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Raum als interaktive Ressource

2012
978-3-8233-7706-1
Gunter Narr Verlag 
Heiko Hausendorf
Lorenza Mondada
Reinhold Schmitt

Der Band führt aus einer multimodalen Perspektive in die Relevanz räumlicher Aspekte für die Interaktion ein. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen analysiert er multimodale Verfahren, mit denen Interaktionsbeteiligte für jeweils situationsspezifische Zwecke vorhandene räumliche Aspekte nutzen und selbst aktiv räumliche Strukturen herstellen. Präsentiert werden neun empirische Untersuchungen sehr verschiedener Situationstypen: Außendreh am Filmset, Bürgerversammlung, Universität, Museum, Ausstellung, Chemieunterricht, Arbeitsmeeting, Kochsendung und Hörfilm. Die Analysen werden durch eine theoretische Einleitung im etablierten Kontext der raumbezogenen Analyse verortet. Und es wird expliziert, was die Perspektive auf Raum als interaktive Ressource methodisch impliziert. Neben der detaillierten Rekonstruktion konkreter Raumnutzung unter spezifischen situativen Bedingungen werdend vor allem zwei Punkt deutlich: Zum einen ist Interaktion immer ein raumbezogenes und raumbasiertes soziales Unterfangen. Sie muss folglich auch systematisch hinsichtlich dieser Qualität analysiert werden. Zum anderen steht die Analyse des Raumes als interaktive Ressource in methodischer und methodologischer Hinsicht noch ganz am Anfang.

Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E S T U D I E N Z U R D E U T S C H E N S P R A C H E 6 2 Studien zur Deutschen Sprache F O R S C H U N G E N D E S I N S T I T U T S F Ü R D E U T S C H E S P R A C H E Herausgegeben von Arnulf Deppermann, Stefan Engelberg und Ulrich Hermann Waßner Band 62 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada Reinhold Schmitt (Hrsg.) Raum als interaktive Ressource Redaktion: Dr. Elke Donalies Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: http: / / www.narr.de E-Mail: info@narr.de Layout: Sonja Tröster, Mannheim Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISSN 0949-409X ISBN 978-3-8233-6706-2 Inhalt Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation ......................................... 7 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset: Das Konzept ‘Interaktionsensemble’.............................................. 37 Lorenza Mondada Der Interaktionsraum der politischen Diskussion. Eine Fallstudie zu einer partizipativen Bürgerversammlung ........................ 89 Heiko Hausendorf Über Tische und Bänke. Eine Fallstudie zur interaktiven Aneignung mobiliarer Benutzbarkeitshinweise an der Universität ............................... 139 Wolfgang Kesselheim Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung .................................................................................... 187 Karola Pitsch Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät: Zur interaktiven Konstitution von Objekten in einer Museumsausstellung .......................... 233 Eva-Maria Putzier Der ‘Demonstrationsraum’ als Form der Wahrnehmungsstrukturierung ..................................................................... 275 Birte Asmuß Implikationen technischer Arbeitsgeräte für die Koordination und Ko-Orientierung in einer Arbeitsbesprechung ..................................... 317 Inhalt 6 Anja Stukenbrock Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion............................................................................... 347 Maija Hirvonen / Liisa Tiittula Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz........................................................................................... 381 Ausführliches Inhaltsverzeichnis der Beiträge ........................................... 429 Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 1. Einleitung Der vorliegende Band versteht sich als empirisch basierter Beitrag zur Entwicklung und Konsolidierung einer multimodalen Konzeption von Interaktion. Mit diesem Selbstverständnis steht der Band in einer Reihe von neueren Arbeiten, die im deutschsprachigen Forschungskontext vor allem durch die Sammelbände zu „Koordination“ (Schmitt (Hg.) 2007) und zu „multimodalen Situationseröffnungen“ (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010) zugänglich gemacht wurden. Obwohl seit dem Koordinations-Band erst wenige Jahre vergangen sind, hat sich die multimodale Perspektive auf Interaktion inzwischen nicht nur im engeren interaktionistischen Forschungskontext etabliert. Die Produktivität dieser Sichtweise zeigt sich inzwischen auch für die Linguistik insgesamt. Deutliches Zeichen hierfür ist - ebenfalls im deutschsprachigen Forschungskontext - der Sammelband „Medialität von Sprache“ (Linke/ Deppermann (Hg.) 2010). Neben diesen systematischen Ergebnispräsentationen einer an Multimodalität orientierten Forschung gibt es inzwischen auch international eine Fülle an Beiträgen, so dass man durchaus von einer gewissen Karriere der Beschäftigung mit Multimodalität sprechen kann (Bergman/ Brenning/ Pfeiffer i.Dr., De Stefani (Hg.) 2007, Haddington/ Mondada/ Nevile (Hg.) i.Dr., Luff/ Hindmarsh/ Heath (Hg.) 2000, McIlvenny/ Broth/ Haddington 2009, Sidnell/ Stivers (Hg.) 2005, Streeck/ Goodwin/ Le Baron (Hg.) i.Dr.). Wir wollen diese Einleitung deshalb auch dazu nutzen, kurz zu resümieren, dass sich die mit dem jetzt vorliegenden Band realisierte Fokussierung auf ‘Raum’ als Konsequenz des bereits dokumentierten Forschungsstandes verstehen lässt. Mit den unter dem Stichwort ‘Multimodalität’ gut fassbaren Arbeiten der letzten Jahre hat sich eine Eigendynamik der Entwicklung thematischer Schwerpunkte ergeben, die unmittelbar zu dem hier vorliegenden Band geführt hat. Ausgangspunkte dieser Entwicklung sind die Prägnanz und die Wucht, mit der sichtbare Erscheinungsformen von Interaktion ins analytische Bewusstsein treten, wenn man beginnt, Interaktion auf der Basis von Videoaufzeichnungen zu untersuchen. Es geht dann darum, Interaktion nicht nur zu hören und davon ausgehend die Mechanismen des Gesprochenen zu rekonstruieren, sondern Interaktion in der Vielfalt ihrer hörbaren und sichtbaren Erscheinungsformen zu sehen. Alle interaktionalen Arbeiten im multimodalen Bereich gehen dabei von folgender Grundüberlegung aus: Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 8 Die Organisation sozialer Interaktion wird aktiv und kontinuierlich von den Beteiligten hergestellt. Sie nutzen dazu sowohl verbale als auch körperliche Ressourcen: Sprache, Gestik, Blick, Mimik, Körperorientierung und -position, Bewegung sowie die Manipulation von Objekten und Technologien, die sie in bestimmten Kontexten und Situationen relevant machen und benutzen. Der damit ermöglichte Einblick in die Multimodalität der Interaktionskonstitution hat das gesamte Forschungsfeld empirischer Interaktionsanalyse sukzessive verändert und nachhaltig neu strukturiert. Ein wichtiges Ergebnis dieser Veränderung besteht in einem Anwachsen der Komplexität und Aspektualität der Untersuchungsgegenstände. Das betrifft einerseits die verbalen Erscheinungsformen der Interaktion. Etablierte Konzepte zur Analyse des Gesprochenen erschienen aufgrund der Vielfalt dessen, was sie bei der Analyse - durchaus mit guten Gründen - ausgeschlossen hatten, plötzlich etwas holzschnittartig. Unter der Perspektive multimodaler Interaktion entstand so angesichts der Komplexität der Abhängigkeit der verbalen Ordnungsstruktur von anderen modalitätsspezifischen Ordnungsstrukturen die Notwendigkeit, die bislang dominant verbal basierten Konzepte im Hinblick auf andere beteiligte Interaktionsmodalitäten anzureichern und zu überarbeiten. Man könnte den Forschungsschwerpunkt, der sich an dieser Stelle entwickelt hat, als multimodal erweiterte Konversationsanalyse bezeichnen. Arbeiten in diesem Bereich sind darauf ausgerichtet, die im konversationsanalytischen Rahmen bei der Analyse verbaler Interaktion entwickelten Konzepte vor dem Hintergrund der multimodalen Analyseperspektive wieder aufzugreifen. Entsprechend wurden beispielsweise die Turn-taking-Organisation, Formen interaktiver Beteiligung und die Organisation von Sequenzen aus multimodaler Perspektive re-analysiert und re-konzeptualisiert (Goodwin 1981, 2000; Heath 1986; Streeck 1993, 2009; Mondada 2007a, 2007b, 2009; Schmitt 2004, 2005). Die durch die Fokussierung auf Multimodalität angestoßene Neuorientierung betrifft aber nicht nur einen modifizierten Umgang mit den auf Verbalität ausgerichteten Konzepten der Analyse von Interaktion. Sie hat andererseits auch dazu geführt, etablierte Konzepte zugunsten neuer Konzepte aufzugeben, die von vornherein den komplexen multimodalen Konstitutionszusammenhang von Interaktion in Rechnung stellen. Das Interesse an Multimodalität speist sich insgesamt aus der Fokussierung auf situationsspezifische Besonderheiten von Aktivitäten, die von den Beteiligten kontextsensitiv produziert und interpretiert werden, wobei sie eine Vielzahl spezifischer Details integrieren und zu einem globalen Gesamtzusammenhang organisieren. Dazu gehören die in der Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 9 früheren Forschung oftmals unter der Sammelbezeichnung ‘nonverbale Kommunikation’ beschriebenen Phänomene, die vor allem den Körper als Ressource der Interaktion betreffen. Wie die Bezeichnung dieses Forschungsfelds durch eine ganz am Verbalen orientierte Ausschlussdefinition schon anzeigt, konnte die Komplexität der auf Wahrnehmung insgesamt beruhenden Erscheinungsformen der Interaktion in dieser Perspektive allerdings nicht angemessen zur Geltung gebracht werden, weder theoretisch noch empirisch. ‘Multimodalität’ markiert deshalb auch insofern einen neuen Ausgangspunkt, als es darum geht, Interaktion grundsätzlich als multimodal konstituiert zu verstehen und im Detail nachzuweisen. Der Forschungsschwerpunkt, der an dieser Stelle ansetzt, ließe sich als multimodale Interaktionsanalyse verstehen. Hier sind bei der Analyse der Interaktionskonstitution alle Ausdruckressourcen im Prinzip als gleichwertig zu berücksichtigen, Verbalität erscheint ungeachtet ihrer Besonderheiten zunächst als eine Modalität unter anderen. Ausgehend von Modalitäten, die nicht auf Hörbarkeit, sondern auf Sichtbarkeit beruhen, ergeben sich dann mit einer gewissen Konsequenz neuartige Konzepte, die als solche zur Geltung gebracht werden müssen (Schmitt 2006, 2007). Die Fokussierung auf die Vielfalt situativ relevant gesetzter Ressourcen - sowohl im Sinne einer Einzelthematisierung als auch mit Blick auf ihr komplexes und feines Zusammenspiel - führte dabei wie von selbst auch zu einem neuen Interesse an ‘Raum’; multimodale Ressourcen sind tief verankert in der materiellen Umgebung der Interaktion und können nicht aus dieser Verankerung gelöst werden - wie beispielsweise (Goodwin 2007a) mit seiner Vorstellung von „environmentally coupled gesture“ betont. Körperhaltungen und -positionierungen genau wie Körperbewegungen benutzen Aspekte der räumlichen Umgebung sowohl im Sinne von Möglichkeiten als auch von Beschränkungen. Wechselseitige Blicke und die Orientierung auf einen gemeinsamen Fokus organisieren die Raumnutzung der Teilnehmer, indem sie auf relevante Aspekte in der räumlichen Umgebung verweisen. Die Koordination des interaktiven Verhaltens der Beteiligten basiert auch und gerade auf dem sichtbaren Arrangement ihrer Körper und ihres körperlichen Ausdrucks. Das analytische Interesse am vielfältigen Einsatz multimodaler Ressourcen führt deshalb sowohl zur Frage nach der Verortung und Verteilung dieser Ressourcen im Raum als auch zur Frage nach dem Einsatz und dem Nutzen materieller Bestandteile der lokalen Umgebung. In diesen Zusammenhang gehören speziell die Arbeiten, die sich für die Konstitution des Interaktionsraumes interessieren (Mondada 2005, 2007b, 2009; Schmitt/ Deppermann 2010a; Müller/ Bohle 2007; Hausendorf/ Schmitt 2010; Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 10 Kesselheim/ Hausendorf 2007), wie sie aufgrund visueller Daten immer mehr in den Blick gerät (siehe unten). Weiter gehören in diesen Zusammenhang etwa die Bedeutung des Gehens als situierte Praxis (Schmitt 2012), soziale Implikationen von Positionen im Raum, Formen multimodaler Arbeitsteilung im Kontext bi- oder multifokaler Orientierung und die Produktion von Sichtbarkeit in schwer überschaubaren Räumen. Die Beiträge zum Fokus der „Koordination“ (vgl. Schmitt (Hg.) 2007) liefern anschauliche Beispiele dafür, dass und wie sich die beiden genannten Perspektiven (multimodal erweiterte Konversationsanalyse und multimodale Interaktionsanalyse, siehe oben) in der konkreten Forschung ergänzen und wechselseitig bereichern können. Das Stichwort ‘Koordination’ macht auf strukturelle Anforderungen aufmerksam, die sich für die Interaktionsbeteiligten aufgrund der Multimodalität der Interaktion ergeben - ein bei der Analyse von Interaktion bislang weitgehend vernachlässigter Aspekt. Interaktionsbeteiligte müssen intrapersonelle und interpersonelle Koordination leisten, um der Multimodalität der Interaktionskonstitution gerecht werden zu können. Koordination kann sich dabei auf sehr unterschiedliche Aspekte der Interaktionskonstitution beziehen. Koordinative Relevanz besteht beispielsweise hinsichtlich der gemeinsamen Herstellung personal-räumlicher Strukturen als Basis des verbalen Austauschs, des zeitlich-räumlichen Alignments einzelner Teilnehmer mit dem der anderen und der selbstbezogenen Strukturierung einzelner Modalitäten wie Verbalität, Gestikulation, Blick, Körperhaltung etc. Der Sammelband „Koordination“ hatte entsprechend das Ziel, die Verfahren der Koordination der Beteiligten in sehr unterschiedlichen Situationen zu rekonstruieren und diesen Aspekt der Interaktionskonstitution als eigenständiges Forschungsfeld auszuweisen (Deppermann/ Schmitt 2007). Die Aufarbeitung koordinativer Anforderungen bei der Interaktionskonstitution in bewusst sehr unterschiedlichen sozialen Situationen und Kontexten führte dazu, existierende verbale Konzepte und neue an der Multimodalität orientierte Konzepte der Interaktion systematisch zu reflektieren und auf einen spezifischen Aspekt der Interaktionskonstitution zu übertragen; auf die Anforderung der ‘Situationseröffnung’. Hier bestand einerseits angesichts eines gut entwickelten Forschungsstandes (siehe unten) die Möglichkeit, die in der Konversationsanalyse entwickelten Modelle der Eröffnung der verbalen Interaktion wieder aufzunehmen. Und es bestand gleichzeitig die Notwendigkeit, die mit dem Begriff der ‘Situation’ bereits anklingenden wahrnehmungsbasierten Erscheinungsformen einzubeziehen, die jeder verbalen Interaktionseröffnung notwendig vorausgehen. Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 11 Auch und gerade mit der Untersuchung der Ordnungsstruktur verbaler Eröffnungen von Interaktion auf der Grundlage von Telefongesprächen hatte die Entwicklung und Karriere des konversationsanalytischen Ansatzes einst begonnen. Die Phase der verbalen Gesprächseröffnung kann inzwischen wohl als der am besten untersuchte Aspekt der Interaktionskonstitution gelten. Vor diesem Hintergrund war die videobasierte Einsicht frappierend, wie spät in der Eröffnungssequenz verbale Ressourcen überhaupt erst in Anspruch genommen werden: erst nachdem durch die Inanspruchnahme anderer Ressourcen eine gemeinsame Aktivität bereits etabliert und abgesichert werden konnte (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010, S. 37). Diese Einsicht machte retrospektiv deutlich, wie wenig der „späten“ Verbalität in Interaktionseröffnungen in der konversationsanalytischen Forschung bislang sowohl empirisch wie theoretisch Rechnung getragen worden war. Mit ihrer Fokussierung auf Momente vor dem Sprechen, auf Aspekte der visuellen Wahrnehmung, der Körperorientierung und des Beteiligungsrahmens konnte entsprechend gezeigt werden, wie sich ausgehend von einer an Multimodalität orientierten Analyseperspektive sowohl ältere Konzepte ergänzen als auch neue Konzepte entwickeln ließen. Sowohl in den auf „Koordination“ als auch in den auf „Situationseröffnungen“ bezogenen Beiträgen der beiden Sammelbände hatte sich dabei der Raum der Interaktion als ein - im Vergleich mit der Zeit - weitgehend vernachlässigter Aspekt von Interaktion erwiesen (Hausendorf 2010), der mit der Orientierung an Multimodalität immer stärker an Bedeutung gewonnen hat, aber erst in den letzten Jahren auf breiterer Ebene die ihm gebührende Aufmerksamkeit zu finden beginnt. Das gemeinsame Handeln im Raum ist ein grundlegender Aspekt struktureller Anforderungen für die Interaktionsbeteiligten, der auch bereits als Dimension von Koordination gesehen wurde (Schmitt/ Deppermann 2007; Mondada 2007b, 2009). Und erst recht traten bei der Analyse der Situationseröffnungen der Raumbezug und die Raumbenutzung der Beteiligten wesentlich stärker in den Vordergrund. So wurde mehr und mehr evident, dass die Etablierung eines gemeinsamen ‘Interaktionsraumes’ eine für die Aufnahme verbaler Aktivitäten konstitutive Voraussetzung darstellt (Mondada 2007a, Schmitt (Hg.) 2007). Und es wurde deutlich, dass sich die Art und Weise der Herstellung des gemeinsamen Interaktionsraumes unmittelbar auf die Möglichkeiten und die Struktur des verbalen Austauschs auswirkt. Angesichts der massiven empirischen Evidenz von Raum für die Interaktionskonstitution schien es daher dringend, genauer zu klären, wie der Raum von den Interaktionsbeteiligten als Ressource für ihre Interaktion genutzt werden kann und was man sich dabei unter ‘Nutzung’ vorstellen muss. Als erstes Ergebnis zu dieser Fragestellung liegt nun der Band Raum als interaktive Ressource vor. Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 12 Die Frage nach dem Raum als interaktiver Ressource wird dabei, ähnlich wie im Koordinations-Band, auf der empirischen Grundlage bewusst unterschiedlicher und kontrastierender Situationen und Kontexte zu beantworten versucht. Das Ziel des Bandes ist es, in dem zum jetzigen Zeitpunkt sowohl in theoretischer als auch methodisch-methodologischer Hinsicht noch relativ offenen Forschungsfeld der räumlichen Relevanzen und Grundlagen der Interaktionskonstitution erste Orientierungspunkte zu verankern. Wir erheben damit nicht den Anspruch auf eine ausgereifte Systematik. Dazu bedarf es einerseits weiterer theoretischer und empirischer Untersuchungen, andererseits aber auch der Entwicklung und Reflexion einer gegenstandsadäquaten Methodologie. Nur so lassen sich die Vielfalt und der Aspektreichtum erfassen, in dem Raum als interaktive Ressource eine Rolle für die Interaktion spielen kann. Damit verbunden sind aber auch eine Reihe bislang noch nicht hinreichend geklärter Fragen: In welchem Sinne kann Raum als interaktive Ressource verstanden werden? Was bringt die Fokussierung auf Raum in konzeptioneller und deskriptiver Hinsicht für die Weiterentwicklung unseres Verständnisses von multimodaler Interaktion? Worin besteht der Zugewinn, wenn man etablierte verbale Konzepte oder Phänomene „räumlich erdet“? Wie geht man mit dem Doppelcharakter von Raum als Voraussetzung einerseits und als Ergebnis der Interaktion andererseits um? Wie ist Raum als interaktive Ressource in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen und unterschiedlichen Situationen und Kontexten an der Interaktionskonstitution beteiligt? Wie kann man Raum in die sequenzielle Analyse integrieren (zumal wenn auch Verbalität als Ressource eingesetzt wird), und wie kann man Raum in den Transkripten und Standbildern angemessen repräsentieren? Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich die verschiedenen Beiträge dieses Bandes beschäftigen und auf die sie erste Antworten zu formulieren versuchen. Wir werden innerhalb dieser Einleitung auf diese Fragen noch einmal zurückkommen (siehe unten Kap. 2). Die Beiträge des vorliegenden dritten Bandes beziehen sich, wie wir skizziert haben, auf die in den beiden Vorgängerbänden gelegten Grundlagen. Die multimodale Perspektive auf Interaktion ist die gemeinsame Klammer dieser Bemühungen. Dabei haben wir nicht das Bild eines konsistenten Forschungsansatzes, einer homogenen Interaktionstheorie oder einer allgemein gültigen Forschungsmethodologie vor Augen. Was wir vor Augen haben, ist die aus der Konversationsanalyse stammende konstitutionsanalytische Orientierung auf die Rekonstruktion der Ordnungsstrukturen und generativen Mechanismen der Interaktionskonstitution. Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 13 Der zu dieser übergreifenden Fragestellung der Multimodalität der Interaktion bereits in den Beiträgen der Vorgängerbände systematisch und ausführlich dokumentierte Forschungsstand und die literaturbasierte Verortung der Thematik in relevanten benachbarten Forschungsgebieten und Forschungsansätzen werden im vorliegenden Band als gesichert behandelt. Die jeweils unter dem Schwerpunkt ‘Koordination’ und ‘multimodale Situationseröffnungen’ geleistete theoretische und methodisch-methodologische Verortung und die methodologischen Reflexionen entlasten uns auch insofern, als wir uns bei der Rahmung der hier vorliegenden Beiträge tatsächlich auf den Aspekt der Ressourcen-Qualität des Raumes konzentrieren können. Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht deshalb die Frage, was wir damit meinen, wenn wir von Raum als einer ‘interaktiven Ressource’ sprechen. 2. Raum als interaktive Ressource Wenn wir vom Raum als interaktiver Ressource sprechen, wollen wir den Ausdruck ‘Ressource’ nicht metaphorisch verstanden wissen, sondern möglichst konkret angeben können, - in welcher Hinsicht Interaktion auf Ressourcen angewiesen ist (Kap. 2.1), - wofür genau Raum eine Ressource sein soll (Kap. 2.2), - was im Raum als Ressource in Frage kommt (Kap. 2.3) und - wie in und mit Interaktion Raum als Ressource genutzt werden kann (Kap. 2.4). Weit davon entfernt, diese Fragen abschließend beantworten zu wollen, geht es uns darum, konkrete Analysefragen und Untersuchungsgegenstände zu skizzieren, die mit der Raum-als-Ressource-für-Interaktion-Perspektive verbunden sind. 2.1 Raum als Ressource und Hervorbringung Interaktion ist nach konversationsanalytischer Auffassung ein genuin soziales Geschehen, bei dem alles, was darin Sinn und Bedeutung bekommen soll, auch sozial hervorgebracht werden muss. Alles, was für eine beliebige Interaktion als bedeutsam postuliert werden soll, muss also als „interactional achievement“ verstanden und nachgewiesen werden. Wenn man vom Raum als Ressource spricht, wird man den Raum von dieser Grundannahme also nicht ausnehmen können. Auch und gerade die räumliche Verankerung der Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 14 Interaktion im Hier kann nicht als gegeben vorausgesetzt werden, sondern muss Teil interaktiver Erscheinungsformen, also Ergebnis von Hervorbringungsleistungen sein. In diesem Sinne z.B. wird die Anwesenheit von Personen in Situationseröffnungen in und mit Interaktion „hervorgebracht“, beispielsweise durch konvergierende Bewegung, Körperorientierung, Blickkontakt oder Grußverhalten (Kendon 1990). Das ist ein genuin interaktives Geschehen - das gleichwohl nicht voraussetzungslos anläuft, sondern dabei immer schon nicht auf Interaktion beruhende Anschlussmöglichkeiten ausnutzt. Dazu gehören - im besprochenen Beispiel - etwa die vielfältigen Wahrnehmungs- und Bewegungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers einerseits und die Sprache als verselbständigtes Kommunikationsmedium andererseits. Körper und Sprache sind in genau diesem Sinne Ressourcen der Interaktion. Und sie sind, verglichen mit anderen Ressourcen der Interaktion, in der bisherigen Forschung sehr prominent beschrieben worden. Die Produktivität der Vorstellung von ‘Ressource’ besteht nun darin, zu zeigen, dass nahezu alles in der Umgebung der Interaktion (Symbolisches wie Physikalisches, Soziales wie Natürliches, Belebtes und Unbelebtes) von den Beteiligten im Dienste der Interaktionskonstitution eingesetzt werden kann. Dabei gibt es stark konventionalisierte Ressourcen wie etwa die Grammatik und Lexik natürlicher Sprachen und weniger stark konventionalisierte wie etwa Gestik und noch schwächer konventionalisierte wie etwa die Bewegung im Raum. Unsere Vorstellung von ‘Ressourcen’ muss dabei mit dem Gedanken zusammengebracht werden, dass der Einsatz von Sprache und Körper, wenn wir der Einfachheit einmal bei diesen Beispielen bleiben, in der Interaktion unhintergehbar indexikalisch erfolgt, also immer reflexiv auf die Situation des Gebrauchs in der Interaktion zurückverweist. Die Reflexivitäts-Vorstellung hat ihren Ursprung bekanntlich in der Ethnomethodologie (Garfinkel/ Sacks 1970, Heritage 1984). Sie verweist auf die Tatsache, dass Handeln in dem Sinne hinsichtlich der Bedingungen seiner Organisation reflexiv ist, als diese bestätigt und gleichzeitig transformiert werden. Dieser Gedanke ist wichtig, weil er verhindert, Ressourcen von der konkreten Situation ihres Gebrauches abzukoppeln und gleichsam zu reifizieren und zu verdinglichen - was speziell im Falle der detailliert untersuchten sprachlichen Ressourcen eine naheliegende Versuchung darstellt. Auch unsere Vorstellung von Ressource muss deshalb in dem Sinne reflexiv sein, als sie das, was die Beteiligten eventuell in einer zufälligen, lokal gebundenen und fallspezifischen Weise als Ressource benutzen und relevant setzen, zu einem für die Interaktionskonstitution relevanten Detail macht. Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 15 Dies ist ein wichtiger Aspekt nicht nur für Sprache, sondern auch für körperliche und räumliche Ressourcen: Die Flexibilität und Dynamik dieser Ressourcen ist grundlegend, da sie sich im realzeitlichen Prozess der Interaktionskonstitution permanent verändern und entwickeln. Räumliche Ressourcen sind typischerweise das Produkt situierter Orientierungen und Relevanzen, die von den Beteiligten Schritt für Schritt relevant gemacht werden. Solche Orientierungen können einen Aspekt der materiellen Umgebung relevant machen - oder auch nicht; Beteiligte können in dem einen Moment eine Körperhaltung in signifikanter und für die Interaktionskonstitution relevanten Weise „zeigen“, diese im nächsten Moment bereits wieder verändern oder gänzlich auflösen. Daher sind die Situierung und die Verkörperung der Ressource(n) im zeitlichen Verlauf der Interaktion von zentraler Bedeutung. Von ‘Ressourcen’ zu sprechen, darf also nicht dazu führen, ihre jeweils momenthaft-lokale Relevantsetzung in und mit Interaktion für gegeben zu halten. Stattdessen kommt es darauf an, zu sehen, wozu welche Ressourcen für welche interaktionskonstitutiven Aufgaben (siehe unten) gerade eingesetzt werden und was die eingesetzten Ressourcen dafür mitbringen, welches also der Gewinn ist, den die Interaktion durch den Einsatz bestimmter Ressourcen gegenüber anderen „einfährt“. In diesem Sinne wäre also im Hinblick beispielsweise auf die oben angesprochene ‘Situationseröffnung’ und die dabei frappierende ‘späte Verbalität’ (siehe oben Kap. 1) zu fragen, was Körper und Raum als Ressourcen leisten, was Sprache als Ressource zunächst nicht leistet und - positiv gewendet - was Interaktion dadurch gewinnt, wenn Sprache dann als Ressource gegenüber Körper und Raum in den Vordergrund tritt (siehe dazu unten Kap. 2.2). Wir wollen im vorstehenden Zusammenhang festhalten, dass schon die interaktive Herstellung von Anwesenheit, mit der die Interaktion reflexiv beginnt und als eigengesetzliches Geschehen emergiert, mit Körper und Sprache auf starke und unterschiedlich spezialisierte Ressourcen zurückgreifen kann und zurückgreifen muss. Der Gedanke der Herstellung und des Hervorbringens von Körper und Sprache in und mit Interaktion darf also nicht so verstanden werden, als würde die Interaktion voraussetzungslos und gleichsam „bei Null“ beginnen. Mit Körper und Sprache kann die Interaktion auf evolutionär hoch entwickelte, leistungsstarke Errungenschaften zugreifen und im Moment der Interaktion jeweils lokal-momenthaft für das Geschehen relevant machen. Die Rede von ‘Ressourcen’ betont diesen Aspekt von Anschlussmöglichkeiten, die der Interaktion zur Verfügung stehen, ohne sie von ihrer jeweils interaktiven Manifestierung abzukoppeln. Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 16 Damit ist übrigens nicht ausgeschlossen, dass der Einsatz der Ressourcen selbst durch Interaktion entwickelt wird (wenn man etwa an das Beispiel der frühkindlichen Erwachsenen-Kind-Interaktion denkt und wie dabei Wahrnehmung, Bewegung und Sprache durch und mit Interaktion überhaupt erst eingeübt werden; Tomasello 2000). In diesem Sinne wollen wir auch Raum und Räumliches als Ressource verstehen, an die z.B. Situationseröffnungen anschließen können. Dieses Verständnis von Raum als Ressource impliziert - wie schon betont - nicht, Raum und Räumlichkeit als etwas Interaktionsexternes oder -vorgängiges zu denken. Wenn Raum als Ressource für Interaktion relevant werden soll (und nur dann interessiert er uns), gehört er immer schon zur Interaktion dazu und darf also nicht irgendwie reifiziert oder externalisiert werden. In diesem Sinne werden auch räumliche Ressourcen - wie andere Ressourcen - durch situiertes Handeln reflexiv konstituiert: Auf der einen Seite werden sie als verfügbar behandelt und in diesem Sinne „benutzt“, auf der anderen Seite werden sie durch den Akt ihrer Benutzung konstituiert und transformiert. Das ist der ethnomethodologische Grundgedanke der Reflexivität (siehe oben). Bezogen auf sprachliche Ressourcen bedeutet Reflexivität, dass im weitesten Sinne grammatische und lexikalische Konstruktionen von den Sprechern genutzt werden, indem unterschiedliche zur Verfügung stehende Möglichkeiten ausgewählt, gleichzeitig in ihrem Gebrauch aber auch verändert werden. Sprachliche Formen werden durch den Prozess ihrer kontinuierlichen Konfiguration in der Interaktion also immer wieder neu gestaltet (sonst wäre ein Phänomen wie der ‘Sprachwandel’ nicht erklärbar). Der wiederholte Einsatz sprachlicher Formen in bestimmten sequenziellen Umgebungen für den praktischen Zweck der Lösung eines bestimmten interaktiven Problems ist eine der wesentlichen Antriebskräfte für Grammatikalisierung und Verfestigung, die dann ihrerseits wiederum dazu beitragen, dass Interaktion an eine immer leistungsfähigere, immer „stärkere“ Ressource anschließen kann. Mehr noch: In ihrem sequenziellen Kontext der Interaktionskonstitution, also z.B. der Turn-Konstruktion, werden unterschiedliche linguistische Formen (von der Syntax bis zur Prosodie) in reflexiver Weise eingesetzt, gestaltet und als verfügbare Formen verfestigt und für spätere interaktive Problemlösungen verfügbar. Für ‘Raum’ hat die Reflexivität ebenfalls einige interessante Konsequenzen. Zum einen hinsichtlich der Tatsache, dass scheinbar „externe“ Aspekte der Umgebung nur durch spezifische indexikalische Weisen in der Interaktion re- Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 17 levant gemacht und benutzt werden und abgelöst vom interaktiven Moment ihre interaktionsspezifische Bedeutung verlieren. Zum anderen gilt dies auch für räumliche Ressourcen, die von den Beteiligten selbst konstituiert wurden, wie etwa körperliche Konstellationen, mit denen die Beteiligten einen besonderen Interaktionsraum im Sinne einer personalen Konfiguration (im Verständnis z.B. von Vom Lehn/ Heath 2007, Hausendorf 2010) bilden. Dieser verändert sich und verschwindet mit der Interaktionsentwicklung, nutzt aber immer auch lokale Möglichkeiten und Beschränkungen der räumlichen Umgebung, verweist also immer schon indexikalisch auf Raum als Ressource. Ausgehend von dieser grundsätzlichen Reflexivität der Ressourcen stellt sich also die Frage, wie unter dieser Bedingung so etwas wie Raumnutzung zustande kommt und wofür, wie genau und was genau an Raum dabei ins Spiel kommt. Es ist wichtig zu sehen, dass der Raum hier konzeptionell keine Sonderrolle einnimmt. Man muss (bloß) für den Raum genauso wie für die Sprache (oder die Körper oder die Gesellschaft mit ihren Organisationen) zeigen können, dass ihre Ressourcenqualität gerade nicht ausschließt, dass ihre für die Interaktion relevanten Dimensionen in und mit Interaktion erst ins Spiel kommen. Umgekehrt widerspricht die These der interaktiven Herstellung eben auch nicht der grundsätzlichen Ressourcengebundenheit der Interaktion. Wir könnten sonst nicht erklären, was Interaktion evolutionär durch Raum (und durch Errungenschaften wie Sprache, Körper oder Gesellschaft) gewonnen hat. Man darf bei dieser Betrachtung natürlich nicht aus dem Blick verlieren, dass der Raum als Ressource nicht unverbunden neben den anderen Ressourcen steht, sondern in Koevolution mit den anderen Ressourcen und Errungenschaften der Interaktion entstanden ist. Ein Reflex auf diese wechselseitigen Abhängigkeiten findet sich in jeder Interaktionsanalyse zum Raum, wenn wir nachzeichnen, dass der Raum in der Interaktion natürlich nur durch Wahrnehmung und Bewegung, also durch Körper, überhaupt relevant werden kann; dass er uns durch Sprache immer schon in einer weit entwickelten Symbolik zur Verfügung steht; oder dass er uns in Form der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften eben auch sozial institutionalisiert, d.h. als soziale Erscheinungsform gegenübertritt. Aus dieser Verschränkung ergeben sich besondere Anforderungen an die Rekonstruktion der Raumaneignung in der Interaktion (siehe unten Kap. 2.4). Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 18 2.2 Raum als Ressource für interaktive Problemlösungen Aus unserer Sicht verlangt die Vorstellung von Ressourcen auch eine Beantwortung der Frage, wofür der Raum eine Ressource sein soll. In unserem Verständnis geht es in dieser Frage darum, den Raum als eine (von mehreren) Ressourcen zu betrachten, auf die die Beteiligten bei der Bearbeitung interaktionskonstitutiver Anforderungen zugreifen und von denen sie Gebrauch machen können. Wie oben ausgeführt, stellen wir den Raum damit in eine Reihe mit weiteren Ressourcen der Interaktion. Aus inhaltlichen und aus Darstellungsgründen wollen wir im Folgenden vor allem bei der Analogie zur Sprache bleiben. Der analogisierende Bezug auf Verbalität ist in dem Sinne hilfreich, dass er die Leistungen und Konzepte, die im Rahmen der Konversationsanalyse seit den 1960er Jahren entwickelt worden sind, als konkrete Orientierungshilfe funktional macht. So wie die Konversationsanalyse Verbalität als zentrale Ressource der Interaktionskonstitution konzeptualisiert und systematisch untersucht hat, wollen wir Raum als unmittelbar vergleichbare Ressource der multimodalen Interaktionskonstitution konzeptualisieren. Grundlegend für alles Weitere, und damit kommen wir zum „wofür“, ist die in der konversationsanalytischen Methodologie verankerte Vorstellung der Interaktionskonstitution als kontinuierlicher Prozess der (interaktiven) Bearbeitung von (interaktiven) Problemen (Hausendorf 2010). Für räumliche Ressourcen bedeutet dies, dass die Herstellung räumlicher Relevanzen zur interaktiven Ordnung beiträgt - vorrangig und grundsätzlich zur Herstellung der Sprechsituation (Hausendorf 1995, 2003), die als interaktive Aufgabe der ‘Situierung’ verstanden werden kann (Hausendorf 2010) -, aber auch und unter anderem zur Turn- und Sequenzorganisation: Die Verteilung von Sprecher- und Hörerrollen in Situationen wechselseitiger Wahrnehmung hängt wesentlich von der Verfügbarkeit und Sichtbarkeit der Beteiligten ab, besonders wenn dazu Gesten, Blicke oder Mimik eingesetzt werden (Deppermann/ Mondada/ Schmitt 2010, Ford 2008, Markaki/ Mondada 2012, Mondada i.Dr. a, Schmitt 2005). Dies bedeutet, dass die Lokalisierung, Disposition und körperliche Orientierung der Beteiligten im Raum für die Funktionalität und Effektivität der multimodalen Ressourcen wesentlich ist (oder für deren „Verwundbarkeit“; Lerner 2003). Es ist gut belegt, dass das schrittweise Entstehen eines Turns auch auf Bewegung der Beteiligten im Raum reagiert und sich danach ausrichtet (Relieu 1999, Haddington 2010). Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 19 Die sequenzielle Organisation von Eröffnungen in Face-to-Face-Konstellationen - um diesen Fall wieder aufzugreifen - wird eben durch die Art und Weise erreicht, in der die Beteiligten ihre Konvergenz und Erreichbarkeit im Raum konstruieren, während sie aufeinander zugehen, wechselseitigen Blickkontakt herstellen und eine Face-to-Face-Position einnehmen, bevor sie zu sprechen beginnen (Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010). Die Ressourcenqualität des Raumes ist gerade deswegen in dieser Phase und bei der Bearbeitung dieses interaktionskonstitutiven Problems so evident, da die Sprache in diesem Moment gerade noch nicht zur Verfügung steht und der Raum neben den Körpern die dominante Ressource ist, die die Beteiligten für die Problembewältigung in diesem Moment zur Verfügung haben. Eine explizite verbale Situationseröffnung, die vollständig auf den Einsatz räumlicher Ressourcen verzichtet, ist nur schwer vorstellbar. Umgekehrt impliziert die Interaktionsbeendigung immer auch die Auflösung des zuvor etablierten Interaktionsraumes und die Organisation des Weg- und Auseinandergehens der Beteiligten (De Stefani 2006, Mondada i.Dr. b). Die Bearbeitung interaktiver Probleme durch die Beteiligten, bei denen in erster Linie Raum als Ressource eingesetzt wird, betreffen häufig Aktivitäten mit hochsensibler beidseitiger Aufmerksamkeit oder die gemeinsame Orientierung auf ein Objekt oder eine Technologie. Die Etablierung solcher Aufmerksamkeitsfoki, die über ein Minimum wechselseitig geteilter Aufmerksamkeit hinausgeht (Hausendorf 2003), ist sowohl von der Qualität und Beschaffenheit der räumlichen Ressourcen (z.B. im Sinne ihrer „affordances“ (Gibson 1977, 1979) oder ihrer „Benutzbarkeitshinweise (Hausendorf i.d.Bd.)) als auch von der körperlich-räumlichen Konfiguration der Beteiligten abhängig (Kidwell/ Zimmermann 2007, Mondada i.Dr. b). Auch die Sequenzorganisation wird häufig durch Nutzung räumlicher Ressourcen bewerkstelligt. Dies ist der Fall, wenn Beteiligte unterschiedliche Orte für unterschiedliche Handlungszusammenhänge wählen: Ein Beispiel ist der wechselnde Aufmerksamkeitsfokus des Kindes, das mit dem Vater beim Lesen oder den Hausaufgaben ko-orientiert sein kann oder sich aus dem Bereich zurückzieht, weil es keine Hausaufgaben machen bzw. keine Hilfe des Vaters dabei annehmen will (Goodwin 2007b). Ein weiteres Beispiel sind Computer-Spieler, die während des Spieles konzentriert auf ihren Monitor blicken, sich jedoch einander zuwenden und das Spiel unterbrechen und eine gemeinsame Aufmerksamkeit etablieren, um sich wechselseitig zu gelungenen Spielkommentaren zu gratulieren (Mondada i.Dr. c). Ähnlich liegt der Fall, wenn ein Fahrer konzentriert auf den Verkehr achtet, um der etablierten Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 20 problematischen Auseinandersetzung mit dem Beifahrer auszuweichen. Die Relevanz des außenseitigen Verkehrsraums wird dabei über die Relevanz des gemeinsamen Interaktionsraumes gestellt. So wird ein legitimer Aufmerksamkeitsfokus etabliert, um mit der sich zuspitzenden Auseinandersetzung umzugehen (Mondada i.Dr. d). Raum wird also immer in fallspezifischer Hinsicht und für ganz spezifische Aufgaben der Interaktionskonstitution eingesetzt, die sich auf der Grundlage der allgemeinen Anforderungen ergeben. Die Ressourcenqualität von Raum ist dabei in vielen Kontexten weniger offensichtlich, da räumliche Aspekte in der Regel im Zusammenhang mit anderen Ressourcen zur Problembearbeitung eingesetzt werden. Die interaktionskonstitutive Relevanz räumlicher Aspekte wird in solchen Kontexten oftmals überhaupt erst im Rahmen detaillierter konstitutionsanalytischer Aufarbeitung auch im Zusammenhang mit raumunabhängigen Erkenntnisinteressen deutlich. Ein Beispiel für die fallspezifische Bearbeitung situationsspezifischer Probleme ist die Herstellung eines Interaktionsraums oder einer dyadischen Konstellation als Voraussetzung für die Sicherung intersubjektiv valider lokaler Bedeutungsproduktion. Solche Formen der Raumnutzung sind oftmals unauffällig (sie werden gesehen, aber nicht beachtet) und drängen sich als Phänomen oder als Problem nicht in den Vordergrund. Zudem wird oftmals aufgrund der Fokussierung auf verbale Aktivitäten übersehen, dass der aktuell verbal aktive Interaktionsteilnehmer, während er eine Pause in der Produktion seiner Äußerung einlegt, sich im Raum bewegt und erst dann wieder zu sprechen beginnt, wenn er sich selbst in dieser neuen Position stabil eingefunden hat und auch seine Adressaten inzwischen bei ihm eingetroffen sind und sich bei ihm positioniert haben. Die Bewegung im Raum in Koordination mit der Äußerungsproduktion wird, wie Schmitt (i.Vorb) am Beispiel eines Filmsets zeigt, vom Regisseur eingesetzt, um seine Adressaten „hinter sich herzuziehen“, um sie für seine weiteren Ausführungen zur nächsten Szene am richtigen Ort zu haben. Aber es sind nicht immer die verbal Aktiven, die Raum als Ressource nutzen. Oftmals ermöglichen sie durch ihre Äußerungsproduktion - vor allem durch deren Pausensegmentierung - anderen Beteiligten deren körperlich-räumliches Arrangement, damit ihre Aussage von diesen besser oder überhaupt verstanden werden kann. Dies ist z.B. der Fall, wenn eine Teilnehmerin mit der Vollendung ihrer Äußerung wartet, bis eine ihrer am Tisch sitzenden Kolleginnen die betreffende Seite der Unterlagen umgeblättert hat, auf die sich die Sprecherin bezieht (Mondada 2005). Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 21 2.3 Multiaspektuelle Ressourcenqualität von Raum Das auf die Interaktionskonstitution bezogene Verständnis von Raum als Ressource im oben skizzierten Problemlösungs-Verständnis der konversationsanalytischen Methodologie stellt neben der Rekonstruktion der Probleme, die mittels räumlichem Verhalten oder Verhalten im Raum von Interaktionsbeteiligten bearbeitet werden, die Frage nach den konkreten räumlichen Aspekten, die dabei eine Rolle spielen. Was genau, so muss gefragt werden, gehört dazu, wenn wir von Raum als Ressource reden? „Raum“ ist in dieser Hinsicht ja nicht mehr als eine komplexe Chiffre für alle möglichen raumbasierten Phänomene der Interaktion. Die Kandidaten, die hier in Frage kommen, sind zahlreich. Auf der einen Seite gehören - grundsätzlich und in typologischer Verdichtung - dazu: die (Innen-) Architektur im Sinne der Ausstattung des Raumes mit Möbeln und Objekten aller Art, die mit der Ausstattung geschaffenen begehbaren freien Flächen und deren Begrenzung, die Qualität der Objekte in ihrer spezifischen Benutzbarkeit (zum Sitzen, Anfassen, Greifen, Anschauen …), die mit der Sichtbarkeit des Raumes ermöglichte Nah- und Fernorientierung und vieles mehr. Auf der anderen Seite - und unabhängig von diesen Aspekten räumlicher Ressourcen, die jeder Zeit von den Beteiligten relevant gemacht werden können - bilden die Körper der Beteiligten selbst Konstellationen und Dispositionen, die einen Interaktionsraum konstituieren (Kendon 1990, Mondada 2009). Körper und Körperlichkeit sind also so gesehen auch eine Ressource, um Interaktionsräume herzustellen - zumal in Fällen, in denen genuin räumliche Ressourcen dafür nicht in Frage kommen. Dabei sind es die relativen Positionen, die Körperhaltungen und Orientierungen, die Blickrichtungen, die einen Bereich markieren, den die Beteiligten für ihre laufende Interaktion als relevant definieren. Beide Perspektiven auf Raum, die zum aktuellen Stand der Forschung von der Tendenz her auf die Begriffe ‘Raum-als-Ressource’ einerseits und ‘Interaktionsraum’ andererseits verteilt scheinen, sind aufeinander bezogen, was sich beispielsweise in der Art und Weise zeigt, in der Gegenstände in der Interaktion genutzt werden. Sie können mit ihren genuinen „affordances“ (Gibson 1977, siehe oben) einerseits als ein wesentlicher Bestandteil räumlicher Ressourcen behandelt werden, andererseits müssen sie aber von den Teilnehmenden benutzt, berührt, betrachtet oder bewegt werden, damit sie überhaupt im Interaktionsraum von Belang sind. Ihre Mobilisierung im Rahmen der Lösung eines interaktiven Problems trägt also sowohl zum Einsatz der Ressourcen- Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 22 qualität des spezifischen Umgebungsraumes der Interaktion bei, als auch zur Herstellung des jeweils spezifischen Interaktionsraumes, den es für die Bearbeitung einer spezifischen interaktiven Aufgabe braucht. Anders als mit Bezug auf die Sprache wissen wir über die Ressourcenkomplexität des Raumes für Interaktion, zumindest aus linguistischer Sicht, bis heute sehr wenig und sind an dieser Stelle deshalb auf Vorarbeiten aus anderen Disziplinen verwiesen. Ein Blick auf nicht-europäische Kulturen kann diesbezüglich einiges verdeutlichen. So zeigt beispielsweise Duranti (1992) den tiefen Zusammenhang von Worten, Körperbewegung und Raum bei der zeremoniellen Begrüßung in Samoa. Im eigenen kulturellen Kontext zeigt etwa die Studie von Kendon (1990) zu Begrüßungen auf einer Party in den USA die Bedeutung, welche die Position der Beteiligten im Raum während der unterschiedlichen Phasen des Sich- Erblickens, des Sich-aus-der-Ferne-Grüßens, der Annäherung und der Nah- Begrüßung spielt. Während aus einer allgemeinen Perspektive heraus grundsätzlich alle Aspekte des Raumes relevant sind, geht es im Rahmen konkreter fallanalytischer Rekonstruktion darum, genau die räumlichen Aspekte zu identifizieren, die für die Bearbeitung interaktionskonstitutiver Probleme als Ressource eingesetzt werden. Dies ist eine analytische Aufgabe, die weder evident noch methodisch anspruchslos ist. Jedenfalls ist es keineswegs damit getan, die räumliche Umgebung in einer gegebenen Situation und zum Zeitpunkt eines konkreten Handlungsvollzuges zu beschreiben. Aufgabe ist es vielmehr, nachzuzeichnen, dass zur Realisierung des Handlungsvollzuges, und das heißt zur Lösung spezifischer interaktiver Probleme, spezifische räumliche Aspekte in interaktionskonstitutiver Weise eingesetzt werden. Wir wollen uns an einem Beispiel verständlich machen. Betrachten wir dazu die freie begehbare Fläche im Kirchenraum als einen Aspekt von räumlicher Ressource. Konzentrieren wir uns auf den Gang des Pfarrers in der Vorphase des Gottesdienstes vom Mittelweg der Kirche in die Sakristei (Hausendorf/ Schmitt 2010). Es wäre nun verfehlt, würde man den Gang des Pfarrers nur im Detail beschreiben und dabei den Rhythmus seiner Bewegung, seine Blickorganisation, seine Arm- und Oberkörperhaltung und viele andere Aspekte seines körperlichen Gesamtverhaltens minutiös erfassen wollen. Zum Nachweis des ressourcenmäßigen Einsatzes der zur Verfügung stehenden begehbaren Fläche als integraler Bestandteil der Innenausstattung des Kirchenraumes und damit in seiner Qualität als interaktive Problemlösung reicht das Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 23 nicht aus. Denn es geht nicht um eine realistische Beschreibung, sondern um die Rekonstruktion der spezifischen Realisierung des Laufweges als situierte Praktik (Ryave/ Schenkein 1974; Watson 2005; Schmitt/ Deppermann 2010a; Deppermann/ Mondada/ Schmitt 2010; Schmitt 2010, i.Vorb). In diesem Verständnis erhält der Gang des Pfarrers die Qualität eines ‘onlineanalytischen Kommentars’, mit dem der Pfarrer in der Anwesenheit der Gottesdienstbesucher seinen eigenen situativen Status signalisiert: Er zeigt durch die Art seiner Bewegung und durch die Tatsache, dass er z.B. gleich zwei Altarstufen auf einmal nimmt, also für ein „Schreiten“ viel zu schnell ist, dass er im Moment noch nicht in der offiziellen Rolle als rituelles Oberhaupt des Gottesdienstvollzuges anwesend ist (Hausendorf/ Schmitt 2010). Das Beispiel zeigt sehr anschaulich, wie hier der Raum als Ressource „mitspielt“: In seiner Darstellungspraxis kann der Pfarrer den Kirchenraum für das gerade zu lösende interaktive Problem ausnutzen. 2.4 Verfahren der Nutzung räumlicher Ressourcen Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die Relevanz räumlicher Aspekte für die Interaktion zu rekonstruieren. Sie gründen in der detaillierten Analyse der Orientierung der Beteiligten, so wie sie in ihren interaktiven Praktiken verkörpert sind und wie sie manchmal auch in expliziten ‘accounts’ formuliert werden. Die obigen Ausführungen haben dabei ein wesentliches Problem der konstitutionsanalytischen Rekonstruktion des interaktionskonstitutiven Einsatzes von Raum deutlich gemacht, das beim Einsatz verbaler Ressourcen so nicht besteht. Bei der verbalen Bearbeitung interaktionskonstitutiver Anforderungen gibt es häufig explizite Verweise auf die spezifische Aufgabe, mit deren Bearbeitung Beteiligte gerade beschäftigt sind. Die Äußerung „Kann ich dazu auch mal etwas sagen? “ ist beispielsweise ein Hinweis darauf, dass für den Sprecher Fragen der Gesprächsorganisation anstehen. Solche Thematisierungen und Hinweise auf das aktuelle, mittels Raumeinsatz bearbeitete Problem sind aufgrund der in der Regel wie selbstverständlich ablaufenden Raumaneignung und Raumnutzung weniger häufig (aber natürlich nicht ausgeschlossen: siehe den Beitrag von Hausendorf i.d.Bd.). Als Ortsbezeichnungen sind raumbezogene ‘accounts’ in der Konversationsanalyse jedoch extensiv untersucht worden (Schegloff 1972). Dabei hat sich gezeigt, dass die Beschreibung, „wo wir sind“, grundsätzlich von der Aktivität, dem Kontext und dem Rezipienten abhängig ist. Beschreibungen der aktuellen räumlichen Position der Beteiligten werden besonders in Notfall-Anrufen realisiert (Bergmann 1993), oder in Situationen, in denen schnelle Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 24 Entscheidungen über die weitere Fortbewegung getroffen werden müssen (wie beispielsweise in Autos; Haddington 2010). Aber sie finden sich auch in Mobiltelefon-Gesprächen (Laurier 2001), in denen Menschen beschreiben, wo sie sich im Moment gerade befinden. Darüber hinaus können Ortsbeschreibungen als Erklärungen für spätere Telefonanrufe benutzt werden (Ich war im Garten) oder sie werden im Kontext institutioneller Eröffnungen eingesetzt (machen Sie es sich bequem und ich komme sofort zu Ihnen zu Beginn eines Arztbesuches). Einen weiteren, besonders komplexen Fall stellt die multimodale Konstitution imaginärer Räume dar. Hier werden sowohl aktual-situative Aspekte des Raumes wie auch verbale Formen der Raumbeschreibung und Raumgestaltung genutzt, wie Schmitt/ Deppermann (2010b) am Beispiel einer Besprechung über ein mögliches Filmszenario zeigen. Interessant ist, dass der Dozent, der die Exposition von Romeo und Julia als lebendigen räumlich-inszenatorischen Zusammenhang ausgestaltet, um das Konzept der ‘dramatischen Struktur’ zu verdeutlichen, die unterschiedlichen „Räume“, die er dabei etabliert (persönlicher Verhaltensraum, Interaktionsraum, imaginärer Szenenraum), durch einen raumgebundenen Stil verbal-inszenatorischen Verhaltens systematisch unterscheidet und markiert. Explizite Formulierungen der Ressourcenqualität des Raumes sind indessen keineswegs der einzige Zugang bei der Rekonstruktion relevanter Interaktionsaspekte. In der Regel werden, wie sonst auch, die feinkörnigen Details zwar von den Beteiligten gesehen und „verarbeitet“, jedoch nicht bewusst wahrgenommen, geschweige denn verbalisiert. Sie sind also interaktiv relevant, ohne thematisiert zu werden. Die analytische Aufgabe besteht daher darin, diese Relevanzen auf der Basis situierter Handlungen der Beteiligten und ihrer wahrnehmbar gemachten Orientierungen zu rekonstruieren. Umgekehrt muss nicht jedes Verhalten, das qua multimodaler Gegenstandskonstitution im Raum stattfindet (und ja stattfinden muss), muss nicht jede Benutzung eines Gegenstandes, der Bestandteil der innenräumlichen Ausstattung ist, die Qualität besitzen, zur Interaktionskonstitution beizutragen. Nimmt ein Beteiligter beispielsweise das vor ihm auf dem Tisch stehende Glas in die Hand, führt es zum Mund und trinkt daraus einen Schluck, dann ist das fraglos ein manifestes Verhalten, das in einem spezifischen Kontext des Interaktionsgeschehens stattfindet und bei dem bestimmte räumliche Aspekte (hier die Objekte ‘Wasserglas’ sowie der ‘Tisch’, auf dem es abgestellt ist etc.) eine wichtige Rolle spielen. Der Nachweis, dass es sich dabei um einen für die Interaktionskonstitution relevanten Beitrag und damit letztlich um ein Verfah- Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 25 ren des ressourcenbezogenen Einsatzes von Gegenständen als Bestandteil des Raumes handelt, müsste jedoch erst noch erbracht werden. Das meinen wir damit, wenn wir betonen, dass Raum als Ressource stets auf ein konkretes interaktives Problem bezogen werden muss (siehe oben Kap. 2.2). Damit geht es den an der Ressourcenqualität von Raum interessierten Analytiker(inne)n freilich nicht anders als denen, die auf Sprachliches reduzierte Transkriptionen untersuchen. Auch dort ist mit der detaillierten analytischen Beschreibung dessen, was die Interaktionsbeteiligten sagen, hinsichtlich der Frage nach der Bearbeitung interaktionskonstitutiver Anforderungen und der Orientierung der Beteiligten ja per se noch nichts gewonnen. Erst der Nachweis der Bearbeitungsqualität der Beiträge und die Rekonstruktion der im Hintergrund stehenden konkreten Anforderung(en), die mit den Äußerungen bearbeitet wird/ werden, produzieren konstitutionsanalytischen Mehrwert im Sinne neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das ist die Grundhaltung der Konversationsanalyse, die wir in dieser Weise uneingeschränkt auch als Maxime der Raumanalyse einfordern müssen. Die Rekonstruktion der Verfahren, bei denen Beteiligte Raum als interaktive Ressource benutzen, ist in der Regel ein mehrschrittiges Verfahren. Es besteht - idealtypisch und sequenziell formalisiert - zumindest aus: - der detaillierten Beschreibung des multimodalen Gesamtverhaltens eines/ der Beteiligten im Rahmen einer detaillierten Konstitutionsanalyse, - der Rekonstruktion der bearbeiteten interaktionskonstitutiven Anforderung(en), - der Rekonstruktion der Teilnehmerorientierungen, - der Rekonstruktion des spezifischen Anteils „räumlicher Nutzung“ unter Angabe der konkreten Raumaspekte, die dabei eingesetzt werden, sowie - der Analyse der dynamischen Art und Weise, in der räumliche Relevanzen im Zusammenhang mit der sich entfaltenden sequenziellen Organisation des multimodalen Handlungszusammenhangs hergestellt, modifiziert und schließlich wieder aufgegeben werden. Zielt das analytische Erkenntnisinteresses auf die Rekonstruktion der Verfahren, mit denen Interaktionsbeteiligte räumliche Aspekte für die Interaktionskonstitution nutzen und durch körperliches Verhalten herstellen, geht es also letztlich um die Herausarbeitung der Funktionalität, die beispielsweise mit dem Einsatz/ der Nutzung von Gegenständen für die Interaktion erreicht bzw. realisiert wird. Dabei ist davon auszugehen, dass beispielsweise Gegen- Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 26 stände selten alleine in dieser interaktiven Funktionalität eingesetzt werden, sondern als Bestandteil einer Bündelung und Sequenzierung verschiedener Modalitäten. Die feinkörnige Analyse von verkörperten und materiellen, komplexen und sich herausbildenden Details, über die Raum als Ressource für die und in der Interaktion konstituiert wird, hat auch spezifische methodologische Konsequenzen für die Anforderungen sowohl der Art und Weise der Datendokumentation als auch der Art und Weise ihrer Präsentation. Eine Analyse, die an den räumlichen Ressourcen interessiert ist, braucht dringender als andere Interaktionsanalysen Videoaufzeichnungen, die sowohl den Gesamtzusammenhang als auch die Details der laufenden Interaktion erfassen. Dies betrifft sowohl das Gesamt der interaktiven Beteiligungsweisen, zu denen auch die peripher Beteiligten gehören, als auch die Details ihres körperlichen Verhaltens (Schmitt i.d.Bd.). Beide Aspekte sind mit einer einzelnen Kamera oft nicht hinreichend einzufangen. Aber auch die Vervielfältigung des Kameraeinsatzes löst nicht alle Probleme, da damit oftmals eine Fragmentierung des Gesamtzusammenhangs einhergeht. Diese Grundproblematik verschärft sich noch in dem Moment, in dem die dokumentierte Interaktion durch kontinuierliche Mobilität der Beteiligten charakterisiert ist. Dann hat man grundsätzlich die Schwierigkeit, der Bewegung der Beteiligten zu folgen bzw. das Problem, diese frühzeitig genug zu antizipieren, um sie auch dokumentieren zu können. Vergleichbar sind die Probleme, die sich ergeben, wenn man die Komplexität des gleichzeitigen räumlichen Verhaltens mehrerer Beteiligter in der Koordination untereinander und in Bezug zu den spezifischen räumlichen Ressourcen erfassen will. Hier besteht die Herausforderung darin, trotz der empirischen Komplexität einen lesbaren, relevanten und reichen Text zu produzieren, bei dem der Leser, der in der Regel nicht über die audio-visuellen Daten verfügt, durch die Form und Dichte der Ergebnispräsentation nicht überfordert wird. Die zeitlichen Beziehungen von Synchronität, Koordination und Alignment und ihre detaillierte Repräsentanz im Transkript und im analytischen Beschreibungstext sind wesentlich für die Rekonstruktion und Darstellung dynamischer Interaktionsräume. Sie sind jedoch manchmal nur sehr schwer zu realisieren, sobald mehr als nur zwei oder drei Modalitätsebenen für die Rekonstruktion notwendig werden. Computergestützte Werkzeuge für die Transkription und das Alignment lösen nur einen Teil der Probleme, da die Resultate oftmals nur schwer zu exportieren und in eine lesbare Version zu bringen Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 27 sind. Standbilder und andere visuelle Repräsentationen wie etwa Skizzen sind deshalb eine notwendige Ergänzung der Transkripte. Doch lösen sie oftmals die Zeitlichkeit des Handlungszusammenhangs auf und machen es schwer, relevante Aspekte des zugrundeliegenden mobilen und dynamischen Dokumentes zu erhalten. Es gibt trotz eines sich rasant entwickelnden Feldes noch keine konventionalisierten und standardisierten Verfahren, mit diesen Problemen umzugehen, und wir werden - wahrscheinlich noch eine ganze Weile - damit beschäftigt sein, kreative und explorative - und in der Regel fallspezifische - Lösungen zu entwickeln. Auch davon legt der vorliegende Band ein beredtes Zeugnis ab. Es bleibt deshalb über die allgemeine Festlegung des interaktionskonstitutiven Impacts räumlicher Ressourcen konkreten Analysen überlassen, zu rekonstruieren, dass und wie unterschiedliche raumbezogene Aspekte verfahrensmäßig genutzt werden und was die Konstituenten solcher Verfahren sind. Eine wichtige Orientierung ist dabei die Frage, was die Interaktionskonstitution als strukturelle Anforderungsstruktur speziell dadurch „gewinnt“, dass sie Raum zur Ressource der Lösung einer interaktiven Aufgabe macht. In Abhängigkeit von den dabei zugrunde gelegten Situationen spielen dabei sehr unterschiedliche Fragen eine Rolle. Diese beziehen sich beispielsweise auf die Typikalität der Ressourcennutzung und tangieren z.B. folgende Dichotomien: spezifische versus unspezifische Nutzung; verbal aufwendige versus unscheinbar-eingespielte Nutzung; exhaustiv-maximale versus sporadischminimale Nutzung; institutionalisierte (professionelle) versus Stegreif- und Ad-hoc-Nutzung; raumgemäß-usuelle versus umfunktioniert-okkassionelle Nutzung. Auch an dieser Stelle betritt eine linguistische Raum-als-interaktive- Ressource-Analyse weitgehend Neuland und ist auf Vorarbeiten aus benachbarten Disziplinen angewiesen (vgl. dazu die Hinweise, die in den einzelnen Beiträgen des Bandes gegeben werden). 3. Die Beiträge des Bandes Alle Beiträge des vorliegenden Bandes fokussieren mit jeweils spezifischer Positionierung in der skizzierten Breite des Themas Fälle, in denen Interaktionsbeteiligte Raum als interaktive Ressource nutzen. Sie repräsentieren dabei ein durchaus breites Spektrum von Fragestellungen, Erkenntnisinteressen und unterschiedlichen methodologischen Grundlagen. Diese Vielfalt soll hier nicht „geglättet“ werden. Unser Ziel ist es vielmehr, den Aspektreichtum räumlicher Relevanzen, wie er in den Daten der einzelnen Beiträge zum Aus- Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 28 druck kommt, zu skizzieren und die Erkenntnisperspektive vorzustellen, unter der bei den einzelnen Beiträgen die Fokussierung auf einen/ mehrere Aspekt(e) räumlicher Relevanz jeweils erfolgt. Nicht in allen vorliegenden Beiträgen, aber in der überwiegenden Mehrzahl sind Face-to-Face-Interaktionen die primäre Grundlage für die Erkundung des Einsatzes von Raum als interaktiver Ressource. Die Interaktionsbeteiligten treffen sich aus eigenem Antrieb unter Bedingungen wechselseitiger Wahrnehmung zu fokussierter Interaktion. Die Zwecke ihrer Interaktion sind situationsgebunden und realisieren sich ausschließlich für die Beteiligten selbst. Dies gilt - für Reinhold Schmitt, der die Kooperation des Regisseurs und zweier Schauspieler und der Regieassistentin auf einem Filmset (Außendreh) bei einer Konzeptvermittlung analysiert und sich dabei auf die Verfahren der Symbolisierung der jeweils funktionsrollenspezifischen interaktiven Beteiligungsweise fokussiert; - für Lorenza Mondada, die eine Bürgerversammlung anlässlich der Neugestaltung eines städtischen Parks untersucht, die von einem Moderator geleitet wird, der die Diskussion strukturiert, Vorschläge sammelt und das Rederecht verteilt und Abstimmungen vorbereitet und herbeiführt; - für Heiko Hausendorf, der eine Situation in der Universität untersucht, bei der ein Seminarraum zu einem Kino für die Filmvorführung umgestaltet wird; - für Wolfgang Kesselheim, der den Besuch einer Erwachsenen mit einer Gruppe von Kindern im Museum analysiert und sich dabei darauf konzentriert, wie die Gruppe gemeinsam im Museum unterwegs ist und wie sie die Vitrinen gemeinsam erkundet und sich über die Exponate austauscht; - für Karola Pitsch, die analysiert, wie sich im Rahmen eines Ausstellungsgangs durch eine Gruppe die interaktive Bedeutung eines Barrens (Turngerät) durch die jeweils spezifische Nutzung zunächst als Ausstellungsobjekt, dann als Teil der Strukturierung des Interaktionsraums, als Anlehnungsmöglichkeit und schließlich situativ als Turngerät verändert; - für Eva-Maria Putzier, die beschreibt, wie ein Chemielehrer vor seiner Klasse ein Experiment durchführt und dabei auf seinem Experimentiertisch um den Aufbau herum einen stabilen Demonstrationsraum konstituiert und - für Birte Asmuß, die einen Ausschnitt aus einem Arbeitsmeeting analysiert, bei der zwei Manager unter Einsatz diverser technischer Arbeitsmit- Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 29 tel eines Notebooks, zu dem nur einer der Beteiligten Zugang hat, einer Beamer-Projektion, die beide sehen können, und diverser Texte, die beiden vorliegen, gemeinsam einen Strategietext für das Unternehmen entwerfen bzw. überarbeiten. Einen weiteren spezifischen und komplexen Fall der Nutzung, Mobilisierung und Konstitution von Raum stellen medial vermittelte (z.B. durch Sendung und Empfang „übertragene“) Räume dar. Medial vermittelte Räume verfügen über ein technologisches Arrangement, das nicht nur Distanzkommunikation und Übermittlung ermöglicht, sondern die laufende Interaktion im Dienste der Medialisierung „beeinträchtigt“. Dies führt unweigerlich zu der komplexen Frage: Wie wird der mediale Raum praxeologisch hergestellt und wie beeinflusst bzw. bedingt diese spezifische Herstellung die Interaktionsordnung (Heath/ Luff 1992, Luff/ Heath 2002)? Einer der Beiträge basiert auf solch einer Situation massenmedial übertragener Fernsehkommunikation. Zwar müssen sich die Beteiligten, die wir auf dem Bildschirm sehen, irgendwann face-to-face begegnet sein, aber die für die Analyse alleine mögliche Situation ist die der Sendung. Dies ist bei - Anja Stukenbrock der Fall, die einen Ausschnitt aus einer Kochsendung mit zwei Beteiligten, der Köchin und ihrem Gast, analysiert, bei der der Gast eine Möglichkeit finden muss, für die Zuschauer im Studio und an den Fernsehgeräten im Rahmen der Kochsendung eine interessante und unterhaltsame Beteiligungsrolle zu organisieren. Schließlich haben wir eine weitere Situation, die auf einer massenmedialen Sendung beruht, in der ebenfalls Personen auftreten, die aber dabei nicht sichtbar, sondern nur hörbar sind. Dies gilt - für Maija Hirvonen/ LiisaTiittula, die den Beginn eines Hörfilms, der für Blinde und Sehbehinderte hergestellt worden und mit einer so genannten Audiodeskription ausgestattet ist, auf seine Raumkonstitution hin analysieren. In der Audiodeskription werden relevante Informationen - unter anderem auch Raum in seiner vielfältigen Ressourcenaspektualität -, die im Film in gewisser Weise zu „sehen“ sind, verbalisiert. Betrachtet man diese Situationen unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Bereichsspezifik, dann wird deutlich, dass sie in einem gewissen Rahmen alle aus dem Feld professionellen Handelns stammen. Wir haben unseren empirischen Analysen also Arbeitsbzw. Ausbildungskontexte und Ergebnisse professionellen Handelns zugrunde gelegt. Solche Kontexte offerieren oft kom- Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 30 plexe materielle Umgebungen mit Objekten, Artefakten, Dokumenten, Whiteboards und Technologien, die die Beschäftigung mit der Frage nach der Komplexität räumlicher Ressourcen befördern bzw. erzwingen. Die analysierten Situationen bilden ein breites Spektrum von Teilnehmerkonstellationen ab. Sie repräsentieren sowohl Interaktionsdyaden (Asmuß, Stukenbrock mit formatbedingten Einschränkungen) als auch kleine Mehrpersonenkonstellationen (Schmitt, Hausendorf, Kesselheim) sowie größere Multi- Party-Konstellationen (Putzier, Mondada, Pitsch). Diese Konstellationen weisen in unterschiedlicher Deutlichkeit organisationsstrukturelle Vorstrukturierungen auf. Für die Umgestaltung des Seminarraumes für die Kinovorführung in der Universität (Hausendorf) gelten grundsätzlich egalitäre Beteiligungsmöglichkeiten. Für den Chemieunterricht (Putzier), die Konzeptvermittlung am Filmset (Schmitt), die Arbeitsbesprechung (Asmuß), die Bürgerversammlung (Mondada) und die beiden Ausstellungsbesuche (Kesselheim und Pitsch) liegen hingegen Interaktionsstrukturen mit klarer Funktionsverteilung und klaren Zuständigkeiten bzw. Pflichten vor. Hier gibt es jeweils eine Fokusperson, die im Mittelpunkt des Ereignisses steht und auf die sich die anderen Beteiligten kontinuierlich beziehen. Bei der Kochsendung (Stukenbrock) überlagern sich die grundsätzlich ungleichen Beteiligungsmöglichkeiten der Köchin und ihres Gastes mit denen der Macher der Sendung, die über Kameraperspektive, die Dauer einer Einstellung und die Sichtbarkeit der beiden Protagonisten entscheiden. Auch hinsichtlich der dokumentierten Typen architektonischer Räume und der damit zusammenhängenden Ausstattung und Begehbarkeit bilden die Beiträge ein breites Spektrum ab. Hier haben wir es mit drei verschiedenen prototypischen Räumen zu tun: Wir haben Innenräume mit einer klaren Begrenzung bzw. Umbauung wie beim Klassenzimmer (Putzier), beim Meeting- Raum (Asmuß), beim Begegnungsraum der Bürgerversammlung (Mondada). Diese Räume sind für den Typus von Interaktion, der in ihnen dokumentiert wurde, institutionell hergerichtet. Mit diesen Räumen sind zudem bestimmte Präsenzformen verbunden: Der Chemielehrer steht oder bewegt sich in den begehbaren Bereichen, die Schüler sitzen; die beiden Manager sitzen an ihren Tischen; der Leiter der Bürgerversammlung steht und bewegt sich im Raum, währende die Teilnehmer/ innen an verschiedenen Tischgruppen sitzen. Wir haben Räume, die über Öffnungen bzw. Erweiterungen verfügen, die von den Interaktionsbeteiligten ebenfalls genutzt werden können. Dies gilt für den Seminarraum (Hausendorf), dessen Tür offen steht, und für die Kochsen- Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation 31 dung (Stukenbrock), in der sich die Protagonistinnen zuweilen auch direkt an die Zuschauer wenden und die Bildregie entscheidet, ob diese im Studio anwesenden Zuschauer sichtbar sind oder nicht. Darüber hinaus haben wir komplexere Innenräume, in denen sich die Interaktionsbeteiligten eigenständig bewegen können bzw. entscheiden können, ob und wann sie vorhandene Rast- und Ruhegelegenheiten nutzen wollen. Dies gilt für die Ausstellungsräume, die ausschließlich auf Begehung ausgerichtet sind (Pitsch) oder auch andere Präsenzformen wie Sitzen anbieten (Kesselheim). Schließlich haben wir mit dem Außendreh des Filmsets (Schmitt) einen nichtumbauten Raum, der prinzipiell offen und hinsichtlich seiner set-bezogenen Begrenzung unsicher ist. Man weiß nicht genau, wo das Set als hergerichteter Ausschnitt der Straße wirklich aufhört. Dieser Raum ist hinsichtlich seiner Nutzung und den damit verbundenen Präsenzformen weitaus flexibler als die umbauten Räume (ein anschauliches „Negativbeispiel“ also für die Evidenz architektonisch manifestierter räumlicher Ressourcen). Schließlich unterscheiden sich die Räume, die in den Fallanalysen untersucht werden, auch hinsichtlich ihrer konkreten Ausstattung und deren Relevanz für das Interaktionsgeschehen. In allen Situationen (abgesehen vom Hörfilm) spielen Gegenstände als Teil der innenräumlichen Ausstattung und deren Nutzung eine Rolle. Die Begehbarkeit der Räume, die über die Herstellung freier Flächen ermöglicht wird, ist für die Beteiligten je nach Beteiligungsrolle sehr unterschiedlich. Gleiches gilt auch für die Zugänglichkeit und Nutzung der im Raum befindlichen Gegenstände. Die Stühle und Tische des Seminarraums (Hausendorf ) sind für alle Anwesenden prinzipiell gleichermaßen zugänglich. Die Teilnehmer(innen) der Bürgerversammlung (Mondada) hingegen haben ihre Unterlagen und Schreibutensilien auf ihren Tischen liegen, an denen sie sitzen, der Zugang zu den Tafeln und dem Flipchart, an denen sich der Stand der Versammlung dokumentiert, ist jedoch primär/ exklusiv dem Versammlungsleiter vorbehalten. Beim Chemieunterricht (Putzier) sind die Nutzung und der Einsatz der für das Experiment notwendigen Geräte und Substanzen ausschließlich dem Lehrer vorbehalten. Auch die Nutzung und der Einsatz der diversen technischen Hilfsmittel bei der Arbeitsbesprechung (Asmuß ) ist einseitig geregelt und reflektiert die zwischen den beiden Beteiligten bestehende hierarchische Beziehung: Der Untergeordnete bedient das Notebook! Bei der Kochsendung (Stukenbrock) obliegt der Zugang zu den formatspezifischen Utensilien ebenfalls Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt 32 einseitig der Köchin, wohingegen der Gast sich seine Objekte, mit denen er etwas machen kann, selbst suchen muss bzw. auf Anweisung der Köchin handhabt. Bei den beiden Ausstellungsräumen (Kesselheim, Pitsch) sind die Objekte primär zur Betrachtung da, wobei man vor allem beim Barren (Pitsch) sehen kann, dass die Besucher die Benutzbarkeitshinweise des Barrens als Ausstellungsobjekt durch eigene Herstellungsleistungen erkennbar erweitern. Beim Filmset (Schmitt) schließlich ist zu sehen, dass die Begehung und Benutzung der freien Fläche in Abstimmung mit anderen Anwesenden koordiniert werden muss, wobei es auch hier eine Fokusperson gibt, welche die Raumnutzung initiiert und für die anderen Beteiligten strukturiert. Alle diese Räume sind zudem geschaffen, vorstrukturiert und von den Beteiligten in situ hergestellt zur Abwicklung sehr unterschiedlicher Formen des sozialen Austauschs und zur Lösung sehr unterschiedlicher interaktiver Probleme. Abhängig von den praktischen Zwecken der Interaktion werden räumliche Aspekte auf sehr unterschiedlichen Niveaus und in sehr unterschiedlicher Art genutzt. Die von uns zusammengestellten Fälle belegen - das sollte diese Skizze zeigen - unterschiedliche Dimensionen und vielfältige Aspekte räumlicher Ressourcen für die Interaktion. Beim aktuellen Entwicklungsstand raumbezogener Interaktionsanalysen halten wir es für besonders wichtig, die grundlegende Bedeutung von Raum für die Interaktionskonstitution auf der Grundlage möglichst vielfältiger und unterschiedlicher Situationen und Konstellationen zu verdeutlichen. Nur so ist es möglich, den fallspezifischen Einsatz von Raum als Ressource zu demonstrieren und gleichzeitig die falltranszendierende Relevanz zentraler allgemeiner Aspekte der interaktionskonstitutiven Nutzung räumlicher Ressourcen zu verdeutlichen. 4. Literatur Bergman, Pia/ Brenning, Jana/ Pfeiffer, Martin (i.Dr.): Interaction and usage-based grammar theories: What about prosody and visual signals? Berlin. Bergmann, Jörg R. (1993): Alarmiertes Verstehen: Kommunikation in Feuerwehrnotrufen. 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Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset: Das Konzept ‘Interaktionsensemble’ 1 1. Einleitung: Interaktive Beteiligung Der Beitrag beschäftigt sich auf der Grundlage einer Einzelfallanalyse mit der Frage, wie Personen erkennbar machen, dass sie an einer Interaktion beteiligt sind. Die Frage, wer auf welche Weise und mit welchen Rechten und Pflichten an einer Interaktion teilnimmt/ teilnehmen darf, und woran dies die Beteiligten und der Analytiker erkennen, gehört zu den etablierten Fragestellungen der Interaktionsanalyse. Im vorliegenden Beitrag wende ich mich diesem Thema mit einem spezifischen Erkenntnisinteresse zu: Mich interessiert, wie Personen, die über eine längere Phase keinen verbalen Beitrag zur Interaktion leisten, verdeutlichen, dass sie sich ungeachtet ihrer verbalen Abstinenz als Teil der laufenden Interaktion verstehen und verhalten. Oder, um es im Vorgriff auf spätere konzeptuelle Überlegungen zu formulieren: Dass sie Mitglieder/ Beteiligte eines Interaktionsensembles sind, ohne sich verbal an dessen Konstitution zu beteiligen. Im Zentrum meines Erkenntnisinteresses steht die Frage nach den Ressourcen, die von den verbal abstinenten Interaktionsbeteiligten eingesetzt werden, um zu verdeutlichen, dass sie an einer laufenden Interaktion teilnehmen und die Frage nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Beteiligungsformaten, die sie dabei produzieren. Da meine Analysen und die späteren konzeptuellen Überlegungen einen etablierten interaktionsanalytischen Aspekt betreffen, werde ich mich zunächst auf die Suche nach relevanten Bezugspunkten für meine Überlegungen begeben (Kap. 2). Im Anschluss werde ich den für die Analyse ausgewählten Videoausschnitt beschreiben (Kap. 3) und mich im analytischen Teil auf die Rekonstruktion der interaktiven Partizipation zweier verbal abstinenter Beteiligter konzentrieren (Kap. 4). Als zentrales fallspezifisches Ergebnis werde ich zwei unterschiedliche Formate körperlich-räumlicher Beteiligung rekonstruieren (Kap. 5). Aufbauend auf diesen Aspekten werde ich dann Grundzüge des Konzeptes ‘Interaktionsensemble’ skizzieren, das die Integration verbal aktiver und verbal abstinenter Beteiligungsweisen ermöglicht (Kap. 6), und anschlie- 1 Mein Dank gilt Patrizia Kühner und Sören Reinhardt für editorielle Unterstützung. Lorenza Mondada und Heiko Hausendorf danke ich für kritische Anmerkungen zu Vorgängerversionen dieses Beitrags. Reinhold Schmitt 38 ßend die Stabilität des analysierten Interaktionsensembles im Rahmen einer ‘konstellativen Dynamik’ verdeutlichen (Kap. 7). Der Beitrag endet mit einem Ausblick auf offene Fragen (Kap. 8). 2. Relevante Bezugspunkte Bei der Sichtung bislang entwickelter Vorstellungen geht es nicht um eine umfassende Diskussion der Ansätze und auch nicht um eine detaillierte Beschreibung ausdifferenzierter Kategorieninventare. Ich konzentriere mich vielmehr auf zentrale Fragen, die sich hinsichtlich meiner eigenen Daten stellen. Diese Fragen betreffen vor allem: a) die Differenzierungskriterien, die den jeweiligen Konzeptionen zugrunde liegen, b) die interaktive Einheit, für die die formulierten Kategorien gelten (Turnversus Ereignisbezug), c) das methodische Verfahren der Kategorienentwicklung (empirisch fundiert versus deduktiv entwickelt) und d) den Geltungsbereich der Konzeption (welche Formen interaktiver Beteiligung in welchen Situationen sollen erfasst werden). 2.1 Sprecher-Hörer in der Konversationsanalyse Alle Entwürfe zur interaktiven Beteiligung basieren auf den von der Konversationsanalyse als zentral ausgewiesenen Kategorien ‘Sprecher’ und ‘Hörer’ und stellen differenzierende Ausarbeitungen dieser Basiskategorien dar. Sprecher und Hörer verweisen im Rahmen eines auf verbale Kommunikation fokussierten Ansatzes auf basale Positionen des Mechanismus (der ‘machinery’) der Interaktionskonstitution. Nur dann, wenn sich Beteiligte in sozial geregelter Weise in der Ausfüllung dieser Basiskategorien abwechseln, kann man in einem ernsthaften Sinne von Interaktion bzw. von ‘conversation’ sprechen. Der Wechsel von Sprecher- und Hörerrolle ist das zentrale Definitionskriterium für ‘conversation’ bzw. ‘talk-in-interaction’ und findet im ‘turn taking’ seinen gegenstandskonstitutiven Status (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). Für die Regelhaftigkeit des Sprecherwechsels und der Systematik simultanen Sprechens spielt die Frage danach, ob der Sprecher etwa legitimer Beteiligter der Interaktion ist oder welchen Status er innerhalb der Interaktion besitzt, jenseits der Differenzierung eines ‘current’ oder durch die Turn-taking-Organisation ‘ratified speakers’ keine zentrale Rolle. Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 39 2.2 ‘Footing’ Goffman (1981) formuliert zuerst die Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung der Konzepte von Sprecher und Hörer in seinem Aufsatz Footing. 2 Er definiert seine allgemeine Absicht der Differenzierung der zu globalen Kategorien als „composing them into smaller, analytically coherent elements“ (ebd., S. 129) und unterscheidet dabei als übergeordneten Beschreibungsrahmen ‘production format’ (für die Sprecherseite) und ‘participation framework’ (für die Hörerseite). Für den weiteren Argumentationsgang werde ich mich ausschließlich auf die von ihm vorgeschlagene Differenzierung beziehen, die er unter dem Stichwort ‘participation framework’ für verbal nicht aktive Beteiligte vorgeschlagen hat. Fragt man nach den Kriterien, die der Ausdifferenzierung zugrunde liegen, gelangt man zunächst zu dem Aspekt der ‘Legitimität’, mit der Beteiligte beim „ process of auditing“ (ebd., S. 131) aktiv sind. Dieser auf den Status der Beteiligung bezogene Aspekt führt zur Differenzierung von ‘ratified participant’ und ‘not official participants’. Charakteristische Qualitäten der letzten Kategorie lassen sich dann beispielsweise mit ‘eavesdroppping’ und ‘overhearing’ benennen. Unter Bedingungen wechselseitiger visueller Wahrnehmung lassen sich diese auch als ‘bystanders’ bezeichnen. Mit dieser letzten Kategorie ist der Wechsel von einer fokussierten Interaktion hin zum globaleren Rahmen einer sozialen Situation verbunden. Im Weiteren sind interaktionstypologische Aspekte dafür verantwortlich, dass Goffman den Begriff ‘audience’ als rezeptives Gegenstück zum ‘actor’ einführt. ‘Audience’ fasst Hörer in öffentlichen Reden oder in technisch vermittelten Ereignissen wie Radiosendungen. Für Mitglieder des ‘audience’ ist nicht vorgesehen, dass sie selbst das Wort ergreifen. Als weiteres Unterscheidungskriterium des ‘participation framework’ fungiert bei Goffman die Zuschreibung, die der Sprecher hinsichtlich seiner Hörer realisiert. Unterschieden wird dabei zwischen ‘unaddressed’ und ‘addressed participants’. ‘Addressed participant’ ist derjenige, „to whom the speaker addresses his visual attention and to whom, incidentally, he expects to turn over the speaking role“ (ebd., S. 133). Goffmans Ausführungen sind nicht empirisch fundiert, sondern erwachsen allgemeinen Überlegungen und der genauen Beobachtung sozialer Realität. 2 Er tut dies nicht in Bezug auf die konversationsanalytischen Kategorien, sondern hat die alltagsweltliche Vorstellung von Sprecher und Hörer vor Augen: Goffman (1981, S. 129) spricht von „global folk categories (like speaker and hearer)“. Reinhold Schmitt 40 Er legt zudem nicht konsequent dar, was die Interaktionseinheiten sind, auf die sich die Kategorien beziehen, sondern wechselt zwischen einzelnen Interaktionsbeiträgen und komplexen Interaktionsereignissen. 2.3 ‘Participant role’ Goffmans Überlegungen wurden von Levinson (1988) unter dem Begriff ‘participant role’ weiter ausgearbeitet. Die Kritik, Goffmans Vorschläge seien unempirisch, wird zwar auch von Levinson gesehen, gleichzeitig betont er jedoch explizit das Potenzial der ersten Schritte Goffmans in Richtung einer allgemeinen Konzeptualisierung grundlegender interaktiver Beteiligungsweisen. Levinson expliziert die von ihm ausdifferenzierten Kategorien interaktiver Beteiligungsweisen zwar auf der Grundlage konkreter Beispiele, zieht damit also die Konsequenzen aus seiner Kritik an Goffmans Empirielosigkeit. Die von Levinson selbst eingesetzten Transkripte haben jedoch in erster Linie demonstrative Funktion. Sie dienen primär dem Nachweis der Angemessenheit des kategorial ausdifferenzierten Instrumentariums. Zudem geht Levinson bei der Definition des Geltungsbereichs von Goffmans Überlegungen zur multimodal konstituierten Beteiligungsweise, wieder einen Schritt zurück und bezieht seine Ausführungen explizit nur auf verbale Interaktion (Levinson 1988, S. 192). Levinsons ‘participant roles’ sind bezogen auf einzelne verbale Beiträge (‘utterance event’) bzw. resultieren aus Implikationen derselben. Daher ist er nicht daran interessiert, Angaben zu machen, wie die Teilnehmerkategorien im interaktiven Zusammenspiel der Beteiligten etabliert, aufrecht erhalten und gegebenenfalls auch verändert werden. Levinson entwickelt einen differenzierten Kategorienapparat zur Beschreibung interaktiver Teilhabe. Das methodische Instrumentarium zur empirischen Rekonstruktion des Konstitutionsprozesses, der zur interaktiven Relevanz dieser Kategorien führt, bleibt jedoch im Dunklen. 2.4 ‘Audience diversity’ In seinem Aufsatz Audience diversity, participation and interpretation differenziert Goodwin (1986) die Zuhörer eines Erzählers auf der Grundlage einer Vorstellung von ‘attention structure’. Diese Aufmerksamkeitsstruktur wird primär im unterschiedlichen Zugang der Zuhörer zur erzählten Geschichte und ihrer sozialen und kulturellen Haltung der Thematik gegenüber verankert. Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 41 Anders als bei Goffman und Levinson ist sein Versuch, einen methodischen Zugang zur interaktiven Herstellung und Herausbildung unterschiedlicher Partizipationsformen der Zuhörer zu eröffnen, empirisch begründet. Goodwin stellt seine Differenzierungen auf eine interaktionistische Basis: Die Beteiligungsformate werden als gemeinsam hergestellt konzeptualisiert, wodurch eine latente Sprecherdominanz vermieden wird. Goodwin (1981, S. 284) formuliert sein Hauptanliegen wie folgt: The main phenomena to be examined are how the structure of the talk in progress can shape its audience and, reciprocally, how the audience, through its interpretative work and use of the available participation structures, shapes what is to be made of the talk. Es geht darum, die Möglichkeiten, die Beteiligten einer ‘Multi-Party-Situation’ besitzen, als ‘audience’ aktiv zu werden, zum Gegenstand der Analyse zu machen. Zum einen wird dabei rekonstruiert, mit welchen primär verbalen Verfahren der Erzähler der Geschichte selbst seine Zuhörer differenziert (dies führt zur Unterscheidung von ‘focal recipent’ = derjenige Zuhörer, der aufgrund seines Zugangs zur Thematik unter den ‘principle recipients’ herausgehoben wird; ‘principal recipient’ = Zuhörer, auf den sich der Sprecher primär (auch körperlich-blicklich) orientiert und ‘non-engrossed recipients’ = Zuhörer, die durch Themenwahl und/ oder Erzählstil nicht primär angesprochen werden). Zum anderen werden Verfahren beschrieben, mit denen sich Beteiligte selbstbestimmt als Teil der ‘non-engrossed recipients’ durch die Spezifik ihrer räumlichen Orientierung zu den ‘principal recipients’ definieren: Eine Frau sitzt zwar mit am Tisch, hat den Männern, die schmutzige Witze erzählen, jedoch den Rücken zugewandt. Goodwin fokussiert ‘Multi-Party-Situationen’, bei denen verbale Aktivitäten, wie „eine Geschichte erzählen“, im Zentrum stehen. Die unterschiedliche eigene Betroffenheit ermöglichen neben Partizipationszuschreibungen des Sprechers selbstbestimmte, von der verbalen Kernaktivität unabhängige Beteiligungsweisen der Zuhörer. Diese werden dann auch nicht mehr (nur) in ihrem Bezug zur verbalen Aktivität analysiert. Sie verlangen vielmehr einen eigenständigen methodischen Zugang. Goodwins Konzeption weist einen klaren Ereignisbezug auf, fokussiert also Beteiligungsweisen, die über einen längeren Zeitraum stabil bzw. erkennbar sind. ‘Attention structure’ lässt grundsätzlich die Erweiterung in Richtung sozialstruktureller Verankerung zu. Hierdurch wird es möglich, Partizipationsprofile interaktionstranszendierend zu definieren. Im Kontext allgemeiner Überlegungen zum Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur eröffnet ‘attention Reinhold Schmitt 42 structure’ die methodisch kontrollierte Verknüpfung sprachbzw. interaktionsstruktureller Phänomene mit abstrakteren und übergeordneten Strukturen sozialer Realität (siehe die nachfolgenden Analysen). Goodwins Entwurf zeigt die Notwendigkeit, bei der Differenzierung interaktiver Beteiligung wesentlich stärker als er das selbst aufgrund der Materialspezifik getan hat, die durch verbale Abstinenz konstituierten Beteiligungsweisen zu fokussieren. Im multimodalen Erkenntniszusammenhang geht es auch um deren verfahrensmäßigen Grundlagen. Diese sind mit der gleichen methodischen Sorgfalt zu rekonstruieren wie verbale Beteiligungsformen. 2.5 ‘Participation’ Die Relevanz des Aufsatzes „Participation“ von Goodwin/ Goodwin (2004) steckt primär in den methodologischen Bemerkungen. Der zentrale Aspekt ist dabei die Betonung der multimodalen Konstitutionsgrundlage jeglicher Form interaktiver Beteiligung. Die Autoren ziehen daraus die Konsequenz, dass vor allem die Analyse von Multi-Party-Situationen mit nicht rein verbalen Grundlagen für die Untersuchung unterschiedlicher Formen interaktiver Beteiligung und der dabei eingesetzten Ressourcen und Verfahren notwendig ist. Most simple, many of the phenomena relevant to the study of participation as action will be rendered invisible or lost if analysis focuses exclusively on the talk or texts of speakers. (Goodwin/ Goodwin 2004, S. 227) Es ist vor allem die Fokussierung auf die Verfahren, mit denen interaktive Beteiligung als eine jeweils spezifische angezeigt wird, im Gegensatz zur Anwendung deduktiver Begrifflichkeit, die die Konzeption von ‘participation’ von Goodwin/ Goodwin (2004) zu einem wesentlichen Bezugspunkt macht. Die Autoren formulieren dies wie folgt (ebd., S. 225): We now want to explore a somewhat different notion of participation, one focused not on the categorical elaboration of different possible kinds of participation, but instead on the description and analysis of the practices through which different kinds of parties build action together by participating in structured ways in the event that constitute a state of talk. Ich schließe mich dieser grundlegenden Gegenstandsbestimmung an, nehme aber eine kleine, jedoch entscheidende Modifikation vor. Wenn man den zentralen Bezugspunkt nicht in der Konstitution eines ‘state of talk’, sondern in einem praxeologischen Handlungszusammenhang sieht, hat man die Tür geöffnet in den Bereich sozialer Situationen, in denen ‘talk’ nicht mehr den eigentlichen Zweck, sondern eher Mittel der Zweckrealisierung darstellt. Dies Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 43 sind Situationen (wie das Filmset), in denen in erster Linie in zielbezogener und produktorientierter Weise gemeinsam gearbeitet und dabei auch kommuniziert wird. Aufgrund der organisationsstrukturellen Grundlagen (wie etwa eine detaillierte Funktionsrollendifferenzierung und klar festgelegte Hierarchiestrukturen) realisieren die Beteiligten in solchen Situationen viele Aspekte ihrer interaktiven Partizipation in der normalformspezifischen Ausgestaltung ihrer professionellen Rolle. Diese ist für die Beteiligten untrennbar mit der Strukturierung ihres eigenen Verhaltens, der Koordinierung mit dem Verhalten anderer und der Interpretation und dem Verstehen der Handlungen anderer verbunden. Die Funktionsrollendifferenzierung als Ausdruck grundlegender organisationsstruktureller Bedingungen muss daher bei der analytischen Rekonstruktion von Partizipationsformaten in solchen Kontexten berücksichtigt werden. Der systematische Zusammenhang beispielsweise von Beteiligungsformat und Funktionsrolle muss in professionsspezifischen und praxeologischen Kontexten als wesentliche Grundlage für die Spezifik der „attention structure“ (Goodwin 1986) gesehen werden. Nur dann ist es möglich, die volle Varianz der Verfahren zu erfassen, die eine spezifische interaktive Beteiligung konstituieren. Und nur dann kann ein multimodales Verhalten überhaupt als Ausdruck einer spezifischen Form interaktiver Beteiligungsweise in den Blick genommen werden. 2.6 Verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung Ein weiterer Bezugspunkt stellt der Aufsatz von Heidtmann/ Föh (2007) zur „verbalen Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung“ dar. Er liegt hinsichtlich seiner thematischen Fokussierung meinem eigenen Erkenntnisinteresse sehr nah. Die Autorinnen machen sich die Rekonstruktion der verbalen Abstinenz eines studentischen Teammitglieds während einer längeren Phase der gemeinsamen Stoffentwicklung in einem Pitching (Heidtmann 2009) als spezifische Form interaktiver Beteiligung zur Aufgabe. Sie zeigen, dass ein Student nicht nur kontinuierlich den verbalen Ausführungen zweier Teammitglieder folgt, sondern mimisch, blicklich, gestikulatorisch und durch Veränderungen seiner Sitzposition darauf reagiert. Im Laufe seiner Reaktion kommt seine Kritik und Ablehnung des entwickelten Vorschlags immer deutlicher zum Ausdruck und kann qualifiziert werden. Die Konzentration auf die multimodalen Verfahren der Herstellung des spezifischen Beteiligungsformats stellt für mich einen wichtigen Orientierungspunkt dar. Reinhold Schmitt 44 2.7 Resümee Die zurückliegende Sichtung vorliegender Arbeiten zur Frage interaktiver Beteiligung hat zum einen deutlich gemacht, dass das spezifische Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrags an den hörerbezogenen Konzeptionen ansetzt. Es wurde auch deutlich, wo der vorliegende Beitrag über bereits vorliegende Ausarbeitungen hinaus geht und dass es primär die Materialspezifik ist, die dies ermöglicht bzw. erfordert: Auf der Basis eines audiovisuellen Interaktionsdokumentes einer zielbezogenen Gruppeninteraktion fokussiert er die körperlich-räumlichen Ressourcen, die von verbal nicht Aktiven eingesetzt werden, um ihre aktive Beteiligung an der laufenden Interaktion zu organisieren und zu verdeutlichen. Zentrale Ausgangspunkte sind dabei folgende Annahmen: Zum einen ist verbale Abstinenz eine Form interaktiver Beteiligung, zum anderen koordinieren verbal abstinente Beteiligte ihre interaktive Präsenzform genau so kontinuierlich, situationssensitiv und methodisch mit ihren Interaktionspartnern wie verbal aktive Beteiligte. 3. Der Ausschnitt Die körperlich-räumlichen Grundlagen interaktiver Beteiligung zweier verbal abstinenter Beteiligten werden auf der Grundlage eines Videoausschnitts aus einem Korpus von Aufnahmen unterschiedlicher Filmsets analysiert. 3 Thematisch geht es bei dem Ausschnitt um die Vorbesprechung einer Szene. Die verbalen Aktivitäten werden getragen vom Regisseur und einem Schauspieler (Spielrolle: Sohn). In der Szene, die in dem Ausschnitt besprochen wird, folgt der Sohn seinem Vater - der voller Wut den Gemüseladen verlässt, den die Familie gemeinsam betreibt - über die Straße. Der Vater übersieht den herannahenden VW -Bus von Korda, dem Freund des Sohnes. Der Sohn versucht noch seinen Vater vor dem Wagen zu warnen: jedoch zu spät! Der Vater wird von Korda überfahren (und stirbt an den Folgen des Unfalls). Der Regisseur ist darauf konzentriert, dem einen Schauspieler (Sohn) zu verdeutlichen, wie er diese Szene spielen soll. Es geht also um eine „Konzeptvermittlung“ (Schmitt 2010), bei der der Regisseur dem Schauspieler seine Vorstellungen hinsichtlich des Alignments von Sprechtext, Bewegung im Raum, Dynamik der Bewegung, Blickorganisation, Körperorientierung, Stand, Mimik etc. vermittelt. Den Ausführungen des Regisseurs folgen jedoch nicht nur 3 Die Interaktion am Filmset ist mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse analysiert in Schmitt (2007a): Strukturen des Arbeitsplatzes, Schmitt/ Deppermann (2007): Transitionen als Situationseröffnungen und Schmitt (2010): Verstehensdokumentationen. Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 45 der Sohn, sondern auf unterschiedliche Weise ein zweiter Schauspieler (Spielrolle: Vater) und die Assistentin des Regisseurs. „Folgen“ ist dabei - wie die Analysen zeigen werden - in einem zumindest doppelten Sinne zu verstehen: einerseits als Verweis auf die Aufmerksamkeitsorientierung der beiden und andererseits auf deren räumliches Verhalten. Es gibt also eine verbale Interaktionsdyade, bestehend aus dem Regisseur und dem von ihm adressierten Schauspieler (Sohn). Ferner gibt es den zweiten Schauspieler (Vater) und die Regieassistentin, die der gesamten Konzeptvermittlung verbal abstinent folgen. Der Vater und die Assistentin symbolisieren dabei ihre interaktive Beteiligung ausschließlich körperlich und raumbezogen. Der Ausschnitt ist gerade wegen dieser interaktionstypologischen Spezifik gut geeignet, unterschiedliche Formen interaktiver Beteiligung zu analysieren und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede verbaler Abstinenz als interaktives Beteiligungsformat zu fokussieren. Obwohl die verbale Konzeptvermittlung nicht der zentrale Analysefokus ist, stellt sie den einzigen Bezugsrahmen dar, auf den hin die Spezifik der Beteiligungsweise der verbal abstinenten Teilnehmer bezogen werden kann. Ohne das verbale Geschehen zwischen Regisseur und Sohn würde es das Verhalten der Assistentin und des Vaters nicht geben. Um das körperlich-räumliche Verhalten der beiden verbal Abstinenten als Ausdruck ihres besonderen Beitrags zur Interaktionskonstitution rekonstruieren zu können, muss dieses in seinem koordinativen Bezug auf die thematisch-pragmatische Entwicklung und die zeitliche Struktur der Konzeptvermittlung analysiert werden. Nur so kann die Form der verbalen Abstinenz als jeweils spezifische Verstehensdokumentation (Deppermann 2008, Deppermann/ Schmitt 2009, Schmitt 2010) und als Ausdruck ihrer jeweiligen Online-Analyse (Dausendschön-Kraft 2000, 2002; Mondada 2006, 2007b; Schmitt i.Vorb. b) begriffen werden. 4. Die Fallanalyse Der Beginn des Ausschnitts (Bild 1) zeigt eine für einen Außendreh typische Momentaufnahme. Man sieht den Ausschnitt eines Straßenzugs mit Kopfsteinpflaster und sechs Personen, die den Vorder- und Hintergrund der rechten Bildhälfte ausfüllen. Weiterhin erkennt man eine Reihe setspezifischer Gegenstände: schwarze und weiße Blenden auf Stativen zur Ausleuchtung der Einstellung, diverse Rohrgestänge im Hintergrund, am rechten unteren Bildrand ist ein Stück einer Schienenstrecke zu sehen, die für eine Kamerafahrt Reinhold Schmitt 46 benötigt wird. Am linken Bildrand sind einige Kisten des Aufbaus eines Obst- und Gemüsestandes zu erkennen, der linke Vordergrund zeigt die Armlehnen des Regiestuhls, der vor dem (wegen des leichten Nieselregens) abgedeckten Videomonitor platziert ist. Requisiteurin Schauspieler Regieassistentin Aufnahmeleiter Regisseur Mitglied der Kameracrew Bild 1: Ausschnitt Filmset Die Personen sind mit unterschiedlichen Relevanzen beschäftigt: Der Regisseur und die beiden Schauspieler bewegen sich gemeinsam von links kommend auf einen freien Platz in der Mitte der abgesperrten Straße vor dem Schienenbereich zu. Sie waren zuvor zusammen etwas weiter links gestanden. Die Tatsache, dass beide Schauspieler der Bewegung und den verbalen Ausführungen des Regisseurs folgen, weist sie als zusammengehörig aus. Die Regieassistentin behält ihre bisherige Position bei. Sie bleibt mit leicht geöffneten Füßen und einem festen Stand an Ort und Stelle. Die Requisiteurin im Vordergrund ist zur rechten Straßenseite unterwegs, wo in einem Hauseingang Requisiten und eine Versorgungsstation untergebracht sind. Der Aufnahmeleiter ist ebenfalls nach rechts zum Gehsteig orientiert. Dort befindet sich der im Bild nicht sichtbare Wagen, auf den die Aufnahmekamera für die in der folgenden Szene benötigte Kamerafahrt montiert ist. Er hält das Videokabel in den Händen, das das Bild der Filmkamera auf den Videomoni- Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 47 tor projiziert. Am Monitor kann man überprüfen, wie der Ausschnitt und die Einstellung, welche die Kamera einfängt bzw. festlegt, schließlich aussehen wird. Der Regisseur und die beiden Schauspieler bewegen sich auf einen bereits existierenden Interaktionsraum der Kameracrew (dem Schienenbereich) zu. Wie die Analyse noch zeigen wird, hat dies für die Organisation der Konzeptvermittlung situative Auswirkungen. Um sich eine ansatzweise Vorstellung von den räumlichen Gegebenheiten am Set in dieser Situation zu verschaffen, ist eine Abbildung (Bild 2) aus einer zweiten Kameraperspektive instruktiv. Sie zeigt einen späteren Zeitpunkt der Konzeptvermittlung, bei der es zu einer Klärungssequenz zwischen dem Regisseur und dem Kameramann kommt. Man kann sehen, dass der Regisseur seine Leute in einen Bereich geführt hat, der einerseits durch die Schienen nach hinten, andererseits auch durch das Kabel, das quer über die Straße auf dem Kopfsteinpflaster liegt, nach vorne begrenzt wird. Er befindet sich genau in dem schmalen Bereich, in dem die folgende Szene gedreht werden wird. Es wird sich nachfolgend noch zeigen, welche Rolle dieser Bereich des Set-Territoriums für die gemeinsame Bearbeitung der aktuellen Aufgabe ‘Konzeptvermittlung’ spielt. 2 Reinhold Schmitt 48 4.1 Die Konzeptvermittlung 4.1.1 Segment 1 4 Mit dem ersten Schritt, den der Regisseur von seinem vorherigen Platz aus in Richtung Straßenmitte unternimmt, beginnt er zu sprechen. 01 RE: und in dem moMENT- 02 (1.6) 03 RE: kommst du ihm ja hinterher 04 ne? 05 SS: genau. (-) 06 RE: und dann werden wir dich an einen 07 bestimmten PUNKT bringen- 08 wo du STEHen bleibst- 09 (-) Der Regisseur (RE) adressiert den Schauspieler (SS, Sohn) im Kontext der bereits begonnenen Konzeptvermittlung (und in dem moMENT ) mit du. Die inhaltlich wichtige Mitteilung besteht in kommst du ihm ja hinterher, wobei diese durch die Äußerungsmodalisierung ja als geteiltes Wissen unterstellt wird. Interessant an dieser Äußerung des Regisseurs ist die Sprechpause von 1,6 Sekunden Dauer, die ohne erkennbare Formulierungsprobleme die Produktion der Äußerung aufschiebt. Die Funktionalität der Sprechpause besteht hier nicht in formulierungsstruktureller Hinsicht, sondern hat mit der adäquaten Herrichtung des für den weiteren Austausch funktionalen Interaktionsraums zu tun. 5 4 Die Transkription erfolgt in Anlehnung an Selting et al. (2009). 5 Mondada (2007a) hat bei Wegauskünften die Herstellung von Interaktionsräumen als notwendige Voraussetzung der interaktiven Zweckrealisierung systematisch untersucht. 3 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 49 01 RE: und in dem moMENT- 02 (1.6) Der Regisseur nutzt die Gesprächspause, um im Kontext der bereits etablierten verbalen Interaktion den Sohn und die anderen relevanten Personen gewissermaßen „hinter sich her zu ziehen“. Wollen diese nichts von der Konzeptvermittlung verpassen, müssen sie dem Regisseur folgen, der mit der Formulierung weiterer Information wartet, bis sich der Sohn und die anderen relevanten Personen in Richtung Straßenmitte vor die Schienen in Bewegung gesetzt haben. Er beendet dann die Sprechpause mit weiteren Ausführungen. 03 RE: komm st du ihm ja hinterher; 6 04 ne? 05 SS: genau. (-) Die Referenz ihm (Z. 03) bezieht sich auf den Vater. Dieser geht in der zu spielenden Szene von seinem Sohn weg in Richtung Straßenmitte. Durch diese Referenz wird der Vater zwar nicht aktiver Bestandteil der verbalen Interaktionsdyade, jedoch in einer für die Konstitution des Interaktionsraumes relevanten Weise thematisch. Er ist in der fraglichen Szene nicht nur Spielpartner des Sohnes, sondern wird für diesen als relevanter Bezugspunkt im Rahmen der Konzeptvermittlung referenziell vergegenwärtigt. Auch wenn sich der Regisseur nicht direkt an den Vater wendet, erhält dieser indirekt den Hinweis, dass auch er für die Konzeptvermittlung eine Rolle spielt. Der Vater ist also zu einem frühen Zeitpunkt in referenzieller Weise dazu aufgefordert, sich im Rahmen der Konzeptvermittlung vom Regisseur als durchaus mit-adressiert zu verstehen. 7 6 Die Zuordnung von Bild und Transkript erfolgt durch Fettmarkierung im Transkript. 7 Das Prinzip der Mit-Adressiertheit (Schmitt 2010) ist eine zentrale Grundlage der verbalen Kooperation am Set. Es entlastet den Regisseur von den expliziten Adressierungen 4 Reinhold Schmitt 50 Wie Bild 4 verdeutlicht, hat sich der Regisseur seit Beginn seiner Äußerung so weit nach rechts bewegt, dass er, während er kommst äußert, nicht mehr zu sehen ist. Neben dem Sohn haben sich auch der Vater und die Regieassistentin in Bewegung gesetzt. Der Vater hat sich inzwischen nach rechts gedreht, ohne seine vorherige Position zu verlassen. Sein Kopf deutet in die Richtung, wo der der Regisseur inzwischen steht. Die Regieassistentin hat sich ebenfalls nach rechts gedreht und folgt mit dieser Körperdrehung ebenfalls dem Regisseur. Man sieht sie mit angewinkeltem rechtem Bein in Bewegung, den Regieplan zugeklappt, den sie aber unverändert in der rechten Hand hält. Hinsichtlich der unterschiedlichen Dimensionen, die bei einer Rekonstruktion raumbezogener Relevanzen - nicht nur in diesem Ausschnitt, sondern prinzipiell - am Filmset eine Rolle spielen, ist folgender Hinweis wichtig: Die Ausführungen des Regisseurs erfolgen zwar im aktuellen gemeinsamen Interaktionsraum, den die Vierergruppe inzwischen in der Straßenmitte eingenommen hat. Sie beziehen sich jedoch nicht auf konkrete Punkte der objektiv-physikalischer Beschaffenheit dieses Bereichs des Territoriums. Vielmehr sind sie auf den Szenenraum ausgerichtet, in dem die Einstellung später gedreht werden wird. Dies gilt für alle raumbezogenen gestikulatorischen und verbalen Hinweise des Regisseurs im Rahmen der analysierten Konzeptvermittlung. Die räumlichen Verortungen im physikalischen Territorium des Sets sind eher diffus und unpräzise. Verweise auf konkrete, identifizierbare Punkte im physikalischen Raum spielen in diesem Zusammenhang keine Rolle. Der Regisseur schließt seine Äußerung mit der ‘tag question’ ne? ab. Diese etabliert für den Schauspieler eine konditionelle Relevanz, für die aufgrund der vorangegangenen Äußerungsmodalisierung ( ja) eine positive Zustimmung präferiert ist. Der Schauspieler antwortet mit genau. und bearbeitet seine Reaktionsverpflichtung in präferierter Weise. Bild 5 zeigt das Geschehen in der kurzen Pause (-) in Zeile 05 nach der Antwort des Schauspielers (genau.). Der Sohn ist inzwischen bei dem etwas breitbeinig stehenden Regisseur angekommen, der mit ausgestreckter rechter Hand nach rechts in die Richtung deutet, von wo aus der Sohn seinem Vater in der nächsten Szene hinterher kommen soll. Der Schauspieler folgt der ausgestreckten Hand mit seinem Blick, wobei sein Kopf leicht nach vorne gebeugt ist. aller potenziell Angesprochenen, indem es die Verantwortung auf bestimmte Zuhörende verlagert, sich mit-adressiert zu fühlen - und sich dementsprechend zu verhalten. Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 51 04 RE: ne? 05 SS: genau. (-) Der Vater verharrt in seiner ursprünglichen Position: Er steht dort mit festem Stand und paralleler Fußstellung und verfolgt das Geschehen zwischen Regisseur und Sohn mit seinem Blick. Er befindet sich in Hörweite und kann dementsprechend der Entwicklung des Gesprächs genau folgen. Dass er trotz seiner anfänglichen Orientierung, dem Regisseur nicht nur verbal, sondern auch räumlich zu folgen, in diesem Bild relativ entfernt von Regisseur und Sohn steht, ist einer raumdynamischen Kontingenz geschuldet. Die Requisiteurin ist, um die Bewegungsrichtung des Regisseurs nicht zu kreuzen, links hinter ihm abgebogen und hat so die Vierergruppe gewissermaßen halbiert. Der Vater befindet sich in einer Monitoring-Haltung, aus der heraus er dem Geschehen sowohl auditiv als auch visuell folgen kann. Er drückt diese Monitoring-Haltung gleichzeitig als relevantes Verhaltensdisplay aus, wobei seine statische Positur und die angelegten Arme einen konzentrierten Eindruck vermitteln. Es ist davon auszugehen, dass der Regisseur dieses Display zumindest peripher wahrnehmen und hinsichtlich der für seine Konzeptvermittlung relevanten Implikationen der Mit-Adressiertheit interpretieren kann. Die Assistentin steht in Face-to-Side-Position neben dem Schauspieler. Sie hat das linke Bein als Standbein durchgedrückt, das rechte als Spielbein leicht angewinkelt. Ihre Körpervorderseite ist nicht in vergleichbarer Weise auf den Regisseur ausgerichtet, sondern weist leicht links an diesem und dem Sohn vorbei. Sie hat inzwischen den Drehplan aufgeschlagen und hält ihn in der rechten Hand. Man kann die Fingerspitzen ihrer linken Hand auf der rechten unteren Seite erkennen. Ihr Kopf ist leicht nach vorne gebeugt und ihr Blick ist auf den Drehplan gerichtet. Sowohl ihre Körperorientierung, ihre Positur 5 Reinhold Schmitt 52 mit Kopfhaltung und Blickrichtung als auch die Platzierung der Finger ihrer rechten Hand zeigen, dass sie im Augenblick auf den Drehplan orientiert ist und die aktuelle Gesprächsentwicklung zwischen Schauspieler und Regisseur nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit verfolgt, die man bei dem Vater erkennen kann. Gleichwohl ist auch sie der Bewegung des Regisseurs gefolgt und hat sich ebenfalls in Hörweite des Verbalgeschehens positioniert. Sie kann so die Interaktionsentwicklung zwischen dem Regisseur und dem Sohn verfolgen. Im Gegensatz zum Vater tut sie dies jedoch mit reduziertem Monitoring-Einsatz und gänzlich ohne aktives Monitoring-Display. Sie ist vielmehr mit eigenen Relevanzen beschäftigt. Die Assistentin ist über den aufgeschlagenen Drehplan erkennbar mit dem übergeordneten ‘joint project’ verbunden bzw. repräsentiert dieses. Das assoziiert sie in lockerer Weise mit der Konzeptvermittlung. Anders als der Vater, der eine referenzielle Rolle bei der Konzeptvermittlung spielt, verkörpert sie auch die übergeordneten Relevanzen der gemeinsamen Arbeit, denn der Drehplan weist als rollenindikative „Statusrequisite“ (Schmitt 2001) über die aktuellen Relevanzen der Situation hinaus. Er enthält und dokumentiert nicht nur all das, was zuvor bereits gedreht worden ist, sondern listet im Detail auch alle Einstellungen auf, die in den folgenden Tagen noch gedreht werden. Die Assistentin ist also mit etwas beschäftigt, was sowohl für die Anforderungen der aktuellen Situation als auch für den übergeordneten Zusammenhang relevant ist. 06 RE: und dann werden wir dich an einen 07 bestimmten PU NKT bringen- 6 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 53 Nach der kurzen Pause (-), die der Antwort des Schauspielers folgt, expandiert der Regisseur seine Konzeptvermittlung. Erneut beginnt er seine Ausführungen mit einem einleitenden und. Dann folgt ein Verweis auf die Position, die für das Spiel des Schauspielers in der nächsten Einstellung relevant wird: dann werden wir dich an einen bestimmten PUNKT bringen-. Regisseur und Schauspieler befinden sich inzwischen in einer direkten Face-to-Face-Konstellation und stehen relativ nah beieinander. Der Regisseur ist immer noch mit gestikulatorischen Aktivitäten beschäftigt und weist mit seinem rechten ausgestreckten Arm und der offenen Hand weiterhin auf die rechte Straßenseite in Richtung eines Gemüseladens, von der aus der Schauspieler in der folgenden Einstellung losgehen soll (Bild 6). Die bereits angedeutete Relevanz des ‘Szenenraums’ als kognitiver Bezugsrahmen des Regisseurs zeigt sich hier in zwei Details seiner Formulierung. Es sagt nicht etwa „dann gehst du bis zu diesem Punkt“, auf den er eventuell zusätzlich noch deutet. Das würde heißen, der Bezugspunkt seiner Ausführungen ist der konkrete physikalische Raum, in dem sie jetzt zusammen auf der Straße stehen. Die Formulierung dann werden wir dich an einen bestimmten PUNKT bringenmacht vor allem durch das Tempus (Futur) und den pluralen Agenten wir klar, dass die Ausführungen zwar im Moment erfolgen, ihre Relevanz bzw. Realisierung jedoch in der Zukunft und im ‘Szenenraum’ liegt, den der Regisseur in seiner Konzeptvermittlung entwirft. Bei PUNKT geht der Vater nach vorne. Sein Kopf ist dabei in gerader Haltung, sein Blick unverändert auf die Interaktionsdyade gerichtet. Der Einsatz der Bewegung des Vaters erfolgt exakt mit der akzentuierten Realisierung von PUNKT. Hier zeigt sich ein aktives Alignement mit der verbalen Äußerungsentwicklung des Regisseurs, was auf systematisches Monitoring verweist, das auf der Grundlage einer kontinuierlichen Online-Analyse erfolgt. Bezogen auf den unveränderten Standort der Assistentin bewegt sich der Schauspieler nun auf eine Art „Mitteldistanz“ zum Regisseur hin. Diese unterscheidet sich von der beibehaltenen Distanz der Regieassistentin und kann als Ausdruck der referenziellen Bedeutung des Vaters bei der Konzeptvermittlung und der koordinativen Relevanz (Schmitt/ Deppermann 2007) verstanden werden, die damit für ihn zusammenhängt. Reinhold Schmitt 54 08 wo du STEHen bl ei bst- Die weitere Ausführung des Regisseurs besteht aus dem Hinweis für den Sohn, dass er an dem Punkt, an den er später gebracht werden wird, stehen bleiben soll: wo du STEHen bleibst-. Der Regisseur hat seine gestikulatorischen Aktivitäten inzwischen beendet und hat nun beide Arme am Körper: den linken herabhängend, den rechten nach vorne abgewinkelt (Bild 7). Der Vater hat inzwischen mit seinem rechten Bein einen weiteren Schritt nach vorne gemacht. Er behält seine bisherige aufrechte Körperhaltung mit am Körper herunterhängenden Armen bei. Sein Kopf ist weiterhin gerade und sein Blick immer noch nach vorne gerichtet und fokussiert nun deutlich den Regisseur. Die Assistentin hingegen hat weder ihre Position und damit ihre Distanz zum Regisseur noch ihre Positur signifikant verändert. Sie hält weiterhin den aufgeschlagenen Drehplan in ihrer rechten Hand und blickt in Richtung Regisseur, ohne dass man exakt erkennen kann, ob sie ihn tatsächlich anblickt oder zwischen ihm und dem Sohn hindurch auf den Kameramann schaut. Im Hintergrund sieht man die Requisiteurin, die mit großen Schritten immer noch in Richtung rechte Straßenseite unterwegs ist. Man kann nun auch die beiden benachbarten Interaktionsräume erkennen, wovon einer von der Vierergruppe gebildet wird, die mit der Konzeptentwicklung beschäftigt ist (Regisseur, Sohn, Vater und Assistentin), und der andere von der Kameracrew, die sich auf die Probe der Kamerafahrt konzentriert (Kameramann auf dem Wagen, zwei seiner Assistenten hinter dem Wagen und der Aufnahmeleiter, der weiterhin das Videokabel für den Monitor in Händen hält). Die benachbarten 7 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 55 Interaktionsräume sind sowohl visuell als auch auditiv durchlässig, jedoch durch die Schienen als symbolische Barriere voneinander abgegrenzt. Die Schienen konstituieren den Interaktionsraum der Vierergruppe als ein „Davor“ und assoziieren die dort befindlichen Personen auch relativ unabhängig von ihrer objektiven Distanz zueinander als die das „Davor“ besetzenden und zusammengehörigen Beteiligten. In der Sprechpause (-) (Z. 09) hat sich der Regisseur leicht nach links in Richtung Schauspieler gedreht, hat dabei das rechte Bein als Standbein verankert, während das linke etwas angewinkelt ist. Dadurch wird der Abstand zum Sohn vor allem im Oberkörperbereich noch weiter verringert, wobei er nun auch seinen linken angewinkelten Arm zu diesem ausgestreckt hat. Der Schauspieler hat seinen Kopf nach links gedreht und blickt nach vorne-unten. Er ist mit beiden Händen damit beschäftigt, den Reißverschluss seiner Jacke zu schließen (Bild 8). 09 (-) Der Vater hat nun den Endpunkt seiner Vorwärtsbewegung erreicht und wieder eine feste Position eingenommen. Er steht mit durchgestreckten Beinen, paralleler Fußstellung und mit seiner Körpervorderseite auf den Regisseur orientiert mit diesem quasi auf einer Linie. Er blickt weiter unverändert auf ihn. Aus der Mitteldistanz zeigt er an, dass er der Konzeptvermittlung kontinuierlich folgt, ohne sich als primärer Adressat zu definieren oder aufzudrängen. Bei der Assistentin ist als einzige kleine Veränderung - bei sonst beibehaltener Position und Positur - eine leicht veränderte Kopfhaltung zu sehen. Sie hat Ihren Kopf etwas nach rechts gedreht und scheint nun am Rücken des Regisseurs vorbei in Richtung rechter Straßenseite zu blicken. 8 Reinhold Schmitt 56 4.1.2 Segment 2 09 (-) 10 AL: <<p>vorsicht kamera> 11 RE: und [während- ] 12 KA: [<<p, all>özkan] aufpassen mal kurz> 13 RE: sorry 14 (-) Die weitere Konzeptentwicklung wird dann durch den leise gesprochenen Hinweis <<p>vorsicht kamera> des Aufnahmeleiters (AL) in Zeile 10 unterbrochen. Der Regisseur beginnt zwar mit und [während-] noch einen weiteren inhaltlichen Zug, der bereits mit der namentlichen Anrede des Regisseurs [<<p, all>özkan] durch den Kameramann (KA) in Zeile 12 überlappt, stoppt dann jedoch seine Äußerungsentwicklung. Der Äußerungsteil des Kameramannes aufpassen mal kurz>, der den Regisseur auf die bevorstehende Bewegung des Kamerawagens auf den Schienen hinweist, wird bereits allein stehend gesprochen. Mit dem sich anschließenden sorry des Regisseurs entschuldigt sich dieser beim Kameramann für die Behinderung, die seine Präsenz in der Nähe der Schienen und damit in dessen Arbeits- und Zuständigkeitsbereich verursacht. Die Entschuldigung ist ein ‘account’ dafür, dass die Aktivitäten im Interaktionsraum des Kameramannes in der aktuellen Situation Vorrang haben und dass sich dessen Relevanzen auf den Interaktionsraum vor den Schienen auswirken: Dieser muss in Reaktion auf die Bewegung des Kamerawagens neu strukturiert werden. Der Regisseur reagiert dabei nicht nur verbal auf den Hinweis des Kameramannes. Er verändert auch seine Position und beginnt, sich von den Schienen weg in den freien Bereich der Straßenmitte zu bewegen. Er fasst dabei den vor ihm stehenden Schauspieler mit der rechten Hand an der linken Schulter und initiiert damit, dass dieser seiner Bewegung folgt. 15 (-) 9 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 57 Der Vater koordiniert sich in der Pause (-) (Z. 15) in einer punktgenau synchronisierten Rückwärtsbewegung mit der Bewegung des Regisseurs und tritt mit seinem rechten Bein einen Schritt nach hinten (Bild 9). Er behält dabei den Regisseur im Auge. Im Gegensatz zu ihm verweilt die Assistentin weiterhin an ihrer bisherigen Position und reagiert auch hinsichtlich ihrer Positur, der Fußstellung und der offenen Haltung des Drehplans in keiner Weise auf die räumlichen Veränderungen im gemeinsamen Interaktionsraum ‘vor den Schienen’. Sie ist so weit weg vom Regisseur und Sohn, dass sie sich als einzige als Reaktion auf die Bewegung des Kamerawagens und dessen Auswirkungen auf den eigenen Interaktionsraum nicht neu positionieren muss. 16 RE: und während du stehen bleibst- und siehst 17 kuckst du ja (--) Der Regisseur beschreibt nun, was der Sohn in der nächsten Szene tun soll, während er stehenbleibt: Er sieht das sich nähernde Auto. Bei siehst hat der Regisseur wieder eine feste Position eingenommen und schaut rechts an dem Schauspieler vorbei in Richtung des parkenden VW -Bus. Der Sohn ist noch nicht wieder zur Ruhe gekommen. Er schaut vor sich auf den Boden, während der Regisseur bereits wieder vollständig auf ihn bezogen ist. Der Vater ist inzwischen noch einen weiteren Schritt nach hinten getreten und befindet sich jetzt fast wieder auf Höhe der Assistentin genau an der Stelle, von der aus er zuvor losgegangen war (Bild 10). An seiner bisherigen Körperhaltung hat sich nichts geändert und er ist auch blicklich weiterhin auf den Regisseur orientiert. 10 Reinhold Schmitt 58 Die einzige Veränderung, die wir bei der Assistentin sehen können, betrifft ihre Kopfhaltung. Während sie zuvor eine leicht angehobene Kopfhaltung hatte, hat sie nun ihren Kopf etwas nach unten gesenkt. 18 nach RE chts. (--) Als der Regisseur mit REchts., die Richtung angibt, in die der Sohn blicken soll, hat auch der Vater wieder einen festen Stand erreicht. Er steht nun mit paralleler Fußstellung, angelegten Armen und mit den Händen in seinen Jackentaschen in vergleichbarer Distanz wie die Assistentin zum Regisseur (Bild 11). Er steht aufrecht und konzentriert mit seiner Körpervorderseite dem Regisseur zugewandt. Die Synchronisierung mit der räumlichen Bewegung des Regisseurs hat den Vater wieder genau auf seine alte Position zurückgeführt, von der aus er zunächst der Konzeptvermittlung verbal und räumlich gefolgt war. Der Vater reagiert also auf die ihm vom Regisseur zugeschriebene Relevanz, in der nächsten Szene Spielpartner des Sohnes und damit auch impliziter Adressat der Konzeptvermittlung zu sein, mit einer dynamischen Nähe-Distanz- Regulierung. Für diese ist die unmittelbare Adaption an körperlich-räumliche Veränderungen des Regisseurs im gemeinsamen Interaktionsraum charakteristisch. Wäre er in dieser Situation, in der sich der Regisseur in Reaktion auf die Kamerabewegung neu positioniert hat, stehen geblieben, wäre er zwar nicht unmittelbar mit der Interaktionsdyade kollidiert. Er wäre aber relativ zu seinem verbal-abstinenten Status dem Regisseur „zu nah“ gekommen. Die Notwendigkeit der dynamischen Nähe-Distanz-Regulierung ist eine Folge seiner zuvor hergestellten Mitteldistanz zum Regisseur, die wiederum mit seiner aktiven Perzeptivität zusammenhängt. Der Vater reagiert so dynamisch 11 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 59 und kleinschrittig auf die durch den Regisseur initiierten Veränderungen im Interaktionsraum, dass er sich kontinuierlich körperlich-räumlich koordinieren muss. Anders als der Vater hat sich die Assistentin an der durch den Hinweis des Kameramannes initiierten Bewegung nicht beteiligt. Sie behält die ganze Zeit ihre Position und ihre Körperpositur bei. Die einzige Form körperlicher Veränderung ist ihre Kopfhaltung: Sie dreht ihren Kopf zuweilen etwas nach links und schaut dabei an dem Vater vorbei (Bild 12), blickt in ihre Unterlagen (Bild 13) oder wendet ihren Kopf etwas nach rechts und schaut dann am Regisseur vorbei auf Fußgänger, die sich in der Peripherie des Sets auf dem Bürgersteig bewegen (Bild 14). 4.1.3 Segment 3 Bei der Assistentin bleibt die Stabilität der Position und der Körperpositur auch im weiteren Verlauf der nachfolgend zitierten Konzeptvermittlung unverändert erhalten. 14 (-) 15 RE: und während du stehen bleibst- und siehst vorsicht 16 kuckst du ja (--) 17 nach REchts. (--) 18 denn da kommt das auto von korda. 19 (--) 12 13 14 Reinhold Schmitt 60 20 ok[ay? ] 21 SS: [ok ]ay; 22 RE: wir müssen jetzt nämlich=en BLICK für das 23 auto für dich finden [<<all>gleich 24 SS: [moment 25 RE: das machen wir gleich>] 26 SS: NACH dem text ] oder vor dem text? Die Assistentin verändert ihre Position erst in Reaktion auf eine manifeste, jedoch nicht an sie gerichtete oder für sie produzierte Zeigegestikulation des Regisseurs in ihre Richtung. Der Regisseur deutet - als er bei der Konzeptvermittlung auf den Austritt des Vaters aus dem Bild zu sprechen kommt - mit seinem linken Arm und seiner Hand auf den Vater. Mit dieser tangiert er den „individuellen Verhaltensraum“ (Schmitt/ Deppermann 2010) 8 der Assistentin bzw. kommt diesem sehr nah. In unmittelbarer Reaktion auf den gestikulatorischen Verweis des Regisseurs tritt die Assistentin einen kleinen Schritt zurück. Diese leichte Rückwärtsbewegung erstreckt sich über den unten abgebildeten Zeitraum (Bild 15, 16 und 17) und ist im Vergleich zu den räumlichen Bewegungen des Vaters eher minimal. 27 RE: =nachdem ER aus dem bild raus gegangen ist; 8 Individuelle Verhaltensräume sind sozial-territoriale Umgebungen (Goffman 1963) von Interaktionsbeteiligten. Obwohl personal gebunden, werden auch individuelle Verhaltensräume als Teil des Interaktionsraums durch gemeinsame - eigene und fremde - Definitionsleistungen konstituiert. Zu diesen Definitionsleistungen gehören beispielsweise proxemische Aspekte wie Positionierung zu den anderen Interaktionsteilnehmern (vgl. Hall 1966, Scollon/ Wong Scollon 2003), die Körperpositur sowie gestikulatorische Aktivitäten des Akteurs (siehe auch die Konzeption des „gesture space“ bei McNeill (1992, S. 89). Individuelle Verhaltensräume sind räumlich-dynamisch, da sie an die Körperlichkeit der Interaktionsteilnehmer gebunden sind und mit ihnen „wandern“. 15 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 61 28 da is der text vorBEI. 29 SS: =da muss der text spätestens vorbei sein. 30 RE: =da is der te xt vorBEI; 31 SS: =ok ay 32 (-) Die Assistentin hat mit dem okay des Sohnes, mit dem dieser die Ausführungen des Regisseurs zum Austritt des Vaters und dem Text des Sohnes ratifiziert, wieder einen festen Stand und eine neue Position gefunden (Bild 17). Ihr Rückwärtsschritt besitzt als koordinative Aktivität vor allem interpersonelle Implikationen: Sie eröffnet dem Regisseur damit einen größeren persönlichen Verhaltensraum. Es ist ein für ihre Beteiligungsweise konstitutives Charakteristikum, dass sie diese koordinative Aktivität fast nebenbei 16 17 Reinhold Schmitt 62 und gänzlich unmarkiert realisiert. Sie hebt, solange sie noch in Bewegung ist, nicht einmal ansatzweise ihren Kopf, um aufzublicken. Dies tut sie erst, als sie wieder einen festen Stand eingenommen hat. Auch diese unmarkierte und eher minimale Rückwärtsbewegung der Assistentin ist - genau wie die manifeste Rückorientierung des Schauspielers - ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutung des von beiden auszulotenden Nähe- Distanz-Verhaltens zum Regisseur als der zentralen Fokusperson (Schmitt/ Deppermann 2007) des Sets. Dabei wird deutlich, dass die Unterschiedlichkeit, in der beide ihr Nähe-Distanz-Verhältnis zum Regisseur realisieren, keine Zufälligkeit darstellt. Vielmehr drückt sich darin ein erster manifester Hinweis auf Unterschiede im Beteiligungsformat der beiden verbal abstinenten Interaktionsteilnehmer aus. Die Assistentin muss sich einerseits in der Nähe des Regisseurs aufhalten, damit sie wichtige Informationen erhält, die sie für ihre eigene Arbeitsorganisation (= optimale Unterstützung des Regisseurs) braucht. Sie darf ihn dabei jedoch in seiner körperlich-räumlichen Entfaltung nicht behindern. Der Vater hingegen muss bezogen auf seine Spielrolle in der folgenden Szene und hinsichtlich seiner referenziellen Relevanz alle Details der Konzeptvermittlung mitbekommt. Er muss sich dazu wesentlich näher zur Interaktionsdyade positionieren und dabei kontinuierlich und aufmerksam dem verbalen Geschehen folgen. 4.1.4 Erstes Analysefazit Die zurückliegenden Analysen haben gezeigt, dass die beiden verbal abstinenten Beteiligten sowohl auf raumbezogene Aktivitäten innerhalb des gemeinsamen Interaktionsraums als auch auf die Entwicklung der Konzeptvermittlung reagieren. Dadurch, dass sie dies für den Regisseur wahrnehmbar machen, leisten sie einen aktiven Beitrag zur Herstellung und dynamischen Veränderung des gesamten Interaktionszusammenhangs und verdeutlichen ihre spezifische Beteiligungsweise. Der Regisseur kann dadurch sehen, dass alle für die Vermittlung seiner Vorstellung von der nächsten Szene relevanten Personen seiner Konzeptvermittlung - relativ zu ihrer spezifischen Funktion für die nächste Szene - folgen. Für die initiale Verdeutlichung ihrer Orientierung auf die Konzeptvermittlung ist das räumliche und interaktive „Mitgehen“ mit dem Regisseur in den freien Raum vor den Schienen der wesentliche Aspekt. Die Art und Weise des Dorthin-gelangt-Seins sowie ihre kontinuierliche körperliche und blickliche Ori- Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 63 entierung auf die verbale Interaktionsdyade und die Konzeptvermittlung als gemeinsamen Fokus unterscheiden den Vater und die Assistentin von allen anderen Setmitarbeitern, die in dem Videoausschnitt ebenfalls zu sehen sind. Obwohl diese dem Regisseur körperlich situativ näher sind, konstituieren sie einen autonomen Interaktionsraum mit eigenständigen Relevanzen, die von den Relevanzen im Interaktionsraum der Vierergruppe unabhängig sind. Die spezifische Bearbeitung der Nähe-Distanz-Regulierung zur verbalen Interaktionsdyade und die Spezifik des Bezugs auf die verbale Interaktionsentwicklung bei Vater und Assistentin sind zwei empirisch evidente Kriterien für die Differenzierung ihres Beteiligungsprofils jenseits der grundsätzlichen Gemeinsamkeit ihrer verbalen Abstinenz. Zentrale Unterscheidungskriterien sind dabei Kleinschrittigkeit und Dynamik der körperlich-räumlichen Orientierung auf den Regisseur, die damit zusammenhängende Nähe-Distanz-Regulierung sowie Autonomie und Ausmaß der Selbstorganisation des eigenen Verhaltens. Bezogen auf diese Aspekte ist der Vater kleinschrittig-dynamisch und konstant auf die Interaktionsdyade orientiert, realisiert eine damit zusammenhängende dynamische Nähe-Distanz-Regulierung und strukturiert sein Verhalten ausschließlich in Reaktion auf Verhaltensweisen des Regisseurs. Die Assistentin hingegen ist eher großräumig-statisch auf die Interaktionsdyade orientiert, praktiziert damit zusammenhängend eine eher statische Nähe-Distanz-Regulierung und ist in ihrer Selbstorganisation situativ autonom. Dies verdeutlicht vor allem ihr längerer Blick in den Drehplan, der sie von einer kontinuierlichen blicklichen Orientierung auf die Interaktionsdyade abhält. Bei den folgenden Ausschnitten werde ich mich auf Aspekte konzentrieren, die an den bislang produzierten analytischen Einsichten vor allem zu Unterschieden im Beteiligungsformat des Vaters und der Assistentin anknüpfen. Bezogen auf den Vater werde ich mich mit dem Aspekt seiner dynamischen und kleinräumig sensitiven Beteiligungsweise beschäftigen (Kap. 5.1.5). Hinsichtlich der Regieassistentin werde ich mich auf selbstbestimmte, den aktuellen Interaktionszusammenhang transzendierende Monitoring-Aktivitäten konzentrieren (Kap. 5.1.6). Reinhold Schmitt 64 4.1.5 Zur dynamisch-sensitiven Orientierung des Vaters Der folgende Ausschnitt gibt eine Situation der Konzeptvermittlung wieder, bei dem der Regisseur dem Sohn beschreibt, dass das relevante Geschehen rechts von der Kamera stattfinden wird. Diese Information ist auch für den Laufweg des Vaters wichtig. 