra Ludwig wird in ihrem Beitrag dem prekären Status des richtigen Augenblicks des Fragens nachspüren, indem sie vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Krise und Kairos die Zeitlichkeit des Fragens in den Blick nimmt. Anschließend folgen drei exemplarische Lektüren disziplinärer Frageszenen, in denen kritisch beobachtet wird, wie Fragerichtungen und Blickbahnen nicht nur bestimmte Objekte fokussieren, sondern zugleich andere Formen des Fragens ausschließen. Andrea Renker geht in ihrem Beitrag von der grundsätzlich polyvalenten Po‐ tenzialität geisteswissenschaftlicher Frageobjekte (Kunstwerke) aus und schlägt in Anknüpfung an Roman Jakobsons Überlegungen zur poetischen Sprachfunk‐ tion eine Übertragung der literaturwissenschaftlichen Theorie auf die kritische Betrachtung und Befragung nicht genuin künstlerischer Objekte vor. Friederike Schütt beleuchtet in ihrem Beitrag aus kunsthistorischer Perspektive, wie sich eine wissenschaftsgeschichtlich orientierte Befragung kanonisierter Objekte und Methoden als Form kritischen Denkens manifestieren und Impulse für das Auffinden bisher nicht gestellter Fragen in der geisteswissenschaftlichen Praxis liefern kann. Ann-Kathrin Hubrich nimmt Aby Warburgs Denken der Pathosformel zum Anlass, um das Verhältnis zwischen traditionellen Bildse‐ mantiken und dem uneindeutigen ikonographischen Status gegenwärtiger Bildproduktionen zur Fluchtdebatte in der Presselandschaft auszuloten. Dabei wird die generelle Frage nach dem Ort der Bildwissenschaft in und für die Geisteswissenschaften kritisch in den Blick genommen. Der Beitrag in diesem Sammelband entstand in Anknüpfung an ein gemein‐ sames Tagungsprojekt 24 und präsentiert sich als experimentelle, bewusst offen gelassene Annäherung an die Theorie und Praxis des geisteswissenschaftlichen Fragens in fünf kurzen Essays. Deren Anordnung leitet in der inhaltlichen 38 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 25 Nietzsche (1999c). Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 - Herbst 1886, 2 [25], 76. Dramaturgie von grundsätzlichen Erwägungen des Fragepotenzials in den Geisteswissenschaften sukzessive in exemplarische Lektüren über. Dabei geht es nicht darum, eine über die einzelnen Beiträge hinausweisende kohärente inhaltliche oder methodische Linie zu verfolgen, die die einzelnen Beiträge zu einer verbindlichen Einheit zusammenfügt. Die gemeinsame Absicht der Essays liegt vielmehr darin, aus ihren verschiedenen Perspektiven Prismen anzubieten, die immer erneut dem Verhältnis von Frage und Kritik im geisteswissenschaftli‐ chen Arbeiten auf die Spur zu kommen suchen. Wenn sich aus der Konstellation der hier vereinigten Perspektiven eine höhere Aufmerksamkeit dafür einstellt, dass geisteswissenschaftliche Arbeit an den Möglichkeiten der Kritik nicht ohne grundsätzliche (methodische) Reflexion über den Status des Fragens zu haben ist, dann hat der Beitrag seinen Sinn bereits erfüllt. Um jedoch zu markieren, wo unter den verschiedenen Beiträgen Zusammenhänge hergestellt werden können, wurden an verschiedenen Stellen der einzelnen Texte Querverweise eingefügt, sodass neben einer linearen Lektüre auch die Möglichkeit gegeben ist, hinsichtlich spezieller Schwerpunkte zwischen den Beiträgen zu springen, diese miteinander zu vergleichen, zu konfrontieren und zu diskutieren. Der Zirkel des Fragens (Kevin Drews) I. „Was denn? fragte ich neugierig. - ‚Wer denn? sollst du fragen.‘ Also sprach Dionysos und schwieg darauf, in der Art, welche ihm zu eigen ist, nämlich versucherisch.“ 25 - Das Versucherische, das Friedrich Nietzsche in diesem Frag‐ ment aus dem Jahre 1885 dem Schweigen des Dionysos anschreibt, resultiert aus einer folgenreichen Verschiebung des Fragemodus. Die Substanz-Frage Was ist …? wird ersetzt durch die Perspektiv-Frage Wer …? , die sich auf denjenigen ausrichtet, der spricht und die Frage stellt (→ Einleitung). Provokativ ist das Versucherische zudem, weil es in der Schwebe lässt, ob es sich in der Verschiebung um eine gefährliche Versuchung als Verführung oder um einen aussichtsreichen Versuch als Experiment eines anderen Fragens handelt. Zwischen Schweigen und Sprechen, Passivität und Aktivität, Reaktion und Aktion wirft die Verschiebung den Fragenden in die Frage zurück, betrifft ihn unmittelbar und macht so die Reflexion des Ortes und der Perspektive des Fragenden zum dringlichen Problem. Der französische Philosoph Gilles Deleuze hat in seinem Buch über Nietzsche darauf aufmerksam gemacht, dass sich diese Verschiebung bei Nietz‐ 39 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 26 Deleuze (1991). Nietzsche und die Philosophie, 85. 27 Ebd., 84. 28 Ebd., 85. 29 Vgl. Deleuze (1992). Differenz und Wiederholung, 202 f. Der Unterschied zwischen inter‐ rogation als Befragung und question als Frage liegt in der Behandlung des zugrundelie‐ genden Problems und der Ausrichtung auf eine mögliche Lösung. Die interrogation bezieht sich auf ein Problem nur in Hinblick auf eine mögliche Lösung, schreibt der Befragung also ihre Lösbarkeit nicht nur immer schon ein, sondern versteht das Problem selbst bloß als Hindernis auf dem Weg zur Antwort. Die question hingegen geht nicht davon aus, dass alle Probleme immer schon offen liegen und nur noch gelöst werden müssten. Sie versteht sich als Modus des Hervorbringens von Problemen, die dann auch nicht bloß hinsichtlich ihrer Lösung interessieren, sondern in ihrer Problematik als solche im Mittelpunkt stehen: „Der Sinn liegt im Problem selbst. […] Man muß damit aufhören, die Probleme und Fragen als Abklatsch der entsprechenden Sätze zu begreifen, die ihnen als Antwort dienen oder dienen können“ (ebd., S. 203). 30 Vgl. Bodenheimer (2011). Warum? Von der Obszönität des Fragens. 31 Platon (1991). Menon, 84 b. sche auf das „Perspektivische[…]“ 26 des Fragens aus der Einsicht ergibt, dass die Substanz-Frage „eine spezifische Art des Denkens voraussetzt 27 , die weder die mannigfaltigen Elemente zu berücksichtigen vermag, die als Erscheinungen nicht unter einem Allgemeinbegriff subsumierbar sind, noch die konstitutive Frage, „von welchem Blickwinkel aus“ 28 gedacht, gefragt, gesprochen wird, einbezieht. Die Urszene dieses Bild des Denkens als Befragung (Gilles Deleuze unterscheidet in seinen Arbeiten immer wieder kritisch zwischen interrogation und question 29 ), das der Substanz bzw. dem Wesen nachspürt, findet sich bei Platon. Im Menon befragt Sokrates einen jungen Sklaven nach seinem Verständnis der Geometrie. Was als Zwiegespräch zwischen Menon und Sokrates beginnt, wird sehr schnell zu einer fragenden Prüfungssituation, deren hierarchisches Verhältnis trotz der von Sokrates immer wieder betonten eigenen Unwissenheit offensichtlich wird. Dasjenige, was Aron Ronald Bodenheimer in seinem Buch über die Frage Warum? als die Obszönität des Fragens bezeichnet, 30 als den entlarvenden Gestus im Nur-Fragen-Stellen, wird in der Abfrage des Sokrates dann ganz deutlich, wenn er selbst zugeben muss, dass er den Knaben in „Verlegenheit […] und zum Erstarren, wie der Krampfrochen“ 31 gebracht hat. Entscheidender an dieser Urszene für den Zusammenhang von Fragen und dem vorausgesetzten Bild des Denkens ist vielleicht aber noch die Tatsache, dass die Antwort, die Lösung des Rätsels immer schon gegeben ist. Die Frage zielt hier nicht ins Offene dessen, was fraglich ist, sondern findet in der Anamnesis, in der wiedererinnerten Antwort als immer schon gegebenes Wissen ihren vorausgesetzten Schlusspunkt. Wenn in den platonischen Dialogen Was-ist-Fragen gestellt werden und die Gesprächspartner nicht mit einer allgemeinen Definition aufwarten, sondern nur unterschiedliche 40 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 32 Deleuze (1991). Nietzsche und die Philosophie, 84. Trotz der kritischen Anmerkungen zu dieser Urszene des prüfenden Fragens muss festgehalten werden, dass es gerade Platon war, der das Fragen als ein produktives Erkenntnismittel dem abendländischen Denken als seine kritische Vollzugsform eingeschrieben hat. 33 Vgl. Nietzsche (1999a). Ecce homo. Wie man wird, was man ist, 322. 34 Nietzsche (1999b). Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister, 17 (Un‐ terstreichungen durch Verf.). 35 Deleuze (1991). Nietzsche und die Philosophie, 85. Beispiele für das in der Frage Gesuchte geben (bspw. Was ist das Schöne? ), dann liegt das nicht zwangsläufig nur daran, dass die Antworten unzureichend sind: „Wenn man gefragt wird ‚Was ist das Schöne? ‘, ist es zweifellos einfältig, zu zitieren, was schön ist, aber es steht keineswegs zweifelsfrei fest, ob die Frage ‚Was ist das Schöne? ‘ nicht vielleicht selbst auch einfältig ist. Keineswegs ist sicher, daß sie legitimierweise und gut gestellt ist […].“ 32 In Nietzsches metaphysikkritischer Arbeit Menschliches, Allzumenschliches, mit der er selbst eine Krise im Denken (und in der Darstellungsform) überwindet, 33 spricht er bereits einige Jahre vor dem oben zitierten Fragment die Konsequenz aus, die sich für ihn aus der Verschiebung im Fragen ergibt: Mit einem bösen Lachen dreht er [der befreite, losgelöste Geist, K. D.] um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehen, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, - wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrund seines Treibens und Schweifens - denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste - steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. ‚Kann man nicht alle Werthe umdrehn? ‘ 34 Das Kraftzentrum der Wer-Frage liegt im konstitutiven Perspektivismus, durch den der Fragende selbst der Versuchsanordnung im Denken ausgesetzt wird: „Die Frage ‚Wer? ‘ bedeutet nach Nietzsche: etwas sei gegeben, welch Kräfte bemächtigen sich seiner, wessen Willen ist es untertan? Wer drückt sich aus, manifestiert sich, ja verbirgt sich in ihm? “ 35 Im Folgenden soll jedoch nicht diese Philosophie des Willens im Mittelpunkt stehen, sondern der Fragerichtung nachgespürt werden, die Nietzsche hier zugleich versuchsweise und versuche‐ risch verschoben hat, um den Ort des Fragenden zu reflektieren. Die Verschie‐ bung der Substanz-Frage zur Perspektiv-Frage ersetzt nicht nur eine Frageform durch eine andere, sondern rückt mit der Frage nach der konstitutiven Einbe‐ ziehung des Fragenden in die Frage sogleich die Verschiebung des Fragens durch die je perspektivisch bewegbare Blick- und Fragerichtung selbst in den Mittelpunkt: Die Frage nach dem Wer …? zeitigt eine grundlegende Reflexion 41 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 36 Försters Rauminstallation gewann den 1. Preis im Kunstwettbewerb für die Universi‐ tätsbibliothek 1999. Bilder des Kunstwerkes sind auf der Internetseite des Künstlers zu sehen: Förster (o. J.). www.dietrich-foerster.de/ html/ 03efu3.html. 37 Dieses Zitat findet sich auf einem Informationsblatt, das in der Universitätsbibliothek Erfurt ausliegt. darüber, wie sich das Fragen verschiebt, wenn es vom Ort des Fragenden, von seiner Konstitution und seinen spezifischen Denkvoraussetzungen ausgeht. Ich möchte daher damit beginnen, anhand eines künstlerischen Objekts, einer Rauminstallation, die in der Universitätsbibliothek Erfurt hängt, den Blick auf die Mehrdeutigkeit (→ A. Renker), die Probleme, ja vielleicht die Paradoxien des Verhältnisses von Fragen und Fragendem zu werfen, indem ich ein paar Fragen an dieses Kunstwerk richte. Es geht darum, die einfache lineare Bewegung von der Frage zur Antwort etwas durcheinander zu bringen, um so dem eigentüm‐ lichen Status des Fragens als Vollzugsform kritischer geisteswissenschaftlicher Arbeit auf die Schliche zu kommen. II. Steigt man im Foyer der Universitätsbibliothek Erfurt die Treppen zur ersten Etage hinauf, erreicht man nicht nur die Bücherregale der geisteswissenschaftli‐ chen Disziplinen, sondern wird eher nebenbei und beim Abschreiten der Regale mit einer interessanten Installation des Künstlers Dietrich Förster konfrontiert. 36 Von der Decke im Treppenauge hängen 7x7 rot lackierte Aluminiumrohre, die als Würfel arrangiert sind und sich in immer freieren Bewegungen nach oben aus einer klar strukturierten Ordnung lösen. Der Künstler kommentiert diese Bewegung folgendermaßen: „Wissenschaftlicher Fortschritt ist nur mög‐ lich, wenn es gelingt, das Fundament aus gesetzmäßig erfassbarer Ordnung zu verlassen, um in einer Art kreativem Höhenflug in noch unbekanntes Terrain vorzustoßen.“ 37 Für sich genommen scheint die Installation zunächst für diesen Anspruch an wissenschaftliches Arbeiten, an kritische Hinterfragung festgefügter Ordnungsmuster einen sehr gelungenen Ausdruck gefunden zu haben. Ein elementares Werkzeug dieses kreativen Vorstoßens ist dabei sicher‐ lich das kritische Fragen, die Formulierung von Fragen, die die disziplinären Ordnungen der Dinge lockern und andere Anordnungsweisen ermöglichen. Allerdings verkomplizieren sich die Dinge, wenn man das Kunstwerk in seinem architektonischen Milieu kontextualisiert. Eine Rauminstallation steht niemals für sich allein, sondern interagiert notwendigerweise mit dem sie umgebenden architektonischen Raum. Berücksichtigt man dies, so kann festgestellt werden, dass man den besten Blick auf das Kunstwerk hat, wenn man sich auf der geisteswissenschaftlichen Etage der Universitätsbibliothek befindet. Dann aber 42 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich beginnt Försters Installation nicht mit der starren Ordnung, um anschließend in immer freiere Bewegungen versetzt zu werden, vielmehr steht man am Treppenaufgang zunächst vor der freien Bewegung der Aluminiumrohre, die sukzessive in eine immer klarere Ordnung münden. Das Abschreiten der Installation steht also im umgekehrten Verhältnis zur diskursiven Beschreibung der Intention. Nun könnte man etwas böswillig mit Michel Foucaults Überle‐ gungen zu institutionellen Disziplinierungsmechanismen behaupten, dass diese Umkehrung eine treffendere Metapher evoziert: Im Laufe des Studiums, das hier zugleich als sukzessives Abschreiten der Bücherregale (und damit als fortwährendes Akkumulieren von Wissensbeständen, d. h. als Bildungsgang) und der Rauminstallation versinnbildlicht ist, entstehen aus freien Denkern, kritisch Fragenden im doppelten Sinne disziplinierte, akademische Subjekte, die sich allmählich in feste Gefüge disziplinärer Anordnungen, abgegrenzter Zu‐ ständigkeiten, unbeweglicher Fragepositionen und -richtungen einreihen. Auf diese Lesart, die eher zu einer klassischen Institutionenkritik tendiert, möchten die folgenden Überlegungen aber gar nicht hinaus. Viel interessanter scheint die Interaktion von Kunstwerk und Bibliothek, wenn sie auf den strittigen, uneindeutigen Status kritischen Fragens in den Geisteswissenschaften bezogen wird. Dann gerät mit dieser Interaktion das Fragen selbst in eine eigentümliche Zwischenposition, in eine Zone, in der zwischen Anfang und Ende (→ S. Ludwig), zwischen Frage und Antwort als Zweck-Mittel-Relation keine klaren Grenzen zu ziehen sind, wodurch letztlich die Frage des anderen Anfangens, d. h. der anderen Fragerichtungen, der Verschiebung von disziplinären Frageausrich‐ tungen selbst zur Disposition steht. Diese Ununterscheidbarkeit, oder besser: die Zirkularität des Fragens zwischen Anfang und Ende, Vorwärts und Rückwärts, Aktion und Reaktion, Bewegung und Stillstand scheint mir für das Nachdenken über kritisches Fragen in den Geisteswissenschaften ganz entscheidend. Sie betrifft denjenigen, der die Fragen stellt, den Denkenden in seiner perspekti‐ vischen Relation zu den Gegenständen, seine Haltung inmitten disziplinärer Anordnungen. Die Bestimmung von Anfang und Ende des Kunstwerkes in der Universitätsbibliothek Erfurt wird dann uneindeutig, wenn sie mit dem Raum in Beziehung gesetzt wird. Als Reflexionsmedium entfaltet es seine Kraft, wenn man die Frage nach Anfang und Ende zunächst unbestimmt lässt und den Fokus auf die gegenläufigen Bewegungen inmitten der räumlichen Anordnung legt, die dann stets eine Frage der sich verschiebenden Perspektive wird. III. Zunächst ließe sich probeweise behaupten, dass die Frage nach der Frage auch oder vor allem in den Geisteswissenschaften in einer konstitutiven Zirkelstruktur 43 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 38 Derrida. Die unbedingte Universität, 12f. 39 Derrida (1992). Vom Geist. Heidegger und die Frage, 16. 40 „Fällt aber solches Unterfangen nicht in einen offenbaren Zirkel? Zuvor Seiendes in seinem Sein bestimmen müssen und auf diesem Grunde dann die Frage nach dem Sein erst stellen wollen, was ist das anderes als das Gehen im Kreise? Ist für die Ausarbeitung der Frage nicht schon ‚vorausgesetzt‘, was die Antwort auf diese Frage allererst bringen soll? “ (Heidegger (1993). Sein und Zeit, 7). 41 Ebd., 153. befangen zu sein scheint. Auch in Jacques Derridas grundsätzlichen Überlegungen zu den Vollzugsformen kritischer Arbeit an der Universität bleibt die Frage nach der „Autorität der Frage, die Form des Denkens als Befragung“ 38 , oder wie es in seinem Buch über Heidegger, den Geist und die Frage heißt: das „Privileg des Fragens, der Frageform, des fragenden Wesens, der Würde, die sich wesentlich dem Fragen verdankt“ 39 , selbst im Fragen eingeschlossen (→ Einleitung). Das Fragezeichen am Ende des Satzes bleibt auch in der Reflexion über abendländisch-philosophische Fragepraktiken noch modus operandi der kritischen Hinterfragung. Ein unentrinnbarer Zirkel? Die angedeutete Gegenbe‐ wegung zwischen Kunstinstallation und architektonischem Milieu legt diese Zirkularität nahe. Eine Aporie bedeutet diese jedoch sicherlich nicht. Wenn Aporie Weglosigkeit, Methode hingegen die Wegbarkeit anzeigt, dann ist mit dem Gegenstand (dem Fragezeichen) die methodische Möglichkeit der kritischen Denkarbeit selbst schon gegeben. Es handelt sich demnach um eine (vielleicht paradoxe) Aufgabe, insofern als dass der Gegenstand hier zugleich die Methode selbst darstellt, immer schon ist. Die Frage nach dem Status und den Möglichkeiten geisteswissenschaftlichen Fragens bleibt also immer fraglich, ganz sicher aber auch (im positiven Sinne) fragwürdig. Vielleicht vermag uns Martin Heidegger, jener Philosoph, der wie kein Zweiter im 20. Jahrhundert die Frage nach dem Fragen, den Sinn des Fragens zum Problem des Denkens erhoben hat, einen ersten Anhaltspunkt für das zirkuläre Verhältnis von Gegenstand und Methode zu liefern. In Sein und Zeit betont er die Notwendigkeit, den Sinn der Frage nach dem Sein allererst wieder zu entdecken, wobei genau diese Forderung einer zirkulären Logik unterworfen zu sein scheint, da dasjenige, was als Frage erst wiederentdeckt werden soll, doch eigentlich im Fragen selbst bereits vorausgesetzt werden müsste. Auf dieses scheinbar ausweglose „Gehen im Kreise“ 40 antwortet Heidegger: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“ 41 Neben Heideggers eigener Technik des Hineinkommens als fundamentalontologische Wiederbelebung des Verständ‐ nisses nach der Frage des Sinns des Seins (also Fragen als existenzialer Seinsmodus des Daseins), die an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden soll, sind es vor allem zwei weitere Aspekte, die sich in diesem Zitat ausgedrückt finden: 1) Zunächst 44 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 42 Ebd., 8. 43 „Die Universität müßte also auch der Ort sein, an dem nichts außer Frage steht“ (Derrida (2001). Die unbedingte Universität, 14). 44 Deleuze (1992). Differenz und Wiederholung, 171 [hervorgehoben im Original]. Zum Bild des Denkens insgesamt vgl. ebd., 169-215. 45 In Bezug auf die Zirkularität des Fragens arbeitet dieses Bild des Denkens mit impliziten Voraussetzungen, die selbst nicht zur Sprache kommen, jedoch den Schein eines absoluten Anfangs produzieren, der vor allem in einem Stellvertreter-Diskurs mündet: „Ermitteln wir besser, was eine subjektive oder implizite Voraussetzung ist: Sie hat die Form des ‚Jedermann weiß, daß…‘. Jederman weiß, noch ohne Begriff und auf vorphilosophische Weise …, jederman weiß, was Denken und Sein bedeutet …, so daß der Philosoph - wenn er sagt: Ich denke, also bin ich - das Universale seiner Prämissen, was Sein und Denken meint …, als implizit begriffen voraussetzen kann und niemand abzustreiten vermag, daß Zweifeln Denken sei und Denken Sein … Jedermann weiß, niemand vermag abzustreiten - dies ist die Form der Repräsentation und der Diskurs des Repräsentanten“ (Deleuze (1992). Differenz und Wiederholung, 170). 46 Ebd. 47 Vgl. auch Deleuze (2014). „Über die Philosophie“, 198. bedeutet das Im-Zirkel-Sein, dass es in Bezug auf das Fragen immer schon eine Art vorgängiges Verständnis gibt, das die Bedingungsmöglichkeiten des Fragens bestimmt. Das „Fragen nach x“ setzt demnach ein Vorverständnis voraus, ist nicht voraussetzungslos. Heidegger nennt das „vorgängige[…] Hinblicknahme“ 42 . Dieses Vorverständnis näher in den Blick zu nehmen, kann vor allem fruchtbar werden, wenn man es kritisch mit Derridas Forderung nach dem Bedingungslosen des In-Frage-Stellens konfrontiert. 43 2) Außerdem ist dieses Hineinkommen oder Immer-schon-inmitten-Sein in der Frage gerichtet gegen einen allzu schnellen Ausweg durch die Antwort. Dieser Aspekt richtet sich vor allem gegen ein Fragen, das sich einer linearen Zweck-Mittel-Relation einschreibt und die Produktion von Fragen, das kritische In-die-Frage-Stellen immer schon auf ein (bekanntes) Ziel hin restringiert. Das wäre dann sicherlich kein bedingungsloses Hinterfragen, sondern bloß immanentes Mittel einer Verwertungslogik, die dem kritischen Potenzial des anderen Fragens nicht gerecht werden kann. Mit Gilles Deleuze könnte man sagen, dass dieser Zweck-Mittel-Relation als Frage-Antwort-Logik ein bestimmtes „Bild des Denkens“ als „natürliche […] Ausübung eines Vermögens unter Voraussetzung eines naturwüchsigen Denkens, das zum Wahren fähig und geneigt ist, und zwar unter dem doppelten Aspekt eines guten Willens des Denkenden und einer rechten Natur des Denkens“ 44 zugrunde liegt. 45 Dieses Bild des Denkens „in Form eines naturwüchsigen Denkvermögens, die es der Philosophie erlaubt, sich den Anschein des Anfangs, eines voraussetzungslosen Anfangs zu geben“ 46 , ist bestimmt durch kontempla‐ tive Innwendigkeit, reflexive Selbstbestimmung und letztendlich eindeutige Signifikation. 47 Die implizite Logik der Voraussetzung präjudiziert damit jedes 45 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 48 Deleuze (1991). Nietzsche und die Philosophie, 119. Vgl. auch: Deleuze; Guattari (2000). Was ist Philosophie? . In Differenz und Wiederholung heißt es dazu pointiert: „Zählen wir nicht auf das Denken, um die relative Notwendigkeit dessen, was es denkt zu festigen, sondern im Gegenteil auf die Kontingenz einer Begegnung mit dem, was zum Denken nötigt, um die absolute Notwendigkeit eines Denkakts, einer Leidenschaft zum Denken aufzureizen und anzustacheln. Die Bedingung einer wahrhaften Kritik und einer wahrhaften Schöpfung sind die nämlichen: Zerstörung des Bilds eines Denkens, das sich selbst voraussetzt, Genese des Denkakts im Denken selbst“ (Deleuze (1992). Differenz und Wiederholung, 181 f.). Fragen durch eine erste Entscheidung für das normierte Bild des Denkens, sodass jede spätere Hinterfragung - etwa von begrifflichen Explikationen - stets der primären und konstitutiven Ordnung unterworfen bleibt; hergestellt in einer linearen, sukzessiven Formalisierung. Wenn dieses Bild des Denkens gerade jene freie Bewegung des Denkens einschränkt, die die Installation in der Universitätsbibliothek Erfurt versinnbildlichen möchte, dann muss die erste kritische Frage lauten: Wie könnte dem Fragen in seiner Offenheit stattgegeben werden, ohne jedoch zugleich die Möglichkeit der Erkenntnis, das Streben nach Einsicht preiszugeben? (→ F. Schütt, A. K. Hubrich). Denn man könnte der hier eingeleiteten kritischen Betrachtung der Zweck-Mittel-Relation des Frage-Antwort-Spiels doch vor allem entgegenhalten: Verliert nicht das Fragen gerade in dem Moment, wo es scheinbar von den befragten Phänomenen abstrahiert, um sich als Erkenntnismodus und erkenntniskritischer Zugang selbst zu reflektieren, an Gehalt? Wird das Fragen nach der Frage nicht zur eitlen Selbstbespiegelung, reine Selbstbezüglichkeit in einem vermeidbaren Zirkel, oder in Abwandlung einer berühmten Formel: la question pour la question? Deleuze versucht dem dogmatischen Bild des Denkens und dem gerade vor‐ gebrachten Einwand zu entkommen, indem er das Denken (und das Fragen! ) auf dasjenige bezieht, was es überhaupt erst anregt und von woanders herkommt. Demnach ist das Nicht-Philosophische dasjenige, was das Denken antreibt: „[S]ie [die Griechen, K. D.] wußten, daß das Denken nicht ausgehend von einem guten Willen zu denken anfängt, sondern auf Grund von Kräften, die auf es einwirken und zum Denken zwingen.“ 48 Das Zwingende kommt von woanders her und trifft das Denken dergestalt, dass das traditionelle Bild des Denkens zugunsten eines Bildes aufgegeben wird, das das Denken auf dieses Affiziert-Werden als Ausgangspunkt verpflichtet. Dasjenige, was das geisteswissenschaftliche Fragen vielleicht auch heute noch zum Denken und Fragen zwingt, kommt aber gerade nicht von woanders her, sondern ist von Anbeginn (und vielleicht sogar schon vorher) in ihre DNA eingeschrieben: Die Frage nach dem Sein der Geisteswissenschaften, ihrem Selbstverständnis, ihrer Legitimation. Das Fragen selbst steht am Anfang der 46 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich Geisteswissenschaften, oder besser: leitet die Bedingungsmöglichkeit ihrer Kon‐ stituierung im 19. Jahrhundert ein. Denn bereits um 1800, darauf hat Michel Fou‐ cault uns hingewiesen, trägt sich mit der Frage „Was ist Aufklärung? “ nicht nur ein konkretes, epochenspezifisches Problem in die Geschichte des Denkens ein, sondern die Frage nach der Fragwürdigkeit, der Frageform im Augenblick des konkreten, kritischen In-Frage-Stellens selbst wird zum Gegenstand erhoben (→ vgl. Einleitung). Die historische Signatur des Fragens, die die eigene Aktua‐ lität, den Bezug zur Vergangenheit und zur Zukunft gleichermaßen betrifft, ist auch dann späterhin dem geisteswissenschaftlichen Arbeiten, Denken, Fragen als conditio sine qua non des eigenen Selbstverständnisses eingeschrieben. Im Zentrum steht also gar nicht so sehr die letztbegründende, ideengeschichtlich bestimmbare Antwort auf die Frage nach der Geisteswissenschaft (etwa als Kompensationstheorie, fröhliche Wissenschaft oder permanente Krise), son‐ dern die Frage selbst als die Vollzugsform dieser immer erneuten Fraglichkeit ihres Selbstverständnisses mit offenem Ausgang. Die Frage nach der Frage als kritische geisteswissenschaftliche Praktik betrifft also zuallererst die Frage nach ihrem eigenen Anfang, den Ort folglich, an dem sie ein- und an-setzt. Damit ist mit der Reflexion über die Frage der Geisteswissenschaft immer auch die Frage nach der Geisteswissenschaft verbunden. In praktischer Hinsicht erzeugt gerade diese Doppelung eine produktive Spannung, wenn kritisches geisteswissenschaftliches Arbeiten die Gefahr vermeidet, nur die mannigfal‐ tigen und häufig sich wiederholenden Positionen und Argumente zur Krise der Geisteswissenschaft zu reproduzieren und sich stattdessen bewusst bleibt, dass gerade mit der eigenen Frageperspektive nicht nur der je spezielle Einzelgegen‐ stand fokussiert wird, sondern zugleich (manchmal direkt, häufiger indirekt) grundsätzlich geisteswissenschaftliches Arbeiten zum Gegenstand wird. Das heißt also die Installation von Dietrich Förster in der Universitätsbi‐ bliothek Erfurt ist nicht darum so interessant, weil sie etwa falsch herum gehängt wurde. Das würde ja bloß implizieren, dass bei einer umgedrehten Anordnung die Ordnung der Dinge wiederhergestellt würde. Es wäre nichts an‐ deres als kritisches Fragen erneut in eine Zweck-Mittel-Relation einzuschreiben. Vielmehr ergibt sich gerade an der gegenläufigen Bewegung zwischen Raum und Kunstwerk, in der Ununterscheidbarkeit von Anfang und Ende ein Refle‐ xionsmedium für kritisches Fragen. Wenn geisteswissenschaftliches Fragen immer schon konstitutiv von der Frage nach der Geisteswissenschaft angeregt wurde, gibt es eben keinen Anfang und auch kein Ende, sondern nur ein Immer-Schon-Inmitten-Sein als einziger Ausgangspunkt und Möglichkeitsbe‐ dingung unvorhergesehener, anderer Bewegungen im Modus des Fragens selbst. Die Reflexion über den eigenen Ort in diesem Gefüge ist dann der Anfang 47 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 49 Foucault (1991). Die Ordnung des Diskurses, 9. 50 Ebd. 51 Foucault (2005). Was ist Aufklärung? , 695. einer kritischen Arbeit, die nicht einen absoluten Anfang zeitigt, sondern einen Anfang, der immer schon inmitten von problematischen Bezügen verortet ist und die Frage erst zu stellen hat, die diesem Problem gerecht wird. Michel Foucault hat exemplarisch diese Frage des eigenen Ortes in jenem Augenblick gestellt, der für ihn selbst ein Anfang war: der Antrittsvorlesung als institutio‐ nellem Initiationsritual. In seiner Antrittsvorlesung Die Ordnung des Diskurses am Collège de France reflektiert Michel Foucault das Problem des „Anfangens“ 49 . Er fragt sich dort, was es überhaupt bedeutet, der „Urheber des Diskurses zu sein“ 50 , als Erster zu sprechen. Die Voraussetzung der Urheberschaft ist für ihn das souveräne Subjekt, das über seinen Gegenstand erhaben verfügt und auf dieser Grundlage einen sinnhaften Monolog als stringente Erzählung von einem Punkt x=a zu einem Zielpunkt x=b zu halten vermag. Die Abkehr von diesem souveränen Standpunkt ist hier nicht Inszenierung oder spielerische Koketterie mit den Aporien des modernen Autorsubjekts, um hinterrücks und heimlich entschiedener denn je wieder zu diesem Standpunkt zurückzukehren, sondern die radikale Konsequenz aus dem eigenen Denken. Die Reflexion über den eigenen Ort des Sprechens ist die Bedingungsmöglichkeit für die Erkenntnis der eigenen Involviertheit als „Beziehungsmodus im Hinblick auf die Aktualität“ 51 dessen, was in der eigenen Praxis als Frage und Problem latent ist. Nietzsches Verschiebung auf die Wer-Frage bedeutet hier dann jedoch nicht Parteilichkeit, dogmatische Stellungnahme oder politische Positionierung, sondern die kritische Reflexion, über den eigenen Ort inmitten disziplinärer An‐ ordnungen, institutioneller Rahmenbedingungen und dem nicht-universitären Außen, die sich im Fragen als Suchbewegung bahnen kann. Diese möglichen Bahnungen anderer Fragerichtungen versuchsweise auf ihre Möglichkeiten hin auszuprobieren, kann neue kritische Fragen hervorrufen, eingedenk jedoch des Versucherischen, das dabei immer auch eine gefährliche Verführung bleibt. Fragenstellen als zeitkritisches geisteswissenschaftliches Verfahren (Sandra Ludwig) Hinterfragt man das Prinzip des Fragenstellens als Kerntätigkeit geisteswissen‐ schaftlichen Denkens und Arbeitens, so wird deutlich, dass es nicht nur darauf ankommt, welche Fragen gestellt werden, von welcher (Dis-)Position aus und mit welcher Intention Fragen gestellt werden (→ K. Drews), sondern auch, wann diese Fragen gestellt werden. Dieser bedeutsame Zusammenhang zwischen 48 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 52 Bildquelle: © MiC-Musei Reali, Museo di Antichità, Turin; vgl. auch „Kairos 4“, 597. Für die entstehungsgeschichtlichen Angaben zur Reliefdarstellung vgl. VIAMUS - Das Virtuelle Antikenmuseum des Archäologischen Instituts der Universität Göttingen. http: / / viamus.u ni-goettingen.de/ pages/ imageView? Object.Id: record: int=1738. Frageform und Fragezeitpunkt lässt sich sinnbildlich bereits an der Denkfigur vom rechten Augenblick und ihrer etymologischen Artverwandtschaft mit den Begriffen des Kritischen und der Krise ablesen. Dies soll im Folgenden in gebotener Kürze erläutert werden. In der griechischen Mythologie taucht die Vorstellung vom rechten Zeitpunkt bzw. vom entscheidenden Augenblick personifiziert in Gestalt der Gottheit Kairos auf. Verschiedene antike Darstellungen zeigen diesen Gott der günstigen Gelegenheit, die gleichsam von äußerst flüchtiger Natur ist, als jungen mit Flügeln versehenen Mann, der jederzeit vorbeieilen kann (s. Abb. 1). Abb. 1: Kairos; römische Reliefdarstellung, 1. Jh. n. Chr., pentelischer Marmor, © MiC-Musei Reali, Museo di Antichità, Turin. 52 Ein aussagekräftiges besonderes Merkmal des Kairos ist dabei sein Haupthaar. Fällt ihm auf der Vorderseite eine lockige Strähne über die Stirn, so ist sein Hinterkopf im Gegensatz dazu völlig kahl. Sinnbildlich wird dadurch die charakteristische Eigenschaft des rechten Zeitpunkts illustriert: Erkennt man Kairos rechtzeitig, kann man die Gelegenheit sprichwörtlich „beim Schopfe 49 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 53 Vgl. Becker (2013). „Der Meister des Kairos. Ein Versuch über die Fassbarkeit des Kreativen“. www.nzz.ch/ der-meister-des-kairos-1.18047525. 54 Lange (1999). „Alles hat seine Zeit. Zur Geschichte des Begriffs kairos“. https: / / archiv1 .fridericianum.org/ ausst/ chronos/ chronos-text1.html. [Hervorhebungen S. L.]. packen“, verpasst man jedoch den Moment, hat man im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen, denn von hinten - oder auch ‚hinterrücks‘ - bekommt man ihn nicht mehr zu fassen und kann der vorübergezogenen Chance nur noch hinterherblicken. 53 Es geht also darum, im entscheidenden Augenblick tätig zu werden. Demnach ist die Zeit in dieser Denkfigur als kritischer Faktor zu betrachten, der Erfolg von Misserfolg, Glück von Unglück und Fortschritt von Versäumnis trennt. So verstanden offenbart sich auch die oben bereits angesprochene Bedeu‐ tungsnähe von Kairos mit der Krise und dem Kritischen; haben die Begriffe doch eine ursprüngliche etymologische Verwandtschaft, wie Christoph Lange feststellt: Kairos ist über keiro (abschneiden) mit krinein verwandt. Das heißt scheiden, trennen, unterscheiden, aber auch entscheiden, ein Urteil fällen. Das Substantiv dazu heißt krisis. Die krisis ist die Trennung, der Einschnitt, bedeutet aber auch Entscheidung eines Wettkampfes, eines Streites, auch eines Rechtsstreites, und dann heißt krisis Gericht. Kairos ist also in seiner temporalen Bedeutung eine Krise der Zeit. Im kairos werden die Zeiten unterschieden. 54 Kairos, das Kritische und die Krise teilen sich also in ihrer Bedeutung allesamt das Moment des Entscheidenden bzw. bezeichnen eine mit einem spezifischen Veränderungspotenzial versehene Situation oder Handlung. Bricht man diese Feststellung nun zurück auf den Ausgangspunkt der Überlegung, nämlich die Problematik der Rechtzeitigkeit oder der rechten Zeitlichkeit geisteswis‐ senschaftlichen Fragenstellens, so wird deutlich, dass es sich dabei gleich in doppeltem Sinne um ein zeitkritisches Verfahren handelt. Zum einen kommt es darauf an, den rechten Zeitpunkt für eine Frage zu erwischen. Damit eine Frage ihre Wirkmacht entfalten kann und von breiterem wissenschaftlichen Interesse ist, muss sie im richtigen Moment gestellt werden. Zu früh gestellte Fragen sind ihrer Zeit vermeintlich voraus. Das heißt, sie berühren Themenfelder oder eröffnen gedankliche Horizonte, für die die Zeit noch nicht reif, die wissenschaftliche Community noch nicht bereit ist. Zu spät gestellte Fragen haben oft ihren Neuigkeitswert verloren und taugen demnach nicht mehr dazu, Wissen zu schaffen, sondern nur noch bereits gegebene Antworten zu replizieren. Wiederholende Fragen erlangen zumeist nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit, um in der wissenschaftlichen Gemeinschaft 50 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich Gehör zu finden. Die angesprochenen Themen sind nicht mehr zeitgemäß; Kairos ist schon um die Ecke entflohen. Wenn das Prinzip des Hinterfragens also kritisches Denken in den Geistes‐ wissenschaften auszeichnet, dann gehört die Kunstfertigkeit, dies zur rechten Zeit zu tun, zur guten geisteswissenschaftlichen Praxis dazu. Gerade dies kann zum Problem werden und tritt oft dann als krisenhaftes Moment hervor, wenn inner- oder interdisziplinär unterschiedliche Auffassungen über den rechten Zeitpunkt für verschiedenartige Fragestellungen existieren. Während manche epistemischen Lager eher zukunftsorientiert ausgerichtet sind, operieren andere Forschergruppen oder ganze Disziplinen mehr traditionsbewusst (→ F. Schütt). Die Kunst, in einer derartig janusköpfigen Wissenschaftslandschaft den Kairos des Fragens nicht entwischen zu lassen, bedeutet also, einen Balanceakt zwi‐ schen einer progressiven und einer konservativen Geisteshaltung zu meistern. Auch dieser Aspekt des Fragenstellens als zeitkritischen Verfahrens findet sich in der Allegorie der antiken Götterfigur wieder. Symbolisch trägt Kairos nämlich neben den Flügelschuhen und dem besonderen Haupthaar auch das Attribut der Waage (s. Abb. 1). Besonders ist dabei, dass der Gott des entschei‐ denden Augenblicks die Waagschalen auf einer Klinge austariert. Der richtige Zeitpunkt ist also stets als ein instabiles Gleichgewicht zwischen zu früh und zu spät, zwischen zu viel und zu wenig anzusehen, das sprichwörtlich „auf Messers Schneide“ steht. Demzufolge kann der rechte Moment einer Frage als kritischer Zustand gelten, der sich dadurch auszeichnet, dass er selbst wiederum stets in Frage steht und nur für begrenzte Zeit die Waage hält. Neben diesen Ausdeutungen weist die Denkfigur des Kairos aber auch noch auf einen anderen zeitkritischen Aspekt geisteswissenschaftlichen Fragenstel‐ lens hin. So erscheint nicht einzig das Ergreifen des rechten Fragezeitpunkts als Herausforderung, sondern auch das Abwägen der Zeit, die auf das Beantworten - oder vielmehr den Prozess des Abwägens möglicher Antworten - der Frage verwendet werden kann, ohne dass das gesamte Projekt kippt und damit scheitert. Gerade in einer Wissenschaftsgesellschaft, in der Zeit immer mehr zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird, fällt diese Seite des Fragens nicht nur symbolisch schwer ins Gewicht. Wenn es im Konkurrenzkampf unter Akademikerinnen und Akademikern nicht mehr nur um Inhalte, sondern auch um Schnelligkeit und eine möglichst umfangreiche Liste an Vorträgen und Veröffentlichungen im Lebenslauf geht, dann gilt es auf den Waagschalen des Kairos mit mehr oder weniger Fingerspitzengefühl auch Masse und Klasse gegeneinander ins Verhältnis zu setzen. So kann bei der Frage nach der rechten Beantwortungszeit einer wissenschaftlichen Problemstellung nicht mehr streng 51 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 55 Vgl. Jakobson (1979). „Linguistik und Poetik [1960]“, 83-121, hier 92-96. Jakobson geht es dabei speziell um die Sprache, der er verschiedene Funktionen zuweist (emotiv, konativ/ appellativ, referentiell, metasprachlich, phatisch und poetisch), siehe ebd., 88-96. Beim sprachlichen Kunstwerk, der Dichtung, ist im Unterschied zu anderen sprachlichen Äußerungen die poetische Funktion gegenüber den anderen Funktionen dominant. Ich möchte diese sechs, von Jakobson identifizierten Funktionen hier von dem sprachlichen Fokus auf das Kunstobjekt im Allgemeinen ausweiten. 56 Lotman (1977). „Zur Distinktion des linguistischen und des literaturwissenschaftlichen Strukturbegriffs“, 131-148, hier 146. nach dem Grundsatz „Gut Ding will Weile haben“ verfahren werden, wenn die Maxime der Stunde darauf drängt, Tempo zu machen. Dass dies eine Tendenz gegenwärtiger geisteswissenschaftlicher Praxis ist, über die es kritisch nachzudenken gilt, dürfte selbst außer Frage stehen‽ Übermäßiger und vor allen Dingen unsachgemäßer Zeitdruck kann der Qualität wissenschaftlicher Arbeiten in den meisten Fällen nicht dienlich sein. Außerdem fördern derartige Rahmenbedingungen im Sinne eines auf Effizienzsteigerung ausgerichteten, zweckrationalen Denkens vorrangig die Art von Fragen, die vermeintlich möglichst schnell zu beantworten sind. Komplizierte Fragen, deren Bearbeitung vergleichsweise mehr Zeit in Anspruch nimmt, werden seltener oder vielleicht sogar in dieser Form gar nicht mehr gestellt. Wenn sich die Geisteswissenschaften ihrem Selbstverständnis nach also gegenüber anderen Fächern dadurch auszeichnen, dass sie eine besondere Kultur des Fragenstel‐ lens pflegen, die der Eigendynamik des dadurch initiierten Denkprozesses Entfaltungsspielraum lässt (→ Einleitung), dann erscheint es kritisch betrachtet sehr fraglich, wenn sie sich dabei unterschwellig einem ökonomischen Prinzip unterwerfen. Zum kritischen Potenzial geisteswissenschaftlichen Fragens (Andrea Renker) Das Kunstwerk - allgemein gesprochen - versetzt den Betrachter in ein Außen. Es fordert auf, ihm zunächst unabhängig von praktischen Überlegungen zu begegnen. Indem es seinen Betrachter in dieses Außerhalb einer bestimmten Funktion nimmt, verweist das Werk auf sich selbst und seine Struktur - ein Phänomen, das der Strukturalist Roman Jakobson unter dem Begriff der poetischen Funktion fasst. 55 Juri Lotman spricht im Fall der Literatur über deren Struktur, die nicht nur „Mittel der Kommunikationsübertragung, sondern ihr Ziel und Inhalt“ zugleich sei. 56 Als quasi professionelle Betrachter künstlerischer Objekte befassen sich Geis‐ teswissenschaftler institutionalisiert mit derartigen Phänomenen. Sie lassen 52 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich sich systematisch auf diesen Raum außerhalb des pragmatischen Funktionszu‐ sammenhangs ein. Daraus ergibt sich ein vermeintlicher Zwiespalt, den sie als Wissenschaftler zwischen Untersuchungsgegenstand und Publikum über‐ brücken müssen. Denn ihre Fragen wollen der Natur des Gegenstands Rechnung tragen, der sich einer unmittelbaren Funktionalisierung im gesellschaftlichen Innenraum entzieht. Zugleich ist das Ziel ihrer wie jeder wissenschaftlichen Fragestellung, das Objekt zu erschließen und so der Gesellschaft zugänglich zu machen. Die Deutungsangebote, die sie von dem Kunstobjekt ableiten und dem Publikum zur Verfügung stellen, weisen diesem somit doch eine gesellschaftliche Funktion zu. Denn sie zeigen Möglichkeiten, wie es verstanden werden kann und weisen das Kunstwerk so als eine Quelle der Erkenntnis aus. Im folgenden Essay möchte ich in der behelfsweise schematischen Annahme des Spannungsfeldes zwischen einem gesellschaftlich-funktionalen Innen und Außen eine Möglichkeit geisteswissenschaftlichen Fragens verhandeln, die einerseits ihren Untersuchungsgegenständen (den Kunstwerken) einen nicht (ausschließlich) pragmatischen Charakter zugesteht und andererseits eben auf diese Weise ein allgemeines, d. h. nicht exklusiv geisteswissenschaftliches Denkmodell kritischer Befragung anbietet. Das erste zweier Beispiele geisteswissenschaftlicher Befragung, die ich dazu thematisieren möchte, entnehme ich der Literaturwissenschaft. Als Frageob‐ jekt sei exemplarisch der Roman Soumission (2015) gewählt, in dem Michel Houellebecq einen Literaturwissenschaftler zum Protagonisten wählt und eine desillusionierte Periode aus dessen Leben beschreibt. Der Roman spielt im Jahr 2022 zur Zeit der französischen Präsidentschaftswahlen, bei denen eine muslimische Partei gegen den rechtskonservativen Front National gewinnt und das laizistische Frankreich zu einem islamischen Staat umwandelt. Dies findet auf leise, protestlose Weise statt, sodass auch der intellektuelle Protagonist schließlich die autoritäre Gesellschaftsordnung zu schätzen weiß, die seinem frustrierten Dasein zu Privilegien und der Befriedigung basaler Bedürfnisse verhilft. Houellebecqs Roman erscheint nahezu zeitgleich mit dem Anschlag auf die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo, der nicht nur Frankreich mit seiner Angst vor künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen konfrontiert. Dement‐ sprechend rege ist die Reaktion auf den Roman. Der Anschlag scheint Hou‐ ellebecqs Text seine brandaktuelle, gar prophetische Natur zu attestieren. Der Autor wird daraufhin für seine Geschmacklosigkeit kritisiert, Ängste der 53 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 57 Houellebecq selbst bekennt sich in einem Interview, das er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seines Romans in Frankreich mit Sylvain Bourmeau führt, dazu, mit seinem Roman Angst machen zu wollen. Für eine ins Deutsche über‐ setzte Fassung siehe Bourmeau (2015). „‚Eine islamische Partei ist eigentlich zwin‐ gend‘“. https: / / www.welt.de/ kultur/ literarischewelt/ article135972657/ Eine-islamische- Partei-ist-eigentlich-zwingend.html. Für den Hinweis auf das Interview danke ich Stephan Renker. 58 Die undurchsichtige Vermengung von Autor und Protagonist lässt beispielsweise Philippe Lançon in der Tageszeitung Libération von einer „fusion toute-puissante, littéraire et sociale, qui fait exploser la sacro-sainte séparation entre la vie et l’œuvre“ sprechen (Lançon (2015). „Un dandy de grand chemin“. http: / / next.liberation.fr/ livres/ 2015/ 01/ 02/ un-dandy-de-grand-chemin_1173185). 59 Zur Reaktion der französischen und deutschen Presse auf den Roman Soumission, dem Problem seiner Referenzialität auf die gesellschaftspolitische Wirklichkeit und der posture des Autors Houellebecq siehe die präzise Analyse von Komorowska (2016). „‚Mais c’est d’une ambiguïté étrange‘: die Rezeption von Houellebecqs Roman Soumission in Frankreich und Deutschland“. www.romanischestudien.de/ index.php/ r st/ article/ view/ 116/ 311. 60 Entsprechend lehnt der Autor von Soumission jede gesellschaftliche Verantwortung für die in seinen Romanen verhandelten Themen - außer der Literatur selbst - ab: „Ich lehne jede Verantwortung ab, ich beanspruche sogar völlige Unverantwortlichkeit. Es sei denn, ich spreche in meinen Romanen von Literatur, dann engagiere ich mich als literarischer Kritiker“ (aus dem bereits zitierten Interview mit Sylvain Bourmeau (2015). „‚Eine islamische Partei ist eigentlich zwingend‘“. www.welt.de/ kultur/ literarischewel t/ article135972657/ Eine-islamische-Partei-ist-eigentlich-zwingend.html). Menschen zu verwenden, um damit schriftstellerisch Profit zu machen. 57 In dem Protagonisten wird der Autor selbst gefunden, der seine eigenen Neurosen offenbare. 58 All dies sind Antworten der Gesellschaft auf das Buch. 59 Das Werk rührt offensichtlich an Themen, die diese beschäftigt und beängstigt. Man sucht die Botschaft zur Situation und versucht so, dem Werk eine gesellschaftliche Funktion als Erkenntnisquelle zuzuschreiben. Gleichzeitig ist der Roman aber ein Außen. Er hat nicht den Anspruch, Fakten zu liefern. Wenn auch alle Antworten mögliche Deutungen sind, können sie das Phänomen des Werkes doch nicht umfassend erklären und grundsätzlich seinen Charakter definieren, der der Gesellschaft nutzen würde. Als Kunstwerk entzieht es sich der un‐ mittelbaren Verantwortung, die mit jeder pragmatischen Funktionalisierung einhergeht. 60 Den Geisteswissenschaftler kann es somit nicht befriedigen, eine einzige Antwort auf das Werk zu finden, der er die Deutungshoheit zuspricht, weisen doch die verschiedenen Reaktionen bereits die Vieldeutigkeit aus, die dem künstlerischen Objekt innewohnt. Der Zugang und die Fragestellungen, die ihm gerecht werden können, müssen folglich über dessen Qualität als außenstehendes und polyvalentes Objekt stattfinden. 54 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 61 Vgl. Knecht (2019). „Zu den methodischen Herausforderungen ambivalenter Wahrneh‐ mungszustände am Beispiel romanischer Bauskulptur“. 62 Ebd., 123. 63 Ebd., 125. Als zweites Beispiel des Essays greife ich an dieser Stelle die Forderung an das geisteswissenschaftliche Fragen auf, die jüngst Johannes Knecht in seiner Forschung zu „Perspektiven des Ornamentalen in der romanischen Bauskulptur“ formuliert. 61 Gegenstand seiner Untersuchung sind Kapitelle des 10. bis 13. Jahrhunderts, die sich als bauliche Verzierungen darstellen. Ihre Form deutet Gesichter an, ohne dass diese eindeutig ausgearbeitet wären. Knecht spricht von einem „bewusst in der Schwebe gehaltenen Zwischenzustand“ 62 , der durch den Bildhauer beabsichtigt sei. Der Betrachter solle sich nicht entscheiden können, ob er nur eine Verzierung oder doch ein Gesicht erkennt. Der von Knecht konstatierte Zwischenzustand ruft folglich im Betrachter ein Unbehagen hervor, das Werk nicht definieren zu können und es so gedanklich für sich zu lösen. Indem es seine Ambivalenz unüberwindbar zur Schau stellt, verweist es auf sich selbst als Kunst und fordert so zu einer ständigen Reflexion über seine Form auf. Anstatt Antworten zu geben, provoziert es vielmehr ein nicht zu beantwortendes Fragezeichen. Damit beansprucht es zugleich eine Position des Außen. Denn durch die Unmöglichkeit einer Bestimmung kann ihm auch keine pragmatische Funktion zugewiesen werden. Johannes Knecht fordert die Wissenschaft auf, dieser Ambivalenz der künst‐ lerischen Objekte in ihrer Fragestellung gerecht zu werden. Er sieht die Not‐ wendigkeit, „phänomenologische Subjektivität und begründbaren Zweifel […] als immanenten Modus geisteswissenschaftlicher Denk- und Erkenntniswege selbstbewusst [auszuweisen].“ 63 Nimmt man Knechts Kritik an einer nach ein‐ deutigen Fakten strebenden Geisteswissenschaft ernst, in welchem Verhältnis stehen jedoch dann ihre Forschung und Fragestellungen zu dem ‚Kampf gegen das Postfaktum‘, für den Wissenschaftler am 22. April 2017 vielerorts zum March for Science auf die Straße gingen? Entzieht sie sich damit der wissenschaftlichen Verantwortung, Fakten zu identifizieren und die Wahrheit zu verteidigen? Ist die Forderung zur programmatischen Berücksichtigung der Subjektivität ein Zeugnis des Elfenbeinturmcharakters der Geisteswissenschaften, die sich und ihre Gegenstände in einem Außen gesellschaftlicher Verantwortlichkeit und Funktionalisierung finden und verteidigen? Wie steht es mit dem Postulat des kritischen Denkens in den Geisteswissenschaften, die ihren eigenen Erkennt‐ nissen absolute Objektivität und belastbare Faktizität absprechen? Kritisches Potenzial dieses subjektiven geisteswissenschaftlichen Modus liegt paradoxerweise genau in dessen Objektivität. Denn die Kunst und ihre Befor‐ 55 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 64 Jakobson (1979). „Linguistik und Poetik“, 111. spricht dabei dem poetischen Kunstwerk den gegenständlichen Bezug zu seinem gesellschaftlichen Kontext keineswegs ab. Ihm gemäß ist die poetische Funktion gegenüber der referenziellen nur dominant und sorgt daher für seine Mehrdeutigkeit. Dezidiert auf das literarische Werk wendet Francesco Orlando die Jakobson’schen Funktionen an: Sein suggestiver Vorschlag zur Unterscheidung der unterschiedlichen Dimensionen eines literarischen Werkes mit‐ hilfe der sechs von Jakobson beschriebenen Kategorien, und seine Reflexionen darüber, inwiefern diese Dimensionen verschiedentlich Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchung werden können, dienen Orlando dabei zur präzisen Annäherung an eine freudianische Literaturtheorie (vgl. Orlando (1992). Per una teoria freudiana della letteratura, v. a. 10-14). 65 Zur „Involviertheit” des betrachtenden Subjekts in die (geistes-)wissenschaftliche Fragestellung vgl. auch die Beiträge von → K. Drews in diesem gemeinsamen Essay. 66 Nicht für die geisteswissenschaftliche Untersuchung, sondern für die Kunst selbst kon‐ statiert Theodor Adorno eine solche Vieldeutigkeit und sieht darin ihr kritisches Potenzial ausgehend von Jean-Paul Sartres Postulat der littérature engagée. Laut Adorno ist die Vieldeutigkeit zentrale Voraussetzung für die Relevanz eines Kunstwerkes im Sinne eines politischen Engagements, für das er gleichsam fordert: „Engagement als solches, sei's auch politisch gemeint, bleibt politisch vieldeutig, solange es nicht auf eine Propaganda sich reduziert, deren willfährige Gestalt alles Engagement des Subjekts verhöhnt. […] Was […] das Engagement künstlerisch vorm tendenziösen Spruchband voraus hat, macht den Inhalt mehrdeutig, für den der Dichter sich engagiert“ (Adorno (1965). „Engagement“. http: / / gams.uni-graz.at/ archive/ get/ o: reko.ador.1965/ sdef: TEI/ get). schung weisen auf etwas hin, das zwar ihr charakteristischer Wesenszug, jedoch nicht nur ihr eigentümlich ist. Die poetische Funktion, mit der nach Jakobson das künstlerische Objekt zunächst auf sich selbst und seine Struktur verweist, fordert den Wissenschaftler dazu auf, dem Kunstwerk zu begegnen, ohne so‐ gleich dessen Funktionalisierung innerhalb eines konkreten gesellschaftlichen Zusammenhangs zu intendieren. 64 Ein Objekt will so stets aufs Neue mit den Fragen nach sich selbst betrachtet werden. In dieser Weise bieten sich Kunst und geisteswissenschaftliche Befragung als Denkmodell an. Denn sie betonen den genuin uneindeutigen Charakter des Objekts und damit jeder Perspektive seiner Analyse. In der ständigen Berücksichtigung der Uneindeutigkeit macht der geisteswissenschaftliche Diskurs sichtbar, wie jede Perspektive bereits einer subjektiven Entscheidung des Betrachters entspringt. 65 Erst indem sich die Untersuchung von dem Anspruch der absolut wahren Deutung verabschiedet, kann sie für eine Objektivität frei werden, die in dem grundsätzlich polyvalenten Potenzial aller Gegenstände besteht. 66 Dies kann nun nicht nur als eine Erkenntnis der Geisteswissenschaften, sondern als allgemeine Bedingung der Forschung gelten. So werden die Gegen‐ stände der Naturwissenschaften, Soziologie etc. - im Gegensatz zum künstle‐ risch-poetischen Außen - zwar oft als gesellschaftlich funktionalisiertes Innen verstanden. Doch auch diese ‚inneren‘ Gegenstände der Forschung können 56 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 67 Vgl. Adornos Bemerkung über das engagierte Potenzial von Kunst, deren Form und Struktur sich einem direkten Realitätsbezug entzieht und auf diese Weise bisherige Prämissen gesellschaftlichen Denkens und Handelns infrage stellt: „Konfusionen in der Beurteilung der Sache ändern zwar nichts an dieser, nötigen aber dazu, die Alternative zu durchdenken“ (ebd.). in ihrer poetischen Dimension betrachtet werden, in der diese auf sich selbst verweisen. Sie wird nur weniger berücksichtigt. Denn anders als beim Kunst‐ objekt steht in der Untersuchung des naturwissenschaftlichen, soziologischen, juristischen u. ä. Objekts oftmals dessen referenzielle oder appellative Funktion im Vordergrund: Ein Gegenstand wird in seinem Bezug zur Welt betrachtet und auf seine gesellschaftliche Bedeutung untersucht. Die Fragerichtung scheint in diesem Fall eindeutig. Ist beispielsweise in der Medizin die Strukturanalyse einer Krankheit ein Mittel zum Zweck, um Menschen von ihr zu heilen, gilt die Krankheit als negativer Befund und die Beforschung in Funktion ihrer Beseitigung als gesellschaftlich erstrebenswert. Sie als Struktur zu betrachten, die Krankheit quasi zum Selbstzweck zu ernennen, erscheint nutzlos. Dennoch birgt der Fokus auf die Struktur, wie ihn die Geisteswissenschaften gegen‐ über dem Kunstwerk einnehmen, weiteres Erkenntnispotenzial. So kann dies Perspektiven aufwerfen, die die eindeutige Definition und Bewertung der gegebenen Struktur als gesund oder krank infrage stellen und zunächst dazu dienen, deren Ursachen und Erwachsen zu verstehen. Sekundär eröffnet dies wiederum eventuelle Alternativen für pragmatische Maßnahmen - ohne dass diese besser oder schlechter sein müssen. 67 Selbiges gilt bei der juristischen Definition eines physisch-gewalttätigen Kommunikationsaktes als Terror und den folgenden Reaktionen und Bewertungen in Politik und Medien - ein aktuelles Beispiel mag hier das andauernde Ringen um die Deutungshoheit über die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Aktivisten im Zuge des G20-Gipfels 2017 in Hamburg bieten. Für die Wissenschaften bedeutet eine solche ‚poetische‘ Befragung der Untersuchungsgegenstände einer jeweiligen Disziplin letztlich zugleich eine kritische Hinterfragung der Disziplinen an sich und ihrer gesellschaftlichen Legitimation. Insofern beansprucht die von Kevin Drews oben ausgeführte Beobachtung zur geisteswissenschaftlichen Fragepraxis, der die kritische Selbstbefragung der eigenen Disziplin immer eingeschrieben ist, als Prämisse für jede Wissenschaftsdisziplin ihre Gültigkeit. Geisteswissenschaftliche Befragung birgt kritisches und engagiertes Poten‐ zial, insofern sie im Akt ihres Fragestellens selbst stets auf das polyvalente Potenzial aller Objekte und Fakten sowie deren Besprechung hinweist und dies zur Bedingung ihres Erkenntnisstrebens erklärt. Geisteswissenschaftliche Kritik kann in diesem Sinne zeigen, wie gerade die Loslösung von einer 57 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 68 Ebd. 69 Vgl. Anz (1998). „Einführung“, 7. vorausgesetzten Funktion und die Absage an eine eindeutige Statusdefinition - sei es eines Objekts oder seiner Forschungsfrage - eine Annäherung an das Faktum und das Verständnis seiner Konsequenzen ermöglichen. Zugleich gilt für sie dasselbe, was Adorno über die engagierte Kunst anmerkt: „Sobald jedoch die engagierten [Geisteswissenschaften] Entscheidungen veranstalten und zu ihrem Maß erheben, geraten diese auswechselbar.“ 68 Befragung des Kanons als Form kritischen Denkens (Friederike Schütt) Beschäftigt man sich mit den Modi des Fragens in den Geisteswissenschaften, so rückt im wissenschaftlichen Arbeiten stets der Anspruch in den Fokus, möglichst offen gebliebene Fragestellungen zu bearbeiten, Fragelücken zu er‐ kennen und zu schließen. Doch wie findet man eigentlich Fragen, die überhaupt noch nicht gestellt wurden, oder Objekte, die noch nicht untersucht wurden, wenn der Blick der Studierenden in akademischen Lehrveranstaltungen wie auch außerwissenschaftlichen Ereignissen, etwa Lesungen, Ausstellungen oder Theateraufführungen, zunächst vorwiegend auf die Auseinandersetzung mit kanonisierten Objekten und deren Interpretationen gelenkt wird? Im Folgenden soll beleuchtet werden, wie die Befragung von Kanonbildungsprozessen als produktive Form kritischen Denkens in der geisteswissenschaftlichen Praxis zum Auffinden bisher nicht gestellter Fragen verhelfen und durch eine wis‐ senschaftsgeschichtliche Reflexion der jeweiligen Disziplin befruchtet werden kann. Welche Werke, Autoren und Künstler sowie Fragestellungen und Narrative den Kanon einer Geisteswissenschaft prägen, zeigt sich immer wieder im Rahmen groß angelegter Jubiläumsfeierlichkeiten. Die kulturellen Ereignisse bieten zum einen öffentlichkeitswirksames und finanzielles Potenzial für die Forschung, fördern innovative Projekte und bringen neue Forschungsergeb‐ nisse hervor. Ob durch museale Sammlungs- und Ausstellungspräsentationen oder etwa literaturvermittelnde Institutionen wie Buchhandel, Bibliotheken oder Literaturkritik, gerade die Schnittstelle zur Öffentlichkeit wird zum an‐ deren aber ebenso häufig zum Anlass für die Wiederholung und Bestätigung bekannter, vermeintlich final erforschter Inhalte. 69 Prozesse der Kanonbildung werden fortgeführt, stabilisiert, aber auch problematisiert, wie nachfolgend am 58 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 70 Guicciardini (1567). Di tutti Paesi Bassi, altrimenti detti Germania inferior. Con piu parte die Geographia del paese, & col ritratto natural di piu terre principali. Al gran Re Cattolico Filippo d’Austria. Anversa, 98. Zit. nach Dyballa (2016). „Spanien, Italien und Deutschland blicken auf Hieronymus Bosch“, 26. Zur Rezeption der diabolischen Motive von Bosch vgl. auch Rößler (2016). „Die Aktualitäten des Hieronymus Bosch. Stationen wissenschaftlicher und künstlerischer Wiederentdeckung 1822-1950“, 39-53. 71 Vgl. Ausgabe der BILD-Zeitung vom 09. August 2016. www.bild.de/ lifestyle/ 2016/ kunst/ malte-hieronymus-bosch-unter-drogen-47217242.bild.html. Zur kunsthistori‐ schen Rezeption der hier aufgegriffenen Ansätze Fraengers vgl. Rößler (2016). „Die Aktualitäten des Hieronymus Bosch“, 48-52. 72 Vgl. Ritter (2017). „Von der Methodenvielfalt der Kunstgeschichte. 500 Jahre Jheronimus Bosch“, 100. 73 Vgl. Locher (2013). „Praxis und Theorie der Kanonisierung in Nachbardisziplinen. Kunstwissenschaft“, 368. Beispiel der jubiläumsbedingten Rezeptionsweise zweier Künstler des frühen 16. Jahrhunderts exemplarisch aufgezeigt werden soll. Als 2016 das 500. Todesjahr des niederländischen Künstlers Hieronymus Bosch begangen wird, dringen die fantastischen Fabelwesen aus seinen Werken auf Plakate und Banner, als Muster auf Duschvorhänge und Designerkleidung oder als Holzfiguren in die Wohnzimmer einer kunstinteressierten Öffentlich‐ keit. Befreit aus dem historisch-religiösen Kontext der Werke, werden Boschs Darstellungsformen zu einem öffentlichkeitswirksamen Marketinginstrument des Jubiläums. Dass sich mit der selektiven Präsentation des ‚Grotesken‘ eine Re‐ zeptions- und Deutungstradition fortsetzt, die Bosch bereits im 16. Jahrhundert als „bemerkenswerte[n] Erfinder von phantastischen und bizarren Dingen“ 70 stilisierte, demonstriert, wie wenig sich davon abweichende, in der Fachwelt jedoch anerkannte, kunsthistorische Rezeptionsansätze öffentlich durchsetzen bzw. ‚verkaufen‘ lassen. Plakativ zeigt im Sommer 2016 zudem ein Titel der BILD-Zeitung an, welche Fragen an Bosch Karriere gemacht haben und genutzt werden, um das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken. Mit der Frage „War Hieronymus Bosch auf Drogen? “ reproduziert das Medium einen der umstrit‐ tensten Deutungsansätze zu Bosch und seinen Werken. 71 Zusätzlich greift selbst die Hauptausstellung in ’s-Hertogenbosch mit dem Titel Visionen eines Genies eine längst widerlegte, aber verkaufsfördernde Rezeption von Bosch als einem isoliert arbeitenden Künstlergenie auf. 72 Das absatzfähige Herauslösen von Motiven und Bildern aus der Zeit um 1500 und das dominante Weitertragen der immer gleichen Narrative zu einem Künstler ist bei Jubiläumsfeierlichkeiten ein Phänomen, das bereits 1971 - und damit zu einer Zeit, als Kanonkritik auch in geisteswissenschaftlichen Fachdiskursen vermehrt formuliert wird -, 73 der Grafikdesigner Klaus Staeck anprangert. Aus Anlass des damals in Nürnberg gefeierten 500. Geburtsjahrs 59 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 74 Eine Abbildung des Plakats inkl. Beschreibung der Aktion findet sich auf der Webseite des Künstlers. http: / / klaus-staeck.de/ ? page_id=436. 75 Vgl. Bushart (2006). „,Dürers Mutter‘ im 19. und 20. Jahrhundert“, 177. 76 Zur Unterscheidung von materialem und interpretativem Kanon vgl. Anz (1998). „Einführung“, 3. 77 Vgl. Locher (2011). „Im Rahmen bleiben - Plädoyer für eine wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Kunstgeschichte“, 7. von Albrecht Dürer sorgt Staeck mit einem Plakat für Aufsehen, auf dem er die Zeichnung von Dürers Mutter mit der Aufschrift „Würden Sie dieser Frau ein Zimmer vermieten? “ versieht. 74 Mit der provokanten Frage macht er Dürers Dargestellte zu einer anonymen Alten und löst sie aus dem Kult um den Künstler. Staeck transferiert die intime Zeichnung in das öffentliche Medium des 330 Mal in Nürnberg angebrachten Plakats. Zusätzlich verknüpft er das von Alter und Krankheit gekennzeichnete Antlitz der Frau mit einer sozialkritischen Haltung gegenüber wuchernden Mietpreisen und nutzt die Neusemantisierung des Motivs als kritischen Kommentar auf die bis dahin dominante Dürer-Rezeption, die unreflektierte Verkitschung seiner Kunst in Souvenirobjekten, aber auch die vorrangig auf biographische Zusammenhänge und Fragen nach der ästhetischen Qualität fokussierte kunsthistorische Rezeption Dürers. 75 Staeck liefert damit auf zweierlei Ebenen ein Statement zum Kanon der Kunstgeschichte. Er kom‐ mentiert sowohl den materialen Kanon, der Dürer und dessen Œuvre als Objekt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit hebt, als auch den dazugehörigen Methoden-, Deutungs- und Kriterienkanon, mit dem seitens der Öffentlichkeit und Forschung an Dürer und dessen Schaffen herangegangen wird. 76 Staecks Kritik richtet sich als Handlungsaufforderung an die geisteswissenschaftliche Praxis. Sie zieht Fragen nach sich, die auf das Überdenken hergebrachter Rezept‐ ionsmuster und die hinter der Wahrnehmung und Wertung liegenden geistes‐ wissenschaftlichen Verfahren zielen und das wissenschaftshistoriographische Schicksal von Objekten und ihren Produzenten befragen. Welche Bedingungen führen zur Durchsetzungsfähigkeit und Dominanz bestimmter Objekte und ihrer Deutungsansätze? Warum wird ein Objekt zu welchem Zeitpunkt (→ S. Ludwig) wie rezipiert? Welche Fragen werden dabei (nicht) gestellt? Fragen wie diese korrespondieren mit einer wissenschaftsgeschichtlich argumentierenden geisteswissenschaftlichen Arbeitsweise. Werden sie zum integralen Bestandteil der Beforschung von Objekten, können sie die Diskurse und Wertesysteme, die sich in der Deutung der jeweiligen Objekte und ihrer Platzierung im Kanon manifestieren, sichtbar machen und damit einen produktiven Ansatzpunkt für das kritische Hinterfragen geisteswissenschaftlicher Verfahren liefern. 77 Die Befragung der Rezeptions- und Deutungsgeschichte geisteswissenschaftlicher 60 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 78 Vgl. Locher (2010). „Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte“. www.kunsthistori ker.org/ rundgespraech_wissenschaftsgesch.html. Vgl. außerdem die zum Forum „Wis‐ senschaftsgeschichte der Kunstgeschichte“ erschienenen Beiträge und Kommentare unter www.kunstgeschichte-ejournal.net/ und grundlegend vgl. Locher (1999). „Wis‐ senschaftsgeschichte als Problemgeschichte. Die ‚kunstgeschichtlichen Grundbegriffe‘ und die Bemühungen um eine ‚strenge Kunstwissenschaft‘“, 129-161. 79 Vgl. Sachs (2011). „Bericht über das Forum „Wissenschaftsgeschichte der Kunstge‐ schichte“ auf dem 31. Kunsthistorikertag 2011 in Würzburg“; Locher (2011). „Im Rahmen bleiben. Plädoyer für eine wissenschaftsgeschichtlich argumentierende Kunstgeschichte“. http: / / www.kunstgeschichte-ejournal.net/ view/ event/ Forum_Wis senschaftsgeschichte.html. Locher; Bader (2009). „Wissenschaftsgeschichte der Kunst‐ geschichte - Grenzen und Möglichkeiten eines Rahmenwechsels“. http: / / www.kunst geschichte-ejournal.net/ view/ event/ Forum_Wissenschaftsgeschichte.html. 80 Vgl. dazu u. a. Rößler (2016). „Die Aktualitäten des Hieronymus Bosch“, 48-52. Objekte und Methoden vermag die Muster, Bedingungen und Genesen der facheigenen Frageformen und Kanonisierungsprozesse offenzulegen und sich einer Antwort auf die Frage anzunähern, warum in welcher Wissenschaft wann was wie und von wem gefragt oder nicht gefragt wird. Im Fach Kunstgeschichte mündet das Nachdenken über Prozesse der Kanon‐ bildung 2009 in den sich diesem Thema widmenden 30. Kunsthistorikertag in Marburg und das dazugehörige Diskussionsforum zur „Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte“. 