38 RE: und äh für den vater ham wir en anderen punkt. Der Regisseur referiert mit seiner Äußerung und äh für den vater ham wir en anderen punkt. in diesem Zusammenhang mit vater erneut auf den zweiten Schauspieler und verweist zusätzlich mit einer Zeigegestikulation auf ihn: Mit seinem ausgestreckten linken Arm und den ebenfalls ausgestreckten Fingern seiner linken Hand berührt der Regisseur fast die Brust des Vaters (Bild 18). Der Schauspieler blickt den Regisseur an, dieser richtet seinen Blick jedoch rechts an ihm vorbei auf die Stelle, wo der Vater in der folgenden Einstellung überfahren wird. Wir haben hier erneut den Fall eines klaren verbalen Verweises auf den Vater, der zusätzlich mit einer Zeigeaktivität unterstützt wird. Vergleichbar dem vorherigen Beispiel wird der Vater aber auch hier nicht direkt adressiert und die weiteren Ausführungen ham wir en anderen punkt. werden nicht an ihn direkt gerichtet. Gleichwohl entsteht durch den multimodal komplexen Verweis für den Vater eine erhöhte koordinative Relevanz. Dieser kommt er im Folgenden durch eine weitere Intensivierung seiner dynamisch-kleinschrittigen Monitoring-Aktivitäten und durch eine Dynamisierung seines ‘engagement’-Displays nach. 9 9 Der Vater wird im Laufe der Konzeptvermittlung - dadurch, dass der Regisseur auf ihn bzw. seine Spielrolle referiert - auf indirekte Weise auch vom Regisseur in „Alarmbereitschaft“ gehalten und dazu veranlasst, im Gegensatz zur Regieassistentin seine Monitoring-Aktivitä- 18 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 65 39 (-) 40 RE: <<all>also wir versuchen natürlich mög lichst Im nächsten Bild (Bild 19) sehen wir den Vater, wie er der Bewegung und der Körperorientierung des Regisseurs folgt, die dieser während seiner Äußerung <<all>also wir versuchen natürlich möglichst. realisiert. Der Vater dreht seinen Oberkörper nach links ein, wendet seinen Kopf ebenfalls nach links und blickt in die Richtung, in die der Regisseur gerade zeigt. Mit seinen Füßen und Beinen bleibt er jedoch weiterhin stabil auf die Straßenmitte und damit die Richtung orientiert, in der der Regisseur vor seinem Verweis auf ihn positioniert war. Er realisiert also einen „body torque“ (Schegloff 1998) mit klarer Doppelorientierung: Die Oberkörperpartie folgt der lokalen Dynamik, wohingegen der Unterkörper seine stabile und dauerhafte Orientierung verdeutlicht. Über eine längere Zeit verfolgt der Vater mit dynamischen Kopfbewegungen die verbalen Ausführungen des Regisseurs, wobei er in seiner Position und Positur stabil bleibt. ten kontinuierlich und in expliziter Display-Qualität aufrecht zu erhalten: Der Schauspieler wird über unterschiedliche verbale Referenzen während der Konzeptvermittlung thematisiert: ihm (Z. 3), er (Z. 27, 50, 57), vater (Z. 38, 49, 67), baba (Z. 68). 19 Reinhold Schmitt 66 41 von der KAmera aus gesehen-> 42 re chts zu blei/ 43 äh äh von uns aus gesehen auf der 44 RECHten kamera/ äh 45 auf der rechten seite der kamera zu bleiben; 46 SS: ja Der Regisseur weist dann bei rechts zu blei/ mit seinem rechten Arm und seiner rechten Hand in die Richtung rechts neben der Kamera (Bild 20). Nachdem der Regisseur in mehrfachen Korrekturanläufen dem Sohn erläutert hat, dass das Spiel in der nächsten Szene von uns aus gesehen auf der RECHten kamera/ äh auf der rechten seite der kamera stattfinden wird (Z. 43-45), dreht er sich um, wendet sich wieder dem Sohn zu und positioniert sich in einer Face-to-Face-Position vor ihm. Der Regisseur bestätigt damit gewissermaßen die in der Körperdrehung des Vaters zum Ausdruck gebrachte dominante projektive Orientierung. In Zeile 49 hat der Regisseur mit ist seine Rückbewegung abgeschlossen und ist mit festem Stand wieder auf den Sohn orientiert, während der Vater etwa in gleicher Distanz in einer leicht versetzten Side-by-Side-Formation mit etwas nach links eingedrehtem Oberkörper zum Regisseur positioniert ist (Bild 21). 47 RE: das bedeutet nämlich dass wenn- 48 (-) 20 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 67 49 RE: VAter rausgegangen ist- 50 RE: dass ER dann EInen punkt hat Der Vater behält im Folgenden seine Position und Körperhaltung über eine längere Zeit bei, wobei er seinen Blick durchgängig auf den Regisseur gerichtet hat. Dadurch entsteht der Eindruck, er würde an dessen Lippen hängen und der Formulierung jedes einzelnen Wortes konzentriert folgen. Auch hier ist der Vater sehr genau mit der Entwicklung der Konzeptvermittlung und den sich darin für ihn realisierenden thematischen Relevanzen koordiniert. Er folgt konzentriert den Ausführungen des Regisseurs, der für den Sohn beschreibt, was passiert, nachdem er (der Vater) aus dem Bild gegangen ist. 64 (-) 65 RE: du bleibst STEhn- 66 kuckst nach REchts 67 und dann wieder zu VAter und schreist dann 68 <<ff>BABA: : > 69 weißt du? 70 (-) 71 das soll ein VORsicht heißen; 72 SS: A: : HA: 73 (-) Der Vater befindet sich sozusagen in einem Zustand erhöhter Aufmerksamkeit und scheint konzentriert abzuwarten, ob der Regisseur in seinen Ausführungen für den Sohn auch für ihn noch relevante Informationen liefern wird. Zumindest bleibt er thematisch weiter präsent (ER, VAter und BABA: : (türkisch: Vater). 21 Reinhold Schmitt 68 Der Vater folgt auch der weiteren Konzeptvermittlung des Regisseurs konzentriert. Dieser beschreibt nun, dass die Warnungen des Sohnes vor dem heranpreschenden Auto seines Freundes Korda (du bleibst STehenkuckst nach REchts und dann wieder zu VAter und schreist dann <<ff>BABA: : >) zu spät kommen, um den Unfall noch verhindern zu können. Als der Sohn auf die Ausführungen des Regisseurs mit einer zweifachen Verstehensdokumentation (A: : HA: und tamam; (türkisch: okay)) reagiert, wendet er für einen kurzen Moment seinen Kopf vom Regisseur weg in Richtung Sohn (Bild 22). 74 SS: ta[ mam; ] 75 RE: [ja? ] 76 aber es ist dann zu spät; 77 (--) 78 RE: bu: m 79 <<p>>vorsicht die kamera> 80 (--) 81 das is der CRASH- 82 (-) Dass der Vater - abgesehen von der kurzen Kopfwendung - in dieser Phase der Konzeptvermittlung positional und positural sehr stabil ist, hängt ganz wesentlich damit zusammen, dass auch der Regisseur über einen längeren Zeitraum seine Position nicht verändert. So, wie der Schauspieler dynamische Veränderungen des Regisseurs aufgreift und sein eigenes körperlich-räumliches Verhalten unmittelbar adaptiert, um der Konzeptvermittlung genau folgen zu können, so spiegelt er hier in dieser Situation auch die relative Statik des Raumverhaltens des Regisseurs durch eigene Stabilität. 22 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 69 Sein körperlich-räumliches Verhalten ändert sich jedoch dann wieder, als der Regisseur in Reaktion auf eine erneute Kameraprobefahrt mit der Realisierung seiner Äußerung <<p>>vorsicht die kamera> (Z. 79) seine Position aufgibt. Das folgende Transkript zeigt das verbale Geschehen während dieser Phase, in der der Regisseur zwei Schritte von den Schienen weg macht und dadurch auch den Sohn zu einer Neupositionierung zwingt. 79 <<p>>vorsicht die kamera> 80 (--) 81 das is der CRASH- 82 (-) 83 RE: und dann kannst du dir nochn bisschen- 84 (-) 85 RE: kannst du noch hinkucken wie er über fahren wirst- 86 ja dieser SCHOCKblick- Der Regisseur steht bei überfahren (Bild 23) nicht mehr seitlich zu den Schienen, sondern hat diese nun in seinem Rücken und er hat sich weiter von den Schienen entfernt. Er steht in Face-to-Face-Formation unmittelbar vor dem Sohn. Als der Regisseur in Reaktion auf die Bewegung des Kamerawagens seine Position ändert, zieht auch der Vater nach und positioniert sich neu. Bei überfahren steht er in größerer Nähe zum Regisseur, wobei er seine leicht vorgebeugte Körperhaltung, Kopfausrichtung und Blickorientierung beibehalten hat. Vor allem seine dynamische und von den Aktivitäten des Regisseurs abhängige Nähe-Distanz-Regulierung und die sich daraus ergebende Positionierung im Nahbereich von Regisseur und Sohn sind ein wesentliches Cha- 23 Reinhold Schmitt 70 rakteristikum seiner Beteiligungsweise. Hätte man nur dieses Standbild zur Verfügung, würde man Regisseur, Sohn und Vater ohne Zweifel als interagierende Dreiergruppe erkennen. Man würde die Assistentin jedoch im Zweifelsfall nicht als ebenfalls zugehörig identifizieren. Sie scheint eher zu den im linken Bild weiter hinten stehenden zwei Personen zu gehören. Sie steht mit diesen auf einer Linie und ist auch mit ihrem Blick in die gleiche Richtung orientiert. Im Verhalten des Vaters wurden in diesem Ausschnitt Aspekte deutlich, die die analytischen Einsichten, die bei den vorherigen Analysen produziert wurden, bestätigen. Die interaktive Beteiligung des Vaters wird durchgängig durch eine weitgehende Synchronisierung mit dem körperlich-räumlichen Verhalten des Regisseurs und eine auf die thematische Entwicklung der Konzeptvermittlung bezogene Online-Analyse strukturiert. Dies zeigt sich sowohl in einer dynamischen als auch in einer statischen Variante und ist Ausdruck der weitgehenden koordinativen Relevanz, die der Regisseur für den Schauspieler verbal wie auch körperlich-räumlich produziert. Der Schauspieler ist auch in diesem Ausschnitt primär als Interaktionsteilnehmer präsent, der aufmerksam zuhört und kontinuierliches Monitoring betreibt und beides im gegebenen Wahrnehmungs-Wahrnehmungs-Rahmen (Hausendorf 2001) für den Regisseur auch deutlich verkörpert. Seine Nähe-Distanz-Regulierung wird im gerade analysierten Ausschnitt zudem durch eine Tendenz zur Positionierung in unmittelbarer Nähe des Regisseurs bestimmt. 4.1.6 Set-bezogenes Monitoring der Regieassistentin Wie bereits in der zurückliegenden Analyse deutlich wurde, ist nicht nur der Vater, sondern auch die Assistentin in ihrer Position, Positur und hinsichtlich ihrer Nähe-Distanz-Regulierung erkennbar auf die Interaktionsdyade Regisseur und Sohn orientiert. In deutlichem Unterschied zum Vater ist die Interaktionsdyade jedoch nicht ihre einzige und nicht ihre permanente Orientierung. Vielmehr schaut sie, ohne dass es die aktuelle Entwicklung der Konzeptvermittlung motivieren würde, über längere Zeit in den offenen Drehplan, den sie in Händen hält. In diesen Phasen ist sie zumindest visuell auf einen anderen, eigenen Fokus ausgerichtet. Dies ist jedoch nicht die einzige Gelegenheit, bei der sie sich blicklich von der Interaktionsdyade löst und selbstbestimmt eigenen Relevanzen nachgeht. Vielmehr verfolgt sie regelmäßig, was sich in unmittelbarer Nähe des eige- Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 71 nen Interaktionsraumes sowie weiter entfernt in anderen Bereichen des Sets abspielt. Diese Orientierung unterscheidet sich signifikant von der Art und Weise, wie der Vater das Interaktionsgeschehen im unmittelbaren Zusammenhang der Konzeptvermittlung verfolgt. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass diese Form des Monitoring nicht auf den Regisseur und den Sohn gerichtet ist, sondern die Grenzen des gemeinsamen, aktuellen Interaktionsraums transzendiert. Solche Verhaltensweisen der Assistentin bezeichne ich als ‘set-bezogenes Monitoring’. Diese Form des Monitoring erfolgt, ohne dass die Regieassistentin ihre grundsätzliche Unterkörperstellung mit der auf die Interaktionsdyade ausgerichteten Körpervorderseite und ihren stabilen Stand mit leicht geöffneten Füßen aufgibt. Teilweise ist kaum wahrnehmbar, dass sie an dem Regisseur und dem Sohn vorbeischaut und Passanten beobachtet, die sich langsam dem Set nähern. Sie muss dafür nur leicht ihren Blick verändern, ohne dass dies an einer ebenfalls veränderten Kopfhaltung sichtbar würde. Manchmal aber werden ihr alternativer Fokus und ihre von der Interaktionsdyade unabhängige Blickorientierung auch manifest. Die Assistentin dreht dann bei sonst stabiler Positur ihren Kopf und teilweise auch ihren Oberkörper zur Seite und schaut vom Regisseur weg in eine andere Richtung. In solchen Fällen treten kurze Zeit später Personen ins Bild, deren Annäherung an den eigenen Interaktionsraum die Assistentin schon länger verfolgt hat. Sie scheint die Bewegungen dieser Personen darauf hin zu befragen, ob sie für das Set oder für die etablierten thematisch-pragmatischen Strukturen des eigenen Interaktionsraumes relevant sind. Sie folgt der Bewegung der fraglichen Personen so lange, bis deutlich wird, dass damit keine Relevanzen oder Störungen für die aktuelle Konzeptvermittlung verbunden sind. Ich werde nachfolgend solch ein Beispiel für set-bezogenes Monitoring analysieren. Der Ausschnitt schließt unmittelbar an den Teil der Konzeptvermittlung an, der hinsichtlich der Nähe-Distanz-Regulierung des Vaters bereits analysiert wurde (Z. 79-86). 86 RE: ja dieser SCHOCK blick - 87 RE: (-)und dann kannst du noch Reinhold Schmitt 72 Der Regisseur ist bei seiner Konzeptvermittlung gerade an der Stelle angekommen, wo der Sohn schockiert auf seinen überfahrenen Vater schaut ja dieser SCHOCKblick- (Z. 86). Das erste Bild (Bild 24) zeigt die Assistentin wie sie bei SCHOCKblickin den Drehplan schaut. Sie steht im Peripheriebereich des gemeinsamen Interaktionsraumes, eher mit den Personen links und im Hintergrund auf einer Linie, aber in Hörweite dessen, was der Regisseur gerade erläutert. Ihre Körpervorderseite ist zudem auf die Dreier-Interaktionsgruppe gerichtet. 88 RE: aus dem bild raus (-)knien. 89 (-) 90 RE: und da mach ich schnitt. 91 (-) Bei raus(-)knien wendet sie ihren Kopf nach rechts und ist auch mit der Hüfte leicht nach rechts eingedreht (Bild 25). Sie hält weiterhin den geöffneten Drehplan in ihren Händen und ist mit ihrer Körpervorderseite auf den Regis- 24 25 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 73 seur und den Sohn ausgerichtet. Hinsichtlich des räumlichen Eindrucks, den das Standbild vermittelt, scheint sie in ihrer aktuellen Position eher isoliert bzw. alleine stehend. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass eine der Personen auf der linken Seite aus der Reihe herausgetreten ist und einen Schritt nach vorne gemacht hat. Hierdurch öffnet sich situativ eine Lücke zwischen der Assistentin und den restlichen Personen des Bildes. Als der Regisseur mit und das ist nur zur option- (Z. 92) damit beginnt, dem Sohn Erläuterungen für diesen Schockblick zu geben, sieht man, wie sie mit ihrem Blick eine Person verfolgt, die mit einem Brötchen in der rechten Hand kauend durch das Bild geht (Bild 26). Diese Person signalisiert auf Grund der Bewegungsrichtung und aufgrund ihrer aktuellen Tätigkeit (Nahrungsmittelaufnahme) keinerlei Relevanzen, die sich auf die Konzeptvermittlung beziehen. 92 RE: und das is nur zur op tion- Die Assistentin folgt der Person mit ihrem Blick zur rechten Straßenseite. Bei dieser Person handelt es sich um den Toningenieur, der auf dem Weg zu seinem auf dem rechten Bürgersteig platzierten mobilen Aufnahmewagen ist (Bild 27). Als deutlich ist, dass die Bewegung des Toningenieurs nicht zum gemeinsamen Interaktionsraum führt und keinerlei Relevanzen für ihren aktuellen Interaktionszusammenhang mit sich bringt, wendet sie sich wieder dem Regisseur und seiner Konzeptvermittlung zu. Sie bleibt dabei die ganze Zeit in ihrer Ausgangsposition und der gleichen Bein- und Fußstellung fest verankert (Bild 28). 26 Reinhold Schmitt 74 93 damit ich da noch mal reinschn ei den kann Die manifeste empirische Evidenz für die konstitutive Qualität set-bezogener Monitoring-Aktivitäten für das verbal abstinente Beteiligungsprofil der Regieassistentin ist Ausdruck ihrer spezifischen Bezogenheit auf die verbale Interaktionsdyade. Setbezogenes Monitoring ist der Assistentin nur möglich, weil sie nicht mit der gleichen Konzentration und der gleichen Permanenz wie der Vater der verbalen Entwicklung der Konzeptvermittlung folgen muss. Sie hat dadurch Zeit, Bewegungen in anderen Setbereichen wahrzunehmen und sie auf ihre Relevanz für den eigenen Interaktionszusammenhang bzw. in erster Linie für den des Regisseurs zu prüfen. Insofern verweist setbezogenes Monitoring in seiner Eigenschaft als selbst bestimmtes, autonomes Verhalten der Assistentin auch auf Aufgaben und Anforderungen, die mit ihrer Funktionsrolle und den damit assoziierten Rechten und Pflichten verbunden sind. Die für das Set typische ausdifferenzierte Form der Arbeitsteilung weist für die Assistentin die weitgehende Unterstützung des Regisseurs aus, damit sich dieser vollständig auf die künstlerisch-inszenierenden Aspekte konzentrieren kann. 27 28 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 75 Im Kontext der aktuellen Konzeptvermittlung besteht für die Assistentin keine Notwendigkeit, in vergleichbar kontinuierlicher und konzentrierter Weise der verbalen Interaktionsentwicklung zu folgen, wie dies für den Vater der Fall ist. Sie hat die prinzipielle Zuständigkeit, neben der globalen Orientierung auf die Interaktionsdyade und die verbale Entwicklung der Konzeptvermittlung auch im Auge zu behalten, was sich in anderen Bereichen des Sets gerade ereignet. Im Vergleich mit dem Vater, der das verbale Geschehen so intensiv verfolgt, dass er dem Regisseur förmlich „an den Lippen hängt“, reagiert die Assistentin nur in Ausnahmen unmittelbar auf das Verhaltens des Regisseurs (siehe ihren Schritt zurück als Reaktion auf seine Gestikulation in ihre Richtung), sondern folgt regelmäßig eigenen, selbst bestimmten Relevanzen. Gleichwohl drückt ihre Position in Hörweite des Regisseurs vergleichbar dem Vater ihre Orientierung am Konzept der ‘Mit-Adressiertheit’ aus. Die Analyse zeigt jedoch, dass für die Assistentin das set-bezogene Monitoring lokal dominant wird und sie in Folge dieser Relevanz zwangsläufig die Interaktionsentwicklung nur noch akustisch und „nebenbei“ verfolgen kann. Der Vater ist hingegen ausschließlich damit beschäftigt, sich verfügbar zu halten und zu zeigen und sicher zu stellen, dass er nichts von der Konzeptvermittlung verpasst und jeder Zeit adressiert werden könnte. 5. Analysefazit Die Analysen haben zunächst grundlegende Gemeinsamkeiten in der interaktiven Beteiligung des Vaters und der Assistentin gezeigt. Diese Gemeinsamkeiten bestehen in der rein körperlich-räumlichen Verdeutlichung ihrer interaktiven Beteiligung. Beide orientieren sich am Konzept der Mit-Adressiertheit, bei dem die Setmitarbeiter aufgrund ihrer funktionsrollenspezifischen Aufgaben selbst aktiv sicherstellen müssen, dass sie alle für die Bearbeitung ihrer Aufgabe relevanten Informationen erhalten. Diese Orientierung ist bei Vater und Assistentin dafür verantwortlich, dass sie dem Regisseur zu Beginn der Konzeptvermittlung in den freien Raum vor die Schienen folgen, sich bei der weiteren Konzeptvermittlung in Hörweite positionieren, sich kontinuierlich und erkennbar auf die verbale Interaktionsdyade beziehen und sich darauf bezogen koordinieren und so ihr eigenes interaktives Verhalten strukturieren. Es gibt aber auch Hinweise auf deutliche Unterschiede im interaktiven Verhalten des Vaters und der Assistentin. Diese führen zur Differenzierung eines monofokalen und eines multifokalen Beteiligungsprofils. Beide Profile sind Reinhold Schmitt 76 Ausdruck der mit der jeweiligen Funktionsrolle im Zusammenhang der Konzeptvermittlung verbundenen Rechten und Pflichten des Schauspielers (Vater) und der Assistentin und orientieren sich an den mit der Konzeptvermittlung verbundenen funktionsrollenspezifischen Erwartungen des Regisseurs. Die Ausfüllung ihrer Funktionsrolle ist also letzlich wesentliche Basis ihrer spezifischen verbal abstinenten Beteiligung. 5.1 Monofokales Beteiligungsprofil (Vater) Der Vater realisiert insgesamt ein dynamisches, für lokale Veränderungen der Interaktionsdyade sensitives Präsenzprofil. Er produziert ein „engagement display“ (Heath 1982, 1984, auch 1986), das durch eine monofokale Relevanz bestimmt wird. Der Schauspieler zeigt an, dass er jeder Zeit auf der Grundlage seiner dynamischen Online-Analyse in funktionsrollenspezifischer Weise in das Gespräch einsteigen bzw. vom Regisseur als Adressat seiner Konzeptvermittlung integriert werden kann. 5.2 Multifokales Beteiligungsprofil (Assistentin) Die Regieassistentin realisiert eher ein räumlich-statisches Präsenzprofil. Sie produziert ein ‘engagement display’, das durch multifokale Relevanzen charakterisiert wird. Sie zeigt an, dass sie jeder Zeit auf der Grundlage ihrer allgemeinen Orientierung an der Interaktionsentwicklung für die Bearbeitung funktionsrollenspezifischer Aufgaben zur Verfügung steht. 5.3 Konstituenten verbal-abstinenter Beteiligungsprofile Für die beiden verbal abstinenten Beteiligungsformen haben die zurückliegenden Analysen folgende Aspekte als konstitutiv ausgewiesen: die Kontinuität der Orientierung auf die verbale Dyade, die Nähe-Distanz-Regulierung zur Dyade, die Körperausrichtung und Körperorientierung der Beteiligten, den Raumbezug der Blickorganisation und die Eigenständigkeit der Verhaltensstrukturierung. 5.3.1 Kontinuität der Orientierung auf die Interaktionsdyade Der Schauspieler ist kontinuierlich und monofokal auf die verbale Interaktionsdyade orientiert. Dies ist einerseits die selbstbestimmte Realisierung sei- Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 77 ner Funktionsrolle, andererseits reagiert er damit auch auf seine thematische bzw. referenzielle Relevanz und die koordinativen Relevanz, die der Regisseur bei der Konzeptvermittlung für ihn produziert. Die Regieassistentin ist diskontinuierlich auf den Regisseur und den Sohn ausgerichtet. Sie blickt immer wieder für längere Zeit in ihren aufgeschlagenen Drehplan und folgt der Konzeptvermittlung nicht dynamisch-kleinschrittig, sondern punktuell. Sie hat eine klare multifokale Orientierung. 5.3.2 Nähe-Distanz-Regulierung Der Schauspieler realisiert eine dynamische Nähe-Distanz-Regulierung und passt seine eigene Positionierung derjenigen des Regisseurs in unmittelbarer Reaktion an. Er positioniert sich in einer Nähe zum Regisseur, die phasenweise der des anderen Schauspielers vergleichbar ist. Dies zwingt ihn dazu, auf das Ausweichen des Regisseurs und des Sohnes vor der Kamera durch eigene körperlich-räumliche Umorientierungen zu reagieren. Die Regieassistentin realisiert eine wesentlich statischere Nähe-Distanz-Regulierung: Während der Konzeptvermittlung verweilt sie in ihrer eingangs eingenommenen Position und behält diese kontinuierlich bei, wobei sie den vom Schauspieler präferierten persönlichen Distanzbereich vermeidet. Als der Regisseur mit seinem linken Arm eine ausladende Zeigegestikulation in ihre Richtung realisiert, weicht sie, ohne ihren Blick vom Drehplan zu nehmen, einen Schritt zurück. 5.3.3 Körperausrichtung/ Körperdrehung Der Schauspieler ist körperlich kontinuierlich auf den Regisseur orientiert, seine Körpervorderseite ist dem Regisseur permanent zugewandt bzw. er positioniert sich nach Bewegungen des Regisseurs und nach erfolgter Neupositionierung ebenfalls so, dass seine Körpervorderseite ihm stets zugewandt ist. Der Schauspieler produziert Körperdrehungen nur in Reaktion auf Bewegungen des Regisseurs. Es lassen sich keinerlei Körperdrehungen finden, die als Ausdruck einer lokal-temporären Insertionsorientierung gelten könnten. Die Regieassistentin verändert ihre eingangs eingenommene Körperausrichtung während der gesamten Konzeptvermittlung nicht und dreht dann, wenn sie set-bezogenes Monitoring betreibt, ihren Oberkörper und vor allem ihren Kopf erkennbar vom Regisseur weg. Mit ihren Körperdrehungen bei den set- Reinhold Schmitt 78 bezogenen Monitoring-Aktivitäten ist jedoch keine Aufgabe ihrer Primärorientierung auf die Interaktionsdyade verbunden. Sie rastet immer wieder in ihrer Ganzkörperorientierung auf den Regisseur ein (Müller/ Bohle 2007). 5.3.4 Raumbezug der Blickorganisation Der Schauspieler ist kontinuierlich auf den Regisseur orientiert und heftet auch dann seinen Blick auf ihn, wenn er relativ nahe bei ihm positioniert ist. Er hängt gewissermaßen an dessen Lippen und folgt dem „Ping-Pong“ des Sprecherwechsels der verbalen Dyade aus der Nähe. Die Regieassistentin richtet ihren Blick nur punktuell auf den Regisseur. Häufiger ist sie damit beschäftigt, im aufgeschlagenen Drehplan zu lesen. Sie blickt beim set-bezogenen Monitoring in Reaktion auf Vorgänge in anderen Set-Bereichen auch vom Regisseur weg und verfolgt, was dort passiert. 5.3.5 Eigenständigkeit der Verhaltensstrukturierung Der Schauspieler ist insgesamt in seiner Verhaltensstrukturierung vom Verhalten des Regisseurs abhängig und koordiniert sich in unmittelbarer Reaktion auf ihn. Die Regieassistentin ist eigenständig(er) in ihrer Verhaltensstrukturierung. Sie realisiert häufig selbstbestimmte Verhaltensweisen, indem sie über längere Zeit in den Drehplan schaut. Sie realisiert selbstbestimmte set-bezogene Monitoring-Aktivitäten und verfolgt Entwicklungen auf dem Set, die nichts mit dem Geschehen innerhalb des Interaktionsensembles zu tun haben. 6. Das Konzept ‘Interaktionsensemble’ Welche Schlüsse lassen sich nun aufgrund der fallanalytischen Rekonstruktionen und der systematisierten Ergebnisse für das eingangs formulierte Erkenntnisinteresse und für die Entwicklung eines der faktischen multimodalen Komplexität von Interaktion adäquaten Konzepts interaktiver Beteiligung ziehen? Zur Beantwortung dieser Fragen ist es lohnend, sich noch einmal die Spezifik des Interaktionsdokuments und der besonderen Strukturen der dokumentierten Situation vor Augen zu führen. Bei den Setaufnahmen handelt es sich um audiovisuelle Interaktionsdokumente, um Multi-Party-Situationen, bei denen verbale Kommunikation nicht der eigentliche Zweck, sondern eher Mittel zum Zweck ist, um arbeitsteilige Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 79 und funktionsrollenspezifische Beteiligungsweisen, um Kooperationsstrukturen, die sich durch koexistente Interaktionsräume auszeichnen und auf die Bearbeitung eines übergeordneten ‘joint project’ ausgerichtet sind. Diese Datenspezifik spielt für die (Weiter-)Entwicklung eines Konzeptes interaktiver Beteiligung eine wichtige Rolle. Sie macht deutlich, dass interaktive Beteiligung nur als konsequent multimodal konstituiertes Konzept sinnvoll ist. Die Datenspezifik macht so verbale Abstinenz als Form interaktiver Beteiligung zum Thema der empirischen Analyse und motiviert den Versuch, ‘Interaktionsensemble‘ als (zunächst für die spezifische Situation ‘Filmset’) adäquates Konzept interaktiver Beteiligung zu entwickeln. 6.1 Grundstrukturen Das Konzept ‘Interaktionsensemble’ 10 fokussiert personelle, räumliche und thematisch-pragmatische Konstellationen als von den Beteiligten gemeinsam konstituierte Form von Kooperation sowie interaktiver Beteiligung und Bezogenheit. Interaktionsensembles nehmen - soweit sie auf der Grundlage wechselseitiger Wahrnehmung in Face-to-Face-Situationen zustande kommen - automatisch Raum ein und stellen selbst sichtbare Räume her. Die räumlich konstituierten Zusammenhänge, die durch den koordinativen Bezug der Ensemble-Mitglieder aufeinander hergestellt werden, werden inzwischen im multimodalen Analysekontext weitgehend als ‘Interaktionsraum’ konzeptualisiert. Interaktionsensemble und Interaktionsraum sind als Konzepte eng miteinander verbunden, fokussieren jedoch unterschiedliche Aspekte von Interaktion. Jedes Interaktionsensemble, das sich unter den oben skizzierten Bedingungen konstituiert, bildet automatisch eine körperlich-räumliche Konstellation im Sinne eines Interaktionsraums aus. Aber: Nicht jede räumlich-territoriale Konstellation im Sinne eines Interaktionsraumes stellt automatisch auch ein Interaktionsensemble dar. Einerseits kommt es vor, dass sich nicht alle Mitglieder eines Ensembles physisch permanent im gemeinsamen Interaktionsraum aufhalten. Ein Mitglied des Interaktionsensembles kann kurzzeitig eigenen Relevanzen nachgehen, verliert dabei aber seinen Ensemblestatus nicht, sondern kann sich völlig problemlos jederzeit re-integrieren. Das Interaktionsensemble ist also nicht grundsätzlich an permanente räumliche Ko-Präsenz all seiner Mitglieder gebunden. Andererseits können sich Personen temporär im Interaktionsraum des Ensembles aufhalten, ohne selbst Mitglieder des Ensembles zu werden. 10 Erste Überlegungen hierzu finden sich in Schmitt/ Deppermann (2007). Reinhold Schmitt 80 Dies hängt damit zusammen, dass die Mitglieder eines Interaktionsensembles gemeinsame thematisch-pragmatische Relevanzen verfolgen und im Sinne von Clark (1996) ein ‘joint project’ bearbeiten. Alle Ensemblemitglieder orientieren sich an den Zielen des ‘joint project’ und richten ihre interaktive Beteiligung in spezifischer Weise danach aus. Aufgrund der Bearbeitung des ‘joint project’ sind Interaktionsensembles über eine gewisse Dauer konstant und besitzen einen gemeinsamen thematischen Aufmerksamkeitsfokus und eine übereinstimmende Zielorientierung. Interaktionsensembles verfügen über eine Binnenstruktur und eine Außenstruktur. Die Binnenstruktur wird über die unterschiedlichen Formen interaktiver Beteiligung rekonstruierbar, wobei verbale und verbal abstinente Formen gleichermaßen und gleichwertig zu berücksichtigen sind. Die Außenstruktur erfolgt als Herauslösung aus einer interaktiven Gesamtsituation und als Abgrenzung von anderen in der Situation ebenfalls anwesenden Beteiligten (siehe den benachbarten, koexistierenden Interaktionsraum um den Kameramann herum, das „hinter den Schienen“). 11 Interaktionsensembles sind für Außenstehende in der Regel mit klaren Zugangsbeschränkungen verbunden. Die interaktive Beteiligungsweise, in denen die Mitglieder eines Ensembles agieren, ist das Ergebnis der gemeinsamen Herstellung aller Beteiligten. Die Mitgliedschaft wird durch den Betroffenen selbst aktiv ausgestaltet und im Verhalten anderer Beteiligter gespiegelt. So entspricht der kleinschrittig-dynamischen Beteiligungsweise des Vaters seine thematisch referenzielle Relevanz aus Sicht des Regisseurs, wohingegen sich der fehlende Bezug des Regisseurs auf die Assistentin in deren multifokaler und teilautonomer Beteiligung spiegelt. Das Konzept erfasst den gesamten Bereich zur Verfügung stehender Ausdrucksressourcen, mit denen Beteiligte ihre interaktive Beteiligung und Zugehörigkeit ausdrücken. Basierend auf der theoretischen Egalität aller Modalitätsressourcen (Kendon 1990a) 12 wird zwischen verbalen und anderen Ausdrucksformen kein konzeptioneller Unterschied gemacht. So wird verbale Abstinenz als eigenständige Form interaktiver Beteiligungsweise in Multi- Party-Situationen begriffen. Sie ist mit der gleichen methodischen Sorgfalt und auf Grundlage der gleichen konstitutionsanalytischen Methodologie zu analysieren wie verbale Formen. 11 Die Kooperation und Koordination dieser zwei benachbarten Ensembles wird detalliert analysiert in Schmitt (i.Vorb. a, Kap. 6). 12 Kendon (1990a, S. 16) betont „the importance of an integrated approach to the study of interaction“, der sich dadurch auszeichnet, dass er „refuses to assume that any particular modality of communication is more salient than another“. Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 81 Nimmt man das Postulat von Interaktion als gemeinschaftlicher Hervorbringung aller Beteiligten ernst, dann ist ein Konzept wie ‘Interaktionsensemble’ eine notwendige Konsequenz (siehe etwa Schmitt 2004 und 2007b). Das Konzept steht für den Versuch, im multimodalen Interaktionszusammenhang einen zentralen analytischen, konzeptuellen und interaktionstheoretischen Bezugsrahmen für die empirische Analyse interaktiver Beteiligung zu etablieren. 6.2 Konstellative Dynamik des Interaktionsensembles Das Konzept ‘Interaktionsensemble’ ist in diesem Sinne geeignet, körperlichräumliche Konstellationen als Herstellungsleistung der Beteiligten in gegenstandskonstitutiver Weise zu erfassen und die Rekonstruktion multimodaler Grundlagen der Interaktionskonstitution zu rahmen. Mit dem Konzept wird ein stabiler Interaktionszusammenhang als Herstellung aller Beteiligten für die Analyse interaktiver Ordnung (Goffman 1981) genutzt. Dieser stabile Zusammenhang darf jedoch nicht als statisch gedacht werden, sondern ist für eine weitgehende ‘konstellative Dynamik’ offen. Die zwei folgenden Standbilder geben anhand unterschiedlicher körperlich-räumlicher Konstellationen, die im Laufe der Konzeptvermittlung von den Beteiligten hergestellt werden, Einblick in das, was mit der konstellativen Dynamik des Interaktionsensembles gemeint ist. Zunächst sieht man einen Ausschnitt aus dem Beginn der Konzeptvermittlung mit zwei Zweierkonstellationen: den Regisseur und den Sohn, sowie den Vater und die Regieassistentin (Bild 29). Die körperlich-räumlichen Konstellationen zeigen die grundlegenden Beteiligungsweisen: Regisseur und Sohn sind mit verbaler Interaktion beschäftigt, Vater und Assistentin sind in Hörweite positioniert und blicklich und körperlich auf die verbale Dyade orientiert. 29 Reinhold Schmitt 82 Es folgt eine Dreierkonstellation und eine Einzelperson (Bild 30). Die Dreierkonstellation besteht aus dem Regisseur und dem Sohn, die in einer Face-to- Face-Formation so nahe zusammenstehen, dass sich ihre Füße fast berühren, sowie dem Vater. Er ist im rechten Winkel und etwas weiter entfernt zu den beiden positioniert. Die Regieassistentin steht abseits in Hörweite und ist mit set-bezogenem Monitoring beschäftigt. Sie hat sich - was ihre Kopfhaltung und Oberkörperorientierung betrifft - aus ihrer Bezogenheit auf die Dreierkonstellation gelöst. Allein aufgrund dieses Standbildes wird ihr Status als Mitglied des Interaktionsensembles kaum noch deutlich. Die Entwicklungsgeschichte des Ensembles ist also ein wichtiger Aspekt für die Identifikation von Zugehörigkeit und Bezogenheit. Es geht dabei jedoch nicht einfach darum, zu wissen, dass die drei vorher schon mit dem Regisseur zu tun hatten und auf diesen orientiert waren. Es kommt vielmehr darauf an, aus der aktuellen Konstellation die das Ensemble konstituierenden multimodalen Aspekte herauszuarbeiten und den interaktionskonstitutiven Status des Ensembles auch in solchen Situationen in Anschlag zu bringen, in denen die Zugehörigkeit Einzelner nicht fraglos evident ist oder gar in Frage zu stehen scheint. Um einem möglichen Missverständnis und einer damit eventuell zusammenhängenden „Guttenberg'schen“ Unterstellung zu begegnen, möchte ich zum Schluss meinen konzeptionellen Überlegungen noch folgenden Hinweis anfügen: Begrifflich ist ‘Interaktionsensemble’ nicht wirklich bzw. vollständig neu. So benutzt bereits Goffman (1969) den Ensemble-Begriff im Rahmen seiner Überlegungen zur Theatralität sozialer Interaktion: 30 Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset 83 Ich werde den Ausdruck Ensemble (team) für jede Gruppe von Individuen verwenden, die gemeinsam eine Rolle aufbauen. (Goffman 1969, S. 75) Individuen können sich offiziell oder inoffiziell zu einer Gruppe zusammenschließen, die mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln verwandte oder gemeinsame Ziele anstrebt. Soweit sie in Zusammenarbeit einen gegebenen Eindruck aufrechterhalten, um damit ihre eigenen Ziele zu erreichen, bilden sie ein Ensemble in unserem Sinn. (ebd., S. 79). Die Zitate machen deutlich, dass das Ensemble bei Goffman primär durch eine Darstellungsfunktion zu Stande kommt. Ensembles konstituieren sich durch den Aspekt des Impressionsmanagements. Dies ist der Aspekt, der das Ensemble etwa von einer Gruppe oder einer Clique (um zwei Beispiele von Goffman selbst zu benutzen) unterscheidet. Ein Ensemble kommt dann zustande, wenn sich mehrere Beteiligte in koordinierter Weise und unter Geheimhaltung gegenüber einer Öffentlichkeit konstituieren, um in der und gegenüber der Öffentlichkeit etwas darzustellen. Im Unterschied hierzu verweist der Begriff ‘Interaktionsensemble’ auf personale Konstellationen, die ihrem Status nach funktionale Kooperationseinheiten sind. Sie konstituieren sich durch die Bearbeitung einer gemeinsamen Aufgabe und können dies nur dann erfolgreich tun, wenn ihre Qualität als Interaktionsensemble der Öffentlichkeit bekannt und ihre Zusammenarbeit offensichtlich ist. Kriterium des Erfolgs ist zudem das bearbeitete Projekt, nicht jedoch der Eindruck, den das Ensemble dabei in der Öffentlichkeit hervorruft. 7. Ausblick Die Stabilität und Brauchbarkeit des Konzepts ‘Interaktionsensemble’ muss auf der Grundlage weiterer fallspezifischer Analysen gesichert werden. Vor allem im Zusammenhang dyadischer Interaktion und bei der verbalen Strukturierung von Geschichten wurde darauf hingewiesen, dass das Verhalten verbal abstinenter Beteiligter auf die Formulierungsarbeit eines aktuellen Sprechers rückwirkt (Goodwin 1980, 1981). Beim Interaktionsensemble ist in Analogie und in Bezug auf das hier analysierte Beispiel danach zu fragen, wie sich das Verhalten der verbal abstinenten Beteiligten im Detail auf die Strukturierung der Konzeptvermittlung auswirkt. Darüber hinaus geht es um die Rekonstruktion der ‘Außenstruktur’ des Ensembles, über die die Mitglieder/ Beteiligten neben ihrer interaktiven Bezogenheit nach innen ihren „Abschluss“ anderen Ko-Präsenten gegenüber ver- Reinhold Schmitt 84 deutlichen. Außerdem muss die temporäre und dauerhafte Erweiterung bestehender Interaktionsensembles analysiert werden. Neben der Struktur der erstmaligen Herstellung muss auch die Dynamik der schrittweisen Auflösung des Ensembles untersucht werden. Betrachtet man das Filmset als Typus einer kooperativ strukturierten Multi- Party-Konstellation mit klaren situations- und organisationsstrukturellen Bedingungen, dann gilt es, den situationstypologischen Geltungsbereich des Konzepts ausloten. In konzeptueller Hinsicht ist das Verhältnis zu bereits etablierten Vorstellungen wie „Interaktionsraum“ (beispielsweise Mondada 2007a, Schmitt/ Deppermann 2007), „Interaktionsfundament“ (Müller/ Bohle 2007) und den „F-formation systems“ (Kendon 1990b) genauer zu klären. Die Funktionsrollenspezifik, die sich im analysierten Ausschnitt zeigt, scheint beispielsweise an die Idee des „Arbeitskonsenses“ bei Kendon (1984) anschlussfähig zu sein. Das Konzept stellt jedoch bereits jetzt für die Interaktionsanalyse im Rahmen einer multimodalen Konzeption von Interaktion einen wichtigen Entwicklungsschritt dar. Mit ihm kann auch das verbal abstinente Interaktionsverhalten als theoretisch und methodisch gleichwertiger Beitrag zur Interaktionskonstitution fokussiert werden. War das Verhaltensspektrum des aktiven Hörers bei Goodwin (1981) noch weitgehend durch das Blickverhalten und die verbalen Aktivitäten des Sprechers motiviert, so ist die Analyse nun bei der faktischen multimodalen Komplexität und der Systematik des Verhaltens verbal abstinenter Beteiligter angekommen. 8. Literatur Clark, Herbert H. (1996): Using language. Cambridge. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (2000): On-line-Hilfen für den Hörer: Verfahren zur Orientierung der Interpretationstätigkeit. In: Wehr, Barbara/ Thomaßen, Helga (Hg.): Diskursanalyse. Untersuchung zum gesprochenen Französisch. Frankfurt a.M., S. 17-55. Dausendschön-Gay, Ulrich/ Krafft, Ulrich (2002): Text und Körpergesten: Beobachtungen zur holistischen Organisation der Kommunikation. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 4, 1, S. 30-60. Deppermann, Arnulf (2008): Verstehen im Gespräch. In: Kämper, Heidrun/ Eichinger, Ludwig M. (Hg.): Sprache - Kognition - Kultur. 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Einleitung: Interaktionsraum, Teilnahmeorganisation und ‘embodiment’ Das Interesse am Interaktionsraum geht darauf zurück, dass in der Konversationsanalyse zwar die Frage des Kontextes intensiv diskutiert, dessen räumliche Dimension jedoch weitgehend vernachlässigt wurde. Diese geriet erst in den Blick, als sich die Aufmerksamkeit stärker auf die körperliche Dimension der Interaktion richtete und dank Videoaufnahmen eine detaillierte Analyse der Multimodalität im weiten Sinne möglich wurde, die nicht nur Sprache und Gesten berücksichtigt, sondern auch die Körperhaltungen insgesamt (Positionierung, ‘body torque’, wechselseitige Orientierungen, visuelle Zugänglichkeit, Bewegungen, Manipulation von Gegenständen) sowie ihre fortlaufende Koordinierung und ihr ‘monitoring’ durch die Teilnehmer. In diesem Beitrag sollen verschiedene Aspekte diskutiert werden, zu denen der Begriff des Interaktionsraums beitragen kann. Zum einen wird das Konzept entwickelt und dabei ein neuer Blick auf zentrale Themen der Konversationsanalyse eröffnet, beispielsweise den Sprecherwechsel, die Wahl des nächsten Sprechers, die Orientierung auf den aktuellen Sprecher, die Organisation polyadischer Interaktionen und die Organisation verschiedener Teilnahmeformate. Eine Betrachtung des Interaktionsraums hilft, diese Phänomene in ihrer situierten Komplexität besser zu verstehen. Zum anderen wird ein Typ institutioneller Interaktion betrachtet, der bislang kaum empirisch untersucht wurde: die politische Bürgerdebatte im Kontext partizipativer Demokratie. Der Beitrag analysiert im Detail einen Ausschnitt aus einer Bürgerversammlung, die im Rahmen eines Projekts zu partizipativer Stadtplanung aufgenommen wurde. Zunächst gebe ich einen kurzen Überblick über den Begriff des Interaktionsraums und verorte ihn in der Forschungsliteratur. 