78 Unter wissenschaftsgeschichtlichen Fragen an das ei‐ gene Fach werden dort neben der soziologisch ausgerichteten Beforschung der intellektuellen Biographien, der Netzwerke und sprachlich-rhetorischen Performanz von Kunsthistorikern das Hinterfragen von Institutionalisierungs‐ verläufen bestimmter Diskurse und Methoden oder die Reflexion der gesell‐ schaftspolitischen Bedingungen von Trends und turns subsumiert - Fragen also, die sich auch an die Genese und Argumentationsmuster anderer Geistes‐ wissenschaften stellen lassen, dort gestellt wurden und werden. 79 Ziel für die Praxis solle sein, die an die Wissenschaftsgeschichte der Disziplin gerichteten Fragen mit objektbezogenen Analysen zu verknüpfen und die fachgeschicht‐ liche Reflexion zum Korrektiv der Interpretationen werden zu lassen. In der Auseinandersetzung mit Hieronymus Bosch ließe sich dann zum Beispiel ziemlich genau herausarbeiten, unter welchen Umständen etwa die Deutung von Bosch als einem Häretiker zustande kommt, Anklang findet und welche Aspekte aus seinen Werken dafür herangezogen werden. 80 Zu analysieren, welche Objekte zu welchen Zwecken mit welchen Fragen beforscht und be‐ wertet werden, kann nicht nur die fachlichen Diskursverläufe evident machen, sondern darüber hinaus verstärkt für die Instrumentalisierung von Objekten in institutionellen oder politischen Gefügen sensibilisieren (→ A.-K. Hubrich). Bettet man die an die (kanonbildenden) Rezeptionsmuster gerichteten Fragen 61 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 81 Bourdieu (1992). Homo academicus. Vgl. dazu auch Nille (2013). „Die Interpretation mit‐ telalterlicher Architektur als wissenschaftsgeschichtliche Herausforderung. Eine Prob‐ lemskizze.“ https: / / www.kunstgeschichte-ejournal.net/ 416/ 1/ Die_Interpretation_mittel alterlicher_Sakralarchitektur_als_wissenschaftsgeschichtliche_Herausforderung.pdf. in einen breiteren Rahmen der Wissenschaftsgeschichte ein, so kann über die facheigene Innenperspektive hinaus zudem eine interdisziplinäre Vernetzung von Frageformen gelingen, die wiederum das fächerübergreifende Auffinden weiterer nicht gestellter Fragen in den Geisteswissenschaften ermöglicht und die wissenschaftsgeschichtliche Herangehensweise als transdisziplinäre Fähig‐ keit schult. So ist es schließlich noch immer Bourdieus Forderung nach der Historisierung des eigenen Tuns, die in diesen Zusammenhängen Gültigkeit beansprucht und eine Orientierung für das kritische Befragen geisteswissen‐ schaftlicher Objekte und Methoden bieten kann: „Nur indem es die historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens analysiert […], vermag das wissenschaft‐ liche Subjekt seine Strukturen und Neigungen ebenso theoretisch zu meistern wie die Determinanten, deren Produkt diese sind, und sich zugleich das konkrete Mittel an die Hand zu geben, seine Fähigkeiten der Objektivierung noch zu steigern.“ 81 Bilder-kritisch Denken (Ann-Kathrin Hubrich) Wir schlagen die Zeitung auf, betreten auf dem Weg zur Arbeit die Straße oder öffnen eine der zahlreichen Apps auf unserem Smartphone und schon werden wir mit Bildern konfrontiert. Bilder, die gerade erst entstanden sind, Bilder, deren Entstehung in einem weit zurückliegenden Kontext zu verorten ist, oder Bilder, die wir selbst gemacht haben. Wie gehen wir mit diesen Bildern um? Wer hat diese Bilder wann und wie gemacht hat und zu welchem Zweck sind sie entstanden? In welchem Kontext werden sie präsentiert? Das, was Aby Warburg bereits 1906 mit dem Begriff der Pathosformel etabliert hat, stellt als Denkmodell einen fruchtbaren Ansatz dar, auch die heutige Bildproduktion zu analysieren. Der Kulturhistoriker ging davon aus, dass bestimmte Themen und Motive der Antike in der Kunst der Renaissance eine gezielte Wiederaufnahme erfuhren, um damit verknüpfte Emotionen auszudrücken. Ob bewusst oder unbewusst scheint auch die zeitgenössische Bildproduktion auf traditionelle Vorläufer zurückzugreifen. Die Motiv-Wanderung von Bild zu Bild ist dabei die formale Ebene, während die Bedeutungsaufladung und -übertragung die semantische Komponente bildet. Noch spezifischer für die tagtägliche Bildpro‐ duktion ist das, was Warburg in Anlehnung an die Schlagzeile unter dem Stichwort Schlagbilder subsumiert hat. Laut Warburgs Modell konzentrieren 62 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 82 Klonk (2017). Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden, 11. 83 Ebd., 11 f. 84 Ebd., 12. 85 Vgl. Bredekamp (2005). „Horst Bredekamp in zwei Gesprächen mit Ulrich Raulff. Handeln im Symbolischen. Ermächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstrategien des Krieges“, 9 f. 86 Vgl. Probst (2016): „Bilder als Flüchtlingspolitik. Die Bildgeschichte der „Flüchtlingskrise“ und die politische Theorie des Bildakts“. sich Zeitströmungen in Bildern. Mit ihnen wird eine politische Ikonographie geschrieben. Ihr Zustandekommen ist ebensowenig wie ihre Motivik nicht zufällig, sondern zielgerichtet. Es ist daher unabdingbar zu fragen, mit welchen Bildern wir konfrontiert werden: Dabei spielen sowohl der Zeitpunkt (→ S. Ludwig) als auch die Kontextualisierung eine wichtige Rolle. Diesen Prozessen soll anhand prominenter Beispiele im Kontext von aktuellen Fluchtbewegungen auf den Grund gegangen werden, um den Einfluss von Bildern auf politische Debatten auszuloten. Mit dem Beitrag wird die Frage nach der Rolle von Bildern im gesellschaftlichen Diskurs aufgeworfen und damit eine zentrale Funktion der Bildwissenschaften als Geisteswissenschaften veranschaulicht (→ Einleitung). „Nicht der Gewaltakt an sich zählt, sondern die Bilder, die davon in Umlauf gebracht werden.“ 82 Diesen Umstand postuliert Charlotte Klonk für den modernen Terror, dessen mediale Verbreitung sie als einen seiner immanenten Bestandteile identifiziert. Weiter heißt es: „Je intensiver also die mediale Bildproduktion betrieben wird, desto größer ist auch zunächst der Erfolg der Täter.“ 83 Als Reak‐ tion auf die hervorgebrachten Bilder schildert Klonk einen fast automatisierten Prozess, der sich gesellschaftlich einstellt: „Aus Angstabwehr wird Schaulust und umgekehrt. […] Schaulust treibt die Bildermaschinerie des Terrors an, und Angstabwehr generiert Gegenbilder.“ 84 In einem Interview weist Horst Brede‐ kamp bereits 2004 darauf hin, dass Bilder nicht nur als nachträgliche Bestands‐ aufnahme dienen, sondern bestimmte Situationen geschaffen oder bestimmte Taten zum Zwecke der Bildproduktion ausgeübt werden. 85 Diesen Gedanken greift Jörg Probst in seiner Analyse der im Rahmen der 2015 und 2016 auf einem Höhepunkt befindlichen Fluchtbewegungen entstandenen Bilder auf und macht ihn fruchtbar im Hinblick auf die Frage nach ihrer Funktion in gesellschaftspo‐ litischen Prozessen. Als Ausgangspunkt dient Probst die Anne-Will-Sendung vom 6. März 2016, die einen Tag vor einem EU-Gipfeltreffen unter dem Titel „Flüchtlingsdrama vor dem Gipfel - Ist Europa noch zu retten? “ ausgestrahlt wurde. 86 Bemerkenswerterweise nahmen die Bilder eine entscheidende Rolle in der Diskussion der geladenen Gäste, darunter mit Sebastian Kurz, Heiko Maas, Katrin Göring-Eckardt und Katja Kipping bedeutende Politikerinnen und Politiker, ein. Der an der mazedonisch-griechischen Grenze gelegene Ort Idomeni 63 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft 87 Ebd., 7. 88 Vgl. ebd., 7f. 89 Vgl. ebd., 8; Probst; von Jutrczenka (2016): „Ein Moment der Ruhe. Selfies von Geflüchteten mit Angela Merkel - ein Gespräch mit dem Fotografen Bernd von Jutrczenka“. 90 Probst (2016). „Bilder als Flüchtlingspolitik. Die Bildgeschichte der „Flüchtlingskrise“ und die politische Theorie des Bildakts“, 7. 91 Vgl. ebd., 13 f. 92 Vgl. Kamann; Posener (2015). „Ein totes Kind. Soll man es zeigen? “. www.welt.de/ debatt e/ kommentare/ article146020565/ Ein-totes-Kind-Soll-man-es-zeigen.html. war in den Tagen davor zum Schauplatz der Schließung der Westbalkan-Route geworden: Bilder von Menschen an Grenzzäunen auf der einen und bewaffneten Grenzbeamten auf der anderen Seite symbolisierten die drastischen humanitären Auswirkungen, die diese politische Entscheidung zeitigte. Sie visualisierten die fatalen Bedingungen der dort in Lagern zusammengetriebenen Menschen. Die Äußerungen der Anwesenden taten ihr Übriges, und so wurden diese Bilder kurzum als Akteure in der Debatte etabliert. So formulierte Kurz: „Die Bilder sind furchtbar, aber wir sollten nicht den Fehler machen, zu glauben, dass es ohne diese Bilder gehen wird.“ 87 In dieser Aussage steckt die Annahme, dass die Bilder als Teil einer Legitimierungsstrategie politischer Abschottung dienen können. Indem sie eine abschreckende Wirkung entfalteten, dienten sie als Mittel zum Zweck, Menschen von einer Flucht abzuhalten. Als Gegenbilder dazu können diejenigen Aufnahmen gelten, denen eine einladende Wirkung zugesprochen wurde: 88 So zum Beispiel das von Bernd von Jutrczenka festgehaltene Selfie eines syrischen Flüchtlings mit Angela Merkel, das später nicht nur dem Fotografen, sondern auch dem Porträtierten mediale Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen sollte. 89 Der Bundeskanzlerin wurde entgegengebracht, sie würde durch solche Fotos Fluchtbewegungen provozieren. Göring-Eckardt betonte in der Anne-Will-Sen‐ dung, „dass die Situation der Menschen […] zuerst einmal schrecklich [ist] und nicht einfach nur die Bilder“. 90 Damit angedeutet ist die ikonische Differenz, die zwischen Darstellung und Dargestelltem besteht. Letztlich aber sind es die Bilder, die uns erreichen und die politische Debatten anstoßen, sie lenken oder wie es Probst formuliert als politische Instrumente gezielt eingesetzt werden können (→ Friederike Schütt). Als Beispiel bringt er dann auch das viral gewordene Bild des tot an den Strand gespülten syrischen Jungen Aylan Kurdi an, das - wie er nachzeichnet - unmittelbare Auswirkungen auf Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger hatte. 91 Das Foto vom 2. September 2015 ging um die Welt, wurde reproduziert, künstlerisch verarbeitet und politisch instrumentalisiert. An ethischen Fragen, ob dieses Bild gezeigt werden darf oder nicht, erhitzten sich die Gemüter. 92 Neben der Debatte um die Vertretbarkeit des Zeigens oder Nicht-Zeigens, barg die Rezeption des Bildes beziehungsweise der Bilder von 64 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich 93 Bilder von Aylan Kurdi (2015) vgl. www.stuttgarter-zeitung.de/ inhalt.ertrunkene s-fluechtlingskind-in-der-tuerkei-ein-foto-sorgt-fuer-bestuerzung.c820a573-ded1-450f-9f 4f-695ec1873115.html. 94 Zitiert nach Gierke (2015). „Das Vermächtnis des Aylan Kurdi“. Süddeutsche Zeitung. 8. Dezember 2015. www.sueddeutsche.de/ politik/ fluechtlinge-das-vermaechtnis-des-ayla n-kurdi-1.2771791. 95 Tasch (2017). „John McCain displayed the gut-wrenching photo of the drowned Syrian child on the Senate floor to urge US action“. Business Insider. www.businessinsider.com / ap-mccain-displays-photo-of-dead-syrian-boy-on-senate-floor-2015-9? IR=T. 96 Vgl. Probst (2016). „Bilder als Flüchtlingspolitik“, 14. 97 AFP (2016). De Maizière: Wir müssen „ein paar Wochen harte Bilder aus‐ halten.“ https: / / www.welt.de/ politik/ deutschland/ article154124619/ muessen-jetzt-ein-pa ar-harte-Bilder-aushalten.html. Aylan Kurdi in den sozialen Medien und in der Politik höchste Brisanz. Unter dem Hashtag #KiyiyaVuranInsanlik (in etwa: „Menschheit an die Küste gespült“) sorgten die Fotos auf Twitter für zahlreiche Reaktionen. 93 Die Stuttgarter Zeitung, die diese Beiträge zusammengefasst hatte, zeigte dabei das Foto, auf dem Aylan Kurdi von einem Polizisten weggetragen wird, der sichtbare Teil des Körpers wurde verpixelt. Politiker äußerten sich nach der Veröffentlichung vielfach zu dem Bild. So erklärte der damalige Premierminister von Großbritannien David Cameron: „Als Vater bin ich tief bewegt von dem Foto des kleinen, an den Strand gespülten Jungen.“ 94 Kurze Zeit später verpflichtete sich Großbritannien, das Kontingent zur Aufnahme syrischer Flüchtlinge zu erhöhen. US-Senator John McCain stellte das Foto von Aylan Kurdi überlebensgroß neben sich auf, als er den Senat adressierte und eine stärkere Rolle der USA im Syrien-Konflikt forderte. Kurz danach ließ John Kerry verlauten, dass die USA mehr refugees aufnehmen würden. 95 Probst schreibt in diesem Zusammenhang, dass „[e]s kaum vorstellbar [ist], dass der Tod von Aylan Kurdi und die Veröffentlichung des Bildes seiner angespülten Leiche am 2. September auf die nur zwei Tage später erfolgte Entscheidung von Angela Merkel und Werner Faymann vom 4. September, die in Ungarn sich selbst überlassenen Flüchtlinge nach Deutschland und Österreich zu holen, keinen Einfluss gehabt haben sollte.“ 96 Bilder als Steuerungselemente der Politik, oder hier im Speziellen Bilder als Flüchtlingspolitik, sind kein neues Phänomen, und dennoch scheint es an Komplexität gewonnen zu haben. Es kommen Äußerungen von Thomas de Maizière wie die folgende, zum Zeitpunkt eben jenes Flüchtlingsgipfels des 7. März 2016 in Brüssel getätigte, in den Sinn, mit der er den Flüchtlingspakt mit der Türkei verteidigt: „Auch wenn wir jetzt einige Wochen ein paar harte Bilder aushalten müssen, unser Ansatz ist richtig“, sagte er gegenüber den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland vom Freitag. 97 Welche Rolle spielen Bilder in unserer Gesellschaft? Welche Rolle nehmen wir als Rezipientinnen und Rezipienten ein? Wie positionieren wir uns als 65 Geisteswissenschaftliches Fragen und die Fragen (nach) der Geisteswissenschaft Betrachterinnen und Betrachter zu diesen visuellen Erzeugnissen, die uns tag‐ täglich erreichen? Eine kritische Geisteswissenschaft hinterfragt die Bedeutung der Bilder in allen ihren Facetten. Das immer wieder als Bilderflut titulierte und postulierte Phänomen einer schier unüberschaubaren Masse an Bildern, die täglich auf uns niederprasselt, ist Anlass dazu, die Bilder und ihren Status genauer zu befragen. Dabei ist kritisch zu hinterfragen, was Bilderflut eigent‐ lich bedeutet und andererseits unter der Annahme, dass wir (den) Bildern ausgesetzt sind, wie ihnen begegnen? Die Funktion der Bilder und ebenso die zugrunde liegenden Strategien ihrer Genese von Produktion, Rezeption und Perzeption sowie Bedeutungskonstitution müssen im Umgang mit ihnen einer steten Untersuchung unterzogen werden. Die Fallbeispiele des politisch brisanten und medial omnipräsenten Themas unterstreichen die Notwendigkeit, eine kritische Bildbetrachtung im gesellschaftlichen Leben zu verankern. Dazu braucht es eine kritische Geisteswissenschaft und eine Öffnung der Disziplinen für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Denn Bilder haben auch immer eine politische Dimension. Es liegt an uns, sie zu erkennen und damit umzugehen. Literatur Anz, Thomas (1998). „Einführung“. In: Renate von Heydebrand (Hrsg.): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stutt‐ gart: Metzler, 3-8. Bodenheimer, Aron Ronald (2011). Warum? Von der Obszönität des Fragens. 7. Aufl. Stuttgart: Reclam. Bourdieu, Pierre (1992). Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bredekamp, Horst (2005). „Horst Bredekamp in zwei Gesprächen mit Ulrich Raulff. Handeln im Symbolischen. Ermächtigungsstrategien, Körperpolitik und die Bildstra‐ tegien des Krieges“. kritische berichte. 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Object.Id: record: int=1738 (07.03.2021). 70 Kevin Drews, Sandra Ludwig, Andrea Renker, Friederike Schütt und Ann-Kathrin Hubrich Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht Kristin Bührig Der Beitrag versteht sich als eine Form konkreter ‚Sprachkritik‘, die es zu tun hat mit dem Bereich des Deutschen als Fremd- und Zweitsprache. Nach einer kurzen Rekonstruktion sprachkritischer Ansätze innerhalb der Sprach‐ wissenschaft geht es um eine Betrachtung der gegenwärtigen Diskussionen, um Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Sprachförderung im Fachunterricht, die einmündet in die Vorstellung des Konzepts „Querstreben sprachförderlichen Fachunterrichts“. Sprachwissenschaft und Kritik In der alltäglichen Sprachpraxis wird unter ‚Kritisieren‘ oft eine sprachliche Tätigkeit verstanden, die es mit der negativen Bewertung von Aktivitäten, Erscheinungen und Ereignissen zu tun hat. Nicht selten wird dann eine ‚konstruktive‘ Form des Kritisierens angefordert, die in wertschätzender Art und Weise den Gegenstand der Kritik auch mit Blick auf positive Aspekte betrachtet und nach Ansätzen seiner produktiven Weiterentwicklung sucht. Allein diese Vergegenwärtigung der Praxis von ‚Kritik‘ mag verdeutlichen, dass ‚Kritisieren‘ eine hochkomplexe Form des Handelns darstellt, mit einer Frequenz im Auftreten, die verdeutlicht, dass sie vom Prinzip her keinen Inhalt als Gegenstand auslässt. Innerhalb der Sprachwissenschaft ziehen und zogen Fragen der Sprachkritik immer wieder das wissenschaftliche Interesse auf sich. Welches Interesse in den nachstehenden Ausführungen des vorliegenden Beitrags verfolgt wird, lässt sich sehr gut mit Blick auf die Bestimmung zu ‚Sprachkritik‘ situieren, die von den beiden Leiterinnen der Sektion ‚Sprachkritik‘ ( Jana Kiesendahl und Birte Arendt) innerhalb der Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL) für die Homepage der Sektion formuliert wurde: „Sprachkritik sei eine Bezeichnung für linguistische Analysen, deren Gegenstand entweder die „begründete, linguis‐ 1 Siehe die entsprechende Homepage der Sektion ‚Sprachkritik‘ unter https: / / gal-ev.d e/ sektionen/ sprachkritik/ . Diese Zielbestimmung der Sprachkritik im Rahmen der Sektionsbeschreibung findet sich auch bereits bei Wimmer (1982), 298 ff., der die linguistisch begründete Sprachkritik von einer populären, meist intuitiven Sprachkritik unterscheidet, die ihre Kriterien nicht deutlich expliziere. 2 Felder (2009). „Linguistische Sprachkritik im Geiste linguistischer Aufklärung“. 3 Felder und Jacob (2014) betrachten Sprachkritik als „Praxis wertender Sprachreflexion und damit als Mentalitätsindikator einer Gesellschaft“, damit stelle ihre sprach- und kulturvergleichende Betrachtung ein Desiderat für die Forschung dar (141). 4 Schwinn (2009). „Das Lexikon der Sprachkritik“, 191f. 5 Einen instruktiven wie konzisen Überblick über die Geschichte der linguistischen Sprachkritik mit Blick auf das Deutsche liefern etwa Tereick (2009) sowie Gloy (1998), Schiewe (1998). Aktuelle Beiträge finden in der sprachkritischen Rubrik des Blogs Sprachpunkt von Alexander Lasch: https: / / alexanderlasch.wordpress.com/ tag/ sprachk ritik/ . tisch fundierte Reflexion über Sprache und Sprachgebrauch“ bilde. Andererseits habe es die Sprachkritik mit der „Beschreibung sprachkritischer Äußerungen hinsichtlich Form, Funktion und Wirkung“ zu tun. Diese Gegenstände machen es erforderlich, sich mit Sprachnormen und ihren Begründungen auseinander‐ zusetzen, da diese vermittelt über situativ kontextspezifische Parameter die funktionale Angemessenheit einer Äußerung zum Gegenstand eines sprachkri‐ tischen Urteils machen. 1 Im Rahmen der Sprachwissenschaft kann Sprachkritik aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Felder unterscheidet etwa die sprachsystematische Per‐ spektive, die Fragen nach Ausdrucksmöglichkeiten verfolgt, wie Aspekte der Entstehung von Normen und ihrer Modifikation. 2 Demgegenüber skizziert er die Konturen einer pragmatisch-kommunikativ orientierten Sprachkritik, die eher auf den Sprachgebrauch in konkreten Situationen achte. 3 Will man sich über das Spektrum einer wissenschaftlichen Sprachkritik weiter informieren, könnte man einem Vorschlag Schwinns für eine Typologie von Artikeln für sprachkri‐ tische Lexika folgend, Theorien und Formen der Sprachkritik unterscheiden (linguistisch, philosophisch, feuilletonistisch etc.). 4 Ein weiterer Zugriff liegt in der Möglichkeit, sich an Personen und Personengruppen zu orientieren, die mit Produkten bzw. prominenten Fragen der Sprachkritik innerhalb der Forschungslandschaft verbunden werden. Auch der Blick auf die jeweiligen Produkte, wie etwa Handbücher und Periodika böte sich an sowie schließlich sprachwissenschaftliche Termini, die in der Diskussion wiederkehrenden Cha‐ rakter haben. 5 ‚Kritisieren‘ als Form sprachlichen Handelns hat, so die Bestimmungen Redders komplexen Charakter, es will „gelernt“ sein, braucht also betreute 72 Kristin Bührig 6 Redder (2014a). „Kritisieren - ein komplexes Handeln, das gelernt sein will“. 7 Siehe Aachener Erklärung zur Sprachkritik (2013). http: / / www.ak-sprachkritik.de/ aac hener_erklaerung.htm. 8 Für eine kritische Reflexion des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ siehe Scarvaglieri und Zech (2013). Anwendung im Sinne einer diskursiven Aneignungspraxis. 6 Dieser Prozess kann in verschiedenen Bildungsinstitutionen stattfinden. Dass Sprache im Rahmen des Schulunterrichts zum Gegentand der Kritik wird, gehört nicht zuletzt zu den Forderungen der Arbeitsgruppe für Sprachkritik, die in der sog. „Aachener Erklärung“ 7 zu finden sind: (8) Die Linguistik muss eine größere Rolle in den Schulen spielen. […] Zentrales Ziel des Deutschunterrichts sollte es sein, die Fähigkeit zum jeweils angemessenen Sprachgebrauch zu verbessern. Hierzu gehört auch die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen kommunikativen Praktiken - „Sprach‐ spielen“ im Sinne Ludwig Wittgensteins -, unterschiedlichen Medien sowie unterschiedlichen Varietäten zu wechseln (Code-Switching und Code-Shifting). Das Angemessenheitskriterium schließt das Korrektheitskriterium in gewissem Sinne mit ein, denn das sprachlich Angemessene ist nicht korrekturbedürftig. Nicht zuletzt angesichts der demographischen Entwicklungen ist die For‐ derung der Aachener Erklärung über die Grenzen des Deutschunterrichts auszuweiten, da der Anteil angemessenen Sprachgebrauchs auch in weiteren Schulfächern ein dominanter Faktor für den Bildungserfolg aller Schüler und Schülerinnen darstellt. Betrachten wir diese Zusammenhänge im Folgenden etwas genauer: Zum Gegenstand einer konkreten (sprach)kritischen Diskussion: „Sprache und Fach“ Mittlerweile gibt es eine sehr erfreuliche Anzahl von Publikationen, in denen das Verhältnis von Sprache und Fach Gegenstand ist. Diese Vielfalt ist aber nicht Ergebnis einer langsamen oder kontinuierlichen Entwicklung. Nach einer Einschätzung Grießhabers lassen sich die ersten Veröffentlichungen des PISA-Konsortiums im Jahr 2002 als Startschuss für eine Reihe von Aktivitäten sowohl in der Wissenschaft als auch in anderen Bildungsinstitutionen ver‐ stehen, die in Reaktion auf die Erkenntnisse ergriffen wurden, dass geringe Zweitsprachenkompetenzen mit niedrigen Fachleistungen zusammenhängen und dass sich vor allem auch Lesedefizite der Kinder mit Migrationshintergrund 8 73 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 9 Grießhaber (2010). „(Fach-)Sprache im zweitsprachlichen Fachunterricht“. 10 Noch im Jahr 2016 fand sich z. B. in Die Presse, einer österreichischen Tageszeitung, der Hinweis, dass der Abstand zwischen SchülerInnen mit und ohne Migrationshinter‐ grund in den Naturwissenschaften mit 70 Punkten und im Lesen mit 64 Punkten groß sei, gegenüber 2012 sei er konstant (Die Presse 6.12.2016). 11 Im britischen Bildungszusammenhang wurde diese Einsicht allerdings seitens Halliday wesentlich früher formuliert und stiftete das Programm der ‚Systemic Functional Grammar‘ (siehe etwa Halliday 1978). 12 Vgl. Steinmüller; Scharnhorst (1987). „Sprache im Fachunterricht - Ein Beitrag zur Diskussion über Fachsprachen im Unterricht mit ausländischen Schülern“, 7. 13 Schmölzer-Eibingers (2013). „Sprache als Medium des Lernens im Fach“, 11. 14 Rincke (2010). „Alltagssprache, Fachsprache und ihre besonderen Bedeutungen für das Lernen“, 239. 15 Becker-Mrotzek et al.; (2013). „Sprache im Fach: Einleitung“, 7. 16 Seipp (2015). „Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung - Spagat zwischen Hoffnung und Realität“. kumulativ in Sachfächern auswirken. 9 Der Handlungsbedarf hält noch an, wenn man sich die Ergebnisse der letzten Pisa Studien anschaut. 10 Wie ist es nun bestellt mit dem Zusammenhang von Sprache und Fach? Die Antwort ist keine einfache, die Diskussion ist durch Kontroversen gekenn‐ zeichnet, auch wenn bereits seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhun‐ derts der Gedanke zu finden ist, dass „jeder Fachlehrer auch Sprachlehrer“ 11 ist. 12 Auch über 25 Jahre später wird der Zusammenhang zwischen Sprache und Fach betont, so etwa in der Einschätzung Sabine Schmölzer-Eibingers, dass „Sprache als zentrales Medium des Lehrens und Lernens“ gelte, Fachlichkeit und Sprach‐ lichkeit nicht voneinander zu trennen seien und fachlicher Kompetenzerwerb stets sprachlich verankert sei. 13 Nach Rincke leiste Sprachwissen allerdings nur dann einen Beitrag zum Aufbau bildungssprachlicher Kompetenzen, wenn die Bezüge zu den domänenspezifischen Inhalten und Methoden, dem jeweiligen Genre und den zugrundeliegenden Kognitionen hergestellt werden. 14 Mit Blick auf die Schulpraxis und vor allem vermutlich unter Berücksich‐ tigung der jeweiligen Kapazitäten von Lehrerinnen und Lehrern findet sich bei Becker-Mrotzek, Schramm, Thürmann und Vollmer eine Aufteilung von Verantwortlichkeiten zwischen Deutschunterricht und Fachunterricht, die dem Fach Deutsch eine allgemeine Kommunikationsfähigkeit überantwortet, insbe‐ sondere den Aufbau einer Text- und Lesekompetenz, - dem Sachfach die spezifischen und erweiterten kognitiven und sprachlichen Anforderungen, die sich aus den besonderen fachlichen Inhalten ergeben. 15 Diese Aufteilung wird jedoch nur bedingt in den weiteren Diskussionen befürwortet: So fordert Seipp vor allem eine Verbindung zwischen dem Forschungs- und Lehrgebiet ‚Deutsch als Zweitsprache‘ und den Unterrichtsfächern. 16 Allerdings macht sie 74 Kristin Bührig 17 Vgl. Seipp (2015). „Deutsch als Zweitsprache in der Lehrerbildung - Spagat zwischen Hoffnung und Realität“, 11f. 18 Zu einer linguistischen Kritik am Begriff der Bildungssprache siehe Redder (2012, 2014b). 19 Feilke (2012). „Bildungssprachliche Kompetenzen - fördern und entwickeln“. 20 Siehe etwa Vollmer und Thürmann (2013), 54. 21 Bühler (1934). Demgegenüber hat sich innerhalb der groben Hypothese des Zweitspra‐ cherwerbs durchaus die Einschätzung von ‚Fehlern‘ als produktive Auseinandersetzung mit einem zielsprachlichen System bewährt, etwa in dem Konzept der Interims- und Lernersprache (vgl. etwa Selinker (1972). „Interlanguage“; Kasper (1981). Pragmatische Aspekte in der Interimsprache. deutlich, dass ohne eine gesetzliche Vorgabe zu dieser Verbindung, wie sie z. B. in NRW (2009 Gesetz zur Lehrerreform) beschlossen und umgesetzt wurde, nicht über Kompetenzen zur Verbindung zwischen dem Forschungs- und Lehr‐ gebiet ‚Deutsch als Zweitsprache’ und den Unterrichtsfächern nachgedacht, ge‐ schweige denn solche entwickelt wurden. Vielmehr attestiert sie auf Grundlage einer Sondierung von Angeboten an deutschen Universitäten bis dato der Ger‐ manistik als Bezugsdisziplin eine ausbleibende Profilierung hinsichtlich einer Didaktik speziell für ‚Deutsch als Zweitsprache‘; der Erziehungswissenschaft hingegen spricht sie mit ihrer Konzentration auf Phänomene soziologischer Gegebenheiten von Migration und Postulaten nach einem Perspektivwechsel im Schulalltag die Kompetenz ab, sprachliche Defizite zu beseitigen und fachliche Potenziale der betroffenen Schülerinnen zu befördern. 17 Um die sprachlichen Anforderungen in Schule und Hochschule zu be‐ schreiben, gibt es mittlerweile unterschiedliche terminologische Zugriffe, die darauf abzielen eine spezifische Nutzung des Inventars des Deutschen mit Blick auf seine Frequenz und Funktionalität im Unterricht zu erfassen und zur Grund‐ lage sprach- und bildungserfolgsfördernder Maßnahmen zu machen, etwa unter der Ägide der Förderung von ‚Bildungssprache‘ 18 bzw. der von Feilke vorgeschla‐ genen Differenzierung in ‚Bildungs-‘ und ‚Unterrichtssprache‘ 19 . Aber gerade auch diese Bestrebungen rufen Skepsis innerhalb der Debatte hervor, etwa wenn es um deren konjunkturelle Nutzung im Sinne von Unterrichtsrezepten geht. 20 Ein weiterer Gesichtspunkt, den es kritisch zu reflektieren gilt, ist die, wie ich mit Karl Bühler formulieren möchte, zufällige bzw. unfreiwillige Entstehung von ‚Sprachwerken‘, etwa wenn von „DaZ-Kindern“ die Rede ist, überall „Stolper‐ steine“ lauern, „Texte geknackt werden müssen“ und ‚Fehler‘, anstatt als pro‐ duktive Leistung im Aneignungsprozess einer Zielsprache beispielsweise unter der Überschrift „weg mit den Fehler“ zu einem zu beseitigenden Gegenstand werden. 21 Einer, aus den aufgeführten Formulierungen, deutlich werdenden Defizitorientierung in der Betrachtung der Sprache und der Personen, die sich 75 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 22 Ramirez-Rodriguez und Dohnen (2010). „Ethnisierung von geringer Bildung“. 23 Vgl. etwa Dirim (2010). „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ 24 Ehlich; Rehbein (1986). Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommu‐ nikation. 25 Siehe Rehbein (1995, 2002); Bührig (1996); Bührig; Fienemann; Schlickau (in Vorbe‐ reitung). „Adressierung und expliziter Aktantenbezug in sprachlicher Interaktion: funktional-pragmatische Überlegungen zu ein- und mehrsprachiger Kommunikation“. 26 Siehe Ehlich; Rehbein (1986). Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. 27 Siehe etwa Bühler (1934). Sprachtheorie. Zur Darstellungsfunktion der Sprache.; Ehlich (1979). Verwendung der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistisch-philologisch Untersuchungen zum hebräischen deiktischen System, Ehlich (1982). „Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen“; Ehlich (1983). „Deixis und Ana‐ pher“. 28 Siehe Ehlich (2009). „Erklären verstehen - Erklären und verstehen“. diese aneignen, in unserem Falle also sowohl ‚Deutsch als Fremdsprache‘ als auch ‚Deutsch als Zweitsprache‘, sorgen für eine Ethnisierung von Verstehens‐ defiziten 22 und führen zu einem diskriminierenden „Linguizismus“ 23 . Gegenüber einer derart defizitär anmutenden Herangehensweise an den Zusammenhang zwischen Sprache und Fach soll im Folgenden eher der Blick auf Ausdrucksbe‐ dürfnisse von Schülern und Schülerinnen und die dafür notwendige sprachliche Verarbeitung von Wissen im Sinne eines ‚Verbalisierens‘ gelegt werden. Versteht man mit Ehlich und Rehbein 1986 Schule als versprachlichte Institution, die den Zweck eines akzelerierten Wissenserwerbs zu realisieren hat 24 , geraten sprachliche Dimensionen des Aufbaus und der Organisation von Wissen in den Blick, die lehrer- und schülerseitige Äußerungsakte systematisch als Einheiten des ‚Verbalisierens‘ 25 betrachten. In Anlehnung an die sprachpsychologischen Anteile von Bühlers Sprachtheorie sowie der sowjetischen Tätigkeitstheorie wird das ‚Verbalisieren‘ als Versprachlichung von Wissen über Welt verstanden, die vermittelt über die mentale Verarbeitung von Ereignissen und Sachverhalten verläuft. 26 Damit die Verständigung zwischen Sprecher und Hörer möglich wird, ist bekanntermaßen eine gemeinsame Bezugnahme auf Sachverhalte notwendig, der Aufbau neuen Wissens setzt eine Zerlegung der Wahrnehmung von und Wissen über Sachverhalte und deren wahrnehmbare Beanspruchung für Bezugnahme und Zuschreibung (von neuen Wissenselementen) voraus. Der Ausbildung und Steuerung der Aufmerksamkeitsfokusse von Sprecher und Hörer (mittels Ausdrucksmitteln, die dem Vollzug einer ‚deiktischen Prozedur‘ 27 dienen), (s. u.) sowie Ansatzpunkte einer Einbettung neuer Wissenselemente in bereits Gewusstes und Verstandenes (beim ‚Wissensaufbau‘) 28 kommen in der sprachlichen Interaktion, die eben immer mit Wissen zu tun hat, elementare 76 Kristin Bührig 29 Siehe etwa die Arbeiten von Hoffmann (2000). „Thema, Themenentfaltung, Makro‐ struktur“; Hoffmann (2014). „Informationsstruktur und Wissen“. 30 Siehe Hoffmann (2003). 31 Wagenschein (1978). „Die Sprache im Physikunterricht“. 32 Rincke (2010). „Alltagssprache, Fachsprache und ihre besonderen Bedeutungen für das Lernen“, 158; Vollmer; Thürmann (2013). „Sprachbildung und Bildungssprache als Aufgabe aller Fächer in der Regelschule“, 539. Relevanz zu. Es sind nicht zuletzt die Gedanken einer funktionalen Satzperspek‐ tive, Untersuchungen zur Thematisierung und Themenentfaltung in Text und Diskurs 29 sowie Ansätze einer ‚funktionalen Syntax‘ 30 , die in der konkreten Sprachbetrachtung diesen nur kurz skizzierten Notwendigkeiten und ihren sprachlichen und kommunikativen Realisierungsformen nachgehen. Querstreben sprachlicher Verarbeitung von Wissen Die Verarbeitung von Wissen im Zuge der Verbalisierung findet nicht nur in der Schule statt, sondern in allen weiteren, denkbaren lebensweltlichen Zusammenhängen der Schüler und Schülerinnen; eine Grenze entlang des institutionellen Bereiches Schule zu ziehen, entspräche einem Akt der Willkür. Diese Überlegung für eine sprachsensible Vorgehensweise im Fachunterricht zu nutzen, findet sich z. B. bereits in den Ausführungen des Physikdidaktikers Wagenschein, dem es darum geht, abstrakte physikalische Gesetzmäßigkeiten zunächst als Handlungsbeschreibungen seitens der Schüler zu elizitieren, um diese dann schrittweise mit abstrahierenden Formulierungen zu Gesetzmäßig‐ keiten in eine Formel voranzutreiben. 31 Argumentativ stützen ließe sich dieses Vorgehen durch neuere Hinweise aus der Mehrsprachigkeitsdidaktik, die vor‐ sehen, insbesondere Schülern und Schülerinnen, die im Fachunterricht vor Anforderungen der Sprachaneignung des Deutschen als weitere Sprache ge‐ stellt sind, auf die nuancenreichen Ausdrucksmöglichkeiten der Alltagssprache hinzuweisen. 32 Dabei werde bei der Vermittlung von Fachinhalten und Fachbe‐ griffen vielfach an alltagssprachlich vorhandenes Wissen angesetzt. Inwiefern auch bei elementaren, nicht-begrifflichen Formen sprachlichen Handelns ange‐ setzt werden kann, soll im Folgenden dargelegt werden: anhand ausgewählter Ausschnitte sprachlichen Handelns werden mögliche Verbindungen zwischen außerschulischer Lebenswelt und Verbalisieren von Wissen im Rahmen fach‐ licher Kommunikation über Fächergrenzen hinweg unter der Maßgabe der Identifikation von ‚Querstreben‘ aufgezeigt. 77 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 33 Ehlich (1999). „Alltägliche Wissenschaftssprache“. 34 Die nachstehende Tabelle ist dem Internet unter folgendem Link entnommen: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Liste_der_häufigsten_Wörter_der_deutschen_Sprache. Auch in der Wortschatzliste des Goethe-Instituts für das B1-Zertifikat taucht ‚dies-‘ auf, siehe https: / / www.goethe.de/ pro/ relaunch/ prf/ de/ Goethe-Zertifikat_B1_Wortliste.pdf. • Schüler und Schülerinnen • Studierende • Lehrende ● Aktanten • Ausdrucksmittel, Konstruktionen und syntaktische Verfahren • verbalisiertes Wissen ● Handlungen • Texte • Diskurse • digitale Medien ● außer(hoch)schuli sche Lebenswelten Abb. 1: Querstreben der sprachlichen Verbreitung von Wissen. Die Abbildung soll verdeutlichen, dass Aktanten in ihren unterschiedlichen Lebensbereichen Handlungsformen mithilfe von Ausdrucksmitteln und syntak‐ tischen Verfahren realisieren. Es ist genau das Wissen über den Einsatz der Ausdrucksmittel einer Sprache in Handlungsformen, die als Potenziale für Querstreben der sprachlichen Verarbeitung von Wissen zu betrachten und z. B. für Lehr-Lern-Diskurse in Schule und Hochschule zu nutzen sind. Für die Suche nach konkreten Kandidaten für diese Art von Querstreben folge ich zum einen Ehlichs Ausführungen zur ‚alltäglichen Wissenschaftssprache‘, indem ich mich auf sprachliche Ausdrucksmittel gemäß ihrer bestimmten Rolle für die Wissensverarbeitung konzentriere. 33 Zum anderen orientiere ich mich an Ma‐ ximen im Zusammenhang mit der Aneignung von Elementen des Wortschatzes im Fremdsprachenunterricht: In Konstellationen gesteuerter Erwerbsprozesse seien frequente Ausdrücke auszuwählen, auch wenn diese nicht unbedingt leicht zu lernen sind. Wenn wir auf der Suche nach potenziellen Querstreben eines sprachförderlichen Fachunterrichts der Auswahlmaxime folgen wollen, lohnt sich daher ein Blick auf die hundert häufigsten Wörter im Deutschen. 34 78 Kristin Bührig 35 Grimm (1854). Wörterbuch der Deutschen Sprache. Pfeifer (2000). Etymologisches Wör‐ terbuch des Deutschen. Paul (1992). Deutsches Wörterbuch. 36 Siehe Bühler (1934). Sprachtheorie. Zur Darstellungsfunktion der Sprache (unter Be‐ zugnahme auf Brugmann (1904). Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen: eine bedeutungsgeschichtliche Untersuchung). 37 Pfeifer (2000). Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 225. 38 Siehe etwa Kuchenreuther (2013). „Unterrichtsmaterialien und Lehrbuchtexte als be‐ sondere Herausforderung“, 190; Rösch et al. (2003). Deutsch als Zweitsprache. Grund‐ lagen, Übungsideen, Kopiervorlagen zur Sprachförderung, 215. Abb. 2: Die hundert häufigsten Wörter im Deutschen. Auf den ersten beiden Plätzen rangieren im Schriftlichen Ausdrücke wie ‚der‘ und ‚die‘, ‚den‘ und ‚das‘ folgen auf den Plätzen 5 und 8. Komplettieren ließe sich diese Gruppe noch mit den Kandidaten auf den Plätzen 85 und 86, ‚diese‘ und ‚dieser‘. Die genannten Ausdrücke zu einer Gruppe zusammenzufassen, lässt sich mit den Hinweisen aus dem Grimm’schen Wörterbuch, ebenso wie mit Pfeifer und Hermann Paul 35 auf eine gemeinsame Wurzel rechtfertigen, die allen Demonst‐ rativa gemeinsam ist und deiktische Qualitäten besitzt. 36 Die Besonderheit an ‚dies‘ ist darin zu sehen, dass zu dieser Wurzel noch ein klitisierte deiktische Partikel in verstärkender Form hinzutritt. 37 Arbeiten zum Leseverstehen zeigen, dass es u. a. Pronomina bzw. deiktische Ausdrucksmittel wie ‚dies‘ und seine morphologisch komplexeren Formen sind, die entscheidende Momente des Textaufbaus darstellen und ein satzübergrei‐ fendes Leseverstehen erfordern. Für eine Leserschaft, deren Erstsprache auf Pronomen in der Subjektposition verzichtet (wie z. B. Spanisch oder Polnisch) oder keine Genusunterscheidung nutzt (wie etwa das Türkische), stellen diese Ausdrücke eigens erklärungsbedürftige Formen dar. 38 79 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 39 Bühler (1934). Sprachtheorie. Zur Darstellungsfunktion der Sprache. 40 Ehlich (1982). „Deiktische und phorische Prozeduren beim literarischen Erzählen“; Ehlich (1983). „Deixis und Anapher“. 41 Siehe etwa auch die weiterführenden Bestimmungen in Redder (1990). Grammatikthe‐ orie und sprachliches Handeln. Denn und da. Redder (2000). „Textdeixis“. Kameyama (2007). „Persondeixis, Objektdeixis“. 42 Strecker et al. (1997). Grammatik der deutschen Sprache. Verfolgen wir mit Blick auf den Einsatz im sprachlichen Handeln nun den Ausdruck ‚dies‘ und seine Formen etwas weiter. Deiktische Ausdrucksmittel dienen, so die bekannten Ausführungen Karl Bühlers, dazu, die Aufmerksamkeit des Hörers auf bestimmte Zeigobjekte auszurichten. 39 Diese Objekte, auf die verwiesen wird, können in der Ferne oder in der Nähe der sprecherseitigen ‚Origo‘ und in unterschiedlichen ‚Verweisräumen‘ liegen, so macht Ehlich in der Weiterentwicklung der Bühlerschen Unterscheidung zwischen dem ‚Zeigen ad oculus‘ und dem ‚Zeigen am Phantasma‘ deutlich. 40 Neben dem ‚Wahrneh‐ mungs-‘ und dem ‚Vorstellungsraum‘ ist von einem ‚Text-‘ und ‚Rederaum‘ auszugehen. 41 Basierend auf diesen Grundbestimmungen tauchen unsere Kandidaten in der sogenannten IDS-Grammatik wie folgt auf: 42 • Nominalphrasen mit deiktischem Determinativ: ‚dieser‘ + N (vgl. a. a. O.: 1960-1964): • kombinierbar mit Appellativa, Substanzausdrücken, Pluralnomina • meist anadeiktische Verwendung: näherliegende Vorerwähnung (z. B. „Auf der Ostseite des Borsteiens zieht sich an der Nordkante ein Riß bis zu dem höchsten Punkt. Daher ist diese Route mit Klemmkeilen abzusichern, vgl. a. a. O.: 1960). • Proterme: Objektdeixis (vgl. a. a. O.: 41) • Verweis auf Objekte im weitesten Sinn (z. B. im Zuge einer Auswahl: ‚Dieses! ‘, KB) • Formenparadigmen sind kasus-, numerus- und genusdifferenziert • morphologische Differenzierung unterstützt Einsatz der Objektdeixis als Mittel thematischer Fortführungen • thematische Organisation von Text und Diskurs (vgl. a. a. O.: 554) • ‚dieser‘ taucht vor allem bei konstanten Themen auf: gegenstandsbezogen (vgl. a. a. O.: 555) (Beispiel aus Frege: „Ein Begriffswort bedeutet einen Begriff, wenn das Wort so gebraucht ist, wie es in der Logik zweckmäßig ist. Um dies zu erläutern, erinnere ich an einen Umstand […]. (vgl. a. a. O.: 554). • ‚dies‘: Affinität zu sachverhaltsbezogenen Themen (vgl. a. a. O.: 556) 80 Kristin Bührig Die Aufstellung macht deutlich, dass der Ausdruck ‚dies‘ und seine morphologisch komplexeren Formen ‚diese‘, ‚dieser‘ und ‚dieses‘ sowohl selbstsuffizient und alleinstehend als auch in Kombinationen vorkommen (etwa als ‚deiktische Deter‐ minationen‘ und als ‚Objektdeixis‘). Ebenso gibt es Kollokationen, wie etwa ‚dies und das‘ oder ‚dieses und jenes‘. Betrachten wir einige konkrete Beispiele, um die Rolle der Ausdrücke im Zuge der Wissensverarbeitung zu verfolgen. ‚Dies‘ und ‚das‘ im sprachlichen Handeln Die Ausdrücke ‚dies‘ und ‚das‘ finden sich sowohl in Texten von SchülerInnen als auch von StudentInnen. Betrachten wir zunächst zwei Ausschnitte, die studentischen Hausarbeiten entstammen: (B1) „Dieses Kapitel“ „Wie in der Einleitung beschrieben, dient dieses Kapitel zum einen der Klärung zentraler Fachtermini, zum anderen als Einführung in die Theorie der Interrogativsätze.“ Das erste Beispiel zeigt, wie die Leserschaft im Textfluss orientiert wird. Konkret werden bestimmte Inhalte bzw. Schritte der Wissensentfaltung im Rahmen eines Kapitels angekündigt, auf das die Leserschaft mittels ‚dieses‘ katadeiktisch fokussiert wird. Auch wenn satzinitial die Einleitung als vermutlich voranstellendes Kapitel aufgegriffen wird, richtet das ‚dieses‘ die leserseitige Aufmerksamkeit gleichsam auf den aktuellen Wahrnehmungsraum, also den gedruckten Text und verkoppelt somit den aktuellen Gegenstand der Rezeption mit dem leserseitigen Vorwissen. Ebenfalls der Organisation des Leseflusses lässt sich der anadeiktische Ver‐ weis im nächsten Beispiel zuordnen: (B2) „Rezeptionsdefizit“ „Um eine Bearbeitung eines Rezeptionsdefizites auszuführen, muss dieses erstmal bemerkt werden, damit es Aufmerksamkeit und somit eine Behandlung erfährt. Dies geschieht mitunter dadurch, dass Reaktionen des Hörers auf das Gesagte des Sprechers unterbleiben.“ 81 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 43 Bekanntlich unterscheidet Bühler (1934) in seiner Felderlehre von den Elementen des ‚Zeigfelds‘ Elemente des ‚Symbolfelds‘ wie etwa Nomen und Verben, mit denen aus der Welt der Sachverhalte Gegenstände, Ereignisse, Aktionen etc. benannt werden. Dieser Gedanke, der sich aus dem Entwurf des ‚organon‘-Modells ergibt, wurde von Ehlich (1991) in einer Erweiterung zu fünf Feldern weiterentwickelt, zur Untersuchung von Begriffen als Prozeduren des Symbolfelds siehe vor allem Thielmann (1999), Thielmann (2012). 44 Dieser Text entstammt dem Korpus von Patrick Grommes, das im Rahmen einer Langzeitstudie mit Schülern und Schülerinnen unterschiedlicher Schulformen erhoben wurde, für genauere Angaben zu dem Korpus vgl. Grommes (2015). „Quaestio und Erzählstruktur in Texten mehrsprachiger Jugendlicher“. Die Schülertexte wurden bei der Erfassung zur Digitalisierung nicht verändert, die Schrägstriche markieren das jeweilige Zeilenende in den handschriftlichen Versionen. Mittels des Ausdrucks ‚dieses‘ wird der Symbolfeldausdruck 43 „Rezeptionsde‐ fizit“ refokussiert und zum Thema des Hauptsatzes gemacht. Das entsprechende Wissenselement erfährt in diesem Zugriff eine Topikalisierung, die verant‐ wortlich dafür ist, dass neben der syntaktischen Rolle des Themas auch der Ansatzpunkt einer wissenschaftlichen Betrachtung gewählt ist. Dafür spricht auch das bündelnde ‚dies‘, interessanterweise ohne weitere Suffigierung, das eine Bündelung des bisher ausgeführten Wissens in Richtung in eine nächste Stufe der Wissensentfaltung, in Richtung Thema bzw. Prädikativ führt. Ebenfalls ein anadeiktischer Verweis wird mit dem Ausdruck ‚diese‘ in folgendem Schülertext geleistet: (B3) „Schwacher Junge“ 44 „Den Jungs war langweilig und/ so beschlossen sie einen Jungen zu -/ verarschen. >Natürlich< den schwachen Jungen, >den< der/ früherer einmal das Mob‐ bingopfer war./ So fingen sie an seine Sachen zu verstecken./ Er sollte sie dann suchen. Die Anderen gaben/ ihm falsche Tipps. So suchte er an völlig/ falschen Stellen. Die ganze Klasse/ amüsierte sich nun über den einen Jungen./ Der Junge war hilflos und doch so bescheuert./ Ich konnte diese Situation nicht aushalten./ So fragte ich einen Jungen, warum sie das/ machen.“ Basierend auf den Beobachtungen zum feindseligen Umgang mit einem Mit‐ schüler gibt der Verfasser des Textes mit „Ich konnte diese Situation nicht aushalten.“ einen Einblick in seine Innenwelt, die als Begründung dafür dient, 82 Kristin Bührig 45 Der Auszug entstammt dem Biologielehrbuch von Philipp et al. (2006). Biologie heute entdecken, 230. warum er ein Mitglied der Aggressoren anspricht. Der anadeiktische Verweis lässt den betreffenden Satz als Rahmenelement lesen, der im Zuge des schrift‐ lichen Erzählers einen entscheidenden Umschlag in der Perspektive des Schü‐ lertextes leistet: der Verfasser gerät vom Beobachter zum Handelnden. In Lehrbuchtexten findet sich ‚dies‘ in der dynamischen Wissensverarbei‐ tung, wie etwa in dem folgenden Ausschnitt aus einem Biologielehrbuch für die 7./ 8. Jahrgangsstufe 45 : (B4) „Hohlvene“ „Die verschiedenen Körpervenen vereinigen sich zu einem besonders großen Gefäß. Durch diese Hohlvene wird das Blut wieder direkt ins Herz transportiert. Damit ist der Körperkreislauf des Blutes geschlossen.“ Der Textauszug ist der letzte Abschnitt aus der Beschreibung des menschlichen Blutkreislaufsystems, in deren Rahmen die einzelnen Komponenten mit ihrer Funktion vorgestellt werden. Entsprechend werden spezifische Appellativa gemäß ihrem Stellenwert für den Kreislauf eingeführt. Charakteristischerweise findet die Sukzession der einzelnen Wissenselemente in linearer Form statt, wobei neue Elemente summarisch gebündelt werden, wie etwa mithilfe eines anadeiktischen Verweises in „diese Hohlvene“. Die oben genannten Kollokationen ‚dies‘ und ‚das‘ lassen sich vor allem im mündlichen Sprachgebrauch beobachten. Das folgende Beispiel stammt aus den Korpora des Instituts für Deutsche Sprache. (B5) „Vogelschau“ © Copyright Kristin Bührig, Hamburg 2019. Alle Rechte vorbehalten. Vogelschau 2 83 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht 46 Ehlich (1979). Verwendung der Deixis beim sprachlichen Handeln. Linguistisch-philolo‐ gisch Untersuchungen zum hebräischen deiktischen System; Günthner (2002). „Stimmen‐ vielfalt im Diskurs: Formen der Stilisierung und Ästhetisieren in der Redewiedergabe“. 47 Frage in der Plattform gutefrage.net (2013). https: / / www.gutefrage.net/ frage/ was-istdieses-neumodische-dies-das. 48 Rehbein (1992). „Zur Wortstellung im komplexen deutschen Satz“. Der Interviewte führt sein Engagement für seine Familie, konkret für seine Kinder und Enkelkinder aus, das offenbar durch eine Vielzahl von Auffor‐ derungen initiiert wurde. Diese werden mithilfe von ‚fingierten Redewieder‐ gaben‘ 46 in die Schilderung eingebaut „papa fahr ma dahin“, „mach ma dies(.) mach ma das“. Die Ausdrücke ‚dies’ und ‚das’ werden im Rahmen adjazenter kurzer Hauptsatzstrukturen genutzt und realisieren in selbstsuffizienter Form zusammen mit dem Verbstamm ‚mach‘ die Prädikation, die im hörerseitigen Vorstellungsraum auf einen beliebigen Gegenstand einer Aktion verweist. Die parallel konstruierenden Direktiväußerungen gewinnen auf diese Art und Weise einen beliebigen Charakter, der die Routinisierung der Einforderung von Gefälligkeiten deutlich macht. Seit einiger Zeit lässt sich noch eine weitere Form einer Kollokation beob‐ achten, in der ebenfalls ‚dies‘ und ‚das‘ eine Rolle spielen und zwar im Rahmen des Syntagmas ‚dies das‘. Offenbar zog diese Formel die Aufmerksamkeit einiger Sprachbeobachterinnen auf sich, wie folgender Beitrag aus der Internetrubrik „gute Frage“ 47 zeigt: (B6) „gute Frage“ Was ist dieses neumodische „dies das“? Hallo, ich sehe in letzter Zeit immer öfter die angehängte Aussage „dies das“. Wenn jemand beispielsweise Fotos postet, schreibt er als Bildunterschrift „Mit Freunden chillen, dies das.“ Nur, um mal Beispiele zu nennen. Das wird einfach so an Sätze hintendran gehängt. Meine Frage ist, was das eigentlich heißt? Ist das jetzt eine Alternative zu „und so weiter“ bzw. „denk dir selbst was dazu aus“? Oder heißt es eigentlich gar nichts und ist ein ähnlicher Lückenfüller wie „ähm“? Danke im Voraus. Die Antworten auf die gestellten Fragen haben durchgängig bestätigenden Charakter und legen eine Parallele zu dem genannten Ausdruck „und so weiter“ nahe. Die Beobachtungen konzentrieren sich vor allem auf die Tatsache, dass ‚dies das‘ außerhalb der Syntax der betreffenden Äußerung platziert ist, im sogenannten ‚Nachfeld‘ 48 der Äußerung, einer typischen Position für 84 Kristin Bührig 49 Rehbein (1979). „Sprechhandlungsaugmente“. 50 Im Mittelpunkt dieser Serie steht die Gerichtsmedizinerin Liv Moore, die als Zombie nach dem Verzehr von Gehirnen Erinnerungen und Persönlichkeitseigenschaften der Verstorbenen annimmt und auf diesem Wege bei der Aufklärung von Mordfällen hilft. ‚Sprechhandlungsaugmente‘ 49 . Darüber hinaus ist jedoch interessant, dass in Veränderung zu der Kollektion ‚dies und das‘ das koordinierende Element ‚und‘ fehlt und somit die deiktischen Ausdrücke in asyndetischer Reihung stehen. Dieses Verfahren bewirkt eine noch engere Koordination als unter Verwendung des Ausdrucks ‚und‘. Welche Auswirkung dieses Verfahren hat, soll an einem konkreten filmischen Beispiel aus der Serie iZOMBIE 50 abschließend exemplarisch untersucht werden, die sich, so die Auskunft von Studierenden, einer gewissen Beliebtheit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen erfreut. In einer der Folgen wird der Gerichtsmedizinerin in der deutschen Fassung ‚dies das‘ in den Mund gelegt: (B7) „iZOMBIE“ Beschreibung der Szene: Liv Moore kommt zur Tür in das Büro eines polizeilichen Ermittlers herein und geht betont langsam und lasziv um den Tisch herum zu einem freien Stuhl. Der Detektiv (D) und der vorgeladene Rapper Schwarzmann (S) sehen sie dabei kontinuierlich erstaunt bis beeindruckt an. (D) fragt (M), bevor sie sich setzt, nach ihrer Kleidung. (M) weist auf die Altkleidersammlung hin und fragt, ob sie nun „geliked“ werde. Nachdem Moore sich an den Tisch gesetzt hat, stellt der Detektiv sie vor. D: Mr. Schwarzmann, das ist Liv Moore, unsere Gerichtsmedizinerin. S: Geht ab, Shorty? M: ((lehnt Torso und Kopf nach hinten bei konstantem Blickkontakt zu S)) S: Alles schick? M: Das übliche. Shit. Dies das. Kohle machen. Im Rahmen der Begrüßung reagiert Moore auf die kontaktaufbauende Frage „Geht ab, Shorty? “ zunächst mit einer verbalen Unterlassung: Sie entgegnet keinen respondierenden Äußerungsakt, hält aber ununterbrochen mit S Blick‐ kontakt, eine Aktion, die den Rapper zu einer Rekursion im Rahmen seiner Kontaktaufnahme bringt, - mit der Frage „Alles schick? “ setzt er nach. Erst auf diese zweite Frage antwortet Moore mit einem Einblick in ihren Alltag. Dieser wird in ihren Äußerungen als gleichförmig und in Form von Routinen zu bewältigen charakterisiert. Unterstützt wird dieses Verfahren durch eine rhythmische Realisierung des Äußerungsaktes. Die eingesetzten Symbolfeldausdrücke haben einen geringschätzenden Cha‐ rakter, „übliche/ Shit“, „Kohle machen“, und stellen die Nutzung eines spezi‐ 85 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht fischen Systems von Präsuppositionen zur Schau. „Dies das“ wird von der Gerichtsmedizinerin Liv Moore als drittes Element ihrer Antwort eingesetzt. Nach den Vorgaben „Das übliche.“, „Shit.“ dient ‚dies das‘ der Ausrichtung der hörerseitigen Aufmerksamkeit auf mögliche Objekte, die das mit den zuvor verbalisierten Elementen „angerissene Spektrum von Tätigkeiten durch eine Ausrichtung auf beliebige Foki erweitern. Der Abschluss wird dann mit der formelhaften Verbalphrase „Kohle machen“ realisiert. Dies‘ als Wurzel einer Objektdeixis fokussiert ein Wissen über Sachverhalte als Verweis in der Nähe. Damit geht es um eine Fokussierung dessen, was für den Sprecher auf der Hand liegt und dem Hörer auf diese Weise ebenfalls nahegelegt werden soll. Das nachgestellte, adjazente ‚das‘ verstärkt diesen Vorgang, indem es dem Hörer in einer zweiten Fokussierung die Wahl lässt, auf was er seine Aufmerksamkeit richtet. Welche Wirkung hat dieses Vorgehen? In der vorliegenden Konstellation des Erstkontaktes ist ‚dies das‘ Bestandteil einer Antwort auf eine Frage, mit der sie die Zugehörigkeit zu einer Gruppe signalisiert, die zuvor schon durch ihre Kleidung angesprochen wurde. Schluss und Ausblick ‚Dies‘ und ‚das‘ tauchen als hochfrequente Ausdrücke im Deutschen in einer Vielzahl unterschiedlicher Diskurs- und Textformen auf, insofern können sie als sprachliche Phänomene der sprachlichen Verarbeitung von Wissen eine Verbindung schaffen zwischen Schule und außerschulischen Lebenswelten. Es gibt sie mündlich und schriftlich, und sie unterliegen gemäß ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten einer gewissen Variation. Allen in diesem Beitrag vorge‐ führten Vorkommen von ‚dies‘ und ‚das‘ ließ sich ein zentraler Ort in Prozessen des Wissensaufbaus und der Wissensverarbeitung nachweisen. Welche Gestalt diese Prozesse annehmen, hing von der Interaktion ab, in deren Rahmen gehandelt wurde: Beschreibungen, Erklärungen, narrativen Handlungsformen, ‚Positionierung‘ im Diskurs im Rahmen eines Erstkontaktes. Für die am Unterrichtsgeschehen beteiligten Aktanten bietet eine Beschäfti‐ gung mit den Ausdrücken Handlungspotenziale der Sprachreflexion und damit einen Beitrag zur Sprachbildung. Anhand der jugendsprachlichen Formel ‚dies das‘ besteht beispielsweise die Möglichkeit, • Schülerinnen und Schüler rekonstruieren lassen, woher sie diese Formel kennen • ähnliche Formeln in unterschiedlichen Sprachen suchen zu lassen 86 Kristin Bührig • den Blick auf die einzelnen Komponenten und ihrer Beschreibung zu wenden • in Form einer Metakommunikation die Beschreibung der Formel für Zwecke der Vermittlung zu erarbeiten Der Rückgriff auf Verbalisierungsresultate, die außerschulischen Lebenswelten entstammen, birgt, wie hoffentlich gezeigt werden konnte, ein Potenzial für eine kreative und systematische Sprachreflexion, die im Sinne der zu Beginn dieses Beitrags vorgestellten Sprachkritik zugehören. Gleiches gilt für die Professiona‐ lisierung zukünftiger Lehrer und Lehrerinnen im Rahmen der Hochschullehre, die darauf hinwirkt, das gesamte Spektrum der Funktionalität von sprachlichen Ausdrucksmitteln zu erhellen und somit eine Grundlage erhalten, zukünftigen Schülern und Schülerinnen ein größtmögliche Breite ihrer Handlungspraktiken zu entfalten. Literatur Bär, Jochen (2009). „Die Zukunft der deutschen Sprache“. In: Ekkehard Felder (Hrsg.). Sprache. Berlin, Heidelberg: Springer, 59-106. Becker-Mrotzek, Michael; Schramm, Karen; Thürmann, Vollmer (2013). „Sprache im Fach: Einleitung“. In: Ders. Sprache im Fach. Sprachlichkeit und fachliches Lernen. Münster: Waxmann, 7-14. Brugmann, Karl (1904). Die Demonstrativpronomina der indogermanischen Sprachen. Eine bedeutungsgeschichtliche Untersuchung. Leipzig: Teubner. Bühler, Karl (1934). Sprachtheorie. Zur Darstellungsfunktion der Sprache. Jena: Fischer. Bührig, Kristin (1996). Reformierende Handlungen. 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Liste der häufigsten Wörter der deutschen Sprache. https: / / de.wiki‐ pedia.org/ wiki/ Liste_der_häufigsten_Wörter_der_deutschen_Sprache (01.06.2020). 91 Praxen des Kritisierens: Befunde und Perspektiven aus sprachwissenschaftlicher Sicht Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft - Pigoons und andere Gentechnische Visionen in Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake Ute Berns und Paul Hamann-Rose Romanliteratur, ebenso wie Theaterstücke oder Kinofilme, lädt die Leser oder Zuschauer in den Imaginationsraum eines fiktionalen Universums ein. Sie kann Vergnügen bereiten, Emotionen wecken und Wissen über den Menschen und die Welt vermitteln, zur Empathie anleiten und zum kritischen Denken auffordern. Dabei markiert sie immer einen Standpunkt und wirbt für eine Perspektive, für ein bestimmtes Verhältnis zu anderen und zur Welt. Dies gilt für Shakespeares Dramen ebenso wie für A. A. Milnes Winnie the Pooh, und für Jane Austens Werke um 1800 ebenso wie für den Science-Fiction-Roman im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wenn Literatur- und Kulturwissenschaftler die Entstehung, Bedeutung und Wirkungsweise dieser Texte untersuchen (Texte in einem weiten Verständnis), so verfahren sie kritisch nicht im Sinne eines Werturteils, sondern wissen‐ schaftlich-kritisch im Sinne einer ‚differenzierenden Betrachtung‘. Zum einen richten sie ihren Blick auf die Gestalt der Texte und analysieren deren Narra‐ tive, Themen, Sprecher- oder Erzählpositionen, Strukturen und Sprache. Wie kommen Bedeutung und Wirkung des Textes zustande und was für eine - wie immer vermittelte - Perspektive auf die Welt eröffnet sich dabei? Zum anderen betrachten Literatur- und Kulturwissenschaftler Theaterstücke, Romane oder Gedichte in spezifischen historischen Kontexten. Wie verleihen deren soziale oder politische, wissenschaftliche oder religiöse Netzwerke einem literarischen Text kulturell spezifische Bedeutung, und wie positioniert sich der literarische Text seinerseits in diesen Netzwerken und greift mit seiner Perspektive in sie ein? Idealerweise entsteht aus der Verbindung dieser beiden Blickrichtungen - auf die spezifische Gestalt des Textes einerseits und seine Entstehungs- und Wirkungskontexte andererseits - ein vertieftes Verständnis des literarischen Gegenstands und daraus folgend eine kritische Position gegenüber seinem Standpunkt. 1 Iser (1972). Der Implizierte Leser: Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. 2 Siehe Warner (2014). „Uncritical Reading“ und Kosofsky-Sedgewick (1997). „Paranoid Reading and Reparative Reading; or, You’re so Paranoid You Probably Think This Introduction is About You“, 1-37. 3 Zum Lesen als Prozess der Individuation vgl. Macé; Jones (2013). „Ways of Reading, Modes of Being“, 213-229, bes. 218-228. Dennoch bleibt dies eine stark verkürzte Darstellung, denn auch das close reading des Textes im Zuge einer kulturhistorisch sensiblen Lektüre legt nicht einfach ‚den Standpunkt‘ eines Textes frei. Bei genauerem Hinsehen erweisen sich Texte in unterschiedlich hohem Maße als mehrdeutig und können folglich so oder anders gelesen werden, denn Autoren, soweit sie überhaupt befragbar wären, kommt keine höhere ‚Autorität‘ zu, wenn es darum geht, wie Texte gelesen werden können. Der individuelle Akt des Lesens oder kritischen Unter‐ suchens geht daher immer schon mit ein in den Standpunkt, der dem Text schließlich zugeschrieben wird, 1 und dies tritt besonders deutlich hervor, wenn ein Theaterstück oder Roman durch mehrere Jahrhunderte tradiert oder in unterschiedlichen Kulturräumen rezipiert wird. In dieser fundamentalen Offenheit literarischer Texte liegt der Grund dafür, dass dem kritischen Lesen in der Literatur- und Kulturwissenschaft bereits selbst ein Moment des Verantwortlich-Seins zukommt. Wissenschaftliches Lesen impliziert ein minimales Moment der Abstandnahme, insofern es im Bewusstsein um die Mehrdeutigkeit von Texten geschieht; es weiß um den eigenen Anteil bei der Herstellung des Standpunktes eines Textes. Damit unterscheidet sich kritisches Lesen von einer Lektüre, die sich selbst- und weltvergessen den Affekten des Leseerlebnisses überlässt oder ausschließlich identifikatorisch ganz in der Rolle einer Figur aufgeht. Ebenso grenzt es sich ab von einem reparativ-heilenden Leseerlebnis oder auch einem Lesen als Modus religiöser Praxis, das dem Text eine höhere Wahrheit unterstellt. 2 Literaturwissenschaftliche Textkritik, idealerweise als Wiederlesen, bedeutet eine bewusste Entscheidung darüber, wie man liest und zwar sowohl in der Auseinandersetzung mit anderen, nicht-kritischen Lektüren, deren Eindrücke sie zu erhellen sucht, (ggf. einschließlich der eigenen vorangegangenen Lektüre desselben Textes; in welchem Fall dem kritischen Lesen ein Moment der Selbsterhellung oder ‚Selbstbildung‘ zukommt), als auch in Auseinandersetzung mit alternativen kritischen Analysen, denen gegenüber sie sich ausweist und begründet Position bezieht. 3 Die Frage, wie literaturwissenschaftliche Kritik konkret vorgehen sollte, wird dabei unterschiedlich beantwortet. So betonen manche Literaturwissenschaftler 94 Ute Berns und Paul Hamann-Rose 4 In diesem Zugang verbinden sich Traditionen des russischen Formalismus oder auch des amerikanischen New Criticism ebenso wie des Strukturalismus und der Narrato‐ logie. 5 Gallop (2000). „The Ethics of Reading: Close Encounters“; in The Way We Argue Now (2006) verweist Anderson auf Verbindungen zwischen diesem ‚prozessuralen Ethos‘ und neo-kantianischen Positionen in der Diskursethik, 161-187. 6 Vgl. Felski (2015) im Rückgriff auf Paul Ricoeur, in The Limits of Critique. In ihrer Analyse reichen die Ausläufer der Hermeneutik des Verdachts noch deutlich weiter. das kritisch-differenzierende Potenzial, das einem komplexen Text selbst inne‐ wohnt und vor allem aufgezeigt, benannt und interpretiert werden will. Dies gilt insbesondere dort, wo die Verfasstheit eines Romans, Gedichts, oder einer Performance dazu anleitet, Vielstimmigkeit, Widersprüche oder emotionale Ambivalenzen wahrzunehmen, Vertrautes neu anzuschauen und die Komple‐ xität der dargestellten Welt zu erkennen. 4 Auch opake und in diesem Sinne ‚schwierige‘ Texte fordern ein kritisches Bemühen geradezu heraus, um die im Text entfalteten Perspektiven auf die Welt überhaupt interpretieren zu können. Kritische Verantwortung oder das prozessurale Ethos dieses Lesens besteht darin, die spezifische Beschaffenheit eines Textes nicht einfach ungeduldig zu übergehen, sondern den Text als Gegenüber ernst zu nehmen und genau hinzuschauen; nicht Altbekanntes auf Unvertrautes zu projizieren, sondern sich anregen, überraschen und zu neuen Einsichten führen zu lassen durch das, was unerwartet aufscheint. 5 Andere Vertreter des Faches konzentrieren sich weniger auf die Möglich‐ keiten des Textes, durch seine Darstellungsverfahren Verhältnisse neu und anders ins Licht zu rücken, als vielmehr auf die mögliche Komplizenschaft des Textes mit den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, in denen er entstanden ist und die er, mehr oder weniger gebrochen, mittransportiert. Der beherrschende Duktus und das Zentrum des Textes stehen bei diesen Analysen - etwa marxistischer oder Foucault-inspirierter, feministischer oder postkolonialer Provenienz - unter dem Verdacht, etwas zu verschleiern oder zu verdecken. Verantwortliches Lesen versteht sich hier eher als ein ‚widerständiges‘ oder Gegen-den-Strich-Lesen; es sucht Spuren von dem sichtbar zu machen, was Texte abschatten oder tabuisieren, aber nicht umhin können zu registrieren. 6 Je nach Textmaterial können sich textkritische und kulturhistorisch-kritische Verfahren auf unterschiedliche Weise ergänzen. Diese und weitere Überlegungen zum kritischen Lesen und Denken in der Literaturwissenschaft sollen im Folgenden anhand von Margaret Atwoods Roman Oryx and Crake, dem ersten ihrer MaddAddam-Trilogie, skizzenhaft kon‐ kretisiert werden. Für die hier verfolgte Fragestellung ist der Roman insofern ein interessantes Fallbeispiel, als er sich eines aktuellen kontroversen Themas aus 95 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft der Wissenschaft annimmt und dabei ganz offensichtlich selbst den Anspruch erhebt, eine kritische Perspektive zu eröffnen und zum Denken einzuladen. Die literaturwissenschaftliche Kritik wird hier erkennbar als Metakritik einer literarisch-kritischen Perspektive auf die Welt. Die Handlung des 2003 veröffentlichten Romans Oryx and Crake ist in einer nahen Zukunft, irgendwann im einundzwanzigsten Jahrhundert in Nordame‐ rika angesiedelt. Dort hat sich die Gesellschaft sozial drastisch auseinanderdi‐ vidiert: Die Finanz- und Wissenselite lebt zurückgezogen hinter streng gesi‐ cherten Mauern der Wohn- und Arbeitskomplexe multinationaler Konzerne, während der Großteil der Bevölkerung unter prekären Bedingungen in den weitgehend gesetzlosen Bezirken der sogenannten pleeblands wohnt und ar‐ beitet. Entworfen wird eine hyperkapitalistische Gesellschaft, in der Konzerne, die mit eigenen Sicherheitskräften ausgestattet sind, de facto die Funktion der Staatsapparate übernommen haben. Angesichts der katastrophalen Folgen dieses Vormarsches der ‚bewaffneten Privatwirtschaft‘ für den Planeten und in der Hoffnung, die vollständige Zerstörung der vor dem Kollaps stehenden nicht-menschlichen Lebenswelten und ökologischen Systeme noch abwenden zu können, löst ein Wissenschaftler eine globale Pandemie aus, mit dem Ziel, die menschliche Spezies auszulöschen. Der Wissenschaftler, Glenn, bzw. Crake, hat zuvor unter dem Deckmantel marktorientierter Gentechnik eine neue humanoide Spezies gezüchtet, die den vernichteten Homo sapiens ablösen und ökologisch verträglich leben soll. Die neue Spezies, nach ihrem Schöpfer Craker genannt, sind genetische Hybride aus menschlicher, tierischer und pflanzlicher DNA. Es sind friedliche, sprachfähige, in Gruppen lebende und in ihrer Statur menschenähnliche Herbivoren (Pflanzenfresser), die unter anderem über einen angeborenen Insektenschutz und einen genetisch veranlagten festgelegten Paarungszyklus verfügen - Eigenschaften, die einerseits Krankheiten und an‐ dererseits Konflikten vorbeugen sollen. Nachdem die Mehrheit der Menschheit einschließlich Crake der Pandemie erlegen ist, nimmt sich Jimmy, ehemaliger Freund Crakes und Protagonist des Romans, der Craker an. Der Roman endet mit der Entdeckung Jimmys, dass noch weitere Menschen die Katastrophe überlebt haben. Es bleibt offen, wie die Überlebenden auf die neue menschenähnliche Spezies reagieren werden. Diese Kurzfassung des Haupthandlungsstrangs von Atwoods Roman lässt die folgenden Themen als zentrale Interessen dieses sprachlich erfindungsrei‐ chen und manchmal im Ton leicht satirischen Textes sichtbar werden: die Auswirkungen von ungezügelt kapitalistisch verwerteter Wissenschaft und Technologie, hier insbesondere der Genetik, nicht nur auf ein gesellschaftliches Gefüge, sondern auch auf das ökologische System des Planeten; die ethische 96 Ute Berns und Paul Hamann-Rose 7 Horn (2014). Zukunft als Katastrophe, 27. Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers gegenüber der potentiellen - und konkreten - Anwendung von Forschungsergebnissen; sowie die Frage, welche Konsequenzen die Manipulation des menschlichen Genoms für das Verständnis der menschlichen Spezies sowie allgemeiner für das Verhältnis differenter Spezies zueinander hat. Diese Themen sind natürlich nicht die einzigen, die der Roman anspricht; es ließen sich auch die gesellschaftliche Rolle von Medien, Bildung und Religion, oder die Geschlechterverhältnisse untersuchen, die Familien, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen im Roman prägen. Kritisches Lesen nimmt sich jedoch die Freiheit, bestimmte Themen und Fragestellungen zu fokussieren, um ihnen genauer nachzugehen: unser Augenmerk soll auf der Darstellung der Genetik liegen. Bei der Frage, auf welche Weise Atwoods Roman seine Sicht auf das Thema gewinnt, sind verschiedene Darstellungsstrategien zu unterscheiden. Am auf‐ fälligsten ist die Zeitstruktur, die das Geschehen in die Zukunft verlegt und dadurch eine bestimmte Beziehung zur Welt des Lesers vorgibt. Obwohl es eindeutige Unterschiede zwischen der Romanwelt vor der Epidemie und der Gegenwart des Lesers um die Jahrtausendwende gibt, laden erkennbare soziale, politische und wissenschaftliche Gemeinsamkeiten implizit dazu ein, die beiden Welten zu vergleichen, Ähnlichkeiten und Unterschiede zu beobachten oder zu assoziieren und die im Roman entworfene als mögliche Weiterentwicklung einer zeitgenössischen Lebenswelt anzunehmen. Zugleich wird diese Sicht auf die Gegenwart noch einmal zugespitzt: Die Hauptfigur spricht nicht einfach aus der Zukunft, sondern nach einer Katastrophe im Rückblick auf das Vorangegangene. Die „epistemische Besonderheit“ dieser Perspektive liegt darin, dass sie „mit dem Anspruch auftritt, etwas freizulegen, etwas zu entdecken, das unterhalb der Oberfläche der Gegenwart noch verborgen ist.“ 7 Die Zeitstruktur des Romans besitzt somit Hinweischarakter und lässt sich, wie in anderen dystopischen Texten auch, als Geste der Warnung verstehen. Mindestens ebenso grundlegend für die Repräsentation der Genetik in Oryx and Crake wie die Zeitstruktur ist die weitgehende Perspektivierung durch eine Figur innerhalb der Handlung. Die Ereignisse des Romans werden durch den Blick des Protagonisten Jimmy gefiltert, oder anders ausgedrückt, die Erzählung ist fokalisiert durch Jimmy. Sie folgt Jimmy, der versucht, in der neuen Welt(un)ordnung zu überleben, doch durch Rückblenden erfährt der Leser nach und nach auch die Vorgeschichte; wie Jimmy Glenn kennengelernt und den Aufstieg des anderen in die Reihen der wissenschaftlichen Elite verfolgt hat. Durch Jimmys Perspektive erforscht der Text den Blickwinkel eines 97 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft 8 Bakhtin (1981). „Discourse of the Novel“, 269-422. Nichtwissenschaftlers auf die Genetik. Die wissenschaftlichen Inhalte erfahren dadurch automatisch eine soziale Kontextualisierung; zumindest insofern, als dass Jimmys Sicht auf die Arbeit seines Freundes bereits die Interpretation von genetischem Wissen und genetischen Praktiken durch einen Laien darstellt. Zugleich öffnet die Fokalisierung durch Jimmy auch dem überwiegenden Teil der Leser, die der Genetik ebenfalls als Laien gegenübertreten, einen gangbaren Einstieg in das komplexe Feld. Dies wird im Text besonders deutlich, als Glenn auf dem Höhepunkt seiner Karriere Jimmy sein Labor vorführt und erklärt, was er dort erforscht und mit welchem Ziel. Der Aufbau der Szene generiert einen doppelten Blick auf den Gegenstand: Nach wie vor werden die Ereignisse nur durch Jimmy gefiltert, der von dem, was er sieht, überrascht und eingenommen, aber auch befremdet und abgestoßen ist. Doch kommt nun Glenns Perspektive hinzu, dessen instrumen‐ telle Haltung zur Gentechnologie in seinen überlegen-unbeirrbaren und zum Teil fachsprachlichen Dialogbeiträgen offenkundig wird. Dabei unterstreicht die ‚asymmetrische‘ Erzählweise die Nichteinsehbarkeit der Motive und den Wissensvorsprung des Experten gegenüber dem Laien (und dem Leser). Die hier skizzierte Zusammenführung von unterschiedlichen Perspektiven auf ein Thema, in diesem Fall der Genetik, stellt eine grundlegende Qualität des Genres ‚Roman‘ dar. 8 Seine multiperspektivische Form setzt individuelle Ansichten und Sprachstile in ein dialogisches Verhältnis zueinander und fordert die Leser heraus, diese und die eigenen kritisch zu hinterfragen. Das zentrale Forschungsprojekt, das Glenn Jimmy vorstellt, ist die Erzeugung der Craker-Spezies durch Manipulation und Neuverbindung genetischen Mate‐ rials. Zu diesem Zeitpunkt im Roman ist der Leser bereits vertraut mit anderen Produkten solcher genetischen Spleiße. Zu den unauffälligeren gehört eine Kaf‐ feesorte von Happicuppa, deren Bohnen alle gleichzeitig reifen. Weit verbreitet in der Welt des Romans sind aber auch die ChickieNobs aus genverändertem ‚Hähnchen‘, das als Fleischkeule mit kopflosem Schlund im Labor entsteht, sowie die pigoons, die Schweine mit menschlichem Genmaterial zur Züchtung von Transplantationsorganen verkörpern. Jimmy steht solchen Chimären, Le‐ bewesen mit genetischem Material aus verschiedenen Individuen und/ oder Spezies, zunächst mit Vorbehalten gegenüber, gewöhnt sich jedoch zunehmend an sie und verzehrt im Laufe des Romans schließlich auch selbstverständlich die ChickieNobs. Als Glenn ihm die Craker als die Spitze des Fortschritts der genetischen Wissenschaft vorstellt, führt die Fokalisierung durch Jimmy im Text zu einer entschieden ablehnenden Reflexion von Glenns teleologischem 98 Ute Berns und Paul Hamann-Rose 9 Suvin (1979). Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and History of a Literary Genre, 63-84. Fortschrittsdenken. Gleichzeitig überschreibt Jimmys Skepsis jedoch keines‐ wegs die allenthalben spürbare Faszination des Textes mit den imaginierten Möglichkeiten einer genetischen Praxis, die nach Belieben Lebewesen mit beinah allen erdenklichen Eigenschaften kreieren kann. Zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans war jedes der hier aufgeführten genveränderten oder gespleißten Lebewesen für die Leser ein „Novum“, dessen technische Herstellung (noch) nicht möglich war. 9 Die ansonsten realistisch dargestellte Szene im Labor verankert den hier eröffneten Vorstellungsraum daher zwar in bekanntem genetischen Wissen und wiedererkennbaren Praktiken. Doch sie vermittelt den Lesern zugleich eine wissenschaftlich präzisierte Spielanleitung und Konkretisierungen ‚unmöglicher‘ Lebewesen, die sie dazu auffordern, sich diesen Vorstellungsraum anzueignen und mit weiterzudenken. Darüber hinaus modelliert der Text die Darstellung der genetischen For‐ schung durch die Figur Glenn selbst. Glenns Plan, die Menschheit auszulöschen und durch die Craker zu ersetzen, ruft das transmedial tradierte Motiv des ‚verrückten Wissenschaftlers‘ auf. Obwohl dieser Topos den Fokus auf die Möglichkeit des Missbrauches wissenschaftlichen Wissens lenkt und damit wichtige ethische Fragen der sozialen Verantwortung der Wissenschaft in den Vordergrund rückt, zeigt die spezifische Einbindung des Motivs im Roman zugleich, dass es kurzsichtig wäre, diese Verantwortung nur bei Glenn als individuellem Wissenschaftler zu suchen. So ist unübersehbar, dass Glenns Projekt erst durch die Finanzierung ausschließlich profitorientierter Konzerne möglich wird. Damit weist der Text darauf hin, so ließe sich interpretieren, dass ein verantwortlicher Umgang mit genetischem Wissen und den daraus hervor‐ gehenden Technologien eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung ist. Auch lässt sich argumentieren, dass Oryx and Crake die Ethik genetischer Forschung nicht grundsätzlich in Frage stellt, sondern sich kritisch mit einer unbeauf‐ sichtigten, marktorientierten Wissenschaft auseinandersetzt, deren mögliche Konsequenzen der Roman durch Glenns Handeln hyperbolisch ausformt. Der Topos des ‚verrückten Wissenschaftlers‘ kann zudem als Kontrastfolie dienen, um das überraschende Motiv dieser Romanfigur schärfer zu konturieren. Der Genforscher Glenn führt mit seinem Plan weder die skrupellose Verwer‐ tungslogik der Konzerne fort, noch verhält er sich verrückt im Sinne von ‚irrational‘. Vielmehr reagiert er auf die von mächtigen Konzernen und politisch entmachteten Staatsorganen hervorgerufene Krise in der Gesellschaft und den ökologischen Systemen. Tatsächlich lässt sich sein Handeln auch als ein Akt 99 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft 10 Kolbert (2015). The Sixth Extinction: An Unnatural History. des Widerstands ausbuchstabieren, der das Verständnis der ‚Verantwortung des Wissenschaftlers‘ radikal erweitert, wenn nicht verschiebt. Glenns Status als Großmeister im Computerspiel Extinctathon, das auf das anthropogene, sechste massenhafte Artensterben verweist, 10 unterstreicht, dass er sich als Wissenschaftler verstehen könnte, der im Namen einer radikalökologisch redefi‐ nierten Verantwortung handelt, die sich nicht länger anthropozentrisch, sondern biozentrisch versteht. Dazu würde die Bereitschaft gehören, sich selbst und die unkontrollierbar ressourcenzerstörende menschliche Spezies in ihrer jetzigen Form zugunsten des Erhalts möglichst großer Biodiversität, sprich möglichst vieler anderer Arten und ihrer Lebensgrundlagen, zu opfern. Statt des Menschen würde die so fortbestehende Biodiversität eine ökologisch verantwortlich gen‐ modifizierte, humanoide Spezies einschließen. Wie das Vorangegangene zeigt, entfaltet der Roman Oryx and Crake viel‐ schichtige textuelle Strategien, die im Zuge einer kritischen Lektüre transparent gemacht werden können und den Ausgangspunkt für die Differenzierung und Interpretation der Darstellung der Gentechnik bilden. Die Zeitstruktur als Rückschau nach der Katastrophe, die zur Identifikation einladende Figu‐ renkonstellation Laie und Experte, die Modellierung von Wahrnehmungsmus‐ tern, habitualisierten Affekten und (Vor-)Urteilen durch eine fokalisierende Innensicht und selbst noch die dialogisch hergestellte und im Laufe des Ro‐ mans weiter aufgefächerte Vielstimmigkeit insistieren dabei auf die Situiertheit dieser Darstellung. Zugleich wird die Gentechnik durch die Diversität ihrer Wirkungskontexte charakterisiert: das wissenschaftliche Labor der Experten, die ökonomische Verwertung durch die Konzerne, die Werbeindustrie befasst mit der sprachlich-visuellen Kreation der Produkte, die vielfältige Alltagswelt der Konsumenten, und in einem Fall sogar der in einem Satz erwähnte, ratio‐ nalisierte Arbeitsmarkt im Kaffeeanbau des globalen Südens. Dabei wird die Gentechnik nicht nur dargestellt, sondern es wird mithilfe von gezielten Kon‐ kretisierungen (Nova) ein faszinierender, Staunen und Schrecken erzeugender Imaginationsraum erzeugt, der dazu einlädt, das Potential dieser Technik weiter auszumalen. Zugleich wird durch die raffinierte Umarbeitung des Topos des verrückten Wissenschaftlers der Begriff der Verantwortung mit Blick auf das Zusammenleben menschlicher und nicht-menschlicher Spezies polemisch neu orientiert. Aufgefordert wird auf diese Weise nicht nur zur ethischen, sondern auch zur politisch-ökologischen Reflexion. Mit diesem kurzen Beispiel lässt sich bereits ein grundsätzlicher Zug des kritischen Denkens in der Literaturwissenschaft markieren. Es ist ein durch 100 Ute Berns und Paul Hamann-Rose den Umgang mit Texten geschultes Denken, das sich nicht nur, aber ganz wesentlich an und in der offenen Auseinandersetzung mit einem Text vollzieht; Kritik entsteht hier in der sowohl lesend-erlebenden, als auch differenzierenden Ko-Konstruktion und Interpretation eines textuellen Gegenstandes. Sie setzt sich, möglichst präzise, mit den Strukturen, Ambivalenzen und Komplexitäten eines Textes auseinander, die dazu anleiten, einen Imaginationsraum zu ge‐ stalten, ihn affektiv zu erfahren und sich darin denkend zu bewegen. Dies schließt jedoch die Aufmerksamkeit dafür, was die spezifische Form und Ver‐ fasstheit des Textes in den Vordergrund beziehungsweise Hintergrund rückt, nicht aus, im Gegenteil. Fragt man also kritisch nach den Machtstrukturen, in die der Roman die Verhandlung der Genetik explizit oder implizit einbettet, so ist zunächst das Offensichtliche festzuhalten: Oryx and Crake konzentriert sich auf eine west‐ liche Metropole, auch wenn die globalisierte, postkoloniale Welt an einigen Stellen kurz aufgerufen wird (Kaffeeplantagen, internationale Sexindustrie). Die autoritären, von den Konzernen dominierten ökonomisch-sozialen Hierar‐ chien, in denen naturwissenschaftlich-technisches Bildungskapital einen hohen Stellenwert hat, werden grell in Szene gesetzt, doch die Fokalisierung durch den College-Absolventen Jimmy verstärkt eine vergleichsweise privilegierte Perspektive. Dem lässt sich entgegenhalten, dass die so angebotene Identifika‐ tionsfigur gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch erscheint. Erstens wird die Limitiertheit ihrer Sicht durch die Rückschau unterstrichen, denn Jimmy hat die Katastrophe, die unmittelbar um ihn herum vorbereitet wurde, nicht kommen sehen. Zweitens wird seine männliche Perspektive durch mehrere weibliche Figuren gebrochen, mit denen er, durch eine traumatische Famili‐ engeschichte belastet, mehr oder weniger kurzlebige Beziehungen eingeht. Eine besondere Stellung kommt hier Jimmys Verhältnis mit der zweiten titelge‐ benden Figur, Oryx, zu. Jimmy glaubt, in dieser Frau ein Mädchen aus einem der Kinderpornofilme wiederzuerkennen, die er Jahre früher zusammen mit Crake regelmäßig konsumiert hat. Oryx‘ Geschichte, fokalisiert durch Jimmy, oszilliert im Verlauf des Romans zwischen Medienkonstruktion, Männerfantasie und einer vom Menschenhandel, zwischen der Hungerzone eines asiatischen Landes und dem westlichen Zentrum, gezeichneten Biografie. Aber dieser Erzählstrang kompliziert nicht nur die Rolle Jimmys als Identifikationsfigur für die Leser. Er lädt auch dazu ein, Parallelen zu suchen zwischen der Profit- und Ausbeutungslogik der genetischen Forschung der Konzerne im Umgang mit (nicht-)menschlichen Spezies oder Spleißen und den patriarchalen Missbrauchs- und Ausbeutungsstrukturen in Menschenhandel und Sexindustrie. 101 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft 11 Siehe etwa Bouson (2004), „‚It’s Game Over Forever‘: Atwood’s Satiric Vision of a Bioengineered Posthuman Future in Oryx and Crake“, 139-156, im Vergleich zu den Kritikern diskutiert in Dunlap (2013), „Eco-Dystopia: Reproduction and Destruction in Atwood’s Oryx and Crake“, 1-15. Eine solche Skizze der Machtstrukturen, die den Blick auf die Darstellung der Genetik im Roman explizit oder implizit rahmen und lenken, muss jedoch auch daran erinnern, dass dieser lediglich den ersten Band einer Trilogie darstellt. Der zweite Band verschiebt die Rückschau von der gated community auf den sozialen Raum der pleeblands. Auch dominieren im zweiten und dritten Band die Perspektiven weiblicher Figuren, und es treten Widerstandsgruppen ins Bild; auf den Schauplätzen nach der Katastrophe geraten sogar die genetisch hybriden pigoons als eigenmächtige Akteure in den Blick. Zusammen stellen die zwei Folgebände damit ein deutliches Gegengewicht zu Jimmys Sicht im ersten Band her. In den Rückblicken dieser Bände wird schließlich auch der Horizont der Verwertung genetischer Forschung über den Gesundheits- und Kosmetikmarkt der Wohlhabenden hinaus um die vollständig deregulierten Absatzmärkte der pleeblands erweitert, in denen gentechnisch modifizierte Lebensmittel beworben, verkauft und im Kontext einer korrupten Lebensmit‐ telindustrie konsumiert werden. Darüber hinaus stellt die Analyse der Machtstrukturen rund um die Ge‐ netik in Oryx and Crake - sowie in den Folgebänden - auch den bereits erwähnten, typisch dystopischen Warnungscharakter des Romans genauer heraus. Denn dystopische Warnungen implizieren meist im Umkehrschluss bestimmte Handlungsrichtungen innerhalb der gesellschaftlichen Machtstruk‐ turen der Leser bzw. raten von ihnen ab. Doch wovor genau warnt Oryx and Crake? Die literaturwissenschaftlichen Positionen hierzu gehen auseinander - und unterstreichen damit erneut die fundamentale Offenheit des Textes. Manche erkennen in Atwoods Roman eine grundsätzliche Ablehnung der genetischen Forschung, einschließlich aller Produkte, die sie hervorbringt, wohingegen andere argumentieren, der Roman warne lediglich vor dem konsumgesellschaft‐ lichen Missbrauch der Genetik. 11 Literatur- und kulturwissenschaftliche Kritik und ihre Gegenstände be‐ gegnen sich nicht in einem historischen Vakuum. Expertendiskurse zum Bei‐ spiel durchqueren, wie in der Laborszene erkennbar, auch die literarischen Texte als Teil größerer zeitgenössischer Medienlandschaften, und Literaturwissen‐ schaftler befassen sich mit ihnen in historisch spezifischen universitären oder anderen kulturellen Kontexten. Es ist Aufgabe des kritischen Lesens, sowohl die Historizität als auch die dynamische Temporalität von Texten sichtbar zu machen: Einerseits sind sie Ausdruck und Objekt ihrer Entstehungszeit, 102 Ute Berns und Paul Hamann-Rose 12 Dimock (1997). „A Theory of Resonance“. 13 Ghosh (2015). „Team wants to sell lab grown meat in five years“. mit der sie in aufschlussreichem Austausch stehen, andererseits können sie Resonanzräume bilden, in denen historisch nachfolgende Generationen ihre je eigenen Anliegen und Vorstellungen anders, aber nicht minder aufschlussreich verhandelt finden. 12 Für die kritische Lektüre des erst 15 Jahre alten Romans Oryx and Crake mögen diese Überlegungen überflüssig erscheinen, doch die rasante Entwicklung der Gentechnik seit seiner Veröffentlichung belehrt eines Besseren. Es ist eine der Stärken von Oryx and Crake, dass das dem Roman inhärente kritische Potenzial nicht auf die genetischen Kontroversen zur Zeit seiner Entstehung beschränkt bleibt, sondern in der sich wandelnden genetischen Forschungslandschaft virulent geblieben ist. Dies hängt wesentlich damit zu‐ sammen, dass er Trends hochinformiert weiterführt, die zum Zeitpunkt seiner Abfassung Schlagzeilen machten. Das Jahr 2003, das Jahr der Erstveröffentli‐ chung des Romans, markierte die Vollendung des Humangenomprojektes, ein Ereignis, das genetischen Diskursen und Praktiken international die Aufmerk‐ samkeit der Medien einbrachte. Ziel des Humangenomprojektes war die voll‐ ständige Sequenzierung des menschlichen Genoms. Damit verband sich explizit die Hoffnung, das Genom gewinnbringend verändern zu können, etwa um die Vererbung von Krankheiten zu verhindern. In diesem Gesamtkontext entfaltete der Roman, am Anfang des neuen Jahrtausends, sein wissenschaftskritisches Potenzial für unmittelbar zeitgenössische Leser. Paradoxerweise haben die im Roman in Szene gesetzten Problemlagen seitdem noch an Aktualität gewonnen, was auch daran liegt, dass die dort imaginierten genetischen Errungenschaften überraschend eng mit den seitdem zu verzeichnenden Entwicklungen in der Genetik korrespondieren. Einige Schlaglichter müssen hier genügen. Genetisch manipulierte Pflanzen, im Roman z. B. Happicuppa-Kaffeebohnen, erstrecken sich inzwischen auf Reis, Mais und Getreide, wobei die Akzeptanz und der tatsächliche Anbau je nach Land und Pflanze variieren; komplexe Diskussionen betreffen Nährwerte, Schädlings- und Klimaresistenz; ökonomi‐ sche Abhängigkeit von Saatgutproduzenten, Düngemitteln und Pestiziden; sowie den Schutz von Gesundheit, Biodiversität und Böden. Auch ist es bereits seit einigen Jahren das erklärte Ziel mehrerer Forscherteams, Fleisch für den Konsum im Labor zu erzeugen; im Roman imaginiert als ChickieNobs. Ein Team aus den Niederlanden, das 2015 den ersten so hergestellten Burger verkostete, prognostizierte die Massenherstellung des Laborfleisches bereits ab 2020. 13 Auch daraus resultieren komplexe Diskussionen in denen kommerzielle 103 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft 14 Devlin (2017). „First human-pig ‘chimera’ created in milestone study“. 15 Vgl. hierzu beispielsweise Bouson (2004), „‚It’s Game Over Forever‘: Atwood’s Satiric Vision of a Bioengineered Posthuman Future in Oryx and Crake“, 139-156 (bes. S. 151), und Rozelle (2010), „Liminal Ecologies in Margaret Atwood’s Oryx and Crake“, 61-72. und mit industrieller Massentierhaltung verbundene Konsuminteressen Zielen wie Tier- und Klimaschutz gegenüberstehen. An der kanadischen Universität Guelph gab es darüber hinaus Anstrengungen, eine umweltschonendere Art der Schweinezucht zu betreiben. Das Resultat war das Enviropig TM , das nicht nur mit seiner genetisch maximierten Phosphoraufnahme den landwirtschaftlichen Nährboden schont, sondern mit seinem Trademark-Zeichen auch eindeutig Teil genau der patentgesteuerten Wissensproduktion ist, die in Oryx and Crake problematisiert wird. Erwähnt werden müssen schließlich die realweltlichen Varianten der pigoons, die in den letzten Jahren kontrovers diskutiert wurden. Die erste erfolgreiche Schwein-Mensch-Chimäre gelang 2017 am Salk Institut in Kalifornien mit dem Ziel, langfristig menschliche Organe in Schweinen züchten zu können. 14 Die Veröffentlichung dieser Ergebnisse provozierte vehemente Diskussionen über die damit eröffneten medizinischen Möglichkeiten ebenso wie über die ethischen Bedenken gegenüber der Vermischung von humanem mit nicht-hu‐ manem Erbgut; im Vordergrund stand die Sorge, dass allein die Tatsache, dass genetisches Material von Schwein und Mensch vermengt wird, unser Verständnis vom Menschsein auf fundamentale Weise verändert. Vor diesem Hintergrund erscheint umso signifikanter, dass im Roman zwar massiv in die genetische Integrität der menschlichen Spezies eingegriffen wird, aber die Craker sowohl in ihrer Ähnlichkeit als auch in ihrer Differenz zu den Homo sapiens beschrieben werden. Die ambivalente ‚Menschlichkeit‘ der neuen Spezies im Text wird so zum Resonanzraum für zentrale, aus der aktuellen genetischen Forschung resultierende, Fragen und Ängste. Auch in der literatur‐ wissenschaftlichen Rezeption der Craker spiegelt sich diese Ambivalenz ihrer Deutung; so wird die neue humanoide Spezies sowohl als Symbol der Bedrohung der Verfasstheit des Menschen durch die Gentechnologie, als auch als kraftvolles Symbol eines Neudenkens des Menschen interpretiert. 15 Zur kritischen Lektüre gehört schließlich, Genrezugehörigkeiten von Texten aufzuzeigen, sprich die historisch-kulturell geprägten Erwartungsmuster zu profilieren, in denen sich ihre Produktion und Rezeption vollzieht. Das fiktionale Universum von Oryx and Crake liegt zeitlich in der Zukunft, räumt Naturwis‐ senschaft und Technik, hier der Genetik, eine bedeutende gesellschaftliche Rolle ein und war insbesondere zum Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung in vieler Hinsicht nicht kongruent mit der damals vertrauten Welt: es ruft 104 Ute Berns und Paul Hamann-Rose 16 Shippey (2016). Hard Reading: Learning from Science Fiction, 13. 17 Atwood (2004). „The Handmaid’s Tale and Oryx and Crake in Context“, 513. 18 Siehe Schaffeld (2016). „Aspects of the Science Novel“, 121-125. 19 Atwood (2004). „The Handmaid’s Tale and Oryx and Crake in Context“, 517. damit neben den schon erwähnten dystopischen Konventionen auch die des Science-Fiction-Romans auf; etwa in der Tradition von T.S. Huxleys Roman Brave New World (1932), der seinerseits untrennbar in die kulturelle Wahrneh‐ mung genetischer Technologien eingegangen ist. Dieses Genre, so argumentiert der Kritiker Tom Shippey, stellt insofern eine besondere „emotionale und ko‐ gnitive Herausforderung“ dar, als seine fiktionalen Welten Grundannahmen des Lesers oder der Leserin aushebeln und sie geradezu zwingen, in der Lektüre „die eigene comfort-zone zu verlassen“. 16 Atwoods Roman bestätigt dies eindrücklich durch die Inszenierung von konkreten Begegnungen mit genetisch veränderten Lebewesen sowie die selbstverständliche Präsenz gentechnisch veränderter Produkte in der Alltagswelt. Aber genau hier zeigt sich auch, wie schnell Zukunftsvisionen in realhistorische Szenarien überführt werden können, die ihrerseits die realistischen Darstellungsmodi des Textes verstärken. Die Autorin selbst wählt den Begriff der ‚Spekulativen Fiktion‘, um die Nähe der erzählten Welt zur Entstehungszeit zu unterstreichen: 17 Oryx and Crake spielt zwar in der Zukunft, doch geht es darin nicht um weit entrückte Weltraum-Abenteuer, sondern um unmittelbare Verlängerungen und Verdich‐ tungen bekannter und virulenter Forschung auf der Erde. Insofern steht der Roman auch in der Verlängerung des neueren Genres der Science-Novel, das die engen Verschränkungen von Wissenschaft und Kultur am Beispiel von Wissenschaftlerfiguren auslotet. 18 In einem weiteren Horizont und mit Blick auf die Gentechnik übernimmt der Roman dabei sogar in Ansätzen einige Funktionen von nicht-literarischen Genres wie dem Wissenschaftsjournalismus oder dem Risiko-Szenario. Die signifikante faktuale und dem Realismus verpflichtete Dimension von Atwoods spekulativer Fiktion sollte jedoch die Kontinuitäten zwischen diesem Genre und der von der Autorin ebenfalls ins Spiel gebrachten und ins Mit‐ telalter zurückreichenden Gattung der Abenteuer-Romanze nicht verstellen, die zum Beispiel auch Plotstrukturen für die Fantasyliteratur bereitstellt. In einem weiten Horizont erscheint auch ihr Figurenarsenal, das den Magier und seine Kunst ebenso einschließt wie Drachen und andere Fabelwesen, als eine Ahnengalerie des Wissenschaftlers und seiner Expertise sowie der unvertrauten genetischen Spezies im Roman. 19 Zugleich bildet die mythische Welt einen gemeinsamen Bezugspunkt des Romangenres und der Genforschung, deren wis‐ senschaftlicher Begriff der Chimäre - in Homers Iliad eine hybride Monsterfigur 105 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft aus Löwe, Ziege und Schlange - Wurzeln in der antiken Mythologie aufweist. Die Genrevielfalt, die jede Lektüre von Atwoods Roman und seine Darstellung der Gentechnik mitbestimmt, verdeutlicht, dass Wissenschaften und literarische Fiktionen im Rückgriff sowohl auf wissenschaftliche Modelle und Metaphern als auch auf kulturelle Mythen und Narrative einen gemeinsamen Imaginations‐ raum entwerfen, in dem Zukunft Gestalt gewinnt. Kritisches Lesen kann dazu anleiten, textuell modellierten (zukünftigen) Welten offen und kritikfähig zu begegnen. Angesichts der wissenschaftlich-pro‐ gnostischen Kraft von Atwoods Roman gilt es jedoch zu unterstreichen, dass es dem kritischen Lesen nicht darum geht, ästhetische Strukturen oder Imagi‐ nationsräume literarischer Textwelten ‚eins-zu-eins‘ und unmittelbar auf ‚die Welt‘ zu beziehen. Erkundet werden die Strukturen und Perspektiven, sowie die Bilder und Sprachstile von Textwelten; die Art und Weise, wie sie auf ihre eigene vielfache Lesbarkeit hinweisen und so die Grenzen der Lesbarkeit von Text und Welt, abhängig von Leser, Kulturraum und historischem Kontext, immer neu verschieben. Kritisches Lesen kann und sollte sich dabei interdisziplinär öffnen - für den Austausch des Textes mit angrenzenden wissenschaftlichen, historischen oder literarischen Texten und Praktiken, für Verschränkungen von Textsorten, kulturellen Wahrnehmungsmustern oder Denkstilen, sowie für die agentielle Wirkmächtigkeit des Textes in medialen, politischen oder anderen Netzwerken, die wir hier nur unvollständig skizzieren konnten. Doch auch bei einer solchen Öffnung des Lesens bleibt es der zu analysierende Text, der den Blick lenkt, verschiebt und durch die spezifische textuelle Vermittlung neu ausrichtet. Auf diese Weise, so wäre zu hoffen, wird auch der Blick auf die Welt beweglicher und darin geschult, genau hinzusehen und kritisch nachzufragen, zu extrapolieren und zu imaginieren, Gesichtspunkte kritisch zu gewichten und - in eigener Verantwortung und ganz praktisch - einen Standpunkt zu beziehen. Literatur Anderson, Amanda (2006). The Way We Argue Now: A Study in the Cultures of Theory. Princeton: Princeton University Press. Atwood, Margaret (2003). Oryx and Crake. London: Bloomsbury. Atwood, Margaret (2004). „The Handmaid’s Tale and Oryx and Crake in Context“. In: PMLA 119, 513-517. Bakhtin, Mikhail (1981). „Discourse of the Novel“. In: Michael Holquist (Hrsg.). The Dialogic Imagination: Four Essays by M. M. Bakhtin. Austen: University of Texas Press, 269-422. 106 Ute Berns und Paul Hamann-Rose Bouson, Brooks (2004). „‚It’s Game Over Forever‘: Atwood’s Satiric Vision of a Bioengi‐ neered Posthuman Future in Oryx and Crake“. In: Journal of Commonwealth Literature 39: 3, 139-156. 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Abingdon: Routledge, 13-38. 107 Kritisches Lesen in der Literaturwissenschaft 1 „Diskursiv (zu lat. discurrere, ‚umherlaufen, in einer Sache sichergehen‘) oder sukzessiv nennt man ein Denken, das schrittweise vorgeht und nachvollziehbare Gedankengänge hervorbringt […] Der Gegenbegriff zu ‚d.‘ ist ‚intuitiv‘, womit eine unmittelbare Einsicht und Erkenntnis bezeichnet ist“ (Gessmann (2009). Philosophisches Wörterbuch. s. v.). 2 Jahn (2012). Kritisches Denken fördern können - Entwicklung eines didaktischen Designs zur Qualifizierung pädagogischer Professionals, 22. Kritisches Denken im Kontext der Zensur: am Beispiel einer Druckschrift aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur (1976-1983) Inke Gunia Einführende Überlegungen Kritisches Denken als Fähigkeit zur differenzierenden Prüfung von Aussagen über Sachverhalte kann sich in verschiedener Form manifestieren. Abgesehen davon, dass es sich schriftlich oder mündlich nach außen hervorbringen lässt, of‐ fenbart es sich für die Wissenschaft hauptsächlich als ein diskursiver Vorgang 1 , an dem verschiedene Aktivitäten beteiligt sein können: z. B. das Aufbrechen des Ganzen in seine Bestandteile, das Bestimmen, der Vergleich, das Erkennen von Ähnlichkeiten und Unterschieden, die Auswahl, die schlüssige Argumentation, das Einnehmen verschiedener Perspektiven oder das Aufzeigen und Zulassen von Widersprüchen, das In-Frage-Stellen auch eigener Überlegungen, das Be‐ gründen und das Erkennen von Argumenten, das Beurteilen. Als in der Erziehung zu fördernde Fähigkeit, so liest man in Arbeiten zur Didaktik und Pädagogik, kann kritisches Denken zu einem Wandel individueller und gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen führen. Dirk Jahn zitiert zwei Stimmen 2 : Der kanadische Professor für kritische Pädagogik, Joe Kincheloe, sieht, wie viele andere Bildungsexperten auch, im kritischen Denken des Einzelnen den Ursprung für einen möglichen Gesinnungswandel, der gesellschaftliche Veränderung in Aussicht stellt: ,Thinking in new ways always necessitates personal transformation, and if 3 Jahn zitiert hier aus der folgenden Arbeit von Kincheloe (2004): „Into the Great Wide Open: Introducing Critical Thinking“,17. 4 Petri (2003). Kritisches Denken als Bildungsaufgabe und Instrument der Schulentwicklung, 259. 5 Genau genommen umfasst diese Militärdiktatur den folgenden Zeitraum: vom 24.3.1976 (Staatsstreich) bis zum 10.12.1983 (Amtsantritt Raúl Alfonsíns). 6 Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen von der Verfasserin, sofern nicht anders angegeben. enough people think in new ways, social transformation is inevitable‘. 3 Ein weiterer Vertreter dieser These ist der österreichische Bildungsforscher Gottfried Petri. Er vertritt die Ansicht, dass eine ganzheitliche Ausrichtung des schulischen Unterrichts auf die Förderung von kritischem Denken zu einem gesellschaftlichen Wertewandel führen kann, der beispielsweise einseitig denkenden, fanatischen oder ideologischen Bewegungen das Wasser abgräbt und zur Demokratisierung der Gesellschaft beiträgt. 4 Kritisches Denken setzt Freiheit voraus. In der Philosophie wird zwischen der politischen, der Handlungsfreiheit, der Willensfreiheit und der existentiellen Freiheit unterschieden. Im weitesten Sinne, so definiert es Johannes Hoffmeister ( 2 1955: s. v.), sei es „die Möglichkeit, so zu handeln, wie man will“. In totalitären Re‐ gimen werden die Freiheit und damit auch das kritische Denken eingeschränkt bzw. Versuche unternommen dieses zu unterbinden. Es gibt verschiedene Repressionsmaßnahmen, mit denen derartige Regierungen das Denken einer Gesellschaft im Hinblick auf eine ideologische Marschrichtung gleichzuschalten beabsichtigen. Nachfolgend sollen derartige Praktiken an einem Text sichtbar gemacht werden, der aus der Zeit der argentinischen Militärdiktatur von 1976- 1983 5 stammt. Es handelt sich um eine Druckschrift, die vom argentinischen Erziehungsministerium 1977 herausgegeben wurde und einen sehr plakativen Titel trägt: Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo) („Subversion in der Erziehung (erkennen wir unseren Feind)“) 6 . Mit dem Ziel, hinter dieser Schrift die Versuche zu entlarven, die zeitgenössische argentinische Gesellschaft ihrer Mündigkeit und Freiheit zu berauben, Denken und Handeln im Hinblick auf eine bestimmte Ideologie zu vereinheitlichen, sollen im Fol‐ genden verschiedene Aktivitäten kritischen Denkens zur Anwendung gebracht werden. Kontextuelle Einbettung des Untersuchungsgegenstands Begreift man den zu untersuchenden Text als ein komplexes Superzeichen, das als integrativer Bestandteil einer Kommunikationssituation aufgefasst werden kann, dann ist der Kontext im weiten Sinne, die situative, außersprachliche 110 Inke Gunia 7 Fohrmann (1997): „Textzugänge. Über Text und Kontext“, 208 u. 209 (Kursivdruck im Original). 8 Genette (1993). Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, 11f. 9 „Zuerst“ bezieht sich auf den gewöhnlichen Lektüreprozess, der mit der Wahrnehmung des Deckblatts, seiner Titel und Untertitel etc. beginnt. faktische Umgebung mit ihren raum-zeitlichen Aspekten, in die hinein der Text produziert worden ist und in der er rezipiert wird. Im engeren Sinne ließe sich der Kontext verstehen als jene Verbindungen der außersprachlichen faktischen Wirklichkeit, auf die der Text über seine Bestandteile verweist: Ich möchte vorschlagen, das, was an den Text als anderer Text je anschließbar ist, als Kon-text zu fassen. Kontext ist also auch Text, virtualiter alle anderen Texte, also etwas, das sich nicht begrenzen läßt. Jeder Zugang zu Texten hat es dann damit zu tun, daß hinter jedem einzelnen Text eine prinzipiell unendliche Reihe weiterer Texte steht, eben Der Text. Und jeder Zugang zu Texten erhält sein Spezifikum durch die Art, in der er mit der Differenz von einem Text und Dem Text umgeht. […] Vom Text kommt man zum Kontext und nicht umgekehrt. 7 Damit ist der Kontext eine Kategorie, die maßgeblich an der Ver- und Ent‐ schlüsselung von Texten als Zeichen, an deren Bedeutungskonstitution auf Produktionsseite und ihrem Verständnis auf Rezeptionsseite beteiligt ist. Die zu untersuchende Druckschrift beansprucht für sich ein faktualer Text zu sein und verweist in mannigfacher Weise auf einen ganz bestimmten situativen, außersprachlichen faktischen Kontext. Die Suche nach referenzialisierbaren Daten im Text ließe sich damit beginnen, was der französische Literaturwis‐ senschaftler Gérard Genette als „Paratext“ 8 bezeichnet. Er beschreibt unter diesem Namen jene Zeichen (verbale und visuelle), die einen Basistext rahmen, ihm eine sprachliche und visuelle „Umgebung“ sind und dessen Rezeption für gewöhnlich zuerst 9 lenken wie „Titel, Untertitel, Zwischentitel; Vorworte, Nachworte, Hinweise an den Leser, Einleitungen usw.; Marginalien, Fußnoten, Anmerkungen; Motti; Illustrationen; Waschzettel, Schleifen, Umschlag und viele andere Arten zusätzlicher, auto- oder allographer Signale“. Auf dem Deckblatt der Druckschrift Subversión en el ámbito educativo (co‐ nozcamos a nuestro enemigo) („Subversion in der Erziehung (erkennen wir unseren Feind)“) fungiert das argentinische Ministerium für Kultur und Bildung („Ministerio de Cultura y Educación“) als Autor bzw. Herausgeber. Die erste Textseite hat die Form eines Beschlusses, über dem der Ort der Beschlussfassung (Buenos Aires) und das Datum (27. Oktober 1977) vermerkt sind. Der Beschluss trägt die Ordnungsnummer 538 und wird als Teil des sogenannten Proceso de Reorganización Nacional (Prozess Nationaler Reorganisation) vorgestellt, ein 111 Kritisches Denken im Kontext der Zensur 10 „VISTO: el Propósito y los Objetivos Básicos para el Proceso de Reorganización Nacional“ (Ministerio de Cultura y Educación (1977). Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo). Alle weiteren Verweise auf dieses Handbuch folgen dieser Form der bibliographischen Referenz. 11 Hier verwendet der Text den Begriff „erradicación“, im Sinne von „mit der Wurzel ausreißen“ (cf. Diccionario de la lengua española 2014: s. v. „erradicar“). 12 “An ‘intended reader’ (in the terminology of Link 1976: 28 and of Grimm 1977: 38-39), who is not fixed in the text but exists merely in the imagination of the author and who can be reconstructed only with the latter’s statements or extra-textual information, does not form a part of the work. Such a reader belongs exclusively to the sphere of the real author, in whose imagination he or she exists.” (Schmid (2014). “Implied Reader”). Umbrella term, unter den die Militärregierung ihre politischen Zielsetzungen subsumierte. 10 Die grundlegenden werden nachfolgend aufgelistet: • „die Ausmerzung 11 der Subversion in allen ihren Formen“ • die Erwirkung der Rechtskraft der Werte der christlichen Moral, der nationalen Tradition und der Würde des Argentiniers • die Einrichtung „eines an die Anforderungen des Landes angepassten Bil‐ dungssystems, das tatsächlich den Zielen der Nation diene und dafür sorge, dass sich die Werte und kulturellen Bestrebungen derselben festigen“ Die Umsetzung der damit verbundenen Aufgaben obliege dem Lehr- und Leitungspersonal von Bildungsinstitutionen. Die Druckschrift soll ihnen dabei die nötige Orientierung geben, sie werde an alle Bildungseinrichtungen verteilt. Auch die zu Erziehenden sind, entsprechend ihrem schulischen Niveau, von den in der Schrift enthaltenen Konzepten in Kenntnis zu setzen. Damit diese Maßnahme auch greifen könne, wird es Personal geben, das die Umsetzung der Resolution supervidiere. Mit diesem Beschluss richtet sich mithin der unterzeichnende Kultus- und Bildungsminister, der gelernte Anwalt Juan José Catalán, an die mit dem Text anvisierten Leser, das Lehr- und Verwaltungsper‐ sonal von Bildungseinrichtungen sowie auch deren Schüler und Schülerinnen. Mit Schmid lassen sich diese Leser als intendierte Leser bezeichnen („intended reader“) 12 . Sie werden als Zielgruppe von dem empirischen Autor, dem Kultus- und Bildungsminister, explizit benannt. Sie sind von dem im eigentlichen Basistext eingeschriebenen und das durch ihn objektivierte Leserbild, dem impliziten Leser („implied reader“) in seiner Funktion als „presumed addressee“ zu unterscheiden. Die Daten für die Erstellung eines Profils dieses „presumed addressee“ lassen sich aus dem Basistext herauslesen, der an diesen Leser adressiert ist. Der „presumed addressee“ kann, muss aber nicht, mit dem intendierten Leser übereinstimmen. 112 Inke Gunia 13 „La grandeza y la proyección histórica de las naciones dependen fundamentalmente de la eduación“ (Ministerio de Cultura y Eduación (1977). Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo), 5. 14 Im Wörterbuch der Königlich Spanischen Akademie, dem Diccionario de la lengua española liest man nämlich auch die folgende Bedeutung: „Dar a conocer a alguien el estado de algo, informarle de ello, o comunicarle avisos o reglas de conducta.“ (2014: s. v. „instruir“: „Jemanden von dem Zustand von etwas in Kenntnis setzen, ihn über etwas informieren oder ihm Warnungen, Benachrichtigungen oder Verhaltensregeln kommunizieren“). 15 „Bezeichnung für die semantischen Grundeinheiten des Lexikons, die durch Seme […] beschrieben werden“ (Bußmann 2008: Lexikon der Sprachwissenschaft. s. v. „Semem“). 16 „Bien saben esto los que quieren atentar contra la esencia misma de nuestra naciona‐ lidad“ („Das [hiermit ist die Unerschütterlichkeit gemeint, mit der man die Prinzipien der Erziehung ‚einzutrichtern‘ habe] wissen jene, die das Wesen selbst unserer Natio‐ Auf die Reproduktion des Beschlusses und damit die Rechtfertigung für die Druckschrift folgt noch ein weiterer Text mit Vorwortcharakter. Er trägt den Titel „Presentación“ („Vorstellung“). Darin wird noch einmal auf die Bedeutung der Erziehung für die „Größe und die historische Orientierung der Nationen“ 13 verwiesen, und zwar nur dann, wenn die Erziehung auch „gestaltend“ wirke („formativa“) und nicht bloß die Übermittlung von Information beinhalte („mera instrucción“) 14 . Die mit dem Adjektiv „formativa“ implizierte Handlung des Aus‐ formens, der Formgebung, gleich einem Töpfer, der aus Ton einen Gegenstand formt, wird im nachfolgenden Satz noch einmal unterstrichen: es geht um das „beharrliche Eintrichtern von Prinzipien“, die als „nationales Gut“ („patrimonio nacional“) bezeichnet werden. An dieser Stelle würde sich eine Isotopienanalyse anbieten, mit der man homogene Bedeutungsebenen in einem Text ausmachen und damit dessen Kohärenz beschreiben kann. Sie kommen dadurch zustande, dass bestimmte mi‐ nimale distinktive Bedeutungsanteile (die Seme) in der Bedeutung von Worten, Wortgruppen, Sätzen etc. (in der strukturalen Semantik spricht man hier von Sememen) 15 rekurrent dominant gesetzt werden. In dem hier untersuchten zweiten Vorwort ließe sich schon einmal die Isotopie „Formung“ feststellen. An ihre Seite tritt eine weitere, nämlich der „Befehl“; sie manifestiert sich in Sememen wie „imperativo“ („Gebot“), „firmemente inculcando los principios“ („die Prinzipien unerschütterlich eintrichternd“). Auch der nächste Satz trägt zu dieser zweiten Isotopie bei, wenn von der „Schwäche“ gegenüber einer Generation von Argentiniern die Rede ist“, die es in der Erziehung zu vermeiden gelte, denn „Schwäche“ führe zu einem „unglücklichen Scheitern“ („desdichado fracaso“). Mit dem folgenden Satz wird das Unterfangen Erziehung als Teil eines Kampfes (eine weitere Isotopie) dargestellt, mit dem man die Nationalität verteidige 16 . Das Semem „guerra“ wird dann im nächsten Absatz genannt, in 113 Kritisches Denken im Kontext der Zensur nalität angreifen wollen“, Ministerio de Cultura y Educación (1977). Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo), 5. 17 „El llamado de la patria es claro y se debe responder a él […] no pueden desoírlo, antes bien se impone como una misión a cumplir“ (“Der Ruf des Vaterlands ist deutlich und man muss ihm antworten […] sie können ihn nicht überhören, sondern er zwingt sich ihnen auf wie eine Mission“, Ministerio de Cultura y Educación (1977). Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo), 6. 18 „No es tiempo de vacilaciones“ (Ministerio de Cultura y Educación (1977). Subversión en el ámbito educativo (conozcamos a nuestro enemigo), 6. 19 Die Junta unter dem Oberbefehlshaber des Heeres, Videla, sowie den Befehlshabern der Marine (Admiral Emilio Massera) sowie der Luftwaffe (General Orlando Ramón Agosti) hielt sich bis zum März 1981. Danach wurde sie von Roberto Eduardo Viola (Oberbefehlshaber des Heeres und de facto Präsident vom 29. März bis zum 11. Dezember 1981) abgelöst. 20 Cf. Raskin (1979). The Politics of National Security: It’s Emergence as an Instrument of State Policy, 31-59; Caraballo et al. (1996). La dictadura (1976-1983). Testimonios y documentos, 73. dem ein „Feind“ beschrieben wird, der „subversiv“ vorgehe, die Gesellschaft unterwandere („infiltración“). Die Isotopie des „Befehls“ wird fortgeführt in dem Semem „crudeza“ („Härte“), mit der die erzieherische Aufgabe bewältigt werden müsse; und auch die Isotopie des Kampfes wird weiter genährt, durch den Hinweis auf den Mut („valentía“), den es zu diesem Unterfangen brauche. Die Lehrenden haben die moralische Pflicht sich für dieses Erziehungsprojekt zu engagieren. Sie werden zu missionierenden Kämpfern für das Vaterland stilisiert. 17 Die „Härte“ und die Warnung vor der „Schwäche“ werden nochmals in der Aussage gebündelt, dass „die Zeit nicht zum Zögern sei“ 18 . Der Gegenwart wird eine besondere historische Bedeutung beigemessen, denn das Land, insbe‐ sondere der Bildungssektor, erlebe ein „subversives Phänomen“. Dieses gelte es zu verstehen; zu diesem Zweck diene die Druckschrift. Schließlich wird noch der Begriff des „Feindes“ eingeführt, der ebenfalls zur Isotopie des „Kampfes“ gehört. Dieser das Land unterwandernde Feind sei der Marxismus, so endet die „Vorstellung“, in der also drei Isotopien dem Text Halt geben: „Befehl“, „Formung“, „Kampf “. Ohne aus Platzgründen den Basistext auf referenzialisierbare Daten hin zu untersuchen, lässt sich an dieser Stelle bereits der Kontext eingrenzen: Die hier behandelte Druckschrift erschien in Buenos Aires unter der Regierung des Generals Jorge Rafael Videla 19 . Die Publikation war Teil einer großangelegten Kampagne gegen sämtliche Regimegegner, die zwar national geführt wurde, sich aber internationale Rückendeckung über den Plan Cóndor und das von den Vereinigten Staaten für seine Einflusszonen im Kontext des Kalten Krieges entwickelte Konzept der Nationalen Sicherheit holte. 20 Letzteres wandelte sich 114 Inke Gunia 21 „Con el tiempo, la Doctrina se convirtió en una especie de ‚razón social‘ o rótulo usado por variados sectores sociales para identificar, generalmente con connotaciones ideológicas y fines políticos, a una amplia gama de acciones llevadas a cabo por los militares de la región.“ Wie das Konzept der Nationalen Sicherheit in Lateinamerika zur Nationalen Sicherheitsdoktrin wurde, hierüber informiert sehr gründlich der Artikel von Leal Buitrago (2003). „La Doctrina de Seguridad Nacional: Materialización de la Guerra Fría en América del Sur“, 75. 22 „The militaries in Argentina, Bolivia, Brazil, Chile, Paraguay, and Uruguay were the key protagonists of Condor“. Zwischen 1979 und 1980 wurde das „Condor System“ auch in Mittelamerika etabliert. Siehe hierzu McSherry (2005). Predatory States. Operation Condor and Covert War in Latin America. Das operative Zentrum für die Koordination dieser Maßnahmen lag in Santiago de Chile (Dinges (1999). „Los archivos Cóndor“). 23 Cf. Morello (2012). „Secularización y derechos humanos: Actores católicos entre la dictadura argentina (1976) y la administración Carter (1977-1979)“, 63. unter den lateinamerikanischen Regierungsverantwortlichen zur Doctrina de Seguridad Nacional/ Nationalen Sicherheitsdoktrin, mit der man jegliches Vor‐ gehen nicht nur gegen externe, sondern vor allem gegen interne Staatsfeinde rechtfertigte, vor allem aber die militärische Kontrolle als unabkömmliches Instrument zur Absicherung der Gesellschaft begründete: „Mit der Zeit wandelte sich die Doktrin in eine Art ‚gesellschaftliche Ratio‘ oder Etikett, mit dem verschiedene gesellschaftliche Sektoren eine Bandbreite von im Allgemeinen ideologisch konnotierten, politisch ausgerichteten Aktionen der regionalen Militärs kennzeichneten.“ 21 Der Plan Cóndor ist ein von den lateinamerikanischen Staaten des Südkegels zu Beginn der 1970er Jahre eingerichteter gemeinsamer Geheimdienst, der mit den Nachrichtendiensten der Vereinigten Staaten zusammen gegen Linke und andere Gegner der Mitgliedsregierungen operierte. 22 Die Geheimdienste der Mitgliedsländer tauschten Informationen aus, man stoppte gemeinsam bewaff‐ nete Aktionen der kommunistischen Guerilla, überwachte Grenzen, bildete Personal aus, um Staatsfeinde ausfindig zu machen und sie unter Anwendung von Folter und Tötungen aus dem Verkehr zu ziehen. 23 Aufdeckung der Strategien zur Rezeptionslenkung Der auf die Vorworte folgende Text ist der Basistext. Ihm werde ich mich nun widmen, um einige seiner zentralen Aussagen und das Profil des erwähnten Adressaten („presumed addressee“) herauszuarbeiten. Dabei möchte ich die Erkenntnisse interdisziplinärer Forschung zu dem Konzept des Framing zur Anwendung bringen. Frames definiert der Publizist und Kommunikations‐ wissenschaftler Jörg Matthes in seinem Einführungswerk als durch ideologi‐ sche Absichten in besonderer Weise ausgerichtete Blickwinkel auf politische 115 Kritisches Denken im Kontext der Zensur 24 Matthes (2014). Framing, 9. 25 Entman (1993). „Framing: toward clarification of a fractured paradigm“, 51-58. 26 Matthes (2014). Framing, 11 f. Themen. Sie entstehen durch bewusstes Hervorheben und Weglassen von Informationen. 24 Mit Entman 25 unterscheidet Matthes vier Bestandteile eines Frames: „Problemdefinition“, „Ursachenzuschreibung“, „Lösungszuschreibung und Handlungsaufforderung“ sowie „Explizite Bewertung“. 26 In Bezug auf den hier untersuchten Text lassen sich diese 4 Frame-Elemente zum größten Teil bereits an den Kapitelüberschriften des Inhaltsverzeichnisses ablesen: Das erste Kapitel „Allgemeine Konzepte“ („Conceptos Generales“) entspricht im Titel der Problemdefinition. Es begründet die Relevanz des Themas der Bildungspolitik für die Druckschrift mit einem Verweis auf die argentinische gesellschaftliche Gegenwart: Demonstrationen, Streiks, Entfüh‐ rungen, Morde, Sabotagen und Angriffe auf Kasernen und Polizeiwachen haben die argentinische Bevölkerung in den letzten Jahren teils mit Erstaunen, teils mit Verstörung und Resignation erfüllt. Dabei handle es sich um sichtbare Formen der Subversion; von den unsichtbaren wie dem Abbau von Hierarchien, einer tendenziösen Erziehung, Korruption, Pornographie und Drogen habe der größte Teil der Gesellschaft vergleichsweise wenig gespürt. Als Hauptakteur wird eine unbestimmte, international arbeitende „Kommandozentrale“ mit klarer Strategie und ideologischem Fundament benannt (8). Neben der Subversion charakterisiere diese Schaltzentrale der Macht den auf den Thesen von Karl Marx fußenden Kommunismus, aber auch die Auffassung, dass Krieg kein „Grenzphänomen“ sei, wie es die westliche Welt glaube, sondern eine Dauer‐ einrichtung der Politik, um die gesellschaftliche Wirklichkeit umzugestalten (12). Die marxistische Aggression wirke auf die Psyche des Menschen, mache sie zu einem willfährigen Instrument, und zwar über die Erziehung, die Kultur und die Massenmedien (13). Man könne sie daran erkennen, dass sie sich Situationen zu eigen mache, in denen von Unzufriedenheit und Ungerechtigkeit die Rede ist und für die sie vermeintliche Lösungen propagierten, wie z. B. „die Verbindung des zivilen mit dem militärischen Bereich, die Befürwortung eines Mehrparteiensystems, die Ablehnung der Unausweichlichkeit der Etappe der Diktatur des Proletariats sowie der Rückgriff auf die bewaffnete Gewalt“ (13). Hier klingen bereits Aspekte der Ursachenzuschreibung an, wenn davon die Rede ist, dass diese vom Marxismus überzeugten Akteure sich Nationen für ihre subversiven Handlungen aussuchen, in denen die öffentliche Meinung Kritik an den nationalen Lebensbedingungen übt. So hätten sie erreicht, dass sich die öffentliche Weltmeinung gegen den Einsatz von Nuklearwaffen ausspreche, gegen die Intervention von nicht kom‐ 116 Inke Gunia 27 Organización Comunista Poder Obrero (OCPO), Frente Argentino de Liberación (FAL), Ejército Revolucionario del Pueblo-22 (ERP 22), Fuerzas Armadas Peronistas (FAP). 28 Unión de Estudiantes Secundarios (UES), Juventud Universitaria Peronista ( JUP), Juventud Guevarista ( JG). 29 Juventud Guevarista ( JG). munistischen Ländern oder sie behaupteten, die Länder Amerikas, die sich gegen die marxistische Subversion stellen, zu isolieren. Was die marxistische Subversion so gefährlich mache, sei ihre Anpassungsfähigkeit an das Land, das im Fokus ihrer Bemühungen stehe. Die Verfolgung ihres Ziels, nämlich die „Zersetzung der Strukturen des Lebens“ in Argentinien (15), erstrecke sich über drei Phasen: 1. Propagandatätigkeiten und soziale Agitation aus dem Untergrund, 2. die Erschaffung von sogenannten „beherrschten Bereichen“, d. h. die subversiven Akteure bilden bewaffnete Gruppen (diese Phase durchlebe die argentinische Gesellschaft derzeit) und schaffen sich ihre eigene revolutionäre Infrastruktur, und die 3. Phase, in der politische, gesellschaftliche, wirtschaft‐ liche und militärische Strukturen unter Kontrolle gebracht werden. Ganz im Sinne einer Ursachenzuschreibung lassen sich das zweite und dritte Kapitel lesen. Im zweiten, „Subversive Organisationen die, im Bildungs‐ bereich operieren“, werden die für die Subversion verantwortlichen Gruppen benannt, ihre Entstehung sowie Entwicklung bis 1975 rekonstruiert und ihre Zielsetzungen nebst Aktivitäten in der Gegenwart beschrieben. Neben anderen nicht näher beschriebenen Gruppierungen wie z. B. OCPO, FAL, ERP 22, FAP 27 , handelt es sich dabei hauptsächlich um den 1965 gegründeten Partido Revolucionario de los Trabajadores (Revolutionäre Arbeiterpartei, PRT), der argentinischen Vertretung der 4. Internationale und um dessen militärischen Arm, dem Ejército Revolucionario del Pueblo (Revolutionsheer des Volkes, ERP) sowie um die nach dem Sturz Juan Domingo Peróns 1955 aus verschiedenen linken Gruppierungen 1970 hervorgegangenen Montoneros (M). Gemeinsam sei allen Gruppierungen zuerst die Delinquenz. Sie werden des Weiteren als Teil eines durch die kubanische Revolution und dessen Triumph gebildeten und konsolidierten Netzes an politischen und bewaffneten Kämpfern mit marxis‐ tisch, leninistisch oder trotzkistischer Orientierung präsentiert, die im Ausland ihre Ausbildung erführen. Die Darstellung der gegenwärtigen Situation in Argentinien konzentriert sich auf jene Jugendorganisationen, die aus der Bewegung der Montoneros (UES, JUP) 28 und der der PRT-ERP ( JG 29 , und andere nicht näher spezifizierte) hervor‐ gegangen sind. Ihre Ziele seien die Gewinnung von jugendlichen Anhängern aus den Bereichen der Sekundarschulen (ab dem 7. Schuljahr) und der Hochschulen. Diese würden auf der Basis des Marxismus indoktriniert, unter ihnen erfolge 117 Kritisches Denken im Kontext der Zensur 30 „Que no haya limitación para el ingreso“, „Que todos puedan estudiar“, „Que exista autonomía universitaria“, „Aumento de presupuesto universitario“. 31 „Que la universidad es sólo para hijos de ricos“, „Que el Gobierno de las Universidades corresponde a los estudiantes o que por lo menos sea tripartito“. 32 „Por la libertad de los obreros y estudiantes presos“, “Repudio a la dictadura“, “Por el retiro de ala policía de la universidad“. 33 „[…] el desorden“, „la desjerarquización“, „la quiebra de los valores esenciales“, „la falsa concepción sobre las ideas de autoridad y libertad“. die Kaderbildung, die Infiltrierung von z. B. Studentenvereinigungen und des Militärs im Rahmen des Wehrdienstes. Sie würden dann auch mit Aktivitäten in Elendsvierteln, Gefängnissen oder Gewerkschaften betraut. So hätte die Abwe‐ senheit einer strukturierten Hochschulpolitik diesen politischen Gruppen die Gelegenheit gegeben, die Studierenden für ihre Versammlungen zu gewinnen. Dies geschehe durch die Formulierung einer Reihe von Forderungen, mit denen sie Teile der Studierendenschaft erreichen: „keine Zugangsbeschränkungen“, „Studium für alle“, „universitäre Autonomie“, „die Erhöhung der universitären Etats“ etc. (41) 30 . Die so gewonnenen Interessenten würden dann mit Begründungszusammen‐ hängen für das politische Engagement an den Hochschulen konfrontiert, die durch Rückbindung an den marxistischen Begriff des Klassenkampfes ideolo‐ gisch aufgeladen seien: „die Universität sei nur für die Kinder der Reichen“, „die Universitätsregierung gehöre in die Hände der Studierenden oder sei zumindest drittelparitätisch“ (42) 31 . In der nächsten Phase würde Druck auf die universitären Präsidien ausgeübt, Versammlungen in den Unterricht verlagert, Workshops eingerichtet und die den Studierenden unterstellten Forderungen noch konkreter auf den Arbeitsalltag bezogen: „Für die Freiheit von gefangenge‐ setzten Arbeitern und Studierenden“, „Ablehnung der Diktatur“, „für den Abzug der Polizei aus der Universität“ (42) 32 . Schließlich würden die Studierenden für politische und bewaffnete Akte außerhalb der Universität ausgebildet. Das dritte Kapitel „Besondere Strategie der Subversion im Bildungsbereich“ behandelt die Frage, welche Strukturschwächen zu Einfallstoren für die ideo‐ logische Unterwanderung des Bildungssystems geworden sind. Die Autoren ziehen sich in ihrer Beantwortung jedoch auf sehr allgemeine Behauptungen zurück. Bedingt durch nicht näher benannte „gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Krisen“ sei das Bildungssystem geschwächt worden. Schlag‐ wörter, die diesbezüglich aufgezählt werden, sind die folgenden: „Unordnung“, die „Abschaffung von Hierarchien“, der „Verlust grundlegender Werte“ oder „fal‐ sche Auffassungen von Begriffen wie ‚Autorität‘ und ‚Freiheit‘“ (46) 33 . Es fehlen Investitionen im Bildungsbereich sowie ein einheitliches nationales Bildungs‐ konzept, so bemängeln die Herausgeber der Druckschrift. Die Bildungsziele der 118 Inke Gunia 34 „Organizaciones de delincuentes subversivos que, mediante su estructura armada (MONTONEROS, ERP, OCPO, etc.) ejercen presión sobre el personal del ámbito para la consecución de sus fines.“ 35 „En este sentido se ha advertido en los últimos tiempos, una notoria ofensiva marxista en el área de la literatura infantil. En ella se propone emitir un tipo de mensaje que parta del niño y que le permita ‘autoeducarse’ sobre la base de la ‘libertad y la alternativa’“. Universität und die des argentinischen Volkes drifteten auseinander. Ferner wird auf die Passivität der Schülerschaft hingewiesen sowie auf die hohen Schul- und Hochschulabbrecherquoten. Letztere seien zurückzuführen auf instabile wirtschaftliche Verhältnisse der Familien, für deren Kinder der Schulbesuch zu einem Luxusgut geworden ist. Diese Situation bilde den Nährboden für die ideologische Umerziehung von Schülern und Studierenden. Dabei bediene man sich einer Vielzahl von Herangehensweisen: studentische Organisationen, Gewerkschaften sowie „ver‐ brecherische subversive Organisationen“, die mit Waffengewalt Druck auf das Lehrpersonal ausüben, aber auch entsprechend geschultes Lehrpersonal und besonderes didaktisches Material, in dem z. B. bestimmte Erziehungsmodelle propagiert würden (48). 34 Die Ausführungen hierzu lassen darauf schließen, dass den Verfassern die Reformpädagogik (Escuela Nueva) etwa einer María Montes‐ sori ein Dorn im Auge gewesen war: „Diesbezüglich lässt sich in letzter Zeit ein offenkundiger marxistischer Angriff im Bereich der Kinderliteratur beobachten. Darin beabsichtigt man eine Form der Botschaft in Umlauf zu bringen, die vom Kind ausgeht und es erlaubt, ‚sich selbst zu erziehen‘ auf der Grundlage von ‚Freiheit und Alternativen‘“(49). 35 Auf der Ebene der Sekundarschulbildung und nicht akademischen Ausbildung würden die Jugendlichen zu einer Oppositions‐ haltung gegenüber der Gesellschaft, ihren Werten und ihren Akteuren erzogen, darunter insbesondere gegenüber den „Autoritäten“, wie z. B. die Streitkräfte (50). In der Hochschulbildung würden studentische Notizen zu Lehrveranstal‐ tungen das in wirtschaftlich prekären Zeiten kostspielige Lehrmaterial ersetzen, eine Praxis, über die ebenfalls politisch-ideologisch Einfluss genommen werde (53). Die Indoktrinierung beginne folglich im Kindesalter, werde im Bereich der Sekundarerziehung fortgeführt und schließe mit der akademischen Ausbildung von Lehrpersonal, die dann ihrerseits in der Verbreitung des marxistischen Gedankenguts eingesetzt würden. In dem letzten Kapitel „Die Zukunft bauen“ finden sich Lösungszuschrei‐ bungen und Handlungsaufforderungen. Bis zu diesem Kapitel liest sich die Druckschrift wie eine Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen, insbesondere bildungspolitischen Lage der Nation, deren Regierung gerade erst durch das Militär übernommen wurde. Die Herausgeber zeichnen ein desolates Bild 119 Kritisches Denken im Kontext der Zensur 36 „[…] reorganizar 1. tr. Volver a organizar algo. U. t. c. prnl. 2. tr. Organizar algo de manera distinta y de forma que resulte más eficaz.“ („1. tr. Noch einmal etwas organisieren […] 2. Tr. etwas auf andere Weise und in einer Form organisieren, die sich als zielführender herausstellt“). Diccionario de la lengua española (2014: s. v.). der gegenwärtigen Bildungslandschaft in Argentinien. Wirtschaftliche und politische Krisen hätten das Land geschwächt und die Gesellschaft und ihr Bildungssystem anfällig gemacht für Einflussnahmen seitens oppositioneller krimineller Gruppierungen, deren ideologisches Fundament der Marxismus sei und die internationale Unterstützung genießen würden. Mit anderen Worten, die Herausgeber dieser Druckschrift bewerten diese Situation explizit als negativ, als eine nicht weiter hinnehmbare Situation. Die neue Regierung wird als die für die Lösung dieser Probleme fähiger Akteur präsentiert. Das Lehrpersonal aller Ebenen der Erziehung wird dazu aufgerufen sich in den Dienst dieser Regierung und ihrer Politik zu stellen, die, wie in diesem letzten Kapitel besonders hervorgehoben wird, den Gedanken der Herstellung einer nationalen Einheit im Soziolekt der Militärs als ein „Kampf ohne Waffenruhe“ („lucha sin tregua“, 59) bezeichnet, als eine Verteidigung des Eigenen gegenüber der Tendenz zur Überfremdung. Die Lehrenden werden zu „Wächtern unserer ideologischen Souveränität“ („custodios de nuestra soberanía ideológica“, 60) stilisiert. Es gelte sich dieser Aufgabe mit aller Kraft zu widmen, denn das Verbrechen sei in der Lage die Verteidigung zu durchbrechen und „Bollwerke“ („bastiones“, 59) zu errichten. Die Ausführungen zu dem so ausgerichteten politischen Handeln der Militärregierung dienen damit auch als Erklärungen des politischen Labels, welches sich die Regierung für ihre Aufgaben gewählt hat und das in den letzten Zeilen des Schlusswortes in Entsprechung zur Eröffnung der Druckschrift genannt wird: der Prozess der Nationalen Reorganisation, eine Neuordnung der Gesellschaft, der von der lexikalischen Bedeutung des Wortes „reorganizar“ die Wirksamkeit und Zielführung innewohnt. 36 Das hier herausgearbeitete Argumentationsschema ist vom Typus des stra‐ tegischen Frames, der in diesem Fall von der Regierung als Kommunikator formuliert wurde, damit er sich in der öffentlichen Diskussion etabliere und festige. Der so an die Öffentlichkeit kommunizierte Sinnhorizont muss als kohärent wahrgenommen werden. Seine Seriosität erhält er außerdem dadurch, dass er am wissenschaftlichen Schreiben orientiert ist. Der Text ist in verschie‐ dene Unterpunkte alphabetisch und numerisch gegliedert, in ihm wird auf bibliographische Quellen verwiesen, und er liefert im Anhang eine synoptische Darstellung zur historischen Entwicklung der universitären Studentengruppie‐ rungen sowie mehrere Graphiken, die das „Handeln der Regierungsgegner“ („accionar del oponente“) erklären sollen. Der strategische Frame besteht aus 120 Inke Gunia 37 Als Beleg für ihre Argumentation zitieren die Herausgeber gelegentlich aus vermeint‐ lichen Quellen. Ein Hochschullehrer mit Namen Manuelsky habe in einer 1931 veröf‐ fentlichten Schrift über psychologisch-politische Kriegsführung von der „Zerstörung“ der Länder gesprochen und Lenin begriff den Krieg - so die vorliegende Druckschrift - als Zentrum der Politik. 38 Mit Bourdieu; Wacquant (1996). Reflexive Anthropologie. einer Auswahl ganz bestimmter Aspekte, die hervorgehoben werden. Dies geschieht einmal dadurch, dass andere unberücksichtigt bleiben, zum anderen auch durch den Gebrauch der appellativen Sprachfunktion, die sich bereits im Titel der Schrift manifestiert: „Subversion im Bildungsbereich. Erkennen wir unseren Feind“, den Einsatz militärischer Rhetorik, mit der die in dem Werk beschriebene gesellschaftspolitische Aufgabe als Kampf dargestellt wird und natürlich auch durch im kommunikationswissenschaftlichen Sinn eingesetzte Redundanzen. Die vom Erziehungsministerium der Regierung herausgegebene Druckschrift zum Thema der Bildungspolitik konstruiert einen Blickwinkel auf die zeitgenössische Bildungslandschaft Argentiniens, in dem diese als ideologisch bedroht erscheint. Die junge Generation Argentiniens werde von in‐ ländischen politischen Gruppen marxistischer Gesinnung indoktriniert, die auf international vernetzte Mechanismen der Planung, Steuerung und Koordination von Informationsflüssen und politischen Aktionen zurückgreifen können. Ihre Aktivitäten zielen auf die Beherrschung der menschlichen Psyche (13) mit dem langfristigen Ziel die Umordnung zuerst der argentinischen Gesellschaft und dann der Weltgesellschaft zu erreichen. Dabei scheuen sie nicht vor Streiks, Sabotagen, Entführungen und Mord zurück, denn der Krieg bilde den Mittel‐ punkt ihrer Politik (11). 