1.1 Evidenz und Vernachlässigung der Räumlichkeit der Interaktion Dass Interaktion eine räumliche Dimension hat, ist offenkundig: Soziale Interaktionen finden in einem Raum statt, sie sind in einem Territorium, einem Ort, Lorenza Mondada 90 einer Architektur verankert. Dennoch entzieht diese Dimension sich dem Blick - oder vielleicht ist es gerade ihre Selbstverständlichkeit, die sie unsichtbar macht. Tatsächlich wird der räumliche Kontext, in dem eine Interaktion stattfindet, oft lediglich als deren „Rahmen“ behandelt. Er wird bei der Einführung der transkribierten Daten vor der eigentlichen Analyse kurz genannt (oft in einer Ortsbeschreibung des Typs „in Paris“, „in der Küche“ oder „in einem Sitzungssaal“) und dann sofort wieder vergessen, als habe er keinerlei Konsequenzen für die Interaktion. Entsprechend werden bei der Analyse dieser Interaktion seine jeweiligen lokalen Eigenschaften nicht differenziert oder mituntersucht. Mit anderen Worten: Der Raum wird zwar durchaus häufig erwähnt, aber er bleibt eine Hintergrundinformation und wird nicht zum Fokus der Analyse. Diese paradoxe Missachtung des Raums hat verschiedene Facetten. Auf der einen Seite gibt es in der Konversationsanalyse durchaus eine umfangreiche Literatur zum Kontext der Interaktion. Allerdings stand hier zunächst eher die institutionelle Dimension im Vordergrund als die materielle Umgebung der Interaktion. Diese rückte erst mit den ‘workplace studies’ stärker ins Zentrum (siehe unten Kap. 1.3). Auf der anderen Seite gibt es in der Linguistik eine lange Tradition von Untersuchungen zum Raum; hier geht es allerdings eher darum, wie die Sprache oder soziale Praktiken auf den Raum verweisen, als um Raum als den Ort, in dem das Sprechen der Interaktanten verankert ist. Mit dem Raum in diesem Sinne haben sich die Arbeiten zur Deixis befasst; doch blieb dieser Ansatz sehr auf die räumlichen Eigenschaften fokussiert, auf die sich deiktische Ausdrücke beziehen oder die sie zur Geltung bringen (siehe unten Kap. 1.2). Weiterhin ist derzeit in den Sozialwissenschaften ein ‘spatial turn’ zu beobachten; doch kommt man nicht umhin festzustellen, dass immer noch selten im Detail untersucht wird, wie interaktive Praktiken den Raum, in dem die Interaktion stattfindet, nutzen und transformieren. Im Folgenden gebe ich einen kurzen Überblick über die entsprechende Literatur und zeige, dass sie interessante Ansatzpunkte für die Entwicklung des Begriffs ‘Interaktionsraum’ bietet (Kap. 1.2 und 1.3). Anschließend gehe ich noch auf eine weitere Forschungstradition ein, die auf die ‘gesture studies’ von Kendon und die ‘context analysis’ von Scheflen zurückgeht, und setze den Begriff des ‘Interaktionsraums’ dazu in Beziehung (Kap. 1.4). Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 91 Der Begriff ‘Interaktionsraum’ lenkt die analytische Aufmerksamkeit auf den Raum, in dem die Interaktion stattfindet. Er versteht diesen Raum als reflexives Produkt der Körper in der Interaktion und ihrer Arrangements und Anpassungen an die Bedingungen und Ressourcen der materiellen Umgebung. Dies eröffnet einen praxeologischen Zugang zum Raum, der zum aktuellen ‘spatial turn’ beiträgt, indem er die Verbindung von Handlung und Raum ins Zentrum stellt. 1.2 Von der Bezugnahme auf den Raum zum Raum der Äußerung Der Raumbegriff spielt in der linguistischen Literatur und allgemeiner in den Geistes- und Sozialwissenschaften eine paradoxe Rolle. Trotz umfangreicher Literatur zur Darstellung des Raums und trotz des ‘spatial turn’, der sich derzeit in verschiedenen Disziplinen vollzieht (Döring/ Thielmann (Hg.) 2008), gibt es bisher kaum praxeologische Ansätze, die den Raum nicht als einen festen Bezugspunkt oder einen Gegenstand verstehen, den man beschreiben und auf den man sich beziehen kann, sondern als eine Konfiguration, die in der, durch die und für die soziale Interaktion hergestellt wird. So hat man sich in der Linguistik intensiv damit befasst, wie räumliche Referenz mit verschiedenen sprachlichen Mitteln ausgedrückt wird oder wie sich darin Grammatik, Kognition und Kontext verbinden (Bloom et al. (Hg.) 1996, Jackendoff/ Landau 1992, Levinson 2003, Lenz (Hg.) 2003, Herskovitz 1986, Hickmann/ Robert 2006 u.a.). Dies führte zu einer Neudiskussion der Sapir- Whorf-Hypothese, als der objektivistischen Auffassung, dass die Sprache Eigenschaften des Raums „kodiert“, ein eher relativistischer Ansatz gegenübergestellt wurde, nach dem die Sprache den Raum „strukturiert“ (vgl. Talmy 1983 vs. Tversky/ Lee 1998). Aber auch dieser Ansatz versteht Räumlichkeit meist als etwas, das bereits vor dem Sprechen und unabhängig von diesem existiert. Der Bereich, in dem sich dieser referenzielle Ansatz dem Gedanken geöffnet hat, den Raum als Kontext zu sehen anstatt einfach als einen festen Bezugspunkt, ist der der räumlichen Deixis: Studien aus den letzten Jahren zu den situierten Praktiken der Sprecher haben gezeigt, dass räumliche Deixis sich nicht einfach auf einen schon bestehenden Kontext stützt, sondern dass sie die Origo, von der sie ihren Sinn bezieht, aktiv definiert (Hanks 1990, Hausendorf 1995, Haviland 2000, Hindmarsh/ Heath 2000, Mondada 2005). Diese Arbeiten zeigen, dass Deixis nicht nur vom Kontext abhängt, sondern diesen gleichzeitig mitgestaltet. Damit haben sie den Weg dafür geebnet, die praxeologische Organisation der im engen Sinne räumlichen Dimension dieses Kontextes genauer zu untersuchen. Lorenza Mondada 92 Eine andere linguistische Tradition hat sich mit der räumlichen Dimension des Kontextes in ganz anderer Weise befasst: In der Dialektologie spielte bei der Kartierung von Sprachvariationen schon immer die geografische Verankerung der Sprecher eine wichtige Rolle (eher als seine sprachlichen Praktiken oder Handlungen). Die angewendeten kartografischen Methoden behandeln den Ort (meist der Herkunftsort) der Sprecher (meist Sesshafte) relativ abstrakt als einen homogenen Punkt oder Bereich auf der Karte, wobei sie die Mobilität der Sprecher meist nicht berücksichtigen (siehe aber Britain 2002, 2010). Selbst wenn sie Veränderung und die Verbreitung neuer Merkmale durch Kontakt und Kommunikation der Sprecher einbezieht (Trudgill 1974), nimmt diese Perspektive die regionalen und nationalen Räume oder aber die räumliche Distribution in den Stadtvierteln als Maßstab; sie berücksichtigt weder die spezifisch lokale Verankerung des Sprechens in bestimmten Handlungen noch die Auswirkungen dieses Sprechens auf die Definition des lokalen Raums. Es gibt nur wenige Arbeiten, die versuchen, die räumlichen (oder gar die mikroterritorialen) Eigenschaften des Ortes, an dem gesprochen wird, mit den Eigenschaften dieses Sprechens zu verbinden (siehe aber Eckert 2010 zur ‘place identity’ und Johnstone 2006 zur Identität, die sowohl sprachlich als auch räumlich basiert ist). Eine Konsequenz daraus ist, dass der Ort des Sprechens eher mit Identitätszugehörigkeiten der Sprecher in Verbindung gebracht wird als mit bestimmten Handlungen oder Details sozialer Interaktionen. Dadurch werden die performative Dimension des Handelns und dessen reflexiv konstitutive Auswirkungen auf den Raum vernachlässigt (vgl. Johnstone 2010; für eine ausführliche Diskussion der Literatur bis 2000 siehe Mondada 2000). Ein Punkt, der diese verschiedenen Aspekte verbindet, ist die Kontextsensitivität der Formulierung des Raums, denn die Formulierung des Ortes (Schegloff 1972) verknüpft die Wahl eines bestimmten sprachlichen Ausdrucks mit dem Ort, wo dieser Ausdruck produziert wird (vgl. Myers 2006). Beispiele dafür finden sich in der Literatur zu Wegbeschreibungen - einer Aktivität, in der sich Formulierung des Ortes, Position im Raum, Kenntnis des Raums und Kategorisierung des Sprechers verbinden (Schegloff 1972, Wunderlich 1978, Auer 1979, Psathas 1986, Mondada 2007b) - oder zur Formulierung des Ortes in Notrufen (Bergmann 1993, Fele 2008, Mondada 2010, i.Dr. a; Zimmerman 1992), chirurgischen Eingriffen (Koschmann et al. 2007, Mondada 2003) und Interaktionen zwischen Kampffliegern (Nevile 2009): Hier ist der Bezug auf den Raum von zentraler Bedeutung für die Organisation der Handlung im Raum (sich nicht verlaufen, Hilfe schicken, einen Patienten operieren, keine verbündeten Truppen bombardieren ...). Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 93 1.3 Vom Kontext zur materiellen Umgebung Die Frage des Kontextes wurde in der Konversationsanalyse schon früh aufgeworfen (Heritage 1984, Schegloff 1987a, Duranti/ Goodwin (Hg.) 1992; für eine Zusammenfassung und Diskussion siehe Mondada 2006) und in den Studien zum „institutional talk-in-interaction“ eingehend behandelt (Drew/ Heritage (Hg.) 1992). In dieser Perspektive ist Kontext reflexiv produziert, indem die Interaktion sich der Situation anpasst und damit wiederum ihrerseits die Situation gestaltet. Allerdings beziehen sich diese Ansätze - die vor allem auf Audiodaten basieren - in erster Linie auf einen institutionellen Kontext. Die räumliche Seite des Kontextes der Interaktion kam erst mit multimodalen Analysen in den Blick, die anhand von Videoaufnahmen durchgeführt wurden. Diese Art von Daten förderte eine weniger sprachfixierte und stärker ganzheitliche Sicht auf Interaktion. Dabei konzentrierten sich die Analysen vor allem auf bestimmte multimodale Details wie Blicke, Kopfbewegungen, Gesten etc. Sie eröffneten einen neuen Blick auf zentrale Phänomene, etwa den Sprecherwechsel und die Organisation bestimmter Sequenzen (vgl. Goodwin 1981; Heath 1986; Schegloff 1984, 1998; Streeck 1993, 2009; Stivers/ Sidnell 2005; Mondada 2007a, 2009; Schmitt 2004, 2005 u.a.). Die Gesamtheit der körperlichen Bewegungen und ihrer Koordination in der Umgebung wurde jedoch selten untersucht. Die „Umgebung“ oder auch „Ökologie“ der Interaktion wurde vor allem von den ‘workplace studies’ erforscht, deren Name bereits auf den Arbeitsraum verweist. Während die ersten Ansätze zum ‘talk at work’ (Drew/ Heritage (Hg.) 1992) gezeigt haben, wie der institutionelle Kontext die Interaktion strukturiert und gleichzeitig seinerseits durch diese strukturiert wird („context-shaped“ und „context-renewing“, Heritage 1984), haben die Untersuchungen zum ‘workplace’ die Bedeutung des räumlichen und materiellen Kontextes der Interaktion gezeigt und die wechselseitige Gestaltung von situierter Handlung und ihrer Umgebung genauer in den Blick genommen (vgl. Goodwin 2007). Der Begriff des ‘Interaktionsraums’ soll diese Reflexivität fassen und ihre grundlegende Bedeutung für die Organisation der Interaktion und der Teilnahme deutlich machen. 1.4 Der Interaktionsraum Der Begriff des ‘Interaktionsraums’ stützt sich auf grundlegende Beiträge von Goffman, Kendon und Goodwin und versucht, diese im Hinblick auf die sequenzielle Organisation der Interaktion und die emergente, dynamische Strukturierung des Teilnahmerahmens zu systematisieren. Lorenza Mondada 94 Goffman hat schon sehr früh den Zusammenhang zwischen der Organisation der Handlung und der des Raums hervorgehoben, zum Beispiel in Asylums (1961) und Behavior in Public Places (1963) oder mit seinem Begriff der ‘territories of the self’ (1971). Dabei versteht er den Raum als etwas, was die Organisation der Handlung bestimmt und gleichzeitig von dieser konfiguriert wird. Goffman zeigt, dass die körperliche Verteilung im Raum zeitweilige und veränderbare Territorien schafft, die sowohl von den Teilnehmern selbst anerkannt werden als auch von anderen Personen um sie herum, die nicht am Gespräch teilnehmen. Die Positionen der Körper grenzen ein „ecological huddle“ (Goffman 1964) ab, das zeitweilig das „situated activity system“ (Goffman 1961) verkörpert. Solche Arrangements bilden „focused gatherings“ (Goffman 1963), die sich durch wechselseitige Orientierung aufeinander und geteilte Aufmerksamkeit definieren und sich in Körperpositionen, Haltungen, Blicken und Gesten manifestieren. Mit solchen zeitweiligen Territorien befassen sich auch Ashcraft/ Scheflen (1976). Sie dokumentieren räumliche Anordnungen durch Videoaufnahmen in verschiedensten Kontexten und beobachten körperliche Konfigurationen, bei denen „the unoccupied space in the center of the group nevertheless becomes a claimed territory. Others outside the circle customarily recognize the territory“ (ebd., S. 7). Kendon (1990, S. 248f.) bezeichnet dieses Territorium als ‘F-formation’: Die Teilnehmer konstruieren mit ihren Positionen und Orientierungen ein Arrangement, das einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und die Beteiligung an einer gemeinsamen Handlung begünstigt. ‘F-formations’ können verschiedene Formen annehmen; am eingehendsten wurde zwar die Face-to-Face-Anordnung untersucht, doch es gibt noch andere wie die Aufstellung Seite an Seite oder in L-Form. Kendon verweist darauf, dass die Anordnung der Körper einen bestimmten Interpretationsrahmen schafft, der die in diesem Kontext jeweils ablaufende soziale Interaktion in einer bestimmten Weise gestaltet: „there is a systematic relationship between spatial arrangement and mode of interaction“ (ebd., S. 251). Einige Zeit später hebt Goodwin (2000, 2002, 2003, 2007) die wechselseitigen Zusammenhänge zwischen situierter Handlung und materieller Umgebung hervor und definiert die so genannten ‘contextual configurations’. Diese kontextuellen Konfigurationen rahmen die Handlung und machen sichtbar, wie diese sich Schritt für Schritt entwickelt; sie werden durch eine Vielzahl semiotischer Ressourcen gestaltet (2000, S. 1490). Die Analyse des Sprechens in Interaktion muss das situierte Handeln der Teilnehmer berücksichtigen, doch Gesten oder Körper- Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 95 haltungen können ebenfalls nicht isoliert untersucht werden - auch wenn zahlreiche Untersuchungen das tendenziell versuchen, wenn sie sich fast ausschließlich auf die Handbewegungen konzentrieren. Goodwin zeigt, dass die Beschreibung solcher Bewegungen die Struktur der Umgebung einbeziehen muss - er bezeichnet das als „environmentally coupled gestures“ (Goodwin 2007). Goodwin hat sich insbesondere mit räumlichen Umgebungen befasst, die semiotisch strukturiert sind - wie das von Strichen auf dem Boden gebildete Himmel-und-Hölle- Spiel (2000), das durch Linien begrenzte und unterteilte Fußballfeld (2002) oder das Ausgrabungsfeld, das durch Planzeichnungen und von den Archäologen auf der Erde gezogenen Linien strukturiert ist (2000, 2002); diese bilden jeweils ein „semiotic field“ oder „graphic field“ (2000, S. 1505) und lassen an eine „ecology of sign systems“ denken (2002). Von diesen Beiträgen inspiriert, habe ich selbst mich mit dem befasst, was ich den ‘Interaktionsraum’ genannt habe. Der Begriff verweist darauf, dass dieser Raum in der Interaktion und durch sie geschaffen wird. Er wird von den Teilnehmern in einer für die Aktivität, mit der sie befasst sind, relevanten Weise definiert und abgegrenzt, und zwar durch ihre situierten, wechselseitig aufeinander abgestimmten und sich verändernden körperlichen Arrangements, ihre wechselseitige Aufmerksamkeit und einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus sowie dadurch, wie sie ihre gemeinsame Handlung (und ggf. die Manipulation von Gegenständen dabei) koordinieren. Dabei passen sie sich den Eigenschaften der Umgebung an, die sie durch ihr Handeln aber auch unterlaufen und umgestalten (Mondada 2005, 2007b, 2009, i.Dr. b). Die detaillierte Analyse dessen, wie der Interaktionsraum lokal hergestellt wird, hat zwei wichtige Folgen. Zum einen macht sie deutlich, dass die Teilnehmer für grundlegende Aspekte der sequenziellen Organisation sowie der Organisation des Sprecherwechsels, der Teilnahme und der Handlungsformate den umgebenden Raum nutzen; vor allem mit ihren Körperhaltungen, ihrer wechselseitigen Orientierung, geteilter Aufmerksamkeit, der Projektion von Bewegungen usw. So stützt sich zum Beispiel die Suche nach einem ‘next speaker’ oder das Erkennen eines Teilnehmers, dass er als nächster Sprecher ausgewählt wurde (vgl. Lerner 2003), nicht nur auf Adressierung und gegenseitige visuelle Verfügbarkeit, sondern auch auf die Positionen der Teilnehmer: Die Techniken der Zuweisung des Rederechts beruhen grundlegend auf der Verteilung im Raum (für Beispiele aus polyadischen Interaktionen siehe Deppermann/ Schmitt/ Mondada 2010, Ford 2008, Mondada i.Dr. b, Markaki/ Mondada i.Dr., Mondada/ Oloff i.Dr.). Lorenza Mondada 96 Der andere Punkt ist, dass das Konzept des Interaktionsraums eine praxeologische Perspektive auf den Raum fördert, die die reflexive Entwicklung von situierter Handlung und Eigenschaften des Raums betont. Das bedeutet eine große Herausforderung für die Vorstellung von der Materialität der Umgebung (z.B. der Architektur, siehe Hausendorf 2010); diese wird sowohl als Bedingung als auch als Ressource des Handelns verstanden, die gleichzeitig das Handeln strukturiert und durch dieses strukturiert wird - diese Perspektive vermeidet jeden räumlichen Determinismus. Die Herausforderung liegt auch darin, den Raum in diesem Sinne sehr präzise mit der sequenziellen und zeitlichen Organisation des Sprechens in Interaktion und der situierten Handlung zu verbinden und zu zeigen, wie der Interaktionsraum sich in der Nutzung der multimodalen Ressourcen und der Koordination eines oder mehrerer Handlungsstränge entfaltet, ausbildet und verändert. Die Antwort auf diese Herausforderung kann den ‘spatial turn’ in den Sozialwissenschaften weiter vorantreiben und diesen Dialog mit dem der Kulturgeografie und -anthropologie verbinden (Gregory/ Urry (Hg.) 1985, Thrift 1996, Cresswell 2004). In der folgenden Analyse konzentriere ich mich auf einen Einzelfall (‘single case analysis’). Das ermöglicht einerseits, die sukzessiven Transformationen des Interaktionsraums nachzuzeichnen und damit dessen Plastizität und Fähigkeit der Anpassung an die laufende Aktivität zu zeigen. Andererseits macht es deutlich, was der Interaktionsraum zu zentralen Themen der Konversationsanalyse beiträgt, etwa zum Sprecherwechsel (Bedeutung der Lokalisierung des ‘next speaker’), zum Teilnahmerahmen (räumliche Verkörperung und Verankerung dieses Rahmens, der durchaus nicht rein symbolisch oder abstrakt ist) oder zur sequenziellen Organisation (z.B. Bedeutung der Orientierung auf den- oder auch diejenigen, an den bzw. die man sich wendet). Die folgenden Analysen beziehen sich auf Daten, die zum Bereich institutioneller Interaktion gehören - eine Bürgerversammlung im Rahmen eines Projekts partizipativer Demokratie. Sie bringen somit einerseits allgemeine Merkmale des Interaktionsraums heraus, andererseits aber auch Eigenschaften, die den Spezifika des Kontextes geschuldet sind. Die Analysen befassen sich insbesondere mit den verschiedenen Interaktionsräumen, die im Verlauf einer Versammlung emergieren, an der sich zahlreiche Personen beteiligen und die von einem Moderator strukturiert wird. In dieser Konfiguration, die durch einen komplexen Teilnahmerahmen gekennzeichnet ist, wird der Interaktionsraum von Teilnehmern definiert und gestaltet, die unterschiedliche Perspektiven auf die Interaktion haben, da sie nicht mit denselben praktischen Problemen und Interaktionsaufgaben konfrontiert sind. Die Teilnehmer konfi- Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 97 gurieren den Interaktionsraum mit engem Bezug zum Handeln des Moderators, der als Fokusperson (Schmitt/ Deppermann 2007) gesehen wird. Das bedeutet nicht, dass der Interaktionsraum ausschließlich durch den Moderator determiniert wird, doch ist er stark durch dessen Handeln strukturiert, sowohl im Hinblick darauf, wie der Moderator ihn organisiert, als auch im Hinblick darauf, wie die anderen Teilnehmer ihn wahrnehmen und behandeln. Dieses Merkmal, das institutioneller Interaktion in Versammlungen - und hier noch spezifischer partizipativer politischer Diskussion - eigen ist, erlaubt, über die Praktiken der Konstitution und Aushandlung des Interaktionsraums nachzudenken, die für den Kontext und den Aktivitätstyp spezifisch sind. 2. Der analysierte Fall: Daten und Hintergrund Das Korpus, auf das sich dieser Beitrag stützt, wurde im Rahmen einer ethnografischen Untersuchung zu einem Projekt partizipativer Stadtplanung erhoben, das im Herbst/ Winter 2008 in einer französischen Großstadt durchgeführt wurde. Es ging dabei um die Umgestaltung einer ehemaligen Militärkaserne zu einem öffentlichen Park. In diesem Zusammenhang wurde ein Bürgerbeteiligungsverfahren eingeleitet. Es umfasste zum einen Veranstaltungen, in denen über den Zustand des Geländes informiert wurde, zum anderen Arbeitsgruppen für Austausch, Diskussion und Absprachen. Meine eigene ethnografische Arbeit bestand darin, den Ablauf des Verfahrens zu dokumentieren. Über mehrere Monate wurden die Informationsveranstaltungen, Ortsbegehungen und Arbeitsgruppen mit mehreren Videokameras und Tonbändern aufgenommen. Partizipative Demokratie und partizipative Stadtplanung, denen sich die hier untersuchten Ereignisse zurechnen, sind eine Form des politischen Lebens, die auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven untersucht wurde (Healey 1997), von philosophischen oder historischen Ansätzen (Fontana/ Nederman/ Remer 2004, Gutmann/ Thompson 1996) bis zu ethnografischen Studien zur konkreten Aushandlung und Umsetzung von urbanistischen Projekten (Söderström 2000, Townsend 2009). Detaillierte Interaktionsstudien fehlen jedoch in diesem Bere ich fast völlig (siehe aber Bora/ Hausendorf 2009, Mondada i.Dr. d; siehe auch Llewellyn 2005; McIlvenny 1996a, 1996b) dazu, wie Bürger sich zu Wort melden, um in der Öffentlichkeit zu sprechen. Eine Folge davon ist, dass die konkreten Praktiken, mit denen das politische Konzept der ‘Partizipation’ implementiert wird, bisher nicht eingehend untersucht wurden - obwohl Partizipation sich gerade in den spezifischen Interaktionsformen realisiert, die die politische Diskussion annimmt. Hier geht es Lorenza Mondada 98 zwar nicht darum, die Spezifika der interaktionalen Ordnung dieses Versammlungstyps zu beschreiben, doch zeigt sich in der Analyse, dass die Formen der Konstitution und der Organisation des Interaktionsraums eng mit den partizipativen Zielen solcher politischer Versammlungen zusammenhängen und im Gegenzug ihrerseits mitbestimmen, was partizipative Demokratie im konkreten interaktionellen Handeln bedeutet. Der im Folgenden analysierte Ausschnitt stammt aus einer Brainstorming- Sitzung, in der die etwa 20 anwesenden Bürger Vorschläge dazu machen, welche städtebaulichen Prinzipien bei der Gestaltung des Parks berücksichtigt werden sollen. Die Vorschläge werden in der Gruppe diskutiert und von dem Moderator, der die Sitzung leitet, für alle sichtbar an der Tafel notiert. Die Sitzung beginnt mit einer kurzen Diskussionsphase von 15 Minuten. Die Teilnehmer bilden Arbeitsgruppen, die an mehreren Tischen verteilt sitzen. Anschließend werden die Ideen, die die Gruppen in dieser Vorbereitungsphase entwickelt haben, im Plenum diskutiert. Die Diskussion ist rekursiv organisiert: In jeder „Runde“ erteilt der Moderator einem Bürger das Wort, den die Gruppe, die jeweils an einem Tisch sitzt, zu ihrem Wortführer bestimmt hat. Dieser Bürger benennt einen Aspekt, der bei der Konzeption des Parks berücksichtigt werden soll; der Vorschlag wird vom Moderator wiederholt oder reformuliert und seine Formulierung gegebenenfalls in der Gruppe ausgehandelt. Sobald eine Einigung erzielt ist, wendet der Moderator sich der Wand zu, an der mehrere große Papierbögen hängen, und schreibt die vereinbarte Formulierung auf einen dieser Bögen. Anschließend wendet er sich wieder den Teilnehmern zu und bittet um den nächsten Vorschlag. Diese knappe Beschreibung wird der Komplexität der dabei geleisteten Arbeit nicht gerecht, die ich im Folgenden anhand der Analyse einer solchen vollständigen Episode detailliert zeigen werde. Dabei gehe ich nicht auf die systematische Organisation dieser verschiedenen Phasen ein (siehe dazu Mondada i.Dr. c) und befasse mich auch nicht damit, wie Beschreibung des Parks (Darstellung des Raums), Interaktionsraum und Anschreibraum (Raum der Darstellung) ineinandergreifen (vgl. Mondada 2011). Vielmehr konzentriere ich mich darauf, wie der Interaktionsraum durch das Handeln der Teilnehmer dynamisch konfiguriert wird, und auf die Variationen des Interaktionsraums, die im Verlauf dieser Episode auftreten. Ich untersuche anhand der folgenden Ausschnitte, wie ein Vorschlag von einer Gruppe (einem Tisch) eingebracht wird (dazu gehören Collot (COL), Bléfous (BLF), Roussot (ROU), Jeanneret (JEA), Nikson (NIK) und Nilsen (NIL); Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 99 siehe Abb. B), wie er von Bléfous vorgebracht, vom Moderator aufgenommen und von den anderen Teilnehmern diskutiert wird, und verfolge seine Transformationen bis zu dem Moment, wo er öffentlich angeschrieben wird. Die singuläre Episode, auf die sich die Analyse bezieht, beginnt damit, dass der Moderator sich wieder zu den Teilnehmern umdreht, nachdem er den vorherigen Vorschlag angeschrieben hat (Abb. A), und geht bis zu dem Moment, wo er den Vorschlag anschreibt, den Bléfous gleich vorbringen wird (Abb. B). MOD LAU LAN FOC COL BLF ROU JEA GIL NIK NIL BLO Abb. A Abb. B Abb. A/ B: Teilnehmer im analysierten Ausschnitt Abb. A: Der Moderator (MOD) Abb. B: Laurier und Lance sind Mitglieder des Bauaufsichtsamts; die stehende Person ist die Forscherin; sie hält die Kamera, die den Moderator aufnimmt (Abb. A). Collot, Bléfous, Rousset, Jeanneret, Nikson und Nilsen (weiß eingekreist) sind die Teilnehmer an dem Tisch, von dem der im Folgenden analysierte Vorschlag kommt; Blondin und Gillet gehören zur Gruppe am Nachbartisch. Wie wir im Folgenden noch sehen werden, ist der Versammlungsraum in verschiedene Räume unterteilt, die in der und durch die laufende Aktivität nacheinander relevant gesetzt werden, und zwar durch die Orientierungen der Teilnehmer und die Bewegungen des Moderators. Die Analyse richtet sich auf die Varianten der Strukturierung des Interaktionsraums, die im Verlauf der Interaktion reflexiv vollzogen werden. Im vorderen Bereich des Saals, dem die Teilnehmer zugewandt sind, hängen an einem Whiteboard an der Wand mehrere große Papierbögen; auf diesen hält der Moderator die Vorschläge fest, auf die sich die Gruppe geeinigt hat (Abb. A). Der Moderator wendet sich - in bestimmten sequenziellen Momenten, auf die ich noch genauer eingehen werde - abwechselnd dieser Tafel und dem Saal zu. Tafel und Saal konstituieren zwei unterschiedliche Handlungsräume: Der erste ist im Großen und Ganzen dem Anschreiben gewidmet, der zweite der Diskus- Lorenza Mondada 100 sion. Die Tafel - der „Anschreibraum“ - ist wiederum in verschiedene Rubriken eingeteilt, die wiederum in verschiedene Rubriken eingeteilt sind; diese entsprechen den Papierbögen, die jeweils unterschiedliche Titel tragen. Auch der Saal selbst ist in mehrere Räume unterteilt; diese werden durch die Tische strukturiert, an denen die Teilnehmer sitzen. Die Tische sind nicht nur das Mobiliar, mit dem der Saal ausgestattet ist; der Moderator nutzt sie von Anfang an, um ‘Gruppen’ zu bilden, indem er bei Brainstorming-Runden und beim anschließenden Berichten über die Ergebnisse diejenigen, die an einem Tisch sitzen, jeweils zu einer Einheit zusammenfasst. Zu Beginn der Versammlung hat er die Tische im Raum verteilt und damit den Raum - der normalerweise als Unterrichtsraum benutzt wird - neu strukturiert (vgl. Hausendorf i.d.Bd.). Die Wahl des Ortes ist im Übrigen symbolhaft, denn die Versammlung findet in einem der Gebäude der ehemaligen Kaserne statt, um die es in der Diskussion geht. Die Besetzung der Tische ist jedoch nicht vorab festgelegt: Die Leute kommen nach und nach an und wählen ihre Plätze selbst. Die Teilnehmer bleiben während der Versammlung die ganze Zeit auf demselben Platz. Der Moderator ist die einzige mobile Person in der Situation: Er wechselt nicht nur zwischen den verschiedenen Bereichen und setzt dadurch nacheinander den Raum der Tafel, den des Saals oder den eines bestimmten Tischs relevant, sondern er nimmt auch ‘body-torque’-Haltungen (Schegloff 1998) ein, um sich auf mehrere Bereiche gleichzeitig zu orientieren (z.B. auf einen bestimmten Tisch und die Gruppe der übrigen Teilnehmer, siehe unten). Die Analyse soll verdeutlichen, wie diese verschiedenen Räume für die jeweils laufende Handlung sukzessive relevant gesetzt werden: bei der Auswahl des Sprechers, der den Vorschlag einbringen wird (Kap. 3), bei der Identifizierung seines Tischs als den Ort, wo bezogen auf den Raum der lokale „Ursprung“ und bezogen auf die Beteiligten die personale „Autorschaft“ dieses Vorschlags liegt (Kap. 4), bei der Erweiterung des Interaktionsraums, um eine kollektive Einigung zu erzielen (Kap. 5), bei der Transformation des Raums, wenn der Vorschlag an die Tafel geschrieben wird (Kap. 6), und schließlich beim Einbringen eines weiteren Vorschlags, während der Moderator diesen ersten anschreibt (Kap. 7). Die Analyse soll im Detail die enge Verzahnung von interaktionalen Mikro-Verfahren, ihrer sequenziellen Organisation und ihrer räumlichen Verankerung zeigen. Damit verfolgt sie ein doppeltes Ziel: Sie soll zum einen zeigen, welche Rolle der Interaktionsraum bei den Mechanismen des Sprecherwechsels im Allgemeinen spielt, zum anderen, wie sich dies speziell in einer politisch-institutionellen Situation darstellt. Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 101 3. Die Auswahl des nächsten Sprechers: Interaktionsraum und Orientierung auf den ‘next speaker’ Wir wenden uns der Handlung in dem Moment zu, in dem der Moderator mit dem Anschreiben des vorherigen Vorschlags ans Whiteboard fertig ist und sich wieder zum Saal umdreht. Während er noch dabei ist, hebt Gillet die Hand, um sich selbst vorauszuwählen. Der Moderator sieht ihn an und gibt zu erkennen, dass er seine Wortmeldung gesehen hat, wählt jedoch stattdessen Bléfous aus; sie gehört zu dem Tisch, der vorher das Wort hatte: (1) 1 #(0.3)+ # (1)*+ # mod >>...dreht sich zu d. Teiln. um---*zu d. Teiln. gewandt--> gil ....+...hebt die Hand--------------+Hand oben--> Abb #1 #2 #3 2 MOD: oké. d’acco: *rd, okay. in Ordnung, -->*dreht s. leicht u. zeigt auf Blf--> 3 (0.2) 4 MOD: #alors on **va a#ttendez, continuer* si also wir machen warten Sie, weiter wenn -->*zeigt zu Blf------------* **sieht zu Gil---> Abb #4 #5 5 vous voulez bien, hein Sie einverstanden sind ne 6 puis on fait** l’tour. # dann gehen wir reihum. -->**nähert sich Blf, sieht sie an->> Abb #6 7 (0.5) 8 MOD: c’est l’essentiel pour vous? das ist das Wichtigste für Sie? Der Ausschnitt zeigt, wie der Moderator eine neue Sequenz eröffnet und sich dabei an zwei potenzielle nächste Sprecher wendet: Gillet, der sich in diesem Moment selbst vorauswählt, und Bléfous, die vorherige Sprecherin. Als er seine Position verändert und sich von der Tafel zum Saal zurückbewegt, demonstriert er eine doppelte Orientierung auf diese beiden Interaktanten gleichzeitig: Er geht auf Bléfous zu und zeigt auf sie, schaut aber gleichzeitig zu Gillet, spricht ihn an (4) und kündigt an, dass er ihm später das Wort erteilen wird (5). Lorenza Mondada 102 Der Beginn dieser neuen Sequenz zeigt, wie aufmerksam die Teilnehmer das Handeln des Moderators verfolgen und mögliche übergaberelevante Stellen identifizieren (vgl. Ford 2008): Sobald der Moderator sich dem Saal zuwendet (Abb. 1), beginnt Gillet die Hand zu heben (Z. 1, Abb. 2), so dass er in dem Moment, als der Moderator wieder vollständig der Gruppe zugewandt ist, für diesen sichtbar die Hand oben hat (Z. 1, Abb. 3), während der Moderator die vorherige Sequenz abschließt (Z. 2). Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Angesichts von Gillets Vorauswahl tut der Moderator zweierlei: Zunächst sieht er zu Bléfous und zeigt auf sie (Abb. 4); dann, während er auf sie zugeht, sieht er Gillet an (Abb. 5). Diese doppelte Orientierung manifestiert sich auch in seinem Turn in Zeile 4-5: alors on va attendez, continuer si vous voulez bien, hein (‘also wir machen warten Sie, weiter wenn Sie einverstanden sind, ja’). Der erste, an Bléfous gerichtete Teil der Äußerung alors on va annonciert und projiziert (mit dem Futur) den Beginn der neuen Sequenz, die aber mit dem an Gillet adressierten Einschub (attendez,) sofort unterbrochen wird. Das Folgende ist ebenfalls an Gillet gerichtet; der Moderator kündigt an, dass er ihm gleich das Wort erteilen wird (Z. 6: puis on fait l'tour, - ‘dann gehen wir reihum’). Dabei dreht er sich (am Ende von fait) wieder zu Bléfous um und geht weiter auf sie zu (Abb. 6). Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 4: Moderator schaut und zeigt auf Bléfous. Abb. 5: Moderator sieht Gillet an und zeigt auf Bléfous. Abb. 6: Moderator geht auf Bléfous zu. Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 103 In dieser Weise nutzt der Moderator die Zeit und den Weg von der Wand zum Tisch von Bléfous, um sowohl Gillets Vorauswahl zu bearbeiten als auch um anzuzeigen, dass er das Wort an den Tisch zurückgibt, der den vorherigen Vorschlag geäußert hatte, und zwar an Bléfous als Sprecherin dieser Gruppe. Dieser Ausschnitt zeigt also ein besonders deutliches Beispiel dafür, dass und wie die Auswahl des nächsten Sprechers mit einer räumlichen (Um-)Orientierung und damit einer Wiedereinrichtung und Neuorganisation des Interaktionsraums verbunden ist. Allgemeiner zeigt er, dass der Sprecherwechsel sich nicht nur auf das multimodale Verhalten der Teilnehmer (Blicke, Gesten) stützt, sondern auch darauf, wie dieses Verhalten positioniert und dadurch sichtbar gemacht wird. Die Positionierung der Teilnehmer ist grundlegend für die Auswahl des nächsten Sprechers. Eine Fremdwahl des nächsten Sprechers erfordert eine sowohl für diesen selbst als auch für die anderen Teilnehmer wahrnehmbare körperliche Orientierung auf den Ort, an dem er sich befindet. Dabei erlaubt der ‘body torque’ eine doppelte Orientierung auf zwei Teilnehmer, die sich an verschiedenen Orten befinden. Für eine Selbst-Vorauswahl als möglicher nächster Sprecher muss der Betreffende Haltung und Bewegungen des Adressaten der Selbstwahl (hier: des Moderators) im Raum genau beobachten, um z.B. den geeignetsten Moment für das Heben der Hand auszumachen - sowohl in sequenzieller Hinsicht (Abschätzen der Abgeschlossenheit des gerade entstehenden Turns bzw. der Handlung) als auch in visueller (Projektion der sich vollziehenden Bewegung). Mit anderen Worten: Die Sichtbarkeit der multimodalen Verhaltensweisen ist nicht von selbst gegeben, sie wird vielmehr interaktiv hergestellt: von den Anwärtern auf den Turn, die die Positionen und Orientierungen des Moderators wie auch ihre eigene Sichtbarkeit für den Moderator aufmerksam verfolgen, und dem Moderator selbst, der die mobilen Konfigurationen der Teilnehmer genau beobachtet. In Bezug auf die Positionierung der Teilnehmer wird noch etwas anderes deutlich: Der Ausschnitt zeigt, wie in einer Gruppe von Teilnehmern eine räumliche Verteilung unterschiedlicher Anrechte auf das Wort relevant gesetzt und wahrnehmbar gemacht wird: Angesichts mehrerer möglicher Sprecher zeigt, blickt und orientiert sich der Moderator auf einen bestimmten Punkt im Raum, nämlich den Tisch von Bléfous, und schließt damit andere Punkte aus (zum Beispiel den Tisch von Gillet). Der ‘account’, den er für diese Wahl gibt (Z. 5: on fait l′tour - ‘gehen wir reihum’), zeigt, dass die ganze Diskussion räumlich organisiert ist, wie ein mehrstufiger Parcours durch den Saal (eine „Runde“). Lorenza Mondada 104 4. Formulierung und Reformulierung des Vorschlags: Interaktionsraum und Autorschaft Nachdem er seine neue Haltung eingenommen hat und völlig (mit dem Körper und dem Blick) auf den Tisch von Bléfous orientiert ist, richtet der Moderator den ersten Teil einer Paarsequenz an diese Gruppe (Z. 8): (2) 8 MOD: c’est l’essentiel pour vous? das ist das Wichtigste für Sie? 9 (0.2) 10 NIL? : °ben c’est une pro[menade° °nun das ist eine Pro[menade° 11 MOD: [*qu’est-c’qu’i faut provoilà, c’est ça, [was soll Vorgenau, das ist es, *gestikuliert mit 2 Händen--------------> 12 qu’est-ce qu’il faut PRI#VIlé*gier, pour *vous (l’u-) was soll Vorrang haben aus Ihrer Sicht (die Nu-) --->* *geht rückwärts--> Abb #7 13 en termes d’usa#ge? * in Bezug auf die Nutzung --->* Abb #8 Abb. 7 Abb. 8 Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 105 14 (0.*4) mod *dreht s. zu Teiln. u. weicht zurück----> 15 MOD: pac’que pour #l’moment on est plutôt un lieu où* on s’promène denn im Moment ist das eher ein Ort wo man spazierengeht --->*weicht zurück- Abb #9 16 et on s’rencontre,= und sich trifft,= -und sieht zu Blf-----> Abb. 9 Der Moderator stellt eine Frage (Z. 8) und setzt damit eine Antwort als zweiten Zug der Paarsequenz relevant. Während schon mehrere Personen beginnen, zu antworten (Z. 10), spricht er dann aber weiter und reformuliert seine Frage (Z. 11-13), wobei er l'essentiel (‘das Wichtigste’, Z. 8) paraphrasiert mit qu'est-ce qu'il faut PRIVilégier (‘was soll Vorrang haben’, Z. 12). Diese Paraphrase rahmt er mit en termes d'usage (‘in Bezug auf die Nutzung’, Z. 13), womit er sich auf eine der Kategorien bezieht, die als Titel auf einem der Blätter an der Tafel steht. Schon hier beeinflusst also nicht nur das zukünftige Anschreiben des Vorschlags, sondern sogar das Anschreiben in einem bestimmten Bereich der Tafel (unter der Rubrik usage - ‘Nutzung’) die im Entstehen begriffene Formulierung (vgl. Mondada i.Dr. c). Das spätere Anschreiben beeinflusst also reflexiv die Gestaltung der Folgehandlung, die mit diesem ersten Zug der Paarsequenz projiziert wird. Während dieser Expansion seiner Frage schaut der Moderator weiterhin zu Bléfous' Gruppe, tritt dabei jedoch zurück und entfernt sich dadurch von deren Tisch (Abb. 7, 8). Während der folgenden Pause (14), als niemand antwortet, dreht er sich zum Saal um, wobei er noch weiter zurückgeht (Abb. 9), und expandiert die Frage nochmals (Z. 15-16), womit er im Übrigen den Ansatz von Collot bzw. Nilsen aus Zeile 10 (c'est une promenade - ‘das ist eine Promenade’) aufnimmt und zugleich als unzureichend kategorisiert. Die Frage wird also mehrfach formuliert und dabei, als keine Antwort erfolgt, zuneh- Lorenza Mondada 106 mend von ihren ursprünglichen Adressaten abgelöst und der Kreis der Teilnehmer, an den sie sich richtet, erweitert. Der Positionswechsel des Moderators hängt also zusammen mit der Suche nach einem Teilnehmer, der antworten kann. Das Stehenbleiben hingegen ist verbunden mit der Fokussierung auf einen Sprecher, der dadurch als solcher etabliert wird: Als Bléfous das Wort ergreift (Z. 17), bleibt der Moderator stehen und sieht ihn an: (3) 17 BLF: =la *la la valvavaenfin on a parlé *aussi* =die die die Aufw- Auf- Aufalso wir sprachen mod -->*sieht zu Blf------------------------*.....