37 Schuld an dieser Entwicklung seien wirtschaftliche und politische Krisen, die das Bildungssystem aus den Angeln heben würde. Diese Entwicklung sei als negativ zu bewerten, und daher müssten alle am Bildungssystem beteiligten Akteure entsprechend unterrichtet sein. Der von der Regierung ausgerufene Prozess der Nationalen Reorganisation mit seinem Fokus auf der Stärkung der nationalen Identität hat die Funktion eines Heilmittels, mit dem das geschwächte Land gesunden wird. Die kritische Auseinandersetzung oder genauer - wie oben formuliert - die differenzierende Prüfung der in der dieser Druckschrift gemachten Aussagen über das soziale Feld 38 der Bildung in einer Zeit der umfassenden Kontrolle sämtlicher Produktions- und Distributionsprozesse seitens der argentinischen Regierung ließe sich an dieser Stelle noch ausweiten; etwa auf die Bearbeitung der Fragen, ob der in der Schrift artikulierte strategische Frame auch in Medi‐ entexten der Zeit wiederholt wurde, welche Medientexte dabei als Sprachrohr dienten oder ob es andere Kommunikatoren gab (politische Parteien, Gruppie‐ 121 Kritisches Denken im Kontext der Zensur rungen, Institutionen), die mit strategischen Frames um die Deutungshoheit zum Thema der Bildungspolitik rangen. Literatur Bourdieu, Pierre; Loïc Wacquant (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bußmann, Hadumod (2008). Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. Auflage. Stuttgart: Kröner. 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Hamburg: Hamburg University. http: / / www.lhn.uni-hamburg.de/ artic le/ implied-reader (09.12.2017). 123 Kritisches Denken im Kontext der Zensur 1 Benjamin (2006). „Zur Kritik der Gewalt“, 202. 2 Vgl. Foucault (1992). Was ist Kritik? 3 Butler (2009). „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, 239. Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung am Beispiel der Hamburger Performance-Installation Söhne & Söhne von SIGNA (2015) Martin Jörg Schäfer Kritik Walter Benjamin nimmt den Begriff ‚Kritik‘ beim Wort, wenn er von der kriti‐ schen Haltung eine „scheidende und entscheidende Einstellung“ 1 fordert: Kritik ist demnach ganz basal eine Tätigkeit des Unterscheidens, nämlich eine Analyse der Verfasstheit der gemeinsam bewohnten Welt. Das so entstandene Wissen, wie es beispielhaft Immanuel Kant in seinen drei Kritiken hervorgebracht hat, impliziert jedoch immer auch eine Entscheidung darüber, was auf welche Seite des Unterschieds gehört und worin dieser überhaupt bestehe. Bei einer kritischen Wissenspraxis handelt es sich, wie Michel Foucault gezeigt hat, 2 zuallererst um eine Machtpraxis. Mit Kritik tritt eine ethische Verantwortung auf den Plan, die vor sich selbst und der Kritik der eigenen Entscheidungs- und Unterscheidungsmaßstäbe nicht Halt machen darf. Judith Butler führt Foucault in dem Sinne fort, dass sie der Kritik die „doppelte Aufgabe“ zuweist, zu zeigen, „wie Wissen und Macht arbeiten, […] aber auch ‚den Bruchstellen zu folgen, die ihr Entstehen anzeigen‘.“ 3 Letztlich auf dem Spiel stehen bei ‚Kritik‘ also die Entscheidungen und Unterscheidungen, die auch anders hätten ausfallen können, aber doch dem zugrunde liegen, was wir ‚Wahrheit‘ und ‚Wissen‘ nennen. Diese fiktive Dimension von ‚Wahrheit‘ und ‚Wissen‘ besonders privilegiert untersuchen können diejenigen Geisteswissenschaften, die sich mit Symbol‐ praktiken und Fiktionen beschäftigen. Die Arten und Weisen, wie wir uns unser Leben erzählen und unsere Kultur darstellen, können auf ihre Machart untersucht werden und den ‚kritischen‘ Blick auf unsere Alltagserzählungen 4 Vgl. Koschorke (2012). Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähl‐ theorie. Vgl. Horn (2014). Zukunft als Katastrophe. 5 Vgl. Müller-Schöll (2016). „Das Problem und Potential des Singulären. Theaterforschung als kritische Wissenschaft“, 139-150. wie Darstellungsweisen ermöglichen. 4 Allerdings ist andererseits das ‚Als-Ob‘ künstlerischer Darstellungen immer wieder Grund gewesen, ihnen Kritikfähig‐ keit abzusprechen. Dies gilt besonders für das Theater, welches sich durch seine europäische Geschichte hindurch immer wieder als scheinhaftes oder spielerisches Gegenteil einer wahrhaft kritischen Wissenspraxis ausgesetzt sah. 5 Die folgenden Überlegungen greifen sich eine Mitte der 2010er Jahre vieldisku‐ tierte Theaterarbeit heraus, um an ihr die Debatte über die Möglichkeiten und Tragweite von Theaterkritik durchzuspielen. Das SIGNA-Kollektiv, eine europäische Künstler*innengruppe um Signa und Arthur Köstler, erschafft 2015 mit seiner Performance-Installation Söhne & Söhne in einer temporären Außenstelle des Hamburger Schauspielhauses eine Arbeits- und Lebensdystopie: Das Publikum findet sich über sechs Stunden in einer Bewerbungssituation im Assessment Center einer sektenartigen Firma wieder. Neben einer diskursiven Rahmung mit kultur- und gesellschaftskriti‐ schen Elementen wird von der Produktion auch die traditionsreiche Theorie‐ figur aufgerufen, nach der einer partizipativen Praxis ein nicht nur theater-, sondern auch kultur- und gesellschaftskritischer Gehalt zukomme. Bei SIGNA entpuppt sich dieses Versprechen allerdings als ein Albtraum. Nach einem kurzen Verweis auf die entsprechende Tradition der Theaterkritik soll der in der Söhne & Söhne-Produktion vorgestellte Albtraum mit ihr in Verbindung gebracht und innerhalb der größeren Frage nach den Möglichkeiten und der Tragweite von geisteswissenschaftlicher Kritik verortet werden. Versammlung als Theaterkritik Zahlreiche Projekte der europäischen Theateravantgarden, -neoavantgarden und -postavantgarden haben sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts der Ab‐ schaffung oder zumindest Auflösung der Publikumsstruktur verschrieben: Das Publikum soll nicht passiv den Theateraktionen folgen, sondern sich selbsttätig an diesen beteiligen. Oft genug geht dies mit einem Gestus des Kritischen einher: als Kritik an Macht-, Repräsentations- oder Ausschlussstrukturen, als Kritik an einer westlichen Gesellschaft des Spektakels und einer ihren Subjekten aufoktroyierten Konsumkultur, als Kritik an passiven (und daher 126 Martin Jörg Schäfer 6 Vgl. Bishop (2012). Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship, 11-40. 7 Vgl. Barish (1985). The Antitheatrical Prejudice, 5-37. 8 Ebd., 256-294. 9 Vgl. Rousseau (1981). „Brief an d’Alembert über das Schauspiel“, S. 462. Vgl. Primavesi (2010). „Schauspiele für das ganze Volk? Rousseaus Vision öffentlicher Feste als Begründung moderner Theaterformen“, 19-36. minderen) Lebensformen, welche es zu aktivieren gelte, usw. 6 Wissentlich oder unwissentlich schwingt hier ein mächtiger theoretischer Diskurs mit; Pate steht die traditionsreiche Kritik am Theater an sich und überhaupt: dem Theater als Schauraum. Schon die platonische Befreiung aus der Höhle, in der nur Schatten des Wissens zu sehen sind, von denen man sich zum Himmel der Ideen emporzuarbeiten habe, kritisiert falsches Wissen als ein dem Theater verhaftetes Wissen. 7 Seitdem stehen Spiel und Darstellung im Verdacht, das Eigentliche zu verstellen und damit die theoretische wie praktische Existenz der Verkümmerung zu überliefern. 8 Spätestens seit Rousseaus Neuauflage von Platons Polemik im 18. Jahrhun‐ dert gilt die festliche Versammlung des Gemeinwesens als Praxis dieser theore‐ tischen Theaterkritik: 9 Die Verselbstständigung des Scheinhaften im Theater gilt für Rousseau ebenso als Lüge gegen den von ihm angenommenen Naturzustand wie als überflüssiger Luxus. Auf die Gesellschaft hat die Anwesenheit von Schauspieler*innen und Theater eine zersetzende Wirkung: „[D]urch einen ehrlosen Stand [entstehen] ehrlose Gefühle“ (Rousseau 1981: 427). „Nur zwei Jahre Theater, und alles ist zerrüttet.“ (Rousseau 1981: 448) Verloren geht dabei die Menschlichkeit: „Was also ist im Grund der Geist, den der Schauspieler von seinem Stande empfängt? Eine Mischung aus Niedrigkeit, Falschheit, von lächerlichem Dünkel und würdeloser Gemeinheit, die ihn befähigt, alle Arten von Rollen zu spielen außer der edelsten, die er aufgibt, außer der des Menschen.“ (Rousseau 1981: 414) Dagegen imaginiert Rousseau einen Idealzustand, in dem die Menschen nicht mehr auf diese Überflüssigkeit angewiesen sind, „wir uns völlig von diesen Bretterbuden trennten und uns, groß und klein, darauf verstünden, unsere Freuden und unsere Pflichten […] aus uns selbst zu ziehen“ (Rousseau 1981: 461). Einen solchen Idealzustand findet Rousseau im „Fest“ unter freiem Himmel, an dem alle teilnehmen und bei dem nichts vorgeführt wird: „Was wird es zeigen? Nichts, wenn man [so] will.“ Aus dem Theaterpu‐ blikum, das die Eitelkeit des Schauspielerstandes erst ermöglichte, werden gleichberechtigte „Darsteller[]“: „[S]tellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.“ (Rousseau 1981: 462) Im Fest findet 127 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 10 Vgl. in letzter Konsequenz für das 20. Jahrhundert Arendt (1998). The Human Condition, 192-199. 11 Latour (2007). Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. 12 Latour (2001). Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. sich die Trennung in Aktivität und Passivität aufgehoben. Diese Transformation des Theaters in ein gemeinsames Fest versteht sich als praktizierte Theaterkritik. Im 20. Jahrhundert hat eine solche Praxis ästhetische Entwürfe jeglicher politischer Ausrichtung generiert: künstlerisch anspruchsvolles Massentheater bei Max Reinhardt, das Straßentheater der 1960er und 1970er, die Love Parade der 1990er oder auch die in den 1960ern entstehenden neuen Kunstrichtungen Performance und Happening aber ebenso bei den durchinszenierten Massen‐ aufläufen auf den NS-Parteitagen (Primavesi 2010: 29-31). Parallel schlägt sich Rousseaus Phantasie einer Abschaffung des Theaters in theoretischen Entwürfen nieder, einerseits als rückblickende Idealisierung eines vergangenen Gemeinwesens wie z. B. der antiken Athener Polis 10 (an die schon Rousseau mit seinem Bürger*innenfest erinnern will) - oder auch in Vorstellungen einer kommenden ‚besseren‘ Gesellschaft: Laut Bruno Latour etwa liegt das „Elend der Kritik“ 11 gerade darin, dass sie zwar (epistemologische bis politische) Mas‐ keraden entlarvt. Diese würden von der Künstlichkeit ihrer eigenen kritischen Haltung, mit der sie sich Welt und Dingen wie im Theater gegenüberstellt, zuvor aber erst produziert. Der Ausweg einer sich nicht mehr Kritik nennenden Kritik an einer solchen Kritik soll im Niederreißen dieser kritischen Trennung liegen - und der gemeinsamen, experimentellen Herstellung eines zukünftigen „Parlaments der Dinge“ 12 auch mit nichtmenschlichen Akteuren. Das Theater der Kritik wird durch eine Versammlung ersetzt, die sowohl wissenschaftlich wie politisch etwas Besseres als das Theater darstellt. Eine Kritik der Kritik wie diejenige Latours, der sich eigentlich gänzlich abseits eines Theaterdis‐ kurses bewegt, generiert doch sehr ähnliche Bilder zu denen, welche mit einer traditionellen Kritik am Theater assoziiert sind: Bilder einer partizipativen Versammlung, die nicht von jenen Trennungen eingeteilt und begrenzt werden, wie sie dem Theater eigen sind. Umgekehrt mag sich die Forderung nach Partizipation so untheoretisch oder antitheoretisch gerieren, wie sie will - etwa als Forderung nach ‚gelebter Praxis‘ oder nach ‚rein sinnlicher‘ Versenkung (und damit nicht zuletzt als Kritik an als zu akademisch empfundenen geisteswissenschaftlichen Diskursen). Aus Perspektive der Geisteswissenschaften rufen solche Forderungen nolens volens stets auch eine über Platon und Rousseau reichende, immer auch theoretische Tradition auf, in der sich Fragen nach dem Status von sich kritisch zu ihren Gegenständen verhaltenden Theorie und Praxen ebenso stellen wie nach den 128 Martin Jörg Schäfer 13 Vgl. zuletzt van Eikels (2016). „What Your Spontaneity Is Worth to Us. Improvisation between Art and Economics“, 22-31. 14 Vgl. Deleuze (1993). „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“, 254-263. Vgl. Foucault (2004). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität. Darstellungsweisen und Grenzziehungen des Theaters: In der Praxis des parti‐ zipativen Theaters stellt sich auch jeweils (strikt theoretisch) die Frage nach dem jeweiligen Status von Kritik. SIGNAs Söhne & Söhne Mit der Frage nach der kritischen Dimension der Partizipation treten die hier entwickelten Überlegungen an die SIGNA-Performance Söhne & Söhne vom Winter 2015/ 16 heran, die von November bis Januar in einer umgestalteten ehe‐ maligen Hamburger Gewerbeschule für Bauhandwerker in der Averhoffstraße gezeigt wird: Das Publikum findet sich als Teil einer sektenartigen Firma sechs Stunden lang dem Albtraum ‚der schönen neuen Arbeitswelt‘ mit ihren so häufig kritisierten Dauerevaluationen und Initiationsriten 13 unterworfen. In einer für die oft als ‚immersiv‘ gekennzeichnete SIGNA-Ästhetik typischen vergilbten Büroästhetik, irgendwo zwischen 1950ern, 1970ern und DDR-Reminiszenzen wird das Publikum in einer weltumspannenden Firma bzw. Religionsgemein‐ schaft als neues Firmenmitglied willkommen geheißen und dann den rigorosen Abläufen eines Assessment Centers unterworfen. Auf dem Spiel steht bei all diesen disziplinarischen Maßnahmen allerdings das Arbeitssubjekt der Kon‐ trollgesellschaft, 14 denn das ganze affektive Selbst soll ‚mit Haut und Haaren‘ der Firma zur Verfügung gestellt werden: mit seinen Kindheitserinnerungen, seinen Liebesbedürfnissen, seinen Krankheiten und seinen Todesängsten. Doch die Kompetenzprüfungen desintegrieren im Laufe des Abends immer weiter. Konflikte zwischen den Prüfer*innen treten hervor und eröffnen dem zuvor zur Reaktion gezwungenen Publikum bizarre Wege durch die Installation. Es mehren sich Andeutungen, dass der Kontakt zur ‚Mutterfiliale der Ökonomie‘ verloren gegangen sei und dem gemeinsamen Leerlauf der Übungen und Demü‐ tigungen die Hoffnung unterliege, ein Kontakt zum ursprünglichen oikos, einem noch nicht kapitalistisch verfremdeten Ursprung, ließe sich so wiederherstellen: Die Überaffirmation der ‚schönen neuen Arbeitswelt‘ zielt auf ihre Abschaffung, die SIGNA-Produktion auf eine Kritik an ihr. Die Kritik soll schon der gemeinsam mit dem Publikum vollzogenen Praxis inhärent sein. - Nach sechs Stunden müssen alle Teilnehmenden sich für die Initiation in die Firma unter Ablegung des eigenen Selbst entscheiden oder sie werden rüde außer Hauses gebracht. 129 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 15 Vgl. Etzold (2015). „Armes Theater“, 50-74. 16 Vgl. Frieze (2016). „Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance“, 1-24. 17 Vgl. Agamben (2005). „Theos, Polis, Oikos. Das Mysterium der Ökonomie auf der politisch-christlichen Bühne“, 60-62. 18 „Post-tragische Verstrickungen in Theater und Performance der Gegenwart“, durchge‐ führt im Wintersemester 2015/ 16. Die Produktion setzt der ‚ehrlichen Armut‘, die Rousseau für sein theater‐ kritisches Bürger*innenfest in Anspruch nimmt, 15 schon rein konzeptuell den Überfluss entgegen: die detailreiche Ausstattung und die Überforderung des Publikums durch den beständigen Anspruch mit immer neuen Aufgaben und Eindrücken. Trotz Selbstbeschreibung geht es nicht in erster Linie um eine Ästhetik der Immersion, wie sie sich oft über ein vorkritisches oder implizites Wissen legitimiert. 16 Söhne & Söhne hat große explizit theoretische Anteile; es gibt eine dominante paratextuelle Diskurs-Rahmung: Den Programmzettel erhält man beim Verlassen der Performance-Installation. Einen Großteil des Raums auf dem Zettel nimmt ein Ausschnitt des 2005 auf Deutsch publizierten „Das Mysterium der Ökonomie“-Text von Giorgio Agamben ein. 17 Dieser behan‐ delt im Anschluss an Arendt, Heidegger und Benjamin eine in eine Katastrophe ausgeartete, vergessene theologische Grundlegung des Ökonomischen, wie sie im zweiten Teil des Abends von zahlreichen Performer*innen angedeutet worden war. Die Begleitkritik auf dem Programmzettel macht diese Andeu‐ tungen nun zur Hauptsache und rahmt retrospektiv das in den sechs Stunden zuvor Erlebte. Die gewählte Publikumssituation einer gemeinsamen Versammlung mit den Performer*innen stellt einen Antriebsmoment des behaupteten oder impliziten kritischen Impulses dar. Die Kritik soll bereits im partizipativen Modus ange‐ legt sein: Die Söhne & Söhne-Kritik an ökonomischen Strukturen soll in der gemeinsamen Überaffirmation auf einen möglichen Ausbruch aus diesen ver‐ weisen. Anhand von in einem an der Universität Hamburg gehaltenen Seminar gesammelten Beobachtungen und Erfahrungsberichten 18 sollen die folgenden Überlegungen die zu dieser Anlage gehörende Praxis genauer fassen. ‚Schöne neue Arbeitswelt‘: Dystopie und Utopie Von ‚Gleichheit‘ zwischen Performer*innen und zahlendem Publikum kann in den dystopischen Performance-Installationen der Gruppe SIGNA von vorn‐ herein keine Rede sein. Besonders ausgeprägt ist bei Söhne & Söhne ein Prinzip der oft autoritären Ansprache, das den Besucher*innen unangenehme Parts 130 Martin Jörg Schäfer 19 Vgl. z. B. mit einer historischen Einordnung Scheurle (2012). „Partizipation im Theater - zwischen Spiel und Wirklichkeit“, 24. 20 Vgl. Šklovskij (1971). „Die Kunst als Verfahren“, 3-35. 21 Vgl. Kirsch (2008). „SIGNA oder die unheimliche Welt von Signa Sørensen und Arthur Köstler“, 8-11. 22 Wihstutz (2013). „Ästhetische Relevanz und soziale Kontingenz. Zur Zuschauerpartizi‐ pation bei SIGNA und LIGNA“, 82. zuordnet, die mit all ihren Folgen angenommen werden können oder unter großem Aufwand abgelehnt werden müssen. Etwa als Gast oder auch Kunde einer Geheiminstitution, die ausnahmsweise ihre Türen öffnet, haben die Besucher*innen meist Rollen mit einem großen Informationsdefizit zu spielen, bei dem es sich stets auch um ein Machtdefizit handelt. Die Effekte von SIGNAs Installationen sind oft beschrieben worden: 19 Das Publikum betritt eine scheinbar in sich geschlossene Fiktion; immer gibt es aber zahlreiche Illusionssignale, die beim Beschreiten der in sich geschlossenen Welt für Distanz sorgen und die Pointe der SIGNA-Ästhetik, die innerer Brüchigkeit dieser Fiktion, unterstreichen. Die besonders radikal betriebene Verwirrung der Grenze zwischen Realität und Fiktion führt zu einer Umkehrung des traditio‐ nellen Verfremdungseffekts nach Šklovskji: 20 Nicht die Gemachtheit der Kunst wird plötzlich wahrgenommen, sondern die künstliche Hyperrealität lässt die Wirklichkeit als ebenfalls bloß gemacht oder zumindest ein wenig verschoben erscheinen. Das Theater verhandelt hier Grenzen und Möglichkeitsräume der je individuellen Wahrnehmung 21 - und erfüllt damit eine traditionelle Funktion von Kritik. Darüber hinaus findet sich dies auf die eigene Wahrnehmung zurückgewendet - als „Re-Entry des Sozialen“ 22 : In Teilnahme, Ablehnung von Teilnahme, unangenehme Begründung der Ablehnung von Teilnahme, unangenehme Folgen von Teilnahme ist das Publikum ständig zur Entscheidung zwischen Reaktion und Nichtreaktion gezwungen; es entsteht eine Selbstbe‐ obachtung der eigenen sozialen Dilemmata. Das Publikum wird eigentlich durchgehend mit der Entscheidung über die eigene Teilnahme konfrontiert, gleichzeitig mit der Beobachtung der Entscheidungsfindung der anderen - und vor allem damit, dass in der SIGNA-Welt eigentlich keine Entscheidung eine gute Entscheidung sein kann. Damit verkehrt sich der Charakter von ‚Partizipation‘: Die Auflösung der traditionellen Publikumssituation hat keinen utopischen Charakter, sondern generiert eine Befragung der Arten und Weisen, mit denen das je einzelne Verhalten und die je einzelne Wahrnehmung mit denen der anderen immer schon verstrickt sind, diesen hinterherläuft und nie souveränen Charakter hat. 131 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 23 Diese Beschreibung stammt von der Dramaturgin der Produktion, Sybille Meier, aus dem Gespräch mit dem Seminar „Post-tragische Verstrickungen“ am 23.11.2015. Vgl. Meier (2008). „Der Teufel in der Schublade“. 24 Beck (2007). Schöne neue Arbeitswelt. 25 Boltanski; Chiapello (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. In der Söhne & Söhne-Produktion vom November 2015 sind die Verhältnisse schon bei der Einlasssituation in die ehemalige Gewerbeschule noch einige Zeit vor angekündigtem Beginn ebenfalls klar: Teils grüßen die unauffällig gekleideten, aber geschniegelten Büroangestellten fast schon übermäßig höflich mit dem Firmenslogan „Elatus“ (edel); deutlich wird in den zeremoniellen Gesten, dass es sich bei der Firma mit ungeklärter Zielsetzung mindestens ebenso sehr um eine Sekte handelt. Scheinbar willkürlich werden aber plötzlich auch bereits einzelne Besucher*innen angeschrien: Man sei zu spät und das am ersten Arbeitstag. Was das denn werden solle; nun aber schnell. Die Garderobenschlange entpuppt sich dabei als erste Prüfungssituation. Wer nicht rechtzeitig die Jacke sowie alle anderen geforderten Gegenstände (inklusive Handy) abgabebereit hat, wird im Befehlston nach hinten in die Reihe geschickt. In den mit großer Detailversessenheit ausgestatteten tristen vergilbten gräulich-gelbbraunen Räumen voller Dinge, „die niemals schick waren“ 23 , ver‐ sammeln sich die ca. 70 Besucher*innen des Abends dann mit den knapp 50 Performer*innen in einer Aula. Das Publikum wird als potentielle neue Mitarbeiterschar einer weltumspannenden Firma, eben Söhne & Söhne, begrüßt. Der individuelle Name sei nunmehr für den folgenden Abend abgelegt; Besu‐ cher*innen jeglichen Geschlechts werden zunächst zu z. B. „27 Sohn“. Man setze große Hoffnungen in die Neuangestellten, heißt es von der Bühne des Versammlungsraumes herunter; mit ihrer Hilfe könne man alles wieder in Ordnung bringen. Dass es in letzter Zeit innerhalb der Firma zu merkwürdigen Vorkommnissen kam, wird bereits angedeutet. Die verteilten floskelartigen Firmenleitlinien sind auf Wachstum der Firma und Optimierung ihrer Ange‐ stellten ausgerichtet: „Söhne & Söhne ist eine weltumfassende Firma, deren Ziel darauf gerichtet ist, durch die ihr eigene Wirtschaftsweise und durch die ihr wesenhaften Prinzipien in Gemeinschaft aller Söhne und Filialen für die vollkommene Veredelung der ökonomischen Verhältnisse und des ökono‐ mischen Menschen zu arbeiten.“ Auf einem Reißbrett finden sich ein Ablaufplan und Bewertungsbogen für einen nun folgenden Evaluationsparcours, der etwa durch die Krankenstation und das Zentrum für romantische Angelegenheiten führen wird. Sämtliche dieser Gefühle gelte es für die Firma produktiv zu machen. Diesen Ideologemen aus der „schönen neuen Arbeitswelt“ 24 eines postfordistischen „neuen Geist[s] des Kapitalismus“ 25 , der eine propagierte 132 Martin Jörg Schäfer Selbstentfaltung des Individuums dann als Wert abschöpft, konterkariert den ganzen Abend hindurch das vorherrschende Zwangssystem. Dieses ruft mit den omnipräsenten disziplinarischen Maßnahmen, den immer wieder hergestellten Zwangssituationen und der zunächst emotionslosen Uniformität eben jene fordistische Arbeitswelt aus, von welcher der ‚neue Kapitalismus‘ sich abgrenzt. Anhand der Nummern wird das Publikum in Gruppen von sieben bis acht zu ihrer jeweils ersten Station geführt. Erste Gäste verlassen bereits hier schimpfend die Fiktion. Sie wehren sich massiv gegen die ihnen zugewiesene Rolle und werden von den Performer*innen rigoros aus dem Gebäude hinaus komplementiert. Unter den verbleibenden Zuschauer*innen kann sich kein Gruppengefühl im herkömmlichen Sinne einstellen, da die Kleingruppen, in denen die einzelnen Abteilungen besucht werden, ständig variieren und auch die Kontaktaufnahme während der Pausen von den Söhnen unterbunden wird. Der sich von Station zu Station füllende individuelle Bewertungsbogen bleibt ohne Konsequenzen für die prospektive Aufnahme in die Firma, hat aber Konsequenzen für die je individuelle Dramaturgie: Wer den Anweisungen folgt, ohne sich auf Provokationen einzulassen, wird vielleicht zwischendurch kurz in einen Schrank gesperrt und ein paar Mal angeschrien, kann sich aber auch ohne größere Konfrontationen durch den Abend schmuggeln. Erfahrungen jenseits des Beobachtens bleiben aber ebenfalls aus. Wer sich vornimmt, dem eigenen Skript statt dem der Söhne zu folgen, erregt die Aufmerksamkeit der Performer*innen, erhält schlechte Bewertungen und wird an jeder Station neu herausgepickt, um ein Exempel zu statuieren. Aktivitäten, die angeblich Gruppensolidarität unter den neuen Söhnen schaffen und sie in die Firma bzw. Sekte integrieren sollen (Spiele, körperliche Annäherung), stehen allenthalben Versuche gegenüber, Konflikte unter den Söhnen, unter dem Publikum und zwischen beiden Gruppen anzustacheln. Die hergestellte Atomisierung bleibt also stets im Sozialen verankert. Diese Atome schwingen nicht für sich und gegeneinander, sondern gehen auch immer wieder temporäre Verknüpfungen und Begegnungen ein: in der Teilnahme an den gestellten Aufgaben, im Bündnis gegen die Performer*innen, in der kurzzeitigen gemeinsamen Distanzierung. Parallel zur geistigen Ermüdung des Publikums werden im Laufe der sechsstündigen Performance auch bei den Söhnen Anzei‐ chen von Müdigkeit sichtbar. Strikte Haltung und Disziplin lassen nach. Zum einen ist dies der Dauer der Performance geschuldet; gezielt wird dies aber ge‐ nutzt, um Brüche und Risse im System der Firma zu kennzeichnen: Das System ist durchzogen von Intrigen, gegenseitigen Beschuldigungen und persönlichen Dramen auf kleiner Ebene. Gegenseitiges Denunzieren und Schuldzuweisungen sind allgegenwärtig. 133 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 26 Ebd., 147. 27 Derrida (1993). Falschgeld. Zeit geben I, 52. Beim Wort genommen und ins Groteske übersteigert scheint hier das Ver‐ sprechen der „projektbasierte[n] Polis“ 26 , das die Managementliteratur der 1990er und 2000er prägte und angeblich auf die Kritik an fordistischen Arbeits‐ zusammenhängen reagiert: Die Arbeit sich frei verwirklichender Individuen in wechselnden Projektzusammenhängen würde die Zufriedenheit der Einzelnen ebenso erhöhen wie ihre verwertbare Produktivität. Letztlich handelt es sich auch hier um ein Narrativ, das die gemeinsame Versammlung (mit ‚flachen Hierarchien‘) einer in Produzierende und Konsumierende klar getrennten Welt den Vorrang gibt. Bei Söhne & Söhne ist im Anschluss an kritische Narrative von Sozial- und Geisteswissenschaft eine solche freie Versammlung klar als ökonomischer Zwang ohne jedes Glücksversprechen gekennzeichnet. Wo To‐ deserfahrungen, Trauer um Angehörige, persönliche Angst und einiges andere mehr für die Firma abgeschöpft werden sollen, fällt diese verkörperte Polemik gegen die ‚schöne neue Arbeitswelt‘ alles andere als subtil oder originell aus. Da die Besucher*innen der Performance-Installation jedoch tatsächlich in den eigenen psychischen Strukturen involviert und angegriffen werden, wird die Teilnahme an der sechsstündigen Veranstaltung auch für Besucher*innen, die mit den hier aufgerufenen Theorien vertraut sind, zu einer (Selbst-)Erfahrung. Auf einer allgemeineren Ebene findet sich in dieser partizipatorischen Thea‐ tersituation auch das an der ‚Partizipation‘ oft aufgehängte gesellschaftliche Versprechen konterkariert - und damit letztlich eine traditionelle Hoffnung der Theateravantgarden und ihrer Neuauflagen bezüglich Partizipation im Theater. Die Söhne & Söhne-Dystopie geht über einen kritischen Gestus hinaus, der der Welt außerhalb den Spiegel vorhält und das Publikum mit den eigenen Re‐ aktionen und Implikationen konfrontiert. Wie in anderen SIGNA-Produktionen auch ist in die scheinbar so beeindruckend geschlossene Söhne & Söhne-Fiktion eine kleine Utopie im wörtlichen Sinne eingebaut. Auf einen solchen Nichtort oder Unort, der vielleicht eher „atopisch[]“ 27 genannt werden müsste, scheint auf den zweiten Blick die gesamte Produktion ausgerichtet: In den Kommandoton der Söhne-Performer*innen mischt sich immer wieder eine religiös gefärbte Trauer; teils drängen sie einem die Ursprungsfiktion der Firma auf, teils ant‐ worten sie gerne auf Nachfrage: Der Kontakt zur Mutterfiliale der Ökonomie sei verloren gegangen; der böse Feind Politikos habe sich zwischen den Ursprung und seine Emanationen gestellt und gewinne immer mehr an Überhand. Die Rekrutierungsmaßnahmen, an denen man Teil habe, seien der (anscheinend 134 Martin Jörg Schäfer 28 Benjamin (2003). „Kapitalismus als Religion“, 15-18. 29 Vgl. Meier (2008). „Der Teufel in der Schublade“. 30 Programmzettel „Söhne & Söhne. Eine Performance-Installation von SIGNA“. (Urauf‐ führung 6.11.2015 am Deutschen Schauspielhaus), 1. 31 Ebd., S. 2. eher hilflose) Versuch, durch Weiterführung der Söhne & Söhne-Programmatik diesen Kontakt wiederherzustellen. Die Erzählung vom verlorenen Ursprung liefert durchgängig Hinweise auf den den Abend durchziehenden Schuld-Topos: Immer wieder werden Besu‐ cher*innen nach ihrer persönlichen Schuld befragt und aufgefordert, sich zu ihr zu bekennen und sie abzubüßen. Die an Walter Benjamins kurzen Text „Kapitalismus als Religion“ aufrufende Verquickung von ökonomischer und theologischer Schuld 28 wird in der Performance beim Wort genommen und so ins Komische gewendet: 29 Eine überdimensionale „Schuldpuppe“ muss durchge‐ hend von einer der Besucher*innen herumgetragen werden. Von der Absühnung der Schuld versprechen die Söhne sich die Wiedererlangung des Kontakts zum verlorenen Ursprung. Doch bevor die Dystopie in einem abschließenden Initiationsritus mündet (oder die Unwilligen flugs außer Hauses gebracht werden), wird das Geschehen im Laufe des Abends immer hektischer und diffuser. Der Herzschlag des Innenlebens der Filiale, der mit einem auf überlaut gestellten Babyphone durch das Gebäude übertragen wird, lässt sich immer unregelmäßiger vernehmen. Der Agamben-Text auf dem nach Verlassen des Gebäudes erhaltenen Pro‐ grammzettel unterfüttert das atopische Moment, das die vorigen sechs Stunden immer mehr bestimmt hat, theoretisch: Die Politikvergessenheit der europäi‐ schen Kulturgeschichte habe zum „Triumph der Ökonomie über jeden anderen Aspekt des gesellschaftlichen Lebens“ 30 geführt. In unausgesprochener Anleh‐ nung an Hannah Arendts The Human Condition sieht Agamben diese Entwick‐ lung durch die Orientierung der Theologie und ihrer Heilsgeschichten an Konzepten des privaten oikos (und der Haushaltsführung) statt der öffentlichen polis (und der Politik) orientiert. Von hier aus habe das Ökonomische sich zu einer „maßgeblichen Determinanten für das Schicksal unserer Kultur“ 31 entwickelt. Von Agamben her gelesen hat die in den vorherigen sechs Stunden religiös aufgeladene ökonomische Praxis jegliche Möglichkeit eines politischen Lebens immer schon vergessen und sich stattdessen zur Reproduktion einer permanenten Katastrophe verselbständigt. In diesem Sinne sind die Söhne von Söhne & Söhne immer schon der Ökonomie verschuldet, ohne dass sie noch Zugriff auf einen Vater hätten. Die von ihnen propagierte und praktizierte 135 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 32 Zum hier implizit aufgerufenen Konzept der Überaffirmation nach Lacan vgl. Zizek (2001). Die Tücke des Subjekts, 507-513. 33 Programmzettel „Söhne & Söhne“, S. 1. Übererfüllung 32 eines nicht mehr vom Geist erfüllten Gesetzes lässt zum Ende des Abends immer mehr die Vorstellung mitlaufen, die Vorherrschaft des Ökonomischen ließe sich von innen heraus - im forcierten Durchschreiten des Ökonomischen - vielleicht aufsprengen. Der Agamben-Text verdeutlicht, dass es inmitten der gerade erlebten ‚schönen neue Arbeitswelt‘ auch um das ging, was an ihrem Anfang verloren gegangen ist. Die Absühnung der Schuld soll ganz im Sinne der theologischen Dimension der Ökonomie zu ihrem Ursprung zurückführen. Dort steht aber, mit Agamben, die „Nähe und spezifische Differenz“ 33 zu einer Politik, die sich nicht der Haushaltsführung, sondern dem öffentlichen Leben verschrieben hat: Bei Agambens Gewährsfrau Arendt handelt es sich hier um die politische Phantasie einer freien Versammlung des freien Bürgertums. (Arendt 1998: 175-207) Auch im Hintergrund der autoritätsgeleiteten Versammlung der Ungleichen in Söhne & Söhne läuft also die Vorstellung von einer wahrhaftigeren Politik mit, die auf einer Versammlung von Gleichen beruht. Diese Vorstellung wird aber als das unerreichbare Andere gekennzeichnet, das in die Söhne & Söhne-Fiktion nur von ihren Rändern her hineinlugt. Das strukturelle Loch, das in SIGNA-Produktionen immer in die Fiktion eingebaut ist und aus der ihre scheinbare ‚Immersion‘ sich selbst zu untergraben scheint, wird im Fall von Söhne & Söhne durch die mitlaufende ‚Atopie‘ gedop‐ pelt. Hier geht es nicht zuletzt um eine unmerkliche Lücke in der Allgegenwart der Ökonomie und um eine unbekannte politische Existenz, deren Nichtort so doch näher rückt. Nicht zuletzt manifestiert sich diese Lücke in der allenthalben neben dem SIGNA-typischen Albtraum auch durchbrechenden grellen Komik: in der Detailversessenheit der Ausstattung, die doch bunt zusammengemischt scheint, in den zu großen und zu kleinen Reaktionen der Performer*innen, die stets die Oberhand zu behalten trachten und dabei manchmal die eigenen Regeln auf den Kopf stellen, in der Ernsthaftigkeit, mit der absurde Details wie die Schuldpuppe als für die nächsten sechs Stunden für lebenswichtig erklärt werden. Die Versammlung von Besucher*innen und Performer*innen behauptet nicht, als Versammlung schon eine Kritik an überkommenen Machtstrukturen darzustellen, ganz im Gegenteil. Die Söhne & Söhne-Produktion gewinnt ihren Impuls aber dadurch, dass dieses Versprechen der Versammlung ex negativo immer wieder anklingt. 136 Martin Jörg Schäfer Gegenfragen Im Theater nach Rousseau will eine Auflösung der Publikumssituation traditio‐ nell eine eigene Form der Kritik leisten: eine Kritik auch an jenen Trennungen, mit der sich traditionelle Modi von Kritik angeblich über ihren Gegenstand erhaben zeigen und die kritisierten Machtverhältnisse nur wiederholen. In der besprochenen SIGNA-Produktion kommt die Auflösung der Publikumssituation aber ihrerseits eher spielerisch zum Einsatz: als ein inzwischen bewährtes theatrales Mittel, das nun seinerseits überprüft und kritisiert werden kann. Vor allem kommt Söhne & Söhne ohne den Anspruch aus, mittels der Durchführung einer Versammlung den angeblichen Fallstricken des Theaters zu entkommen und zu einer Form der Eigentlichkeit vorzustoßen. Die Versammlung ist hier nicht als kritische Antwort an das falsche Theater, sondern als provokative, sich autoritär gerierende Frage konzipiert, die zwar zu faszinieren weiß, aber auch kritische Gegenfragen herausfordert: nicht ans Theater, sondern an die Wirklichkeit. Literatur Agamben, Giorgio (2005). „Theos, Polis, Oikos. Das Mysterium der Ökonomie auf der politisch-christlichen Bühne“. In: Lettre international 069, 60-62. Arendt, Hannah (1998). The Human Condition. London & Chicago: University of Chicago Press, 192-199. Barish, Jonas (1985). The Antitheatrical Prejudice. Berkeley & Los Angeles & London: University of California Press. Beck, Ulrich (2007). Schöne neue Arbeitswelt. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Benjamin, Walter (2003). „Kapitalismus als Religion“. In: Dirk Baecker (Hrsg.). Kapita‐ lismus als Religion. Berlin: Kadmos, 15-18. Benjamin, Walter (2006). „Zur Kritik der Gewalt“. In: Gesammelte Schriften, Bd. II.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 179-204. Bishop, Claire (2012). Artificial Hells. Participatory Art and the Politics of Spectatorship. London & New York: Verso. Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2003). Der neue Geist des Kapitalismus. Frankfurt am Main: UVK. Butler, Judith (2009). „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“. In: Rahel Jaeggi; Tilo Wesche (Hrsg.). Was ist Kritik? Frankfurt am Main: Suhrkamp, 221-246. Deleuze, Gilles (1993). „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“. In: Ders. Unter‐ handlungen. 1972-1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 254-263. 137 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung Derrida, Jacques (1993). Falschgeld. Zeit geben I. München: Fink. Etzold, Jörn (2015). „Armes Theater“. In: Maud Meyzaud (Hrsg.). Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus. Berlin: b-books, 50-74. Foucault, Michel (1992). Was ist Kritik? Berlin: Merve. Foucault, Michel (2004). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität. Band II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Frieze, James (2016). „Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance“. In: Ders.: Reframing Immersive Theatre. The Politics and Pragmatics of Participatory Performance. London: Palgrave Macmillan UK, 1-24. Horn, Eva (2014). Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main: Fischer. Kirsch, Sebastian (2008). „SIGNA oder die unheimliche Welt von Signa Sørensen und Arthur Köstler“. In: Theater der Zeit 5. Koschorke, Albrecht (2012). Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt am Main: Fischer. Latour, Bruno (2001). Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Latour, Bruno (2007). Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Berlin & Zürich: Diaphanes. Meier, Sybille (2008). „Der Teufel in der Schublade“. In: Herbst. Theorie zur Praxis 3. Müller-Schöll, Nikolaus (2016). „Das Problem und Potential des Singulären. 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Scheurle, Christoph (2012). „Partizipation im Theater - zwischen Spiel und Wirklichkeit“. In: Kunst und Kirche 1. Šklovskij, Viktor (1971). „Die Kunst als Verfahren“. In: Jutyi Striedter (Hrsg.). Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Mün‐ chen: Utb, 3-35. 138 Martin Jörg Schäfer van Eikels, Kai (2016). „What Your Spontaneity Is Worth to Us. Improvisation between Art and Economics“. In: Sabeth Buchmann et al. (Hrsg.). Putting Rehearsals to the Test. Practices of Rehearsal in Fine Arts, Film, Theater, Theory and Politics. Berlin: Sternberg Press, 22-31. Wihstutz, Benjamin (2013). „Ästhetische Relevanz und soziale Kontingenz. Zur Zuschau‐ erpartizipation bei SIGNA und LIGNA“. In: Frédéric Döhl et. al. (Hrsg). Konturen des Kunstwerks. Zur Frage von Relevanz und Kontingenz. München: Wilhelm Fink. Zizek, Slavoj (2001). Die Tücke des Subjekts. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 139 Zum Verhältnis von Kritik, Theater und Versammlung 1 Vgl. Hickethier (2010). Einführung in die Medienwissenschaft. 2 Vgl. Bleicher (2005). „Traditionslinien und Geschichte der Medienkritik“. www.lfmnrw.de/ fileadmin/ user_upload/ lfm-nrw/ Foerderung/ Forschung/ Dateien_Forschung/ Bd-48 -bleicher-traditionslinien-medienkritik.pdf. Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen Joan Kristin Bleicher „Fernsehen ist Kaugummi fürs Auge“. Dieses Orson Welles zugeschriebene Zitat verdeutlicht: Fernsehen ist ein Medium, dessen bisherige historische Entwicklung von kontinuierlicher Kritik begleitet wurde. Hingegen setzte die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Medium in Deutschland erst in den 1980er Jahren ein. 1 Die geisteswissenschaftlich ausgerichtete Medienwis‐ senschaft in Deutschland setzt sich u. a. mit historischen Entwicklungen der Medien, ihren Angeboten, ihren ästhetischen Grundlagen, Ordnungsmodellen, Erzählstrukturen und Dramaturgien auseinander. Auf diese Weise ermittelt die medienwissenschaftliche Forschung grundlegende Einblicke in die mediale Bedeutungskonstruktion und somit wichtige Erklärungsmodelle für mediale Wirkungsprinzipien. Bedingt durch diese inhaltlichen Schwerpunkte avanciert Medienwissen‐ schaft zur komplexen wissenschaftlichen Kritik der Medienangebote, ihrer inhaltlichen, dramaturgischen und formalen Vermittlungskonventionen. Me‐ dienwissenschaftlerInnen befassten sich dabei auch mit der historischen Ent‐ wicklung und den Erscheinungsformen der Medienkritik etwa in den Print‐ medien. 2 Zu den Schwerpunkten der bisherigen Forschung zur Medienkritik zählen: Akteure und ihre Konzepte, Publikationsorte, Angebotsauswahl, The‐ menschwerpunkte, Kriterien und Wirkung der Medienkritik. Analysiert werden Argumentationsmuster der Texte ebenso wie Formen und Funktionen von Medienkritik. Darauf aufbauend entstanden auch Untersuchungen zu Formen 3 Hinweis: Der folgende Beitrag aktualisiert und erweitert Ergebnisse eines 2001 von der Landesmedienanstalt NRW geförderten Forschungsprojektes des Hans-Bredow-Insti‐ tuts zur Kritik der Medienkritik, an dem die Verfasserin Joan Kristin Bleicher mitwirkte. 4 Vgl. Bleicher (2009). „Vom Programm zur Navigation? Ordnungsmodelle des Internet‐ fernsehen“, 520-537. 5 Vgl. Uricchio (2009). „The Future of a Medium Once Known as Television“. 6 Vgl. Bleicher (2012). „Theorie und Geschichte der Metareferenz im Deutschen Fern‐ sehen“, 183-194. und Funktionen der selbstreferentiellen Fernsehkritik. 3 Erscheinungsformen und Themenschwerpunkte dieser Erscheinungsformen kritischen Selbstbezugs stellt der folgende Beitrag vor. Perspektiven, Reichweiten, Angebotsformen und Funktionen des medialen Selbstbezugs Mit verschiedenen Begriffen erfassten MedienwissenschaftlerInnen Perspek‐ tiven, Reichweite, Angebotsformen und Funktionen des medialen Selbstbezugs. Der Begriff ‚Selbstreferenz‘ bezieht sich auf das Mediensystem und erfasst den Selbstbezug des Fernsehens im sich verändernden Medienensemble u. a. mit dem Ziel der Identitätskonstruktion gegenüber Online-Bewegtbildangeboten. 4 Innerhalb aktueller Verschiebungen des Mediensystems droht dem Fernsehen der Verlust der Position des Leitmediums mit kollektiver Relevanz an das Internet. 5 Erscheinungsformen der Selbstreferenz dienen in diesem Kontext der Konstruktion medialer Identität in Abgrenzung von konkurrierenden Medien. Aus kulturhistorischer Perspektive sind unterschiedliche Themenschwer‐ punkte und Angebotsformen der Selbstreferenz kein neues Phänomen. Es gibt bereits Romane über Romane (etwa Italo Calvino: Wenn ein Reisender in einer Winternacht) oder Filme über Filme und ihre spezifischen Illusionskon‐ zepte, Produktionsbedingungen oder Erzählweisen (z. B. Adaption). Aktuelle Erscheinungsformen der Selbstreferenz im Fernsehen beziehen sich auf Ent‐ wicklungen im Medienbereich wie etwa konvergierende Medienumgebungen. Bei der wachsenden Zahl von crossmedialen Verwertungen gilt es, die eigene Medienidentität zu betonen. Die Begriffe ‚Selbstthematisierung‘, ‚Selbstverweis‘ oder ‚Selbstbezug‘ er‐ fassen Erscheinungsformen der kritischen Auseinandersetzung mit beste‐ henden Sendungsangeboten. Den Wechsel dieser Selbstthematisierung in eine reflexive Metaebene und ihre Funktionspotenziale erfasst der Begriff ‚Metare‐ ferenz‘. 6 142 Joan Kristin Bleicher 7 Zitiert nach: Zimmermann (1992). Fernseh-Dokumentarismus. Bilanz und Perspektiven, 31. Zur historischen Entwicklung von Dokumentationen als Fernsehkritik im Fernsehen Eine sachorientierte kritische Reflexion des eigenen Mediums findet in Deutschland traditionell in Fernsehdokumentationen statt. Hier werden so‐ wohl Senderstrategien, die Produktion als auch Entwicklungen von Programm‐ schwerpunkten und Aspekte von Wirkung und Nutzung thematisiert. In der Dokumentation „Fernsehfieber. Bericht über das Massenmedium Fernsehen und sein Publikum.“ (SDR), die in der ARD am 25.6.1963 ausgestrahlt wurde, setzten sich Dieter Ertel und Georg Friedel mit dem Zuschauerverhalten und seinen möglichen Folgen auseinander. Bereits in dieser Dokumentation fragte der Dokumentarfilmer Dieter Ertel FernsehzuschauerInnen nach ihrer Bewertung des Programms. Schon damals wurden vor allem Wiederholungen und die fehlende Qualität der Sendungen beklagt. Ein Tübinger Kunstprofessor forderte im Interview mit Friedel eine medieninterne Selbstkontrolle und bemerkte - natürlich unter Verwendung eines Goethe-Zitates - kritisch zum visuellen Charakter des Mediums: Dummes Zeug kann man viel reden / Kann es auch schreiben / Wird weder Leib noch Seele töten / Es wird alles beim alten bleiben / Dummes aber vor’s Auge gestellt / Hat ein magisches Recht / Weil es die Sinne gefesselt hält / Bleibt der Geist sein Knecht. 7 Nicht nur das Medium ‚Fernsehen‘, auch einzelne Sendungskonzepte waren Gegenstand der Fernsehkritik im Fernsehen. Am 2.10.1970 wandte sich Wilhelm Bittorf in der ARD-Reihe „Zeichen der Zeit“ den ethischen Problemen einer an die Mitwirkung der ZuschauerInnen appellierende Fahndungsreihe zu: „Zimmermanns Jagd. Beobachtungen zu der Sendung ‚Aktenzeichen XY … un‐ gelöst.‘“ (SDR). Dieser Beitrag, der u. a. die mediale Form des Denunziantentums thematisierte, löste heftigste Proteste des ZDF aus. Eduard Zimmermann und der damalige Programmdirektor Josef Viehöver versuchten, die Ausstrahlung der Dokumentation zu verhindern. Der Blick in die Fernsehentwicklung anderer Länder erweiterte die dokumen‐ tarische Blickrichtung auf das eigene Programmangebot. In seiner Dokumen‐ tationsreihe „Auf der Suche nach der Welt von morgen“ informierte Rüdiger Proske in der ARD am 29.8.1968 über „Die neue Welt des Fernsehens“ (NDR) in den USA. Diese neue Welt beeinflusste auch die Entwicklung deutscher Fernsehprogramme, was im Rückblick Sammelbände wie „Am Fuß der blauen 143 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 8 Die Sendung wurde zunächst am 28.8.1971 im Dritten Programm des WDR und schließlich in der ARD am 7.9.1971 ausgestrahlt. 9 Vgl. Hickethier (1995). „Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells“, 63-84. 10 Wiebel (1971). „Das Fernsehen ist kein ‚großer Bruder‘ - Skizzen zu einer Werkstatt der Medienkritik“, 8-9. Berge“ (1993) von Bernd Müllender und Achim Nöllenheidt veranschaulichen. Thilo Koch setzte sich in „Die rote Optik“ ideologiekritisch mit dem Fernsehen in der DDR auseinander. Dieses wiederum präsentierte in Karl Eduard von Schnitzlers „Der schwarze Kanal“ Sendungsausschnitte des Westdeutschen Fernsehens. Kritische Diskurse über das eigene Medium fanden auch in Talkshows statt. Die Berliner Funkausstellung 1971 war Ort der Aufzeichnung von „Wer im Glashaus sitzt … muß mit Steinen rechnen“ 8 einer noch als Gesprächssendung bezeichneten Diskussion unter Leitung von Werner Höfer (WDR/ SDR). Bereits der Sendungstitel deutet die Zielsetzung an, das „TV-Medium für die Konsu‐ menten durchsichtiger“ zu machen. Diese Transparenz ermöglichte Einblicke in den unsichtbaren Teil des Fernsehdispositivs, die Produktion. 9 Am 8.10.1972 folgt in der ARD der Ausstrahlungsbeginn der medienkritischen Sendereihe „Glashaus“ (WDR), die alle zwei Monate in der nutzungsschwachen Sendezeit am Sonntagnachmittag von 14.00 bis 14.45 Uhr (moderierte Studio-Live-Sen‐ dung in Farbe mit Einspielfilmen) gesendet wurde. Zu den Zielsetzungen der gleichnamigen Sendereihe unter Redaktionsleiter Hans-Geert Falkenberg gehörten u. a. Bedingungen einer Produktion offenlegen, journalistische Mittel und Methoden erörtern, Sehgewohnheiten analysieren und Programm-Politik deutlich machen. Die Sendung war, so der damals zuständige WDR-Redakteur Martin Wiebel 10 , eine Weiterentwicklung der beiden WDF-Reihen „Kritik-Re‐ plik“ (Fernsehmacher beantworten Zuschauerpost) und Reflexe (Fachkritiker rezensieren das Programmangebot). Insbesondere in den bildungsorientierten Dritten Programmen fanden sich medienkritische Sendereihen. Bereits 1967 hatte der WDR in der zwölfteiligen Reihe „Die vierte Gewalt. Untersuchungen über Formen und Regeln der öf‐ fentlichen Meinung“ versucht, die Medienkompetenz der ZuschauerInnen zu erhöhen. Das Konzept setzte die sechsteilige Reihe „Die Macht der Signale. Kommunikation und Gesellschaft“ fort. 1970 und 1971 wurden in der Sendereihe „Reflexe“ Wochenrückblicke von FernsehkritikerInnen präsentiert. Als Diskursproduzent verstand sich auch die ideologiekritische Fernsehkritik der siebziger Jahre. Ihr Versuch, nicht mehr allein die Produktionen in ihrer ästhetischen Gestalt zu beurteilen, sondern auch die ideologischen Hintergründe, die in die Pro‐ 144 Joan Kristin Bleicher 11 Waldmann (1988). „Fernsehen im Fernsehen. Transparenz, Medienkunde, Selbstkritik“, 22. 12 Wiebel (1971). „Das Fernsehen ist kein ‚großer Bruder‘ - Skizzen zu einer Werkstatt der Medienkritik“, 8f. dukte eingeschriebenen gesellschaftlichen Vorstellungen, die Genrezusammenhänge, die Produktionskontexte einzubeziehen, war an das Publikum adressiert. 11 Kritik verstand sich als Aufklärung des Zuschauers mit dem Ziel, mündige und selbstbestimmte Medienrezeption zu ermöglichen. „betrifft: fernsehen“ (ZDF) und „Glashaus“ (WDR) waren medienkritische Reihen, die neben aktu‐ ellen Programmentwicklungen auch Produktionsbedingungen, die Machart von Fernsehsendungen, ihren Ideologiegehalt und Aspekte von Wirkung und Nutzung beleuchteten. Den Bereich der Produktion machte auch die Sendereihe „TV intim - Vor der Sendung notiert“ (SWF, ab 1970) transparent. Produktions‐ berichte gerieten hier jedoch wie in vergleichbaren Sendungen der 1990er Jahre manchmal zu Formen der Senderwerbung. Bernward Wember analysierte kritisch anhand von Sendungsbeispielen und ihren Darstellungsformen mit Aspekten der Wirklichkeitskonstruktion in „Wie informiert das Fernsehen? “. Wember fungierte in seiner 1975 zur besten Sen‐ dezeit in der ZDF-Reihe „betrifft: fernsehen“ ausgestrahlten Dokumentation als Kritiker, Journalist und Wissenschaftler in einer Person. Anhand von ZDF-Beiträgen über den Nordirland-Konflikt übte er vehemente Kritik am durch schnelle Schnitte und Kamerabewegungen erzeugten Augenkitzel und der Text-Bild-Schere, die die Zuschauer desinformiert, aber dank der visuellen Ab‐ wechslung zufrieden zurücklasse. Wember hingegen versuchte, die Zuschauer mit Grafiken und Maschinengewehr-Geratter aufmerksam zu machen und über formale und inhaltliche Gegebenheiten von Fernsehinformationssendungen zu informieren. Die fernsehinterne Fernsehkritik stand in den 1970er Jahren im Zeichen me‐ dienpädagogischer Zielsetzungen. Der WDR-Redakteur Martin Wiebel schrieb: „Die Kritik des Fernsehens im Fernsehen wird zuerst eine Arbeit von unabhän‐ gigen Kritikern, Journalisten und Fachwissenschaftlern sein müssen, deren Rolle die des kritischen Lehrers ist. Der Charakter der Kritik ist notwendig medienpädagogisch und -didaktisch …“ 12 Als Endprodukt dieser diversen Formen der Medienkritik war der aufgeklärte medienmündige und -kritische Zuschauer vorgesehen. Seit den 1980er Jahren fand die medieninterne Kritik vor allem im Bereich von Fernsehparodien statt. Die Anzahl fernsehkritischer Magazinreihen hingegen war rückläufig. 145 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 13 Kosseleck (2000). Zeitschichten. Studien zur Historik. Senderrückblicke als Dokutainment. Dokumentationen über Fernsehgeschichte Anlässlich von Senderjubiläen werden Dokumentationen im Programm plat‐ ziert, die Sendergeschichte zum Inhalt haben und dabei auch Kritik an den Kon‐ zepten und Angeboten konkurrierender Sendeanstalten üben. Die in den Dritten Programmen ausgestrahlten Dokumentationen „40 Jahre WDR“ (1995) und „40 Jahre NDR“ (1996) waren in vergleichbarer Form konzipiert und gestaltet. Darstellungselemente aus dem Bereich der Information, wie Interviews mit Zeitzeugen, und dem Bereich der Unterhaltung, wie Sendungsausschnitte aus Fernsehshows, verbinden sich zu einer Form der dokumentarischen Senderwer‐ bung. Die Geschichte der Rundfunkanstalten erscheint in der Sendungsstruktur als eine Geschichte ihrer Programmhighlights. Im Sendungsaufbau wird in der additiven Anordnung der Bildausschnitte und dem verbindenden Kommentar der Eindruck kausaler Entwicklung erzeugt. Alles hat sich in der präsentierten Weise und nicht anders entwickelt. Doch was wird an Beispielen zugelassen? In den 1990er Jahren dominierten, der allgemeinen kommerziellen Ausrichtung des Fernsehens in dieser Zeit entspre‐ chend, Unterhaltungsprogramme die Senderrückblicke. Fast nur Menschen, die vor der Kamera agieren, kamen in den Rückblicken als ZeitzeugInnen zu Wort. Köpfe von Fernsehstars, seien es nun ModeratorInnen oder SchauspielerInnen, wurden als Ikonographie des Mediums genutzt. Sie sichern als Identifikati‐ onspotenzial die Aufmerksamkeit der ZuschauerInnen. MitarbeiterInnen des Produktionsbereichs kamen nur selten zu Wort. Es bleibt nach dem blinden Fleck im Auge des Selbstbeobachters der Sender‐ geschichte zu fragen. Der Blickwinkel der DokumentaristInnen richtete sich ausgehend von der Interessenslage an Einschaltquoten auch auf andere Perspek‐ tiven und historische Interessen. So dominieren Unterhaltungsinteressen der Gegenwart auch viele Rückblicke. Sendergeschichte avanciert zur Geschichte der Quotenerfolge einstiger Programmhöhepunkte. Dieses Verfahren findet sich in ähnlicher Form auch in der Geschichtswissenschaft. Der Historiker Reinhart Kosseleck wies darauf hin, dass jede Form der Geschichtsschreibung nur als Konstruktion möglich ist. 13 So unterscheiden sich auch dokumentarische Formen im Fernsehen, Sendergeschichte zu thematisieren. Der WDR beispiels‐ weise präsentiert sich neben der Unterhaltung auch als Informationssender, der sich im Bereich des investigativen Journalismus engagiert. Heinrich Breloer prä‐ sentierte in seiner mehrteiligen Dokumentation über die Geschichte der Dritten 146 Joan Kristin Bleicher 14 Breloer (1986). Die Geschichte des Dritten Fernsehprogramms. 15 Buß (2011). Doku über Babyfernsehen: Glotzen, bis die Synapsen qualmen. www.spiegel .de/ kultur/ tv/ doku-ueber-babyfernsehen-glotzen-bis-die-synapsen-qualmen-a-742984. html. Programme Bildungs-, Diskussions- und Kultursendungen und verknüpfte sie mit Interviews von Programmverantwortlichen, die über Programmkonzepti‐ onen informierten. 14 In der damaligen Fernsehlandschaft wurde die Konkurrenz zu den kommer‐ ziellen Sendeanstalten thematisiert. Der damalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen betonte den eigenen qualitativen Anspruch gegenüber der bloßen Quotenori‐ entierung der kommerziellen Anbieter. Sportjournalisten wie Addy Furler beklagten die Preisspirale bei den Übertragungsrechten für Sportereignisse. Doch die Kommerzialisierung erfasste im weiteren Verlauf der Programment‐ wicklungen auch Bereiche wie das Kinderfernsehen. Die Thematisierung von Senderkonzepten und ihre ethischen Probleme behandelt der Fernsehkritiker Christian Buß anhand einer Dokumentation über US-amerikanischer Programmentwicklungen 2011. Die Arte-Dokumentation „Fernsehen aus dem Fläschchen“ zeige, wie die TV-Industrie schon Kleinst‐ kinder an sich zu binden versuche - und thematisiere auch die Überforderung dieser Zielgruppe. Einschlafkrise in Amerikas Babybettchen: Als der Kabelanbieter, der den Sender BabyFirst in seinem Repertoire hat, letztes Jahr für ein paar Stunden in der Nacht sein Programm aussetzen musste, kam es in vielen Familien zum Ausnahmezustand. Es gingen hunderte von Anrufen verzweifelter Eltern ein, die nicht wussten, wie sie ihren Nachwuchs trösten sollten. Denn der ist daran gewöhnt, mit den von BabyFirst ver‐ breiteten Bildern in den Schlaf zu gleiten, also zum Beispiel mit computeranimierten Versionen von Aquarien oder Mobiles. 15 Zur dokumentarischen Kritik von Programmentwicklungen Einen Fokus fernsehkritischer Dokumentationen seit den 1990er Jahren bilden aktuelle Programm- und Formatentwicklungen etwa im Unterhaltungsbereich. So setzte sich „Panorama. Das Lügenfernsehen“ kritisch mit den Sendungskon‐ zepten, Produktionsbedingungen und Authentisierungsstrategien von Reality Formaten auseinander. Die Dokumentation „Die Kandidaten: Einmal im Leben bei Wetten dass? “ (ZDF 1997) begleitete Josef Kratz und Peter Hausner bei den Vorbereitungen für die Sendung, während der Sendungsaufzeichnung und 147 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 16 ZDF (1997). Dokumentation „Die Kandidaten: Einmal im Leben bei Wetten dass? “. http: / / oktoberfilm.de/ die-kandidateneinmal-im-leben-bei-wetten-dass/ . 17 Strigel; Verhaag (1994). Bleiben Sie dran. Denkmal-film.de. http: / / www.denkmal-film. de/ abstracts/ Glotze.html. 18 Ebd. beobachtete auch die Reaktionen ihres sozialen Umfelds nach der Sendung. Die Regisseurin Susanne Binninger bemerkt zu ihrem Konzept: Mich haben die Menschen interessiert, die die Teilnahme als Herausforderung emp‐ finden. Ihre Beweggründe, ihre Erlebnisse und Gefühle; nicht nur das Ereignis, sondern auch die Nebenschauplätze, das lange Warten und die Tage nach dem Auftritt. Deshalb habe ich die Kandidaten auch in unspektakuläre Situationen begleitet, in Garderoben, Kantinen und Hotelzimmer. Sie haben mich auf ihre Reise in die Welt des Showbiz mitgenommen. 16 Bertram Verhaag und Claus Strigel wählten eine andere Perspektive und befassten sich in „Bleiben Sie dran“ (1994) mit der tatsächlichen Fernsehnutzung, die er durch eine kleine Kamera hinter der Bildschirmoberfläche in den Woh‐ nungen dokumentierte. Dabei werden auch die Gespräche über das Fernsehen gezeigt, die viel Auskunft über die Bedeutung des Mediums im Leben der ZuschauerInnen vermitteln. Georgina F., 41 beispielsweise erzählt: […] weil bei uns im Edeka, die machen um Zwölf zu. Genau um Zwölf ist aber das Familienduell zu Ende, also muß ich bis 14: 30 warten bis die wieder aufmachen. Und in dieser Zeit kommt auch nichts, das ist für mich tote Zeit. Aber um halb drei kommt Alf. Also: Wann soll ich einkaufen? 17 Ihr Zitat steht exemplarisch für die kritische Betrachtung der zentralen Bedeu‐ tung des Mediums im Leben der Menschen. Diese Kritik wird auf eine generelle Kritik des Mediums erweitert: Ein Medium, das Bereicherung versprach, wird als Droge zum „Abschalten“ genutzt. Persönliche Erfahrungen des Tages werden allabendlich weggezappt, die Träume der Nacht im Frühstücksfernsehen ertränkt. Was Kommunikation versprach, brachte Isolation: Unterhaltung statt Unterhaltung. Der Traum von 2-Wege-Kommunikation und Bürgerbeteiligung auf den Kabelkanälen wird in Ratespielen und Gameshows realisiert: Jeder kann dabei sein, vorausgesetzt er versteht es, auf den Füßen zu pfeifen oder Briefmarken an ihrem Geruch zu erkennen. Das Fenster zur Welt verkommt zum Schlüsselloch der Voyeure an fremdem Leid. 18 Die in der Dokumentation präsentierte Fernsehnutzung bildet somit den Aus‐ gangspunkt einer Kritik am Funktionsverlust des Mediums. 148 Joan Kristin Bleicher 19 Vgl. Manderbach (1988). Das Remake. Studien zu seiner Theorie und Praxis. 20 Vgl. Bleicher (1997). Programmprofile kommerzieller Anbieter. 21 Vgl. Bleicher (2007). “The Old in the New: Forms and Functions of archive material in the presentation of television history on television”. Wiederverwertung von Sendungsausschnitten im Spannungsfeld von Ökonomie und Kritik Die im Fernsehen in Formaten wie „Kalkofes Mattscheibe“ vorhandenen kriti‐ schen Selbstbezüge durch Wiederverwertung von Sendungsausschnitten des Unterhaltungsbereichs stellen aus ökonomischer Perspektive eine kostengüns‐ tige Form der Reproduktion dar. Vorhandenes Sendungsmaterial lässt sich in neuen Sendungen wiederverwerten. Es entsteht auf dieser Basis ein Angebots‐ wachstum durch gezielte Wiederholung im neuen Programmzusammenhang. Untersucht wurden in diesem Kontext auch Phänomene wie Wiederholungen, Remakes 19 oder Reinszenierung von Sendungen. Auch auf die Attraktivität der Wiederholungen achten Programmplane‐ rInnen, denn die Präsentation von Fernsehen im Fernsehen fokussiert das Unterhaltungsversprechen auf das eigene Medium. Auf dieses Weise wird dem Fernsehen ein besonderes Potenzial in der Vermittlung von Unterhaltungs‐ erlebnissen innerhalb des Mediensystems zugesprochen. Aus ökonomischer Perspektive zeigen sich die Folgen der immer stärker ausdifferenzierten Ziel‐ gruppenvorgaben der Programmplanung in sinkenden Möglichkeiten des Me‐ diums als breitenwirksame Werbefläche zu fungieren, aber auch geschlossene gesellschaftliche Diskurse mit hoher Reichweite zu ermöglichen. 20 Der Begriff ‚Selbstthematisierung‘ erfasst diese Erscheinungsformen und Funktionen der Reproduktion vorhandenen Sendungsmaterials auf der Pro‐ grammebene. 21 Zu den Funktionen zählen nicht nur die Sicherung der Inhalte, sondern auf dieser Sicherung aufbauende Varianten, das als Zeitpfeil in die Zukunft gerichtete Programmangebot aufrecht zu erhalten. Das als Fluss er‐ scheinende Programm setzt sich aus Rastern zusammen, die mit gleichförmigen Sendeformen und bestehenden Inhalten gefüllt werden. Jedoch bleibt bei diesem Verfahren der Anteil thematischer und formaler Innovationen gering. Fernsehkritik in der Fernsehfiktion: Formen und Funktionen von Selbstverweisen Die Bezeichnung ‚Selbstverweis‘ erfasst Bezüge auf Genrekonventionen, Sen‐ dungsinhalte und Darstellungsmittel in der Fernsehfiktion. Die Erscheinungs‐ formen einer quotenorientierten Konzeption und Produktion von Unterhal‐ 149 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen tungsshows war bereits Stoff von Fernsehspielen wie etwa Wolfgang Menges „Millionenspiel“ (ARD 1970). Menges Gameshow-Konzept wurde damals als unrealistische Antiutopie kritisiert. Aus heutiger Perspektive erscheint es je‐ doch eher realistisch und wenig spektakulär. Die Spielregel der televisionären Menschenjagd gab vor, dass der Kandidat sieben Tage Zeit hat, um einem Killerteam zu entkommen. Überlebt er, gewinnt er eine Millionen DM. Der damals als Moderator populäre Dieter Thomas Heck moderierte die abendliche Zusammenfassung der Tagesereignisse. Im Zentrum der Handlung des Fern‐ sehfilms stand der letzte Tag der Show. Die Killer warten bereits im Studio auf den flüchtenden Kandidaten. Viele Zuschauer hielten die Sendung für eine echte Gameshow und bewarben sich als KandidatInnen oder Killer. Menges Intention war es jedoch, eine kritische Diskussion über ethische Grenzen der Fernsehunterhaltung anzuregen. Ähnliche Differenzen zwischen Konzeption und Zuschauerreaktion zeigten sich bei der „Private Life Show“ (ARD 1995). Das Fernsehspiel des Romanau‐ tors Burkhard Driest kritisierte Talkshowproduktionen kommerzieller Sende‐ anstalten, insbesondere im Umgang mit den jeweiligen Gästen. Der Moderator zerrte wie seine KollegInnen skrupellos die intimsten Geheimnisse seiner Gäste ins Studiolicht der Öffentlichkeit. Bedingt durch die Ähnlichkeiten mit dama‐ ligen Daily-Talk-Formaten dachten einige ZuschauerInnen, die ARD imitiere nun Inszenierungsmuster kommerzieller Sendeanstalten. Selbstverweise finden sich auch als ironische Verfremdungen von Hand‐ lungs- oder Figurenstereotypen in Fernsehgenres. So setzt sich die US-Serie „Soap“ selbstkritisch mit Rollenmustern und narrativen und dramaturgischen Stereotypen von Langzeitserien auseinander. Animationsserien wie „South Park“ oder „Die Simpsons“ übertreiben genre- und formatspezifische Stereo‐ typen von Inhalten und Darstellungsweisen: Protagonist Homer Simpson wünscht sich einen teuren Plasmafernseher. Das notwendige Geld verdient er als Kandidat in der US-Realityshow „Wife Swap“ (ABC) (das Vorbild des Formats „Frauentausch“ (RTL II)). Die humoristischen Effekte der Episode basieren auf Homers Unkenntnis der showspezifischen Spielregeln wie etwa dem mehrtägigen Zusammenleben mit einer fremden Frau. Es werden auch vergangene Handlungsabfolgen in die aktuelle diegetische Welt einbezogen. Diese Form des Selbstverweises findet sich in Langzeitserien wie etwa in der „Lindenstraße“ (ARD). Selbstironisches Spiel mit Konventionen der Werbung steigert potenziell die Attraktivität von Fernsehwerbespots. Die zentrale Präsentationsform der Kritik ist die Wiederholung: Ein Sendungsaus‐ schnitt wird solange gezeigt, bis sich seine Absurdität auch dem unkritischsten Zuschauer erschließt. 150 Joan Kristin Bleicher 22 Kölner Stadtanzeiger (2017). www.ksta.de/ kultur/ kritik-zum-tatort--level-x--absurdes -drehbuch-zeigt-eine-einfaeltige-generation-youtube-27768292? cb=1606338288736. 23 Tatort-Pressestimmen (2017). „Bleierner Humor, klischeehafte Figuren“ - Augs‐ burger-Allgemeine: www.augsburger-allgemeine.de/ panorama/ Tatort-Pressestimmen -Bleierner-Humor-klischeehafte-Figuren-id41703846.html. Fernsehkritik im Fernsehkrimi Als televisionäre Gesellschaftsromane befassen sich Fernsehkrimis wie die Tatort-Reihe der ARD nicht nur mit der kritischen Beobachtung gesellschaft‐ licher Entwicklungen, sondern auch mit den Veränderungen des eigenen Mediums. Einen thematischen Fokus bildet der Bereich der Produktion. Ins‐ besondere medienethische Probleme in den Bereichen Sendungskonzeption und -produktion bilden den Ausgangspunkt der Handlung. Skrupellose Rea‐ lity-TV-ProduzentInnen werden in der Episode „Allmächtig“ (BR 2013) ebenso thematisiert wie die Hintergründe der Produktion von Volksmusiksendungen in den Episoden „Und die Musi spielt dazu“ (BR 1994) und „Auf einen Schlag“ (MDR 2016). Kritisch thematisiert werden auch Produktionsabläufe konkurrie‐ render Medien. So setzt sich die Episode „Level X“ (MDR) des „Tatort“ mit der Produktion von YouTube-Videos auseinander. Der Kölner Stadtanzeiger fasste die Handlung wie folgt zusammen: Simson (Merlin Rose), der eigentlich Robin hieß, war ein Star im Internet und spielte anderen in lustigen Videos Streiche. Diese Pranks brachten ihm und seinem schmierigen Manager Magnus Cord (Daniel Wagner) viel Geld ein. Blöd nur, dass der 17-Jährige nach einem seiner Scherze vor laufender Kamera erschossen wurde. 22 Spiegel Online konstatierte zusammenfassend: „Sachsen im Selfie-Rausch, Dresden im YouTube-Wahn. Dieser Tatort, man kann es nicht anders sagen, ist ein Produkt öffentlich-rechtlicher Netz-Paranoia.“ 23 Der TV-Movie „Der Sandmann“ (RTL II) kritisiert die quotenträchtige Insze‐ nierung von Talkshows. Die Plotzusammenfassung des Moviepilot scheint den Konventionen eines Thrillers zu entsprechen. Die Fernsehredakteurin Ina erhält die Chance, zum ersten Mal eigenverantwortlich für eine Sendung zu recherchieren. Sie soll Informationen über einen Serienmord-Autor namens Kupfer sammeln. Zunächst ist sie fasziniert von Kupfer, doch mehr und mehr erhärtet sich ihr Verdacht, Kupfer habe selbst einige Morde verübt. Auf eigene Faust begibt sie sich auf gefährliche Nachforschungen, um Kupfer während der Livesendung mit ihrem Verdacht zu konfrontieren. Derart in die Enge getrieben, flieht Kupfer aus 151 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 24 Moviepilot (o. J.). https: / / www.moviepilot.de/ movies/ der-sandmann. der Sendung. Ina feiert ihren Triumph. Zuhause wartet er jedoch auf sie - um an ihr einen grausamen Ritualmord zu vollziehen? 24 Diese Zusammenfassung geht jedoch nicht auf den Schlussdialog zwischen Kupfer und Ina ein. Kupfer erläutert ihr die vereinbarte Win-Win-Situation zwischen ihm und der Redaktion. Ein quotenträchtiger Talkshowauftritt ist Grundlage der gesteigerten Auflagenhöhe seiner Bücher. Die Kritik zielt auf die Dominanz ökonomischer Interessen, die die Wiedergabe der Wirklichkeit des Mediums durch die Inszenierung von Wirklichkeit ersetzt. Perspektivwechsel der Fernsehkritik: Von der Außenzur Innenbeobachtung Die Fernsehkritik im Fernsehen kennzeichnet ein grundlegender Medien‐ wechsel von der Außenbeobachtung in den Printmedien zur Innenbeobachtung aktueller Entwicklungen und Sendungsangebote. Durch die Ablösung der reflexiven Kritik in den Printmedien avanciert Fernsehkritik vorzugsweise zur Unterhaltung. Fernsehkritik im Fernsehen verlässt so die bisher untersuchten Blickwinkel der Fernsehkritik, in denen JournalistInnen und KritikerInnen der Printmedien aus einer Beobachterperspektive die Programmentwicklung des Fernsehens begleiten. Im Fernsehen ist Fernsehkritik Teil des laufenden Programms und passt sich den Genrekonventionen der jeweils genutzten Sendeform an. Diese Konventionen beeinflussen Form und Inhalt der kritischen Beschäf‐ tigung mit dem Medium. So ist die Kritik gerade im Unterhaltungsbereich weniger reflexiv und distanziert, sondern bleibt dem Ziel der Unterhaltung des Zuschauers verpflichtet. Durch die in der Wiederholung möglich gewordene Reproduktion des bereits Gesendeten in neuen Sendungszusammenhängen wird das Fernsehen direkt als Objekt der Belustigung zur Anschauung frei‐ gegeben. Die Reproduktion des bereits gesendeten Bildmaterials erfolgt in neuen Zusammenhängen. Die eigentliche Bewertung des Gezeigten bleibt den ZuschauerInnen überlassen. Bisherige Sendeformen aus dem Bereich kabarettistischer Unterhaltung wie etwa Thomas Freitags „Freitags Abends Medienkunde für Anfänger“ (ARD) legten durch die übertreibende Imitation vorhandener Genremerkmale durch einen Kabarettisten die formalen und inhaltlichen Konventionen der Fernseh‐ unterhaltung offen. In diesen Sendereihen wurden ZuschauerInnen bereits als mündige NutzerInnen angesprochen. Ihr Genrewissen war unverzichtbare 152 Joan Kristin Bleicher 25 Vgl. hierzu Frieske (1998). Selbstreferentielles Entertainment. Televisionäre Selbstbezüg‐ lichkeit in der Fernsehunterhaltung, 4. Voraussetzung, die parodistischen Anspielungen zu verstehen. Gleichzeitig betonte das Medium ‚Fernsehen‘ in diesen kabarettistischen Formaten seine Fähigkeit zum ironischen Selbstbezug. 25 Das Spektrum von Fernsehkritik im Fernsehen erweiterte und veränderte sich seit den 1990er Jahren schrittweise. Als erfolgreiche Comedyshow passte „Samstag Nacht“ (RTL) nach dem US-Vorbild „Saturday Night Live“ die Struktur seiner Gags etablierten Grundmustern der linearen Programmstruktur mit einem ständigen Wechsel der Sendeformen an. Die Sendung enthielt Parodien auf Fernsehserien wie „Derrick“, kirchliche Verkündigungssendungen („Bruder Gottfried und die singenden Nonnen“), Talkshows („Schreinemakers - ihre Schwester Show“, „Zwei Stühle - eine Meinung“) und die „Samstag Nacht Nachrichten“ (inklusive Sportteil). Ordnungsprinzipien der Angebotsfläche des Fernsehens bildeten Strukturvorgaben für die Parodie im Showformat. Hape Kerkeling richtete in seiner - nach dem Grundmuster der Personality Show konzipierten - Sendung „Total normal“ (ARD) seine parodistischen An‐ griffe auf Showformate der kommerziellen Sendeanstalten, was optisch schon in Angleichungen der Studiodekoration erkennbar wurde. Den schonungslosen Umgang mit KandidatInnen in Gameshowformaten enttarnte Kerkeling durch seine wiederholten Angriffe auf das immer gleiche Opfer, Frau Usenburger, die einzige Kandidatin der Show. In den Sendungsablauf waren zusätzliche Sketche integriert, die standardisierte Präsentationsformen des Fernsehens parodierten. Zentrale Bestandteile von „Total Normal“ waren die von einem Kamerateam begleiteten Aktionen Kerkelings. Er durchbrach ritualisierte Hand‐ lungsabläufe, indem er vorgegebene Regeln ad absurdum führte. Das Ritual der Bambi-Preis-Verleihung an beliebte Fernsehstars unterlief Kerkeling, indem er bereits vor dem Zeitpunkt der offiziellen Preisübergabe goldene Bambis an alle verteilte, die den Veranstaltungsort betraten. Das aus Fernsehnachrichten bekannte Ritual der Präsentation des Haushaltsplans in einer Pressekonferenz durch einen Sprecher der Bundesregierung durchbrach Kerkeling mit konkreten Fragen nach der Verwendung seines persönlichen Steuergelds und der Kritik an der Verständlichkeit der vermittelten Informationen. Die SZ betonte den medienkritischen Aspekt von „Total normal“: Er (Hape Kerkeling, Anm. d. Verf.) will das Fernsehen mit dessen eigenen Mitteln schlagen: Das ganze Leben ist ein Quiz, lautet seine Losung, und der folgt er auf Teufel komm raus. Mit entsprechend diabolischem Vergnügen führt er das, was man Unterhaltung nennt, vor. Aus der Show macht er eine Schau, und sein doofes 153 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 26 O.V. (1992): „Kritik zu Total Normal“. In: Süddeutsche Zeitung 117 vom 21.5., 11. 27 Jameson (1986). „Postmoderne - Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus“, 61. Mitropa-Quiz läßt keine Fragen offen. Seine Antwort auf ‚Alles oder Nichts‘ lautet im Zweifelsfall: oder? 26 Die Globalisierung der Metareferenz im Deutschen Fernsehen Seit den 1990er Jahren lässt sich eine Globalisierung metareferentieller Bezüge im Deutschen Fernsehen beobachten. Sendungsfragmente unterschiedlicher Fernsehkulturen bilden kurze additive Inhalte unterschiedlicher Showformate wie etwa „Darüber lacht die Welt“ (Sat.1). Die Reflexionsebene reduziert sich auf Kommentare der als Moderatoren agierenden Comedians wie etwa Hape Kerkeling oder Mike Krüger. Der Fokus ihrer kommentierenden Beobachtungen liegt in den Entwicklungen von Unterhaltungsformaten oder der Werbung unterschiedlicher nationaler Fernsehkulturen. „Zapping International“ (ARTE), „Krüger sieht fern“ (RTL) oder „Die witzigsten Werbespots der Welt“ (Sat.1), moderiert von dem Comedian Ingo Oschmann, betonen die Unterschiede der präsentierten Ausschnitte zu der Deutschen Fernsehkultur. Auf diese Weise wird das Eigene und das Fremde von Unterhaltung und Werbung immer wieder neu definiert. Mit der schrittweisen Zunahme konvergenter Entwicklungen im Bereich der Showunterhaltung bei gleichzeitig sinkenden qualitativen Ansprüchen werden seit den 1990er Jahren parodistische Übertreibungen häufig von der Fernsehwirklichkeit eingeholt. Das parodistische Spiel mit den Vermittlungs‐ konventionen des Fernsehens in eigenen Unterhaltungssendungen lässt sich als postmoderne Fernsehkritik bezeichnen. Im Unterschied zur bisherigen Form der Fernsehkritik tritt die parodistische Form der Wiederholung des Bestehenden an die Stelle der bisher dominierenden reflexiven Beschäftigung mit dem Original. Frederic Jameson sieht in der Parodie „eine Kunst der Imitate, denen ihr Original entschwunden ist“. 27 Fernsehkritik in Unterhaltungssendungen nutzt häufig die Form der Pastiche von Zitaten aus verschiedenen Sendungen (etwa Talkshows oder Nachrichten in „TV Total“), Bewertungen in der Moderation, Hintergrundinformationen durch Interviews mit Sendungsverantwortlichen und Mitwirkenden und parodisti‐ sche Nachahmungen. Diese Integration verschiedener Darstellungsformen ent‐ spricht den von Wolfgang Welsch formulierten Anforderungen: „Postmoderne Phänomene liegen dort vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprachen, Modellen und Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in 154 Joan Kristin Bleicher 28 Welsch (1988). Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, 10. 29 Ebd. 30 Vgl. Bleicher (2017). „Mashup Kategorien und ihre Erscheinungsformen“. 31 Seeßlen (1994). „Die Show für den Untergang der Intelligenz. Harald Schmidt: Der postmoderne Entertainer“. 32 Welsch (1988). Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk.“ 28 Die Pastiche kombiniert nicht nur verschiedene Darstellungsformen, sondern auch verschiedene Darstellungsanliegen. Auf diese Weise wird die kritische Bewertung einzelner Sendungsausschnitte mit dem Ziel der Unterhaltung verknüpft. Die bisherige Sendungszusammenhänge verkürzende Fragmentstruktur der in Comedy-Formaten präsentierten Sendungszitate entspricht allgemeinen Phänomenen der Intensivierung und Beschleunigung in der postmodernen Kultur. 29 Gleichzeitig nutzen die Formate in ihrem Umgang mit bestehendem Sendungsmaterial grundlegende Darstellungsformen der Postmoderne wie das Recycling und das Sampling. Der Begriff ‚Recycling‘ beschreibt die Form der Wiederverwertung bestehender Sendungsausschnitte in einem neuen Sen‐ dungsumfeld mit neuem thematischem Bezug. ‚Sampling‘ ist ein im Bereich der Popmusik etabliertes Verfahren. Der Begriff verweist auf die spielerische Neu‐ kombination bestehenden kulturellen Materials zu neuen formalen Gebilden und thematischen Bezügen. 30 Die Neukombinationen ermöglichen auch die kritische Beschäftigung mit dem bereits Gesendeten. Die „Harald Schmidt Show“ (Sat.1 1995-2003) mischte die Elemente Unter‐ haltung, Medienkritik und Aufklärung neu. Georg Seeßlen betont, Harald Schmidt vermittle als Vertreter der Fernsehintelligenz, „dass man das Fernsehen bedienen und gleichzeitig Kritik und Aufklärung betreiben könne, dass man klug sein könne im Gemäuer der Dummheit und dass wir das Fernsehen nicht ernst nehmen müssen, und uns gleichwohl amüsieren können.“ Schmidt „zerstöre die letzten Illusionen, die wir noch vom Fernsehen hatten“. 31 Seeßlen ordnet die „Harald Schmidt Show“ dem Bereich der postmodernen Kritik zu, die Wolfgang Welsch wie folgt charakterisiert: „Der Postmodernismus schließt die Kluft zwischen Kritiker und Publikum, selbst wenn man unter dem Kritiker den Anführer in Geschmacksfragen versteht und unter Publikum seiner Gefolg‐ schaft.“ 32 Schmidt wechselt die Rollen zwischen Kritiker und Publikum. Er klärt über ökonomische Zusammenhänge und Konstruktionsmuster der Berichter‐ stattung auf, spielt aber auch den aufgeklärten Zuschauer und kommentiert so Teilbereiche der aktuellen Programmentwicklung. Die Aufklärung durch die „Harald Schmidt Show“ erfolgte in der Offenlegung von Strukturen der 155 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen 33 Luhmann (1996). Die Realität der Massenmedien, 118. 34 Genette (1993). Palimpsest. Die Literatur auf zweiter Stufe. 35 Lambernd (2000). „Die sieben „As“ humoristischer Attraktivität“, 37. Sendungsvermittlung, von ökonomischen Planungsprozessen, die Sendungen zugrunde liegen, und Informationen über ökonomische Zusammenhänge. Die Medienkompetenz der Zuschauer, ihre Kenntnisse der Vermittlungs‐ formen des Fernsehens sind grundlegende Voraussetzung für das Funktionieren humoristischer Effekte der Fernsehkritik im Fernsehen. So bedarf etwa Bild‐ kritik des Bilderwissens. Niklas Luhmann hob hervor, dass „die populäre Iko‐ nographie des Fernsehens ein Bild- und Wiedererkennungswissen“ produziere, „das Übertragungen von einem Bereich in einen anderen begünstigt. Innerhalb der einzelnen Programmbereiche kann man also Anleihen bei anderen beob‐ achten.“. 33 Comedy-Sendungen schreiben den Referenzverlust der Bilder fort, indem sie die zitierten Fernsehbilder aus ihrem Kontext reißen. Erst der Verlust des Kontextes der geschlossenen Sendung ermöglicht es, die zitierten Bilder in einem neuen Unterhaltungskontext wieder zu verwerten. Die Moderation stei‐ gert durch wiederholte Verweise auf die Referenzlosigkeit, die Sinnfreiheit der jeweiligen Angebote, den jeweiligen Unterhaltungswert. Gleichzeitig enthalten diese Verweise eine implizite Kritik am Bedeutungsverlust des Fernsehens insgesamt. Das aktuelle Angebotsspektrum von Fernsehkritik im deutschen Fernsehen zeugt von einer großen Bandbreite der kritischen Selbstthematisierung u. a. durch Sendereihen wie „Zapp“ (NDR), „Kalkofes Mattscheibe Rekalked“ (Tele 5), „Switch Reloaded“ (Pro Sieben) und „Die schlechtesten Filme aller Zeiten“ (Tele 5). Fernsehkritik als Palimpsest: „Kalkofes Mattscheibe“ Oliver Kalkofe nutzt in seinen Sendereihen „Kalkofes Mattscheibe“ (Premiere, seit 2003 auf ProSieben) und „Kalkofes Mattscheibe Rekalked“ (Tele5) die Form der Parodie als Palimpsest des Fernsehens. 34 Dieses aus alten Handschriften bekannte Verfahren beschreibt die Nutzung eines Materialträgers für mehrere übereinander geschriebene Textfassungen. Die eigene Parodie legt sich als Palimpsest als neuer Text über die ursprüngliche Fernsehsendung. Kalkofe verwendet grundlegende Humorelemente aus dem Bereich Comedy wie Aktualität (der Sendungsausschnitte), Absurdität (des jeweiligen Sendungs‐ inhalts) und Aggressivität (des Sendungskommentars). 35 Er wählt die Form der Realsatire, um Ausschnitte aus den qualitativen Tiefpunkten der Programman‐ 156 Joan Kristin Bleicher 36 Newcomb; Hirsch (2000). „Television as a Cultural Forum“. gebote ins kritische Visier zu nehmen. „Viewing strips“ 36 zeigen Sehausschnitte aus dem aktuellen Programmangebot. Die Aneignung des Sendungsmaterials steht im deutlich erkennbaren Kontrast zu den Produktionsintentionen. Im Recycling der Ausschnitte werden dominante Bedeutungen aufgebrochen und durch neue ersetzt. Für die kritische Selbstthematisierung des Fernsehens reicht zunächst das bloße Zeigen des Sendungsmaterials, dann erst folgt die Verfrem‐ dung durch das Auftreten Kalkofes in der entsprechenden Kostümierung (etwa in Form des Cross-Dressing, wenn Kalkofe ModeratorInnen imitiert) und seine häufig als Monolog präsentierte sprachliche Anschlusskommunikation an die Moderation, mit der er die Sendung und die jeweils auftretenden Personen kritisiert. Die Wahl des parodistischen Zugriffs als einer Vermittlungsform der Satire schafft Distanz zu den präsentierten Inhalten, die in ihrem ursprünglichen Ausstrahlungskontext auf Identifikation ausgerichtet sind. Das Fernsehstudio fungiert als Theaterbühne der parodistischen Fernseh‐ kritik. Kalkofe tritt häufig in der den Sendungsausschnitten entsprechenden oder sie bis ins Groteske übertreibenden Kostümierung vor den auf der Studiowand gezeigten Bildausschnitten, kommentiert sarkastisch, vulgär bis beleidigend, das gerade Gezeigte oder beseitigt die jeweiligen Protagonisten durch primitive Gewaltanwendung. Er passt sich in Kommentar und Verhalten dem Niveau der präsentierten Ausschnitte an, gleichzeitig ist die Beleidigung der Versuch der pointierten Festschreibung der Wertung. Der Sendungsaufbau von „Kalkofes Mattscheibe“ bildet eine Strukturanalogie zur Programmstruktur des analogen Fernsehens: Das Prinzip des Wechsels von Genreangeboten wird auf die Sendungsebene übertragen. Die Intertextualität der Integration von Ausschnitten unterschiedlicher Genres entspricht dem Prinzip des Wechsels der Programmschemata von Vollprogrammen. Es kommt zur Dekonstruktion der Sendungen hin zu Bild- und Sprachfragmenten als kleine bedeutungstragende Einheiten. „Kalkofes Mattscheibe“ bildet als Fern‐ sehen im Fernsehen eine verdichtende Form der Genrekonvergenz, indem Frag‐ mente unterschiedlicher Fernsehgenres in einer Sendung zusammengeführt werden. Kernpunkte von Kalkofes kritischen Angriffen sind Volksmusiksendungen, Sendungen der Homeshopping-Kanäle, Reality-TV und Showformate. In kurzen Ausschnitten sind Höhepunkte der Peinlichkeiten unter Angabe der ausstrah‐ lenden Sendeanstalten und des Sendungstitels zu sehen. Der Zuschauer erhält eine aktuelle Zusammenfassung der grotesken Momente aus dem Bereich Fernsehunterhaltung. 157 Formen und Funktionen der Fernsehkritik im Fernsehen Fazit Die in dem Beitrag vorgestellten Formen und Funktionen unterhaltungsori‐ entierter Fernsehkritik im Fernsehen lassen sich als fortlaufende selbstkriti‐ sche Programmbeobachtung werten. Diese spezifischen Angebotsformen der Fernsehkritik spiegeln auch gesellschaftliche Diskurse über Programmentwick‐ lungen wider. Sie zeugen von der Einschätzung der ZuschauerInnen und Me‐ dienkritikerInnen gegenüber ethischen Grenzfällen in Produktion, Angeboten und weitaus seltener der Rezeption. Sie markieren aber auch Prozesse der Identitätsfindung des Fernsehens in Abgrenzung von der medialen Konkurrenz. So gilt es auch weiterhin kontinuierlich die Erscheinungsformen der kritischen Selbstreflexion des Fernsehens wissenschaftlich zu untersuchen und dabei auch grundlegende Veränderungen der Medienlandschaft zu beobachten. Literatur Bleicher, Joan Kristin (1997) (Hrsg.). Programmprofile kommerzieller Anbieter. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bleicher, Joan Kristin (2007). „The Old in the New: Forms and Functions of archive material in the presentation of television history on television“. In: Bishara Nöth (Hrsg.): Self-Reference in the Media. Berlin: De Gruyter, 183-194. 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Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft Joan Kristin Bleicher Zwischen Filmwissenschaft und Filmkritik bestehen vielfältige Wechselwir‐ kungen in der analytischen Beschäftigung mit dem Medium Film. Filmkritiken sind eine Textsorte, in der sich filmwissenschaftliche Theorien und Methoden der Filmanalyse praxisorientiert einsetzen lassen. Die Bewertung einzelner Filme erfolgt auf der Grundlage der theoretisch reflektierten, analytischen Be‐ schäftigung mit den unterschiedlichen Dimensionen der Filmerzählung in den Bereichen Konzeption, Genrekonventionen, Handlungsstrukturen, Figurenge‐ staltung, visuelle und akustische Darstellungsmittel. Dennoch verweist die Definition „Filmkritiker ist, wer sich als solcher erklärt“ 1 auf das Phänomen, dass Filmkritiken in Deutschland nicht nur von FilmwissenschaftlerInnen, sondern auch von Autodidakten geschrieben werden. Hier treten häufig subjektive Geschmacksurteile an die Stelle wissenschaftlich basierter Bewertungen. Zur Geschichte der Filmkritik Heinz Heller betont als Vertreter der Filmwissenschaft: „Die Geschichte der Filmkritik ist jünger als das Medium, das sie zum Gegenstand hat. Gleichwohl trägt sie an den Widersprüchen, die schon die ältere, traditionsreichere Lite‐ ratur- und Theaterkritik charakterisieren.“ 2 Das Zitat verdeutlicht, die Filmkritik nutzt unterschiedliche Modelle und Positionen aus der historischen Entwick‐ lung der Literatur- und Theaterkritik, aber auch der Kunstkritik. Gleichzeitig ist die Filmkritik in die Vermittlungsgeschichte journalistischer Darstellungs‐ formen und den universitären Kontext der Filmwissenschaft eingebunden. Die grundlegenden Modelle der filmwissenschaftlichen Analysen und der journalistischen Rezension konkurrieren miteinander. Bei Feuilletonjourna‐ 3 Vgl. Wessler (1997). Perspektiven der Medienkritik. 4 Silbermann (1982). Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung, 118f. 5 Gottsched (1730). Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. 6 Jhering (1923). „Filme und Filmkritik“. listen dominieren häufig Bericht, Vergleich und Vermittlung im Vergleich zur kritischen Bewertung. 3 Alphons Silbermanns fasst in seinem Handwörterbuch der Massenkommunikation und Medienforschung beide Positionen auf ähnliche Weise zusammen, wenn er Filmkritik als „Kunst, Filmwerke zu erläutern und zu beurteilen“ definiert. Er stellt „Information und Bewertung“ vor dem „Entdecken von Fehlern“ in das Zentrum des Textes. 4 Einflüsse von Traditionslinien der Kunstkritik Es gibt lange Traditionslinien unterschiedlicher Formen der Kunst- und Lite‐ raturkritik mit wechselnden Zielsetzungen und Kriterien, die auch die Film‐ kritik beeinflussten. Die Humanistische Kritik des 16. Jahrhundert befasste sich zunächst mit der Frage nach der Echtheit von Texten. Frühe Formen der Kritik intendierten auch die Regulierung des künstlerischen Ausdrucks. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts entwarf Joseph Justus Scaliger sein eigenes Modell einer Kritik als Poetik. Die 1730 von Gottsched publizierte Kritische Dichtkunst ist ein idealtypisches Modell der Kritik als normativer Poetik. 5 Dieses Modell beeinflusst bis heute unterschiedliche englische Konzepte der Kritik u. a. Rene Welleks New Criticism Modell, das sich ausschließlich der Analyse des literarischen Textes widmet und dabei die Berücksichtigung biographischer und sozialer Zusammenhänge ablehnt. Im 17. Jahrhundert umfasst die Kritik das gesamte System literarischer Theo‐ riebildung und weist so Analogien zur heutigen Literaturwissenschaft auf. Damals gab es neben der Theoriebildung auch die bis heute vorhandene kriti‐ sche Textsorte der Buchbesprechungen. Kritiker setzen sich mit den allgemeinen Funktionen und Erscheinungsformen der Literatur auseinander, stellen Bezüge der aktuellen Inhalte von Texten zu Texten der Literaturgeschichte her. Kritik ist auch ein Verfahren der Aneignung von Kunst. Dieser Aspekt berücksichtigt auch Wahrnehmungs- und Wirkungsprozesse. So konstatiert Herbert Jhering: „Kritik ist der innere Zwang, sich mit dem Gesetzmäßigem einer Kunst auseinanderzusetzen. Kritik ist Erlebnis des Kunstwerks nach seinen Elementen und deshalb die automatische Bestätigung der produktiven, die automatische Zurückweisung der unproduktiven Elemente.“ 6 162 Joan Kristin Bleicher 7 Baumgarten (2007). Ästhetik. 8 Prümm (1990). „Filmkritik als Medientransfer. Grundprobleme des Schreibens über Filme“, 20. 9 Ebd., 19. 10 Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte“, 12. 1750 begründet Baumgarten die Ästhetik als Wissenschaft, die sich mit der sinnlichen Wahrnehmung befasst. Schönheit definiert er als sinnlich erkannte Vollkommenheit. 7 Die subjektive Betrachtungsweise als Grundlage der Film‐ bewertung kennzeichnet die Kritik von ZuschauerInnen. Das Beispiel zeigt, diese Traditionslinien der Kunstkritik liefern Konzepte und Beurteilungsmög‐ lichkeiten für die Filmkritik. Kritik als Orientierungsangebot im 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert verbreiterte sich das Angebot an Kunstprodukten in allen Kulturbereichen. Es war neben dem bisher dominierenden Adel ein eigenes Pu‐ blikum entstanden, das immer weiter anstieg und die Nachfrage nach Kunst und damit auch die Produktion steigerte. Mit dem Überangebot im Bereich der Kunst wuchs auch das Interesse an Orientierung durch die kritische Bewertung des Angebotenen. Kritik hielt „zu ihrem Objekt analytische Distanz, bevorzugt die klare transparente Beweisführung und gelangt zu einem abgeschlossenen und endgültigen Urteil.“ 8 Der Kritiker etablierte sich in seiner Rolle als Kunstrichter. „Das bürgerliche Publikum verlangt nach einer Instanz die klassifikatorisch und bewertend Ordnung und Überschaubarkeit herstellt. So entsteht die Figur des Kunstrichters.“ 9 Heinz B. Heller beschreibt den Typus des Kunstrichters im 18. Jahrhundert wie folgt: Allein durch die Autorität besonderer Sachkenntnisse ausgewiesen, ohne jedoch prinzipiell etwas anderes zu sein als ein Privatmann unter allen übrigen zum Publikum versammelten Privatleuten, verstand er seine Rolle - so Habermas - als ‚Mandatar des Publikums und als dessen Pädagoge zugleich‘: als Anwalt des Publikums gegen‐ über den Kunstproduzenten ebenso wie als Erzieher des Publikums, wenn er als Experte gegen Dogma, Mode und schlechten Geschmack der schlecht Unterrichteten argumentierte. 10 Mit den Begriffen der Vernunft, wie sie die Aufklärung entwickelt hatte, wurden nun auch Kunstprodukte beurteilt. Es galt eine analytische Distanz zum Objekt der Kritik zu wahren und das Urteil in einer klaren Beweisführung nachvoll‐ 163 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 11 Prümm (1990). „Filmkritik als Medientransfer. Grundprobleme des Schreibens über Filme“, 20. 12 Benjamin (1955). „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“, 475. 13 Schlegel (1971). „Kritische Fragmente“, 78. ziehbar zu machen. Doch liessen sich die kritischen Modelle der Aufklärung nicht bruchlos auf die ästhetischen Produkte des 18. Jahrhunderts übertragen. Die Erwartung einer normativen, an eine intersubjektiv verbindliche Regelpoetik fixierte Kritik ließ sich schon im 18. Jahrhundert nicht mehr erfüllen. Zu ausdifferen‐ ziert waren die Kunstwerke, zu ausgeprägt war das Raffinement der Gefühlskultur und der ästhetischen Erfahrung auf der Seite des Publikums. 11 Das distanzierte Verhältnis zum Objekt der Kritik beeinflusste die wissenschaft‐ liche Beschäftigung mit dem Medium Film. Kritik als eigene Kunstform in der Romantik Die Rolle der KritikerInnen entspricht den Bedürfnissen ihrer Zeit. In der Romantik etwa fungierten sie als Kunstrichter, die zwischen Kunst und Un‐ kunst unterschieden. Ziel ist die Steigerung der Qualität von Kunst und die Vernichtung der Unkunst. Kritik diente der Perfektionierung des Kunstwerkes: „Im Sinne des Werkes selbst, d. h. in seiner Reflexion, soll es über dasselbe hinausgehen, es absolut machen. Es ist klar: für die Romantiker ist Kritik viel weniger die Beurteilung eines Werkes, als die Methode seiner Vollendung.“ 12 Friedrich Schlegel konstatierte in seiner doppelten Rolle als Schriftsteller und Kritiker 13 : „Kritik ist die Kunst, die Scheinlebendigen in der Literatur zu töten.“ In der Kritik waren Maßstäbe enthalten, die die Bewertung der Literatur bestimmten. Gleichzeitig verstand Schlegel die Kritik als eigene Kunstform. Wenn Kritik etwas von Kunst wahrnehmen will, müsse sie selbst Kunst sein. „Poesie kann nur durch Poesie kritisiert werden. Ein Kunsturteil, welches nicht selbst ein Kunstwerk ist, entweder im Stoff, als Darstellung des notwendigen Eindrucks in seinem Werden, oder durch eine schöne Form, und einen im Geist der alten römischen Satire liberalen Ton, hat gar kein Bürgerrecht im Reiche der Kunst.“ Kritik sei Kenntnis und Selbsterkenntnis des Kunstwerkes und gehöre so selbst der Kunst an. Schlegels Kritik zu Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/ 96) gilt als exemplarisch für die Literaturkritik der Romantik. Schlegels Text verbindet die Auseinandersetzung mit Goethes Text mit allgemeinen Reflexionen über die Literatur. Schlegel, Goethe, Schiller und andere SchriftstellerInnen verbanden Kunst- und Kritikertätigkeit. Auch Filme‐ macherInnen wie Hans-Christoph Blumenberg sind als KritikerInnen tätig. 164 Joan Kristin Bleicher Kritik als Teil des Journalismus Bereits im literarischen System des Vormärz wird Kritik wieder aus der Kunst ausgegliedert und in die Publizistik integriert. Diese Integration kennzeichnet auch den heutigen Literatur- und Medienbetrieb. Kurzkritiken als Form der Film- oder Verlagswerbung finden sich in Wochenendbeilagen von Tageszei‐ tungen (kurze Hinweise auf das Genre, kurze Zusammenfassung des Plots) und in Buchzeitungen des Verlegerverbandes. Ausführliche kritische Auseinan‐ dersetzung beinhalten überregionalen Tageszeitungen. Dazu zählen auch das Porträt des Regisseurs und ausführliche Reflexionen des Handlungsaufbau, der Glaubwürdigkeit im Bereich Figurengestaltung, Innovation oder Stereotyp der Darstellungsformen und übergeordnete Bedeutungsebene. Schon die Rahmenbedingungen wie Publikationsorte bestimmen Art und Umfang der Filmkritik. Sie ist in den Journalismus eingebunden und hat somit verschiedene Medien als Publikationsorte: Print: Tages- (oft nur werbewirksame Kurztexte), Wochen-, Fachzeitung; Hörfunk: Kurz- oder Langkritik (Feature); Fernsehen: als Nachrichten oder Magazinbeitrag, eventuell als Dokumentation über ein Filmgenre (u. a. über den Vergleich von Filmen), die Filme eines Landes, das Lebenswerk eines Regisseurs/ einer Regisseurin oder die Filme junger Re‐ gisseurInnen. Weitere Textsorten sind etwa Reportagen über Filmfestivals und die im dortigen Programm erkennbar werdenden Trends der Filmentwicklung. Im Internet finden sich Filmkritiken von Profis aber auch von Laien, die auf Websites oder Portalen zu einzelnen Filmen zusammengefasst werden. Rollenmuster von KritikerInnen Im Überangebot an literarischen Neuerscheinungen kam es seit den siebziger Jahren zu einer Renaissance des Kunstrichters, der zwischen Kunst und Tri‐ vialität unterscheidet. Marcel Reich-Ranicki verkörperte das klassische Rollen‐ muster des Kritikers als Kunstrichter. Seine Kritik an Martin Walsers Roman Jenseits der Liebe ist beispielhaft für die versuchte Hinrichtung eines Autors. „Ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? Ja, aber bloß deshalb, weil der Roman von Martin Walser stammt, einem Autor also, der einst, um 1960, als eine der größten Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur galt - und dies keineswegs zu Unrecht! “ Reich-Ranicki verstand diese Kritik als Wegweiser, als Schreibanleitung des Kritikers für den Autoren. Seine Lobeshymnen auf den nächsten Roman Walsers „Ein fliehendes Pferd“ ist auch eine Hymne auf 165 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 14 Reich-Ranicki (1976). „Jenseits der Literatur - Martin Walsers Roman ‚Jenseits der Liebe’“. o. S. 15 Donner (1990). „Kritiker-Kritik, Kulturbetrieb, Kieslowski. Notizen zum Stand der Filmkritik und zu Kieslowskis Krotki Film o zabijaniu (1987)“, 112. 16 Ebd. 17 Donner (1990). „Kritiker-Kritik, Kulturbetrieb, Kieslowski. Notizen zum Stand der Filmkritik und zu Kieslowskis Krotki Film o zabijaniu (1987)“, 115. die positiven Folgen der eigenen kritischen Arbeit. Reich-Ranicki bemerkt zu seinem Verständnis der allgemeinen Aufgabe des Kritikers: „Der Kritiker soll sichten und ordnen, klären und werten, polemisieren und postulieren. […] Zwei Ziele schweben ihm vor: bessere Bücher und bessere Leser. Mithin ist der Kritiker immer […] Moralist und Erzieher.“ Seine für ihn charakteristische Polemik nutzt Reich-Ranicki, um Standpunkte deutlich zu machen. 14 In der Filmkritik lassen sich neben dem Kunstrichter weitere Rollenmuster unterscheiden. Wolf Donner hat eine Typologie der Filmkritiker entwickelt: 1. Die O-Schreiber, die nur drei Haltungen kennen: „Oh, wie herrlich - oh wie schrecklich - oh! “ 15 2. Die Gegen-Schreiber, die ihre eigenen Ideen und Ideologien propagieren. Sie schreiben nicht über den Film, „den sie sahen, sondern meist über den, den sie zu sehen wünschten, sich vorstellten, vielleicht: selber drehen wollten.“ 16 Vielfach schreiben verhinderte Regisseure über Regisseure. 3. Die PR-Schreiber. Sie verstehen sich als Vertreter des breiten Publikums und sind durch ihren Service besonders bei der Filmindustrie beliebt. Ihre Sprache entspreche der Werbung. 4. Die In-Schreiber, für die ein Film ein Film ist und sonst gar nichts. Ihr Ideal ist der Filmwissenschaftler, ihr idealer Leser der Kollege. Sie passen ihre theoretische Position den ständig wechselnden Moden an. 5. Die Ich-Schreiber, eine neue Generation von „Selbstdarstellungs-Akro‐ baten“. „Die Präsentation ist ihnen wichtiger als das Sujet. Die Leser sollen über den Autor, nicht über den Gegenstand des Artikels reden. Es geht nicht um Inhalte, Ideen, Zusammenhänge, sondern primär um die neueste Befindlichkeit der oder des Schreibenden - er/ sie ist Inhalt, Star und Botschaft des Textes.“ 17 Einflüsse von Literatur- und Theaterkritik auf die Filmkritik Die Filmkritik ist wie die genannten Formen der Kulturkritik in die Massenkom‐ munikation eingebunden. In der Geschichte der Literatur- und Theaterkritik etablierten sich Vermittlungskonventionen, die sich auch in der Filmkritik 166 Joan Kristin Bleicher 18 Diederichs (1987). „Die Forderung der Klassiker an die heutige Filmkritik“, 5. 19 Vgl. Frey (2016). The permanent crisis of film criticism: the anxiety of authority, 51. wiederfinden lassen. So zitieren KritikerInnen Äußerungen der AutorInnen zu den besonderen Schwierigkeiten im Produktionsprozess eines Buches. In die Kritik ist das Porträt des Autors und Ausführungen zu grundlegenden formalen und inhaltlichen Charakteristiken seines Werkes integriert. Kritiken wenden sich auch gegen allgemeine Entwicklungen im Kulturbereich, für die das jeweilige Buch oder der jeweilige Film symptomatisch zu sein scheinen. Zur Entwicklung der Filmkritik in Deutschland Über die Ursprünge der Filmkritik in Deutschland gibt es unterschiedliche Auffassungen. Helmut Diederichs wertet die von Paul Lenz-Levy 1909 her‐ ausgegebene Zeitschrift „Die Lichtbild-Bühne“ als Geburtsstunde ernsthafter Filmkritik. Zwischen den Jahren 1909 und 1929 dominierte aus Sicht Diederichs die ästhetische Filmkritik, um „das Filmmedium rein als Kunst, den einzelnen Film rein als Kunstwerk zu betrachten, den Vorbildern von Theater und Litera‐ turkritik nachzueifern.“ 18 In zahlreichen Texten verglich etwa Balász den Film mit etablierten Kulturformen. In Deutschland ging der Beginn der Filmkritik mit der Etablierung des Neuen Mediums in festen Präsentationsorten einher. Damit begann sich der Film als neuer Kulturfaktor zu etablieren, nachdem er vorher auf Jahrmärkten als Form visueller Unterhaltung präsentiert wurde. Gleichzeitig machte sich eine Angst vor den negativen moralischen Auswirkungen des neuen Mediums breit. Die reaktionäre Kinoreformbewegung gründete 1912 die erste Fachzeitung zum Film „Bild und Film“, in der die ersten regelmäßigen Filmkritiken erschienen. 1912 veranstaltete die Erste Internationale Film-Zeitung eine Tagung zum Thema Soll das Filmdrama kritisiert werden. Vor allem SchriftstellerInnen wiesen auf die Bedeutung der Kritik hinsichtlich der künstlerischen Entwicklung des Films hin. Doch wurde auch versucht, die Rezeption zu steuern. So betonte Alfred Mann die Zielsetzung, Zuschauer zu einem guten künstlerischen Ge‐ schmack zu erziehen. Der Kritiker war aus seiner Sicht gleichzeitig Stellvertreter und Erzieher des Publikums. 19 Das Überangebot an Filmeinführungen - zeitweilig ca. 500 Filmpremieren pro Woche - erschwerte die Arbeit der KritikerInnen. Sie stöhnten über die „Kunst der lebenden, singenden, tanzenden, mordenden und wettrennenden 167 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 20 Melcher (1909). „Von der lebenden Photographie und dem Kino-Drama“. 21 Siehe dazu: Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte“, 16. 22 Kinomimische Kunst ist ein Begriff, der die Besonderheiten des Schauspiels im Kino erfassen sollte. 23 LYNX (1913/ 1914). „Germinal“, 81. Photographie.“ 20 Auch die Zahl eigener Filmzeitschriften stieg ständig. bis 1925 entstanden ca. 80 Publikumsblätter für Filminteressierte. 21 Bereits 1913 entwickelte ein Kritiker folgenden Kriterienkatalog, den er seinen Kollegen zur Beachtung empfahl: 1. Zu welcher Arte gehört es (= das Filmdrama), d. h. wo liegt sein Haupt‐ werk (in der Darstellung von Seelenvorgängen, der Wiederbelebung kulturgeschichtlicher Äußerlichkeiten, der Darstellung von Arbeitsver‐ hältnissen, der Verwertung schöner Naturhintergründe, der Erzeugung von Stimmungen, Spiel mit Handlungen, Trick-, Zauber-, Märchenfilm (v.m. also ursprüngliche Erzählformen), Tanzdichtung, Humor)? … 2. Wie ist das Bild aufnahmetechnisch? a) die Arbeit des ‚Operateurs‘? b) die Arbeit des Szenerieregisseurs (malerische Wirkung, Ausgleich technischer Mängel usw.)? c) die Arbeit des Menschenregisseurs (die allgemeinen Bewegungen besonders der Statisten, Massenverwendung, Begründung) usw.? 3. Wie ist die Arbeit des ‚Dichters’ (Aufbau, Gehalt, Dramatik, Stilgefühl, Ursachenverkettung, Begründung) usw.? 4. Wie ist das Spiel (besonders der Einzelschauspieler, als kinomimische Kunst 22 betrachtet)? 5. Wie steht’s mit der geschichtlichen usw. ‚Echtheit’ a) äußerliche b) innerliche? 6. Sittlich-erzieherische Gesichtspunkte? 7. Humor (d. h. nicht nur die Verwendung von Komik im engeren Sinne, sondern ‚Saft‘ (Humor) überhaupt, der gleichsam alles mit Lebensfülle und Vielheit durchdringt und das Gefühl der Lebenswahrscheinlichkeit und des Behagens erweckt? 23 Viele Kriterien sind bis heute in Kritiken wieder zu finden. Schon früh setzten sich auch SchriftstellerInnen mit dem neuen Konkurrenten im Bereich Erzählen auseinander, indem sie auch ein neues Publikationsforum vermuteten. Insbe‐ sondere expressionistische Autoren, die ja bereits in ihren Texten eine Bildkraft des sprachlichen Ausdrucks bewiesen, wie etwa Kurt Pinthus, fühlten eine 168 Joan Kristin Bleicher 24 Vgl. Pinthus (1914). Das Kinobuch. 25 Jhering (1919). „Filmkritik“, 22. 26 Zitiert nach: Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte“, 14. 27 Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte“, 17. 28 Balász (1924). Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. 29 Vgl. Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte.“ Verwandtschaft zum Film. Er beschrieb sein Sehvergnügen an der Vielfalt der bewegten Bilder und bemühte wiederholt literaturgeschichtliche Vergleiche. 24 Herber Jhering kritisierte diese Übernahme literaturspezifischer Maßstäbe für die Beurteilung des Films. Aus seiner Sicht ordnet sich die Filmkritik „den Erfordernissen des Bilds unter, sie geht vom Gebot der Photographie, von den plastischen Möglichkeiten des Schauspielers aus und löst von den technischen Gesetzen her die tendenziösen und kulturellen Fragen des Films.“ 25 1920 thematisierte Carlo von Mierendorff in seiner Schrift „Hätte ich das Kino! “ das besondere politische Potenzial des Films: „Aus dem Kino werde eine gewaltige Waffe der Idee. […] Wer das Kino hat, wird die Welt ausheben.“ 26 FilmkritikerInnen thematisierten auch Produktionszusammenhänge und setzen sich kritisch mit den ersten Konzernbildungen in der Filmindustrie auseinander (das Filmunternehmen UFA). Diese Form der politisch ökonomischen Filmkritik erlebt in den sechziger Jahren ihre Renaissance. Filmkritiker der zwanziger Jahre waren bereits vom Kunstcharakter des neuen Mediums überzeugt und sahen sich selbst als kritische Wegbegleiter. Es stellte sich „die Frage nach einer angemessenen filmspezifischen Metasprache der Filmkritik: Mit den jeweils imaginierten Potenzialen einer noch "werdenden Kunst" vor Augen sah sich die Kritik einer Filmpraxis gegenüber, deren äs‐ thetische Eigengesetzlichkeiten als einer autonomen Kunst theoretisch und begrifflich noch zu entwickeln waren. Diese Problemlage, charakteristisch vor allem für die erste Hälfte der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts, erklärt den vorherrschenden Topos des ‚noch nicht Erreichten’. Dies erklärt die häufige Gedankenfigur des ‚Anders-als’ (zumeist in Form des ‚Anders-als-das-Theater’); dies erklärt aber auch den Widerspruch, der sich oft zwischen abstrakter theoretischer Einsicht und eigener praktischer Urteilsfindung auftat.“ 27 Béla Balász 28 verfolgte das Ziel einer sachverständigen, ästhetischen Kritik, die sich allein auf den Film als Kunstwerk richte. Insiderkenntnisse über Produktionshintergründe gehörten aus seiner Sicht nicht in die Kritik. Vielmehr versuchte er den Film von etablierten kulturellen Vermittlungsformen wie etwa dem Theater abzugrenzen. Viele seiner Texte versuchen Teilaspekte der Filmästhetik zu entwerfen und diese exemplarisch an Filmbeispielen zu verdeutlichen. 29 169 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 30 Arnheim (1977). „Fachliche Filmkritik“, 171. 31 Ebd., 303. 32 Prümm (1990). „Filmkritik als Medientransfer. Grundprobleme des Schreibens über Filme“, 21. 33 Vgl. Heller (1993). „Geschichte und Filmkritik - Filmkritik und Geschichte“. 34 Ebd., 19. Rudolf Arnheim wollte jedem Werk auf der Basis seiner spezifischen Poten‐ ziale einen Platz im Kunstganzen zuweisen. Der fachliche Filmkritiker wertet einen Film, der heute herauskommt, nicht als Einzelleistung. Ist ein Film als ganzer schlecht, so hat der Kritiker nachzuspüren, ob nicht eine einzelne Feinheit darin ist, die einen Fortschritt bedeutet, ein Darsteller, der bei besserer Behandlung Gutes leisten könnte. Er hat zu erkunden, wo der Fehler sitzt und wie er künftig zu vermeiden ist. Er hat zu unterscheiden, was am einzelnen Film typisch für die Gesamtentwicklung ist und was nur ihm zufällig und einmalig zukommt. […] Der Filmkritiker sieht die Filmproduktion der ganzen Welt als eine einheitliche Arbeit, in der jedes einzelne Werk seinen Platz hat. Diesen Platz anzuweisen ist die Aufgabe des Kritikers. 30 Arnheim kritisiert die weitgehende Handlungsorientierung der Filmkritiken in den zwanziger Jahren: „Die Handlung, eine etwaige Tendenz, wird gelobt, getadelt, langweilig oder unterhaltsam, verhetzend oder verdienstlich genannt; ein paar Worte der Zensur für die Darsteller, für den Operateur, eine Verlegen‐ heitsfloskel für den Regisseur - Schluß.“ 31 Karl Prümm diagnostiziert als allgemeine Zielrichtung: „Die Perspektiven (der) Besprechungen reichten […] weit über die einzelnen Filme hinaus, sie hatten die kinematographische Entwicklung im Ganzen im Auge.“ 32 Dabei lag ein Fokus auf den ästhetischen Darstellungsmöglichkeiten. Willy Haas entwarf beispielsweise eine eigene Beschreibungstechnik für die "Bildmusik" mit der er die visuellen Gestaltungscharakteristiken zu erfassen versuchte. 33 Haas war davon überzeugt, dass nicht die Handlung die Stärke eines Films ausmache. Er versuchte in seinen Kritiken die Frage nach der spezifischen Wirkung des Films zu klären. In seinen Kritiken geht es Haas „um eine Betrachtungsweise, die nicht nach verborgenen Bedeutungen der filmischen Repräsentationen, sondern vielmehr nach inhärenten Bedeutungen der bildlichen Organisations‐ struktur(en) sucht.“ 34 Heute hingegen erscheinen viele Kritiken als Versuche der Aufbewertung des einzelnen Films durch die Zuweisung einer allgemeinen Bedeutungsebene. Mit dem wachsenden Einfluss US-amerikanischer Filme wuchs das Bewusst‐ sein für ökonomische Zusammenhänge, aber auch das ideologische Potenzial 170 Joan Kristin Bleicher 35 Vgl. Becker (1973). Film und Herrschaft. Organisationsprinzipien und Organisationsstruk‐ turen der nationalsozialistischen Filmpropaganda. der filmischen Vermittlung. Dieser Fokus beeinflusste auch die kritische Ausein‐ andersetzung mit der nationalen Produktion. Richard Lewinsohn beispielsweise begleitet unter dem Pseudonym Morus in der Zeitschrift Weltbühne kritisch den Übergang des mächtigen Hugenberg-Konzerns in einen NS-Einheitskonzern. Mit Frank Aschau, Frank Warschauer aber auch Kurt Tucholsky, Hans Siemsen und Axel Eggebrecht befassten sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhun‐ derts eine ganze Reihe von Kritikern mit der ideologiebildenden Funktion des Films. Siegfried Kracauer verknüpfte Filmmit Gesellschaftskritik. Er sah den Film als Chiffre gesellschaftlicher Tendenzen. Bis heute fungieren etwa in den Cultural Studies Medien als Chiffren gesellschaftlicher Entwicklungen. Im Dritten Reich war Kunstkritik zunächst Sache staatlicher Organe und schließlich ganz verboten. Filme wurden für die politische Propaganda instru‐ mentalisiert und standen unter Kontrolle des Propagandaministeriums. 35 Die Ausdifferenzierung der Filmkritik der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 betonten Kritiker wie Wolfdietrich Schnurre, Hans Helmut Kirst und Gunter Groll die moralische Verantwortung der FilmkritikerInnen. Das Kleine Filmlexikon von 1946 definierte Filmkritik als Beurteilung eines Films von künstlerischen, technischen, weltanschaulichen, soziolo‐ gischen, psychologischen Gesichtspunkten aus. Filmkritik umfaßt Form und Inhalt des Films, ist also seelenverwandt mit Kritik auf den Gebieten der bildenden Künste, der Literatur und der Musik. […] Die Filmkritik muß die großen Unterschiede zwischen Film einerseits und Malerei und Theater andererseits aufzeigen und unter‐ suchen, welches die wesentlichen, aus der Filmtechnik hervorgehenden Ausdrucks- und Gestaltungsmittel sind, wie diese in dem zu beurteilenden Film angewendet wurden und welcher Inhalt damit ausgedrückt wurde. […] Oft wird die Filmkritik (wie jede andere Kunstkritik) durch weltanschauliche, soziale und politische Vorurteile getrübt. Wird die Filmkritik durch wirtschaftliche Abhängigkeit (Inserate usw.) beeinflußt, verdient sie die Bezeichnung Kritik nicht mehr, sondern gehört zum häufig vorkommenden Typus der Filmbesprechung. […] Ernsthafte Filmkritik stützt sich auf filmtheoretische Werke […], aber auch auf den persönlichen Kunstverstand, die Erfahrung und die Erkenntnisfähigkeit des Kritikers. Vom idealen Filmkritiker wird 171 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 36 Reinert (Hrsg.) (1946). Kleines Filmlexikon. Kunst, Technik, Geschichte, Biographie, Schrifttum, 197-198. 37 Kessen (1996): ‚Ästhetische Linke‘ und ‚Politische Linke‘ der Zeitschrift ‚Filmkritik‘ in den sechziger Jahren unter besonderer Berücksichtigung Jean-Luc Godards, 56. 38 Prinzler (1987). „Filmkritik in den fünfziger Jahren“, 42. 39 Die Zeitung musste nach dem Weggang des Publizistikprofessors Walter Hagemann in die DDR eingestellt werden. gefordert, daß er den zu beurteilenden Film im Geiste nachschaffen und dadurch Fehler und Vorzüge des Werkes aufzudecken vermöge. 36 Es entwickelte sich in den fünfziger Jahren eine kirchlich orientierte Filmkritik, die auch auf moralische Positionen achtete. Einer ihrer Hauptvertreter war Gunter Groll. Hans Helmut Prinzler sieht als Leitlinie der damaligen Filmkritik: „Das Bestehen auf einer eigenen Meinung, die nicht objektivierbar sein muß, zieht sich durch alle Selbstreflexionen und veröffentlichten Debatten der Film‐ kritik der fünfziger Jahre.“ Es fehle an „ästhetischem und gesellschaftlichen Verständnis des Mediums“ 37 , was in seiner an der Unterhaltung des Publikums orientierten Schreibweise seinen Ausgleich fand. „Es ist die Zeit der Pointen, der Sprachspiele, der Anspielungen. Je mehr (egal ob Lob oder Verriß) einem Kritiker einfällt, umso größer ist die Intensität eines Textes. Mit dem Anlaß, dem Film, hat das oft nichts mehr zu tun.“ 38 Aus der Filmklubbewegung ging in den sechziger Jahren eigene Filmzeit‐ schriften wie die Verbandszeitschrift filmforum, die politisch linksorientierte Zeitung film 56  39 und ihre Nachfolgerin Filmkritik (erschien im Verlag der Sozialistischen Jugend, Frankfurt) hervor. film 56 stand unter dem Einfluss des damals aus politischen Gründen missliebigen Münsteraner Publizistikpro‐ fessors Walter Hagemann. An der Zeitschrift waren auch die Kritiker Patalas, Gregor, Berghahn, Kotulla und Klapp beteiligt. Nach nur drei Ausgaben wurde die Zeitschrift aus Kostengründen eingestellt. Aufgrund von Auseinanderset‐ zungen mit Hagemann zogen Patalas, Kotulla und Ungureit nach München, um dort die Filmkritik zu gründen. 1957 stand im ersten Heft von Filmkritik die programmatische Zielrichtung: Filmkritik sollte versuchen, den Blick des ansprechbaren Kinogängers zu schärfen - im Künstlerischen: für ästhetische Strukturen und Bauformen, in denen allein (und nicht im ‚wahren Gefühl’) das Genie des Künstler sich kundgibt; im Gesellschaftlichen: für soziale und politische Leitbilder, in denen, bewußt oder unbewußt, der Geist der Zeit sich ausspricht und sich selbst bestätigt. Die Kritik sollte die gesellschaftlichen Mechanismen im Zustandekommen und in der Wirkung von Filmen durchleuchten, die möglichen positiven Fälle, in denen Filme zur sozialen Selbsterkenntnis beitragen, 172 Joan Kristin Bleicher 40 Lenssen (1990). „Der Streit um die politische und die ästhetisch Linke in der Zeitschrift Filmkritik. Ein Beitrag zu einer Kontroverse in den sechziger Jahren“, 69. 41 Witte (1985). „Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen. Die Zeitschrift ‚Filmkritik und junger Deutscher Film 1960-1970‛“, 90-94. 42 Lenssen (1990). „Der Streit um die politische und die ästhetisch Linke in der Zeitschrift Filmkritik. Ein Beitrag zu einer Kontroverse in den sechziger Jahren“, 75. 43 Vgl. ebd. 44 Linder (2013). Filmkritiker. feststellen, und die negativen, in denen politische Beschränktheit gefördert und verewigt wird, denunzieren.“ 40 Als Utopie galt die wechselseitige Veränderung von Filmen und Zuschauern als Folge der Kritik. Karsten Witte wies darauf hin, dass die Kritiker der Zeitschrift Filmkritik später Schlüsselrollen im Bereich Filmproduktion und Filmkritik in den Printmedien und im Fernsehen einnahmen. 41 Die Autoren beider Zeitschriften - Enno Patalas, Theodor Kotulla, Ulrich Gregor, aber auch Heinz Ungureit - wollten den Film von seiner Bindung an das politische Bewusstsein kleinbürgerlicher Massen lösen. Die Rezensionen in der Filmkritik befassten sich ideologiekritisch mit dem Verhältnis von Anspruch und Wirklichkeit. Das filmisch Dargestellte wurde kritisch mit Wirklichkeits‐ ausschnitten verglichen. Die ‚ästhetische Linke‘ schreibt dem Film synthetischen Charakter zu. Der Anspruch ihrer Texte über Godard, Resnais, Antonioni, Bertolucci und viele andere war damals, im experimentierenden Schreiben theoretische Phantasie zu entwickeln, um jeweils spezifisch dem näherzukommen, wie Filme als Synthesen von Zeichensystemen Bedeutungen produzieren. Ziel der Reflexion war, vertikale statt horizontal sukzessive Lesarten zu produzieren. 42 Diese Ausrichtung entsprach der theoretischen Ausrichtung der sich schritt‐ weise in Deutschland etablierenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit Filmen. Herbert Linder begriff Filme, Kritik und Wissenschaft als verschiedene Aggregatzustände derselben Sache. 43 Doch sein Fazit „Ein Film ist ein Pflug, mit dem ich mich umgrabe, die Kritik ist das Protokoll dieser Begegnung.“ 44 nahm spätere Formen der subjektiven Filmkritik etwa in den achtziger Jahren vorweg. Frieda Grafe verfolgte andere Intentionen, indem sie nach spezifisch filmi‐ schen Verfahren der Filmkritik suchte. Sie stellt die Frage, welche Sprache für die Kritik geeignet ist und befasst sich so mit dem grundsätzlichen Über‐ setzungsproblem von der visuellen Vermittlung des Films zur sprachlichen 173 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 45 Althen (2003). „Die Hartnäckigkeit gewisser Geister. Was die Filmkritik immer noch von Frieda Grafe lernen kann“. 46 Linder (1967). „Zum Selbstverständnis der Filmkritik“, 233-234. 47 Kessen (1996). ‚Ästhetische Linke‘ und ‚Politische Linke‘ der Zeitschrift ‚Filmkritik‘ in den sechziger Jahren unter besonderer Berücksichtigung Jean-Luc Godards, 44. 48 Ebd., 7. 49 Witte (1985). „‚Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen‘. Die Zeitschrift ‚Filmkritik und junger Deutscher Film 1960-1970‘“, 91. 50 Filmkritiker Kooperative (1969). Eine Verfassung für die „Filmkritik“, 718-722. Auseinandersetzung der Kritik. 45 Herbert Linder experimentierte mit Formen der Reduktion von Informationen über den Film: Man müsste aber Kritiken schreiben können, die nicht einen Film sich als Objekt vornehmen wie ein Dokumentarfilm sein Thema, sondern ihn fortsetzen mit anderen Mitteln: wie ein Spielfilm die Dinge verwendet, die vorhanden sind, um etwas eigenes aus ihnen zu machen. 46 Insgesamt fasst Peter Kessen die Positionen der ästhetischen Linken und der politischen Linken als Frage zusammen: Waren die ‚ästhetischen Linken‘ die Autisten der Filmkritik, die unter Ausblendung des Publikums ihre ‚elitären‘ Schreibweisen entwickelten, während die ‚politischen Linken‘ ihre Gesellschaftskritik an den Verständnisbarrieren der Leser orientierten? 47 Die Zeitschrift Filmkritik spielte eine „avantgardistische Rolle für Praxis, Theorie und Wissenschaft des Films in der BRD.“ 48 Erst 1966 und 1967 etablierte sich mit der Gründung der Münchner und der Berliner Hochschule die wis‐ senschaftliche Beschäftigung mit dem Film in Deutschland. Das Festival von Oberhausen 1969 war nicht nur ein Schlüsseldatum der Filmgeschichte, sondern auch eine Zäsur in der Redaktionsgeschichte der Filmkritik. Gregor, Hellwig, Jansen, Kotulla, Ripens, Stempel und Ungureit kündigten ihre Zusammenarbeit. Damit löste sich der politische Flügel von der Zeitung und eine neue Genera‐ tion erhielt Zugang. Zu den neuen „Münchner Sensibilisten“ zählten Gerhard Theuring, Klaus Bädekerl, Siegfried Schober und Wolf Eckhardt Bühler. 49 Damit hielten auch neue Schreibweisen der Filmkritik Einzug in die Zeitschrift. Enno Patalas setzte eine Umwandlung der Organisationsstruktur der Film‐ kritik durch, die nun in ein selbstbestimmtes Organ der Mitarbeiter umge‐ wandelt wurde. Eine neugegründete Filmkritiker Kooperative hatte das Ziel, „[…] eine Monatszeitschrift herauszugeben, die von ihren Autoren in eigener, persönlicher und gemeinsamer Verantwortung verfasst und redigiert wird.“ 50 1969 kamen u. a. mit Film auch Konkurrenzzeitschriften auf den Markt. Damit reduziert sich die Zahl der Leser der Filmkritik. Patalas versucht die Funktionen 174 Joan Kristin Bleicher 51 Patalas (1969). „Der dreizehnte Jahrgang“, 7. 52 Dichter (1969). Bericht zu einer motivpsychologischen Studie über die Einstellung des deutschen Publikums gegenüber dem Kino bzw. Filmtheater in seiner derzeitigen Erschei‐ nungsform, o. S. 53 Prisma (2020). https: / / www.prisma.de/ filme/ Marlene,407066. 54 Schütte (1968). „Maßstäbe der Filmkritik“, 65. der Filmkritiker auch auf den Bereich anderer Aktivitäten im Bereich des Films auszuweiten. 51 Die avantgardistische Ausrichtung der Filmkritik in den sechziger Jahren war nicht unumstritten. Ein Bericht des amerikanischen Marktforschungsun‐ ternehmen Ernest Dichter, der 1969 von der Filmförderungsanstalt Berlin in Auftrag gegeben worden war, konstatiert die Mitschuld der Filmkritik am Untergang des deutschen Kinos: 1. Durch die Betonung der Filmkrise und des Zweifels am Film als Kunstgegenstand, 2. durch mangelnde Informationsübermittlung hinsichtlich des Wertes und des Gehalts von Filmen, 3. durch Forcierung von negativen Werturteilen und Vernachlässigung der Übermittlung von Beurteilungs- und Verständniskategorien […], 4. durch Abwer‐ tung der den Bedürfnissen des Publikums angemessenen Filme, 5. durch betonte Würdigung avantgardistischer Experimentalfilme, die dem Verständnis und der Erlebensformel des Publikums im Wesentlichen unzugänglich bleiben. 52 Diese Position wurde immer wieder aktualisiert, so etwa bei dem Misserfolg von Vilsmaiers Bio-Pic Film Marlene (2000). Hier konnten potenzielle Zuschaue‐ rInnen Zeilen wie diese lesen: „Zum einen hört Vilsmaier immer dann auf, Episoden aus dem Leben der Dietrich zu erzählen, wenn es richtig spannend wird, zum anderen baut er eine fiktive und völlig unnötige Liebesgeschichte auf, die außer Schmalz und Langeweile nichts zum Mythos "Marlene" beizutragen hat. Dabei hätte das Leben der Diva so viel guten Filmstoff geboten. Eine teure und vertane Chance, auch in Deutschland einen richtig guten Film zu machen.“ 53 Diese Wertung soll ZuschauerInnen vom Kinobesuch abgehalten haben. Eng verbunden mit dieser Kritik an der Kritik ist die Auffassung von der Kritik als einer journalistischen Dienstleistungsfunktion, die folgenden Schreibanfor‐ derungen zu genügen habe: „Die Kritik sollte so geschrieben sein, dass sie vom größten Teil der amorphen, nach Bildungsniveau und Interessengebiet verschiedenartig gruppierten Leserschaft rezipiert werden kann.“ 54 175 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 55 Jarvie (1974). Film und Gesellschaft. Struktur und Funktion der Filmindustrie, 186. Siehe auch Ders. (1961). „Towards an Objective Filmcriticism“, 19-23. 56 Diederichs (1996). Anfänge deutscher Filmkritik, 17-18. Positionen der Filmkritik in den siebziger Jahren Die allgemeine Politisierung der Gesellschaft in den frühen siebziger Jahren schlug sich auch in den Positionen der Filmkritik nieder. „Kurzum, der Filmkri‐ tiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar“, stellte die Arbeitsge‐ meinschaft der Filmjournalisten 1978 bei einer Tagung in Anlehnung an das bekannte Kracauer-Zitat fest. Der Filmsoziologe I. C. Jarvie versuchte durch die Rückbindung der Filmkritik an die kritische Tradition der Wissenschaft eine Objektivierung zu erreichen. Zur Vorgehensweise dieser Rückbindung schreibt Jarvie: Auch in der Filmkritik sollte man vorgehen wie in der Wissenschaft - zur Lösung bestimmte Theorien aufstellen, sie diskutieren und möglicherweise sogar widerlegen. Man sollte Interpretationen und Werturteile unterbreiten, sie mit Argumenten kräf‐ tigen, dann auf Kritik und Gegenargumente hören und sich bemühen, daraus zu lernen. 55 Helmut H. Diederichs regte 1986 eine Soziologie der Filmkritik an, deren Grund‐ muster er in der klassischen Kommunikationswissenschaft suchte: Denn Filmkritik hat es stets mit gleich zwei Massenkommunikationsmitteln zu tun: Mit dem Film als Gegenstand der massenkommunikativen Aussage und der Presse (bzw. dem Hörfunk oder dem Fernsehen) als Übermittlungsmedium. Das klassische Ablaufschema massenkommunikativer Prozesse Kommunikator - Medium - Aussage - Rezipient - Wirkung lässt sich als Gliederung einer Soziologie der Filmkritik konkretisieren: Filmkritiker - Presse/ Rundfunk - Filmkritik - Kinogänger/ -Interessent - Effekt der Filmkritik. 56 Ob diese Effekte tatsächlich erzielt wurden, blieb umstritten. Die Filmkritik seit den neunziger Jahren Karsten Witte sieht in der Filmkritik der neunziger Jahre ein Phänomen des Übergangs. Wie die allgemeine Kulturkritik erleidet sie einen durchgreifenden Paradigmen‐ wechsel. Nicht länger gilt die generelle Kritik der Aufklärung und den von ihr hervorgebrachten Mythen. Vielmehr übt sich die neue Filmkritik in der Feier eines 176 Joan Kristin Bleicher 57 Witte (1990). „Von der Diskurskonkurrenz zum Diskurskonsens“, 161. 58 Eder (1978). „Über den Einfluß der Filmkritik“, 2. 59 Diederichs (1986). Anfänge deutscher Filmkritik, 22. 60 Eder (1987). „Über den Einfluß der Filmkritik“, 4-5. Mythos ohne Aufklärung. War im umfassenden Sinne der Kritiker alten Schlags ein Zirkulationsagent mit ästhetischer Kompetenz, so ist der Idealtypus des neuen Kritikers ein Ich-Agent mit der Kompetenz eines Augenliebhabers. Im Maße, wie sich die akademisch-universitäre Filmkritik professionalisiert, wird die Tageskritik der Mietköpfe der Medien amateurhaft. 57 Das Berufsbild des Kritikers ist weiterhin unklar. Klaus Eder fasst ironisch zusammen: „Filmkritiker ist, wer sich als solcher erklärt.“ 58 Insbesondere im Internet entstand auf dieser Basis eine Blogkultur der Filmkritik. Es wuchs schrittweise die Relevanz der Filmbewertung durch Amateure, die teilweise eine hohe Zahl von Abonnenten ihrer Blogs erzielten. Im Internet entstanden auch Formen der visuellen Filmkritik wie etwa Videoessays. Zum Wirkungsaspekt der Filmkritik Vergleichbar der Literatur- und Theaterkritik ist auch in der Filmkritik die Intention der Steuerung des Sehverhaltens und der pädagogischen Schulung des Kinobesuchers erkennbar. Helmut H. Diederichs führt den Zeitaspekt ein und bemerkt: Die Frage nach dem Effekt, nach dem Einfluß der Filmkritik hat in bezug auf ihren kinointeressierten Leser einen kurfristigen und einen längerfristigen Aspekt. Kurzfristig erfüllt die einzelne Filmkritik eine Informations- und Beratungsfunktion vor dem Kinobesuch, wird sie als Entscheidungshilfe für oder gegen die kritisierten Filme genutzt. Dies dürfte noch immer die wichtigste individuelle und gesellschaft‐ liche Funktion der Filmkritik sein. […] Längerfristig kommt der Filmkritik eine Bildungsfunktion in dem Sinne zu, daß der Leser angeregt und zunehmend in den Stand gesetzt wird, selbst Filme zu kritisieren, selbst ästhetische u. a. Urteile zu fällen und zu begründen. Unabhängig von ihrer Beratungs- und Bildungsfunktion hat die Filmkritik aber auch eine Unterhaltungsfunktion, wird der Leser stets ansprechend anspruchsvolle, kurzweilig kommentierende und fesselnd analysierende Filmkritiken vorziehen, in denen ohne Scheu polemisiert und geurteilt wird. 59 Klaus Eder betont den besonderen Einfluss und die besondere Verantwortung des Kritikers: „Filmkritik heißt, Verantwortung zu übernehmen für einzelne Filme; Verantwortung auch für ihre Kinokarriere.“ 60 Imbert Schenk konstatiert: 177 Filmkritik im Spannungsfeld zwischen Kultur, Journalismus und Wissenschaft 61 Schenk (1998). Filmkritik. Bestandsaufnahme und Perspektiven, 8. 62 Grafe (1990). „‚Autorenfilm, Autorenkritik’. Zum Beispiel ‚Himatsuri‛ von Mitsuo Yanagimachi“, 87. 63 Diederichs (1986). Anfänge deutscher Filmkritik, 27. „Der Filmkritiker erhebt sich so vom Dienstleister zum Lenker des filmischen Zuschauerblicks, zum Meinungsführer in Sachen Film.“ 61 Frieda Grafe betont als Gegenmodell: „Kritiker sind nie Meinungsführer gewesen. Filme werden vom Publikum durchgesetzt. Kritiker haben allenfalls auf längere Sicht besser gesehen, welche Filme wichtig für die Entwicklung des Mediums waren.“ 62 Wilmont Haacke unterscheidet drei zeitliche Phasen der Filmkritik, die auch ihre Wirkung beeinflussen: „Die ‚Phase der Werbung‘ vor Erscheinen des Films, die als ‚Gegenform substanzhafter Kritik‘ anzusehen sei, die ‚Phase der Wertung‘, ob ein Film ‚ein Machwerk oder ein Kunstwerk‘ sei, durch ernsthafte Kritiken in führenden Zeitungen, in kulturpolitischen und in allgemeinbil‐ denden Zeitschriften von Rang; schließlich die ‚Phase der Würdigung’ eines Films als ‚künstlerische Leistung‘, als Summe der bejahenden Beurteilungen, die ihm während seines Laufens von der namhaften zeitgenössischen Kritik zuteil geworden seien.“ 63 Die letzte Phase der Würdigung des Films findet jedoch häufig nicht mehr in den Printmedien, sondern in filmwissenschaftlichen Seminaren an den Universitäten statt. Literatur Althen, Michael (2003). „Die Hartnäckigkeit gewisser Geister. Was die Filmkritik immer noch von Frieda Grafe lernen kann“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28.8. O.S. Arnheim, Rudolf (1977). „Fachliche Filmkritik“. In: Ders.: Kritiken und Aufsätze zum Film. München: Hanser. Balász, Béla (1924): Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Wien: Deutsch-Öster‐ reichischer Verlag. Baumgarten, Alexander Gottlieb (2007). Ästhetik. Lateinisch-deutsche Ausgabe. Über‐ setzt, mit einer Einführung, Anmerkungen und Registern. Dagmar Mirbach (Hrsg.). 2 Bände. Hamburg: Meiner. Becker, Wolfgang (1973). Film und Herrschaft. Organisationsprinzipien und Organisati‐ onsstrukturen der nationalsozialistischen Filmpropaganda. Berlin: Verlag Volker Spieß. Benjamin, Walter (1955). „Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. In: Theodor W. Adorno; Gretel Adorno (Hrsg.). Walter Benjamin. Werke Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. 178 Joan Kristin Bleicher Dichter, Ernest (1969). Bericht zu einer motivpsychologischen Studie über die Einstellung des deutschen Publikums gegenüber dem Kino bzw. Filmtheater in seiner derzeitigen Erscheinungsform. München: Filmförderungsanstalt. Diederichs, Helmut H. (1986). Anfänge deutscher Filmkritik. Stuttgart: Verlag Robert Fischer. Diederichs, Helmut H. (1987). „Die Forderung der Klassiker an die heutige Filmkritik“. In: AugenBlick. Marburger Hefte zur Medienwissenschaft. 4, 4-17. Donner, Wolf (1990). „Kritiker-Kritik, Kulturbetrieb, Kieslowski. Notizen zum Stand der Filmkritik und zu Kieslowskis Krotki Film o zabijaniu (1987)“. In: Norbert Grob; Karl Prümm (Hrsg.). Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen. München: Edition text + kritik. Eder, Klaus (1978). „Über den Einfluß der Filmkritik“. In: Gertrud Koch; Karsten Witte (Hrsg.). Seminar Filmkritik. Protokolle einer Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten in Frankfurt am Main. München. Filmkritiker Kooperative (1969). 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Positionen und Kontroversen. München: Edition text + kritik. Internetquelle Prisma (2020). https: / / www.prisma.de/ filme/ Marlene,407066 (25.11.2020). 180 Joan Kristin Bleicher Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie Frank Nikulka „Kritisches Denken“ - ist das neu oder kann das weg? Bedarf „Kritisches Denken“ einer inhaltlichen Bestimmung und Begründung? Wider Erwarten scheint es so zu sein. Zumindest aktuell durch die Medien schwappendes sogenanntes „postfaktisches“ Gedankengut macht es notwendig einzugrenzen, was kritisches Denken meinen kann und soll. Kritisches Denken wird hier zuallererst als prüfender Vorgang verstanden, mit dem Ziel Beste‐ hendes zu beurteilen und darauf aufbauend Neues zu schaffen. (1) In der Regel beginnt der Prozess kritischen wissenschaftlichen Arbeitens im Studium mit einer Fragestellung oder Aufgabe und dem darauf aufbauenden Sammeln von Informationen unter Beachtung und Bewertung der wissenschaft‐ lichen Solidität und Vertrauenswürdigkeit der Quelle, aus der diese Informa‐ tionen stammen. Dies setzt die eigene Kompetenz zur Unterscheidung von anerkannter Fachliteratur (im Sinne der Verfasser und der Publikationsorgane und ihrer Herausgeber) und außerfachlichen bzw. zumindest grenzwertigen pseudowissenschaftlichen Schriften voraus. Erforderlich ist auch die Freude an der weiteren Literatursuche und am intensiven Lesen zur Schärfung eigener Urteilskraft. Die Suche nach „dem Buch“ oder „dem Artikel“ zum Thema ist dabei der falsche Ansatz. (2) Es folgt das Vergleichen von Studien, ihrer Da‐ tenbasis, ihrer Analyseverfahren, ihrer methodischen Argumentationsführung und der daraus resultierenden Ergebnisse. (3) Nach umfangreicher und einge‐ hender Auswertung der Fachliteratur, wobei stets auch die jahrzehntelange Entwicklung und Modifikation eines Forschungsthemas, also die Forschungs‐ geschichte, zu beachten ist, zielt das eigene Bemühen auf ein kritisches Urteil bzw. eine Antwort auf die Ausgangsfrage ab. (4) Letztlich ist es notwendig eigene Fragen an Texte zu stellen, nicht nur hinzunehmen, sondern gedanklich kreativ in bestehendem Wissen Lücken zu entdecken und daraus neue, eigene Forschungsansätze zu entwickeln. So wird aus kritischem Denken das dringend erforderliche methodisch fundierte, kreative Denken. 1 Dazu auch Eggert (2006). Archäologie: Grundzüge einer Historischen Kulturwissenschaft, 204 - 211. Wenn hier und im Folgenden vielfach auf Schriften von Manfred K. H. Eggert verwiesen wird, dann geschieht dies auch in dankbarer Verbundenheit zu meinem akademischen Lehrer während meiner eigenen Hamburger Studienzeit und später weit darüber hinaus. Tatsächlich ist eine gedankliche Auseinandersetzung mit den Grundlagen unseres Faches nicht möglich, ohne die Vielzahl von kritischen Aufsätzen Eggerts dabei zu berücksichtigen und diese wenigstens exemplarisch zu zitieren. 