* 18 *de la va#lava*l: orisation, auch von auf Aufwa- Aufw: ertung, mod *s u. z zu Blf--*s zu Blf--> Abb #10 Abb. 10 19 ff,* (.) °de: (ce) xx° patrimoniale et histori: que, ff, (.) °von: (diesem) xx° kulturelles Erbe und Geschichte, mod ->*schaut weg ----> 20 (0.5) 21 MOD: donc *c’est un# lieu, * qui# donne à voir l’patrimoine? # also es ist ein Ort der das kulturelle Erbe zeigt? -->*dreht s. zu Tn--*sieht zu Blf, öffnet Arme--------> Abb #11 #12 #13 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 107 22 BLF: qui donne à [voir, *à: # à: # (0.9)** #euh* +un patrimoine# das ein: ein: (0.9) äh ein kulturelles Erbe zeigt mod -->*z u. gest. zu Tn----*zeigt zu Blf------> **sieht zu Blf------------> blf +kreisförm. Geste-> Abb #14 #15 #16 #17 23 ? : [°oui,° [°ja,° Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 24 BLF: qu’on expli**: que, qu’on: : ** das erklä: rt wird, da: : s mod -->**nickt---------** 25 (0.2)+ blf ->+ 26 COL: en mettant en avant dans l’ambian: ce, le: indem man im Ambiente die: Geschich: te, das 27 l’histoi: re, le patrimoi: ne, das kulturelle Erbe, hervorhebt Bléfous' Turn beginnt mit zahlreichen Selbstreparaturen in der Initialposition (Z. 17) („restarts“, Goodwin 1981, Schegloff 1987b). Solche ‘restarts’ hängen, wie Goodwin gezeigt hat, mit fehlendem Blickkontakt des Gesprächspartners zusammen: Bléfous' Einsetzung und Anerkennung als Sprecherin ist problematisch, solange der Moderator sie nicht explizit auswählt. Dies tut er, indem er auf sie zeigt (Z. 17, Abb. 10). Ab diesem Moment for- Lorenza Mondada 108 muliert Bléfous ihren Vorschlag ohne jedes Zögern (valorisation patrimoniale et histori: que - ‘Aufwertung der Geschichte und des kulturelles Erbes’, Z. 18-19). In der Position vor einem möglichen Abschluss von Bléfous' Turn wendet der Moderator den Blick von ihr ab, obwohl sie sowohl durch schwebende Intonation nach histori: que, (Z. 19) Nichtabgeschlossenheit ihres Turns anzeigt als auch durch eine leiser gesprochene Ergänzung, in der sie das Objekt der Aufwertung präzisiert. Die Produktion von Bléfous' Turn erweist sich also als extrem anfällig für die schwankende Aufmerksamkeit des primären Adressaten, des Moderators. Der Moderator behandelt Bléfous' Turn als abgeschlossen und reformuliert ihren Vorschlag (Z. 21). Mit der multimodalen Art und Weise, in der er dies tut, zeigt er an, dass diese Reformulierung nicht nur an Bléfous zur Ratifizierung gerichtet ist, sondern an alle: Er wendet sich den anderen Teilnehmern in der Mitte des Raums zu (Abb. 11, 12, 13), wobei er immer wieder zu Bléfous zurückschaut (Abb. 12, 13). Als er sie am Ende seiner Bitte um Bestätigung erneut ansieht (Z. 21) und damit eine Antwort von ihr relevant setzt, produziert Bléfous einen Folgeturn, mit dem sie aber weder Zustimmung noch Ablehnung äußert; vielmehr nimmt sie den letzten Teil seiner Reformulierung auf (Z. 22 qui donne à voir ... - ‘der ... zeigt’), führt ihn anders fort und repariert damit die von ihm vorgeschlagene Formulierung. Während dieses Turns von Bléfous wendet sich der Moderator erneut den anderen Teilnehmern zu und vollführt zunächst eine Zeigegeste, dann gestikuliert er (Abb. 14, 15): Mit einer Kreisbewegung über den ganzen Raum zeigt er an, dass er auf eine - positive oder negative - Reaktion auf den von Bléfous geäußerten Vorschlag wartet. Während er seine Aufmerksamkeit von ihr abwendet, zögert Bléfous lange (bei à: , Z. 22) und erzeugt damit eine lange turninterne Pause. Daraufhin wendet der Moderator ihr seinen Blick erneut zu und zeigt auf sie, womit er sie erneut als legitime aktuelle Sprecherin bestätigt (Abb. 17). Die Gestaltung von Bléfous' Turn erweist sich also als extrem anfällig für die schwankende Aufmerksamkeit des Moderators, die zwischen ihr und den übrigen Teilnehmern wechselt. Diese Wechsel zeigen an, dass der Moderator mit einer doppelten Aufgabe beschäftigt ist: Wenn Bléfous sich an ihn wendet (und nicht an die übrigen Teilnehmer), leitet er ihren Turn sozusagen an die gesamte Gruppe weiter. Dabei bestätigt er Bléfous, indem er immer wieder zu ihr zurückschaut, kontinuierlich als „Urheberin“ des Vorschlags und damit als Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 109 autorisierte Sprecherin, die hinsichtlich der Ratifizierung der Formulierung besondere Rechte und Pflichten hat, während er gleichzeitig durch die parallele Orientierung auf die übrigen Teilnehmer deutlich macht, dass der Vorschlag sie ebenfalls betrifft und sie ihn entweder ratifizieren oder ihm widersprechen müssen. Diese doppelte Orientierung verkörpert sich in einem ‘body torque’ (Schegloff 1998), bei dem er sich mit dem Körper zum Saal orientiert und dabei den Blick auf Bléfous richtet. In Bléfous' Äußerung manifestiert sich ihre parallel erfolgende Suche nach einer alternativen Fortsetzung für die Reformulierung des Moderators (Z. 22-24 qui donne à voir, à: à: (0.9) euh un patrimoine qu′on expli: que qu′on: - ‘das ein ein (0.9) äh ein kulturelles Erbe zeigt das erklärt wird das: ’): Sie sucht zunächst eine Dativergänzung (à: à: ), dann eine Reformulierung des Objekts (indem sie le patrimoine aus Z. 21 reformuliert mit un patrimoine + Relativ, dabei verwendet sie das Format einer Liste: qu'on explique, qu'on: : , Z. 22, 24); dies führt allerdings nicht zu einem Ergebnis, sondern die Formulierung bleibt unvollständig (das zeigen auch die Gesten, die Bléfous nach ihrem letzten unvollständigen Fragment fortführt). Ihr Nachbar, Collot, reagiert auf die Unvollständigkeit ihrer Äußerung und vervollständigt diese durch eine andere Konstruktion, ebenfalls mit einer explorativen Liste (Z. 26: en mettant en avant dans l'ambian: ce, le: l'histoi: re, le patrimoi: ne - ‘indem man im Ambiente die Geschichte das kulturelle Erbe hervorhebt’). Diese interaktive Vervollständigung - die nicht im eigentlichen Sinne eine Vervollständigung der von Bléfous begonnenen Konstruktion, sondern eher eine Expansion darstellt - wird vom Moderator überlappt, der, während er gleichzeitig Zustimmung äußert, Collot das Wort abschneidet und seine Äußerung nicht aufnimmt - damit erkennt er Bléfous, aber nicht Collot als Sprecher der Gruppe an. Zusammengefasst macht der hier analysierte kurze Ausschnitt deutlich, welche zentrale Rolle die Positionierung und Mobilität, also das Gehen und Stehenbleiben, das Sich-Umdrehen, das Zu- und Abwenden, das Vor- und Zurückgehen des Moderators bei der Etablierung und Bestätigung eines Sprechers spielen, der ausgewählt wurde, um eine Antwort auf eine gestellte Frage zu geben. Die Mobilität des Moderators passt sich zum einen den dynamischen Veränderungen des Teilnahmerahmens (vgl. Schmitt i.d.Bd.) an, zum anderen der Unbeweglichkeit des Publikums, die mit der Verteilung der Tische im Saal zusammenhängt (es handelt sich um einen Unterrichtsraum, den die Veranstalter kurz vor Beginn der Sitzung neu arrangiert haben; dies ist nicht aufgezeichnet, aber es wirft ähnliche Fragen auf, wie Hausendorf (i.d.Bd.) sie stellt). Lorenza Mondada 110 Die beiden vom Moderator initiierten Paarsequenzen (eine Frage und eine Bitte um Bestätigung nach Reformulierung des Vorschlags), auf die beide Male Bléfous reagiert (Vorschlag; Reparatur der Reformulierung), begrenzen den Interaktionsraum auf den Raum um den Fragenden und die Antwortende. Dies zeigt sich in der Bedeutung, die die wechselseitige Orientierung dieser beiden Teilnehmer aufeinander für die Struktur von Bléfous' Turns hat. Die schrittweise und emergente Gestaltung des Turns ist eine reflexive Produktion, sie ist anfällig für Blicke und Körperhaltung oder allgemeiner für die Aufmerksamkeit und Zugänglichkeit des Adressaten (Goodwin 1981). Bléfous' Turn ist präzise ‘recipient-designed’, er richtet sich exklusiv an den Moderator und ignoriert die anderen Anwesenden. Der Moderator seinerseits konfiguriert den Interaktionsraum deutlich größer, er öffnet ihn für den gesamten Saal - hier zeigt sich, dass verschiedene Teilnehmer den Interaktionsraum ganz unterschiedlich definieren, abgrenzen und strukturieren können. Während Bléfous sich ausschließlich an den Moderator richtet, hat dieser die Aufgabe, den übrigen Anwesenden zu vermitteln, dass Bléfous' Turn auch sie angeht, indem er die Möglichkeit projiziert, das Wort zu ergreifen, um den Vorschlag zu ratifizieren oder zurückzuweisen. Seine Lösung dieser Aufgabe verkörpert sich in einem ‘body torque’, der ihm erlaubt, sich gleichzeitig auf Bléfous und auf den Saal insgesamt zu orientieren. Die Mobilität des Moderators und seine dynamischen Positionierungen bilden eine körperliche Lösung für das sowohl interaktionale als auch institutionelle Problem, dass in dieser Art von Interaktion gleichzeitig mehrere verschiedene „Individuen“, „Gruppen“ (Tische) und die Gesamtheit der Teilnehmer berücksichtigt werden müssen - d.h. sowohl soziale Kategorien als auch räumliche Konstellationen. Darüber hinaus kann der Moderator Bléfous mit seiner Orientierung auf sie nicht nur als Sprecherin etablieren, sondern auch als Vertreterin ihres Tischs und als Urheberin des Vorschlags. Diese räumliche Verortung eines Vorschlags ermöglicht ihm, jederzeit gestisch auf dessen Ursprung zu verweisen: Der Tisch, an dem derjenige sitzt, der den Vorschlag ursprünglich geäußert hat, steht künftig als Ressource für die Zuschreibung der Autorschaft (‘authorship’) einer Idee zur Verfügung, indem man einfach darauf zeigt. Der Interaktionsraum erlaubt also, Stimmen zu verorten und sich durch einfaches Zeigen darauf zu beziehen - er stellt damit eine ausgesprochen effiziente und ökonomische Form gestischen Zitierens bereit. Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 111 Der Ausschnitt zeigt somit, wie die Strukturierung des Interaktionsraums durch komplexe körperliche Orientierungen auf verschiedene Punkte ein ‘embodied participation framework’ entwirft - in dem bestätigte und adressierte Sprecher, als Adressaten anerkannte oder auf die Rolle von ‘overhearers’ beschränkte Gesprächsteilnehmer sowie verschiedene Stimmen (die der Autoren, der Verantwortlichen, der Urheber) buchstäblich Platz nehmen. Hier zeigt sich in ungewöhnlicher Deutlichkeit die Verbindung zwischen Interaktionsraum und Organisation der Teilnahme (vgl. Mondada 2009, Mondada/ Oloff i.Dr., Markaki/ Mondada i.Dr., Schmitt i.d.Bd.). 5. Die Vergemeinschaftung des Vorschlags: Erweiterungen des Interaktionsraums Der so eingerichtete Interaktionsraum wird schrittweise erweitert: In den folgenden Ausschnitten sehen wir, wie Bléfous' Vorschlag vom Moderator regelrecht kollektiviert wird. Während Bléfous' Tischnachbar Collot an einer interaktiven Expansion des Vorschlags arbeitet (Z. 27), initiiert der Moderator überlappend eine andere Handlung (Z. 28), die auf allgemeine Zustimmung zu Bléfous' Formulierung abzielt. (4) 27 COL: dans l’ambian: ce, [le: l’histoi: re, le patrimoi: ne, im Ambiente [die Geschichte das kulturelle Erbe hervorhebt 28 MOD: [ d’ac*cord, est-ce que vous êtes [okay, sind Sie -->*dreht sich u. zeigt zu Tn-------> 29 d’acco: rd? en termes de: * (.) l’idée c’est d’dire que ce- einverstanden? in Bezug auf: (.) die Idee ist dass das- -->*gestikuliert zu Tn------------> 30 c’est un lieu: , [*alors j’sais pas si c’est d’ailleurs& das ein Ort ist, [also ich weiß nicht ob das übrigens --->*dreht sich u. zeigt zum Whiteboard------> 31 BLF: [°qui a une histoi: re,° [°das eine Geschich: te hat,° 32 &un usage, ou une* ambiance, eine Nutzung ist, oder ein Ambiente, --->* (0.4) 33 ? : [°les [deux° [°bei[des° 34 COL: [°hum° [°hm° Lorenza Mondada 112 35 NIK: [°c’est une ambi[ance.° [°das ist Ambi[ente.° 36 BLF: [°c’est une ambiance,° [°das ist Ambiente,° 37 MOD: mais m-* ce groupe nous pro*po[se, un lieu: (.) où & aber adiese Gruppe schlägt (uns) vor, ein Ort: (.) den & *z zu Tisch v Blf----*gestik. mit bd. Hd. zu Teiln.-> 38 BLO? : [c’est une identité, [das ist Identität 39 MOD: & [on en profite pour MON: trer l’patrimoi*ne.* & man nutzt um das kulturelle Erbe zu zeigen. --->*...* 40 BLO? : [c’est une identité, [das ist Identität 41 (0.5) 42 ROU: °oui° °ja° 43 COL: ouais ja 44 BLO: tout à fait, ganz genau, Der Moderator bringt seine Suche nach Zustimmung hier deutlich zum Ausdruck, nicht nur durch die Einleitung seines Turns est-ce que vous êtes d'acco: rd? (‘sind Sie einverstanden? ’, Z. 28-29), sondern auch körperlich: Er wendet sich erneut der ganzen Gruppe zu und zeigt auf sie, als wolle er ihnen Gelegenheit geben, das Wort zu ergreifen. Hier wird bereits deutlich, dass er sich nun kollektiv auf sämtliche Teilnehmer im Saal orientiert und nicht mehr auf bestimmte Gruppen. Dann schließt er unmittelbar eine erneute Reformulierung an, wobei er dieselbe Konstruktion verwendet wie zuvor (30 c'est un lieu: - ‘das ist ein Ort’, vgl. Z. 21). Bléfous ergänzt diesen Beginn in Form einer interaktiven Vervollständigung, wobei sie den Aspekt der Geschichte wieder aufgreift (Z. 31), doch der Moderator beachtet dies nicht. Er unterbricht den Beginn seiner eigenen Formulierung zugunsten eines Einschubs (bis Z. 37); darin nimmt er Bezug auf die Rubriken am Whiteboard hinter ihm (zu dem er sich dabei kurz umdreht). Damit reagiert er anscheinend auf Collots Erwähnung von ambiance (‘Ambiente’, Z. 35) - diese Kategorie steht auf dem Blatt neben dem mit dem Titel usage (‘Nutzung’). Die vom Moderator formulierte Alternative, den Vorschlag unter Nutzung oder unter Ambiente einzuordnen (Z. 32), löst eine Reparatur durch Blondin aus, die als eine dritte mögliche Kategorie identité Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 113 (‘Identität’) vorschlägt (Z. 38, 40). Hier deutet sich schon eine Diskussion an, die später erneut aufkommen wird (siehe unten). Während also Bléfous immer noch mit der Suche nach einer bestimmten Formulierung ihres Vorschlags beschäftigt ist, orientiert sich der Moderator bereits nicht nur auf dessen Vergemeinschaftung (durch Zustimmung aller Teilnehmer), sondern auch darauf, ihn an die Tafel anzuschreiben. Damit kommen die Kategorien ins Spiel, die dort als Rubriken aufgeführt sind und insofern strukturierend wirken, als sie zu einer Klassifizierung des eingebrachten Vorschlags führen. Diese neuen Orientierungen des Moderators sind beide räumlich verortet: Sie beziehen sich auf das Kollektiv im Saal insgesamt und auf die Kategorien an der Wand, wo die Papierbögen am Whiteboard aufgehängt sind. In Zeile 37 nimmt der Moderator seine unterbrochene Äußerung wieder auf. Er verweist dabei zwar explizit auf diejenigen, die den Vorschlag ursprünglich eingebracht haben (Z. 37 ce groupe - ‘diese Gruppe’, wobei er gleichzeitig zu Bléfous' Tisch zeigt), greift hier aber eher seine eigene Formulierung wieder auf (Z. 37, 39 un lieu: (.) où on en profite pour MON: trer l′patrimoine - ‘ein Ort den man nutzt um das kulturelle Erbe zu zeigen’; vgl. Z. 21: c'est un lieu, qui donne à voir l'patrimoine? - ‘es ist ein Ort der das kulturelle Erbe zeigt’). Diese Vorgehensweise ist insofern interessant, als der Moderator damit seine Reformulierung Bléfous und ihrer Gruppe zuschreibt und diese so weiterhin als Urheber des Vorschlags behandelt. Damit wird auch die Einordnung der Personen an diesem Tisch als öffentlich anerkannte „Gruppe“ und als Autoren des Vorschlags realisiert und verstärkt. Hier wird eine Gemeinschaft in situierter, spezifisch räumlich im Saal verankerter Weise konstituiert (und nicht generisch, mit Bezug auf bereits bestehende politische Gruppen). Diese zweite Reformulierung des Moderators wird mehrfach ratifiziert (Z. 42, 43, 44), aber sie generiert auch einen alternativen Vorschlag von Blondin, der sich im Übrigen mit dem Ansatz zu einer Wortübernahme durch Nilsen (an Bléfous' Tisch) überlappt: (5) 42 ROU: °o†ui° °ja° nil †führt Hand heran--> 43 COL: ouais# ja Abb #18 Lorenza Mondada 114 Abb. 18 Abb. 19 44 BLO: tout +†à fait,†# ganz genau, nil ->†.......†dreht sich zu Blo--> blf +sieht Blo an---> Abb #19 45 ? : animat[ion pédagogique] pädagogische Freizeitgestaltung 46 BLO: [y a un côté† éd|uca]†tif+ e[n même te[mps, [das hat gleichzeitig einen erzieherischen Aspekt, nil "† blf -->+ jea |...dreht sich zu Blo--> 47 MOD: [voilà, [gut, 48 ? : [( ) 49 MOD: on verra. par+don? wir werden sehen. bitte? jea -->+ 50 BLO: on @développe un côté aussi éducati@f,= @ es wird auch eine erzieherische Seite entwickelt= nik @dreht sich zu Blo"@ 51 MOD: =alors là| j’entends, m*ais je vais essayer =also da verstehe ich, aber ich werde versuchen *Gesten m. bd. Hd. im Wechsel--> jea -->| 52 d’noter# les deux,= beides zu notieren,= Abb #20 53 ? : =hum =hm 54 (0.3) Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 115 Abb. 20 Während Rousset und Collot, die an Bléfous' Tisch sitzen, Zustimmung signalisieren (Z. 42, 43), setzt Nilsen zu einer Geste an und projiziert damit eine bevorstehende Wortübernahme (Abb. 18). Als aber Blondin eine stärker inhaltliche Zustimmung äußert (Z. 44 tout à fait - ‘ganz genau’), dreht er sich zu ihr um und lässt seinen Versuch der Selbstwahl fallen (Abb. 19). Interessant ist hier, dass sich nach und nach mehrere Personen von Bléfous' Tisch zu Blondin umdrehen: außer Nilsen auch Bléfous selbst (Z. 44-46), Jeanneret (Z. 46-51) und Nikson (Z. 50). Diese vielen Blicke zu Blondin zeigen an, dass deren Wortübernahme ungewöhnlich, unerwartet ist: In den Augen der Teilnehmer an Bléfous’ Tisch scheint die laufende Interaktion in erster Linie an sie gerichtet zu sein und ihnen besondere Äußerungsrechte in Bezug auf ihren Vorschlag einzuräumen. Blondins Beitrag verändert diesen Vorschlag nun recht grundlegend, indem er einen neuen Aspekt einführt (Z. 46/ 50 éducatif - ‘erzieherisch’). Man kann diesen Beitrag als Weiterentwicklung der vorher geäußerten Idee verstehen, das kulturelle Erbe zu erklären (vgl. Z. 22) oder zu zeigen (vgl. Z. 39); Bléfous' Gruppe behandelt ihn mit ihren Blicken jedoch eher als konkurrierenden Vorschlag. Auch der Moderator, der ihr das Wort erteilt hatte, spricht von zwei verschiedenen (deux) Vorschlägen, die zu notieren sind, und begleitet diese mit zwei unterschiedlichen Gesten (Z. 51- 52, Abb. 20). Zu diesem Zeitpunkt ist der Vorschlag immer noch nicht ratifiziert. Der Moderator schlägt also eine dritte Formulierung vor: (6) 55 MOD: donc* c’est un lieu qui set si j’marque qu’c’est un lieu also es ist ein Ort der s-und wenn ich schreibe es ist ein Ort *gestik. den Teiln. zugewandt, sieht Tn an----> 56 qui s’donne à voir: , sur l’plan patrimonial, ça vous va? der sich im Hinblick auf das Erbe zeigt, passt das für Sie? 57 (0.6) Lorenza Mondada 116 58 MOD: c’est qu’on l- .h (.) v: ous voulez qu’on mette en valeur, das ist damit wir d- .h (.) wollen Sie dass wir 59 la dimension >patrimo*niale<= die Dimension kulturelles Erbe betonen<= -->*sieht geradeaus-------> 60 COL? =>l’his[toi*re< =>die Geschichte< 61 BLF: [moi* j’dirais plutôt histoire, [ich würde eher Geschichte sagen, mod -->*sieht Blf an-------> 62 ? : histoire Geschichte 63 ? : histoi[re patrimoniale nationale Geschichte 64 MOD: [*mise en valeur* de l’his*toi: re,* [Aufwertung der Geschichte, -->*zeigt zu Blf"*dreht s. z. Whiteboard um* Die dritte Formulierung hat die gleiche Form wie die vorhergehenden, sie wird eingeleitet mit c'est un lieu (Z. 55 ‘es ist ein Ort’, vgl. Z. 37/ 39 un lieu: (.) où on en profite pour MON: trer l'patrimoine - ‘ein Ort den man nutzt um das kulturelle Erbe zu zeigen’, und Z. 21 c'est un lieu, qui donne à voir l'patrimoine? - ‘es ist ein Ort der das kulturelle Erbe zeigt’). Der Moderator spricht hier zum ersten Mal an, dass er den Vorschlag gleich anschreiben will (Z. 55 j'marque -‘ich schreibe’), und verweist damit auf ein mögliches Ende der Diskussion. Diese Äußerung richtet er, zum Saal gewandt, an alle Teilnehmer. Als niemand antwortet (Pause in Z. 57), fragt der Moderator erneut nach und fokussiert diesmal deutlicher auf die Teilnehmer (vous vs. je vs. ce groupe: Z. 58 v: ous voulez qu'on - ‘wollen Sie dass wir’, vs. Z. 55 si j'marque - ‘wenn ich schreibe’, vs. Z. 37 ce groupe nous propose - ‘diese Gruppe schlägt uns vor’). Man sieht also, wie sich die Personenreferenz zunehmend verlagert vom Autor des Vorschlags, der an einem Tisch verortet ist, hin zu dem im Saal verorteten Kollektiv, das ihn ratifizieren muss. Damit erfolgt eine Verschiebung von der Gruppe am Tisch hin zu dem, was man die „Saalöffentlichkeit“ nennen könnte. Diese Verschiebung zeigt sich auch in der Körperorientierung des Moderators: Dieser ist zuerst deutlich dem Tisch von Bléfous zugewandt und orientiert sich dann mehr und mehr auf die übrigen Teilnehmer. In der letzten Formulierung nutzt er wieder eine lexikalische Ressource, die Bléfous eingeführt hatte. Tatsächlich hatte Bléfous von valorisation (‘Aufwertung’) gesprochen, er verwendet die verbale Form qu'on mette en valeur (Z. 58-59 ‘dass wir ... betonen’), fokussiert aber vor allem das Objekt la dimension >patrimoniale< Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 117 (Z. 59 ‘die Dimension des kulturellen Erbes’). Diese Fokussierung generiert mehrere Reparaturen (Z. 60, 61); einige bringen den anderen von Bléfous genannten Punkt ‘Geschichte’ (vgl. Z. 19) wieder ein, eine schlägt eine Lösung vor, die die beiden Begriffe verbindet (Z. 63 histoire patrimoniale - ‘nationale Geschichte’). Der Moderator korrigiert daraufhin seine Formulierung zu mise en valeur de l'histoi: re, (Z. 64 ‘Aufwertung der Geschichte’). Dabei zeigt er auf Bléfous und bestätigt sie damit erneut als Urheberin des Vorschlags. Indem er diese letzte Reformulierung produziert, dreht sich der Moderator zum Whiteboard um und projiziert damit das bevorstehende Anschreiben. In diesem Ausschnitt ist also eine Reihe von Bearbeitungen des ‘talk in progress’ und des Teilnahmerahmens durch den Moderator zu beobachten: Der gewählte Sprecher wird als solcher etabliert und unterstützt, die Rezeption des Vorschlags wird überwacht und organisiert, eine Einigung wird gesucht und sichergestellt usw. Durch die doppelte Orientierung des Moderators einerseits auf Bléfous und andererseits auf die Teilnehmer insgesamt wird der zunächst von einer Gruppe eingebrachte Vorschlag kollektiviert. Seine Körperhaltung ermöglicht dem Moderator, den Vorschlag schrittweise zu vergemeinschaften, indem er sich immer stärker auf die Gesamtheit der Anwesenden (die „Saalöffentlichkeit“) orientiert. Er leitet damit auch von der Produktion des Vorschlags (durch eine begrenzte Gruppe) über zu dessen Ratifizierung (durch alle anderen anwesenden Teilnehmer). Während der Ursprung des Vorschlags an einem bestimmten Punkt des Raums verortet bleibt, werden Zustimmung und Konsens allgemeiner im Raum insgesamt lokalisiert. Der Vorschlag wird so buchstäblich zu einem von allen geteilten: Mit seinem ‘body torque’ und seinen alle Anwesenden umfassenden Gesten erzeugt der Moderator eine bestimmte epistemische Ökologie, die in einem maximal offenen und maximal inklusiven Interaktionsraum Gestalt annimmt. Die Urheber des Vorschlags hingegen behandeln Wortübernahmen von außerhalb ihrer Gruppe (ihres Tischs) weiterhin als Sonderfall oder sogar als unrechtmäßig - vor allem durch vorwurfsvolle Blicke zu den Teilnehmern an anderen Tischen, die zu intervenieren versuchen (Abb. 18, 19). Hier werden konkurrierende Strukturierungen des Interaktionsraums sichtbar, die diesen unterschiedlich eng und exklusiv fassen: In der am stärksten begrenzten Konfiguration haben nur diejenigen ein Anrecht auf das Wort, die an dem Austausch zwischen dem Moderator und dem einen Tisch beteiligt sind, damit werden die anderen Teilnehmer zu ‘overhearers’; in der offensten Konfiguration hingegen haben alle das gleiche Rederecht. Lorenza Mondada 118 6. Vom Wort zum Text: vom Saal zur Tafel Sobald eine Art Konsens erreicht ist, wendet sich der Moderator zur Tafel hinter ihm; mit dieser Bewegung projiziert er als folgende Aktivität das Anschreiben, das mit einer Umgestaltung des Interaktionsraums verbunden ist. Er leitet damit über von der mündlichen Ausarbeitung des Vorschlags zu dessen schriftlicher Fixierung; damit einher geht eine Umorientierung vom Ort der Diskussion im Saal zum Ort des Anschreibens am Whiteboard an der Wand. In diesem Abschnitt konzentriere ich mich besonders darauf, wie der Moderator sich auf den Anschreibraum orientiert. Dieser Bereich besteht aus einer Reihe von am Whiteboard aufgehängten Papierbögen; jedes Blatt trägt den Titel einer inhaltlichen Rubrik, unter die die Argumente einzuordnen sind (siehe Abb. 24 unten). Die Vorschläge können zum einen nach diesen Rubriken klassifiziert werden (als auf ‘Nutzung’, ‘Identität’ oder ‘Ambiente’ bezogen oder auch auf ‘Stil’, eine weitere Rubrik rechts an der Tafel, die in Abb. 24 nicht zu sehen ist), zum anderen kann ihnen eine Wertigkeit (positiv oder negativ) zugeordnet werden. Links daneben steht etwas abseits ein Flipchart - der so genannte ‘Ideenkasten’ (‘boîte à idées’); hier werden die Vorschläge gesammelt, die keine allgemeine Zustimmung finden. Als der Moderator zum letzten Mal die Formulierung des Vorschlags wieder aufnimmt, integriert er die verschiedenen Reparaturen der anderen Teilnehmer bezüglich des Aspekts ‘Geschichte’. Während er die Formulierung ausspricht, schaut er erst zur Tafel (Abb. 22) und dreht sich dann dorthin um: (7) 64 MOD: [*mi#se en valeur* de l’#his*toi: re,* [Aufwertung der Geschichte, *zeigt zu Blf"*dreht s. z. Whiteb* Abb #21 #22 65 *c’est quoi? *c’est de #l’usa*ge? was ist das? ist das Nutzung? *geht--------*zeigt rechts---*links-> Abb #23 Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 119 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24 66 c’est de l’ambian*°ce°? *[ça? # ist das Ambien°te°? [das da? --->*dreht s. um *zu Teiln. gewandt --> Abb #24 67 BLO: [c’est de l’identité [das ist Identität 68 ? : d’l’ambiance Ambiente 69 ? : ambiance Ambiente 70 MOD: c’est de l’ambiance, *hein? * das ist Ambiente, ne? "* 71 BLO: *c’est d’l’identité. das ist Identität. *dreht sich um u. geht zum Blatt „+ ambiance”----> Lorenza Mondada 120 72 COL: identité oui Identität ja 73 BLO: oui c’est d’l’identité, (.) mais c’est de l’identité ja das ist Identität, (.) aber das ist Identität 74 BLF: identité* Identität --->*schreibt nicht, dreht sich zu Tn. um--------> 75 MOD: #Oké. #*mais alors# [on va faire, ce queje vais l’mettre okay. aber dann [machen wir, das wasich schreibe es& -->*bleibt den Tn zugewandt--> Abb #25 #26 #27 76 ? : [identité [Identität 77 aux deux endroits, °comme ça on prend p*as d’risques *hein,° &an beide Stellen °dann kann nichts passieren ne,° -->*dreht s zur Tafel* + ambiances Abb. 25 Abb. 26 Abb. 27 78 ? : ((leichtes Lachen)) (0.6) 79 MOD: *allez, (0.3) mise en valeur,# (3.0) de l’histoire also, (0.3) Aufwertung, (3.0) der Geschichte *schreibt „mise en valeur de l’histoire et du patrimoine” unter „+Ambiances”--> Abb #28 80 et du patrimoine c’est ça? und des kulturellen Erbes ist es das? Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 121 Abb. 28A Abb. 28B Bei den Worten mise en valeur de l'histoire, (Z. 64 ‘Aufwertung der Geschichte’) wendet der Moderator sich zur Tafel. Durch diese Drehbewegung zeigt er an, dass die Formulierung abgeschlossen ist und angeschrieben werden kann. Diesmal wartet er keine Ratifizierung der Teilnehmer ab, sondern geht unmittelbar über zur nächsten Handlung, dem Anschreiben. Er tritt vor die Tafel und fragt dabei gleichzeitig, unter welcher Rubrik er den Vorschlag notieren soll, nennt zwei Möglichkeiten (Z. 64 usage - ‘Nutzung’; Z. 65 ambiance - ‘Ambiente’) und zeigt dabei jeweils auf das entsprechende Blatt. In der ‘pre-completion position’ seines Turns dreht er sich wieder zu den Teilnehmern um, wobei er gleichzeitig eine Erweiterung in Form eines rechtsversetzten Pronomens anfügt (Z. 65 ça). Sein gesamtes Verhalten - das Umwenden zur Tafel, die Verlängerung seines Turns, die erneute Hinwendung zu den Teilnehmern - alles zusammen zeigt, dass es sich hier um einen wichtigen sequenziellen Moment handelt, an dem eine neue Aushandlung mit den Teilnehmern beginnt und von diesen eine Antwort erwartet wird. Am Ende seines Turns steht der Moderator also erneut den Teilnehmern zugewandt. Diese äußern mehrere Vorschläge; einige sprechen sich für die eine der beiden genannten Rubriken (ambiance) aus, andere für eine dritte, bisher nicht genannte Rubrik (identité - ‘Identität’) (die dieselbe Person (Blondin) aber schon früher (Z. 38) angesprochen hatte). Diese Antworten werden nicht alle gleichermaßen berücksichtigt: Der Moderator nimmt den von mehreren gewählten Begriff ambiance auf (Z. 70), ratifiziert ihn und dreht sich wieder zur Tafel um, um den Vorschlag unter diese Rubrik zu schreiben (Z. 79). Erst kurz bevor er zu schreiben beginnt (Abb. 25), dreht er sich erneut um (Abb. 26) und reagiert auf den neuen Vorschlag identité (Z. 75, Abb. 27). Als Lösung dieses Dilemmas schlägt er vor, das Thema unter beide Rubriken zu schreiben, anstatt sich für eine zu entscheiden (Z. 75, 77). Lorenza Mondada 122 Wieder wendet sich der Moderator zur Tafel und schreibt den Vorschlag diesmal unter ambiances an (Z. 79), dabei verbalisiert er die Formulierung im Selbstdiktat. Sie ist länger als die letzte, ratifizierte Formulierung und nahe an der ursprünglichen Formulierung von Bléfous (Z. 79 mise en valeur, (3.0) de l'histoire et du patrimoine - ‘Aufwertung der Geschichte und des kulturellen Erbes’; vgl. Abb. 28). Zusammengefasst zeigt dieser Ausschnitt, wie präzise die Bewegung des Sich-Umdrehens zur Tafel organisiert ist. Zum einen erfolgt sie in einer ganz bestimmten sequenziellen Position, nämlich nachdem der Moderator den Abschluss der Diskussion angekündigt hat. Mit anderen Worten: Das Umdrehen zur Tafel zeigt den Abschluss der Sequenz Formulierung - Reformulierung - Bestätigung des Vorschlags an, womit es ihn zugleich reflexiv vollzieht, und demonstriert so, dass eine Einigung erzielt wurde. Das Anschreiben bekräftigt dieses Ergebnis, denn es stellt eine Fixierung dar, die eine gewisse Unwiderruflichkeit hat, und schließt den durch Flüchtigkeit gekennzeichneten (mündlichen) Prozess der Diskussion ab. Zum anderen können die Teilnehmer anhand des Verlaufs dieser Bewegung das Ziel des Gehens zu verschiedenen Punkten der Tafel (bestimmten Rubriken) voraussehen: Das Gehen verkörpert das Ergebnis der Abstimmung, die Teilnehmer können es betrachten, kontrollieren, ob ihre Entscheidung tatsächlich respektiert wird, und den Weg gegebenenfalls korrigieren, bevor er in die Fixierung durch das Schreiben mündet. So organisiert sich die Handlung im abwechselnden Gehen zur Tafel und zu den Teilnehmern: Als der Moderator sich zur Tafel umdreht, lässt er den Interaktionsraum der Diskussion hinter sich, den er damit als geschlossen betrachtet. Allerdings kann der Gang zur Tafel unterbrochen werden, wenn Uneinigkeit aufkommt oder wenn es nötig wird, die Diskussion wieder aufzunehmen: Der Moderator kann sich den Teilnehmern zuwenden und damit den Interaktionsraum der Diskussion wieder einrichten, bis ein neuer Konsens gefunden wurde. Die sukzessiven Bewegungen des Moderators zeigen, wie stark das Anschreiben von der vorherigen Zustimmung der Teilnehmer abhängt. Der Ausschnitt zeigt auch, wie präzise die Teilnehmer das Handeln des Moderators beobachten. Die sequenzielle Platzierung ihrer Vorschläge und Gegenvorschläge macht deutlich, dass sie den beim Gehen durchmessenen Raum, die Richtung des Gehens und den damit projizierten Endpunkt nutzen, um ihren Vorschlag oder ihren Widerspruch an passender Stelle zu äußern. Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 123 7. Einschub: Verschiedene sequenzielle Positionen und Anschreiborte für einen Alternativvorschlag Die Teilnehmer identifizieren und nutzen den Moment, in dem der Moderator mit Schreiben beschäftigt ist, für eine bestimmte Aktivität, nämlich um einen Vorschlag zu produzieren, der durch eben diese Positionierung als Gegenvorschlag erkennbar ist. Collot nutzt den Moment des Schweigens und diese sequenzielle Position, um den Vorschlag zur Umbenennung des Parks einzubringen; dabei präsentiert er ihn als Ergänzung zu dem Vorschlag, der soeben angeschrieben wird (als Ausarbeitung des Aspekts, dass der Park das kulturelle Erbe zeigen soll): (8) 81 (0.9) 82 COL: et on proposait même de changer d’nom le plus rapidement und wir haben sogar vorgeschlagen möglichst schnell den Namen 83 pos[sible, pour lui donner un nom style, parc du* château: ,& zu ändern um ihm einen Namen in der Art Schlosspark zu geben 84 JEA: [((leichtes Lachen)) mod hört auf zu schr.->*dreht s. z. Tn-> 85 &parc la*mo: tte,* [parc de la: &Lamo: ttepark,* [Park 86 BLF: [ parc de la guillotiè: re, [parc de la]& [Guillotiè: repark, [Guillo]tièrepark, 87 MOD: [ oké] [okay] mod -->*halbkreisf. Geste*geht auf Col zu-----------> 88 BLF: &guillotière, 89 COL: [(pas att*endre) ( )] [(nicht warten) ( )] 90 MOD: [on y revi*endra là] (.) alors att*endez, donc euh, (0.2) [wir kommen gleich darauf zurück] (.) warten Sie, also äh, -->*dreht sich zur Tafel---*geht zur Tafel----> Während der Moderator an die Tafel schreibt, nutzt Collot das Schweigen, um einen weiteren Vorschlag einzubringen (Z. 81). Er leitet seinen Turn mit et (‘und’) ein, womit er anzeigt, dass er an die vorherige Aktivität anschließt (Heritage/ Sorjonen 1994). Der Vorschlag wird also präsentiert wie eine Erweiterung des Vorschlags zum kulturellen Erbe, dabei bezieht er sich auf ein Element, das bisher noch nicht angesprochen wurde, nämlich den Namen des Parks. Collot schlägt in Form einer Beispielliste, die er mit style (‘in der Art’, Z. 83) einleitet, mehrere Namen vor. Bléfous vervollständigt interaktiv (Z. 86); Lorenza Mondada 124 so wird die Kollektivität des Vorschlags nicht nur behauptet (Z. 82 on proposait - ‘wir haben vorgeschlagen’), sondern auch im Handeln demonstriert. Eine Teilnehmerin - Jeanneret, die am selben Tisch sitzt - reagiert auf den Vorschlag mit einem leichten Lachen (Z. 84); dieses Lachen zeigt, dass der Vorschlag eine potenzielle Störung darstellt. Während Collots Turn fährt der Moderator zunächst mit dem Anschreiben fort. Erst beim ersten Element der Liste von Namensvorschlägen hört er auf zu schreiben und wendet sich zum Saal. Als Collot den zweiten Namen nennt, macht er eine halbkreisförmige Geste, dann geht er auf Collot zu und schlägt dabei vor, diese Frage zurückzustellen (Z. 90). Er zeigt nicht nur durch diese Antwort an, dass er die Frage des Namens in diesem Moment nicht behandeln wird, sondern auch durch sein Handeln unmittelbar im Anschluss daran (Z. 89): Er setzt das Schreiben fort, anstatt eine Diskussion über den Namen einzuleiten. Der Moderator wendet sich also erneut der Tafel zu (Z. 90): (9) 90 MOD: [on y revi*endra là] (.) alors att*endez, donc euh, [wir kommen gleich darauf zurück] (.) so warten Sie also äh -->*dreht s. z. Tafel um --*geht zur Tafel----> 91 (0.2) pour vous, c’est *à la fois, (1.7)*+ de la- (.) (0.2) für sie, ist es sowohl (1.7) die- (.) -->*schr unter „usages” *sieht n. rechts-> nil +zeigt zur Tafel--> 92 ah mais c’est pas ici,* [p+ardon+ ah aber das ist nicht hier, [Entschuldigung -->*geht—-----> nil "+ 93 LAU: [c’est là, [das ist da, 94 +(0.+9) nil +lächelt+ 95 MOD: merci °laurence°,* danke Laurence, --geht zum letzten Blatt, unter ‘identités’* 96 *(4.3) mod *schreibt--> 97 MOD: valeur: (0.5) de: (1.5) l’histoi: re, (0.4) et du patrimoi: ne, wertung: (0.5) der (1.5) Geschichte (0.4) und des Erbes, 98 (2.8) 99 MOD: d’accord? einverstanden? Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 125 Der Moderator beginnt auf einem anderen Bogen zu schreiben; das ist allerdings die Rubrik usages (‘Nutzungen’), während die Teilnehmer mehrheitlich die Rubrik identités (‘Identitäten’) gewählt hatten, die auf dem Blatt rechts von ihm steht. Mehrere Teilnehmer machen ihn darauf aufmerksam, dass das der falsche Ort ist: Im Saal richtet Nilsen sich auf und zeigt auf die Tafel (Z. 91), er zieht die Geste erst zurück und entspannt sich wieder, als der Moderator zu dem anderen Blatt geht. Aus dem Saal korrigiert Laurence Laurier die Platzierung des Anschriebs (Z. 93). Der Moderator dankt ihr, geht ein Stück weiter und beginnt unter der anderen Rubrik zu schreiben (Z. 95). Diesmal begleitet er sein Schreiben mit einem Selbstdiktat Wort für Wort (Z. 97). Das bietet den Vorteil, dass er damit stimmlich den ‘floor’ besetzt; so erhalten die Teilnehmer keine Gelegenheit , sich selbst auszuwählen, wie Collot es zuvor getan hat. Als er mit dem Anschreiben fertig ist, wendet der Moderator sich wieder dem Saal zu (100) und greift das Problem des Namens wieder auf: (10) 100 (0.2)* mod ->*dreht sich zu den Teiln. um--> 101 MOD: et j’ma: rque, qu’il y avous l’accompagnez und ich notiere dass es- Sie gleichzeitig 102 >d’une réflexion sur l’nom.< >über den Namen nachdenken.< 103 ? : °ouais° °ja° 104 (0.2) 105 MOD: [hein? ] c’est un peu tôt, mais [ne? ] das ist etwas früh aber 106 j’marque* >réflexion sur +l’nom.<*+ ich schreibe auf >Nachdenken über den Namen< ->*dreht sich zur Tafel-----* blf +nickt---+ 107 BLF: [*ou*i] [ja] mod *nickt* 108 BLF: *ben no: n, [non, aber nein [nein, 109 ? : [non non, [nein nein, mod *schreibt „Nom” unter „Style”--------> 110 COL: [i faut l’faire tout d’suite [là. [das muss sofort gemacht werden. Lorenza Mondada 126 111 BLF: [non,* [non [nein,* [nein ->*dreht sich um u. geht n. links --> 112 (0.6) 113 MOD: pa[s ce soir, [non. nicht heute Abend, [nein. 114 BLF: [non [non, mais maintenant [c’qui xxxx [nein [nein aber jetzt [das was xxxx 115 GIL: [°non, èn o èm,° [°nein, En O Em,° 116 MOD: donc c’est, pour moi tout d’suite, c’est ce soir hein. also das ist, für mich heißt sofort heute Abend ne. 117 GIL: avant noël, vor Weihnachten, 118 JEA? : ((La*chen)) mod ->*schreibt auf den „Ideenkasten” „Nom” 119 (0.5) 120 GIL: nom, èn o èm, Name, En O Em, 121 (0.7) 122 NIL: °c’est ce qu’il a mis° °das hat er geschrieben° 123 (0.8) 124 MOD: èn o *èm, ouais: , mais j’écris très bien. En O Em, ja, aber ich schreibe doch sehr gut. ->*dreht sich zu den Teiln. um--> 125 BLF: °on voit pas bien,° on voit pas *bien. °man kann es nicht gut lesen° man kann es nicht gut lesen. -->*geht zurück zu „identités”-> 126 ? : °mais pourquoi il en veut pas? ° °aber warum will er das nicht? ° 127 MOD: et en plus i vont me r’prendre sur la *façon dont [j’écri: s,* und dann werfen sie mir noch vor wie ich schreibe 128 JEA: [((Lachen)) mod -->*schreibt fertig ---* 129 MOD: ‘tt*ention vous allez me traumatiser si vous continuez euh, Vorsicht Sie traumatisieren mich wenn Sie so weitermachen, *dreht s. um u. geht auf Zuhörer zu --> 130 (0.5)* (0.2)* "*zeigt z. Tisch von Blf----->> 131 MOD: aut’chose, pour vot’groupe? noch was von Ihrer Gruppe? Der Moderator schlägt vor, die Frage des Namens als Ergänzung zu dem Punkt „Aufwertung des kulturellen Erbes“ zu ‘notieren’ (Z. 101 marquer). Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 127 Dem wird zugestimmt (Z. 103), aber als er sich umdreht, um den Punkt anzuschreiben, wiederholt er ihn und kommentiert ihn gleichzeitig als verfrüht (Z. 105). Das zeitliche ‘misplacement’ dieses Vorschlags ist also in gewisser Weise ein doppeltes: in Bezug auf den Kalender und in Bezug auf die sequenzielle Organisation der Sitzung. Diese Reformulierung und der zeitliche Bezug lösen im Gegensatz zur vorherigen Formulierung negative Reaktionen aus: Umgehend erfolgt eine Reihe von non (Z. 108, 109, 111), und Collot stellt eine Forderung bezüglich der Agenda der Sitzung (Z. 110). Nachdem er unter die Rubrik styles (‘Stil’) nom (Z. 109 ‘Name’) geschrieben hat, dreht der Moderator sich wieder um und beginnt, dem Publikum zugewandt, auf eine andere Schreibfläche zuzugehen, nämlich die boîte à idées (‘Ideenkasten’), wo umstrittene Vorschläge angeschrieben werden. Dabei weist er gleichzeitig Collots Forderung explizit zurück (Z. 113). Mehrere Teilnehmer reagieren ironisch, einige mit Lachen (Z. 118), einer macht ein Wortspiel zu non (‘nein’) und nom (‘Name’) (Z. 115, 120), ein anderer nennt einen offenkundig überzogenen Zeithorizont (avant noёl - ‘vor Weihnachten’, Z. 117). Währenddessen ist der Moderator auf den ‘Ideenkasten’ zugegangen und notiert dort nom (‘Name’, Z. 118). Außerdem kritisieren die Teilnehmer hier die Schrift des Moderators (Z. 122, 125). Indem sie diese als undurchsichtig behandeln, bringen sie ihren Widerstand zum Ausdruck gegen das, was er schreibt, und die Art, wie er es tut. Der Moderator weist die Kritik an seiner Schrift zurück (Z. 124) und ironisiert sie (Z. 127, 129). Damit wird die Sache nicht weiter diskutiert und der Moderator leitet über zum nächsten Vorschlag (Z. 131). Zusammengefasst zeigen diese Ausschnitte also, wie die Teilnehmer den Moment des Anschreibens nutzen, um einen alternativen Vorschlag einzubringen, wie dieser vom Moderator zurückgewiesen wird und dies wiederum Widerstand seitens der Teilnehmer auslöst. Die Zeit des Anschreibens bietet den Interaktanten diverse Möglichkeiten: Der Moderator kann, indem er den Teilnehmern den Rücken zuwendet, zeigen, dass er für einen Austausch nicht zur Verfügung steht, und die Fortsetzung des Schreibens als Folgehandlung relevant setzen, anstatt beispielsweise auf eine Frage zu antworten oder auf einen Vorschlag zu reagieren. Den Teilnehmern ermöglicht das Schreiben, wenn es schweigend geschieht, sich selbst auszuwählen - d.h. den Interaktionsraum neu zu etablieren und so zu reorganisieren, dass das Rederecht nicht vom Moderator kontrolliert wird, sondern man aus dem Saal heraus das Wort ergreifen kann. Der Moderator seinerseits Lorenza Mondada 128 kann eine solche Wortübernahme als unzulässig behandeln und die damit vollzogene Handlung als unangemessen und im Rahmen der sequenziellen Organisation der Sitzung deplatziert zurückweisen. Darum können die Teilnehmer diesen Moment des Anschreibens nutzen, um Vorschläge einzubringen, die sie selbst als Gegenvorschläge, als abweichend, polemisch oder heikel ansehen. Der Moderator weist den hier eingebrachten Vorschlag schließlich zurück und schreibt ihn an einem gesonderten Ort an: dem ‘Ideenkasten’, damit weist er ihm einen besonderen Ort zu. Dieser Status wird nicht öffentlich diskutiert; der Moderator sucht vor seinem Gang zum ‘Ideenkasten’ nicht die Zustimmung der Teilnehmer, sondern vollzieht diese Einordnung einseitig und ohne sie zu thematisieren, womit er sie dem Widerspruch und der Aushandlung entzieht. Auf diese Weise wird der ‘Ideenkasten’ eingerichtet als ein Bereich, wo das Anschreiben nicht vom Einverständnis der Teilnehmer abhängt wie bei den anderen Rubriken, und damit eher als ein Werkzeug des Moderators denn eins der Bürger. 