2 Da Fach und Studiengang an der Universität Hamburg verkürzt „Vor- und Frühge‐ schichtliche Archäologie“ heißen, wird im Folgenden diese Bezeichnung bzw. das Siegel VFGA verwendet. Auch die Verwendung der Kurzform „Prähistorische Archäologie“ zur Abgrenzung vom Nachbarfach der „Klassischen Archäologie“ ist verbreitet, würde die frühgeschichtlichen und jüngeren Epochen als wichtige Bestandteile des Faches in Hamburg jedoch nicht angemessen berücksichtigen. Damit dürfte der Vorgang kritischen Lesens und Denkens zumindest in seinen wesentlichen Zügen skizziert worden sein. Im Prinzip ist so auch der Dreischritt der traditionellen historischen Methodik beschrieben worden: Heuristik, Kritik und Interpretation. 1 Bevor auf die konkrete Bedeutung kritischen Denkens eingegangen wird, seien einführend auch einige Aspekte spezifisch archäologischen Arbeitens zumindest oberflächlich angerissen. Zu all diesen Punkten gibt es reichhaltig Literatur, die sich damit eingehender auseinandersetzt, als dies hier möglich und erforderlich ist. Da aber diese innerfachliche Analyse des eigenen Tuns außerhalb der Disziplin wohl kaum wahrgenommen wird, die Analytiker sich somit sinnbildlich um die eigene Achse drehen, sei die Gelegenheit genutzt dies hier einer breiteren Leserschaft wenigstens ansatzweise zu vermitteln. Viele Archäologien Zunächst sei skizziert, was unter Ur-, Vor- und Frühgeschichtlicher Archäologie und Archäologie des Mittelalters, der Neuzeit und der Moderne zu verstehen ist, da zu allen Bereichen an der Universität Hamburg gelehrt und geforscht wird. 2 Die Urgeschichtliche Archäologie widmet sich vorrangig den Hinterlassen‐ schaften der frühesten Menschheitsgeschichte, die Vorgeschichtliche Archäo‐ logie behandelt Themen aus Zeiten, aus denen keine oder kaum schriftlichen Zeugnisse bekannt sind, während die Frühgeschichtliche Archäologie zuneh‐ mend auch Schriftquellen einbeziehen kann. Die Archäologie des Mittelalters und der Neuzeit kombiniert schriftliche und bildliche Quellen mit der archäo‐ logischen Überlieferung; die Archäologie der Moderne bzw. der Gegenwart (z. B. Hinterlassenschaften der Weltkriege, Relikte innerdeutscher Grenzanlagen) bezieht digitale Medien und Zeitzeugenbefragungen in die Untersuchung ein. 182 Frank Nikulka 3 Zur Frage der Definition bzw. zum Selbstverständnis von „Geistesbzw. Kulturwissen‐ schaften“ (auch bezeichnet als Orientierungsbzw. Kompensationswissenschaften) siehe Prinz; Weingart (1990). „Innenansichten geisteswissenschaftlicher Forschung: Einleitende Bemerkungen“. Zum Fach „Ur-, Vor- und Frühgeschichte“ (ohne den Zusatz Archäologie) Narr (1990). „Nach der Nationalen Vorgeschichte“. Zur Erforschung der materiellen Hinterlassenschaften vergangener Kulturen dienen uns in erster Linie archäologische Methoden zur Lokalisierung, Freile‐ gung, Dokumentation von Befunden und Bergung von Funden. Diese Verfahren werden durch eine Vielzahl naturwissenschaftlicher und materialanalytischer Methoden benachbarter Fächer ergänzt (z. B. Bodenkunde, Geologie, Geogra‐ phie, Mineralogie, Metallurgie, Botanik, Zoologie, Anthropologie, Rechtsme‐ dizin, Klimatologie). Der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie kommt dabei eine Mittlerfunktion zu, da sie je nach methodischer und inhaltlicher Ausrichtung zwischen Geistes- und Naturwissenschaft steht. 3 Zur praktischen Überprüfung führen wir archäologische Experimente durch, zur Auswertung größerer Fundmengen nutzen wir statistische Verfahren, und zur Interpretation der archäologischen Sachverhalte werden oft ethnologisch-soziologische Mo‐ delle, Analogien und aktualistische Vergleiche herangezogen. Die archäologische Forschung und Lehre beschränkt sich nicht zwingend auf einen speziellen Raum oder eine Epoche, sondern thematisiert beispiels‐ weise die frühe Menschheitsentwicklung in Afrika, den Übergang vom Jäger und Sammler zum sesshaften Feldbauern, die Herausbildung und Bedeutung der Metallurgie in gesellschaftlichen Kontexten, die Ursachen sozialer Komple‐ xität und Auseinandersetzungen im weltweiten Vergleich oder derzeit auch Transformationsprozesse jeglicher Art. Dementsprechend breit gefächert und variabel sind die Inhalte der Lehrveranstaltungen und entsprechend vielfältig sind die thematischen Herausforderungen, mit denen sich die Studierenden auseinandersetzen müssen und nach „Wissen und Wahrheit“ suchen. Wahrheitssuche und Selbstverständnis Gibt es „Wahrheit“ als Ergebnis kritischen Denkens in der Vor- und Frühge‐ schichtlichen Archäologie? Suchen wir überhaupt nach Wahrheit im Sinne von historischer Wirklichkeit oder bemühen wir uns um argumentativ und mög‐ lichst auch empirisch begründete, letztlich plausible, aber stets korrigierbare Deutungen unserer spezifischen archäologischen Quellen? Haben wir mit Mo‐ dell- und Theoriebildungen nicht schon erreicht, was erreichbar ist, und können auf die Suche nach vermeintlichen „historischen Realitäten“ verzichten, da wir diese ohnehin nur bruchstückhaft erfassen können? Durchaus kontrovers sind 183 Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie 4 Heinz et al. (2003). Zwischen Erklären und Verstehen? Beiträge zu den erkenntnistheore‐ tischen Grundlagen archäologischer Interpretation. 5 Eggert (2006), bes. 11-27. Zum Verhältnis von Archäologie und Naturwissenschaft auch Samida; Eggert (2013) mit kritischer Haltung gegenüber der vielfach unverdienten Etikettierung von Forschung als „interdisziplinär“ (ebd. 99) und der zunehmenden „Überbetonung der technisch-quantitativen Aspekte der Archäologie bei gleichzeitiger Vernachlässigung - soweit das angesichts des chronischen Leidens des Faches noch möglich ist - ihrer kulturwissenschaftlichen Fundierung“ (ebd. 100). 6 Zur Konzeption der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie als „Historische Kultur‐ wissenschaft“ eingehend Eggert (2006), bes. Kap. XIII. Ansichten darüber, ob es uns gelingen kann historische Situationen hermeneu‐ tisch zu „verstehen“ oder ob wir uns bemühen müssen diese verallgemeinernd bzw. kausal zu „erklären“. 4 Versteht sich die Vor- und Frühgeschichtliche Ar‐ chäologie (VFGA) deshalb nicht zu Recht als eine den Geschichtswissenschaften zwar sehr nahestehende, vielfach naturwissenschaftliche Verfahren nutzend bzw. deren Ergebnisse einbeziehend 5 , aufgrund ihrer spezifischen Quellen und ihrem Erkenntnispotential aber doch anders ausgerichtete bzw. anders denkende Geisteswissenschaft bzw. Historische Kulturwissenschaft? 6 Theorie und Praxis Die VFGA sucht Einzelphänomene (Funde und Befunde) denkend zu verstehen bzw. zu erklären, bemüht sich andererseits auch um empirisch abgesicherte allgemeine Schlüsse von kulturgeschichtlicher Relevanz mit unterschiedlicher Reichweite. Der methodische Weg dahin kann sehr unterschiedlich sein; sei es die Freilegung, Dokumentation und Bergung von Funden und Befunden im Rahmen archäologischer Feldforschung, deren Dokumentation aus der Luft oder die zerstörungsfreie Erfassung durch geophysikalische Prospektionsmethoden, sei es die makro- oder mikroskopische Untersuchung und Dokumentation der Artefakte, deren statistisch begründete formale Klassifikation oder die chrono‐ logische Ordnung der Dinge entlang kalendarischer bzw. kulturgeschichtlicher Zeitachsen durch andere Verfahren der Auswertung regelhafter Fundkombina‐ tionen (Seriation). Diese eher empirisch und induktiv ausgerichteten Wege der Wissensgenerierung sind nur ein möglicher Ansatz. Einen anderen Weg gehen deduktive Ansätze, also von bekanntem Wissen und beobachteten Regel‐ haftigkeiten ausgehend formulierte Hypothesen als Grundlage der prüfenden Betrachtung und Analyse unserer fachspezifischen Quellen mit ihrer ebenso spezifischen Aussagekraft. Das Prinzip des analogen Deutens ausgehend von uns bereits Bekanntem ist und bleibt eine methodische Grundlage unserer Dis‐ 184 Frank Nikulka 7 Aus der Fülle der Literatur dazu seien hier exemplarisch einige überwiegend deutsch‐ sprachige Titel genannt: Allen voran Eggert (1998). Außerdem ohne Wertung in alphabetischer Reihenfolge: Ascher (1961); Bernbeck (1997), darin bes. Kap. 5; Biehl (1996); Fetten (1993); Fischer (1991); Gramsch (2000); Gramsch; Reinhold (1996); Guksch (1993); Ickerodt (2010); Krausse (2000); Noll (1996); Veit (1993). Vossen 1991. ziplin und zeigt zugleich die intellektuelle Befangenheit in unserem Vor-Wissen, aus der wir uns kaum lösen können, mit der wir jedoch gezielt arbeiten können. 7 Im alltäglichen Sprachgebrauch wird polarisierend, wenngleich letztlich unsinnig zwischen „praktischer“ und „theoretischer“ Forschung, zwischen Prak‐ tikern und Theoretikern unterschieden, dies je nach Standpunkt auch im Sinne einer negativen Bewertung der „theoretischen Forschung“ (Datenanalyse und kritisches Denken) gegenüber einer vermeintlich neutralen Faktensicherung im Bereich der „praktischen Forschung“ (Bergung und Dokumentation). Beide Charakterisierungen sind ebenso unzutreffend wie überflüssig, da Archäologie als Wissenschaft weder nur mit dem einen noch mit dem anderen Tätigkeitsbe‐ reich sinnvoll ausgeübt werden kann. Spuren, Indizien, Argumente Das Spektrum der fachspezifischen Methoden ist gleichermaßen vielfältig wie komplex, insbesondere wenn Kenntnisse der analytischen Verfahren in zahlreichen naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zur Beantwortung kulturgeschichtlicher Fragestellungen einbezogen werden. Zumindest Grund‐ lagenkenntnisse dieser Verfahren werden von Studierenden der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie schon im Grundstudium gefordert und sind spätestens im fortgeschrittenen Studium und für die Konzeption eigener For‐ schung unabdingbar. Die ureigenen kulturgeschichtlichen Fragen der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie sind jedoch von naturwissenschaftlicher Ana‐ lytik weitgehend unabhängig. Diese Fragen sind auf das Handeln des Menschen in seiner gesamten Existenz ausgerichtet, wobei es selten möglich ist, die Moti‐ vation der Akteure zu erschließen, fassbar sind aber die Produkte und Spuren als Ergebnisse menschlichen Handelns. Ähnlich wie die Tatortuntersuchung (crime scene investigation) in der Kriminalistik ist es Aufgabe der Archäologie diese Spuren zu sichern, den möglichen Tathergang daraus in Form von Hypothesen abzuleiten und diese im Verlauf der weiteren Analyse zu testen, zu verwerfen und neu zu formulieren, bis letztlich ein oder mehrere plausible Deutungsan‐ sätze eingegrenzt werden können, oft genug ohne ein abschließendes Urteil fällen zu können, doch immer mit der Möglichkeit bestimmte Deutungsansätze zu verwerfen und das Spektrum der Möglichkeiten einzugrenzen, um nicht in 185 Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie 8 Zur Relation von Archäologie und Kriminalistik: Gründel; Ziegert (1983). „Archäologie und Kriminalistik“; Kümmel (2003). „Wie weit trägt ein Indizienbeweis? Zur archäolo‐ gischen Überführung von Grabräubern“; Mante (2003). „Spuren lesen: Die Relevanz kriminalistischer Methoden für die archäologische Wissenschaft“. Beliebigkeit zu enden. 8 Grundlage dieser Überlegungen und Hypothesenbildung ist nicht immer, aber oft die Suche nach dem Motiv: cui bono? Anders als bei der Arbeitsteilung von Ermittlungsbehörden, Gericht, Rechts- und Staats‐ anwaltschaft nehmen Archäologen alle diese Funktionen zugleich ein, sind also gezwungen Argument und Gegenargument permanent selbst zu entwickeln und gegeneinander abzuwägen, sei es im Disput mit sich selbst oder im Austausch mit der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Da Zeugen- und Täterbefragungen in der Archäologie in der Regel nicht möglich sind (es gibt tatsächlich mehrere Ausnahmen in der Archäologie der Moderne), wird eine unumstößliche Beweisführung in der Archäologie nicht gelingen, bestenfalls ein Indizienbeweis kann erreicht werden, oft genug nicht einmal dies. Es geht vielmehr darum mithilfe der gesicherten Spuren und unter Einbeziehung von Fremdinformationen bzw. allgemeinem erfahrungsbe‐ dingtem „kulturellen Wissen“ plausible Deutungsansätze zu formulieren, die von der Fachwelt zumindest vorläufig akzeptiert werden. Dieser Prozess des Generierens von „Wissen“ kann nicht das Ziel verfolgen, die eine unumstößliche „Wahrheit“ herauszufinden. Andererseits hieße es, das Anliegen dieses Faches gänzlich falsch zu verstehen, glaubte man jedes Bemühen um historische Wahr‐ heitsfindung sei obsolet. Wir bemühen uns sehr wohl um Wahrheitsfindung, wohl wissend, dass wir uns diesem Ziel stets nur nähern können und unsere Ergebnisse permanent der kritischen Prüfung, dem kritischen Denken unserer wissenschaftlichen Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen sowie der außerfachlichen Öffentlichkeit in Museen und Medien aussetzen müssen. Neben der unabdingbaren Aneignung profunder Quellenkenntnis als Basis jeglicher fachlichen Diskussion macht das kritische Denken über diese Quellen einen wesentlichen Teil und den besonderen Reiz dieser Disziplin aus. Wo quantitative Daten weniger im Zentrum der Wissensbildung stehen, kommt dem kritischen Denken und Argumentieren eine herausragende Bedeu‐ tung zu. Ob nun historische Ereignisse, allgemeine kulturelle Vorgänge und gesellschaftliche Strukturen in langzeitlicher Perspektive, handwerkliche Ver‐ fahren der Produktion, die Analyse von Siedlungen in ihrem landschaftlichen Raumbezug, die Hintergründe von Bestattungssitten, rituelles und/ oder religiös motiviertes Handeln, Mensch-Umwelt-Relationen, der Umgang mit natürlichen Ressourcen oder soziales Miteinander in diversen Kontexten untersucht werden, jedes dieser Forschungsthemen erfordert kritisches Denken, Kommunikation 186 Frank Nikulka und Reflexion. Es dürfte deutlich sein, dass jede Reduzierung auf den ver‐ meintlich sicheren Hafen der Empirie und Datensammlungen implizit auch eine Flucht vor den hermeneutischen Herausforderungen einer historischen Kulturwissenschaft sein kann. Studierende erfahren durch Forschendes Lernen das Potential und die Grenzen verschiedener Methoden einzuschätzen, formulieren Ergebnisse schriftlich und reflektieren dabei auch mit der notwendigen Selbstkritik ihre eigenen Argumentationen; sie erkennen die Bedingtheit des eigenen Denkens und des historischen Deutens. Meinungspluralismus ist dabei nicht nur erlaubt, sondern gefordert, ohne dass dies in wertfreier postmoderner oder gar post‐ faktischer Beliebigkeit enden darf. Kritische, pluralistische und demokratische Meinungsbildung steht nicht im Widerspruch zur argumentativen Wissensbil‐ dung und Festlegung auf das derzeit am besten fundierte Ergebnis. Wie sehr dieses Ergebnis einer historischen Realität (Wahrheit) nahekommt, wird nicht immer ersichtlich und darf nicht der Anspruch an wissenschaftliche Wissensge‐ nerierung in der Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie sein. Es ist vielmehr dieser permanente reflexive Ansatz des immer wieder anders denken Müssens, der die Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie so faszinierend macht. Diese herausfordernde kritische Auseinandersetzung hat immer auch einen starken Gegenwartsbezug: Die Gedanken sind frei und doch ist das Denken auch durch die persönliche Sozialisation, den vorherrschenden Zeitgeist und das Umfeld des wissenschaftlichen Arbeitens beeinflusst. Archäologische Er‐ kenntnis wird durch den gesellschaftlichen Kontext des Denkens beeinflusst; zugleich prägt die Archäologie, durch ihre mediale Präsenz, das Bild von der Vergangenheit und trägt somit erhebliche gesellschaftliche Verantwortung. Beispiel: Egtveds Reisen - Das Seminar zum Film Die Archäologien sind wie manch andere Disziplin von herausragendem öf‐ fentlichem Interesse und müssen ihre Forschungen und Ergebnisse in Museen und medial präsentieren, um einen gesellschaftlichen Mehrwert zu generieren. Hier erwartet und verlangt die mediale Öffentlichkeit „Wahrheiten“, die bei kritischem Nachdenken in dieser Absolutheit oft gar nicht haltbar sind, für die allgemeine außerfachliche Öffentlichkeit dennoch in dieser Vereinfachung präsentiert werden sollen. Die Aussage, „es könnte so, aber auch anders gewesen sein“, ist im Kontext des wissenschaftlichen Diskurses nicht nur akzeptabel, sondern selbstverständlich, trägt außerhalb dieses Kontextes hingegen wenig zur gesellschaftlichen Wertschätzung der Disziplin bei. Umso mehr muss wis‐ senschaftsintern kritisches Denken in der akademischen Lehre praktiziert 187 Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie 9 Egtved-Mädchen nach Publikationen von Broholm; Hald (1935) und Kristiansen; Larsson (2005); Montage F. Nikulka. Abb. 1: Präsentationsweisen des „Mädchens“ von Egtved in Publikationen von 1935 und 2005 9 werden, um nicht auf dem glatten Parkett der einfachen Pseudowahrheiten auszurutschen. Es ist im positiven Sinne permanent Kritik zu üben und zu rela‐ tivieren - im ersten Schritt oft destruktiv, letztlich aber konstruktiv intendiert. Ein besonders prägnantes Beispiel aus der akademischen Lehre sei hier genannt: Eine Lehrveranstaltung zum Thema „Egtveds Reisen - Das Seminar zum Film“ unter Leitung des Verfassers im Sommersemester 2017. Das Seminar wurde im Vorlesungsverzeichnis wie folgt angekündigt: „Die in einem älterbronzezeitli‐ chen Baumsarg bestattete junge Frau von Egtved (Fundplatzname) ist nicht nur für den Schnurrock berühmt. Neueste Forschungen haben durch Strontiu‐ misotopenanalysen wahrscheinlich gemacht, dass diese in Jütland bestattete junge Frau aus Südwestdeutschland stammen könnte. Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass sie aus Skandinavien oder Großbritannien stammt. Ein Hamburger Filmemacher wird versuchen, die Reise von Jütland nach Südwest‐ deutschland filmisch nachzuvollziehen und benötigt fachlichen Rat. In diesem 188 Frank Nikulka Seminar werden wir nun fachlich prüfen, zu welchen bekannten Fundplätzen die Reise je nach gewählter Route hätte führen können und wie wir dies vom fachwissenschaftlichen Standpunkt aus begründen können. Das Ziel ist also eine Verknüpfung fachlichen Wissen zur europäischen älteren Bronzezeit bzw. Mittelbronzezeit bzw. Hügelgräberbronzezeit am Beispiel fiktiver Reiserouten.“ Wie erwartet war das Interesse an diesem Hauptseminar recht groß. Dies ließ sich einerseits auf den attraktiven Titel der Veranstaltung zurückführen, aber auch auf das Vorwissen der Studierenden über die aktuellen Forschungsergeb‐ nisse dänischer Anthropologinnen (K. Frey et al.), die insbesondere im Internet verbreitet wurden. Nie zuvor war es möglich, den Lebensweg eines Individuums, hier einer mit ca. 18 Jahren im 14. Jahrhundert vor Chr. verstorbenen jungen Frau der Bronzezeit, naturwissenschaftlich nachzuzeichnen. Diese Forschungen waren innovativ und die Ergebnisse spektakulär. Das „Mädchen von Egtved“ (dän.: egdvedpiden) wurde 1921 zufällig beim Angraben eines Hügels gefunden und gilt seitdem als dänische Ikone aus der frühen Geschichte des Landes. Der außergewöhnlich gut erhaltene „Schnurrock“ trug wesentlich zur Berühmtheit dieses Individuums bei. Innovative Isotopenforschung zeigte: Dieses „Mädchen“ bzw. die junge Frau stammt nicht wie über Jahrzehnte selbstverständlich postuliert aus dem Gebiet des heutigen Dänemarks, sondern wahrscheinlich aus dem Bereich des Schwarzwaldes, möglicherweise aber auch aus England oder aus Skandinavien. Das über Jahrzehnte tradierte Idealbild einer jungen Dänin der Bronzezeit wurde in seinen Grundfesten erschüttert. Der Bezug einer Lehrveranstaltung zu einem aktuellen und brisanten For‐ schungsthema hätte kaum besser sein können. Zudem war die angekündigte Zusammenarbeit mit einem Filmproduzenten in dieser Form nie dagewesen. Die Studierenden zeigten von Beginn an außergewöhnlich große Eigenmotivation. Das eigentliche Ziel der Lehrveranstaltung war es, mehrere potentielle Reise‐ routen aus der archäologischen Quellenlage in Verbindung mit naturräumlichen Merkmalen abzuleiten und kritisch zu begründen. Als Leistungsanforderung wurde festgelegt: „In Gruppenarbeit mit erkennbaren Einzelleistungen werden Routenverläufe erarbeitet und die potentiellen Stationen und Erlebnisse wäh‐ rend dieser Reisen fachwissenschaftlich begründet präsentiert. Unabdingbare Voraussetzungen dafür sind gute Kenntnisse der europäischen Bronzezeit und die Bereitschaft, dieses Wissen durch intensive Recherche zu erweitern bzw. zu vertiefen.“ Damit war vorgegeben: Die tatsächliche Route der Wanderungen ist nicht be‐ kannt, und es sollen daher nur mögliche Streckenverläufe begründet aufgezeigt werden. Der eigentliche Lerneffekt sollte darin bestehen, dass die Studierenden ihr Wissen über die Quellenlage zur Bronzezeit durch diese Recherche erheblich 189 Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie vertiefen, sich die Kompetenz aneignen, die Quellenlage kritisch zu bewerten, und somit letztlich auch Forschungsbedarf zu erkennen. Zugleich sollten sich die Studierenden mit der Thematik der Wegeforschung kritisch auseinandersetzen. Unerwarteterweise war die Zielsetzung, fiktive Streckenverläufe aus der Quellenlage begründet durch intensive fachliche Recherche abzuleiten, anstatt den tatsächlichen Weg des Mädchens von Egtved herauszufinden, bis zuletzt schwer zu vermitteln. Interessanter schien den Studierenden die Frage, wie fachliches Wissen in einem wissenschaftlichen Dokumentarfilm vermittelt werden kann, welche filmischen Mittel dafür genutzt werden und ob ein solches Format eines Dokumentarfilms mit spielfilmartigen Szenen den „wissenschaft‐ lichen Tatsachen“ gerecht werden kann. Ein Gespräch der Seminargruppe mit dem Filmproduzenten zeigte schnell, wo wissenschaftliches Fundament und filmische Präsentation übereinstimmen und wo diese auseinanderklaffen werden. Im Verlauf des Seminars wurde die Quellenlage in mehreren Testregionen und Arbeitsgruppen Schritt für Schritt erarbeitet und den jeweils anderen Gruppen das Wachsen des Kenntnisstandes vermittelt. Zusätzlich bestand die Aufgabe diese Rechercheergebnisse und die erarbeiteten Routen in Schrift‐ form ausführlich darzustellen und zu begründen. Dieser Vorgang dauerte über die Maßen lange, war jedoch keineswegs auf fehlendes Engagement zurückzuführen, sondern auf die Herausforderung, intensiv zu recherchieren und kritisch abwägend und argumentierend potentielle Routen zu erarbeiten bzw. Vorschläge zu verwerfen. Kritisches Denken war stete Vorbedingung für diese Aufgabe, war unterschiedlich erfolgreich, führte aber auch zu einem ungeahnten Effekt einer fundamental relativistischen Einschätzung des eigenen Studienfaches als Wissenschaft. Eine Gruppe hatte als Einleitung zur eigentli‐ chen fachlichen Recherche ein fiktives Interview mit dem Egtved-Mädchen der Bronzezeit geführt, anschließend die tatsächliche archäologische Quellenlage bzw. „die Fakten“ recherchiert, und beendet die Hausarbeit so: „Als Letztes wollten wir aufzeigen, dass Archäologie keine exakte Wissenschaft ist, wie es durch [mediale; FN] Dokumentationen oftmals den Eindruck erweckt. Unsere Protagonistin kann, ebenso wie die Archäologie, in der viele Aussagen auf Interpretationen beruhen, nicht auf alle Fragen antworten.“ Die zentralen Botschaften dieser das eigene Fach scheinbar vernichtenden Passage können auch so gelesen werden: (1) Archäologie erfasst reale histori‐ sche Verhältnisse nicht im Ganzen und bleibt in ihren Aussagen quellenbedingt lückenhaft. (2) Der Dokumentarfilm hingegen vermittelt den Zuschauern wis‐ senschaftliche Hypothesen und Modelle als vermeintlich gesicherte Realitäten. Es wäre zu ergänzen: (3) Die Wissenschaft muss fachlich beratend auf die 190 Frank Nikulka 10 Shanks; Tilley (1987a). Re-Constructing Archaeology: Theory and Practice. Dies. (1987b). Social Theory and Archaeology. Dazu die Rezension von Lüning (1991). „Rez. zu: Shanks/ Tilley, Re-Constructing Archaeology“ und die profunde Analyse von Müller-Scheeßel (1998). „Zum Archäologieverständnis von M. Shanks und Ch. Tilley“. Bedürfnisse der Medienmacher eingehen, zugleich sowohl die Tiefe aber auch die Begrenztheit des derzeitigen Wissens offenlegen. Positiv gesehen: Das kritische Denken und Diskutieren über die tatsächliche Quellenlage hat gezeigt, wie sehr gegenwärtige Rahmenbedingungen (in diesem Fall auch monetäre Aspekte der Filmproduktion) scheinbares „Wissen“ und monothetische „Wahrheit“ zielgruppengerecht generieren, auch wenn dies bei neutraler wissenschaftlicher Analyse in dieser Stringenz gar nicht haltbar ist. Zugleich zeigt sich, dass auch sehr hilfreiche naturwissenschaftliche Untersu‐ chungen in der Archäologie zwar wichtige Daten schaffen (hier die Isotopenana‐ lyse), aber keineswegs zu unumstößlichen „Wahrheiten“ führen. Der methodi‐ sche Ansatz des kritischen Denkens und Argumentierens bleibt letztendlich der notwendige Weg, auch in einer eigenständigen Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. Einer Disziplin, die sowohl rein akademischen Herausforderungen der intellektuellen Auseinandersetzung mit den Spuren menschlichen Handelns nachgeht und zugleich immer auch unser gegenwärtiges Dasein im Zusammenhang mit dem Gewesenen sehen will. In diesem Sinne ist Archäologie wohl die einzige Wissenschaft, die über die Gesamtheit menschlicher Daseinsformen in Vergangenheit und Gegenwart forschen und nachdenken darf, dies auch der außerakademischen Öffentlichkeit in verständlicher Form vermitteln muss und somit große gesellschaftliche Verantwortung trägt. Zu guter Letzt: Kritik der Kritik Ein Text über kritisches Denken in der Archäologie kann, sollte aber nicht die Kritik an der Kritik des postmodernen Relativismus ausklammern. Gemeint ist die bereits Ende der 1980er Jahre von Michael Shanks und Christopher Tilley provozierte postmoderne Auseinandersetzung über Wissenschaft und politische Machtverhältnisse der Gegenwart. 10 Neben anderen Aspekten wie beispielsweise der problematischen Subjekt-Objekt-Relation und der vermeint‐ lichen Unfähigkeit der Wissenschaftler (Subjekt) ihren Forschungsgegenstand (Objekt) unvoreingenommen bzw. neutral untersuchen zu können, forderten sie aktive gesellschaftskritische Positionierungen von Archäologen in deren wissenschaftlicher Arbeit im jeweiligen sozialen, kulturellen und politischen Umfeld. Gegen eine solche Grundhaltung im Sinne einer gesellschaftlichen 191 Zwischen Geistes- und Naturwissenschaft: Kritisches Denken in der Archäologie Verantwortung von Wissenschaft ist aus meiner Sicht prinzipiell wenig einzu‐ wenden, wenn dadurch nicht die Relikte der Vergangenheit als beliebig und ohne methodisches Regelwerk einsetzbare Spielbälle im Interesse persönlicher politischer Motivationen missbraucht werden. Begründete Meinungsvielfalt in der Archäologie muss selbstverständlich erlaubt sein und alternative Deutungsansätze sind keine Bedrohung für Wis‐ senschaft, sondern das Fundament kritischer Auseinandersetzungen. Diese Kreativität hat allerdings eine tolerierbare Grenze überschritten, wenn statt alternativer Deutungen zur allgemeinen Belustigung vermeintlich „alternative Fakten“ ins Spiel gebracht werden oder Objektivität bzw. die Argumentation mit gesichertem Wissen (Fakten) prinzipiell abgelehnt wird. Wo unter dem Deck‐ mantel herrschaftsfreier Meinungsgleichberechtigung argumentative Pluralität zu beliebigem Relativismus wird, endet wissenschaftlich sinnvolles kritisches Denken. Literatur Ascher, Robert (1961). „Analogy in archaeological interpretation“. In: Southwestern Journal of Anthropology 17, 317-325. Bernbeck, Reinhard (1997). Theorien in der Archäologie. Tübingen, Basel: Francke. Biehl, Peter F. (1996). „Chancen und Gefahren der Analogiebildung: Back again to Baringo? “. In: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 37, 253-262. Broholm, Hans Christian; Hald, Margrethe (1935). Danske Bronzealders Dragter. Nordiske Fortidsminder II: 5/ 6. København: Gyldendal. Eggert, Manfred K. H. (1998). „Archäologie und Analogie: Bemerkungen zu einer Wissenschaft vom Fremden“. In: Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien 128, 107-124. Eggert, Manfred K. H. (2006). Archäologie: Grundzüge einer Historischen Kulturwissen‐ schaft. Tübingen, Basel: Francke. Fetten, Frank G. 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Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert Christoph Dartmann Am Anfang der Erforschung der mittelalterlichen Geschichte stand die Kritik. Bevor die Vielfalt vergangener Geschehnisse (die res gestae) zu einer Geschichte zusammengefasst wurde, bevor die Erzählung dieser Geschehnisse (die historia rerum gestarum) gleichfalls als ‚Geschichte‘ bezeichnet wurde, gab es Initiativen, die mittelalterliche Überlieferung auf ihre Echtheit und Zuverlässigkeit hin zu überprüfen. Diese Kritik diente noch nicht der methodisch gesicherten Er‐ kenntnis einer abgeschlossenen Vergangenheit, sondern damals aktueller Wahr‐ heits- und Geltungsansprüche. In den Spanischen Niederlanden begannen Je‐ suiten aufgrund reformatorischer Kritik an der katholischen Heiligenverehrung, die Überlieferung aus Antike und Mittelalter systematisch zu sammeln und zu untersuchen, um verlässliche und unzuverlässige Quellen zu unterscheiden und auf dieser Grundlage ein Kompendium der historisch bezeugten Heiligen und ihres Wirkens zusammenzustellen. Diese ‚Acta sanctorum‘, deren erster Band 1643 in Antwerpen erschien, werden bis in die Gegenwart hinein fortge‐ führt, weil ihr Grundkonzept auch modernen wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. 1 Im Bereich der Urkundenlehre, der Diplomatik, reichen die Wurzeln einer kritischen Untersuchung der Quellen ebenfalls bis in die Frühe Neuzeit zurück. Auch bei der Überprüfung mittelalterlicher Urkunden stand zunächst ein aktuelles Interesse im Vordergrund, die Frage nämlich, welche der in den Texten aufgeführten Rechte und Ansprüche Geltung beanspruchen konnten. Zu diesem Zweck entwickelten Gelehrte wie der Benediktiner Jean Mabillon ein Instrumentarium, das es ermöglichen sollte, echte von gefälschten Doku‐ menten zu unterscheiden. Sein Basiswerk ‚De re diplomatica‘ von 1681 legte die Grundlagen für eine kritische Erforschung und Würdigung mittelalterlicher Ur‐ kunden und Handschriften. 2 Noch bevor die Geschichtswissenschaft und damit 3 Interview mit Reinhold Messner von Franceschini (2017): „Das ist ein Rückfall ins Mittelalter“. https: / / www.salto.bz/ de/ article/ 14062017/ das-ist-ein-rueckfall-ins-mittela lter. die wissenschaftliche Erforschung des Mittelalters zu einem Universitätsfach aufstieg und in den etablierten Fächerkanon Einzug hielt, entwickelte sie ein breites Spektrum kritischer Methoden, die die Unterscheidung von echten und unechten Manuskripten, von zuverlässigen und gefälschten Nachrichten und Informationen sicherstellen sollte. Diese Form der Text- und Überlieferungs‐ kritik ist sozusagen in die DNA der wissenschaftlichen Mittelalterforschung eingeschrieben. Die folgenden Ausführungen sollen aufzeigen, welche kritischen Potenziale die Erforschung des Mittelalters besessen hat und auch heute noch besitzt. Dazu zählen neben der Überprüfung von soliden Quellen bzw. Fake News aus der Vergangenheit die kritische Auseinandersetzung mit populären Mit‐ telalterbildern der Gegenwart, mit simplifizierenden Mittelalterklischees, mit nationalistischen Konstruktionen der je eigenen Vergangenheit und mit der Instrumentalisierung des Mittelalters in Auseinandersetzung mit politischen Verhältnissen der Gegenwart. Damit erweist sich das aufklärerische Potenzial einer Wissenschaft, deren Gegenstand nach den Klischees der Moderne sich angeblich gerade durch das Fehlen von Aufklärung auszeichnen soll. Ziel ist es, die kritischen Potenziale guter fachwissenschaftlicher Praxis auch über die engen Grenzen fachwissenschaftlicher Diskurse hinaus aufzuzeigen, denn letztlich ist jede Debatte über die Geschichte ein Gespräch der Gegenwart mit sich selbst über Vergangenes. Und dieses Gespräch wird nicht nur im engeren Rahmen fachwissenschaftlicher Diskussionen geführt, sondern auch überall dort, wo Menschen sich auf Vergangenheit beziehen. Irrelevanz des Mittelalters und Mittelalterboom Wenn etwas als irrational, vorwissenschaftlich und unkontrolliert brutal diskre‐ ditiert werden soll, steht das Etikett ‚Mittelalter‘ bereit. Die Suche nach der Über‐ schrift „Rückfall ins Mittelalter“ findet Texte zu einem breiten Themenspektrum: Reinhold Messner warnt davor, das Christentum in die Präambel des Südtiroler Autonomiestatuts aufzunehmen, mit der Begründung: „Es darf in der Präambel keine religiöse Aussage stehen. Seit der Aufklärung ist eigentlich klar, dass in einer Demokratie Religion und Politik nicht vermischt werden dürfen. […] Seit damals und das sind jetzt mehr als 200 Jahre gibt es diese Trennung. Wenn wir Südtiroler das jetzt aufgeben, in dem wir in die Präambel hineinschreiben, Südtirol ist ein christliches Land, dann fallen wir ins Mittelalter zurück.“ 3 Die 196 Christoph Dartmann 4 Grill (2010). „Rückfall ins Mittelalter“. Spiegel 47, hier zitiert nach Spiegel Online http: / / www.spiegel.de/ spiegel/ a-730444.html. 5 Thelen (2017). „Kommentiert: Rückfall ins Mittelalter“. http: / / www.aachener-zeitun g.de/ meinung/ kommentare/ kommentiert-rueckfall-ins-mittelalter-1.1742123; Matern (2014). „Rückfall ins Mittelalter“. http: / / www.sueddeutsche.de/ politik/ vergewaltigungin-indien-rueckfall-ins-mittelalter-1.1981110. Matern zitiert die entsprechende Aussage der Times of India. 6 Jungblut (1977). „Rückfall ins Mittelalter“. http: / / www.zeit.de/ 1977/ 28/ rueckfall-insmittelalter. 7 „Asselborn (2018). Lage in Syrien erinnert ans tiefe Mittelalter“. https: / / www.merkur. de/ politik/ asselborn-lage-in-syrien-erinnert-ans-tiefe-mittelalter-zr-9645950.html. etwa drei Jahrhunderte, die zwischen der Renaissance und der Reformation und der Aufklärung lagen, fallen dabei unter den Tisch. Noch eklatanter titelte der Spiegel 2010 „Rückfall ins Mittelalter“ in einem Artikel, der sich kritisch mit der Anerkennung der Homöopathie an medizinischen Hochschulen in Deutschland auseinandersetzte - einer „skurrilen Heilslehre“, „die von Samuel Hahnemann vor 200 Jahren erfunden []“ worden sei. Sein Grundlagenwerk, das 1810 zum ersten Mal publizierte ‚Organon der rationellen Heilkunde‘, kann als Kind aufklärerischer medizinischer Diskurse gesehen werden, wird aber mit dem Etikett „mittelalterlich“ versehen, um seine Irrationalität zu markieren. 4 Weitere Evokationen eines „Rückfalls ins Mittelalter“ beziehen sich auf das Anprangern rücksichtsloser Autofahrer in einem Internetportal oder die brutale Vergewaltigung und Ermordung Minderjähriger in Indien, die wegen ihrer Kaste wenig Schutz erfahren 5 . Im Jahr 1977 warnte die Zeit unter dem gleichen Titel „Rückfall ins Mittelalter“ davor, dass überhöhte Löhne im tertiären Bereich die auf Arbeitsteilung beruhende Umstellung der Bundesrepublik auf eine Dienstleistungsgesellschaft gefährdeten. 6 Die Ereignisse und Entwicklungen, um die es geht, sind fraglos neuzeitlich oder modern: das Verfassungsdokument der autonomen Provinz Bozen im italienischen Nationalstaat, die um 1800 entwickelte Homöopathie, Individualverkehr mit dem KFZ oder die Ablösung einer Industriedurch eine Dienstleistungsgesellschaft. Selbst das indische Kastensystem verdankt seine heutige Gestalt der britischen Kolonialherrschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Dennoch werden sie durch das Adjektiv „mittel‐ alterlich“ einer Epoche zugeordnet, mit der sie nichts zu tun haben. Bis in die laufende Berichterstattung hinein ließen sich diese Evokationen des Mittel‐ alters in diskreditierender Absicht weiterverfolgen, wenn der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn die ungezügelte Gewalt in Syrien im Februar 2018 kommentiert: „Wir sind wieder im Mittelalter, im tiefen Mittelalter.“ 7 Auch Donald Trump greift zum Mittelalter-Vergleich, um seine tiefste Abscheu gegen den sogenannten IS kund zu tun: „Wenn sie die Köpfe unserer Bürger 197 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 8 Vgl. den Bericht über ein Interview mit dem Sender ABC (2017): „Trump: Folter funktioniert“. http: / / www.dw.com/ de/ trump-folter-funktioniert/ a-37277131. 9 Vgl. z. B. den von der Regensburger Agentur Live Event Adventure organisierten Con‐ quest (2019). https: / / www.live-adventure.de/ de/ . Zum Reenactment vgl. Krug-Richter (2009). „Abenteuer Mittelalter? Zur populären Mittelalterrezeption in der Gegenwart“; Cramer (2014). „Reenactment“. und anderer Menschen abhacken, wenn ISIS Dinge tut, von denen niemand seit dem Mittelalter gehört hat, bin ich sehr für Waterboarding“. 8 Es scheint zu den am weitesten verbreiteten und basalsten Elementen des modernen Geschichtsbilds zu gehören, dass das Mittelalter gewalttätig, irrational und bar jeder Rechtsstandards gewesen ist. Damit werden verstörende Phänomene, die es abzulehnen gilt, gleichsam aus der eigenen Zeit der Moderne ausgelagert und in eine Zeitmaschine gesteckt, die sie in eine ferne Vergangenheit abschiebt. Dieser Abscheu gegenüber dem unmodernen, rückständigen Mittelalter steht ein wahrer Mittelalterboom in der gegenwärtigen Popkultur gegenüber. Mittelaltermärkte, Reenactment oder auch der Nachbau mittelalterlicher Groß‐ projekte mit historischem Handwerkszeug erfreuen sich einer überwältigenden Popularität. Hier scheint die Faszination des fremdartigen Mittelalters zu überwiegen, dient das Mittelalter als attraktive Gegenwelt zu einer offenbar als weniger lebenswert empfundenen Gegenwart. Dabei erscheint das Mittel‐ alter zunächst als politisch-kulturell wenig brisanter ‚Abenteuerspielplatz‘, der zur Autosuggestion einlädt, sich in ein ursprünglicheres Leben zu finden mit reduzierten Ansprüchen an Tischmanieren, Körperhygiene und andere zivilisatorische Standards. Derzeit erfolgt in dieser Szene zum Teil eine Vermi‐ schung von Mittelaltermotiven mit Motiven aus der Fantasy-Welt, wenn zum Beispiel aus einer Reenactment-Veranstaltung ein „Mittelalterlich Phantasie Spectaculum“ wird oder Massenevents organisiert werden, die die Verbindung von Live-Rollenspiel (LARP), Mittelalter-Markt und Fantasy-Assoziationen zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell verbinden. 9 Auch populäre Medienformate bedienen sich unter anderem des Mittelalters als Requisitenlager. Zu den erfolgreichsten Formaten gehört die vom amerika‐ nischen Anbieter HBO produzierten Serie ‚Game of Thrones‘. Auf der Grundlage einer Serie von Fantasy-Romanen von George R. R. Martin sind acht Staffeln entstanden, die die ‚Songs of Ice and Fire‘ in bildmächtige, effektvolle Fernseh‐ filme übersetzen. Trotz der immens hohen Produktionskosten wirft die Serie lukrative Gewinne ab. Neben klassischen Rezepten medialer Verkaufsstrategien - die Serie ‚glänzt‘ mit erstaunlich expliziten Sex-Szenen in verschiedensten Konstellationen und nicht weniger effektvoll inszenierten Gewaltexzessen - arbeiten die Macher von ‚Game of Thrones‘ unter anderem auch damit, ver‐ 198 Christoph Dartmann 10 Friedrich; Kopp (2019). „Mittelalter und Mediävalismus: ‚Game of Thrones‛ zwischen Historie und Fiktion“. https: / / mittelalter.hypotheses.org/ 21920. Vgl. unter den dort genannten Titeln Larrington (2016). Winter is coming. Die mittelalterliche Welt von Game of Thrones. schiedene Bausteine populärer Mittelalterklischees zu reproduzieren. 10 Analog zu den englischen Rosenkriegen, in denen sich das nordenglische Haus York mit den im Süden beheimateten Lancaster um die englische Krone stritt, stehen sich in ‚Game of Thrones‘ die Stark aus dem Norden und die Lannister aus dem Süden von Westeros gegenüber. Folglich greift die Serie immer wieder auf das Imagin‐ aire mittelalterlichen Rittertums zurück, um Kriege, Turniere und höfische Feste darzustellen. Ritter auf Pferden und in glänzenden Rüstungen, Lanzenbrechen und Schwertzweikämpfe, feierlich gekleidete Damen und Gaukler gehören ebenso dazu wie Bilder von Gewalt und Grausamkeit während der Schlacht oder während des Turniers. Neben solchen Rekursen auf mittelalterliche höfische Kultur stehen andere Bilder, die aus Mittelalterfilmen als gängige Klischees vertraut sind. Dazu zählen recht grobe Tischmanieren, wenn Tiere vollständig auf den Tisch gebracht und mit den Händen zerlegt werden oder wenn die Men‐ schen in zahlreichen Szenen völlig verdreckt gezeigt werden, so als müssten sie entsetzlich stinken. Auch der Fanatismus und die sadistische Brutalität, mit der sich Protagonisten wie Ramsey Bolton hervortun, gehören zu den gängigsten Mittelalterbildern, die sogar bis in die Kreise führender Politiker hinein bekannt sind. Neben den vermeintlich typisch mittelalterlichen Bildwelten tragen auch markante Sprachsignale dazu bei, dass zahlreiche Passagen aus ‚Game of Thrones‘ wie typische Mittelalterfilme erscheinen, etwa eine politisch-soziale Sprache, die von Vasallität und Lehnsbindungen, von Eiden, Ehre und Treue spricht. In einem so dichten Geflecht vermeintlich mittelalterlicher Bezüge fällt kaum ins Gewicht, dass in der Königin Cersei Lannister eine alkoholkranke Helikoptermutter sich weitgehend damit beschäftigt, ihre Söhne zu dirigieren und zu manipulieren - also eher ein Klischee des 21. Jahrhunderts erfüllt als ein Mittelalterklischee. Neben der Welt der europäischen Ritterkultur des Mittelalterfilms bezieht sich ‚Game of Thrones‘ in unübersehbarer Weise auf ein breites Spektrum mit‐ telalterlicher Referenzphänomene, das von den frühmittelalterlichen Wikingern über die Mongolen des 13. und 14. Jahrhunderts bis zum spätmittelalterlichen Emirat der Nasriden in Andalusien reicht. Allerdings geschieht das erneut in stark klischeebehafteter Weise, insbesondere im Fall der Dothraki, die eher das mittelalterliche Zerrbild der barbarischen, aber kriegerisch schwer zu beherrschenden Reiterhorden der Mongolen reproduziert als das Bild, das ein zeitgenössischer Beobachter wie Marco Polo vom mongolischen Kaiserhof in 199 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 11 Das Wissen um die Mongolen im lateinischen Europa zeichnet detailliert nach Schmieder (1994). Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert. 12 Del Punta (2004). “Principal Italian banking companies of the XIIIth and XIVth centu‐ ries. A comparison between the Ricciardi of Lucca and the Bardi, Peruzzi and Acciaiuoli of Florence”. 13 Bildhauer (2016). “Medievalism and Cinema”. China schildert. 11 Und selbst eine vermeintlich sehr moderne Institution wie die sogenannte ‚Eiserne Bank‘, die mit dem Gewähren oder dem Entzug von Staatskrediten das politische Geschehen hinter den Kulissen steuert, kann in den Florentiner Bankhäusern der Bardi und Peruzzi ein mittelalterliches Vorbild finden, die in den 1340er Jahren ihre Insolvenz erklären mussten, weil der englische König Edward III. seine Kredite nicht mehr bediente. 12 Die Vielfalt der verschiedenen historischen Zeiten und Räume, denen ‚Game of Thrones‘ seine mittelalterlichen Motive entlehnt, machen auf ein Grundpro‐ blem der Mittelalterrezeption in der Moderne aufmerksam: die Zusammenfas‐ sung verschiedenster Aspekte zu dem einen Mittelalter. Im Fall von ‚Game of Thrones‘ erscheint es durchaus legitim, schließlich tritt die Serie nicht mit dem Anspruch auf, ein historisches Geschehen darzustellen und in diesem Sinne richtig Geschichte zu erzählen. Vielmehr handelt es sich um Unterhaltungs- oder Überwältigungskino, das Mittelalterreferenzen mit Fantasy-Elementen und anderen Versatzstücken kombiniert. Damit bedient es aber zugleich ein Filmgenre, das die Kulturwissenschaftlerin Bettina Bildhauer als „Medieval Film“ bezeichnet hat. 13 In der Anknüpfung an diese Filmkonventionen, die aus Historienfilmen vertraut sind, trägt daher auch ‚Game of Thrones‘ zur weiteren Verfestigung von Mittelalterklischees bei, ohne selbst als Historienfilm aufzu‐ treten. Und für die Wiedererkennbarkeit und damit den Erfolg dieser Konven‐ tionen erscheint es unverzichtbar, die Vielfalt des historischen Geschehens in dem Jahrtausend zwischen 500 und 1500 zu einer weitgehend statischen Epoche zusammenzufassen, eben ‚dem‘ Mittelalter. Wenn sich die wissenschaftliche Mediävistik damit kritisch auseinandersetzt, geschieht das nicht in der Absicht, die Freude am Konsum gut gemachter Produktionen der Unterhaltungsindustrie zu zerstören. Für eine kritische Arbeit an Mittelalterbildern, die unter anderem öffentlichen Diagnosen von vermeintlichen Rückfällen ins Mittelalter zugrunde liegen, muss sich aber nicht zuletzt die Geschichtswissenschaft zuständig fühlen. Schließlich werden zusammen mit Mittelalterbildern auch politisch-kulturelle Botschaften vermittelt, die von grundsätzlicher Relevanz sein können. Das gilt zum Beispiel für das grundlegende Narrativ von ‚Game of Thrones‘: Während die Realpolitiker in Westeros ihre eigenen Machtinteressen verfolgen, 200 Christoph Dartmann 14 Ebbinghaus (2016). „Was lehrt die Flüchtlingskrise in ‚Game of Thrones’? “ https: / / blog s.faz.net/ blogseminar/ fluechtlingskrise-in-game-of-thrones/ . 15 Dieser Passus basiert auf: Dartmann (2017). „‚Eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität‘. Friedrich Barbarossas Verhältnis zum kommunalen Italien in der Bewertung der deutschen Historiographie des 19. Jahr‐ hunderts“. Dort sind die einzelnen Belege dokumentiert. Vgl. auch den gesamten Sammelband. übersehen sie die eigentliche Gefahr, die von außen kommt und die gesamte Zivilisation in den Untergang zu reißen droht. Erst wenn die Machtspiele enden, besteht die Chance, die eigene Existenz gegen die wirkliche Gefahr zu verteidigen. Dieses Grundnarrativ könnte ohne Weiteres aus der fiktiven Welt von ‚Game of Thrones‘ auf gegenwärtige Gesellschaften übertragen werden und zur Stärkung unheilvoller politischer Kampagnen herangezogen werden. 14 Das gilt auch für einen zweiten Erzählmodus, der ‚Game of Thrones‘ prägt: Wie in modernen Nachrichtensendungen werden Gewaltepisoden aus den verschiedensten Weltgegenden in harten Schnitten hintereinander gezeigt. Bei ‚Game of Thrones‘ stellt sich im Verlauf der Staffeln heraus, dass diese verschiedenen Gewaltepisoden in Wirklichkeit zu einer miteinander verfloch‐ tenen Geschichte gehören, in der es um Überleben und Vernichtung ganzer Zivilisationen geht. Eine ähnliche Geschichte versucht zum Beispiel derzeit der islamistische Terror zu vermitteln, blutige Konflikte und Anschläge in verschiedensten Weltreligionen seien Teil eines zusammenhängenden Konflikts zwischen ‚richtigen‘ Muslimen auf der einen Seite und angeblich abtrünnigen Muslimen und Christen auf der anderen Seite. Auch hier fällt ins Auge, welch gefährliches Potenzial die unbewusste Übertragung eines fiktiven Erzählmodus aus ‚Game of Thrones‘ auf reales Weltgeschehen besäße. Der kritische Blick des Mediävisten darauf, was in einem populären Format wie ‚Game of Thrones‘ nicht durch mittelalterliche Referenzphänomene vorgeprägt erscheint, kann dazu beitragen, solche narrativen Strukturen bewusst zu machen, um ihre unbewusste Übertragung zu unterlaufen. Deutsche Mittelalterforschung im 19. Jahrhundert zwischen Kritik und Affirmation Die Erforschung der mittelalterlichen Geschichte ist in Deutschland ein Kind des Nationalismus. 15 Parallel zum Bemühen um einen deutschen Nationalstaat mit einer angemessenen Verfassung entwickelte sich die Geschichtswissenschaft zu einem universitären Fach, das vor allem die Geschichte der eigenen Nation erforschte. Wegen der herausragenden Stellung des Früh- und Hochmittelalters 201 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 16 Zum Kulturkampf vgl. Klenke (2006). „Bismarck, ‚Canossa‛ und das deutsche National‐ bewußtsein“. im nationalistischen Geschichtsbild - die Zeit der Kaiserdynastien der Ottonen (919-1024), Salier (1024-1125) und Staufer (1138-1250) galt als Höhepunkt der deutschen Weltstellung - stand dabei die Mediävistik im Zentrum der Aufmerksamkeit. Aus moderner Perspektive sticht vor allem ins Auge, wie stark die Interpretamente dieser Forschungen von modernen Kategorien geprägt gewesen sind. Allzu unkritisch wurden moderne Konzepte von Staat, Volk oder Nation aufs Mittelalter übertragen und nicht als Analysekategorien genutzt, sondern auch als Erklärungen für das Agieren mittelalterlicher Protagonisten. So konnte die Geschichte des mittelalterlichen Reichs aus der Perspektive eines Kampfes zwischen der Zentralgewalt und den Partikularmächten um die Ausgestaltung eines föderalen Staats gedeutet werden oder die Auseinander‐ setzungen um die Kirchenreformen des Hochmittelalters als Ringen zwischen Staat und Kirche. Diskussionen des 19. Jahrhunderts über die Verfassung des erst zu schaffenden modernen Nationalstaates oder auch über die Abgrenzung staatlicher und kirchlicher Rechte, die ihren Höhepunkt im Bismarck’schen Kulturkampf fanden, wurden auf die ferne Vergangenheit übertragen. Das verlieh den Jahrhunderten um die Jahrtausendwende zugleich eine hohe Ak‐ tualität, weil man in ihnen unmittelbare Parallelen zu aktuellen Problemlagen wiederzuerkennen meinte. 16 Die enge Verzahnung zwischen aktuellen Fragen und der Wahrnehmung des Mittelalters schlug sich vielfältig nieder. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts evozierte in vielfältiger Weise das Mittelalter, etwa in der Re‐ konstruktion historischer Anlagen oder in der Neuerrichtung historistischer Bauten. Faszinierend ist, dass nicht nur mittelalterliche Gebäudetypen wie Kirchen, Burgen oder Rathäuser aufgegriffen wurden, sondern auch moderne Funktionsbauten mit mittelalterlichem Dekor versehen wurden. Der Neubau der Hamburger Petrikirche oder des Gebäudes der Patriotischen Gesellschaft an der Stelle, an der bis zum Stadtbrand von 1842 das Rathaus der Stadt gestanden hatte, stehen ebenso für den bewussten Rückgriff auf mittelalterliche Vorbilder wie die Fassaden der Lagergebäude in der Speicherstadt oder der Harburger Bahnhof. Neben solchen Gebäuden spiegelte sich die aneignende Aktualisierung des Mittelalters in Großmonumenten, die zum Beispiel Friedrich Barbarossa gewidmet wurden, in historischen Festen und Umzügen oder auch in Literatur und Kunst. Vor dem Hintergrund dieses breiten Interesses am Mittelalter verwundert es nicht, dass die wissenschaftliche Erforschung dieser Epoche zugleich von den 202 Christoph Dartmann 17 Kreis (2012). Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsge‐ schichtlicher Standort, 154-156. 18 Lenhard-Schramm (2014). Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/ 49. politischen Zielen der Zeit geprägt war. Wegen der deutschen Ansprüche, die Zugehörigkeit des heutigen Schleswig-Holstein zum Königreich Dänemark zu beenden, trafen sich zum Beispiel 1847 Vertreter verschiedener Fachrichtungen wie Sprach- und Literaturgeschichte, Geschichtswissenschaft und Rechtsge‐ schichte in Lübeck zu einem Germanistentag, um die politischen Ansprüche historisch-kulturell zu unterfüttern. 17 Wegen der starken Präsenz von Wissen‐ schaftlern wurde das Parlament der Frankfurter Paulskirche als „Professoren‐ parlament“ bezeichnet. Unter ihnen befanden sich zahlreiche Historiker, etwa Friedrich Christoph Dahlmann, Johann Gustav Droysen oder Georg Waitz. 18 Verfolgt man die intensive Forschungs- und Publikationstätigkeit deutscher Historiker des 19. Jahrhunderts zur politischen Geschichte des Mittelalters, trifft man auf ein breites Spektrum divergierender Positionen, die politische Optionen und historische Bewertungen miteinander verbinden. Mustergültig lässt sich das an der Bewertung nachvollziehen, die Kaiser Friedrich I. Barbarossa (reg. 1152-1190) in der deutschsprachigen Mediävistik gefunden hat. Während des Vormärz prägen skeptische Bewertungen das Bild, die von der Frage ausgehen, warum Barbarossa nicht die Chance ergriffen hat, den städtisch-bürgerlichen Aufschwung seiner Zeit mit dem Bemühen um einen starken Nationalstaat zusammenzuführen. Stattdessen habe er bürgerliche Freiheitsbestrebungen zurückgedrängt, ja sogar brutal unterdrückt. In derartigen Wertungen spiegelt sich das politische Engagement von Historikern wie Heinrich Luden (1778- 1847) oder Carl von Hegel (1813-1901), die gegen die Restauration für eine Verbindung von Nationalstaat, Konstitution und bürgerlicher Partizipation kämpften und damit zu Kritikern nicht nur historischer Akteure, sondern auch der zeitgenössischen Politik wurden. Nach der Enttäuschung über den Ausgang der Revolution von 1848 schlossen sich zahlreiche Historiker dem konservativen Flügel der Nationalbewegung an, der der Schaffung eines deutschen Staates Priorität einräumte gegenüber bür‐ gerlichen Partizipationsbestrebungen. Aus dieser Perspektive wurde Friedrich Barbarossa nun vor allem kritisiert, weil er sich nicht auf die Interessen der deutschen Nation fokussiert hatte, wie sie das 19. Jahrhundert sah, sondern vor allem in Italien Krieg geführt hatte. Die Auseinandersetzung um diese Kritik kulminierte in der öffentlich und mit großer Schärfe ausgetragenen Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius von Ficker über die mittelalterliche Kaiserpolitik. Sie war anders als die historischen Debatten des Vormärz nicht 203 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 19 Vgl. dazu demnächst Dartmann (in Vorb.). „Politik und Wissenschaft während der Etablierung einer universitären Mittelalterhistorie: Julius von Ficker“. mehr von konstitutionellen Fragen geprägt, sondern vom Gegensatz zwischen Preußen und Österreich bzw. zwischen den Befürwortern einer kleindeutschen und einer großdeutschen Lösung der ‚Deutschen Frage‘. Am Ende dieser Kontro‐ verse stand vor allem die Erkenntnis, dass historische Wertungen und aktuelle politische Fragen voneinander getrennt diskutiert werden müssten, um den Akteuren der Vergangenheit nicht die eigenen Ziele unterzuschieben und ihnen stattdessen in ihrem eigenen Erfahrungshorizont gerecht zu werden. Diese pointierte Differenzierung zwischen Fragen der Gegenwart und historischem Erkenntnisinteresse hatte vor allem von Ficker propagiert: Als in Innsbruck tätigem katholischem Historiker war ihm der Vorwurf gemacht worden, er sei kirchlichen Loyalitäten verpflichtet, die sein historisches Urteil beeinträch‐ tigten. Um diesem Vorwurf zu entgehen, hat von Ficker sich zugleich in den folgenden Jahren auf materialgesättigte Detailforschungen fokussiert, die zwar immer noch denselben Themen und Thesen verpflichtet sind, sich aber im Gewand zeitloser Grundlagenforschung präsentieren. Damit steht Ficker symptomatisch für eine starke Entpolitisierung der Mittelalterforschung nach der Reichsgründung von 1871, jedenfalls im Sinne einer Abkoppelung der historischen Bewertungen von tagespolitischen Auseinandersetzungen. 19 Die Mediävistik blieb aber in dem Sinne hochpolitisch, dass sie die politische Geschichte der Regierungen weiterhin ins Zentrum stellte und damit einer staatstragenden Grundhaltung verpflichtet blieb, die den Mainstream deutscher Wissenschaft während des Wilhelminischen Kaiserreichs prägte. Neben dieser Entpolitisierung der Mittelalterforschung ist ihre zunehmende Distanz zur außerwissenschaftlichen Geschichtskultur bemerkenswert. Liest man Detailstudien zur Überlieferung einzelner Quellen oder zu neuen Archiv‐ funden, handelt es sich um so hoch spezialisierte Forschungen, dass sie über die Fachgrenzen hinaus kaum noch vermittelbar waren und auf den ersten Blick weitaus weniger zeitgebunden erscheinen als die Darstellungen und Debatten aus dem Zeitraum zwischen dem Vormärz und der Reichsgründung. Allerdings wirkten die politischen Interessen und auch das staatstragende Selbstverständnis des Mainstreams in dem Sinne fort, dass die deutsche Mittel‐ alterforschung in starkem Maße auf politische Geschichte fokussiert blieb und Fragen der Verfassungsgeschichte und politischer Institutionen ein stärkeres Gewicht behielten als in anderen Ländern. Diese Fokussierung auf Staat und Politik sollte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fortwirken. Parallel dazu brachte das Wilhelminische Kaiserreich Höhepunkte affirmativer 204 Christoph Dartmann 20 Oexle (2013). Die Gegenwart des Mittelalters, 29-43; zu Mies van der Rohe ebd., 37-42. 21 Schildt (1999). Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenland‐ schaft der 50er Jahre. Die Mediävistik hat sich thematisch stark auf die Geschichte des christlich-lateinischen Europa fokussiert. Eine neu perspektivierte Geschichte bietet an Borgolte (2006). Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300-1400 n. Chr. Mittelalterevokationen hervor wie das Barbarossadenkmal auf dem Kyffhäuser oder die Reiterstatuen Friedrichs Barbarossa und Kaiser Wilhelms I. „Barba‐ bianca“ vor der neu errichteten Goslaer Kaiserpfalz. In diesen Monumenten wird der Versuch gemacht, die Machstrukturen des späten 19. Jahrhunderts als Erfüllungen nationaler Wünsche und Bestrebungen zu inszenieren und sie unangreifbar zu machen, indem sie in eine jahrhundertelange geschichtliche Tradition hineingeschrieben wurden. Spätestens im industrialisierten Massen‐ morden des Ersten Weltkriegs sollte sich zeigen, wie hohl diese historistischen Fassaden waren. Eine neue Relevanz des Mittelalters? Aktuelle Evokationen einer lang vergangenen Zeit Die starke Orientierung am Mittelalter als einer Epoche, die für die Gegen‐ wart unmittelbare Relevanz hat, hat die Umbrüche des 20. Jahrhunderts nicht überstanden. Auch wenn sich Modernisierung und Mittelalterreferenzen nicht zwangsläufig ausgeschlossen haben - verwiesen sei nur auf das Ideal der mittelalterlichen Bauhütte, das für das Bauhaus eine gewisse Bedeutung besaß 20 -, verblasste die Strahlkraft dieser Epoche zusehends angesichts der Hoffnungen auf eine helle, leuchtende Zukunft. Spätestens die Modernisierungsschübe, die die beiden deutschen Gesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs prägten, haben die Geschicke mittelalterlicher Kaiser, Könige und Päpste, Fürsten, Kaufleute und Handwerker aus dem Geschichtsbild verdrängt, das für Gegenwart und Zukunft fundierende Bedeutung besitzen sollte. Allenfalls vage Anspielungen auf ein christliches Abendland, die sich aus antidemokratischen Traditionen in den Diskurs der Bundesrepublik herüberretten konnten, rekur‐ rierten mehr oder weniger bewusst auf das Mittelalter als einer Epoche, in der die geographische wie religiöse Identität von Bewohnern des europäischen Kontinents vermeintlich von den Idealen eines vorreformatorisch ungeteilten Christentums geprägt gewesen sein sollen. 21 Trotz des Verlustes an Relevanz - oder vielleicht auch gerade wegen seines Relevanzverlustes - setzte zugleich seit den 1970er Jahren ein neuer Boom des Mittelalterinteresses ein. Ein Indiz dafür ist zum Beispiel der neue Umgang mit mittelalterlichem Bauerbe in deut‐ 205 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 22 So der Begriff, der für den partiellen Wiederaufbau und die neue Zusammenstel‐ lung historischer Gebäude in Braunschweig gefunden worden ist: Meyer (1993). Der Wiederaufbau der Braunschweiger Innenstadt nach 1945. Eine Analyse exemplarischer Planungen, Wettbewerbe und Bauprojekte der ersten Nachkriegsjahre. 23 Glatz (2000). „Ansicht der Zinnenwand vom Haus zum Widder. Gezeichnet von Walter Becker, Staatl. Bau- und Kunstschule Mainz 1952“. 24 Rump (1995). „Ein immerhin merkwürdiges Haus“. Eine Dokumentation zum 25jäh‐ rigen Bestehen der Gesellschaft für den Wiederaufbau des Knochenhauer-Amtshauses, 198-204. 25 Burgdorff et. al. (2013). Lüneburg. Die historische Altstadt, 200-201. 26 Haussherr (Hrsg.) (1977-1979). Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Brandt; Eggebrecht (Hrsg.) (1993). Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Luckhardt et al. (Hrsg.) (1995). Heinrich und der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Puhle (Hrsg.) (2001). Otto der Große, Magdeburg und Europa. schen Städten: Nach den Kriegszerstörungen wurden zunächst zwar einzelne herausragende Gebäude und Ensembles als „Traditionsinseln“ 22 rekonstruiert, während aber zugleich zahlreiche Denkmäler dem Wunsch geopfert wurden, eine neue, moderne Stadt zu bauen. In Mainz wurden zum Beispiel noch 1960 die Überreste des Patrizierhauses „Zum Widder“ aus dem 14. Jahrhun‐ dert abgerissen, obwohl sich erhebliche Bausubstanz und Wappenmalereien erhalten hatten. 23 Das Knochenhauer-Amtshaus am Hildesheimer Marktplatz, das während der Bombenangriffe im Jahr 1945 stark beschädigt worden war, wurde zunächst nicht wieder rekonstruiert; stattdessen errichtete man in den 1960er Jahren einen modernen Hotelbau, der erst vier Jahrzehnte später einer Rekonstruktion des spätmittelalterlichen Gebäudes weichen musste, für die man auch auf erhaltenes Material zurückgreifen konnte. 24 Anders erging es der Altstadt in Lüneburg, die den Krieg weitgehend unbeschädigt überstanden hatte. Erste umfangreiche Abrissmaßnahmen der Nachkriegszeit stießen rasch auf Widerstand, bis sich schließlich seit den 1970er Jahren eine Bürgerinitiative erfolgreich um den Erhalt und die Revitalisierung der historischen Straßen, Gassen und Plätze bemühte. 25 Ein anderes Indiz für das neu erwachte Interesse an der Geschichte des Mittel‐ alters war der Erfolg historischer Ausstellungen, allen voran der Baden-Würt‐ tembergischen Landesausstellung „Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur“ von 1977. Ihr sollten zahlreiche weitere groß angelegte Ausstellungs‐ projekte folgen, die häufig unter regionalem Bezug das Mittelalter als eigene Tradition wiederzuentdecken einladen - etwa in Hildesheim „Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen“ (1993), in Braunschweig „Heinrich der Löwe und seine Zeit“ (1995) oder in Magdeburg „Otto der Große. Magdeburg und Europa“ (2001). 26 Diese Ausstellungen waren dem Ziel verpflichtet, eine 206 Christoph Dartmann 27 Ausführlich verfolgte diesen Aspekt die Braunschweiger Ausstellung von Luckhardt et al. (Hrsg.) (1995). Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235, Band 3: Abteilung Nachleben; vgl. auch Fried (2001). „Otto der Große, sein Reich und Europa“. 28 Heinzle (1999). Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. 29 Als ein Beispiel unter vielen Berman (1983). Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition. Besonders prägnant Winkler (2009). Geschichte des Westens, Band 1: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhunderts. ‚eigene‘ Vergangenheit wiederzuentdecken, die in Vergessenheit geraten war. Der Reiz des unbekannten, exotischen Mittelalters verband sich mit dem Hinweis, dass zur Zeit der namensgebenden Protagonisten der jeweilige Ort eine welthistorische Bedeutung besessen habe, die sich wohltuend von der aktuellen Provinzialität abhebt. Deswegen verbanden die Ausstellungen Abteilungen zur globalen Karriere ihrer Protagonisten mit der Präsentation von Erkenntnissen zur lokalen Geschichte. Mit ihrer analytischen Distanz unterscheiden sich diese Evokationen des Mittelalters fundamental von dem gegenwartsbezogenen Mittelalterverständnis des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Diese selbst schon wieder fremde Aktualisierung des Mittelalters konnte daher zum Teil des Ausgestellten werden und lud damit zur kritischen Autoreflexion über moderne Indienstnahmen der älteren Vergangenheit ein. 27 Man mag die Exotisierung und damit das Fremdwerden der mittelalterlichen Geschichte beklagen; in der Fachdiskussion lässt sich zum Beispiel beobachten, dass es verschiedene Ansätze gab, die ein „Modernes Mittelalter“ propagierten, die Entwicklungslinien nachspürten, die die Kultur des Mittelalters mit der Gegenwart verbinden. 28 Mit dem modernen Mittelalter war dabei vor allem das Hoch- und Spätmittelalter des Teils Europas gemeint, der sich mit der Tradition der lateinischen, römischen Kirche verbunden wusste. Dies konnte bis zur Konstruktion einer ungebrochenen Tradition führen, die Europa (das lateinische Europa) seit dem Investiturstreit vom Rest der Welt unterschieden haben und bis heute unterscheiden soll. 29 Diese wissenschaftsinternen Tendenzen können aber nicht über den massiven Bedeutungsverlust der mittelalterlichen Geschichte für die Deutung der Gegenwart und für den Entwurf der Zukunft hinwegtäuschen. Vor diesem Hintergrund ist es auffallend, dass im konservativ bis rechtsra‐ dikal orientierten populistischen Lager jüngst wieder explizit auf mittelalter‐ liche Geschichte zurückgegriffen wurde, um aus einer langen europäischen Geschichte direkt Forderungen für die Gegenwart abzuleiten. Ohne sich mit der - durchaus differenzierten - fachwissenschaftlichen Bewertung intensiver auseinanderzusetzen, hat zum Beispiel der Kreisverband Saalekreis der AfD für die Europawahl im Mai 2019 ein Bild publiziert, dass explizit auf die Kreuzzüge des Hochmittelalters Bezug nimmt mit dem Slogan: „Gott will 207 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 30 Vgl. den Radiobeitrag des Deutschlandfunks von Richter (2019). „Kreisverband auf Kreuzzug“. https: / / www.deutschlandfunk.de/ wahlkampf-der-afd-kreisverband-auf-kr euzzug.886.de.html? dram: article_id=448377. Das Bild zum Beispiel bei Haverkamp (2019). „Polenz entsetzt über ‚Gott will es’-Post der AfD“. https: / / www.kirche-undleben.de/ artikel/ polenz-entsetzt-ueber-gott-will-es-post-der-afd/ . Zur Geschichte der Kreuzzüge bieten zum Beispiel folgende Publikationen einen soliden Überblick: Jaspert (2008). Die Kreuzzüge. Asbridge (2010). Die Kreuzzüge. Wichtige Einblicke in die Rezeptionsgeschichte bietet: Skottki (2015). Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie. 31 Genchi (2017). “5 Considerazioni sul nuovo simbolo della Lega Nord (Salvini Premier)”. https: / / www.fantapolitico.it/ simbolo-della-lega-nord-salvini-premier/ . 32 Zur Schlacht von Legnano und ihrem Mythos vgl. Grillo (2010). Legnano 1176. Una battaglia per la libertà. Den Kontext erschließt Raccagni (2010). The Lombard League 1167-1225. es! “ 30 Verbunden mit dem Bild einer etwas süßlich-pathetischen neuzeitlichen Jesus-Statue sowie einem Zitat aus dem Neuen Testament ( Joh 12,46) wird eine historische Kontinuität zwischen der Entstehung des Christentums, den hochmittelalterlichen Eroberungszügen im Namen dieser Religion und der Gegenwart suggeriert. Ihren ideologischen Kern findet diese Konstruktion darin, einerseits eine überzeitliche Identität zu unterstellen, die eine christlich geprägte Kultur besessen und die das moderne Europa geprägt habe, und ande‐ rerseits diese christliche Kultur in einem kontinuierlichen Verteidigungskampf gegen Aggressionen von Muslimen zu behaupten. Damit ist ein ebenso simples und wirksames wie historisch falsches Narrativ konstruiert, das aktuellen Machtstrategien offensichtlich eine hohe Durchschlagskraft verschafft. Nimmt man die Erfolge der AfD nicht nur an den Wahlurnen, sondern auch in der Themensetzung öffentlicher Diskussionen der Jahre 2015-2019 zum Maßstab, gibt es auch weit über die Kreise derjenigen hinaus, die aus dieser Partei heraus auf einen Umsturz des demokratischen Systems hinarbeiten, viele Menschen, die sich der Problematik dieses Diskurses nicht bewusst sind. Und das Wahlplakat aus dem Frühjahr 2019 ist nur eines von verschiedenen Beispielen dafür, dass der Rekurs auf mittelalterliche Geschichte aus antimodernistischer Perspektive eine neue Konjunktur bekommen könnte. Erinnert sei nur daran, dass die italienische ‚Lega‘ unter ihrem sich radikalisierenden Parteichef Matteo Salvini mit einem Logo wirbt, auf dem ein gerüsteter Ritter mit erhobenem Schwert und Schild dargestellt ist, der durch ein Wappen mit der Seerepublik Venedig identifiziert wird. 31 Damit stellt es die heraldisch manipulierte Umzeichnung des historistischen Monuments dar, das im Jahr 1900 in Legnano errichtet wurde zur Erinnerung an die Niederlage Kaiser Friedrichs Barbarossa gegen Truppen des Mailänder Städtebunds, der sogenannten Lega Lombarda. 32 Die Mittelalterreferenz steht in der Tradition der nationalistischen Geschichtskultur 208 Christoph Dartmann 33 Symptomatisch für die Verunsicherung der Geschichtswissenschaft angesichts der Aufkündigung des demokratisch-liberalen Konsenses der Bundesrepublik Deutschland ist der Konflikt um die Resolution des VDH vom Historikertag in Münster im Jahr 2018. Sie erschließt weitgehend: Sandkühler (2018). „Historiker*innen und Politik. Streit um eine aktuelle VHD-Resolution“. Vgl. auch jüngst Gallus (2018). „Wenn Konsensverschie‐ bungen und Geschichtsvergessenheit drohen: Zeitgeschichte als öffentliche Aufgabe und intellektuelle Intervention“, 27-37. des 19. Jahrhunderts, die zwar einerseits die wissenschaftliche Erforschung des Mittelalters auch in Italien inspiriert hat, die aber andererseits maßgeblich zur Mythenproduktion des neuen Nationalstaats beigetragen hat. Diese höchst problematische Gemengelage ist in der Geschichtswissenschaft kritisch aufge‐ arbeitet worden, was aber nicht verhindern kann, dass die mehrfach gebrochene Tradition für aktuelle Zwecke simplifiziert und instrumentalisiert wird. Diese Beispiele zeigen, dass simpel aktualisierende Bezüge auf mittelalter‐ liche Geschichte eine neue Virulenz gewinnen könnten. Für die Geschichtswis‐ senschaft ist dieser Befund in mehrfacher Hinsicht beunruhigend. Das Fach hat sich wegen der schwindenden tagespolitischen Relevanz anders als die Zeitgeschichte nicht kontinuierlich mit der Frage auseinandergesetzt, wie der Anspruch auf wissenschaftliche Rationalität mit dem Bedarf an gesellschaft‐ licher Aufklärung austariert werden kann. Bis zu welchem Maße gehören Stellungnahmen zu politischen Themen, die über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus wirken, zu den Aufgaben der Wissenschaft oder gefährden den Anspruch auf wissenschaftliche Rationalität? 33 Zugleich steht damit aber auch das Vermittlungsdefizit zur Debatte, das die mediävistische Forschung offensichtlich kennzeichnet. Denn wenn die genannten Mittelalterreferenzen dem fachwissenschaftlichen Forschungsstand diametral entgegenstehen, wieso können sie dennoch Wirkung entfalten? Wieso gibt es kein breites historisches Bewusstsein, das derartige Geschichtsphantasmen kritisiert und in das Reich der Mythen verweist? Auf der anderen Seite steht das Potenzial der Geschichtswis‐ senschaft, sich kritisch mit Inhalten und Vermittlungsformen gesellschaftlicher Bilder von der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das mag fachlich nicht immer herausfordernd sein, weil zum Beispiel die nationalistische Prägung der Mittelalterforschung im 19. Jahrhundert breit aufgearbeitet worden ist. Dennoch muss die Fachwissenschaft sich um neue Wege bemühen, ihre kritische Stimme in der Öffentlichkeit hörbar zu machen. 209 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert 34 Oexle (1992). „Das entzweite Mittelalter“, 7-28. Kritische Potenziale der Forschungen zur Geschichte des Mittelalters Die bisherigen Beispiele haben gezeigt, dass die Mittelalterforschung in ganz unterschiedlicher Hinsicht kritische Potenziale in sich birgt. Sie seien hier noch einmal zusammengefasst: 1) Zunächst einmal gehört es zum Handwerkszeug derjenigen, die sich mit geschichtswissenschaftlichen Methoden vertraut machen, eine sorgfältige Quellenkritik zu beherrschen. Die Frage, wie ein überliefertes Material zu den Inhalten steht, über die es berichtet, beschäftigt, wie eingangs ausgeführt, die Mediävistik wie überhaupt die Geschichtswissenschaft seit ihren Anfängen. Dabei geht es um die Frage, wann eine Quelle unter welchen Umständen entstanden ist, wer für sie verantwortlich ist, ob sie im Zuge der Überlieferung manipuliert worden ist, aber auch, welche Darstellungsabsicht die Quelle prägt. Insofern vollzieht die Mittelalterforschung an Quellen kritische Überprüfungen, die in analoger Weise derzeit für verfälschte Texte, Bilder und Filme entwickelt werden bzw. die unter dem Stichwort des ‚Framing‘ verhandelt werden. Die vergleichsweise schmale Überlieferung aus dem Mittelalter fordert eine beson‐ ders sorgfältige Analyse des einzelnen Materials, schult also den Blick dafür, sich kritisch mit jeder verfügbaren Information auseinanderzusetzen. 2) Es gehört zu den selbstverständlichen Elementen modernen Selbstver‐ ständnisses, nicht mehr im Mittelalter zu leben. Seitdem dieser Begriff geprägt worden ist, steht er für das Gegenteil von allem, was modern ist - sei es abwertend, sei es auch in der romantischen Verklärung eines Gegenbildes zur abgelehnten Moderne. Für diese Ambivalenz hat Otto Gerhard Oexle den Begriff des „entzweite[n] Mittelalter[s]“ geprägt. 34 Damit verfügt die Moderne über ein Geschichtsklischee, mit dessen Hilfe sie aus ihrer eigenen Epoche die Aspekte auslagern kann, die nicht ihrem Selbstverständnis entsprechen. Dieses Auslagern erscheint höchst fragwürdig, ermöglicht es doch die Chance, sich um die Frage nach der Verbindung der eigenen Position oder der eigenen Überzeugungen mit den ausgelagerten Aspekten zu drücken. Das gilt zum Beispiel für die Disqualifikation abgelehnter Konstellationen als Rückfälle ins Mittelalterliche, die damit kaum noch diskutabel zu sein scheinen. Das gilt aber ebenso für die Glorifizierung einer fernen Vergangenheit, die dazu verführt, sich nicht mit der Gegenwart auseinanderzusetzen, um sich stattdessen auf eine imaginäre ‚gute alte Zeit‘ zu beziehen, die es so nie gegeben hat. Beide Optionen gilt es aus der Perspektive einer Mittelalterforschung zu hinterfragen, 210 Christoph Dartmann 35 Gurjewitsch (1994). Das Individuum im europäischen Mittelalter. Ders. (1997). Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. Huth (2008). „Zeit und Zeitberechnung“, 384- 388. die in der Lage sein sollte, falsche Geschichtsbilder zu kritisieren, aber auch die Konstellationen, in denen diese Geschichtsbilder aufgerufen werden. 3) Auch wenn das Mittelalter nicht zum Anderen der Moderne erklärt wird, sondern als Etappe in einer identitär gedachten Geschichte, die bis in die Gegenwart reichen soll, ist die Mediävistik zu einer kritischen Prüfung aufge‐ fordert. Schließlich birgt auch die modernisierende Darstellung des Mittelalters das Risiko einer problematischen Darstellung der Vergangenheit, nur dass nicht die Alterität in den Vordergrund gerückt wird, sondern das vermeintlich Zukunftsweisende. Wo dies in identifikatorischer Absicht geschieht, um die eigene Überlegenheit oder jahrhundertalte Feindstellungen zwischen Kulturen zu behaupten, kann die Mediävistik gleichfalls korrigierend eingreifen und die widerspenstige Vielfalt mittelalterlicher Realitäten gegen eine modernisti‐ sche Vereinnahmung in Stellung bringen. Schließlich hat die Forschung sehr deutlich herausgestellt, dass sich die Welten mittelalterlicher Menschen in so vieler Hinsicht grundsätzlich von denen der Gegenwart unterscheiden, dass jede Kontinuitätsbehauptung fragwürdig wird. Genannt seien nicht nur die Vorstellungen von Volk, Nation und Staat, sondern genauso von der Zeit, dem Raum oder auch der Individualität des einzelnen Menschen. 35 Vermeintliche Selbstverständlichkeiten der Moderne erweisen sich durch diese Einsichten als historisch kontingent und ermöglichen somit eine kritische Distanz zu jeder identifikatorischen Geschichtserzählung. 4) Die Fachwissenschaft, die sich auf die Erforschung der Geschichte des Mittelalters spezialisiert hat, steht unter den ausgeführten Umständen auch selbst vor der Herausforderung, ihre kritischen Potenziale in der Öffentlichkeit laut vernehmbar und verständlich zur Sprache zu bringen. Sie muss um Wege bemüht sein, den sich immer wandelnden Forschungsstand über den Kreis der FachkollegInnen hinaus zu vermitteln. Und sie muss sich auch mit dem Anspruch auseinandersetzen, politische und gesellschaftliche Herausforderung an sich zu erkennen und auf sie zu reagieren. Insofern kann die Reflexion auf kritische Potenziale der Erforschung mittelalterlicher Geschichte zu einer kritischen Selbstreflexion der eigenen wissenschaftlichen Praxis beitragen. 211 Das Mittelalter und seine Wahrnehmung - kritisch reflektiert Literatur Asbridge, Thomas (2010). Die Kreuzzüge. Stuttgart: Klett-Cotta. Berman, Harold J. (1983). Law and Revolution. The Formation of the Western Legal Tradition. Cambridge MA: Harvard University Press. Bildhauer, Bettina (2016). „Medievalism and Cinema“. In: Louise d’Arcens (Hrsg.). The Cambridge Companion to Medievalism. Cambridge: CUP, 45-59. Borgolte, Michael (2006). Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300-1400 n. Chr. München: Siedler. Brandt, Michael; Eggebrecht, Arne (Hrsg.) (1993). Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog der Ausstellung Hildesheim 1993. 2 Bde. Hildesheim; Mainz: Bernward Verlag. Burgdorff, Christoph et. al. (2013). Lüneburg. 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Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie Sonja Keller Einleitung Die Bedeutung des kritischen Denkens ist für die moderne deutschsprachige Evangelische Theologie 1 von besonderer Bedeutung, denn ihr Selbstverständnis ist grundlegend von einem hohen Anspruch an die eigene Selbstreflexivität geprägt. In diesem Beitrag soll anhand verschiedener exemplarischer Meilen‐ steine in der Theologie- und Kirchengeschichte gezeigt werden, wie gerade die Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist, kritische Denkbewegungen und die Ent‐ wicklungen in Philologie und Philosophie zur Selbstaufklärung der Theologie beigetragen haben. Als kritisches Denken wird eine spezifische Qualität des Denkens und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung verstanden, die sich wesentlich durch eine selbstständige und rationale Beschäftigung mit Fragen, Themen und Argumentationen auszeichnet. 2 Anhand von Schlaglichtern auf vier bedeutende theologische Diskurse wird gezeigt, wie kritische Denkbewe‐ gungen diese prägen. Inhaltlich ist die Evangelische Theologie auf den christlichen Glauben bezogen, der das Leben der Menschen in umfassender Weise in Anspruch nimmt, so dass seine Inhalte und Vollzüge auf Reflexion angewiesen sind, um ins menschliche Selbstverständnis und Leben überhaupt integriert werden zu 3 Die Theologie ist dabei von großer Bedeutung, wenn es darum geht, so etwas wie die Vernunft der Religion durchsichtig zu machen, die darin besteht „vorrangig in operationalen Eigenschaften des religiösen Bewusstseins, dessen Interpretations-, Reflexions-, Performanz- und Schematisierungscharakter“ aufzuzeigen. Barth (2014). „Vernunft der Religion. Das Erbe der Aufklärung“, 467. 4 Vgl. Härle (2000). Dogmatik, 26f. 5 Der theologische Fächerkanon reflektiert eine Vielzahl von Fragestellungen und Ge‐ sichtspunkten. Dies hat zur Folge, dass die verschiedenen Fächer auch auf unterschied‐ liche Methoden zurückgreifen. Die Bibelwissenschaften arbeiten beispielsweise mit textwissenschaftlichen und philologischen Methoden und die Praktische Theologie als Wissenschaft von der Kommunikation des Evangeliums bezieht sich in verschiedener Hinsicht auf Wissenskulturen und Methoden der Soziologie, Kommunikationswissen‐ schaft oder Psychologie. können. 3 Dabei hat die Theologie einen affirmativen Zugang zu den Inhalten des christlichen Glaubens, was ihre Wissenschaftlichkeit jedoch nicht unter‐ miniert, sondern kompatibel macht mit einem kritischen Rationalismus, der die Selbstrelativierung der Wissenschaft nach sich zieht, indem er das Ideal der voraussetzungslosen Wissenschaft und der definitiven Verifizierbarkeit der wissenschaftlichen Aussagen hinterfragt und damit das wissenschaftliche Selbstverständnis signifikant erweitert. 4 Die Theologie repräsentiert eine traditionsreiche und ausdifferenzierte Wis‐ senschaft, die sich in komplexe und facettenreiche Disziplinen gliedert, weshalb die Frage nach der Bedeutung des kritischen Denkens für die Theologie nur exemplarisch bearbeitet werden kann. 5 Die Ansprüche der Aufklärung an die Wissenschaften und insbesondere an die Theologie haben die akademische Evangelische Theologie entscheidend geprägt. Die übergeordnete Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen ist entsprechend ein ständiger Gegen‐ stand der theologischen Reflexion. Im ersten Teil dieses Beitrags wird nach dem Gegenstand der Theologie gefragt und damit eine zentrale hermeneutische Frage aufgeworfen. Daraufhin wird der reformatorisch-theologische Gedanke von der Rechtfertigung im Glauben als besonders wirkmächtige Form kritischen Denkens beschrieben. Im Anschluss daran wird skizziert, wie gerade die kritische theologische Ausein‐ andersetzung mit der Bibel im Rahmen der Aufklärung die sog. „historisch-kri‐ tische Methode“ hervorgebracht hat, die den Umgang mit der Bibel bis heute nachhaltig prägt. Im letzten Teil wird anhand einer Auseinandersetzung in der Theologie des 20. Jahrhunderts gezeigt, welch kritisches Potenzial gerade auch theologisch formulierte Kritik zum Ausdruck bringen kann. 218 Sonja Keller 6 Vgl. Härle (2000). Dogmatik, 13. 7 Korsch (2000). Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, 2. Theologie als „Rede von Gott“? Was ist überhaupt der Gegenstand der Theologie? Theologie ist eine Wissen‐ schaft, die sich mit den Inhalten des christlichen Glaubens auseinandersetzt, mit dem sie wiederum nicht selbst verwechselt werden darf. Die kirchliche Verkündigung oder die Kommunikation des Evangeliums, die dogmatisch ge‐ sprochen „Glauben stiftet“, beruht damit auf Theologie, mit der sie allerdings nicht identisch ist, von der sie aber grundsätzlich geleitet wird. Bei der Theologie handelt es sich zusammengefasst um eine institutionalisierte wissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Inhalten und dem Vollzug des christlichen Glaubens beschäftigt. 6 Das Kompositum „Theo-logie“ lässt sich als „Rede von Gott“ übersetzen. Dietrich Korsch beschreibt die Aufgabe der Theologie treffend folgendermaßen: „Das ist die theologische Aufgabe der internen Selbstdeutung des christlichen Glaubens, durch die er sich selbst durchsichtig wird und sich intellektuell zu behaupten vermag.“ 7 Theologie kann als die kritische wissen‐ schaftliche Analyse und Auseinandersetzung mit dem christlichem Glauben beschrieben werden. Gott selbst und der Glaube liegen als Gegenstände nicht einfach vor, sondern sind durch Sprache und Zeichen vermittelt. Die Theologie ist damit eine primär hermeneutische Disziplin, die um die Mittelbarkeit ihres Gegenstandes weiß und diese auch reflektiert, weshalb Fragen der Hermeneutik in sämtlichen theologischen Teildisziplinen von größter Bedeutung sind. Die Vermitteltheit des Glaubens wird in der sog. hermeneutischen Theologie grund‐ legend analysiert, wobei die Frage, was eigentlich der Gegenstand der Theologie ist bzw. dass Gott eben nur mittelbar Thema der Theologie sein kann, intensiv diskutiert wird. Wenn Theologie etwa als Wissenschaft von der Rede von Gott beschrieben wird, dann ist es unabdingbar auch über die Voraussetzungen dieser Rede nachzudenken und ihre Bedingungen zu reflektieren. Diesen Problemzu‐ sammenhang bringt Eberhard Jüngel treffend auf den Punkt: Wer oder was ist das - Gott? […] Worüber man da redet, darüber meint man in der Regel nur zu gut Bescheid zu wissen, so daß eine solche Unterbrechung zumindest überflüssig erscheint. […] Man soll es und muß es, damit unsere Rede von Gott diesen nicht verschweigt. Denn das ist die - gegenüber der atheistischen Gedankenlosigkeit ungleich größere - Gefährdung der Theologie und des christlichen Glaubens: daß Gott sozusagen totgeredet, daß er ausgerechnet durch Worte, die doch von ihm reden wollen, verschwiegen wird. Sowohl das bewußte wie auch das unbewußte, sowohl 219 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie 8 Jüngel (2001). Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreu‐ zigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, IX. 9 Dalferth (2013). Radikale Theologie, 60. das stumme wie auch das redselige Verschweigen Gottes ist aber eine Folge dessen, dass wir Gott nicht mehr zu denken wagen. 8 Diese Grundschwierigkeit der theologischen Rede hat dazu geführt, dass die Theologie die Bedingungen der Rede von Gott, ihren Gegenstand, ihre Sprache, ihre Erkenntnissubjekte fortwährend und eingehend reflektiert. Diese kritische Denkbewegung, die Selbstaufklärung über die Bedingungen der Rede vom Glauben bzw. von Gott einfordert, erweist sich dabei als überaus produktiv. Das Grundproblem der „Rede von Gott“ lässt sich komplementär auch als Problem des Verstehens beschreiben und berührt damit elementare hermeneutische Fragen, wie Ingolf U. Dalferth treffend ausführt: Im Blick auf das Verstehen des Verstehens Gottes und damit im Blick auf das, was theologische Hermeneutik gegenüber der philosophischen auszeichnet, steht aber auf jeden Fall ein menschliches Verstehen des wie auch immer verstandenen Verstehens Gottes zur Debatte. Auch dieses menschliche Verstehen kann allerdings verschieden aufgefasst werden: als Gott-Verstehen des Glaubenden (Verstehen erster Ordnung) oder als Verstehen ihres Verstehens Gottes (Verstehen zweiter Ordnung), und dieses kann seinerseits wieder entweder im Horizont des Glaubensverstehens erster Ordnung vollzogen werden (als theologisches Verstehen) oder von einem anderen Standpunkt aus (als historisches, empirisches, religionswissenschaftliches, psychologisches, soziologisches usf. Verstehen). Sofern es nicht nur um das Verstehen Gottes im Glauben (Verstehen erster Ordnung), sondern um das Verstehen dieses glaubenden Verstehens Gottes im Horizont des Glaubensverstehens erster Ordnung geht, ist dies eine Frage theologischer Reflexion und damit der Selbstreflexion des Glaubens, der sich denkend auf sich selbst bezieht, um sich, seinen Gegenstand, Grund und Vollzug zu verstehen. 9 Dalferth zeigt damit deutlich auf, dass es nicht nur notwendig ist, über das Reden von Gott und Glaube nachzudenken, sondern ebenso auch über das menschliche Verstehen desselben, wobei es wiederum der Verständigung darüber bedarf, wel‐ chen Inhalt das Reden von Gott hat. Handelt das Reden von Gott bzw. die Theo‐ logie von Gott, dem Glauben oder gar von psychologischen Rekonstruktionen des Glaubens? Diese hermeneutischen Reflexionsperspektiven repräsentieren eine spezifische Signatur der Subjektorientierung der modernen Theologie und verfügen über einen entschieden kritischen Impetus. Wie kritisches Denken die Theologiegeschichte in verschiedener Hinsicht maßgeblich geprägt hat, soll 220 Sonja Keller 10 Kaufmann (2009). Geschichte der Reformation, 19. 11 Die Lutherbibel (2017) übersetzt an dieser Stelle: „Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht (Habakuk 2,4): »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«“ nun anhand verschiedener ausgewählter Schlüsselereignisse der Kirchen- und Theologiegeschichte knapp skizziert werden. Die reformatorische Kritik auf der Grundlage der Schriftauslegung und ihr institutionskritisches Potenzial Es steht außer Zweifel, dass die reformatorischen Ereignisse vor rund 500 Jahren für die Theologie-, Religions- und Kulturgeschichte bahnbrechend waren. „Reformation“ ist dabei ein in sich vielgestaltiger Epochenbegriff. Der Reformationshistoriker Thomas Kaufmann stellt dazu fest, dass die Reformation nicht als eine alleine mit Martin Luther verbundene Bewegung verstanden werden kann, sondern als Entwicklung, die unzählige lokale und regionale Reformationen und sog. Partikularreformationen in sich vereint und stellt dazu fest: Der Erfolg der Reformatoren aber bestand in der Reduktion des Universalismus und in der programmatischen Partikularisierung ihrer Gestaltungskontexte, mithin in der Addition der vielen größeren und kleineren Reformationen zu der einen, die man zusammenfassend „die Reformation“ zu nennen pflegt. Die Summe dieser Einzel- und Partikularreformationen jedenfalls veränderte das abendländische Kirchenwesen grundlegender als irgendetwas vorher oder nachher. 10 Die Rede von „Reformation“ bezeichnet damit eine Vielzahl theologisch und geistlich motivierter Aufbrüche, die Anstöße gaben, um das kirchliche, soziale und politische Leben neu zu ordnen. Die Reformation lässt sich als wesenhaft kritische geistige Bewegung in einer spirituell aufgeladenen Zeit beschreiben. Die Fragen, die etwa den Geistlichen und Theologieprofessor Martin Luther umtrieben, lassen sich als aufklärerisch, im Hinblick auf eine theologische Selbstaufklärung, beschreiben. Von zentraler Bedeutung war dabei die Frage, wie der Mensch Gottes Willen vollkommen erfüllen, also wie er vor Gott ein gerechter Mensch werden könne. Im Hintergrund stand Luthers Erfahrung, dass ihm dies selbst als Mönch nicht gelungen ist. Im Rahmen der Auseinan‐ dersetzung mit Röm 1,17 11 kam er zu einer Erkenntnis, die als Grundstein der sog. Rechtfertigungslehre verstanden werden kann: Gerecht wird ein Mensch nicht durch seine Leistung und durch die Erfüllung der Gebote, sondern durch 221 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie 12 „Ich aber, der ich trotz meines untadeligen Lebens als Mönch, mich vor Gott als Sünder mit durch und durch unruhigem Gewissen fühlte und auch nicht darauf vertrauen konnte, ich sei durch meine Genugtuung mit Gott versöhnt: ich liebte nicht, ja, ich haßte diesen gerechten Gott, der Sünder straft; wenn nicht mit ausgesprochener Blasphemie, so doch gewiß mit einem ungeheuren Murren war ich empört gegen Gott und sagte: »Soll es nicht genug sein, daß die elenden Sünder, die ewig durch die Erbsünde Verlorenen, durch den Dekalog mit allerhand Unheil bedrückt sind? Muß denn Gott durch das Evangelium den Schmerz noch Schmerzen hinzufügen und uns durch das Evangelium zusätzlich seine Gerechtigkeit und seinen Zorn androhen? « So raste ich in meinem wütenden, durch und durch verwirrten Gewissen und klopfte unverschämt bei Paulus an dieser Stelle an, mit heißestem Durst zu wissen, was St. Paulus damit sagen will. Endlich achtete ich in Tag und Nacht währendem Nachsinnen durch Gottes Erbarmen auf die Verbindung der Worte, nämlich: »Die Gerechtigkeit Gottes wird in ihm offenbart, wie geschrieben steht, ›Der Gerechte lebt aus dem Glauben‹.« Da habe ich angefangen, die Gerechtigkeit Gottes so zu begreifen, daß der Gerechte durch sie als durch Gottes Geschenk lebt, nämlich aus Glauben; ich begriff, daß dies der Sinn ist: offenbart wird durch das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes, nämlich die passive, durch die uns Gott, der Barmherzige, durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: »Der Gerechte lebt aus dem Glauben.« Nun fühlte ich mich ganz uns gar neugeboren und durch offene Pforten durch das Paradies selbst eingetreten. Da zeigte sich mir sogleich die Schrift von einer ganz anderen Seite.“ Zitiert nach Oberman (1994). Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 209 f. 13 Vgl. Kaufmann (2009). Geschichte der Reformation, 150. den Glauben. So übersetzte Luther: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“. 12 Dieses von Luther 1545 selbst rückblickend stilisierte Erkenntnismoment, muss hinsichtlich seiner historischen Zuverlässigkeit hinterfragt werden. Es ist davon auszugehen, dass Luthers reformatorischer Entdeckung ein mehrjähriger Re‐ flexionsprozess vorausging, wobei der Humanismus ein zentraler Wegbereiter reformatorischer Theologie und damit bald auch der Reformation war. Das kritische Moment dieser Erkenntnis liegt im Bruch mit der bestehenden Aus‐ legungspraxis der Bibel und den daraus abgeleiteten kirchenkritischen Hand‐ lungen. 13 1517 formulierte Luther die berühmt gewordenen 95 Thesen gegen das damals verbreitete Ablasswesen. Der Legende nach wurden diese Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg angeschlagen. Aus einer tiefgreifenden im Bibelstudium gemachten Erkenntnis wurde nun scharfe und ganz grundlegende Kirchenkritik. Das kirchliche Versprechen, dass gegen Geld Sünden vergeben werden können, wurde zum Gegenstand einer in ihren Folgen damals noch unabsehbaren Auseinandersetzung. Luthers Thesen verbreiteten sich auch aufgrund der neuen medialen Möglichkeiten durch Flugschriften schnell. Die kirchentheoretischen Implikationen der Reformation waren indessen immens. Vor allem Luthers Grundeinsicht in die von Gott selbst gewirkte Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses gewann ihre Dynamik aus der daraus resultierenden Absage an die römische Kirche. Die Beziehung zwischen Gott 222 Sonja Keller 14 Vgl. Laube (2011). „Die Kirche als ‚Institution der Freiheit’“, 136. 15 Ebd., 134. und den einzelnen Gläubigen erfordert demnach gerade keine Größe, die zwischen Gott und Mensch steht. Die im Glauben begründete Freiheit eines Christenmenschen ist gerade auch die Freiheit vom Herrschaftsanspruch einer Kirche, welche meint, sich an die Stelle Christi setzen zu können. Der Protes‐ tantismus verfügt damit über ein stark institutionskritisches Gepräge, ohne jedoch die institutionell verfasste Kirche vollkommen abzulehnen. Das hat zur Folge, dass die protestantische Kirchlichkeit ständige Selbstkritik übt. Daraus den Schluss zu ziehen, dass Kirche überflüssig wäre, ist allerdings grundlegend falsch. Kirche ist gemäß der Theologie der Reformation keine Heilsanstalt bzw. kein medium salutis. Der Mensch erlangt demnach nicht durch die Kirche, sondern durch die Verkündigung in der Kirche das Heil. 14 Dieser in der Reformation etablierte theologische Akzent war indessen folgenschwer, da Kirche in der Evangelischen Theologie fortan grundsätzlich von ihrer Funktion aus - der Verkündigung des Evangeliums - beschrieben wird und damit die Selbstunterscheidung gegenüber dem Inhalt der Verkündigung für die Kirche identitätsstiftend ist. Martin Laube schildert diesen Zusammenhang prägnant, wenn er feststellt: Die Pointe des theologischen Blicks auf die Kirche besteht gerade darin, die Kirche theologisch zu entlasten. Zumindest in reformatorischer Perspektive kann die Ek‐ klesiologie kein anderes Ziel verfolgen, als die Differenz von Kirche und Christus einzuschärfen und so die Kirche als Ort der Verkündigung christlicher Freiheit vom Grund dieser Freiheit selbst zu unterscheiden. Die Hinwendung zur geschichtlichen Wirklichkeit der Kirche geschieht dann durchaus aus einem theologischen Blick‐ winkel heraus - aber weder mit dem Ziel, sie als göttliche Stiftung zu überhöhen, noch in der gegenteiligen Absicht, sie im Namen einer unsichtbaren Kirche zu entwerten. Stattdessen nimmt die protestantische Ekklesiologie die Kirche als eine geschichtlich kontingente Vergemeinschaftungsform des christlichen Glaubens in den Blick, deren besondere Würde darin besteht, sich in den Dienst einer Freiheitsbotschaft zu stellen, der sie ihr eigenes Dasein verdankt. 15 Reformatorisches und kritisches, auf Selbstverständigung abzielendes, Denken formiert wesentlich das Selbstverständnis der Kirchen der Reformation bis heute, wobei die in der reformatorischen Theologie grundgelegte Unterschei‐ dung zwischen Kirche und Christentum ein fortwährend kritischer Impuls bleibt. 223 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie 16 Es ist indessen unerlässlich an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es „die“ Aufklä‐ rung im Sinne einer geschlossenen intellektuellen Bewegung nicht gegeben hat und die aufklärerische Philosophie jener Zeit keineswegs eine kontinuierliche Säkularisierung und ein religionskritisches Programm angestoßen hat. Vgl. Barth (2014). „Vernunft der Religion“, 454. 17 Vgl. Beutel (2009). Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium, 212ff. 18 Ein Unterfangen, das bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Die Arbeit am möglichst ursprünglichen Bibeltext geht so vor, dass immer mehr Varianten, also Überlieferungen des ntl. Textes berücksichtigt und zur Rekonstruktion hinzugezogen werden. In einem aufwendigen sogenannt „textkritischen“ Verfahren werden die verschiedenen überlie‐ ferten Handschriften miteinander verglichen, wobei eine ganze Fülle von Kriterien im Hinblick auf die Frage leitend ist, welche Handschriften ursprünglicher als die anderen sind. Anhand der sogenannt inneren Textkritik können abweichende Lesarten und Varianten zur Rekonstruktion des Textes voneinander unterschieden werden. Ein Blick auf ein paar Grundregeln der sog. inneren Textkritik macht deutlich, dass philologischer Sachverstand die Schriftauslegung ganz grundlegend prägt: Die schwierigere Lesart ist ursprünglich (lectio difficilior), denn Abschreibungen ersetzen Unbekanntes durch Ver‐ ständliches. Die kürzere Lesart ist ursprünglich (lectio brevior), denn Abschreibungen Theologie der Aufklärung - die „historisch-kritische“ Methode Für die Bibelwissenschaften war die Zeit der Aufklärung 16 außerordentlich fruchtbar. In dieser Zeit entstand auch die sog. „historisch-kritische“ Exegese, deren zentrales Merkmal darin besteht, dass sie sich von den Dogmen der Kirche frei machte. Die Eigenständigkeit mit der Martin Luther die Bibel las und übersetzte, legt es nahe, dass sich direkt im Anschluss daran ein individueller und kritischer Umgang mit der Bibel herausgebildet hätte, was so allerdings nicht der Fall war. Zur Zeit der Altprotestantischen Orthodoxie wurde der Bibeltext mit dem Wort Gottes identifiziert und damit auch der wissenschaftli‐ chen Auseinandersetzung entzogen. Dieses Schriftverständnis verunmöglichte einen eigentlich wissenschaftlichen Umgang mit der Bibel im neuzeitlichen Sinne. Wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des methodisch grund‐ gelegten, rationalen Umgangs mit der Bibel gingen von außertheologischen wissenschaftlichen Entwicklungen aus. Dazu zählen insbesondere verschiedene religionsphilosophische Traktate und die Exegese alttestamentlicher Schriften. Von besonderer Bedeutung war dabei die Beschäftigung mit den ersten fünf Büchern der Bibel im 16. Jahrhundert und die Feststellung, dass Mose diese nicht selbst verfasst hatte. Die weitere sog. Pentateuchforschung und damit die Erkenntnisse über das historische Wachstum dieser Schriften repräsentieren Wendepunkte des aufklärerischen Bibelstudiums. 17 Für die Entwicklung der neutestamentlichen Exegese war insbesondere die Arbeit an der Rekonstruktion des biblischen Urtextes elementar. 18 Neben dieser 224 Sonja Keller neigen eher dazu, Textschwierigkeiten zu erklären. Die bevorzugte Lesart muss im Einklang mit dem Kontext stehen und jene Lesart verdient den Vorzug, die in parallelen Passagen keine Entsprechung hat. Vgl. Roloff (1999). Neues Testament, 20f. 19 Vgl. Beutel (2009). Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung, 215. 20 Vgl. Söding (1998). Weg der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament, 59. zentralen philologischen Arbeit am Text des Neuen Testaments entwickelte sich auch vermehrt eine historische Deutung der neutestamentlichen Texte. Das hatte zur Folge, dass der Anspruch der göttlichen Inspiriertheit der neutes‐ tamentlichen Texte zugunsten eines Verständnisses der Schriften als historische Dokumente zurückwich. Die biblischen Texte wurden fortan vermehrt durch philologische Methoden analysiert. Aus diesen vielfältigen Entwicklungen ging das Ansinnen hervor, dass biblische Texte so wie andere historische Texte gelesen und damit einer rationalen Lektüre unterzogen werden sollen. Das für die altprotestantische Orthodoxie zuvor zentrale Verständnis der Inspiration der Schrift, die eine spezifisch theologisch oder dogmatisch geformte Lesart der Bibel hervorbrachte, rückte damit in den Hintergrund. Für die Entwicklung moderner Bibelwissenschaften war ohne Zweifel die Arbeit von Georg Lorenz Bauer von besonderer Bedeutung, der diesen philologisch aufklärerischen Umgang mit der Bibel auf den Programmbegriff „historisch-kritisch“ brachte. 19 Er versuchte konsequent durch historische Kritik die Geschichte der biblischen Religion zu rekonstruieren und damit als Produkt historischer Entwicklung auszuweisen. Damit begann auch eine aufklärerisch motivierte kritische Aus‐ einandersetzung mit den verschiedenen biblischen Mythen. Es entwickelte sich damit gerade aus der Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften eine spezifische wissenschaftliche Hermeneutik der biblischen Texte, die sich von der kirchlich-dogmatischen Lehre frei machte und die damit eine kritische Absetzungsbewegung zur früheren Theologie repräsentiert. Die „historisch-kri‐ tische“ Exegese ist insbesondere für die Schriftauslegung in der protestantischen Theologie und Kirche prägend und steht für eine Loslösung von dogmatisch hin zu philologisch orientierten Methoden der Schriftauslegung. 20 Damit ent‐ wickelte sich just ein zentrales Merkmal der protestantischen Theologie - die kontinuierliche Auseinandersetzung mit der biblischen Überlieferung - durch die Rezeption philologischer Methoden zu einer kritischen Prüfinstanz dogmatischer Theologie. Dialektische Theologie - Theologie als Kritik Dass sich kritisches Denken gerade auch als theologisches Denken formulieren lässt, bezeugt das Schaffen des Theologen Karl Barth mit besonderem Nach‐ 225 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie 21 Barth (1990). „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“. 22 Immer wieder wird Barth eine Empirievergessenheit nachgesagt, da er die Offenbarung Gottes in Jesus Christus bezeugt von der Bibel in den Mittelpunkt der Theologie stellt - und nicht den Glauben bzw. der Mensch als Subjekt des Glaubens. Das Pathos seiner Formulierungen kann aber kaum darüber hinwegtäuschen, dass Barth seine kulturelle Gegenwart differenziert wahrgenommen hat. Vgl. Grözinger (2012). „Karl Barth ‚Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie’“ 39. druck. Barth ist ohne Zweifel einer der wichtigsten theologischen Denker des 20. Jahrhunderts. Zur Besonderheit dieser Theologie gehört es, dass sie sich nicht auf einen einzigen Leitgedanken und eine Erkenntnis verkürzen lässt. Sein theologisches Schaffen wird in verschiedene Phasen unterteilt. Der rhetorisch geschickt formulierte Einspruch ist dabei so etwas wie ein Markenzeichen, wobei Barths kritisches Denken ein zutiefst theologisches Denken repräsentiert, das in einer ausdrücklich theologischen Sprache abgefasst ist. In seinem Kom‐ mentar zum Brief des Apostel Paulus an die Römer formuliert Barth Kritik an der einflussreichsten theologischen Strömung seiner Zeit, nämlich der liberalen Theologie und ihrer Wertschätzung des religiösen Erlebens. Demgegenüber be‐ tont Barth die Transzendenz und Entzogenheit Gottes. Barth war die wichtigste Gestalt einer theologischen Bewegung, die vielfach als „Dialektische Theologie“ bezeichnet wird und die darum bemüht war, die Transzendenz Gottes und den tiefen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch zu betonen. Damit grenzt sich Barth von einer (stilisierten) liberalen Theologie ab, die sich stark auf das religiöse Erleben fokussiert und eine Synthese zwischen Offenbarung und Vernunft sowie Christentum und Kultur nicht ausschließt. Barth stellt der liberalen Theologie eine Wiederbesinnung auf die reformatorische und die altprotestantische Theologie entgegen. Im Zentrum von Barths Kritik steht die Absage an eine natürliche Theologie und eine vernünftige Gotteserkenntnis, die nicht aus der Selbstmitteilung Gottes in Jesus Christus hervorgeht. Im Vortrag „Das Wort Gottes und die Theologie“, der sich mit der Predigtpraxis befasst, formuliert Barth die Grundanfrage der Dialektischen Theologie an die theologische bzw. homiletische Praxis prägnant. Seine Anfrage ist dabei radikal und kritisch, wenn er fragt: „Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben. Das ist unsere Bedrängnis. Alles andre ist daneben Kinderspiel.“ 21 Die von Barth formulierte Ambivalenz beinhaltet eine überaus kritische Pointe, demnach Verkündigung nicht diffus sein und suggerieren darf, dass die Menschen die Offenbarung Gottes schon kennen. 22 Verkündigung auf der Kanzel soll demnach nicht vom Glauben reden oder Lebenshilfe verbreiten, sondern als Rede von 226 Sonja Keller 23 Vgl. Pfleiderer (2009). Karl Barths praktische Theologie, 9. 24 Vgl. ebd., 461. Gott betrieben werden. Da Gott die Grenzen und das Fassungsvermögen der Menschen übersteigt, ist es Barth zufolge allerdings unbedingt notwendig, den Unterschied zwischen Gott und Mensch theologisch in der Predigt zu reflektieren. Auf der Kanzel soll demnach glaubhaft aus der Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch heraus gepredigt werden. Die Aufgabe eines Menschen von Gott zu sprechen führt ihn, Barth zufolge, also in eine große Verlegenheit, denn Predigt darf nicht bloß Lebenshilfe sein, sondern soll die Menschen in das Offenbarungsereignis hineinnehmen. Die Aufgabe der Predigt ist damit gewaltig. Dialektisch und kritisch ist die Theologie Barths, da sie Gotteswort und Menschenwort nicht zusammenfallen lässt, die Predigt aber als Menschenwort auf Gott verweisen soll. In der Predigt soll entsprechend dialektisch um das Wort Gottes, um seine Verheißung für den Menschen gerungen werden. Barth lehnt es ab, das Wesen Gottes aus der Erfahrung und dem Glauben abzuleiten und weist darauf hin, dass zwischen Gott und Mensch ein beträchtlicher qualitativer Unterschied besteht. Das in sich vielgestaltige theologische Œuvre Barths gehört zu den wichtigsten Beiträgen zur Evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts, das zahlreiche Kritiker und Befürworter gefunden und das eine beträchtliche Wirkungsgeschichte nach sich gezogen hat. Diese Krisentheologie bleibt umstritten, da Barth einen modernen Religionsbegriff gegen einen theologischen Glaubensbegriff tauscht, was als Modernitätsverweigerung interpretiert werden kann. Zugleich ist es allerdings auch möglich, in dieser in genuin dogmatischer Sprache gehaltenen Theologie ein überaus kritisches und leistungsfähiges Potenzial zu erkennen, da ihre Abgrenzung gegenüber der liberalen Theologie jener Zeit, den theologischen Diskurs um einen produktiven Einwand erweitert hat. Barths vermeintliche Indifferenz gegenüber der religiösen Subjektivität und der empirischen Religion, kann somit auch als spezifisch moderne und kritische Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Theologie gelesen werden, deren Krise er in einer monumentalen, orientierenden Syntheseleistung verarbeitet hat. 23 Diese theologiegeschichtliche Wende, die wesentlich mit Barths in einer spezifisch dogmatischen Sprache formulierten Kritik verbunden ist, kritisiert die liberale Theologie jener Zeit in spezifisch theologischen Kategorien, was ein durchaus kritisches Moment repräsentiert, weil es behauptet, dass die religiös-kul‐ turelle Praxis auf ein dezidiert theologisches Bewusstsein angewiesen ist. 24 227 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie Fazit Ein Wissenschaftsverständnis, dass sich am kritischen Rationalismus orien‐ tiert, ist für die Theologie wichtig, da sie nicht voraussetzungsfrei ist. Sie muss, wie andere Wissenschaften auch, ihre Voraussetzungen durchsichtig machen und allgemeine wissenschaftliche Standards erfüllen, um am interdis‐ ziplinären wissenschaftlichen Diskurs partizipieren zu können. Anhand ein‐ zelner Entwicklungen in der Theologiegeschichte wurde exemplarisch gezeigt, dass kritisches Denken die Theologie insbesondere anhand von Fragen der Hermeneutik, der Schriftauslegung und dem Gegenstand der theologischen Reflexion entscheidend weiterentwickelt hat. Der Schrittmacher des kritischen Potenzials der Theologie ist dabei ihr eigener Anspruch christlichen Glaubens, seine Grundlagen, seine Inhalte und seinen Vollzug zu durchdringen. Dieser Programmatik folgend, leistet die Theologie einen zentralen Beitrag zur Selbst‐ aufklärung der christlichen Religion, was eine wichtige Voraussetzung für den gesellschaftlichen Dialog in einer multiethnischen und religionspluralen Gesellschaft repräsentiert. Literatur Barth, Karl (1990). „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“. In: Ders. Vor‐ träge und kleinere Arbeiten 1922-1925, Karl Barth Gesamtausgabe, im Auftrag der Karl-Barth-Stiftung hrsg. v. Hinrich Stoevesandt, III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich: Theologischer Verlag Zürich, 144-175. Barth, Ulrich (2014). „Vernunft der Religion. Das Erbe der Aufklärung“. In: Ders. Kritischer Religionsdiskurs. Tübingen: Mohr Siebeck, 452-468. Beutel, Albrecht (2009). Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dalferth, Ingold U. (2013). Radikale Theologie. Leipzig: Evang. Verl.-Anst. Grözinger, Albrecht (2012). „Karl Barth ‚Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie‛“. In: Praktische Theologie 47, 1. Härle, Wilfried (2000). Dogmatik. Berlin: de Gruyter. Jüngel, Eberhard (2001). Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus. 9. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Kaufmann, Thomas (2009). Geschichte der Reformation. Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen. Korsch, Dietrich (2000). Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott. Tübingen: Mohr Siebeck. 228 Sonja Keller Kruse, Otto (2017). Kritisches Denken und Argumentieren. Eine Einführung für Studierende. Konstanz: UVK. Laube, Martin (2011). „Die Kirche als ‚Institution der Freiheit’“. In: Christian Albrecht (Hrsg.). Kirche. Tübingen: Mohr Siebeck, 131-170. Oberman, Heiko A. (1994). Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. Pfleiderer, Georg (2009). Karl Barths praktische Theologie. Zu Genese und Kontext eines paradigmatischen Entwurfs systematischer Theologie im 20. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck. Roloff, Jürgen (1999). Neues Testament. 7. Auflage. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag. Söding, Thomas (1998). Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Freiburg im Breisgau: Herder. 229 Theologie - „Rede von Gott“? Von der Selbstreflexivität Evangelischer Theologie 1 Der vorliegende Beitrag ist aus einer Ringvorlesung zum Thema „Nachhaltigkeit in den Geisteswissenschaften“ hervorgegangen, die im Sommersemester 2020 in digitaler Form stattgefunden hat. Ich danke Ulrike Job herzlich für ihre Bereitschaft, ihn in ihren Sammelband Kritisches Denken in den Geisteswissenschaften aufzunehmen. Der Stil des mündlichen Vortrags wurde weitestgehend beibehalten. Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? Nachhaltigkeitsdiskurse im antiken Rom 1 Claudia Schindler „Nachhaltigkeitsdiskurse im antiken Rom“ in einem Sammelband zum „kriti‐ schen Denken“? Titel und Publikationsort dürften bei manchem, der den Band aufschlägt, ein Stirnrunzeln hervorrufen. Gewiss: In dem Beitrag wird es um Texte der römischen Literatur gehen, die seit mehr als 2000 Jahren gelesen werden, um Texte, die fest in das kulturelle Gedächtnis Europas eingeschrieben sind und deren ‚nachhaltige‘ Wirkung allein darin besteht, dass sie seit ihrem Entstehen in allen Epochen der europäischen Geistesgeschichte Relevanz be‐ sessen haben. Ihre Ursache hat die überragende Bedeutung der Texte indes nicht allein in einem gewissen Respekt, den man ihnen aufgrund ihres Alters entgegenbrachte. ‚Nachhaltige Wirkung‘ hatten die Texte vor allem deswegen, weil man aus ihnen nicht nur Wissen ziehen konnte, sondern weil sie das Potenzial hatten, Widerspruch auszulösen, weil man sich an ihnen rieb, sich mit ihnen auseinandersetzte und an ihnen sein kritisches Denken schulte. Die Provokation, die von ihnen ausgeht, ist bis heute ungebrochen: Es wird sich zeigen, dass die Texte, die unter vollkommen anderen Umständen und in einem vollkommen andersartigen kulturellen Setting entstanden sind, nicht nur dazu anregen, sich mit eben diesem Setting kritisch auseinanderzusetzen, son‐ dern dass diese kritische Auseinandersetzung mit dem ‚fernen Modell Antike‘ auch dazu führen kann, Gegebenheiten der aktuellen Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Ein instruktives Beispiel dafür, das hoffe ich in meinem Beitrag 2 Zum Begriff „Nachhaltigkeit“: https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Nachhaltigkeit. Zur Ent‐ stehung des Begriffs vgl. ferner Grunwald; Kopfmüller (2012). Nachhaltigkeit, 18-20; Brüggemann; Brüssel; Härthe (2018). Nachhaltigkeit in der Unternehmenspraxis: Impulse für Wirtschaft und Politik, 12f. 3 André (1832). Einfachste den höchsten Ertrag und die Nachhaltigkeit ganz sicher stellende Forstwirthschafts-Methode. 4 Vgl. Vieweg (2018). Nachhaltige Marktwirtschaft: Eine Erweiterung der Sozialen Markt‐ wirtschaft, 28-30. 5 Zu „Nachhaltigkeit“ an der Universität Hamburg: www.uni-hamburg.de/ uhh/ profil/ le itbild/ nachhaltigkeit.html. 6 Ebd. 7 Brüggemann et al. (2018), 12. zeigen zu können, bietet ein Narrativ der römischen Literatur, das ich als Nachhaltigkeitsdiskurs bezeichnen möchte. Vorweg ein paar Worte zur Begrifflichkeit. Heute in aller Munde, hat der Begriff „Nachhaltigkeit“ weder im Griechischen noch im Lateinischen eine nur annähernd adäquate Entsprechung. Das deutsche Substantiv, so informiert der Wikipedia-Artikel, 2 kommt erstmals 1832 im Titel eines Traktats zur Forstwirt‐ schaft vor. 3 Hier wie in seiner jüngeren und aktuellen Verwendung verbindet es sich bei einer stets positiven Konnotation in seinem engeren Sinn mit der Vorstellung, dass man beim Wirtschaften darauf zu achten habe, durch verantwortungsvollen Umgang mit den natürlichen Ressourcen zu erreichen, dass diese Ressourcen nur soweit beansprucht werden, dass auch nachfolgenden Generationen noch genug davon zur Verfügung steht. Der Begriff lässt sich darüber hinaus aber auch in einer weniger eingeschränkten Bedeutung auf ein Zusammenspiel von ökologischen, ökonomischen und sozialen Aspekten beziehen, die in einem ‚Nachhaltigkeitsdreieck‘ mit den Adjektiven gerecht, lebenswert und fair verbunden werden. 4 Die Universität Hamburg versteht sich als „Universität der Nachhaltigkeit“. 5 Sie definiert als die vier Säulen ihrer Nachhaltigkeit in Forschung und Lehre eine reflexiv-wissenschaftskritische, eine inhaltliche, eine didaktische und eine institutionelle. 6 Dieses Konzept geht erheblich über das ursprüngliche, materiell-ökonomisch orientierte Konzept von Nachhaltigkeit hinaus. Zugleich zeigt sich, dass es sich bei ‚Nachhaltigkeit‘ um einen nicht ganz einfach zu fassenden Begriff von enormer Spannweite handelt. All seinen Facetten ist jedoch gemeinsam, dass sie mit dem Begriff der Langlebigkeit, der Dauerhaftigkeit oder, wie ein weiteres modernes Kunst‐ wort lautet, mit der „Enkelgerechtigkeit“ oder der „enkelgerechten Politik“ 7 zusammenhängen, dass also von der Gegenwart aus immer auch in die Zukunft hineingedacht wird. 232 Claudia Schindler 8 Die Brücke zur Antike schlägt ein 2020 erschienener Sammelband: Schliephanke; Sojc; Weber (Hrsg.) (2020a). Nachhaltigkeit in der Antike, Diskurse, Praktiken, Perspektiven. Darin zu dem gesamten Themenkomplex Schliephanke et al. (2020b). „Einleitung“; aus klassisch-philologischer Perspektive zu Columella: Mielke (2020b). „Moralisieren gegen landgrabbing. Zum Verhältnis von Rhetorik und Nachhaltigkeit bei Columella (1,3,8-13)“. Unter der Prämisse, dass man Nachhaltigkeit nicht nur oder nicht aus‐ schließlich materiell-ökonomisch verstehen, sondern auch auf Ideell-Abstraktes beziehen kann, kann es durchaus sinnvoll sein, über den Begriff und seine Implikationen auch einmal in geisteswissenschaftlichen Kontexten nachzu‐ denken. 8 Was können die Geisteswissenschaften und geisteswissenschaftliche Forschungen beitragen, um den Begriff aus ihrer ganz spezifischen Perspektive auszuloten? Wie lassen sich ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Kritisches Denken‘ zusam‐ menführen? Eine einfache Antwort auf die Frage lässt sich kaum finden. Die Forschungsfelder der Geisteswissenschaft sind ebenso divers und heterogen wie ihre Ansätze und ihre Methoden; und so werden sich die Herangehensweisen teils berühren, teils werden sie je nach Disziplin sehr unterschiedlich ausfallen, wie auch innerhalb der einzelnen Fächer die Ansätze je nach Forschungsschwer‐ punkt der Fachvertreter verschieden sein können. Für die Latinistik könnte man zum Beispiel fragen, wo die Ursachen dafür zu suchen sind, dass Texte der römischen Literatur über Jahrhunderte hinweg, auch nach dem Untergang des Römischen Reiches, vor der Erfindung des Buchdrucks unter zum Teil erheblichem Arbeitsaufwand tradiert wurden und aus dem Schulkanon nicht wegzudenken sind. Dann würde man darauf kommen, dass ‚nachhaltig‘ viel mit dem zu tun hat, was wir gemeinhin als ‚klassisch‘ bezeichnen: Dass es sich bei Ciceros Reden, bei Vergils Aeneis und bei Ovids Metamorphosen um Texte handelt, die bestimmte anthropologische Grundkonstanten nachvollziehbar auf den Punkt bringen, dass wir hier Diskurse verhandelt finden, die überzeitlich und zugleich ästhetisch anspruchsvoll sind, so dass man sie auch nach 2000 Jahren noch mit Gewinn lesen kann. Man könnte darüber spekulieren, welche Forschungsthemen in der Latinistik nachhaltig sind; beziehungsweise darüber, ob es in einer Geisteswissenschaft, die stark von literaturwissenschaftlichen Diskursen und ‚Turns‘ abhängt (bisweilen auch von strategischen Planungen und der Definition von ‚fakultären Forschungsschwerpunkten‘ und ,Potenzial‐ bereichen‘, die sich alle paar Jahre ändern), unter diesen Umständen nachhaltige Wissenschaft geben und wie diese aussehen kann. Im digitalen Zeitalter stellt Nachhaltigkeit bei der Sicherung von Forschungsdaten bekanntlich eine beson‐ dere Herausforderung dar. 233 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 9 So definiert das Fach ‚Latinistik‘ z. B. die Einführung von Riemer et al. (2008). Einführung in das Studium der Latinistik, 9. Seit den letzten Jahrzehnten verändert sich das Profil insofern, als zunehmend auch die nachantiken Texte des 15.-18. Jahrhunderts als ‚Neulateinische Philologie‘ in den Blick genommen werden; vgl. Ludwig et al. (2003). „Klassische und Neulateinische Philologie: Probleme und Perspektiven“; Hofmann (2000). „Neulateinische Literatur: Aufgaben und Perspektiven“. 10 Vgl. Harper (2020). Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches, 24-31 (auch zum Folgenden). All diese Fragen haben das Potenzial, ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Kritisches Denken‘ zusammenzuführen. Sie betreffen gleichwohl nichts, was sich exklusiv mit Latinistik verbindet. Mutatis mutandis stellen sie sich in jeder Literaturwis‐ senschaft. Ich möchte daher in diesem Beitrag einen anderen Ansatz verfolgen. Ich möchte anhand des konkreten Themas ‚römischer Nachhaltigkeitsdiskurs‘ danach fragen, inwieweit die Gegenstände der Latinistik uns dabei helfen können, aktuelle Diskussionen einzuordnen. Möglicherweise kann uns das, was wir für die Antike feststellen, sogar dazu bringen, den modernen Nachhaltig‐ keitsdiskurs kritisch zu hinterfragen. Gegenüber modernen Literaturwissenschaften hat die Latinistik als histori‐ sche Literaturwissenschaft eine Besonderheit. Zumindest in ihrem Kerngeschäft blickt sie auf ein abgeschlossenes Corpus von Texten. 9 Diese Texte entstammen einer Epoche der europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, der man bereits durch ihre Bezeichnung als ‚klassische Antike‘ einen modellhaften Charakter zuschreibt. Der politisch-kulturelle Kontext der römischen Literatur ist jenes Staatsgebilde Imperium Romanum („Römisches Reich“), das sich etwa 400 Jahre lang relativ stabil über den gesamten Mittelmeerraum erstreckte und ihn mit seiner Kultur und seinen Denkmodellen entscheidend geprägt hat. Wenn man sich nun im Kontext der römischen Antike mit Nachhaltigkeit beschäftigt, erweist sich der Zugang in mehrfacher Hinsicht als nicht ganz einfach. Mag auch die römische Antike durch archäologische und literarische Zeugnisse erstaunlich gut dokumentiert sein: Die Informationen, die wir über diese Zeitspanne haben, sind nicht annähernd so reichhaltig wie für spätere Epochen. Unser Wissen beruht vielfach auf Rekonstruktion. Was wir aber sicher sagen können, ist, dass eine vormoderne Ökonomie wie die römische aufgrund verschiedener Gegebenheiten nicht imstande war, Nachhaltigkeit im heutigen Sinne zu praktizieren. Die Möglichkeiten der Energiegewinnung aus der Um‐ welt zum Beispiel waren begrenzt, 10 mit Ausnahme der Wasserkraft standen keine erneuerbaren Energien zur Verfügung, ein großer Teil der Arbeitsleistung beruhte auf Muskelkraft. In der Landwirtschaft war man auf das angewiesen, was man dem Boden ohne Zusatz von Kunstdünger abgewinnen konnte. Folglich zielte der römische Umgang mit der Natur im Wesentlichen darauf, 234 Claudia Schindler 11 Zum antiken Umweltverhalten vgl. Weeber (1990). Smog über Attika. Umweltverhalten in der Antike. 12 Goldmine von Las Médulas: https: / / whc.unesco.org/ en/ list/ 803/ . 13 Abbildung z. B. in: della Portella et al. (2003). Via Appia. Entlang der bedeutendsten Straße der Antike, 128f. 14 Grundlegend zur römischen Agronomie Diederich (2007). Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie; zur Nachhaltigkeit in der antiken Landwirtschaft Mielke (2020a). Spaliere für Silvinus. Charakterschulung in Columellas Werk über die Landwirtschaft. an die vorhandenen Ressourcen heranzukommen und sie möglichst optimal auszubeuten. Auf die Natur nahm man dabei wenig Rücksicht, denn allein der Bedarf des Militärs an Holz und Eisen war immens. Das wohl bekannteste Beispiel für ein fehlendes Umweltbewusstsein der Römer 11 ist die Verkarstung des kroatischen Küstengebirges, hervorgerufen durch jahrhundertelange Ab‐ holzung. Aber auch in Spanien veränderte der Abbau von Edelmetallen das Landschaftsbild; die zerklüftete Landschaft der Goldmine von Las Médulas, eindrucksvolles Beispiel römischer ruina montium, ist seit 1997 UNESCO-Welt‐ erbe. 12 Für den Straßenbau wurden Berge abgetragen wie etwa beim Bau der Via Appia in Terracina. 13 Für die beliebten Tierhetzen wurde der nordafrikanische Bestand an Wildtieren nahezu vollkommen ausgerottet. Dieser laxe Umgang mit den Ressourcen der Natur dürfte unter anderem der Tatsache geschuldet gewesen sein, dass man schlicht und einfach nicht über genug Wissen um die komplexen Zusammenhänge von Geologie, Botanik und Klima verfügte, und dass man aus der Perspektive des ersten nachchristlichen Jahrhunderts vielleicht tatsächlich den Eindruck gewinnen konnte, dass natürliche Ressourcen in unbegrenzter Fülle zur Verfügung zu stehen schienen. Ansätze zu einem nachhaltigen Wirtschaften hat es gleichwohl gegeben; und zwar, wie zu erwarten ist und gar nicht so viel anders als heute, genau dort, wo man erkannte, dass ein nicht-nachhaltiges Wirtschaften die eigene Existenz bedrohte, wenngleich nicht so tiefgehend und nicht so global. Die römische Gesellschaft war im Grundsatz agrarisch geprägt, die römische Agronomie war weit entwickelt und spielte als Disziplin eine große Rolle. Folglich gibt es in Rom seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert eine reichhaltige agronomische Fachliteratur, die in differenzierter Weise darüber reflektiert, wie nachhaltiges Wirtschaften auszusehen hat: 14 Hier findet man alles vom Fruchtwechsel im Feldbau über den langen Atem, den man beim Anlegen eines Olivenhains benötigt (denn erst die Enkel werden davon profitieren) - bis hin zu Fragen der Gesunderhaltung und Ernährung der Sklaven. Als nämlich die schier unbegrenzte Verfügbarkeit von Sklaven ausdünnte, weil den Sklavenmärkten mangels neu unterworfener Gebiete und versklavter Bewohner der Nachschub 235 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 15 Cf. Tacitus. Annalen 15,43. 16 Vitruv, De Architectura 1,4; 1,6. 17 Zum Konzept und zum Vorgang des ‚framing‛ vgl. z. B. Stocké (2002). Framing und Rationalität. Die Bedeutung der Informationsdarstellung für das Entscheidungsverhalten. 18 Zum Begriff und Konzept vgl. Thaler; Sunstein (2009). Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth and Happiness. ausging, da musste man nicht nur darauf achten, dass Sklaven im eigenen Haus‐ halt nachwuchsen, sondern auch staatlicherseits eine Gesetzgebung schaffen, die die Sklaven vor der absoluten Willkür ihrer Herren schützte. Wir sehen weiterhin, dass Katastrophen bisweilen zur Entwicklung neuer Ideen führten, die man durchaus mit dem Begriff der Nachhaltigkeit zusammenbringen kann: Nach dem verheerenden Brand Roms im Jahre 64 nach Christus ließ Nero ein städtebauliches Konzept entwickeln, das zukünftige Brände mit breiten Straßen und der Vorgabe bestimmter Baumaterialien und Gebäudehöhen verhindern sollte. 15 Hier spielt das Konzept der ‚gesunden Stadt‘ mit hinein, das nicht etwa eine moderne Erfindung ist. Antike Architekten, etwa der unter Augustus schreibende Vitruvius Pollio, machten sich Gedanken über die Lage von Städten, auch in Hinblick auf die vorherrschenden Windrichtungen. 16 Dass die Römer auch im politischen Bereich nachhaltige Konzepte hatten, zeigt der Erfolg ihres Staatswesens: Wenn es einem politischen Gebilde von der geographischen Ausdehnung des Imperium Romanum gelingt, fast 400 Jahre lang stabil zu bleiben, dann ist das kein zufälliger Erfolg, sondern einer, der auf einem tragfähigen Konzept beruht. In der römischen Antike finden wir also im ökonomischen, ökologischen und politischen Bereich ansatzweise Dinge verwirklicht, die sich mutatis mu‐ tandis mit einem modernen Verständnis von Nachhaltigkeit decken können. Diese praktizierte Nachhaltigkeit ist jedoch damals wie heute nur eine Facette jenes größeren Komplexes, den man im Ganzen als ‚Nachhaltigkeitsdiskurs‘ bezeichnen kann. Die Prinzipien der Nachhaltigkeit, die eine Gesellschaft in der Praxis befolgt, stehen nämlich nie isoliert. Parallel zu ihrer Anwendung findet stets eine mediale Rezeption und Verarbeitung statt. Maßnahmen, die konkret umgesetzt werden, werden stets kommentiert, bewertet und dadurch teilweise auch ideologisch verortet - im modernen Diskurs etwa durch den positiv geframten Begriff ‚Nachhaltigkeit‘. 17 Daneben haben die Medien stets die Möglichkeit zu visionären Blicken in die Zukunft, sie können Missstände anprangern und Lösungsmöglichkeiten anbieten, sie können aber auch den öffentlichen Diskurs durch ein gewisses „nudging“ 18 manipulativ beeinflussen. Für den Erfolg eines Nachhaltigkeitskonzepts ist diese mediale Aufbereitung von entscheidender Bedeutung. Konkret und modern gesprochen: Es reicht 236 Claudia Schindler 19 Zeh (2016). Unter Leuten, Teil I, Kapitel 6. 20 Zur Realität der antiken Landwirtschaft vgl. White (1970). Roman Farming; Tietz (2015). Hirten, Bauern, Götter. Eine Geschichte der römischen Landwirtschaft; Hollander (2019). Farmers and Agriculture in the Roman Economy. nicht, eine Anlage zur Nutzung von Windkraft zu erfinden und aufzubauen, man muss verschiedenen Interessensgruppen gegenüber deutlich machen, worin ihre Vorteile bestehen und warum diese Form der Energiegewinnung an einem bestimmten Standort ‚alternativlos‘ ist - in Juli Zehs Roman „Unter Leuten“ etwa wird dies eindrucksvoll vorgeführt. 19 Hier zeigt sich auch, dass Nachhaltigkeits‐ konzepte in mancher Hinsicht allein über den medialen Diskurs funktionieren: nämlich immer dann, wenn man den Individuen erklären muss, dass es für sie nun etwas unbequem wird und sie für eine bessere Zukunft lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben sollten. Doch zurück zur römischen Antike. Hier scheint mir bemerkenswert, dass in einem ihrer wichtigsten Medien, der Literatur, tatsächlich etwas existiert, das man als Nachhaltigkeitsdiskurs bezeichnen kann. Wie gesagt: Da Nachhal‐ tigkeit in einer vormodernen Gesellschaft zum Teil unter erheblich anderen Voraussetzungen steht als heute, ist der Begriff zwar nur mit Einschränkungen adaptierbar. Gewisse Parallelen scheinen mir jedoch vorhanden zu sein. Betrachtet man das Themenfeld des antiken Nachhaltigkeitsdiskurses, dann zeigt sich schnell, dass dieses Feld durch verschiedene, gleichwohl miteinander verschränkte Narrative bestimmt wird, je nachdem, ob es sich um den öko‐ nomisch-ökologischen oder den politischen Bereich handelt. Ich möchte im Folgenden zunächst vom ökonomisch-ökologischen Bereich ausgehen. Es wird sich aber schnell zeigen, dass dieser Bereich von den anderen Bereichen nicht abtrennbar ist und sogar ziemlich eng mit ihnen zusammenhängt. Die römische Gesellschaft ist wie gesagt agrarisch geprägt. Ihrem Selbstver‐ ständnis nach sind die Römer Soldaten und Bauern, die Symbole ihrer Kultur Lanze und Pflug: Das Land wird zunächst erobert, dann landwirtschaftlich genutzt. Bereits im ersten Jahrhundert vor Christus hatte die Landwirtschaft in Italien nichts mehr mit dem Idyll zu tun, das einem die antikisierende Schäferdichtung des Barock suggeriert. Mit der Unterwerfung Italiens wandelte sich die Subsistenzwirtschaft italischer Kleinbauern zu einer Latifundienwirt‐ schaft: 20 Bauernhöfe waren riesige, meistenteils von Sklaven bewirtschaftete Landgüter, die sich oftmals auf den Anbau lukrativer Produkte wie Wein und Oliven spezialisiert hatten. In der Regel wurden sie nicht von ihren Eigentümern geleitet, sondern von einem Gutsverwalter, den der Eigentümer eingesetzt hatte, da er selber nicht vor Ort war, sondern in Rom seinen Geschäften nachging. Archäologische Befunde, etwa aus den beim Vesuvausbruch des Jahres 79 n. Chr. 237 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 21 McKay (1980). Römische Häuser, Villen und Paläste, 100 f. (Villa Nr. 13); zu den landwirt‐ schaftlichen Grundlagen römischer Villeggiatur vgl. Mielsch (1987). Die römische Villa. Architektur und Lebensform, 9-36. 22 Zum sachlichen Gehalt und der Richtigkeit der Informationen in den Georgica vgl. Spurr (2007). „Agriculture and the Georgics“. 23 Zur „Transzendierung“ des Lehrstoffes in den Georgica und dem Gesamtkonzept des Gedichts vgl. Effe (1977). Dichtung und Lehre, 81-97. verschütteten Villae rusticae von Boscoreale, 21 bestätigen dies ebenso wie die agronomische Fachliteratur: Zumindest partiell und im Rahmen der damaligen Möglichkeiten war es eine industrialisierte Landwirtschaft, die vor allem auf Gewinnmaximierung abzielte. Die Werke römischer Agronomen, die als Handreichungen für den ange‐ henden Gutsverwalter konzipiert sind, gehen pragmatisch vor und tragen den Bedürfnissen der zeitgenössischen Landwirtschaft Rechnung: Es sind in erster Linie Fachbücher. Etwas anders verhält es sich mit einem weiteren Werk, dessen Thema ebenfalls die Landwirtschaft ist. Die Georgica des römischen Na‐ tionaldichters Publius Vergilius Maro, die um 27 v. Chr. veröffentlicht wurden, geben sich prima vista als agrarisches Werk, das in vier Büchern Ackerbau und Baumpflanzungen, Viehzucht und Bienenzucht behandelt. Die Vorschriften zum Bestellen der Felder, zum Pfropfen und Okulieren von Bäumen, zur Auswahl der Tiere für die Zucht und zur idealen Umgebung für einen Bienenschwarm sind instruktiv und sachlich durchaus fundiert; die Informationen zieht der Dichter nachweislich aus der Fachliteratur. 22 Im Unterschied zu den Fachbüchern hat Vergil jedoch nicht den profitgierigen Latifundienbesitzer im Blick, sondern den autarken italischen Kleinbauern, der Subsistenzwirtschaft betreibt und im Einklang mit dem Jahreslauf von seiner Hände Arbeit lebt. Dieser Kleinbauer der Georgica hat keine Sklaven. Bei seiner Arbeit hat er stets die späteren Generationen im Blick. Er ist genügsam, er kontrolliert zwar die Natur, er muss ihr bisweilen um des eigenen Überlebens willen Zwang antun, aber er beutet sie nicht aus. Die Stadt mit ihren Umtrieben und ihrer Profitgier interessiert ihn nicht. Vergil zeichnet den Lesern seiner Georgica also ein fast schon modern anmu‐ tendes Bild von ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Enkelgerechtigkeit‘. Bemerkenswert ist dabei allerdings, dass seine Darstellung keine exakte Abbildung der Wirklichkeit ist. 23 Kleinbauern, wie Vergil sie in den Georgica beschreibt, hat es zu Vergils Zeit vielleicht noch gegeben; sie spielten aber keine nennenswerte Rolle mehr. Sie waren faktisch die Verlierer der Latifundienwirtschaft gewesen: Da sie nicht mehr konkurrenzfähig gegen die Großbetriebe waren, hatten viele von ihnen ihre Höfe aufgeben müssen, waren nach Rom abgewandert und zu einem 238 Claudia Schindler 24 Übergreifend zum Lehrgedicht Toohey (1996). Epic lessons. An introduction to ancient didactic poetry; Fuhrer; Juckel (2008). „Lehrdichtung“; Schindler (voraussichtlich 2021). „Didaktische Epik“. 