8. Schlussfolgerungen: Interaktionsraum, situierte Teilnahme und sequenzielle Organisation In diesem Beitrag habe ich das Konzept des ‘Interaktionsraums’ zunächst mit Bezug auf die Literatur und dann anhand eines empirischen Falles entwickelt. Die empirische Analyse zeigt das konzeptuelle und analytische Potenzial des Konzepts für zentrale Themen und Begriffe der Konversationsanalyse und fördert zugleich die Reflexion über die praxeologischen Eigenschaften des Interaktionsraums. Dass soziale Interaktion im Raum abläuft und verankert ist, ist im Grunde eine Binsenweisheit. Trotzdem gibt es nur wenige Studien, die den Raum tatsächlich detailliert analysiert haben. Bei all seiner Evidenz wird der Interaktionsraum meist auf einen Rahmen reduziert, der sich von selbst versteht und auf den gelegentlich flüchtig verwiesen wird, und nicht als ein Phänomen behandelt, das an sich Aufmerksamkeit verdient. Der Interaktionsraum rückt ins Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit, sobald man sich in einer Videoanalyse mit dem multimodalen Verhalten insgesamt befasst und damit, wie die verschiedenen multimodalen Ressourcen - Sprache, Gesten, Blicke, Mimik, Körperhaltungen, Bewegungen - koordiniert und aufeinander abgestimmt werden, anstatt sie getrennt voneinander zu betrachten. Sie bilden dann eine komplexe Gestalt, die auf einer Koordination der Ressourcen sowohl bei jedem einzelnen Teilnehmer als auch zwischen den Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 129 Teilnehmern beruht. Diese Gestalt, ihre Koordination und das gegenseitige ‘monitoring’ finden in relevanter, signifikanter Weise im Raum statt und hängen mit den Bedingungen und Beschränkungen der Umgebung zusammen. Mit dem Konzept des Interaktionsraums kann untersucht werden, wie die Teilnehmer sich körperlich im Raum verteilen und anordnen und sich so koordinieren, dass sie mehr oder weniger füreinander sichtbar und zugänglich und aufeinander orientiert sind. Die physische Anordnung im Raum ist dynamisch und passt sich im Ablauf der Interaktion den Turnkonstruktionseinheiten, den Turns, den Sequenzen, den Handlungsformaten und Teilnahmeformaten an (siehe auch Schmitt i.d.Bd.). Die körperliche Ausrichtung kann auch eine mehrfache sein - wie beim ‘body torque’ - und so den Interaktionsraum verkomplizieren. Die in diesem Kapitel vorgenommenen Analysen zeigen einige dieser flexiblen Anpassungen des Interaktionsraums. Sie verdeutlichen zunächst den engen Zusammenhang zwischen Interaktionsraum und ‘turn taking’: Die Auswahl des nächsten Sprechers, die körperliche Orientierung auf diesen, die Suche nach ihm im Raum und seine Lokalisierung zeigen, wie entscheidend die räumliche Anordnung von auswählender und ausgewählter Person ist. In polyadischen Situationen ist dieses Arrangement noch komplexer; sobald sich nicht von selbst versteht, wer der nächste Sprecher sein wird, sind aufwendige Verfahren wechselseitiger Lokalisierung erforderlich. In unserem Fall wird die Komplexität des Interaktionsraums noch dadurch erhöht, dass der Moderator sehr mobil ist, sich in verschiedene Richtungen bewegt und sich mit Hilfe des ‘body torque’ auf mehrere Personen zugleich orientiert und dadurch verschiedene Relevanzen etabliert. Wenn man also Teilnahme als situiert, im Raum verankert, versteht, kommt man nicht umhin, ihre Verankerung und Anordnung im Interaktionsraum zu untersuchen. Der hier analysierte empirische Fall zeigt, dass der Interaktionsraum nicht nur durch diejenigen gebildet wird, die an der Interaktion gerade beteiligt sind, sondern z.B. auch durch vorausgehende Momente oder durch die Verortung bestimmter Figuren (im Goffman'schen Sinne), z.B. der des Autors oder des Ursprungs eines Vorschlags. Immer wenn der Moderator sich auf einen bestimmten Vorschlag erneut bezieht, lokalisiert er mit einer Geste dessen Ursprung im Interaktionsraum. Auf diese Weise wird eine Vielstimmigkeit der Interaktion in den Raum eingeschrieben und durch wiederholte gestische Bezugnahme darauf stabilisiert. So wie das System des Sprecherwechsels sich reflexiv den institutionellen Kontexten anpasst und damit zugleich die Institutionalität der Interaktion her- Lorenza Mondada 130 stellt (Drew/ Heritage (Hg.) 1992; Heritage/ Clayman 2010, S. 34ff.), ist auch der Interaktionsraum gleichzeitig von der Art der darin ablaufenden Handlung strukturiert und für diese strukturierend. So wird er in dem hier analysierten empirischen Fall von den Teilnehmern entsprechend den praktischen Problemen und interaktiven Aufgaben konfiguriert, die sich ihnen im Kontext der institutionellen Interaktion stellen, mit der sie befasst sind, nämlich politische Diskussion in einem Prozess partizipativer Demokratie. Für den Moderator geht es darum, die Bürger zu Wort kommen zu lassen und dem gleichzeitig eine gewisse Ordnung zu geben, allen Tischen nacheinander das Rederecht zu erteilen, sowie das, was vorgebracht wird, zu vergemeinschaften, um ihm öffentlich Gewicht zu verleihen, damit ein Vorschlag, auch wenn die Autorschaft einer bestimmten Gruppe dafür anerkannt wird, vom Kollektiv akzeptiert und zu einem gemeinsamen Vorschlag gemacht wird. Für die Bürger geht es darum, sich verständlich zu machen, ihre eigene Stimme (ihre Vorschläge und Formulierungen) zur Geltung zu bringen und darauf zu achten, dass im Übergang von der mündlichen Diskussion zur schriftlichen Fixierung die ursprünglich geäußerten Ideen nicht umgestoßen werden. Infolgedessen organisiert sich der Interaktionsraum dynamisch durch das Handeln der Teilnehmer, das abwechselnd einen kollektiven Rahmen relevant setzt, der alle Teilnehmer gleichermaßen betrifft, Individuen in verschiedenen Konstellationen, die als legitime Gesprächspartner adressiert und anerkannt sind oder eben nicht, oder einen bestimmten „Tisch“, der sich gemeinsam äußern kann oder aber durch einen Wortführer. Die Einheiten der Teilnahme an der institutionellen Diskussion werden so lokal und in stark räumlicher Weise definiert. Der Interaktionsraum wird so von den Teilnehmern über die Zeit konstituiert, wobei er einerseits hochgradig flexibel und ständig in Entwicklung ist und sich andererseits durch wiederholte Gesten und Verortungen zunehmend stabilisiert. Auf diese Weise emergieren relativ beständige Territorien und Gruppen, die für die Organisation der Interaktion relevant gesetzt werden, sofern sie an bestimmte Rederechte, an Vorrechte, an Zuständigkeiten gebunden sind. Die vorgestellten Analysen zeigen auch, dass der Interaktionsraum nicht nur aufrechterhalten, sondern auch aufgehoben oder ausgesetzt werden kann: Wenn der Moderator sich zum Whiteboard umwendet, um dort die Vorschläge der Bürger anzuschreiben, hebt er damit den Interaktionsraum der Diskussion im Saal auf und richtet einen anderen Raum ein, der der Aktivität des Schreibens vorbehalten ist. Der Wechsel zwischen Diskussionsraum und Anschreibraum, den der Moderator dadurch anzeigt, dass er sich entweder dem Publikum zuwendet oder diesem den Rücken zukehrt, hängt wiederum eng mit der Der Interaktionsraum der politischen Diskussion 131 sequenziellen Organisation der Interaktion zusammen, denn der Moderator dreht sich immer erst dann um, wenn die Sequenz, die Episode oder die Diskussion abgeschlossen ist: Die Auflösung des Interaktionsraums, der im Rahmen der vorherigen Episode und für die Zwecke der vorherigen Aktivität eingerichtet wurde, erfolgt in mehrfacher Hinsicht an einem Abschlusspunkt und hängt sehr stark von der gleichzeitigen und konvergenten Orientierung der Teilnehmer auf diesen sequenziellen Moment ab. Der Interaktionsraum macht also die sequenzielle Organisation sichtbar, zu deren Strukturierung er reflexiv beiträgt; insofern liegt er im Zentrum der analytischen Fragen der Konversationsanalyse und hilft, besser zu verstehen, wie Turns, Sequenzen, Handlungsformate und Teilnahmeformate multimodal funktionieren. Darüber hinaus verdeutlicht die detaillierte Analyse der Herstellung des Interaktionsraums die konstitutiven und situierten Mechanismen, die die Spezifizität der Interaktion ausmachen. Im hier untersuchten Fall beleuchtet dies nicht nur, wie polyadische institutionelle Interaktion organisiert ist, sondern auch, mit welchen Verfahren partizipative Demokratie im Handeln vollzogen wird. 9. Danksagung Ich danke Ingrid Furchner für die Übersetzung des Textes aus dem Französischen. 10. Transkriptionskonventionen [ ] Überlappung (Anfang und Ende) (.) Mikropause (< 0,2 Sekunden) (2.1) Pause in Sekunden , . schwebende/ abschließende Intonation ? fragende Intonation & Fortsetzung der Äußerung .h / h Einatmen/ Ausatmen (h) Lachpartikel (des) unsichere Transkription ((Lachen)) beschriebene, nicht transkribierte Phänomene < > Begrenzung der Phänomene zwischen (( )) ^ lautliche Bindung : Dehnung ( ) unverständliches Segment Lorenza Mondada 132 extra betontes Segment = schneller Anschluss quo- Abbruch °okay° gemurmelt NON lauter gesprochen >>okay<< schneller gesprochen *, +, £ Begrenzungen der Gesten, Blicke, Handlungen eines Teilnehmers . . . . Vorbereitung/ Entfaltung einer Geste - - - - Geste wird gehalten , , , , Zurückziehen/ Auflösen der Geste *- - > Fortsetzung der Geste über das Ende der Zeile hinaus *- ->> Fortsetzung der Geste über das Ende des Ausschnitts hinaus >- - - Geste beginnt vor dem Ausschnitt MOD Pseudonym des Sprechers (in Großbuchstaben) mod Pseudonym des Teilnehmers, der die Geste ausführt (in Kleinbuchstaben) # Position eines Bildes in Bezug auf die Transkription 11. Literatur Ashcraft, Norman/ Scheflen, Albert E. (1976): People space: The making and breaking of human boundaries. New York. Auer, Peter (1979): Referenzierungssequenzen in Konversationen: Das Beispiel ‘Ortsangaben’. In: Linguistische Berichte 62, S. 94-196. Bergmann, Jörg (1993). Alarmiertes Verstehen: Kommunikation in Feuerwehrnotrufen. In: Jung, Thomas/ Müller-Doohm, Stefan (Hg.): „Wirklichkeit“ im Deutungsprozess. Verstehen und Methoden in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M., S. 283-328. 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Heiko Hausendorf Über Tische und Bänke Eine Fallstudie zur interaktiven Aneignung mobiliarer Benutzbarkeitshinweise an der Universität 1 1. Raum als Ressource: Mobiliare Benutzbarkeitshinweise im Fokus In vielen Situationen unseres kommunikativen Alltags nehmen wir räumliche Umgebungen für die Interaktion in Anspruch, ohne dass wir darüber lange nachdenken oder gar ausdrücklich reden („verhandeln“) müssen: Wir setzen uns um einen Tisch im Restaurant und bestellen ein Menü, nehmen im Hörsaal Platz und hören der Vorlesung zu oder gehen zu einem Ticketschalter und bestellen eine Fahrkarte. Dabei nutzen wir Hinweise im Raum, zu denen u.a. die Möblierung als Teil der Inneneinrichtung des umbauten Raumes gehört - wie die Gruppierung von Tischen und Stühlen in einem Restaurant, die Anordnung ansteigender Sitzreihen in einem Hörsaal oder die Gestaltung einer Ankomm- und Sprechzone mit Theke bzw. Tresen an einem Fahrkartenschalter. Im vorliegenden Beitrag werden solche Hinweise als raumgebundene (oder kürzer: räumliche) Benutzbarkeitshinweise aufgefasst. Benutzbarkeitshinweise stellen Anknüpfungspunkte für Wahrnehmung, Bewegung und Handlung zur Verfügung. Im Alltag werden sie häufig wie selbstverständlich verstanden und körperlich „beantwortet“. Darunter fallen insbesondere die durch die Möblierung materialisierten Hinweise, auf die wir in diesem Beitrag als mobiliare Benutzbarkeitshinweise aufmerksam machen wollen. Ohne dass wir darauf im vorliegenden Beitrag im Einzelnen theoretisch eingehen werden, sei doch darauf hingewiesen, dass das Konzept der räumlichen Benutzbarkeitshinweise der Sache nach nicht so fern liegt, wie es von der Terminologie her erscheinen mag. Es gehört (für mich) in den größeren Zusammenhang der Frage dieses Sammelbandes: Was genau ist gemeint, wenn wir nach dem Raum als einer ‘Ressource’ (für die Interaktion) fragen? 2 Antworten auf diese Frage sind bislang häufig in einem semiologisch inspirierten 1 Andi Gredig und Barbara Zeugin danke ich für ihre technische, redaktionelle und inhaltliche Unterstützung bei der Abfassung dieses Beitrags, Lorenza Mondada und Reinhold Schmitt für eine Reihe von Kommentaren zu einer ersten Fassung. 2 Siehe dazu auch die Einführung zu diesem Band. Heiko Hausendorf 140 Konzeptrahmen entwickelt worden, 3 daneben und überlappend auch in soziologischen und sozial-geographischen Theoretisierungen des Raumes 4 und der Dinge im Raum. 5 Die Idee der Benutzbarkeitshinweise, die auf einen textlinguistischen Konzeptrahmen der Entwicklung von Lesbarkeitshinweisen zurückgeht (Hausendorf/ Kesselheim 2008), lässt sich gut mit Vorstellungen von ‘Raumaneignung’ und dem ‘Aufforderungscharakter’ von Dingen und Räumen aus der gestalttheoretisch orientierten Sozialpsychologie und der Theorie der ‘affordances’ aus der ökologisch orientierten Wahrnehmungspsychologie verbinden. 6 Wenn man von der „Benutzbarkeit“ von Möbeln spricht, liegt zudem natürlich auch die Perspektive des Designs nahe, weil sie zeigt, wie viel an ‘recipient design’ in den „Dingen des Alltags“ steckt (Norman 1989, 2005), die wir alltäglich benutzen, ohne uns darüber weiter Gedanken machen zu müssen, dass und wie bereits in die Gestaltung der Dinge ein Konzept ihrer Benutzbarkeit eingeflossen ist. Aber das ist ein anderes Thema, das weit über den vorstehenden Zusammenhang hinausführt. Wir interessieren uns für Benutzbarkeitshinweise, insofern sie materiale Sedimente von evolutionär erfolgreichen Antworten auf wiederkehrende Interaktionserfordernisse darstellen. Als sedimentierte Lösungen interaktiver Situierungsprobleme (siehe unten) locken Benutzbarkeitshinweise mit dem im wahrsten Sinne des Wortes Naheliegenden, sie sind in diesem Sinne Teil der Gesellschaft, in deren kommunikativen Vollzug jedwede Interaktionsepisode involviert ist. 7 3 Viel zitiert z.B. die Fallstudie von Goodwin (2000); vgl. auch Stichworte wie „geosemiotics“ bei Scollon/ Scollon (2003) oder „spatial semiotics“ bei Ravelli/ Stenglin (2008). 4 Stichworte dafür sind z.B. „Materialität“ und „Sichtbarkeit“ (vgl. z.B. Emmison/ Smith 2000, Frers/ Meier 2007). Allgemeiner zur (neueren) Raumsoziologie vgl. z.B. Schroer (2007); zur Sozialgeographie vgl. z.B. Cresswell (2009). 5 Vgl. z.B. Studien wie Hutchins/ Palen (1997) oder Hindmarsh/ Heath (2000) aus der Tradition der ‘workplace studies’ und, mit der Betonung auf Technik und Technologie, den größeren Rahmen der soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung (aus dem z.B. die Ansätze aus der Akteur-Netzwerk-Theorie stammen: vgl. als Überblick z.B. Meerhoff (2011, S. 25ff.) und zu einer Skizze der einschlägigen Begrifflichkeit Akrich/ Latour (1992). Benutzbarkeitshinweise werden in diesem Theorierahmen als ‘scripts’ verstanden. Wir kommen darauf noch zurück). 6 Einen instruktiven Überblick über die sozialpsychologischen Konzepte bieten Kruse/ Graumann (1978); dort auch Hinweise zum gestalttheoretischen Hintergrund der Idee, dass Dinge und Räume ‘Valenzen’ haben; zur Theorie der ‘affordances’, die an die gestalttheoretischen Konzepte anknüpft, vgl. Gibson (1986). 7 So jedenfalls die Theoretisierung des Verhältnisses von Interaktion und Gesellschaft in der neueren soziologischen Systemtheorie (Luhmann 1985, Kapitel Gesellschaft und Interaktion). Dort auch die Formulierung, dass „die gesellschaftliche Selektion [...] mit dem Leichten und Gefälligen lockt“ (ebd., S. 588). Über Tische und Bänke 141 Ohne mobiliare Benutzbarkeitshinweise (wie z.B. die eingangs illustrierten) wären viele Interaktionen in der uns gewohnten Form kaum möglich. Interaktion beruht insofern auf dem Anknüpfen an und dem Ausnutzen von solche/ n und andere(n) raumbasierte(n) Benutzbarkeitshinweise(n). Es sind Hinweise auf Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungspräferenzen, die im Raum eine materiale Erscheinungsform gefunden haben und in diesen sedimentierten Formen den Anwesenden wahrnehmungs- und vertrautheitsabhängig, z.T. auch lesbar zugänglich sind. 8 In der Routine unserer Alltagsinteraktionen werden sie mit großer Selbstverständlichkeit realisiert, so dass es wie selbstverständlich zu einem „Zusammensein“ unter der Prämisse einer bestimmten sozialen Praxis kommt (gemeinsamer Restaurantbesuch, Vorlesungsbesuch, Kauf einer Fahrkarte an einem Schalter), also zu einer Überlappung von Situierung (Wo ist hier? ) und Rahmung (Was geht hier vor? ). Mit Situierung und Rahmung sind zwei der grundlegenden interaktionskonstitutiven Aufgaben gemeint, 9 wie sie in jeder x-beliebigen Interaktion irgendwie bearbeitet und „gelöst“ werden müssen, damit Interaktion zustande kommen und aufrechterhalten werden kann. Dafür stehen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung, zu denen die natürliche Sprache (ihre Grammatik und ihr Lexikon), aber auch schon die Anwesenheit der Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Vollsinne körperlicher und geistiger Präsenz (Sensorik, Motorik, Kognition) gehören. Ressourcen bedeutet: dass Interaktion an Leistungen und Errungenschaften anschließen kann, die nicht erst im Moment des Zusammenkommens (mit den Bordmitteln der Interaktion) erzeugt werden müssen. Die Frage ist dann, wie man sich dieses „Anschließen an“ vorstellen muss. Anwesenheit ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Wir wissen - spätestens seit Goffmans Pionierarbeiten (vgl. z.B. Goffman 1961a, b) -, dass wir uns Anwesenheit nicht als eine interaktionsexterne oder -vorgängige Größe vorzustellen haben, sondern als ein ‘interactive achievement’, das unter Anwesenden (z.B. durch Blickkontakt) hervorgebracht werden muss, damit sie zu 8 Als materiales Sediment vorausgegangener Interaktionsereignisse ist die Benutzbarkeit des Raumes auch eigenständig beschreibbar, d.h. als solche und für sich genommen. Das wäre die Perspektive einer „Archäologie der Interaktion“, wie man in Anlehnung an Foucaults „Archäologie des Wissens“ vielleicht sagen könnte. Auch wenn wir uns in diesem Beitrag auf Interaktion konzentrieren werden, wird der Bedarf der Interaktionsanalyse an einer solchen Archäologie immer wieder durchschimmern. 9 Die anderen Aufgaben sind: Eröffnung und Beendigung (Wann geht's los? Wann hört's auf? ), Sprecherwechsel (Wer kommt als nächste(r)? ), Themenorganisation (Was kommt als nächstes? ) und Selbst- und Fremddarstellung (Wer interagiert mit wem? ). Es sind die, wenn man so will, üblichen Verdächtigen der Konversationsanalyse, von der Sache her immer wieder gesehen, aber selten durchtheoretisiert. Wichtige Bezugspunkte: Goffman (1974), Kallmeyer/ Schütze (1976). Weitere Hinweise dazu auch bei Hausendorf (2010). Heiko Hausendorf 142 „Anwesenden“ werden. Dieser Prozess ist zwar auf körperliche und geistige Präsenz (als Ressource) angewiesen, aber es ist ein genuin interaktiver (selbstreferentieller, „autopoietischer“) Prozess (Luhmann 1985), der auch als solcher rekonstruiert werden muss. In diesem Sinne ist - neben Sprache und Anwesenheit - auch der Raum, genauer gesagt: seine Benutzbarkeit, eine Ressource für die Interaktion, speziell für die Situierung und die Rahmung. Und so wie Anwesenheit als Ressource und als Hervorbringung zu verstehen ist, ist auch die Benutzbarkeit des Raumes als Ressource und Hervorbringung zu verstehen. Gerade hoch spezialisierte Kommunikationsereignisse - wie insbesondere institutionalisierte und organisierte Interaktionsereignisse - können durch Raum, könnte man in Anlehnung an Luhmann sagen (Luhmann 1981), „wahrscheinlicher“ gemacht werden. 10 Situierung und Rahmung können in solchen Fällen auf sehr effektive und ökonomische Weise an raumbasierte Benutzbarkeitshinweise anschließen: dass ein Interaktionsereignis als Gerichtsverhandlung, medizinische Untersuchung oder politische Debatte zustande kommt, vollzieht sich deshalb in vielen Fällen im Zuge der Wahrnehmungswahrnehmung der entsprechenden Räumlichkeiten (des Gerichtsgebäudes, der Arztpraxis oder des Parlaments) und der Platzierung und Positionierung der Anwesenden innerhalb solcher Räume. Wir wollen das so verstehen, dass in und mit Interaktion räumliche Benutzbarkeitshinweise aktualisiert werden können und dass sich darin sehr wesentliche Momente der Herstellung des ‘Interaktionsraumes’ manifestieren. 11 In vielen Fällen geschieht das sehr unscheinbar und weit unter der Bewusstheits- und Thematisierungsschwelle der Beteiligten. 10 Die Idee, Luhmanns These der Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation auf die Raumthematik zu beziehen, stammt von Peter Auer (persönliches Gespräch). Sie erscheint mir recht passend, weil man ausgehend von dieser These den Eindruck vermeiden kann, es ginge um eine irgendwie normative Setzung von dem, was an einem Raum für Interaktion ‘problematisch’ oder ‘unproblematisch’ sein kann. Luhmanns Pointe ist, dass Kommunikation (wir fügen hinzu: inklusive Interaktion) grundsätzlich unwahrscheinlich, und das heißt ‘problematisch’ ist (obwohl sie den Teilnehmer(inne)n oftmals geradezu selbstverständlich ist). Deshalb gibt es, so Luhmann, evolutionäre Errungenschaften, die diese Unwahrscheinlichkeit überwindbar werden lassen (wie Sprache), aber dann ihrerseits natürlich wieder neue Unwahrscheinlichkeiten erzeugen (Luhmann 1981). Mir scheint, dass diese Idee dem konversationsanalytischen Problembegriff (wie ihn Schegloff und Sacks z.B. für die Beendigung zugrunde legen: vgl. Schegloff/ Sacks 1973) sehr nahe kommt. 11 ‘Interaktionsraum’ ist ein (schillerndes) Konzept, das es in der Interaktionsforschung der Sache und der Idee nach schon lange gibt, das aber vermehrt in den letzten Jahren anzutreffen und neu profiliert worden ist, wenn es um die Herstellung des Raumes in und mit Interaktion geht (vgl. z.B. den Überblick bei Mondada 2007, die Hinweise in der Einführung zu diesem Band und die vielen Referenzen auf Interaktionsräume in den anderen Beiträgen in diesem Band). Über Tische und Bänke 143 Es gibt indessen auch Beispiele, in denen die Inanspruchnahme und Aneignung der räumlichen Umgebung für die Interaktion aus welchen Gründen auch immer nicht bruchlos und nicht unscheinbar vonstattengeht, sondern einen besonderen Aufwand mit sich bringt und dadurch auffällig(er) wird. Was das genau heißt, wie man sich das empirisch vorstellen muss und was man daran zeigen kann, werden wir im vorliegenden Beitrag in Form einer Fallstudie zu entwickeln versuchen (siehe unten Kap. 3). Die Beschäftigung mit diesem Beispiel soll die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie in der Interaktion - je nach Interaktionsereignis - insbesondere mobiliare Benutzbarkeitshinweise im Sinne einer räumlichen Ressource für Situierungsaktivitäten (aus-)genutzt und angeeignet werden können. Dabei kommt es uns auch darauf an, deutlich zu machen, wie unterschiedliche Ressourcen der Situierung zusammen greifen und welche Ergänzungsverhältnisse dabei zu beobachten sind. Es wird sich u.a. zeigen, dass die Situierung der Interaktion durch den Raum nicht nur gefördert und unterstützt, sondern auch behindert und erschwert werden kann. Unser Fall ist insofern speziell, als darin ein Raum auf eine Weise genutzt werden soll, die nicht mit den vorgefundenen mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen kompatibel erscheint. Die Aneignung des Raumes und seiner mobiliaren Benutzbarkeitshinweise durch die Interaktion wird deshalb zu einem ‘issue’, und sie hinterlässt sehr deutliche Spuren, die Gegenstand der folgenden Analyse sind. Diese Spuren sind, und das ist wohl kein Zufall, auch und gerade sprachlicher Natur (worauf wir im abschließenden Fazit kurz eingehen wollen: siehe unten Kap. 4). Aus der Perspektive der Akteur-Netzwerk-Theorie (siehe oben Anm. 5) mag der beschriebene Sachverhalt als ein Beispiel für ‘de-inscription’ erscheinen: Die Beteiligten versuchen, sich dem zu entziehen, was ihnen durch die Dinge vorgeschrieben ist bzw. sie passen die Dinge und/ oder ihr Verhalten durch Aushandlung ihren eigenen Zielsetzungen an. Während der Fall der ‘subscription’, bei dem die Beteiligten dem Vorgeschriebenen („what is prescribed or proscribed“) folgen, dadurch gekennzeichnet ist, dass alles reibungslos („smoothly“) läuft, gibt es bei der ‘de-inscription’ eine Krise, die eine Beschreibung („description“) des fraglichen Handlungs- und Kommunikationszusammenhangs („setting“ bzw. „dispositive“) durch den Beobachter erlaubt. 12 Diese Sicht der Dinge trifft sich mit unserer Ausgangsidee, dass es in dem ausgewählten Fallbeispiel um mobiliare Benutzbarkeitshinweise geht, die für die angestrebte Interaktion irgendwie zum Problem werden. Die Frage ist dann, in welcher Spra- 12 Diese Formulierungen folgen dem Wortlaut der (im Original englischsprachigen) Definition bei Akrich und Latour (Akrich/ Latour 1992, S. 261). Vgl. als empirisch eindrücklichen Beleg auch die Studie von Akrich (1992). Heiko Hausendorf 144 che die Beteiligten selbst über mobiliare Benutzbarkeitshinweise reden - wie also die ‘de-scription’ nicht durch den Beobachter, sondern durch die Teilnehmer selbst erfolgt. Uns interessiert deshalb, wie die fraglichen Benutzbarkeitshinweise, die ‘scripts’, zur Sprache gebracht werden können und welcher Art die alltagssprachlichen Ressourcen sind, auf die die Teilnehmer dabei zurückgreifen können. Unser Beispiel scheint gerade für diese Fragestellung recht gut geeignet, was wir anschließend kurz begründen wollen. 2. Wenn der Seminarraum zum Problem wird - Zur Heuristik des ausgewählten Falles Wir werden in diesem Beitrag zwei kurze Ausschnitte einer Interaktionsepisode unter die Lupe nehmen, die eine Gruppe von Studierenden beim Umräumen eines Seminarraumes zeigt. Für die Analyse mobiliarer Benutzbarkeitshinweise ist dieser Fall in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zunächst schon deshalb, weil wir eine Interaktion vor uns haben, in der die Beteiligten nicht nur Dinge mit Worten tun, sondern auch Dinge mit Dingen, mit Bewegungen und mit praktischen Handlungen tun: Sie gehen hin und her, verschieben und verrücken Tische und heben Stühle hoch und versetzen sie. Darin kommt ein Moment körperlicher Arbeit in einer Gruppe zum Ausdruck, die im Hinblick auf Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation 13 bekanntermaßen anspruchsvoll und deshalb nicht zufällig in der Tradition der ‘workplace studies’ (siehe oben Anm. 5) des Öfteren untersucht worden ist. Es ist bekannt, dass Fälle gemeinsamer praktischer Arbeit, zumal wenn Gegenstände im Spiel sind, spezielle Situierungsleistungen erfordern, für die die im Raum vorgefundenen Artefakte eine besondere Rolle spielen. Das tritt in dem Maße hervor, in dem es sich nicht um ein professionell eingespieltes und auf Aufgaben dieser Art vorbereitetes Team handelt, sondern um eine auf Improvisation beruhende, mehr oder weniger zufällig zustande kommende Handlungsgemeinschaft unter Anwesenden. Die für das Umräumen als gemeinsame Aktion notwendige Ko- Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation verläuft deshalb nicht reibungslos, sondern sie erweist sich als klärungs- und thematisierungsbedürftig. Die Situierung, die im Alltag der Interaktion in vielen Fällen unterhalb der Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsschwelle erfolgt, wird in unserem Fall in mindestens zweifacher Hinsicht zu einem Thema: zum einen dadurch, dass sich die fragliche Interaktion (die von uns so genannte Umräumaktion) ganz in den Dienst der Vorbereitung einer zukünftigen Interaktion stellt. Diese Vor- 13 Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation sind in unserem Verständnis Unteraufgaben der Situierung (siehe oben Kap. 1) und verweisen auf die Trias von Wahrnehmung, Bewegung und Handlung (Hausendorf 2010). Über Tische und Bänke 145 bereitung betrifft das Arrangement der im Raum befindlichen Tische und Stühle, das verändert und im Hinblick auf eine zukünftige Interaktion angepasst werden soll. Wir bekommen damit Einblick in ein Geschehen, das in der Interaktion ansonsten häufig vorausgesetzt wird: die Vorbereitung eines Raumes für einen speziellen sozialen Anlass. Wir können also zuschauen, wie mobiliare Benutzbarkeitshinweise durch Interaktion vorbereitet und arrangiert werden. Zum anderen wird die Situierung auch dadurch thematisch, dass sich die Beteiligten über das verständigen, was sie zur Vorbereitung des Raumes für notwendig erachten. Sie reden darüber, warum es notwendig ist, den Raum zu verändern und was genau dabei zu tun ist. Wir können also zuhören, wie in der Sprache des Falles über das geredet wird, was wir in diesem Beitrag fachsprachlich als mobiliare Benutzbarkeitshinweise eingeführt haben. Wir wollen die Analyse aber nicht von vornherein auf diese Heuristik und die damit einhergehende Fragestellung einengen, sondern in der Fallanalyse breiter ansetzen und dabei explorativ vorgehen. So soll - möglichst unvoreingenommen - vom Fall her kommend die Idee der Benutzbarkeitshinweise nicht nur illustriert, sondern in Ansätzen auch entwickelt werden. Es geht darum zu zeigen, wie man sich die interaktive Aneignung raumbasierter, speziell mobiliarer, Benutzbarkeitshinweise konkret vorstellen muss und wie diese Aneignung mit Prozessen der Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation verknüpft wird. Wir werden dabei nicht umhin kommen, auch auf Benutzbarkeitshinweise einzugehen (ein Raum in einem Gebäude; eine Tür, die offen steht; Tische und Stühle), auf die man immer wieder stößt, die also (noch) nicht fallspezifisch sind. Wir werden uns dann aber mit dem Verlauf der Interaktion der Spezifik des Falles nach und nach annähern. Schließlich ist noch eine methodische Vorbemerkung zur Analyse von Videoaufzeichnungen und speziell zur Analyse von Standbildfolgen notwendig, um die Darstellung der Analyse zu entlasten und um nicht laufend das eigene Vorgehen methodisch und methodologisch zu kommentieren. Die „Methode“, mit der wir im Folgenden arbeiten wollen, entspringt dem Versuch, die bewährten Maximen der konversationsanalytischen wie auch objektiv hermeneutischen Herangehensweise an Transkriptionen gesprochener Sprache auf die Herangehensweise an Folgen von Standbildern zu übertragen. Bilder erzählen aus dieser Perspektive Interaktionsgeschichten: Sie sind retrospektiv (Was ist passiert? Was war hier los? ) wie prospektiv (Wie wird es weitergehen? Was kommt als Nächstes? ) lesbar. Dafür sind neben den Personen, die wir in ihren Bewegungen gleichsam eingefroren sehen, auch die im Raum vorfindbaren Details der Gestaltung des Raumes, von der Innenarchitektur bis zur Möblierung, aufschlussreich. Genau darin manifestieren sich die von uns Heiko Hausendorf 146 in den Mittelpunkt gerückten Benutzbarkeitshinweise: Sie legen Interaktionsfortsetzungen nahe! Der Aufweis der Rekonstruierbarkeit solcher Hinweise auf Interaktionssequenzen ist uns in der folgenden Analyse wichtiger als die Richtigkeit der entsprechenden Beobachtungen. Es wird sich zeigen, dass oft auch andere Lesarten möglich sind als die, die in der Darstellung herausgegriffen werden. Obwohl die mit Videoaufzeichnungen ermöglichte Art von Rückgriff auf Gesehenes (und nicht nur auf Gehörtes) in der linguistischen Interaktionsanalyse der letzten Jahre einen starken Aufschwung erlebt hat, 14 steht die Ausbildung eines der Analyse von Transkriptionen vergleichbaren methodischen Knowhow trotz der sich schon abzeichnenden Standards (Heath/ Hindmarsh/ Luff 2010) eher noch am Anfang. Das gilt insbesondere für das Potenzial der Standbildanalyse, auf das wir im Folgenden das Augenmerk richten wollen; Ausgangspunkt ist die Idee, eine - wie auch immer zustande gekommene - Standbildsequenz als eigenständiges Dokument ernst zu nehmen. Das heißt: Die Bilder sollen nicht einfach nur und nicht primär kompensieren, dass wir an dieser Stelle nicht den Videoausschnitt zeigen können, aus dem die Standbilder erzeugt wurden. Sie sollen auch nicht „veranschaulichen“, wie sozusagen in der fraglichen Szene der situative Hintergrund ausgesehen hat. Und schon gar nicht geht es darum, das Gesprochen-Gehörte und entsprechend Transkribierte zu „bebildern“. Was aber dann? Ähnlich wie eine Transkription, die ja auch nicht das Fehlen einer Tonaufzeichnung kompensiert, sondern selber ein für die Analyse, ihre Fragestellung, ihre Vorgehensweise und ihre Ergebnisse konstitutives Dokument ist, in der also bereits der gesamte Gestus der Analyse enthalten ist, ähnlich also soll hier auch eine Standbildfolge als eigenständiges Dokument zur Geltung gebracht werden, das für eine Analyse eigener Art konstitutiv ist. Natürlich bleibt der Fluchtpunkt einer solchen Analyse - anders als im Falle einer Bildanalyse - die Interaktion, die in den Standbildern auf eine wie auch immer selektive Weise dokumentiert ist. Gleichwohl ermöglicht und provoziert die künstliche Stillstellung einzelner Interaktionsszenen die Beobachtung von Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsdetails, die im Sinne einer sehr fruchtbaren Verfremdung der Alltagsperspektive Aufschluss über die in diesen Details markant zum Ausdruck kommenden Interaktionsstrukturen geben können. So wie es sinnvoll ist, mithilfe einer Transkription an einer bestimmten Stelle die Zeit anzuhalten und die Implikationen eines Beitrags für Folgebeiträge herauszuarbeiten, ergibt es auch Sinn, mithilfe eines Standbilds die Zeit anzuhalten und die sichtbar eingefrorene Interak- 14 Vgl. dazu im deutschsprachigen Raum z.B. die Beiträge in den Sammelbänden von Schmitt und von Mondada und Schmitt (Schmitt (Hg.) 2007, Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010) und die Beiträge in diesem Band. Über Tische und Bänke 147 tion und die darin dokumentierte Aneignung raumbasierter Benutzbarkeitshinweise kontraintuitiv und gezielt verfremdet zur Geltung zu bringen. Dabei wird sich nicht immer der Eindruck vermeiden lassen, dass von Banalitäten die Rede ist: etwa wenn vom ‘Aufstehen’, vom ‘Rein-’ und ‘Rausgehen’ oder vom ‘Sitzen’ die Rede ist. Entscheidend ist es natürlich (wie immer), hinter die Selbstverständlichkeit dieser Phänomene im Sinne der dadurch erfolgenden Situierung (sprich der Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation) zu kommen. Eine solche Analyse will, wie gesagt, keine Bildanalyse sein, sondern bleibt Interaktionsanalyse. Es soll die Standbildwiedergabe auch nicht als Form der Dokumentation mystifiziert werden. Aber es scheint mir doch einen bislang eher vernachlässigten, aber methodisch wichtigen Unterschied zu machen, ob wir innerhalb der Analyse die Standbildfolge als eigenständige Materialgrundlage anerkennen und ihr Potential auszuschöpfen versuchen oder darin bloß einen der Publikationsform des Drucks geschuldeten Ausweg aus dem Dilemma sehen, nicht den Videoausschnitt einfügen zu können. Die Methodologie der Standbildanalyse birgt jedenfalls Herausforderungen eigener Art. Auch das soll im Folgenden immer wieder angedeutet werden, wenn wir bewusst die empirische Evidenz für unsere Analyse aus dem auf den Standbildern Sichtbaren herzuleiten versuchen. 15 3. Susch isch s so vorlesigsmäßig: Vom Seminarraum zum Kino Der Ausschnitt, den wir analysieren, zeigt eine kleine Gruppe von Studierenden, die dabei sind, einen Seminarraum umzuräumen, d.h. hier vor allem: Tische und Stühle zu verschieben. Wie sich im Ausschnitt selbst zeigen wird, erfolgt diese Umräumaktion, um den Raum für eine anschließende Aktivität, eine Filmvorführung mit Apéro, geeignet(er) zu machen. Wir werden anhand von Standbildsequenzen zwei kurze Szenen aus dem Ausschnitt analysieren. Zum besseren Verständnis des Ausschnitts und zum leichteren Mitvollzug der Analyse seien die Transkriptionen der beiden Szenen, zwischen denen eine knappe Minute liegt, hier der Analyse der Standbildsequenzen vorangestellt: 15 Was wir im Folgenden gerne ausprobieren möchten: Ob es möglich sein könnte, dass Standbildsequenzen im Vergleich zur Videoaufzeichnung (aus der sie „gemacht“ sind) für die Interaktionsanalyse einen ähnlichen Stellenwert haben könnten, wie ihn zweifellos Transkriptionen im Gegensatz zu Audioaufzeichnungen (aus denen sie „gemacht“ sind) haben. Uns interessieren die Möglichkeiten und die Grenzen dieser Analogie - die in der einschlägigen methodologischen Literatur nach meinem Eindruck noch nicht (genügend) diskutiert wurden (auch wenn z.B. vom Verhältnis von Transkription und Bild/ Video ausdrücklich die Rede ist: vgl. z.B. die Hinweise bei Knoblauch et al. (2009, S. 15ff.) oder auch den Beitrag von Mondada (2009). Vgl. auch die Bemerkungen zum „Fotogramm“ bei Bohnsack (2009, S. 151ff.) und die Beiträge in Kissmann (Hg.) (2009)). Heiko Hausendorf 148 Transkription Szenen (1) und (2) mit Übersetzung 16 1 DO: (wem_er / wetsch) alli TISCH (scho mol (wollen wir / möchtest du) alle tische 2 anerucke- / an rAnd Use-) (schon einmal heranrücken- / schon einmal an (den) rand raus-) 3 BA: JA: [ICH find schO: wil susch isch_s eifach ja: [ich finde schon weil sonst ist_s 4 KA: [(susch isch so-) [(sonst ist (es) so-) 5 BA: so: (.) susch isch_s so DINGSmäßig- einfach so: (.) sonst ist_s so dingsmäßig- 6 BA: (.) susch isch so: VORlesigsmäßig; (.) sonst ist (es) so: vorlesungsmäßig; ((Auslassung: 50.0)) 7 NI: <<Richtung BA laufend> BARbara (.) cha mer barbara (.) kann man 8 no ÖPPis hÄlfe-> noch etwas helfen-> 9 BA: JA- (.) mer mer müend eifach irgendwie de ja- (.) wir wir müssen einfach irgendwie den 10 rum so: (.) mache dass mer nachene chan en raum so: (.) machen dass man nachher einen 11 ↑ FILM LUEge, ↑ film anschauen kann, 12 BA: Aso (--) eifach irgendwie d BÄNK ( ) aso ich also (--) einfach irgendwie die bänke ( ) also ich 13 find_s eifach ned gmüetlich a dene bÄnk z finde es einfach nicht gemütlich an diesen 14 sitze wie i de vOrlesig; bänken zu sitzen wie in der vorlesung; 15 BA: (.) vo dem her han i [dänkt- (.) daher habe ich [gedacht- 16 NI: [wotsch EIfach NUR [möchtest du einfach 17 stüehl, nur stühle, 16 Übersetzung: Barbara Zeugin. Über Tische und Bänke 149 18 BA: NUR stüehl-=ja; nur stühle-=ja; 19 NI: oKE- okay- 20 (1.0) 21 (2.0) 22 WE: (was git_s) (was gibt_s) 23 <<nickt mit dem Kopf> (unverständlich 1.0)> 24 (2.0) 25 BA: <<auf WE zugehend> (mir tüen / i wür) (wir tun / ich würde) 26 [jetzt e CHLI (--) KIno irichte; => [jetzt ein bisschen kino einrichten; => 27 WE: [(unverständlich) 28 WE: =beSTUEHLlig; = [(unverständlich) =bestuhlung; = 29 BA: [=JA: eifach wel SUSCH isch_s [=ja: einfach weil sonst 30 halt (.) de rUm isch susch halt eifach wie i ist_s halt (.) der raum ist sonst halt 31 de vOrläsige-=oder; einfach wie in den vorlesungen-=oder; Die erste Szene, die uns interessiert (Z. 1-6), ist mit der Transkription des Gesprochen-Gehörten nur unvollständig erfasst, weil darin zunächst (noch) nicht gesprochen wird. Die Szene beginnt also noch vor dem Beginn der ersten Transkriptzeile. Wir werden die Szene mithilfe einer Sequenz von sechs Standbildern dokumentieren, die einen Ausschnitt von insgesamt etwa fünf Sekunden zeigt. Unsere Analyse wird damit beginnen, anhand der Bilder die Situierung der Interaktion durch Wahrnehmung und Bewegung in einem komplexen Ensemble räumlicher Benutzbarkeitshinweise zu rekonstruieren (Kap. 3.1). Hinzu kommt dann als weitere Materialbasis eine zweite, teilweise überlappende Bilderfolge, die mit dem Einsetzen des Sprechens zusammenfällt. Wir können anhand dieses Dokumentes von Gesehenem und Gehörtem rekonstruieren, was genau das Sprechen (und Zuhören) zur multimodal geleisteten Situierung beiträgt (Kap. 3.2). Schließlich wollen wir die zweite nachfolgende Szene (siehe Heiko Hausendorf 150 oben: Z. 7-31) ebenfalls anhand von zwei Bildersequenzen dokumentieren. In dieser Szene wiederholt sich gewissermaßen die bereits rekonstruierte Struktur des Falles - mit einigen aufschlussreichen Variationen, was insbesondere die sprachlichen Erscheinungsformen betrifft (Kap. 3.3). Die Videoaufzeichnung, aus der die Bilderfolgen erzeugt wurden, stammt aus einer Lehrveranstaltung. 17 Diese Aufzeichnung ist in mehrfacher Hinsicht nicht unproblematisch, was z.B. die Kameraführung und das Fehlen mindestens einer weiteren aufzeichnenden Kamera betrifft. Aber sie ist vielleicht gerade deshalb besonders gut geeignet, den charakteristischen Grad an Selektivität vor Augen zu führen, der einer Bilderfolge (zumal von nur sechs Bildern! ) als Dokument der Analyse aus prinzipiellen Gründen zu eigen ist. Wir werden bei der Analyse selbst darauf noch zurückkommen. 3.1 Wer interagiert mit wem? Interaktion im Übergang Die ausgewählte Episode dokumentiert, so werden wir gleich zu zeigen versuchen, eine Interaktion im Übergang, die eine größere Zäsur nahelegt, die die Rahmung und Situierung der Interaktion betrifft: etwas Bestimmtes ist bereits zu Ende gegangen, und etwas Anderes ist schon dabei zu beginnen. Deshalb ist schon die Frage, wer hier (noch oder schon) mit wem interagiert, nicht trivial. Konzentrieren wir uns dazu auf die folgende Bilderfolge: 18 Bildsequenz 1: 00.00-00.05 (Z. 1-2) 17 Ich danke Gianna Frölicher und Karina Frick, die das Material erhoben, transkribiert, im Seminar vorgestellt und im Rahmen von Hausarbeiten analysiert haben, für die Überlassung der Daten und für viele inhaltliche Anregungen. 18 Bildbearbeitung und -layout: Andi Gredig. Fein- und Nachtranskription: Sabina Gröner und Barbara Zeugin. Wenn auch gesprochen wird, zeigt das Bild jeweils den Augenblick, in dem die Transkription unter dem Bild beginnt. 