25 Vgl. Vergil, Georgica 2,176. mittellosen Proletariat herabgesunken, dem man seine Stimme beim Wahlkampf mit ein bisschen Getreide und Gladiatorenspielen abkaufen konnte. Was wir also in Vergils Georgica fassen, ist ein Nachhaltigkeitsnarrativ, das in den aktuellen Verhältnissen nur bedingt eine Entsprechung findet. Das Land‐ leben, das Vergil proklamiert, ist von der Realität ein gutes Stück distanziert, es ist ‚künstlich‘ im eigentlichen Wortsinn. Zugleich haben die Georgica in ihrer Eigenschaft als Lehrgedicht einen appellativen Charakter: Der Leser, der immer wieder direkt adressiert wird, soll nicht nur den Anweisungen des Dichters folgen, sondern er soll das Bild, das hier gezeichnet wird, als gut, als wahr und als richtig erkennen. Wie nun kommt Vergil zu diesem idealisierten Bild? Und weshalb kann er bei seinen römischen Lesern überhaupt eine Akzeptanz dafür voraussetzen? Eine erste Antwort auf die Frage nach dem ‚wie‘ und ‚weshalb‘ liegt zweifelsohne in dem, was Literaturwissenschaftler als literarische Tradition bezeichnen. Als Lehrgedicht stehen Vergils Georgica in einer langen Reihe von Lehrgedichten. 24 Als Prototyp gilt der Antike ein Gedicht aus dem achten/ siebten vorchristlichen Jahrhundert, die „Werke und Tage“ (Erga kai hemerai) des Hesiodos von Askra. In diesem Gedicht erteilt der Sprecher seinem Bruder, mit dem er im Erbschaftsstreit liegt, agronomische Anweisungen, aufgrund derer dieser zu einer autarken Lebensweise kommen kann und es nicht mehr nötig hat, sich an fremdem Erbe zu vergreifen. Mit seinen Georgica bezieht sich Vergil unmittelbar auf dieses Gedicht des Hesiod. 25 Das Bild des autonomen Kleinbauern, das er in den Georgica zeichnet, ist also bereits dadurch legitimiert, dass es in der griechischen Literatur ein berühmtes Modell dafür gibt. Denn originell zu sein bedeutet in der römischen Literatur nicht, etwas zu schaffen, das nie zuvor da war, sondern es bedeutet, mit prominenten Vorgängern kreativ umzugehen. Hinzu kommt, dass sich der Diskurs des entschleunigten und genügsamen Landlebens mit zwei anderen Diskursen verbinden lässt, die in der römischen Literatur gängig sind. Die positive Darstellung des Landlebens findet nicht nur bei Vergil, sondern auch bei anderen römischen Autoren ihr negatives Gegenbild in der Darstellung des hektischen, von Ehrgeiz und Profitgier getriebenen Lebens in der Stadt. Nicht selten wird beides in greller Überzeichnung gegen‐ übergestellt, bisweilen in ironischer Brechung: So hören wir in der zweiten Epode des Horaz, eines Zeitgenossen von Vergil, über mehr als 60 Verse 239 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 26 Horaz, Epoden 2, 67-70: haec ubi locutus faenerator Alfius,/ iam iam futurus rus‐ ticus,/ omnem redegit idibus pecuniam,/ quaerit kalendis ponere. 27 Z. B. Sallust, Catilina 13: Nam quid ea memorem, quae nisi iis, qui videre, nemini credibilia sunt: a privatis compluribus subvorsos montis, maria constrata esse? Quibus mihi videntur ludibrio fuisse divitiae: quippe, quas honeste habere licebat, abuti per turpitudinem properabant. 28 Vgl. Ovid, Metamorphosen 1,137-140: nec tantum segetes alimentaque debita dives/ poscebatur humus, sed itum est in viscera terrae,/ quasque recondiderat Stygiisque admoverat umbris,/ effodiuntur opes, inritamenta malorum. 29 […] imus in viscera et in sede manium opes quaerimus, … et inter haec minimum remediorum gratia scrutamur, quoto enim cuique fodiendi causa medicina est? … illa nos peremunt, illa nos ad inferos agunt, quae occultavit atque demersit, illa, quae non nascuntur repente, ut mens ad inane evolans reputet, quae deinde futura sit finis omnibus saeculis exhauriendi eam, quo usque penetratura avaritia. die Stimme eines Menschen, der das einfache Leben auf dem Land mit all seinen Vorzügen preist. Erst in den letzten vier Versen des Gedichts stellt sich diese Stimme als die Stimme des faenerator Alfius heraus, eines Bankiers, der Wucherzinsen nimmt und zwar vom Landleben träumt, sich aber - eben das ist die Pointe des Gedichts - nicht dazu entschließen kann, sein Leben zu ändern. 26 Der Kontrast von Stadt und Land, von nachhaltiger Genügsamkeit und maßlosem Profitstreben, öffnet den Blick auf einen anderen Diskurs, der sich dem Autarkie-Diskurs Vergils und anderer römischer Dichter gegenüberstellen lässt. Das Leben in der Stadt, die Profitgier und das Anhäufen von vollkommen unnötigem Reichtum, sind Facetten eines Diskurses, den man als ‚Luxusdiskurs‘ überschreiben kann. Dass man für nichts als den eigenen Luxus aus den entlegensten Gebieten der Welt Delikatessen und Baumaterialien importiert, für den Bau von Landhäusern die Natur komplett umgestaltet, 27 das sind ebenso feste Bestandteile des Luxusdiskurses wie die Klage darüber, dass man tief ins Innere der Erde vordringt, um Edelmetalle abzubauen. 28 So steht auch Plinius der Ältere, der Verfasser der 37 Bücher starken Naturgeschichte (Naturalis his‐ toria), dem Ausplündern der natürlichen Ressourcen skeptisch gegenüber: „Wir dringen,“ schreibt er, „in die Eingeweide der Erde vor und suchen Reichtümer im Wohnsitz der Totengeister. … Und wir suchen dabei nicht nach Heilmitteln; denn einem wie geringen Teil der Menschen nur ist die Suche nach Medizin die Ursache des Grabens? … das bringt uns um, das treibt uns zu den Toten, was die Erde tief in ihrem Inneren verborgen hat, das, was nicht unmittelbar verfügbar ist: so dass man sich einmal überlegen sollte, welche Grenze es für alle Generationen bei der Ausplünderung geben dürfte und wie weit wir in sie in unserer Gier noch eindringen sollten“ (Plin. nat. 33,2-3). 29 Plinius’ Ausführungen lesen sich erstaunlich modern, so dass es verlockend sein könnte, in ihm einen 240 Claudia Schindler 30 Lehner (2006). „Plinius d. Ä., ein Öko-Visionär? Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Aktualisierung im Lateinunterricht“. 31 Walter (2010). „‚viscera terrae‘ - Ruhm und Fluch des Angrabens der Erde im Al‐ tertum“. https: / / blogs.faz.net/ antike/ 2010/ 10/ 19/ viscera-terrae-ruhm-und-fluch-des-an grabens-der-erde-im-altertum/ . 32 Horaz, Oden 3,21-24: Nequicquam deus abscidit/ prudens Oceano dissociabili/ terras, si tamen impiae/ non tangenda rates transiliunt vada. Öko-Visionär zu sehen. 30 Sie sind aber bei weitem nicht so originell, wie es auf den ersten Blick scheint. Insbesondere die Vorstellung, dass man beim Bergbau in die „Eingeweide der Erde“ (viscera terrae) vordringe, ist ein gängiges Motiv, 31 das sich in den Luxusdiskursen mehrerer römischer Autoren findet. Fast immer verbindet sich damit nicht nur der Gedanke des Ausplünderns, sondern auch der Gedanke, dass man einen Frevel begeht, wenn man in Sphären vordringt, die dem Menschen verschlossen sind. Dies ist im Übrigen auch der Grund dafür, dass man der Seefahrt skeptisch gegenübersteht: Es sei die kluge Entscheidung eines Gottes gewesen, die Länder durch Wasser voneinander abzutrennen, schreibt Horaz. 32 Das impliziert die Warnung, vom Reisen Abstand zu nehmen und zu Hause zu bleiben. Denn auch das Reisen ist suspekt; der einzige Grund, sich aufs Meer zu begeben, das in der Antike noch viel gefährlicher war als heute, war die Profitgier des Kaufmanns. So modern sich nun auch lesen mag, was die Antike über das Reisen dachte und was Plinius in den Siebzigerjahren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts formuliert hat: Dass es etwas schief ist, ihn als „Ökovisionär“ zu bezeichnen, liegt daran, dass er, wie bereits früher angedeutet, als römischer Autor in einem anderen ideellen Umfeld schreibt als ein moderner Forscher, der sich mit Nachhaltigkeit beschäftigt. Die Kritik an Profitgier und überflüssigem Luxus hat in der Antike nicht nur eine sakrale Komponente. Luxuskritik ist ein integraler Bestandteil popularphilosophischer Diskurse. Es ist ein einfaches, selbstgenüg‐ sames Leben, das sie propagieren: Brot und Wasser ist besser als Fisch und Wein, eine einfache Behausung besser als eine aufwändig ausgestattete Halle mit goldener Kassettendecke und Säulen, die mit Schildpatt belegt sind. Besonders ausgeprägt ist die Forderung nach einem einfachen Leben im Kynismus und in der Stoa. Gerade diese beiden philosophischen Richtungen, die seit dem zweiten Jahrhundert nach Rom gelangten, stießen dort auch deshalb auf Akzeptanz, weil sie sich in wesentlichen Teilen mit römischen Wertvorstellungen als kompatibel erwiesen: Moralisch bindend war für den wertekonservativen Römer der mos maiorum, das Leben nach den Wertvorstellungen und Normen der Vorväter. In engem Zusammenhang mit dem mos maiorum stehen Tugenden, die als typisch römisch definiert werden, die in der Philosophie verankert sind und die 241 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 33 Ein noch immer lesenswertes Charakterbild zeichnet Klingner (1965). „Cato Censorius und die Krisis Roms“. 34 Ennius, Annalen inc. 500. 35 Cicero, De re publica 5,1. 36 Sallust, Catilina 10,1: Sed ubi labore atque iustitia res publica crevit, reges magni bello domiti, nationes ferae et populi ingentes vi subacti, Carthago, aemula imperi Romani, ab stirpe interiit, cuncta maria terraeque patebant, saevire fortuna ac miscere omnia coepit. zugleich auch wieder in modernen Nachhaltigkeitsdiskursen ihren Platz finden könnten: Constantia (Standhaftigkeit), modestia (Bescheidenheit) und moderatio (Maßhalten). Aus dem Lateinunterricht ist möglicherweise die Figur des Marcus Porcius Cato Censorius in Erinnerung, jenes unbeugsamen Tugendwächters, der in schäbigem Gewand, schlechtgelaunt und griesgrämig über die Einhaltung der altrömischen Werte wacht und als Zensor all diejenigen aus dem Senat entfernt, die gegen sie verstoßen. 33 In der Figur des Älteren Cato manifestiert sich eine weitere Dimension des römischen Nachhaltigkeitsdiskurses. Er ist in seinem Kern immer auch politisch und steht in engem Zusammenhang mit der res publica, dem römischen Staat. Moribus antiquis res stat Romana virisque, „Die römische Sache hat Bestand aufgrund ihrer traditionellen Sitten und ihrer Männer“: Dieses Zitat des frührömischen Dichters Ennius 34 stellt Cicero programmatisch dem fünften Buch seines Werkes über den Staat voran. 35 Dass die Beachtung des mos mai‐ orum und die altrömischen Tugenden dem römischen Staat zu Machtzuwachs und globaler Ausdehnung verhalfen, ist die übereinstimmende Überzeugung römischer Historiographen. Der Verfall der alten Ordnungen und moralische Depravation sind die größten Bedrohungen des Gemeinwesens, die dieses schließlich zu zerstören drohen. Profitstreben, Gier und überbordender Luxus sind die sichtbaren Auswirkungen dieses moralisch-ethischen Verfallsprozesses, den der römische Historiker Sallust in seiner monographischen Studie über die Verschwörung des Catilina in grellsten Farben ausmalt. Den Wendepunkt sieht er bei der Vernichtung von Roms Erzrivalin Karthago, danach habe Fortuna, die Schicksalsgöttin, „zu rasen und alles durcheinanderzubringen“ begonnen. 36 An die Stelle der traditionellen Werte traten Müßiggang, Arroganz, mangelnder Respekt vor den Göttern, Habgier und Unmäßigkeit: „Aus der besten und gerechtesten Herrschaft wurde eine grausame und unerträgliche“ (imperium ex iustissumo atque optumo crudele intolerandumque factum: Sall. Cat. 10,6). Mos maiorum und moralische Integrität sind also im römischen Denken ebenso eng miteinander verquickt wie Luxusdiskurs und die staatszersetzende moralische Depravation. Für die römischen Autoren ist dieser Antagonismus 242 Claudia Schindler 37 Sueton, Augustus 40: Etiam habitum vestitumque pristinum reducere studuit, ac visa quondam pro contione pullatorum turba indignabundus et clamitans: „en Romanos, rerum dominos, gentemque togatam! “ negotium aedilibus dedit, ne quem posthac paterentur in Foro circave nisi positis lacernis togatum consistere. 38 Sueton, Augustus 73: Instrumenti eius et supellectilis parsimonia apparet etiam nunc residuis lectis atque mensis, quorum pleraque vix privatae elegantiae sint. Ne toro quidem cubuisse aiunt nisi humili et modice instrato. Veste non temere alia quam domestica usus est, ab sorore et uxore et filia neptibusque confecta […]. genau deswegen existenziell: Der Verfall der alten Ordnungen bedroht den Staat in seinem innersten Kern und führt schließlich zu seinem Untergang. Der Nachhaltigkeitsdiskurs in Rom erweist sich bei näherer Betrachtung als ein facettenreiches und komplexes Geflecht vielschichtiger Narrative, als deren Dreh- und Angelpunkt letztlich aber immer wieder der Fortbestand des römi‐ schen Staates erscheint. Wie lassen sich nun die Aussagen in Vergils Georgica in diesen Diskurs einordnen, jenes Narrativ des selbstgenügsamen Bauerntums? Hier ist wiederum ein Blick auf den Kontext wichtig, in dem das Werk entsteht. Die Georgica wurden wahrscheinlich im Jahre 29 vor Christus veröffentlicht. Sie sind dem Gaius Cilnius Maecenas gewidmet, einem Parteigänger von Caesars Adoptivsohn Octavian. Zwei Jahre vorher, im Jahre 31 vor Christus, hatte Oc‐ tavian, der später den Ehrentitel Augustus annehmen sollte, in der Seeschlacht bei Actium seinen Widersacher Antonius besiegt. Octavians Aufstieg beendete eine Epoche politischer Instabilität, die von tiefgreifenden gesellschaftlichen Verwerfungen, politischen Rivalitäten und blutigen Bürgerkriegen geprägt war. Faktisch beanspruchte der Sieger von Actium für sich die Monarchie, eine Staatsform, die dem republikanischen Denken der römischen Oberschicht fremd war und grundsätzlich auf Ablehnung stieß, die er aber dadurch bemäntelte, dass er sich nicht rex (König) nennen ließ, sondern princeps (erster Bürger). Octavian stand zudem vor der nicht ganz leichten Aufgabe, die Gräben zu schließen, die der Bürgerkrieg zwischen den Angehörigen der verschiedenen Parteien aufgerissen hatte. Abgesehen davon, dass er sich als Friedensfürst und Bringer einer neuen Zeit stilisieren ließ - das prominenteste erhaltene Monu‐ ment augusteischer Zeit ist die Ara Pacis, der „Friedensaltar“ -, verfolgte er einen Ansatz, der auf die Restauration altrömischer Werte und Traditionen abzielte. Dazu gehörte nicht nur die Erneuerung in Vergessenheit geratener altrömischer Götterkulte und der dazugehörigen Tempel, sondern auch die Forderung an die Bürger, sich traditionell zu kleiden. 37 Der Herrscher selbst vermittelte seinen Bürgern den Eindruck eines eher bescheidenen Lebenswandels: Er legte wenig Wert auf aufwändigen Hausrat, er kleidete sich, so beschreibt es sein Biograph Sueton, unauffällig, 38 und sein Wohnsitz auf dem Palatin war eher ein Haus denn 243 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 39 Carettoni (1983). Das Haus des Augustus auf dem Palatin. 40 Livius, Ab urbe condita, praefatio. 41 Horaz, Carmina 3,1-6. ein Palast. 39 Entscheidend war aber, dass das Narrativ eines Lebens gemäß der Sitte der Vorväter in der bildenden Kunst und in der Literatur gleichermaßen kommuniziert wurde. Das, was im Umkreis des Herrschers in der sogenannten augusteischen Klassik entsteht, ist zwar keine ‚Staatsdichtung‘ oder ‚Propaganda‘ im modernen Sinne. Es ist aber eine Dichtung, die die Linie von Octavian-Augustus affirmiert. Und so scheinen die restaurativen Tendenzen als offizielle Stimme des augus‐ teischen Prinzipats in der zeitgenössischen Literatur immer wieder durch: In dem großen Geschichtswerk des Titus Livius, das „von der Gründung der Stadt an“ (ab urbe condita) den Ursachen für die Größe Roms auf den Grund gehen möchte, 40 und diese - kaum verwunderlich - in den altrömischen Tugenden sieht, ebenso wie in den bisweilen missbrauchten Römeroden des Horaz. 41 Nur in der Rückbesinnung auf die Vergangenheit, auf das, was ursächlich war für den großen Erfolg der res Romana, der römischen Sache, lässt sich für die Zukunft im politisch-sozialen Bereich ein nachhaltiges Konzept entwickeln. Vergils Georgica nun arbeiten im ‚Lob des Landlebens‘, einem vielbeachteten Abschnitt am Schluss des zweiten Buches (2,458-540), eine weitere Facette dieses Konzepts aus, das die bestehenden Diskurse gleichwohl integriert. Das Leben in der Stadt, das der Dichter dort dem Landleben kontrastiv gegenüberstellt, enthält verschiedene Motive des politisch-moralisierenden Luxusdiskurses, die dem Leser in negativer Bewertung vor Augen geführt werden. Wer auf dem Land lebt, hat es nicht nötig, aus Edelsteinkelchen zu trinken und auf Purpurdecken zu schlafen (2,506). Der genügsame italische Kleinbauer, der unbeirrt hinter seinem Pflug hergeht und die Arbeiten erledigt (2,513-515), die im Jahreslauf anfallen, ist vor diesem grellen Hintergrund aus Verfall und Dekadenz eine Chiffre für den altrömischen mos maiorum. Der geographische Stadt-Land-Gegensatz hat zugleich eine zeitliche Komponente: Die Stadt steht für die aktuelle Gegenwart, das Land für die idealisierte Vergangenheit, nach der man sich für die Zukunft sehnt. Ein Landleben nach der Sitte der Vorväter bewahrt nämlich den, der sich darauf einlässt, vor jenen Auswüchsen moralischen Verfalls, die den römischen Staat in den Untergang getrieben haben, und die in dem großen Dekadenzge‐ mälde natürlich nicht fehlen dürfen: Missgunst, kriegerische und politische Ambitionen, Bürgerkriege, Vertreibung und Flucht (2,508-512). In dem italischen Kleinbauern, dessen Leben so viel mit dem einstigen Leben der Sabiner, der Zwillinge Romulus und Remus und der Etrusker zu tun hat (2,532-535), gewinnt das Tugendideal der augusteischen Restauration seine konkrete Gestalt. Dieser 244 Claudia Schindler Bauer verkörpert idealtypisch all das, was sich der Princeps Augustus von seinen Bürgern wünscht. Es garantiert somit eine nachhaltige Stabilität des neuen Herrschaftssystems. Der Nachhaltigkeitsdiskurs, den wir in den Georgica fassen, erweist sich bei näherer Betrachtung also als eine immens politische Angelegenheit. Zeitgenös‐ sische Leser dürften das, was Vergil hier formuliert, als genuin römisch wahr‐ genommen haben. Sie dürften sich damit insbesondere deswegen wohlgefühlt haben, weil das neue, eigentlich unrömische monarchistische System ihnen paradoxerweise eine Rückkehr in die ‚gute alte Zeit‘ verspricht. Insofern haben wir es hier mit einer Affirmation von Octavians ideologischer Ausrichtung zu tun, wie wir sie bei anderen Augusteern beobachten. Die Sache ist allerdings noch etwas komplexer. Am Ende des zweiten Buches der Georgica preist Vergil das einfache Landleben zwar als eine sorgenfreie Daseinsform, die in ihren letzten Versen sogar Züge einer paradiesähnlichen Urzeit zu gewinnen scheint: Über Romulus und Remus hinweg gelangt der Dichter schließlich zu Saturn, dem Schirmherr der aetas aurea, der einst in Latium Zuflucht gefunden habe (2,536-540). In den Abschnitten der Georgica hingegen, die ein agronomisches Fachwissen vermitteln, zeichnet er ein anderes Bild. Der Adressat ist auch dort der italische Kleinbauer. Das Leben dieses Bauern ist jedoch von harter Arbeit bestimmt, von einem fortwährenden Kampf gegen eine feindliche Natur, die bei kleinster Unachtsamkeit mit Wildwuchs und Krankheiten zurückschlägt und alles zunichtemacht, was zuvor mühsam erwirtschaftet wurde. Der Bauer, den wir hier kennenlernen, lebt nicht im Goldenen, sondern im Eisernen Zeitalter, dessen Charakteristikum nicht süßes Nichtstun ist, sondern niemals endende Plackerei. Dem Leser der Georgica sticht der Kontrast zwischen dem Bauern, der sich in einem täglichen Existenzkampf abmüht, und dem Bauern im ‚Lob des Landle‐ bens‘ unmittelbar ins Auge. Wie lässt sich diese auffällige Inkonsistenz erklären? Jedem Zeitgenossen Vergils dürfte bewusst gewesen sein, dass bäuerliches Leben in der Realität keineswegs so sorglos sein konnte, wie es der Abschnitt über das ‚Lob des Landlebens‘ suggeriert. Die agronomischen Abschnitte der Georgica bilden also, was den Alltag des Landwirts angeht, so etwas wie den Ist-Zustand ab. In dem harten, entbehrungsreichen und von Rückschlägen gekennzeichneten Dasein des Bauern spiegelt sich eine zwar in einigen Punkten vielleicht idealistisch verzerrte, aber doch aktuelle Lebenswirklichkeit. Diese Realität ist allerdings nicht so negativ zu lesen, wie es zunächst scheint. Sie bildet nämlich eine weitere Facette des römischen Nachhaltigkeitsdiskurses ab: Der Bauer, der in seiner Existenz permanent bedroht ist, kann nur überleben, wenn er sich mit unablässiger Arbeit und eiserner Disziplin gegen den Wildwuchs 245 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? 42 Zu dem gesamten Themenkomplex vgl. Glei (1991). Der Vater der Dinge. Interpretationen zur politischen, literarischen und kulturellen Dimension des Krieges bei Vergil; Heckel (1998). Das Widerspenstige zähmen: die Funktion der militärischen und politischen Sprache in Vergils Georgica. 43 Stroh (1986). „Labor improbus: Die Arbeit im antiken Rom“; Cramer (1998). Vergils Weltsicht. Optimismus und Pessimismus in Vergils Georgica. stemmt. Bauer und Feldherr, das machen die Georgica deutlich, unterscheiden sich lediglich in ihren Tätigkeitsbereichen. 42 Im Leben des Bauern manifestieren sich somit die zentralen Tugenden, die auch nach der Auffassung anderer Autoren den römischen Staat groß gemacht haben: Beharrlichkeit, Disziplin - aber auch der Wille zur Herrschaft. Allein das Bewahren dieser Tugenden garantiert den Fortbestand des römischen Staates. Dazu bedarf es allerdings der permanenten Herausforderung; und diese Herausforderung wird vom Dichter sogar theologisch unterfüttert: Verantwortlich für das mühevolle menschliche Dasein ist Jupiter, der Gott der Eisernen Zeit, der den Menschen die Segnungen der Goldzeit entzieht und sie dadurch zwingt, kreativ zu werden und durch Erfindungen das Überleben zu sichern (1,121-146). Die böse, schlimme Arbeit, der labor improbus (1,145f.) ist somit ein notwendiges Übel. 43 Das Leben des vergilisch-augusteischen Bauern kann somit nicht nur nicht paradiesisch sein, es darf es nicht einmal. Das sorgenfreie Leben in einem ländlichen Paradies, das der Dichter am Ende des zweiten Buches schildert, erweist sich hingegen im Kontext der Georgica als eine Illusion, als eine Utopie, die weder mit der aktuellen Lebenswirklichkeit noch mit dem römischen Selbstverständnis kongruiert. Eine solche Illusion, dass sich römischer Wertetraditionalismus mit einem Leben wie in der Gol‐ denen Zeit verbinden ließe, ist nur möglich in einem virtuellen Raum: in der Dichtung. Hier kann der Dichter all das imaginieren, was die Realität nicht hergibt. Er kann dabei nicht nur die ideale Erfüllung augusteischer Propaganda ausbuchstabieren, indem er, wie bereits in der berühmten Vierten Ecloge, das Bild der Goldenen Zeit als Heilsversprechen ausmalt. Er kann darüber hinaus auch seine eigene Dankbarkeit darüber zum Ausdruck bringen, dass ihm als Dichter ein angemessener Freiraum zur Verfügung steht, um diesen Idealzustand literarisch zu gestalten. Der Garant für diesen Freiraum ist nämlich wiederum der Herrscher selbst, der durch seine politischen und militärischen Aktivitäten dem Dichter das ermöglicht, was er am Schluss der Georgica als ignobile otium bezeichnet, als „unedle Mußezeit“, als Leben im Verborgenen, fernab der großen Politik (georg. 4,564). Ignobile otium bedeutet jedoch zugleich, dass der Dichter in seinem Dichten außerhalb dessen steht, was er in dem gesamten Werk als Konsens der römischen Wertegemeinschaft konstruiert 246 Claudia Schindler hatte. Paradoxerweise ist es aber allein diese Mußezeit, dieses ignobile otium, die ihm ermöglicht zu dichten und den römischen Nachhaltigkeitsdiskurs nicht nur ästhetisch ansprechend zu formulieren, sondern ihn trotz seiner Widrigkeiten dem Leser als Ideal schmackhaft zu machen. Und genau das ist ein wichtiger Teil der Strategie. Der Herrscher nämlich schafft nicht nur durch seine restaurative Politik die Reinstitutionalisierung der traditionellen römischen Werte: Er sorgt auch dafür, dass ein Dichter wie Vergil die Möglichkeit bekommt, diese literarisch zu gestalten und als ‚augusteischen‘ Nachhaltigkeitsdiskurs zu etablieren. Das Paradox ermöglicht also jene Metaebene, die, wie früher ausgeführt, unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines jeden Nachhal‐ tigkeitskonzeptes ist. Die mediale Vermittlung, das zeigen Vergils Georgica, ist mindestens so wichtig wie das Konzept selbst. Und hier kommen meines Erachtens die Geisteswissenschaften und das ‚Kritische Denken‘ ins Spiel. Literatur André, Emil (1832). Einfachste den höchsten Ertrag und die Nachhaltigkeit ganz sicher stellende Forstwirthschafts-Methode. Prag: Borrosch und André. Brüggemann, Stefan; Brüssel, Christoph; Härthe, Dieter (2018). Nachhaltigkeit in der Unternehmenspraxis: Impulse für Wirtschaft und Politik. Wiesbaden: Springer Gabler. Carettoni, Gianfilippo (1983). Das Haus des Augustus auf dem Palatin. Mainz: Philipp von Zabern Verlag. Cramer, Robert (1998). Vergils Weltsicht. Optimismus und Pessimismus in Vergils Georgica. Berlin: de Gruyter. della Portella, Ivana; Pisani Sartorio, Giuseppina; Ventre, Francesca (2003). Via Appia. 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Trier: Wissenschaftlicher Verlag. 247 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? Hofmann, Heinz (2000). „Neulateinische Literatur: Aufgaben und Perspektiven“. In: Neulateinisches Jahrbuch 2, 57-97. Hollander, David B. (2019). Farmers and Agriculture in the Roman Economy. London, New York: Routledge. Klingner, Friedrich (1965). „Cato Censorius und die Krisis Roms”. In: Ders. Römische Geisteswelt: Essays über Schrifttum und geistiges Leben im alten Rom. 5. Auflage. München: Ellermann, 34-65. Lehner, Jakob (2006). „Plinius d. Ä., ein Öko-Visionär? Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen der Aktualisierung im Lateinunterricht“. In: Forum Classicum 4, 251-256. Ludwig, Walther; Glei, Reinhold F.; Leonhardt, Jürgen (2003). „Klassische und Neulatei‐ nische Philologie: Probleme und Perspektiven“. In: Rheinisches Museum 146, 395-424. McKay, Alexander G. (1980). Römische Häuser, Villen und Paläste. Luzern: Herrsching Verlag Atlantis. Mielke, Lars (2020a). 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Oktober 2010, https: / / blogs.faz.net/ antike/ 2010/ 10 / 19/ viscera-terrae-ruhm-und-fluch-des-angrabens-der-erde-im-altertum/ (23.9.2020). 249 Wann werden zukünftige Generationen aufhören, die Erde auszuplündern? * Der Titel in Anlehnung an den anregenden Sammelband von Drews et al. (2017): Romanistik in Bewegung: Aufgaben und Ziele einer Philologie im Wandel. 1 Siehe besonders Harari (2018). 21 Lessons for the 21st Century. Die Klassische Philologie in Bewegung - Überlegungen zum kritischen Potenzial einer Disziplin * Stephan Renker αἴνει δὲ παλαιὸν μὲν οἶνον, ἄνθεα δ᾽ ὕμνων νεωτέρων. Lobe alten Wein, aber die Blüten neuerer Lieder. Pindar, Olympie 9.48-9 Notwendigerweise stehen die Geisteswissenschaften deshalb vor großen Her‐ ausforderungen, weil sie sich in einer global vernetzten Welt positioniert sehen, die selbst vor großen Herausforderungen steht. Yuval Noah Harari, israelischer Militärhistoriker und globaler Superstar der big history, stellt als zentrale Aufgaben für die Menschheit des 21. Jahrhunderts die Gebiete Künstliche Intelligenz, Klimawandel und nuklearer Krieg ins Zentrum der Aufmerksam‐ keit. 1 Die spezifischen Stärken, welche die Geisteswissenschaften (bzw. die Humanities) zur kritischen Bewältigung dieser Herausforderungen beisteuern können, scheinen disziplinbedingt begrenzt. Hier ist man eher geneigt, das Feld den Naturwissenschaften oder den Ingenieursdisziplinen zu überlassen. Harari selbst gibt jedoch, nicht ohne ein gewisses Augenzwinkern, zu bedenken, dass besonders zum Beispiel in dem Moment, in dem Algorithmen mit ethischen Entscheidungen beauftragt werden, die Philosophie sich einer größeren Verant‐ wortung denn je bewusst werden muss. Dazu ist er davon überzeugt, dass alle drei genannten Probleme nur global überwunden werden können. Keine Nation und kein Kontinent sind nur als Nation oder als Kontinent von den je eigenen politischen, wirtschaftlichen und technologischen Entscheidungen betroffen. Der größtenteils von den Industrienationen verursachte Klimawandel trifft zum Beispiel auch geringer entwickelte Gegenden Zentralafrikas oder Südostasiens. Umgekehrt wirken sich die unter anderem durch ein explodierendes Bevölke‐ 2 Frühwald et al. (1991). Geisteswissenschaften heute. 3 So polemisch Gumbrecht (2002). „Live Your Experience - And Be Untimely! What ‚Classical Philology as a Profession‘ Could (Have) Become“. 253-4, kontrastiv dazu z. B. Bod (2015). A New History of the Humanities. xii. 4 Eribon (2018). Grundlagen eines kritischen Denkens. rungswachstum in Gang gesetzten Fluchtbewegungen des globalen Südens auf innenpolitische Entscheidungen in den Industrienationen aus. Nimmt man also den Aspekt ernst, dass nur mit globalem Bemühen die genannten Herausforde‐ rungen bewältigt werden können, käme den Geisteswissenschaften, als demje‐ nigen „Ort, an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen“ 2 , eine wichtige Bedeutung zu. Je mehr „Wissen“ wir in einer globalisierten Welt nicht nur von unseren eigenen, sondern auch von geographisch oder kulturell entfernteren Gesellschaften generieren und kritisch hinterfragen, desto bewusster und zielgerichteter könne demnach eine globale Diskussion zur Bewältigung der beschriebenen Herausforderungen geführt werden. Solch ein Blick auf die Geisteswissenschaften widerspricht tendenziell dem (zu) oft vorgebrachten Argument, diese seien nicht in der Lage, manifeste Probleme der Lebenswirklichkeit konkret zu lösen. 3 Dieser kurze Beitrag möchte beleuchten, inwiefern die Disziplin der Klas‐ sischen Philologie (nachfolgend begrifflich etwas unscharf gleichbedeutend mit dem angelsächsischen Classics verwendet) intern denjenigen Bedingungen Genüge leisten kann, die wichtig sind, um auch künftig kritisch in einer globalisierten Welt gesellschaftlicher, sozialer und politischer Entwicklungen agieren zu können. Wie wir sehen werden, steht die Klassische Philologie in manchen Ländern zunehmenden Vorwürfen politischer Natur, teils aus den eigenen Reihen, gegenüber, während sie in anderen Ländern unter veränderten Vorzeichen mit großem Potenzial im Wachstum begriffen ist. Wie können die Disziplin und deren Akteure diese Prozesse kritisch hinterfragend begleiten? Als Grundbestandteil einer jeden Kritikfähigkeit nach außen möchte ich zu‐ nächst den Willen und die Bereitschaft bestimmen, sich selbst kritisch zu hinter‐ fragen, Sensibilitäten für Verbesserungspotenziale und Änderungsbedürfnisse zu entwickeln und unentdeckte Optionsräume aufzuspüren und auszuloten. Dabei will dieser Beitrag mithilfe dreier Fragekomplexe ein Spannungsfeld entwerfen, innerhalb dessen künftig Dialoge über den Status des kritischen Potenzials der Klassischen Philologie weitergeführt, differenziert und präzisiert werden können. Der französische Philosoph und Schriftsteller Didier Eribon nannte Denken jüngst dann „kritisch“, wenn es als der Ort imaginiert wird, „an dem die Fäden eines zugleich theoretischen und politischen Vorgehens zusammenlaufen.“ 4 Das Adjektiv „theoretisch“ will ich in meinen Gedanken 252 Stephan Renker 5 Zentraler Text hierfür ist Robinsohn (1967). Bildungsreform als Revision des Curriculum. Prägend für die Modernisierung des Lateinunterrichts ist Friedrich Maier. Vgl. z. B. Maier (1979). Lateinunterricht zwischen Tradition und Fortschritt. Zur Theorie und Praxis des lateinischen Sprachunterrichts; Maier (2008). Warum Latein? Zehn gute Gründe. Für eine hervorragende Analyse des altsprachlichen Unterrichts in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts siehe Kipf (2006). Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. als mehr disziplinintern, das Adjektiv „politisch“ als eine Wechselwirkung zwischen Fach und Gesellschaft bezeichnend verstanden wissen. Die drei Fäden dieses Aufsatzes sollen Öffentlichkeit, Diversität und Globalisierung heißen. Dabei ist die hintergründige Überlegung stets von der Frage geleitet: Wie manifestiert sich das kritische Potenzial der im Wandel begriffenen Klassischen Philologie in einer als immer komplexer wahrgenommenen Welt? Öffentlichkeit Zunächst zum rezenten Aufmerksamkeitsstatus der Klassischen Philologie im öffentlichen Diskurs, mit einem Fokus auf die Situation in Deutschland. Eine der Fragen, der und die sich die Fachvertreter einer jeden Disziplin kontinuierlich zu stellen haben, ist diejenige nach der eigenen Wirkmacht auf die Öffentlichkeit, verstanden als dem mittelbaren oder unmittelbaren Einfluss auf die Welt außerhalb der Disziplin: Soll (und kann) wissenschaftliche Relevanz bewusst und zielgerichtet angesteuert werden oder stellt sie sich indirekt und kontingent ein? Die Klassischen Sprachen des deutschsprachigen Raums bewegt diese Frage verstärkt spätestens seit den Diskussionen um die Curriculum-Revision in den späten 1960er und 1970er Jahren, als sich der bis dahin relativ unhinterfragte Status der Disziplin zum ersten Mal konzertierter Kritik seitens der Gesellschaft ausgesetzt sah. 5 Dieser Umorientierung - weg von Bildungsstoffen, die als überkommen konservativ-reproduzierend wahrgenommenen werden, hin zu einer Fokussierung auf für mündige Bürgerinnen und Bürger einer liberalen und demokratischen Gesellschaft unerlässliche Lebens-Qualifikationen - wurde mit zwei argumentativen Elementen begegnet: Zentral für die Wirkmächtigkeit und die sich hieraus ergebende Unerlässlichkeit des Lateinischen und (in weniger starkem Maße) Altgriechischen an den Schulen seien einerseits die vertiefte Sprachkompetenz, welche das Erlernen besonders der romanischen Fremdspra‐ chen erleichtert und nicht zuletzt ein Trainingsfeld für die Muttersprache bietet. Andererseits wird auf literatur- und ideengeschichtlicher Ebene auf die grundlegende Wichtigkeit der lateinischen Texte verwiesen. Damit wird 253 Die Klassische Philologie in Bewegung 6 Grundlegend und bis heute trotz berechtigter Kritik einflussreich ist Snell (1980). Die Entdeckung des Geistes. Vgl. auch Szlezák (2010). Was Europa den Griechen verdankt. Eine intelligente Analyse dieser Klischees gelingt Hanink (2017). The Classical Debt: Greek Antiquity in an Era of Austerity. 7 Basierend auf Zahlen des Statistischen Bundesamtes aus dem Schuljahr 2017/ 18 (vgl. www.destatis.de/ DE/ Themen/ Gesellschaft-Umwelt/ Bildung-Forschung-Kultur/ S chulen/ Tabellen/ allgemeinbildende-beruflicheschulen-fremdsprachl-unterricht.html). 8 Vgl. Pollock (2009). „Future Philology? The Fate of a Soft Science in a Hard World“ und das von ihm initiierte Projekt der Murty Classical Library of India, sowie in Deutschland das Forschungsprogramm „Zukunftsphilologie“ der FU Berlin. eine Brücke geschlagen zu denjenigen Argumentationsmustern, die scheinbar unwiderruflich im kulturellen Gedächtnis Europas manifestiert sind. Demzu‐ folge lägen die aus dem griechischen Geiste entstandenen und maßgeblich durch die Römer auf Latein transportierten Ursprünge der „westlichen Zivi‐ lisation“ in der Antike. Paradigmatische Manifestationen dieser persuasiven Taktik finden sich beispielsweise in den Bonmots, dass Herodot der „Vater der Geschichtsschreibung“ sei, Platon diejenigen Gedanken geliefert habe, zu welchen nachfolgend die gesamte europäische Philosophie nur noch „Fußnoten“ zu schreiben vermöge und für das Verständnis der abendländischen Kunst neben der Lektüre der Bibel, die der Metamorphosen Ovids genüge. 6 Diese Narrative sind bisher erfolgreich und so lässt sich beobachten, dass sich die deutschsprachige Klassische Philologie unter öffentlichen Diskursaspekten in einer Zwischenstellung positioniert sieht. Einerseits werden nur die Sprachen Englisch und Französisch an deutschen Gymnasien häufiger unterrichtet als Latein. 7 Damit einhergehend legitimiert sich auch ein Bedarf an Lehrpersonal an Schulen und Universitäten, jedoch mit einigen fachspezifischen Eigenheiten. Wo zum Beispiel an den meisten Universitäten die modernen Philologien der Schulsprachen eigene Didaktik-Lehrstühle oder -Professuren besitzen, fällt dies für die Klassischen Sprachen größtenteils aus. Berlin, Göttingen und München bilden hier bisher die Ausnahmen. Ein Sachverhalt, für den man sich angesichts der immensen Herausforderungen der sich wandelnden Ansprüche an das schulische Lernen Änderung wünscht. Es lässt sich also festhalten, dass die Klassische Philologie prima facie nicht eines Sheldon Pollocks bedarf, der in seinem aufsehenerregenden Aufsatz „Future Philology“ davor warnte, dass angesichts mangelnden Interesses an indischer Philologie zahllose traditionelle Sprachen des Subkontinents samt ihrer Literatur unerforscht für immer ver‐ schwänden. 8 Die Klassische Philologie kann und muss sich nicht auf das „Retten“ von Sprachkenntnissen einer ansonsten unwiederbringlich verlorenen Sprache berufen. Zu ubiquitär sind die Klassischen Sprachen an Schule und Universität präsent. 254 Stephan Renker 9 Vgl. Morley (2018). Classics, 117, der dieser Beobachtung eine gewitzte Wendung verpasst. Anregend heterodox wirken im deutschsprachigen Raum die Arbeiten des Heidelberger Gräzisten Jürgen Paul Schwindt (vgl. Schwindt (2009). Was ist eine philo‐ logische Frage? und Schwindt (2016). Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft). 10 Hier seien zum Beispiel die Arbeiten Niklas Holzbergs (2002) (beispielsweise zu Catull), Jonas Grethleins (2017) (zu Homers Odyssee) oder Markus Schauers (2016) (zu Caesars Bellum Gallicum) erwähnt. Nehmen wir also die Zahl der Lehrenden und Lernenden als Maßstab, stehen die Klassischen Sprachen und die Klassische Philologie also durchaus als öffentlichkeitswirksam da. Weniger relevant scheint das Fach zu wirken, wenn es um die Beeinflussung von Diskursen außerhalb der eigenen Disziplin, sei es innerhalb der Geisteswissenschaft oder aus dem universitären Kontext hinaus in gesellschaftliche Belange geht. Aus der Forschung dringen kaum frische Theorien in die philologischen Nachbardisziplinen. Eher ist zu beobachten, dass die Klassische Philologie selbst sich des Theorieangebots aus Disziplinen außerhalb der eigenen bedient. Dekonstruktion, postkoloniale oder feministi‐ sche Literaturtheorie, um nur einige innerhalb der Disziplin rezipierte rezente Strömungen zu nennen, wurden nur, wenn überhaupt, in sehr geringem Maße durch ebenjene geformt und beeinflusst. 9 Gleichzeitig fällt es schwer, ein gewisses Maß an Nichtbeachtung selbst der geisteswissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit in Bezug auf die deutsch‐ sprachige Klassische Philologie zu ignorieren. Mit der Ausnahme von Wilfried Strohs „Latein ist tot, es lebe Latein“ (2007) hat es in den letzten Jahren keine Vertreterin und kein Vertreter der Disziplin mehr geschafft, in die breitere Öffentlichkeit hinaus Beachtung zu finden. Bei der Suche nach der Ursache für diese keineswegs als Desiderat anzusehende Situation stößt man auf einen reziproken Prozess. Wo auf der einen Seite die Klassische Philologie von der Öffentlichkeit nur begrenzt als ein Fach wahrgenommen wird, welches rele‐ vante Handlungsoptionen für unser politisches, wirtschaftliches, ökologisches oder digitales Zusammenleben in einer als immer komplexer wahrgenommenen Gegenwart aufzeigen kann, wächst auf der anderen Seite angesichts dieser mangelnden Erwartungshaltung keineswegs der Selbstanspruch innerhalb der Disziplin, in einem größeren Narrativ rezente Entwicklungen mit antiken Texten in einen öffentlichkeitswirksamen Diskurs zu bringen. Sieht man von fachspezifischen und durchaus an ein weiteres Publikum gerichteten und deshalb verdienstvollen Überblicksdarstellungen zu Autoren, Themen und Epochen ab, 10 fehlt eine breitenwirksam geschriebene Synthese aus Klassischer Philologie und modernen Gedanken zur Erklärung rezenter politischer, sozialer oder ökonomischer Prozesse bisher. Das Argument, die Klassischen Sprachen 255 Die Klassische Philologie in Bewegung 11 Vgl. Zuckerberg (2018), Adler (2016), Bloxham (2018), Hanink (2017). Nancy Rabinowitz gilt als Begründerin einer feministischen Klassischen Philologie. Vgl. z. B. Rabinowitz; Richlin (1993), Hall (2016). Emily Wilson will ihre Odyssee-Übersetzung (Wilson 2017) dezidiert feministisch verstanden wissen. bildeten ein zu hermetisches System, das als zu komplex bezeichnet nicht in der Lage sei, pragmatische Breitenwirkung zu entfalten, steht nicht nur konträr zu der oben erwähnten apologetischen Anspruchshaltung, sondern wird auch und besonders durch das englischsprachige Ausland widerlegt. So zeigen die angelsächsischen Vertreterinnen des Fachs, dass die Disziplin durchaus zu gewichtiger Stimme im gegenwärtigen Diskurs mannigfaltiger Problemfelder fähig ist. Kontrovers gelingt dies zum Beispiel Donna Zuckerberg, die in ihrem 2018 erschienenen Buch Not All Dead White Men die rhetorischen und hermeneutischen Strategien der misogynen und antifeministischen ameri‐ kanischen Männerrechtsbewegung aufzeigt. Zuckerberg analysiert, inwiefern die stoischen Lehren eines Epiktet oder die erotodidaktische Dichtung Ovids frauenfeindliche Verhaltensweisen legitimieren können. In ähnliche Richtungen gehen die Arbeiten Eric Adlers und John Bloxhams zur Antikenrezeption in der amerikanischen alt-right-Bewegung. Gewinnbringend geht zudem Johanna Hanink dem Fragenkomplex nach, inwiefern die westlichen Industrienationen symbolische (und monetäre) Schulden bei den modernen Griechen für die „Er‐ findung“ von Demokratie, Philosophie und Literatur in der Antike zu begleichen haben (und warum sich das Bild eines bankrotten und korrupten Griechenlands nur so wenig mit der überidealisierten Antike verträgt). Es sei auch verwiesen auf die feministisch geprägten Arbeiten Edith Halls, Nancy Rabinowitz’ oder Emily Wilsons sowie auf das progressive Online-Journal Eidolon, um nur die wirkmächtigsten zu nennen. 11 Derart also kann und darf die rezente Klassische Philologie historische Bezüge aufzeigen, aktuelle Diskurse lenken und künftige Handlungsfelder skizzieren. Die Disziplin wirkt dadurch nicht nur als Verorterin der alten Sprachen im Sinne ihres europäischen Ursprungs, sondern auch und besonders angesichts immanent drängender Probleme. Es bleibt zu diskutieren, ob und wie eine Disziplin aktiv und kritisch den öffentlichen Diskurs anstreben und so ein Bewusstsein und Aufmerksamkeit für die eigene Relevanz entwickeln kann. Wo die Klassische Philologie künftig ihre Rolle sehen will, ist auch unter den Vorzeichen dieses Spannungsfeldes zu diskutieren. 256 Stephan Renker 12 So die Definition innerhalb der „Charta der Vielfalt“, online verfügbar unter www.charta-der-vielfalt.de/ ueber-uns/ ueber-die-initiative/ urkunde-charta-dervielfalt-im-wortlaut/ . 13 Eine Sammlung Gildersleeves Essays findet sich bei Briggs (1998). Soldier and Scholar. 14 Bonds Aussage im Original, zitiert nach Williams (2019). How I was Kicked Out of the Society for Classical Studies Annual Meeting.: „… some of the most racist and abominable columns for the Richmond Times-Dispatch that we actually know of [sic], defending slavery, defending the South; and yet we continue to celebrate Basil Gildersleeve within our society. What does that say to the future classicists that are coming into the field? … It does not tell people of color that it [sic] is welcoming to them.“ Diversität Diversity, ein Begriff der hier mit „Diversität“ übersetzt werden soll, verstanden als Anerkennung und Förderung von Personen „unabhängig von Geschlecht und geschlechtlicher Identität, Nationalität, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Behinderung, Alter, sexueller Orientierung und Identität“ 12 , stellt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als eines der prägenden Paradigmen innerhalb gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Zusammenhänge dar. Auch die Klassische Philologie bleibt davon nicht unangetastet. Als Anfang 2019 ein Panel im Rahmen des Annual Meeting of the Society for Classical Studies (SCS), des größten und wichtigsten Treffens der akademischen Zunft Nordamerikas, dieses Thema konzentriert und provokativ adressierte, schlugen die Reaktionen Wellen weit über das Fach hinaus. Der Titel des Panels lautete „The Future of Classics“ und bot „an open and free-form large-room discussion of what we think the trajectories of our field, broadly defined, will and/ or should be, not just in the immediate future but for the next 150 years“. Was geschah? Sarah Bond (University of Iowa) eröffnete mit der genuin rezeptionsästhe‐ tisch geprägten, hier jedoch politisch gemünzten Frage, inwiefern man „ein Kunstwerk von seinem Künstler trennen“ könne. Damit verwies sie zum einen auf den amerikanischen Philologen Basil Lanneau Gildersleeve (1831-1924), dem trotz seiner rassistischen und die Sklaverei verteidigenden Schriften um die Zeit des amerikanischen Bürgerkrieges innerhalb der SCS und der Altertums‐ wissenschaften noch immer Verehrung zuteilwerde. 13 Sie stellt die Frage, ob eine solche Situation für die künftige Diversität des Faches zuträglich sei, nur um die Frage selbst mit „Nein“ zu beantworten. 14 Um Diversität ging es auch in Bonds zweitem Argument für eine diversere Disziplin. Unter dem Schlagwort „lifting as we climb“ machte sie sich dafür stark, vermehrt „women [of colour]“ und weniger etablierte Wissenschaftler wie zum Beispiel Theodor Mommsen (! ) zu zitieren. Ziel dieser Praxis sei eine „Diversifizierung der Fußnoten“, also das 257 Die Klassische Philologie in Bewegung intensivere Zitieren von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, welche bisher marginalisierten Gruppen angehören. Bond beschloss ihren Beitrag mit Bemerkungen zur mangelhaften Diversität von Panels und Kolloquien. Ausgehend von der Beobachtung, dass in den altertumswissenschaftlichen Forschungskolloquien ihrer Heimatinstitution der letzten zehn Jahre nur drei people of color (PoC) Vorträge präsentierten, erläuterte sie anschließend ihre Bemühungen, nicht nur eine ausgeglichene Anzahl an Frauen und Männern, sondern auch an Vertreterinnen und Vertretern außerhalb der Disziplin (z. B. aus den Tanzwissenschaften oder dem Bibliothekswesen) herzustellen. Ziel dieser Unternehmung sei es, besonders PoC und Frauen zu zeigen, dass auch sie Teil der Disziplin seien, und nicht nur die üblichen Vertreter, white males - who are older. Dan-el Padilla Peralta (Princeton University) folgte in seinem Redebeitrag dieser Argumentation: Ausgehend von der empirischen Beobachtung, dass in drei der einflussreichsten Zeitschriften aus dem Bereich Classics PoC signifikant unterrepräsentiert seien, schloss er generell auf den Status der gesamten Disziplin. Da die von ihm getätigten Äußerungen zu den im weiteren Diskurs aufsehenerregendsten zählten, seien sie hier in toto zitiert: If one were intentionally to design a discipline whose institutional organs and gatekeeping protocols were explicitly aimed at disavowing the legitimate status of scholars of color as producers of knowledge, one could not do better than what Classics has done. Weiter: In practical terms, this means that in an economy of academic prestige defined and governed by scarcity, white men will have to surrender the privilege they have of seeing their words printed and disseminated. They will have to take a back seat, so that people of color, and women, and gender-non-conforming scholars of color benefit from the privileges, career and otherwise, of seeing their words on the page. […] Until and unless this system of publication is dismantled - which will be fine by me - every person of color who is to be published will take the place of a white man whose words could have or had already appeared in the pages of that journal. And that would be a future worth striving for. Die Situation eskalierte, als sich Mary Frances Williams, eine Zuhörerin aus dem Publikum, in der folgenden Fragerunde kritisch zu den geäußerten Positionen äußerte und nach der Aussage „You may have got your job because you’re black, but I’d prefer to think you got your job because of merit.“ zunächst des Saales, und daraufhin der gesamten Konferenz verwiesen wurde. Darstellungen beider 258 Stephan Renker 15 Siehe SCS Annual Meeting (2019). "The Future of Classics". www.youtube.com/ watch ? v=lcJZCVemn-4. Parteien folgten in verschiedenen Medien und sorgten für erregte Diskussionen über die Grenzen der Disziplin hinaus; die veröffentlichte Aufzeichnung des Panels auf YouTube verzeichnet bisher über 20.000 Aufrufe. 15 Zum Vergleich: Das zweitmeist gesehene Video versammelt gute 2000 Aufrufe, die übrigen bleiben im zweibis niedrigen dreistelligen Bereich. Es passiert hier nicht zum ersten Mal, dass in den USA heftig über disziplinäre Politiken diskutiert wird. Kontroversen wie diejenigen um Mary Lefkowitz und Martin Bernal oder Victor David Hanson, John Heath und Judith Hallett in den 1990er Jahren blieben in der deutschen Wissenschaftslandschaft zu weiten Teilen unbeachtet. Warum sollte man sich diesmal für die Probleme interessieren? Abgesehen von der Tatsache, dass diese Diskussionen an den prägendsten akademischen Institutionen der Disziplin geführt werden, findet der Diskurs nun synchroner und globaler, weil online statt. Dazu ist das hier hauptsächlich diskutierte Gebiet der Diversität nicht erst seit den Debatten um die Flüchtlingskrise und Frauenquoten auch in Deutschland viel präsenter als noch vor zwanzig Jahren. Man machte es sich deshalb von deutscher Sicht aus zu leicht, diese Debatten als unwichtig und uns nicht betreffend abzutun. Um eine zielführendere und konstruktivere Diskussion dieser Thematiken zu ermöglichen, plädiere ich für eine Aufweichung der Kampflinien. Einerseits ist den von Padilla Peralta vorgebrachten Statistiken ins Auge zu blicken. Weshalb stellt sich die Disziplin als so homogen dar? Ist sie für manche Veränderungen unempfänglich? Wirkt sie auf Minderheiten zu monolithisch und hermetisch? Ist man geneigt, diese Fragen eher mit Ja zu beantworten, ergeben sich Folgefragen, die folgendermaßen klingen können: Wie könnten Schritte zu einer größeren Diversifizierung aussehen? Sind die von Bond und Padilla Peralta vorgebrachten Methoden, Professuren und Journal-Beiträge nach Hautfarbe und Geschlecht zu besetzen, ein gangbares Mittel, um in nachhaltiger Weise zu einer vielfältigeren Disziplin zu gelangen? Oder sind sie zu wenig vereinbar mit ebenfalls zu berück‐ sichtigenden Idealen wie Meinungsfreiheit, Qualitätssicherung (Peer Review) und akademischer Rigorosität? Mir scheint es wichtig, dass wir uns auch im deutschsprachigen Diskurs, der, soweit ich das Feld überblicken kann, noch relativ unangetastet von solchen Auseinandersetzungen ist, proaktiv kritisch, aber in 259 Die Klassische Philologie in Bewegung 16 Vgl. die Ergebnisse von Möller (2013). „Wie offen ist die Universitätsprofessur für soziale Aufsteigerinnen und Aufsteiger? Explorative Analysen zur sozialen Herkunft der Profes‐ sorinnen und Professoren an den nordrhein-westfälischen Universitäten“, die bei ihrer Untersuchung zur sozialen Herkunft von Universitätsprofessorinnen und -professoren „in den letzten 20 Jahren […] einen Anstieg von berufenen Personen aus der höchsten Herkunftsklasse“ feststellt und deshalb von „Selbstrekrutierungspraxen“ innerhalb der „statushohen Gesellschaftsschichten“ spricht. 17 Große (2017). Pons Latinus - Modellierung und empirische Erforschung eines sprachsensiblen Lateinunterrichts und Siebel (2017). Mehrsprachigkeit und Lateinunterricht. 18 Vgl. Fukuyama (1992). The End of History and the Last Man; Huntington (1996). The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. besonnenerer Weise darüber Gedanken machen, wie Gespräche und Initiativen zu einer diverseren und inklusiveren Wissenschaftslandschaft führen können. 16 Hervorragende Ansätze im deutschsprachigen Raum sind hierbei mit dem Namen des Berliner Fachdidaktikers Stefan Kipf verbunden. Projekte wie PONS LATINUS, in welchem die fachspezifischen Kompetenzen des Lateinischen be‐ züglich des Zweitspracherwerbs untersucht werden, MigraMENTOR, welches Lateinlehrerinnen und -lehrer mit Migrationshintergrund fördert, oder die altphi‐ lologische Teilnahme an der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützten „Fachdidaktischen Qualifizierung Inklusion angehender Lehrkräfte“ zeigen in theoretischer und praktischer Hinsicht das diversifizierende und gleich‐ zeitig inkludierende Potenzial der Disziplin. Selbiges gilt für die unter Kipfs Ägide abgeschlossenen Promotionsprojekte von Maria Große und Katrin Siebel zur Multilingualität im Lateinunterricht. 17 Dass und wie dem Fach auf diese Weise besonders als Instrument einer multi-, inter- und transkulturellen Bildung eine zentrale Position zukommen kann, zeigen diese Anstrengungen in anschaulicher Weise. Wohin kontrastiv eine Vernachlässigung dieser Diskussion führen kann, exemplifiziert die polemisch gewordene Diskussion in den USA. Globalisierung Der von Francis Fukuyama in den 1990er Jahren postulierte Zustand einer glo‐ balisierten Welt, verstanden als eine Weltgesellschaft, die sich in kultureller, ökonomischer und politischer Hinsicht den Idealen einer liberalen Demokratie verschrieben sieht, schien nach dem Zusammenbruch der faschistischen und kommunistischen Modelle unaufhaltsam, die Gegenthese des clash of civilizations, geprägt durch Samuel Huntington, überkommen. 18 Spätestens seit den Anschlägen vom 9. September sieht sich diese teleologische Geschichtsauffassung Kritik ausge‐ setzt, ja manifest widerlegt. Phänomene wie der Islamische Staat, der Bürgerkrieg in Syrien, die gescheiterten Revolutionen Nordafrikas, der Brexit oder das politische 260 Stephan Renker 19 An rezenten deutschsprachigen Publikationen zum modernen China seien Sieren (2018). Zukunft? China! - Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert (eher zuversichtlich) und Strittmatter 2018 (eher kritisch) genannt. Zum poten‐ ziellen Konflikt mit den USA siehe Allison (2017). Destined for War: Can America and China escape Thucydides’s Trap. Programm Donald Trumps wurden und werden als Belege für eine weniger geradlinige Ausrichtung hin zu globaler Einheit gewertet. Zudem positioniert sich mit der Volksrepublik China nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein neuer globaler Spieler, der sich in mehrerlei Hinsicht nur schwerlich in die tradierten Schemata aus liberal-autoritär, kommunistisch-kapitalistisch etc. einordnen lässt und nicht zuletzt deswegen als neue wirtschaftliche, politische und militärische Herausforderung für die Weltmacht USA gesehen wird. 19 Nicht zuletzt deswegen lohnt sich ein Blick darauf, wie das Verhältnis dieses sich mit beispielloser Schnelligkeit entwickelnden „Reiches der Mitte“ zu den antiken Sprachen präsentiert. Dies kann paradigmatisch aufzeigen, welche Herausforderungen bei der Globalisierung einer bisher von relativ wenigen Ländern geprägten Disziplin auftreten können. So muss zunächst nomenklato‐ risch geklärt werden, dass der Begriff „klassisch“ (gùdiân) im chinesischen Diskurs mit dem Zusatz „westlich“ versehen werden muss, um ihn wiederum von der klassischen chinesischen Literatur abzugrenzen. In einem weiteren Schritt eröffnet sich hieraus die Frage, inwiefern eine Klassische Philologie in China sich den bestehenden akademischen Paradigmen, geprägt durch Europa und Nordamerika, anpassen wird. Dementsprechend entstünden Fächer mit den (zielsprachlich orientiert übersetzten) Bezeichnungen „Westliche Klassische Philologie“ oder „Western Classics“. Kontrastiv dazu wäre ein komparatistischer Ansatz möglich, der klassische „westliche“ und „chinesische“ Literatur zu verbinden sucht und so die (ohnehin schon schwer zu überblickende Forschung zur westlichen Antike) in einer Superdisziplin aufgehen ließe. Eine valide Prognose wird hier durch eine institutionspolitische Gegebenheit erschwert: Es existiert bis heute in dem Land, in dem mit 1,4 Milliarden Menschen immerhin rund ein Siebtel der Weltbevölkerung lebt, kein einziges Institut, welches sich allein mit den klassischen Sprachen Latein und Griechisch beschäftigt. Einige Daten zur Geschichte der Sprachen in China veranschau‐ lichen die retardierte Entwicklung: die erste chinesische Übersetzung eines lateinischen Werkes erschien 1933 mit den Eklogen Vergils. Die Metamorphosen Ovids erschienen 1958 in einer Erstübersetzung, eine erste Version der Aeneis Vergils gar erst 1984 (! ). Dabei unterschlagen diese Zahlen, welche Entwicklung das Fach seit der Reformära Deng Xiaopings hinter sich hat. Auf organisatorischer Ebene sind 261 Die Klassische Philologie in Bewegung 20 Siehe dazu auch Mutschler (2019). „Western Classics at Chinese Universities - and Beyond: Some Subjective Observations“. 21 Vgl. Bartsch (2019). „The Ancient Greeks in Modern China: History and Metamor‐ phosis“. 22 Vgl. Rudolph (2019). „Über Grenzen und Grauzonen des Fragens hinweg: Ein Denk‐ anstoß zu globalen Solidaritätsnetzwerken in den Geisteswissenschaften“, die ein intelligentes Plädoyer für globale geisteswissenschaftliche Kollaboration vorlegt. besonders zwei Institutionen hervorzuheben: Die Gründung einer der bis heute wichtigsten akademischen Entitäten war 1986 diejenige des Institute for the History of Ancient Civilizations (IHAC) an der North-East Normal University in Changchun im Nordosten des Landes, wo seitdem neben Assyrisch, Hetitisch und Altägyptisch auch Latein und Altgriechisch gelehrt werden. Zudem existiert seit 2018 an der Beijing Foreign Studies University, der einflussreichsten Fremdspra‐ chenuniversität des Landes, ein erster Studiengang mit dem Hauptfach Latein. In diesem werden die antiken Sprachen wie moderne Fremdsprachen unterrichtet, also mit einem großen Schwerpunkt auf der gesprochenen Sprache. 20 Auf inhaltlicher Ebene stößt man auf ein heterogenes Feld. Einen der zen‐ tralen Treiber stellt die Gruppe um Liu Xiaofang und Gan Yang, Gründer des Chinese Journal of Classical Studies, dar. Sie lesen die antike Literatur mit einer von Leo Strauss und Carl Schmitt geprägten, dezidiert politischen Ausrichtung. Nach Shadi Bartsch und Zhang Longxi machen die esoterischen Methoden Strauss’ und das illiberale Denken Schmitts die antiken Texte für ideologische Lesarten empfänglich. 21 Demnach stehen sie damit kontrastiv zu früheren Annäherungen an die Antike in China, welche vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die späten 1980er Jahre von einem Ansatz des Verstehens des Westens aus seinen antiken Wurzeln geprägt war und nun hin zu einer nationalistischen und dem Westen gegenüber kritischen Sichtweise tendiert. Damit einhergehend soll die Auseinandersetzung mit den antiken westlichen Autoren dazu dienen, die Wiederentdeckung der traditionellen chinesischen Li‐ teratur voranzutreiben. Somit sind Liu und Gan eher derjenigen oben erwähnten Möglichkeit zuzuordnen, die einem komparatistisch orientierten Zugang zur antiken Literatur das Wort reden. Es stellt sich auch hier die Frage, ob und wie die Vertreterinnen und Vertreter aus demokratisch-liberal geprägten Ländern auf diese Herausforderung an „ihre“ Disziplin reagieren. Wenn wir Hararis Forderungen entsprechen und die Geisteswissenschaften als ein „globales Un‐ terfangen“ 22 verstehen wollen, welches nicht von nationalen Grenzen eingehegt werden kann, kann es hier nicht ohne Diskussionen zugehen. Ein weiteres wichtiges Unternehmen für die Etablierung der Klassischen Sprachen in China stellt die Gesamtübersetzung des ovidischen Oeuvres dar. 262 Stephan Renker 23 Ich bedanke mich herzlich bei Liu Jinyu für die großzügige Bereitstellung des unver‐ öffentlichten Manuskripts ihres anlässlich der SCS Konferenz in San Diego 2019 gehaltenen Vortrags „Who’s „We“ in Classics? “. 24 Auerbach (1992). „Philologie der Weltliteratur“, 96. Unter der Leitung von Liu Jinyu, die an der Shanghai Normal University und der DePauw University (Indiana) lehrt, wurden chinesische Muttersprachlerinnen und Muttersprachler an Universitäten in China, Europa und Nordamerika re‐ krutiert, um durch Übersetzungen und Kommentare die Dichtung Ovids für ein größeres chinesisches Publikum zu erschließen. Zwischenergebnisse wurden unter anderem auf Workshops und Konferenzen 2017 in Shanghai und 2019 in Singapur und Peking präsentiert. Unterstützt wird das Projekt unter anderem von der Columbia University und dem Dickinson College (Pennsylvania), die schon früh an der Förderung der alten Sprachen in China beteiligt waren. In dem Netzwerk ist mit Professor Sven Günther auch ein Deutscher beteiligt, der als Althistoriker am oben erwähnten IHAC in Changchun lehrt. Ein solches Großprojekt zeigt zweierlei: Erstens, welche basalen infrastrukturellen und inhaltlichen Aufgaben die chinesische Klassische Philologie noch zu bewältigen hat. Zweitens, mit welcher Schnelligkeit und Zielstrebigkeit solche Unterneh‐ mungen angegangen, geplant, organisiert und global umspannend ausgeführt werden. Parallelen zu wirtschaftlichen Entwicklungen müssen nicht, können aber leicht gezogen werden. Welche potenziellen Entwicklungsräume ergeben sich aus diesen angeris‐ senen Grundbedingungen? Die Ausweitung der geographischen Grenzen einer Disziplin bringt zweifelsfrei spannende und anregende Veränderungen mit sich. Liu Jinyu beispielsweise hat in diesem Kontext jüngst in einem Konferenzbeitrag das Konzept des „Wir“ problematisiert. 23 Wen meinen Vertreterinnen und Vertreter der westlichen Klassischen Philologen mit „Wir“, wenn die Disziplin in anderen Ländern unter signifikant anderen Vorzeichen gepflegt wird? Wie kann ein globales „Wir“ unter diesen Prämissen realisiert werden? Wie reagieren die westlichen Vertreterinnen und Vertreter auf die veränderten Blickwinkel auf „ihr“ Fach? Sollen, wollen oder können sie den Prozess mit kritischer Offenheit begleiten? Dabei sei darauf verwiesen, dass dem Lateinischen und Griechischen als keines Menschen Muttersprache dank ihrer prima facie identifikatorischen und kommunikatorischen Neutralität ein genuin integrierendes Moment in den heterogenen Globalisierungsprozessen der Gegenwart zukommen kann. Unter diesen Prämissen spricht nichts dagegen, die derzeit mit Erfolg betriebene disziplinräumliche Entgrenzung des Faches hin zu einer Auerbach’schen Erde als „philologischen Heimat“ 24 ausdrücklich gestaltend zu fördern. 263 Die Klassische Philologie in Bewegung Rückblicke und Ausblicke „Über die klassische Philologie gibt es in unseren Tagen keine einheitliche und deutlich erkennbare öffentliche Meinung. Dies empfindet man in den Kreisen der Gebildeten überhaupt ebenso als mitten unter den Jüngern jener Wissenschaft selbst.“ Nietzsches Worte aus seiner Baseler Antrittsvorlesung vor genau 250 Jahren klingen immer noch vertraut und den Vertreterinnen und Vertretern der alten Sprachen sind Deszendenz- und Krisendiskurse nicht fremd. Joseph Justus Scaliger sah das Ende der Philologie im frühen 17. Jahrhundert, Nietzsche selbst beschloss seine Antrittsvorlesung mit der Umkehr des sene‐ canischen und für ihn programmatischen Diktums philosophia facta est quae philologia fuit („Philosophie wurde gemacht, was Philologie war“). Ziel dieses Beitrages war es, nicht nur rezente Entwicklungen in einem traditionellen Feld aufzuzeigen, sondern ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, welche Potenziale der Disziplin innewohnen und wie sehr sie sich in einer Zeit entscheidender Veränderungen durch kritische Selbstbetrachtung in neue, konstruktive und anregende Richtungen bewegen kann. In der Gegenwart dürfen wir uns also mit Selbstvertrauen des ovidischen omnia mutantur, nihil interit („Alles ändert sich, nichts vergeht“), vielleicht sogar des vergilischen audentis Fortuna iuvat („Wagemutigen hilft Fortuna“) erinnern. Literatur Adler, Eric (2016). Classics, the Culture Wars, and Beyond. Ann Arbor: University of Michigan Press. Allison, Graham (2017). 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In Monographien und Sammelbänden stellen sich namhafte Wissenschaftler der notwendigen Diskussion der sozialen Wirkung und Wertesysteme der Geisteswissenschaften im Lichte der rapiden Veränderungen von Wissenserzeugung und -vermittlung, von Medien- und Kommunikationstechnologien sowie wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Strukturen, der Umwelt und sogar der Kategorie „Mensch“ an sich. Bisher sind erschienen: Band 1 Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov (Hrsg.) Literaturwissenschaften in der Krise Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten 2018, 303 Seiten €[D] 59,90 ISBN 978-3-8233-8148-8 Band 2 John Kinsella / Russell West-Pavlov (Hrsg.) Temporariness On the Imperatives of Place 2018, 372 Seiten €[D] 69,90 ISBN 978-3-8233-8174-7 Band 3 Ulrike Job (Hrsg.) Kritisches Denken Verantwortung der Geisteswissenschaften 2021, 268 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8197-6 Band 4 Rebecca K. Hahn Side-Stepping Normativity in Selected Short Stories by Sylvia Townsend Warner 2020, 208 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8389-5 Band 5 Russell West-Pavlov AfrikAffekt Deutschsprachige Gegenwartsromane zum Herero- und Nama-Genozid 1904-1908. Ein affekttheoretischer Ansatz 2020, 327 Seiten €[D] 68,- ISBN 978-3-8233-8285-0 Band 6 Gero Bauer / Anya Heise-von der Lippe / Nicole Hirschfelder / Katharina Luther (Hrsg.) Kinship and Collective Action in Literature and Culture 2020, 291 Seiten €[D] 78,- ISBN 978-3-8233-8350-5 Band 7 Tatjana Pavlov-West Images of the Wounded Mouth: Dissonant Approaches to Trauma in Literary, Visual and Performance Cultures 2020, 270 Seiten €[D] 58,- ISBN 978-3-8233-8412-0 ISBN 978-3-8233-8197-6 C H A L L E N G E S Challenges for the Humanities / Herausforderungen für die Geisteswissenschaften Kritisches Denken ist ein zentrales Werkzeug geisteswissenschaftlichen Arbeitens. Eigenes Urteilsvermögen zu stärken und kritisches Denken zu wagen, gehört zu den wichtigsten übergeordneten Zielen eines geisteswissenschaftlichen Studiums. Diese Metakompetenz verleiht speziellen Kompetenzen erst ihren Sinn. Die Beiträg aus verschiedenen Disziplinen gehen der Bedeutung dieser unverzichtbaren Fähigkeit für Geisteswissenschaftler: innen nach und zeigen auf, welche Ausprägungen kritisches Denken in den Geisteswissenschaften disziplinspeziƒsch annehmen kann. www.narr.de