1 DO 2 BA NI KA GE Über Tische und Bänke 151 DO: (wem_er / wetsch) DO: alli TISCH (scho molanerucke- / an rAnd Use-) Was ist es, das uns diese Bilderfolge zu sehen gibt? Zunächst kann man sehen, dass sich Personen in einem umbauten Raum befinden. Vertrautheitsabhängig und weil wir es vorausgeschickt haben, kann man auch wissen, dass es sich dabei um einen Raum in einem Teilgebäude einer Universität handelt, um einen „Seminarraum“. Ein Seminarraum ist ein Raum, der für einen institutionalisierten Zweck gebaut und hergerichtet worden ist und offenkundig mit der fraglichen Institution, deren manifester, Stein (bzw. Beton) gewordener Ausdruck er ist, irgendwie zusammenhängt. Er stellt ein komplexes Ensemble unterschiedlichster Benutzbarkeitshinweise dar, in denen sich gleichzeitig mit der Situierung eine bestimmte Rahmung manifestiert. Im Alltag des Lehrbetriebs der Universität erleben wir tagtäglich, wie die unterrichtsförmig organisierte Interaktion Räume wie diesen für sich in Anspruch nimmt, ohne dass es dazu eines besonderen Aufwands bedarf: Es muss nicht darüber gesprochen werden, damit die Sich-Einfindenden wie selbstverständlich einen Sitz- und Tischplatz finden, mit dem sie ihren Beitrag zur Konstitution des Raumes als Seminarraum leisten. Die Aneignung des Raumes geschieht also schon und vor allem im Besetzen der Stühle in der vorgefundenen Sitzordnung. Der 3 4 5 6 Heiko Hausendorf 152 Raum und seine Möblierung werden als Benutzbarkeitshinweise im Sinne der Implikationen eines Seminarraumes für die Zwecke unterrichtsförmig organisierter Lehr-Lern-Interaktion in Anspruch genommen. Für die vorliegende Sequenz ist mit dieser Beschreibung allerdings nicht viel gewonnen, weil wir uns in einer Situation des Übergangs befinden. Man kann das an den Bildern selbst festmachen - was analytisch wichtig ist, weil wir ja keine ethnographisch informierte Prozessbeschreibung liefern wollen, sondern eine Rekonstruktion der Interaktion. Wenn es hier einen „Übergang“ gibt, dann müssen sich das auch die Beteiligten aufgezeigt haben und die Frage ist, ob wir Spuren davon auf unseren Bildern erkennen können. In der Tat sind solche Spuren reichlich vorhanden. So sehen wir gleich auf Bild 1 im Hintergrund eine Leinwand als Projektionsfläche (z.B. für den auf einem Tisch befindlichen Laptop). Sie macht den Raum zu einem Vorführraum, in dem etwas für die Anwesenden gezeigt werden kann. Damit bekommt der Raum ein starkes Wahrnehmungsangebot, ein „Vorne“, an das Ko-Orientierungen anschließen können - aber nicht müssen, wie die Bilderfolge zeigt: Keiner der Beteiligten orientiert sich erkennbar an diesem „Vorne“, im Gegenteil zeigen z.B. Nils und Kaspar durch ihre Sitzposition eine Abwendung von der Leinwand an: 1 NI KA In einer unmittelbar vorausgegangenen Interaktion, deren Spuren wir hier noch vor uns haben, mag die noch erkennbare Projektion von Bedeutung gewesen sein. In dem auf der Bilderfolge festgehaltenen Augenblick spielt sie dagegen (bereits) keine Rolle mehr. Wir wollen darin ein erstes Indiz für eine Interaktion im Übergang sehen. Des Weiteren sehen wir Tische und Stühle, deren Ordnung sich nicht auf den ersten Blick erschließt, die aber offensichtlich beweglich - und nicht etwa am Boden fixiert - sind. Die Stühle, die wir rechts im Vordergrund erkennen kön- Über Tische und Bänke 153 nen, wirken wie vor Kurzem bis auf Weiteres „hingestellt“ und mobil; teilweise um einen Tisch gruppiert, teilweise auch frei stehend. Tische kommen von den Seiten des Raumes in den Blick, und auch sie erscheinen als mobile Objekte: Barbara ist z.B. dabei, einen der Tische zu verschieben. Die Tische scheinen zudem auf Verstellbarkeit und Arrangierbarkeit hin angelegt: Vorne rechts erkennen wir z.B. die schrägen Kanten eines Tisches (auch bei dem Tisch, den Barbara manipuliert), an die sich ein anderer Tisch anstellen lässt, so dass sich eine Reihung ergibt: 6 Stühle und Tische bieten, allgemein gesagt, Ruhepositionen an, die die Beweglichkeit der Teilnehmenden einschränken zugunsten des Verharrens in einer mehr oder weniger festen Position, von der aus größere Bewegungen nur um den Preis des ‘Aufstehens’ möglich sind. Um einen Tisch gruppierte Stühle (wie im Hintergrund rechts auf den Bildern zu sehen) sind bereits starke Ko-Operationsangebote, insofern sie Konstellationen und Konfigurationen gemeinsamen Handelns nahelegen, die es sinnvoll machen, zusammen um einen Tisch zu sitzen. Auf Bild 1 sehen wir, dass eine solche Konfiguration durch Nils und Kaspar tatsächlich realisiert wird (auch wenn sie bereits in Auflösung begriffen ist, siehe unten). Auf der Bilderfolge können wir darüber hinaus sehen, dass die sichtbare linke Wand des Raumes behängt ist (u.a. mit Karten) und dass der Raum Spuren von Hineingetragenem erkennen lässt (eine Jacke auf einem Stuhl; einen Rucksack, der an einer Wand lehnt). Die erste Beobachtung führt uns, wenn wir sie im Vorgriff auf eine spätere Bildfolge auffüllen (siehe unten Bild 11), auf weitere Aspekte der Gestaltung des Raumes, die unmittelbare Hinweise auf den institutionellen Zweck des Raumes enthält. Die zweite Beobachtung führt dagegen wieder zum Vorher, also zu der unmittelbar vorausgegangenen Interaktion, dessen Schauplatz unser Raum gewesen ist. Heiko Hausendorf 154 Schließlich ist nicht zu verkennen, dass wir einer Szene beiwohnen, in der, salopp formuliert, etwas mit dem Raum gemacht worden ist und noch gemacht wird. Darauf verweisen die augenscheinlich bewegten Stühle und Tische und natürlich die Manipulation eines Tisches durch Barbara. Es muss also einen Grund geben, aus dem heraus der vorgefundene Raum umgeräumt worden ist und, zumindest partiell, auch nach wie vor (um-)arrangiert wird. Anders als wir es zu Beginn mit der Beschreibung eines Seminarraumes nahegelegt haben, in dem sich die, die hereinkommen, der Sitzordnung gemäß hinsetzen, geschieht die Aneignung des Raumes im vorliegenden Fall vergleichsweise aufwendig: Tische und Stühle wurden und werden verschoben. Es scheint also einen Umgestaltungsbedarf zu geben, Gründe also, die den Raum in seiner vorgefundenen Gestaltung als unzweckmäßig (haben) erscheinen lassen. Nach dem, was wir jetzt zusammengetragen haben, spricht viel dafür, dass es sich um die zumindest partielle Außer-Kraft-Setzung und Neutralisierung von Benutzbarkeitshinweisen handelt, die mit der Nutzung des Raumes als Seminarraum zu tun haben. Insofern ist es richtig und falsch zugleich, wenn wir eingangs festgehalten haben, dass unsere Szene ‘in einem Seminarraum’ spielt. Falsch ist es in dem Maße, in dem sich zeigen lässt, dass und wie die für die Bestimmung des Raumes als Seminarraum konstitutiven Benutzbarkeitshinweise hier gerade außer Kraft gesetzt, sozusagen „de-inskribiert“ (siehe oben Kap. 1), werden (sollen). Richtig ist es insofern, als der beobachtbare Aufwand an Umgestaltung eben gerade als Außer-Kraft-Setzung bestimmter Implikationen des Seminarraumes verstanden werden muss, in dem die Szene spielt. Wenn es so wäre (und wir werden in der Folge Evidenz dafür zu liefern versuchen), könnte man daran anschaulich sehen, dass und warum wir eine Konzeption von so etwas wie raumgebundenen Benutzbarkeitshinweisen in der Analyse brauchen: Natürlich sind die Beteiligten gerade dabei, einen Raum für ihre Praxis, ihren Interaktionsraum „herzustellen“, hier vor allem: indem sie Tische und Stühle neu arrangieren; aber sie tun das in sehr aktiver Auseinandersetzung mit dem, was der Raum ihnen als Interaktionsraum „vorgibt“, hier vor allem: eine bestimmte Ordnung der Tische und Stühle, also der Objekte und Artefakte. Raumgebundene Benutzbarkeitshinweise sind entsprechend weder aufzulösen in interaktive Augenblickshervorbringungen von Ko-Orientierung, -Ordination und -Operation noch in interaktionsunabhängige Vorgaben für Ko-Orientierung, -Ordination und -Operation: Es sind vertrautheitsabhängig wahrnehmbare (manchmal sogar lesbare) Hinweise, die durch und mit Interaktion zur Geltung kommen (und sei es dadurch, dass sie außer Kraft gesetzt bzw. neutralisiert werden). 19 19 Man könnte sich fragen, ob diese Vorstellung mit der Terminologie der ‘Hinweise’ vereinbar ist. Die Idee ist: dass ‘Benutzbarkeitshinweise’ erst im Moment der Benutzung des Über Tische und Bänke 155 Wir haben bislang nur beiläufig darauf hingewiesen, dass auf den Bildern auch Personen zu sehen sind. Schon die Frage, ob und in welcher Weise hier wer mit wem (noch oder schon wieder) interagiert, ist nicht banal, weil sie (natürlich) unmittelbar mit unserem Thema zu tun hat: Die Frage ist, welcher Art die Ko-Orientierungen, Ko-Ordinationen und Ko-Operationen sind, die wir anhand der Bilderfolge rekonstruieren können und wie sie mit den im Raum nutzbaren Ressourcen zu tun haben. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Bilderfolge einen Augenblick festhält, in dem zunächst nicht (mehr bzw. noch nicht wieder) gesprochen wird. Auch wenn wir dieses Fehlen von Gesprochen-Gehörtem nicht überbewerten wollen (es handelt sich um eine Spanne von knapp 3 Sekunden), fehlt mit dem Sprechen und Zuhören zunächst eine eindeutige Erscheinungsform der Interaktion. In der Transkription taucht diese Sequenz entsprechend noch nicht auf. Wir sind deshalb auf die Frage nach anderen Erscheinungsformen der Interaktion verwiesen und wollen die Bilderfolge daraufhin etwas genauer betrachten. Zunächst ist die Sequenz offensichtlich von Bewegung geprägt: Abgesehen von Kaspar, der (noch) sitzt, in Bild 6 aber bereits in einer Aufstehbewegung eingefangen ist, sind alle anderen Personen in einer Laufbewegung (Georg, Nils, Dominik) bzw. beim Manipulieren eines Tisches (Barbara) festgehalten. Auffällig sind die dokumentierten Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungsorientierungen der Beteiligten, die nicht ohne Weiteres auf Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation schließen lassen, sondern auf Interktion in Auflösung bzw. im Übergang: Zwar muss man wohl trotz unterschiedlicher Blick- und Körperausrichtungen davon ausgehen, dass die Teilnehmer, solange sie noch im Seminarraum sind, wahrnehmen können, dass sie sich wahrnehmen und entsprechende Ko-Orientierungen, Ko-Ordinationen und Ko-Operationen im Spiel sind. Der gut überschaubare umbaute Raum grenzt und engt das Hier der Anwesenden deutlich ein, so dass sie, auch wenn sie sich nicht ansehen, mit der Gegenwart anderer rechnen können und rechnen müssen. Das ist sozusagen ein Benutzbarkeitshinweis des umbauten Raums relevant werden (oder aber eben nicht relevant werden). Sie haben als Interaktionssedimente (siehe oben Kap. 1) immer eine materiale, also sinnlich wahrnehmbare Qualität, lassen sich aber eben nicht „verdinglichen“, weil sie möglichen Benutzern und Benutzerinnen immer nur vertrautheitsabhängig zur Verfügung stehen. Sie sind in genau diesem Sinne emergente Erscheinungsformen, gebunden an den Moment der Benutzung. Das haben sie mit Lesbarkeits- und Textualitätshinweisen gemeinsam, die ebenfalls im Moment der Lektüre emergieren und nicht im Text selbst reifiziert werden können (vgl. dazu Hausendorf/ Kesselheim 2008). Ähnlich argumentiert Akrich (Akrich 1992, S. 209), wenn sie betont, dass es um die Bedeutungskonstitution im Prozess der Anwendung technischer Artefakte geht. Heiko Hausendorf 156 Raumes, der aufgrund seiner Überschaubarkeit wechselseitige Wahrnehmbarkeit und damit zumindest Ko-Orientierung suggeriert. Aber erkennbar ist aufgrund der Positionen und Bewegungen auch, dass nicht (mehr) alle auf dem Bild zu sehenden Personen in einem Augenblick einer Allinklusion erfasst sind, was Ko-Ordination und Ko-Operation betrifft. Das Dokument legt es deshalb nahe, sich dem Charakter der hier ablaufenden sozialen Interaktion von einzelnen Figurenkonstellationen her zu nähern. Zum Beispiel gilt in besonderem Maße für Georg und Dominik, dass sie mit der Gegenwart des Anderen rechnen: Sie steuern von entgegengesetzten Richtungen kommend mehr oder weniger aufeinander zu und müssen deshalb Vorkehrungen im Sinne der Ko-Ordination treffen, um nicht zu kollidieren: 5 GE DO Georg zeigt in der seitlichen Drehung seines Oberkörpers bereits eine Strategie zum „Einlenken“ an; Dominik bleibt an einem Punkt stehen, an dem er Georg „vorbei lassen“ kann: Mikroaktivitäten der Navigation flüchtiger Begegnungen, wie man sie tagein tagaus an Engpässen im öffentlichen Raum beobachten kann. Dass Dominik und Georg während der Annäherung soweit ersichtlich Blickkontakt vermeiden und erst recht auf Grußgesten verzichten, zeigt schon Implikationen für den sozialen Charakter dieser Annäherung im Sinne einer gleichsam unvermeidlichen, jedenfalls nicht gesuchten Begegnung von flüchtiger Dauer. 20 Hinzu kommt, dass sich die Charakteristik der Szene als Übergangssituation gerade auch in der Begegnung von Dominik 20 Diese am Standbild bzw. an der Standbildsequenz orientierte Beschreibung mag (wie an anderen Stellen auch) die Frage provozieren, ob nicht eine Inspektion des Videos an dieser Stelle mehr Klarheit bringen würde (was z.B. die Bewegungsbahnen (‘trajectories’) betrifft). Gerade die künstliche Verfremdung, die durch die Stillstellung der Bewegung erfolgt, erlaubt aber einen Einblick in die Praktiken der Ankündigung von Bewegungsbahnen, eben z.B. durch das Drehen des Oberkörpers. Dass es sich um eine Begegnung handeln wird, die „nicht gesucht“ ist, verstehe ich deshalb als dargestellten Hinweis (‘display’) - nicht als Spekulation über Intentionen der beiden Beteiligten. Über Tische und Bänke 157 und Georg manifestiert: im Gegensatz von ‘reinkommen’ (Dominik) und ‘rausgehen’ (Georg), was etwas mit dem Ort im Raum zu tun hat, an dem sich die beiden treffen (darauf kommen wir gleich noch zurück). Schauen wir zunächst auf eine besonders dynamische Konstellation: die zwischen Nils und Georg. Nils und Georg zeigen mit ihrem vergleichsweise aufwendigen Bewegungsverhalten (Georg: zügig diagonal durch den Raum gehen; Nils: vom Stuhl aufstehen und dabei mit Rumpf und Kopf eine 180°-Wendung vollziehen) eine starke Neuorientierung an. Darin liegt die sich auf den ersten Blick erschließende Dynamik ihres Verhaltens. Man könnte auch sagen: es demonstriert retrospektiv das Aufhören von etwas und projektiv ein Tun, das einen neuen Situierungsrahmen, eine neue Konfiguration erforderlich macht, die außerhalb des vorausliegenden Rahmens liegt. Es gibt also von hier aus weitere Evidenz dafür, dass wir in eine Interaktion geraten sind, die gerade durch Übergang und Auflösung charakterisiert ist. Nils und Georg kommen dabei aus verschiedenen Richtungen, wobei nur die Konfiguration, die Nils im Begriff ist zu verlassen, in der Bildfolge dokumentiert ist. Beide vereint eine gemeinsame Wahrnehmungs- und Bewegungsorientierung (links von Georg, hinter Dominik): 5 GE NI Türe Es ist die (bereits geöffnete) Tür des Raumes, die die Bewegungs- und Wahrnehmungsorientierung von Nils und Georg hochgradig sinnvoll (‘accountable’) macht: Sie gibt dem Verhalten ein Ziel, das für alle Beteiligten als wahrnehmbarer Benutzbarkeitshinweis zur Verfügung steht. Als Zugangsschwelle zum umbauten Raum (Ein- und Ausgang, Auftritt und Abgang) ist die Tür ein für die Entscheidung über An- und Abwesenheit zentraler Bezugspunkt: Jede erkennbar auf die Tür ausgerichtete Aktivität im Innern des Raumes gerät automatisch in den Sog der Zuschreibung (des Verdachts) des Rausgehens und Verlassens des Raumes. Wir sehen in der Materialität des durch eine Tür betretbar und verlassbar gemachten umbauten Raumes (im engeren Sinne eines Heiko Hausendorf 158 durch Wände abgeschlossenen Raumes/ Zimmers in einem Gebäude) einen Prototyp der Sedimentierung von Situierungserfordernissen, die der in einem solchen Raum stattfindenden Interaktion wie selbstverständlich ein Innen und ein Außen anbietet, also Inklusion und Exklusion nahelegt, wenn nicht erzwingt: Wenn die Tür geschlossen ist, kann in der Regel zwischen ‘drinnen’ und ‘draußen’ nicht mehr wahrgenommen werden, dass wahrgenommen werden kann (von Ausnahmesituationen abgesehen). Und umgekehrt kann, wenn der Raum überschaubar (klein) genug ist, im Innern des Raumes nicht mehr verhindert werden, dass Wahrnehmungswahrnehmung anläuft (siehe bereits oben). Als eine Sedimentierung der Herstellung eines für alle im Raum Anwesenden Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Handlungshiers ist der Raum jedenfalls ein sehr starker Benutzbarkeitshinweis, der nur mit vergleichsweise großem Mehraufwand, z.B. unter Einsatz körperlicher und sprachlicher Ressourcen außer Kraft gesetzt werden kann. Wir reden dabei noch nicht davon, wie der umbaute Raum innen(-architektonisch) eingerichtet und ausgestattet ist, sondern lediglich davon, dass und wie schon der durch Wände abgeschlossene Raum für sich genommen die Bewältigung der Situierung unterstützen und wahrscheinlich machen kann. 21 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Beobachtung an Bedeutung, dass im vorliegenden Fall die Tür (bereits) offen steht: Sie macht darauf aufmerksam, dass es nicht nur eine ausgewählte Betretbarkeits- und Verlassbarkeitsschwelle des Raumes gibt, 22 sondern dass diese Schwelle ‘offen’ (unmittelbar und ohne Weiteres übertretbar) oder ‘geschlossen’ (erst nach Öffnung übertretbar) sein kann. 23 Eine offene Tür macht den fraglichen Raum jedenfalls von vornherein durchlässig und fungiert als Benutzbarkeitshinweis im Sinne von „reinkom- 21 Mir ist dieser Sachverhalt speziell durch die Analyse der Eröffnung von Lehrveranstaltungen klar geworden. Wenn man sich fragt, wann es losgeht, stößt man schnell darauf, dass Interaktion in der Regel bereits im vollen Gange ist, wenn die ersten Begrüßungsworte fallen. Ohne die Benutzbarkeitshinweise des umbauten Raumes wäre das nicht zu erklären (vgl. dazu auch die Analyse der Eröffnung eines Gottesdienstes bei Hausendorf/ Schmitt 2010). 22 Einen Benutzbarkeitshinweis, auf den man alltagssprachlich z.B. mit einer Bemerkung wie Dort hat der Maurer das Loch gelassen referieren kann - eine Formulierung, an der interessant ist, dass sie uns direkt auf das von Latour in seinen Bemerkungen zur Tür („Description of a door“: Latour 1992, S. 227ff.) beschriebene „wall-hole dilemma“ aufmerksam macht! 23 Bekanntlich kann diese Regulierung durch schriftliche oder bildliche Benutzbarkeitshinweise an der Tür nochmals gesteigert und geradezu endlos variiert und überformt werden („Bitte nicht eintreten! “; „Bitte klopfen“; „Bitte eintreten ohne Klopfen“ ...), von der Einrichtung des Türschlosses ganz zu schweigen. Ein instruktiver Beleg für solche Überformungen findet sich bei Latour (1992, S. 227ff.): „The groom is on strike, for god's sake, keep the door closed“, wobei „groom“ den automatischen Türschließer meint). Über Tische und Bänke 159 men“ und „rausgehen“. Auch darin wollen wir einen den Beteiligten zugänglichen und zumindest im Fall von Nils und wohl auch Georg körperlich bereits fokussierten Hinweis auf eine Interaktion im Übergang verstehen: Ein bestimmter sozialer Anlass ist zu Ende gegangen bzw. wird als in Auflösung begriffen dargestellt, für den das durch den umbauten Raum bereitgestellte Hier offenbar von besonderer Bedeutung gewesen ist. Diese Beschreibung geht aus dem hervor, was am Verhalten von Nils und Georg als Ko-Orientierung rekonstruierbar scheint. 24 Sie macht zugleich wieder auf Lesarten aufmerksam, die das Vorher betreffen, ohne dass wir darüber mehr als mutmaßen können: Georg ist vielleicht nicht der erste, der den Raum verlässt - wofür auch die Anzahl der auf den Bildern noch erkennbaren Stühle sprechen könnte. Die fragliche Beschreibung gilt aber nicht für die anderen, die auf den Bildern zu sehen sind. Schon das ist natürlich ein Befund, weil sich zeigt, dass die Anwesenden im Moment der Aufnahme offenbar nicht mehr gemeinsam im Abwickeln einer für alle (noch) verbindlichen sozialen Praxis verstrickt sind, also keine Ko-Operation mehr demonstrieren, sondern eben partiell die Auflösung einer vorangegangenen Ko-Operation. Dafür ist auch die bislang noch nicht näher in Augenschein genommene Konstellation zwischen Nils und Kaspar ein relevantes Datum, dem wir uns jetzt zuwenden wollen. 5 KA NI Das Bewegungsverhalten von Nils ist in seiner sequentiellen Struktur zunächst weniger eindeutig als das von Georg. Bild 5 (und stärker noch Bild 6, siehe unten) zeigt ein Innehalten nach dem Aufstehen und gleichzeitigem Umdrehen. Nils steht also auf, ohne unmittelbar in eine Weggehbewegung überzugehen. Er scheint einen kurzen Moment zu zögern bzw. kurz in einer Zwischenstation zu verbleiben: Prospektiv ist die Orientierung zur Tür und zu 24 Man könnte dazu übrigens auch auf den in den Bildern 1 und 2 dokumentierten kurzen Blickkontakt zwischen Nils und Georg hinweisen. Heiko Hausendorf 160 Georg deutlich (siehe oben), retrospektiv das Verharren am Tisch und in der Nähe von Kaspar. Deutlich durch die Sequenz belegt sind an dieser Stelle die retrospektiven Verweise, d.h. die Auflösung der Art der zuvor bestandenen Konfiguration zwischen Nils und Kaspar. Dabei kommt es zu einer markanten, in Bild 5 festgehaltenen Ungleichzeitigkeit: Kaspar sitzt (noch) und ist (noch) beschäftigt (Blickkontakt und Zuwendung zum Monitor), während Nils bereits aufgestanden ist. Erst in Bild 6 zeigt sich dann, dass auch Kaspar dabei ist aufzustehen. Diese Ungleichzeitigkeit des Aufstehens und Sich-Neu- Orientierens belegt, dass Kaspar und Nils ihr gemeinsames Wahrnehmungs- und Handlungshier aufgegeben haben, von dem Bild 1 noch Zeugnis ablegt: Indem sie gemeinsam um einen Tisch herum sitzen, aktivieren sie die durch Tisch und Stühle gegebenen Benutzbarkeitshinweise, die auf fokussierte Ko- Operation deuten. Mit dem Verlassen dieser Konstellation kann diese Ko- Operation als abgeschlossen gelten. Dass Nils nach dem Aufstehen verharrt und nicht gleich weggeht, spricht dafür, dass Nils auf Kaspar „wartet“ bzw. eben in einer Phase der Neuorientierung und des Dazwischen ist, in der noch nicht klar ist, wie es (mit wem) weitergehen wird. Werfen wir schließlich noch einen Blick auf die Konstellation zwischen Dominik und Barbara, wie sie in Bildsequenz 1 dokumentiert ist. Zunächst stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise man mit Bezug auf Dominik und Barbara überhaupt von einer Konstellation sprechen kann, da sich beide nicht in unmittelbarer Nähe zueinander befinden und sich auch in ihrer Körperzuwendung und in ihrer Blickrichtung nicht eindeutig aufeinander beziehen. Barbara ist die einzige Person in der Szene, die im Seminarraum noch oder schon mit einer praktischen Aufgabe beschäftigt ist (dem Schieben eines Tisches an eine der Seitenwände des Raumes), während Georg dabei ist, den Raum zu verlassen, und Nils und Kaspar eine zuvor bestandene Konstellation gerade auflösen. Von Nils haben wir gesagt, dass sein Bewegungsverhalten ebenfalls eine Orientierung zur Tür und damit zum Verlassen des Raumes aufweist (auch wenn er zunächst in seiner Bewegung zu verharren scheint). Was Kaspar machen wird, ist noch offen. Eine Orientierung auf Barbara ist jedenfalls nicht zu erkennen. Einzig Dominik demonstriert durch seine Bewegungsrichtung und die Position, die er eingenommen hat (mit dem Rücken zum Ausgang des Raumes), dass er - gewissermaßen gegen den Strom - Grund und Anlass hat, weiterhin im Seminarraum zu verbleiben bzw. voraussetzungsreicher noch: den Seminarraum in diesem Augenblick zu betreten und dort zu verbleiben (da er von anderen bereits verlassen wird). Über Tische und Bänke 161 6 DO BA Ein Indiz für seinen Eintritt ist darin zu sehen, dass er - anders als die anderen im Raum - noch mit einer Jacke bekleidet ist, jedenfalls sich (noch) nicht wie die anderen erkennbar auf die klimatischen Bedingungen des „Drinnen“-Seins eingestellt hat. Man achte darauf, dass alle anderen im Bild sichtbaren Personen entweder ein Kurzarmhemd tragen (Barbara und Kaspar) oder sich die Ärmel hochgeschoben haben (Nils und Georg). Wenn Barbaras Verrücken des Tisches als Teil einer prospektiven Aktivität verstanden werden kann, die noch im Begriff ist, anzulaufen, verbindet Dominik und Barbara diese Orientierung auf ein Verbleiben im Seminarraum und eine darin zu erledigende Arbeit. Dass Dominik in der fraglichen Szene nicht zügig auf Barbara zugeht und sie begrüßt - in der fraglichen Zeit durchquert Georg immerhin den gesamten Raum -, deutet auch seinerseits (wie schon bei Nils) einen Moment des Verharrens und der Unsicherheit bezüglich weiterer Aktivitäten an, der für den festgehaltenen Augenblick charakteristisch zu sein scheint. Eindeutig prospektiv verhält sich lediglich Georg, indem er anzeigt, den Raum verlassen zu wollen. Den Gegenpol dazu bildet in gewisser Weise Barbara mit der Demonstration des Beschäftigt-Seins im Raum, das mit dem Verschieben eines Tisches zu tun hat. Wenn wir an dieser Stelle darauf zurück kommen, dass das, was wir vom Seminarraum sehen, durch Mobilität des Inventars und eine nicht klar erkennbare Ordnung der Möbel gekennzeichnet ist (siehe oben), könnte die Art der Arbeit, mit der Barbara beschäftigt ist, damit zu tun haben, den Raum irgendwie umzugestalten: in einen Zustand zurückzuversetzen, der einmal bestand (vor dem Ereignis, dessen Auflösung wir noch beiwohnen), oder aber für ein Ereignis vorzubereiten, das noch bevorsteht. Von allen, die in der Bilderfolge zu sehen sind, ist Dominik derjenige, der durch sein Verhalten demonstriert, dass er sich an dieser Art von Arbeit beteiligen könnte. Das in etwa ist die Ausgangslage, wenn - irgendwann zwischen Bild 5 und 6 - gesprochen und zugehört wird. Heiko Hausendorf 162 3.2 Tische als mobiliare Benutzbarkeitshinweise Es wird sich zeigen, dass in der Folge die Tische eine besondere Bedeutung bekommen. Wir wollen dazu eine zweite Bildersequenz einblenden, deren Anfang mit der bereits besprochenen Sequenz überlappt: Bildsequenz 2: 00.03-00.10 (Z. 1-6) Do: (wem_er / wetsch) Do: alli TISCH (scho mol anerucke- / an rAnd Use-) 5 DO 6 BA NI KA GE BA: JA: [ICH find schO: wil BA: susch isch_s eifach [(susch isch so-) 7 8 BA: so: (.) susch isch_s so DINGSmäßig- (.) susch isch so: VORlesigsmäßig; 9 10 Über Tische und Bänke 163 Zunächst fällt auf, dass sich Dominik an Barbara wendet, was die angedeutete gemeinsame Konstellation zwischen Dominik und Barbara stabilisiert. Aber schon bei Barbaras Antwort kommt es zu einer Überlappung mit Kaspar, der auf diese Weise hörbar markiert, dabei zu sein, was die Thematisierung der anstehenden Aktivitäten betrifft. Deutlich wird jedenfalls, dass sich zumindest Barbara, Dominik und Kaspar ausdrücklich aufeinander beziehen, während Georg den Raum verlässt und Nils nach anfänglichem Zögern ebenfalls den Raum verlässt (Bilder 8 und 9). Wenn man das Gesprochen-Gehörte genauer untersucht, fällt weiter auf, dass das, womit Barbara beschäftigt ist, von Dominik kommentiert und thematisiert wird. In Dominiks Beitrag erscheint Barbaras Aktivität als Teil eines größeren gemeinsamen Vorhabens, das darin besteht, alli tisch scho mol anerucke bzw. an rand use. Der genaue Wortlaut dieser Äußerung ist nicht mehr ermittelbar. In der vorliegenden Form bleibt unklar, worin die Modalität der Äußerung besteht. Möglich erscheinen eine Deutung im Sinne eines Vorschlag (wem er - ‘wollen wir’) oder eine Frage, die sich auf Barbaras Absicht bezieht (wetsch - ‘möchtest du’). In beiden Fällen wird deutlich, dass die fragliche Aktivität den Charakter einer gemeinsamen Aktion hat, die mindestens Barbara, an die sich Dominik mit Blick und Körper wendet, mit einschließt. Zugleich geht die fragliche Aktion über das, was Barbara gerade tut, hinaus. Sie betrifft nicht nur einen oder einige, sondern alle Tische im Raum, was auf den Aufwand und die Bedeutsamkeit der Aktion hinweist; es geht um die Vorbereitung eines größeren sozialen Anlasses, für dessen Durchführung das Vorhandensein von Tischen irgendwie problematisch zu sein scheint. Es fragt sich also, was genau möglich ist, wenn keine Tische mehr im Raum stehen (sondern z.B. an den Wänden), und was vorher bzw. solange nicht möglich ist, wie Tische „mitten“ im Raum stehen (siehe unten). Hinzu kommt die Suggestion, dass die fragliche Aktion in gewisser Weise vorzeitig ist (schon). Die fragliche Aktion tritt „früher als erwartet“ ein. 25 Zusammen mit der Beobachtung, dass Barbara schon dabei ist, einen Tisch an die Wand zu rücken, wenn Dominik seine Äußerung macht (Bild 6), ergibt sich also aus Dominiks Beitrag die Darstellung einer nicht wie selbstverständlich reibungslosen, sondern irgendwie thematisierungsbedürftigen Abstimmung zwischen den Beteiligten. Der oben betonte Charakter des Übergangs findet also im ersten Redebeitrag eine Bestätigung und Profilierung: Etwas Neues ist dabei zu beginnen. 25 So die Beschreibung der Bedeutung von „schon“ in Weinrich (1993, S. 579). Heiko Hausendorf 164 Zugleich wird deutlich, dass Barbara in ihrer Aktivität den anderen „voraus“ ist: Ihre Aktivität ist bereits Teil des Neuen, während die anderen Personen, die wir in der Bilderfolge gesehen haben, entweder nicht mehr (wie Georg und Nils) oder noch nicht (wie Dominik und Kaspar) involviert sind. Das, worum es dabei geht und gehen soll (‘wollen wir? ’ bzw. ‘möchtest du? ’), hat tatsächlich mit der Gestaltung des Raumes, genauer gesagt, mit einer Manipulation eines Teils der Möbel zu tun. Es geht darum, etwas mit den Tischen zu machen, sie von einer Position innerhalb des Seminarraumes in eine Position an den Rändern (also an den Wänden des Seminarraumes) zu bewegen. Mit dieser teils angestrebten, teils schon vollzogenen Bewegung verändern die Tische ihre Form der Benutzbarkeit: Um den Tisch herum, den Barbara bereits an die Wand geschoben hat (Bilderfolge 1) kann man z.B. nicht mehr sitzen. Seine „Besitzbarkeit“ ist damit noch nicht ausgeschlossen, aber deutlich eingeschränkt. Der, der sich an diesen Tisch setzen wollte, findet sich mit Blickrichtung zur Wand, was eine „Tischarbeit“ nahelegt, in der es nicht darum geht, andere zu sehen und von anderen gesehen zu werden. Interessant ist, dass die Option, sich an die andere freie Seite des Tisches zu setzen, durch die Gestalt des Tisches selbst unwahrscheinlich gemacht wird: Wir hatten schon erwähnt, dass die Tische, mit denen wir es hier zu tun haben, nicht rechteckig, sondern trapezförmig sind (siehe oben z.B. Bild 10). Der daraus hervorgehende Benutzbarkeitshinweis geht stark in Richtung Reihenbildung bzw. verweist uns darauf, dass der einzelne Tisch als Teil eines Ensembles von Tischen (z.B. einer Reihe) gedacht und gestaltet ist; kein Solitär, sondern Teil einer auf Gruppenaktivitäten ausgerichteten Möblierung. Es handelt sich um eine Möblierung, die für soziale Anlässe geeignet ist, in denen mehrere Personen zusammen sind und für deren Zusammensein Tische notwendig und sinnvoll sind. Von dieser allgemeinen Beschreibung sind viele soziale Anlässe erfasst, u.a. auch das gemeinsame Beisammensein innerhalb eines Seminarraumes zum Zwecke der universitären Lehr-Lern-Interaktion mit ‘Seminartischen’. Mit der angestrebten Positionierung der Tische am Rand des Raumes wird eine solche Nutzung, die eine auf einen gemeinsamen sozialen Anlass hin orientierte Besetzung der Tische verlangt, unmöglich gemacht. Dafür freilich rückt eine andere Benutzbarkeit der an die Wände verschobenen Tische ins Blickfeld, von der in der fraglichen Szene zumindest partiell bereits Gebrauch gemacht worden ist: die Nutzung der Tische als Ablage- und Abstellfläche (siehe dazu die Dinge, die links im Hintergrund auf den Bildern noch in Umrissen zu erkennen sind): Über Tische und Bänke 165 3 Man sieht an diesem - auf den ersten Blick vielleicht trivial anmutenden - Beispiel sehr anschaulich, was es mit raumbasierten Benutzbarkeitshinweisen auf sich hat, zu denen auch und gerade die Möblierung eines Raumes gehört (siehe oben Kap. 1): Einerseits wird deutlich, wie viel an Situierungssedimenten an der materialen Form Tisch abgelesen werden kann; der Tisch ist tatsächlich eine Antwort auf Anforderungen der Situierung (im Hinblick z.B. auf gemeinsame Aufmerksamkeitsausrichtung und das Ausschließen von Bewegung, im Hinblick z.B. auf Sozialformen, für die es sinnvoll und erforderlich sein kann, einen Tisch vor sich und zwischen sich und anderen zu haben) und als solcher gesättigt an Benutzbarkeitshinweisen im Sinne der Ko-Orientierung, Ko-Ordination und Ko-Operation. Andererseits haben wir es hier tatsächlich mit einem Potential an Benutzbarkeit zu tun, nicht mit der Vorgabe einer ‘Gebrauchsanweisung’. 26 Der Tisch, verstanden als physikalisch definierbares Objekt, mag in unserer Szene vorher und nachher der gleiche Gegenstand sein, seine Benutzbarkeit aber verändert sich markant, ja, sie kommt als solche überhaupt erst zur Geltung (und „emergiert“ in genau diesem Sinne), wenn und sobald jemand anfängt, ihn (den Tisch) auf eine bestimmte Weise nutzbar zu machen. Genau diesen Prozess der Nutzbarmachung von Tischen, allgemeiner gesagt, der Aneignung des Raumes, führt uns die behandelte Szene vor Augen: Indem die Beteiligten Tische verschieben und zudem darüber reden, dass sie Tische verschieben, wird deutlich, dass die Benutzbarkeit der Tische zu einem Problem für die Interaktion geworden ist. Damit gerät an die Oberfläche sprachlicher und körperlich-manipulativer Erscheinungsformen, was im Falle des unscheinbaren Sich-Hinsetzens an einen Tisch gleichsam unter der Oberfläche bleibt: die interaktive Aneignung des Raumes durch die Aktivierung der raumbasierten Benutzbarkeitshinweise. Indem die Beteiligten das thematisieren, was sie im Raum vorfinden, illustrieren sie zugleich, dass es eine Lexik und Semantik gibt, in und mit der wir 26 Hinweis von R. Schmitt (mündlich)! Heiko Hausendorf 166 über Benutzbarkeitshinweise im Alltag reden können. Dazu gehört in diesem Fall die sprachliche Form ‘Tisch’. Wenn wir in einem Wörterbuch den Eintrag Tisch nachschlagen, stoßen wir sogleich auf Implikationen im Sinne von Benutzbarkeitshinweisen: „Möbelstück aus waagerechter Platte auf einem od. mehreren Beinen (Ess-, Büro-, Schreib-)“ (Wahrig-Burfeind 2006, S. 1478). Natürlich ist damit nichts „erklärt“, aber es zeigt, dass in die Bezeichnung der ‘Möbel’ („beweglicher Einrichtungsgegenstand (Liege-, Sitz-)“) (ebd., S. 1020) dinghaft materialisierte ‘scripts’, also Vorstellungen von Aktivitäten (wie essen, schreiben, liegen, sitzen) und sozialen Situationen, die mit diesen Möbeln verbunden sind (Büro), eingegangen und z.T. tatsächlich lexikalisiert sind. Materiale Benutzbarkeitshinweise (in unserem Zusammenhang: der „Einrichtungsgegenstände“) haben in ihren sprachlichen Bezeichnungen einen Niederschlag gefunden, so dass die Sprache zu einer Ressource werden kann, wenn diese Hinweise aus irgendeinem Grund thematisierungsbedürftig werden (siehe auch noch unten). So wie sich die materialen Benutzbarkeitshinweise als Sedimente von Situierungsaktivitäten verstehen lassen (siehe oben Kap. 1), lassen sich auch die Namen der Dinge, um die es hier geht, als sprachliche, genauer gesagt: lexikalisierte Sedimentierungen verstehen. Es ist interessant (deshalb der Beleg), dass auch ein x-beliebiger Wörterbucheintrag von dieser Sedimentierung wie selbstverständlich Zeugnis ablegt! Wenn wir auf unser Fallbeispiel zurückkommen, zeigt sich, dass bei der geplanten Umfunktionierung bzw. Außerkraftsetzung der Benutzbarkeitshinweise der Tische noch mindestens eine Frage offen geblieben ist: Auch wenn die an den Rand gerückten Tische projektiv als Ablage- und Abstellflächen genutzt werden können, fragt sich, was im dann „frei“ werdenden Innenraum des Seminarraumes möglich und wahrscheinlich werden kann. Zunächst ist nicht zu übersehen, dass Bewegung und Beweglichkeit stark zunehmen, der Raum stärker als bislang zu einem Raum für Bewegung (z.B. Tanzen) werden kann. Weiterhin werden alle sozialen Anlässe problematisch, für die es wichtig wäre, einen Tisch bzw. einen Teil eines Tisches exklusiv vor sich und für sich zu haben. Andauernde Schreib- und Lektürearbeiten in geteilter Gegenwart anderer werden ohne Tisch schwierig(er). Man könnte das fortführen. Aber es zeigt sich vielleicht auch so, dass mit der geplanten Positionierung der Tische das Nutzen des Raumes als Seminarraum auf den ersten Blick schwierig(er) wird. Sagen wir genauer: das Nutzen des Seminarraumes als eines Ortes, an dem Lehr-Lern-Interaktion in einer bestimmten Sitz-(! ) ordnung sich vollzieht (in Reihen hintereinander oder im Stuhl- und Tischkreis sitzen). Über Tische und Bänke 167 Die Beschäftigung mit Tischen drängt fast von sich aus auf die Beschäftigung mit Stühlen, von denen wir bislang noch nicht gesprochen haben und die auch die Beteiligten noch nicht thematisiert haben, die aber im Raum - wie die Tische - unübersehbar präsent sind (siehe oben); es fragt sich, ob nicht viele der Benutzbarkeitshinweise, die wir soeben mit Tischen in Verbindung gebracht haben, längst Stühle implizieren. Man könnte linguistisch auch sagen, dass es vielleicht eine Art Syntax der Möbelstücke gibt, wozu gehören würde, dass Tische Stühle als ‘Ergänzung’ verlangen im Sinne einer Valenz; um nicht zu sagen: Wo Tische sind, sind auch Stühle. Das gilt schon für die Implikation, dass ein Tisch dazu einlädt, sich an ihn zu setzen, was ohne Stuhl in den meisten Fällen kaum möglich ist. 27 Wenn die Beteiligten also darüber reden, was sie mit den Tischen machen werden, tangiert das auch die Frage, was aus den Stühlen werden soll. Anders als Tische sind Stühle ihrerseits nicht auf Tische angewiesen (wiewohl sie oft zusammen auftreten). Auf einen Stuhl kann man sich setzen, unabhängig davon, ob ein Tisch in der Nähe steht oder nicht. Während soziale Anlässe nicht leicht einfallen, in denen es sinnvoll ist, nur Tische bereitzustellen (ohne Stühle) - ohne dass sie ihre Gestalt, ihren Namen und ihre Benutzbarkeit markant verändern („Stehtisch“! ) -, sind Anlässe mit ausschließlicher Bestuhlung bekanntermaßen keine Seltenheit. Der Prototyp dafür sind Ereignisse, in denen sich die Sitzenden in der sozialen Rolle des Publikums einer Aufführung verstehen, in der das stille und ruhige Sitzen gleichsam als Ermöglichungsbedingung aufmerksamer Rezeption gelten kann. In unserem Fall ist also noch nicht entschieden, welche Implikationen das Umräumen der Tische für die Stühle haben wird. Barbara reagiert, fast überlappend, auf die im Beitrag Dominiks entworfene Projektion einer Handlung (mit der sie selbst bereits beschäftigt ist) mit einer insistierenden Bestätigung und Bekräftigung ( ja ich find scho; Bild 7), die Dominiks Beitrag rückwirkend als eher offene, wenn nicht skeptische Nachfrage erscheinen lässt. Die fragliche Aktivität des Tische-Rückens bekommt auf diese Weise den Status einer notwendigen und dringlichen Handlung, die „ansteht“. Zugleich wird sie damit aber auch begründungspflichtig. Der insistierend-bekräftigende Charakter der Äußerung verleiht dem Einstellungsprädikat einen besonderen Geltungsanspruch, mit dem ein „argumentatives Sprachspiel“ (Weinrich 1993) eröffnet wird. Eingelöst wird dieser Geltungsanspruch unmittelbar im Anschluss mit der Ankündigung einer Begründung (‘account’) für das eigene Tun (susch isch s eifach so susch isch s so dingsmäßig susch isch so vorlesigsmäßig). Argumentiert wird mit dem, was ist, wenn 27 Der, der sich auf einen Tisch setzt, funktioniert diesen als ‘Sitzmöbel’ um (Sprache der Möbelstücke: ‘Stuhl’: „Sitzmöbel mit Rückenlehne“, Wahrig-Burfeind 2006, S. 1436). Heiko Hausendorf 168 die Tische nicht verrückt werden, wenn alles im Raum so bleibt, wie es ist (susch - ‘sonst’). Der aktuelle Zustand des Raumes erscheint damit als irgendwie problematisch: Wenn es so bleibt, wie es ist, ist es in einer Weise, die unbefriedigend ist. Worin diese Art und Weise besteht, die durch die aktuelle Positionierung der Tische (und Stühle? ) mitbestimmt ist, bleibt in der Äußerung zunächst auffällig unausgesprochen. Der einleitende Äußerungsteil (susch isch s so) wird dreimal wiederholt, ohne dass die notwendige Adjektiv- Ergänzung (so …? ) erfolgt. Hinzu kommt, dass beim zweiten Mal verzögert eine Umschreibung erfolgt (dingsmäßig), die anzeigt, dass der Sprecherin gerade das richtige Wort fehlt, für das, was ihr - so die Suggestion - gerade evident vor Augen steht (eifach so …). Und auch die Einlösung der Äußerungsstruktur mit der Adjektiv-Ergänzung vorlesigsmäßig zeigt noch in der Wortbildung (eine im Deutschen sehr produktive „Spontanbildung“ (Weinrich 1993, S. 1007) mit dem Suffix -mäßig) 28 die Suche nach dem passenden Ausdruck und das Sich-Behelfen mit einer Umschreibung an. Für das, worum es geht, fehlt der Sprecherin der passende Ausdruck, so ihre Darstellung. Die Tische und ihre Position im Raum bekommen damit stärker noch als in der Thematisierung durch Dominik Sinn und Bedeutung als Ausdruck für etwas, das schwer begrifflich zu fassen ist, aber mit dem zu tun hat, was der Raum in seinem So-Sein ausstrahlt und vermittelt in Bezug auf das, was in ihm an sozialer Aktivität möglich und wahrscheinlich ist. Aufschlussreich ist, dass dieses es nicht auf den Begriff gebracht, sondern mit der Markierung von Evidenz (eifach so) umschrieben wird. Aufschlussreich ist es deshalb, weil die Beteiligten unserer Interaktionsszene hier (Bildsequenz 2) an einer Stelle sind, an der sie genau das thematisieren, was den Gegenstand dieses Beitrags bildet: raumbasierte Benutzbarkeitshinweise, wie sie eben auch im Mobiliar, in Tischen und ihrer Anordnung, zum Ausdruck kommen und wie sie bereits auf einen sozialen Anlass verweisen, d.h. über die Situierung hinaus auch Aspekte der Rahmung tangieren. Verwiesen wird auf diesen Sachverhalt einerseits mit der Markierung von Evidenz und andererseits mithilfe von Umschreibungen. In der Sprache des Falles bekommen Benutzbarkeitshinweise damit etwas Eindrücklich-Gegebenes, zugleich aber schwer Fassliches. 29 28 Viele aufschlussreiche Belege dafür, dass dieser Typ von Spontanbildungen auch im Alltag einen gewissen Unterhaltungswert hat, bietet die deutsche Synchronfassung von Das Appartement (Billy Wilder, USA 1960). 29 Es liegt nahe, für das, was Barbara in ihrer Äußerung umschreibt, einen Ausdruck wie ‘Atmosphäre’ zu wählen; ihre Äußerung impliziert satzsemantisch als ‘Affiziertes Objekt’ (Polenz 1988, S. 170) nicht den Raum selbst, sondern etwas, das im Sinne einer Stimmung im Raum liegt bzw. entsteht (wenn nicht die Tische umgerückt werden). Dieser Sprache des Über Tische und Bänke 169 Der dann gefundene Ausdruck macht den Sinn dessen, wie es ist, wenn die Tische nicht verrückt werden, über einen speziellen Typus einer universitären Lehrveranstaltung zugänglich: den Typ der ‘Vorlesung’. Die Atmosphäre des unveränderten Raumes (sein So-Sein) hat also mit seiner Entsprechung zum Raum einer Vorlesung (dem Hörsaal) zu tun. Wir haben uns damit behutsam dem angenähert, was eingangs als Charakteristik der Benutzbarkeit eines ‘Seminarraumes’ bezeichnet wurde: sein Ausdruck einer bestimmten Praxis universitärer Lehr-Lern-Interaktion. Die Anordnung der Tische wird als ein Zeichen (als ein Benutzbarkeitshinweis) in diese Richtung verstanden. Zugleich geht in der fraglichen Äußerung damit die Implikation einher, dass diese auf eine bestimmte universitäre Lehrsituation hin orientierte Atmosphäre des Raumes etwas Negatives und Unerwünschtes ist, das sich nicht mit dem verträgt, was im Raum demnächst passieren soll. Diese Implikation steckt darin, dass das „Vorlesungsmäßige“ als das eingeführt wird, was bestehen bleibt, wenn die Tische nicht verschoben werden (Bild 9). Was genau an Implikationen zur Debatte steht, auf die hier mit der Umschreibung vorlesungsmäßig verwiesen wird, bleibt im fraglichen Ausschnitt unausgesprochen. 30 Es versteht sich, so die Suggestion, von selbst, obgleich man darüber sprechen muss - wie auch später noch in dieser Interaktionsepisode, was wir uns nicht entgehen lassen wollen. 3.3 irgendwie den Raum so machen dass: Situierung und Rahmung Wir überspringen aus Platzgründen eine knappe Minute, in der u.a. Kaspar Barbara um Erlaubnis bittet, den Raum zum Rauchen zerscht (‘zuerst’) noch Falles kommt der Begriff der Atmosphäre meines Erachtens sehr nahe, der im Übrigen auch gelegentlich verwendet wird, wenn es darum geht, die „performative Hervorbringung von Räumlichkeit“ zu beschreiben (am Beispiel des Kirchenraumes: Fischer-Lichte 2006, S. 20ff. und Böhme 2006). 30 Auch im Video kann man nicht genau(er) sehen, ob und wie der beschriebene Wortfindungsprozess von Barbara durch Dominik oder Kaspar aufgenommen und gewürdigt wird. Es sieht aber so aus, als würde sich Barbara während der Produktion dieser Äußerung (Z. 4) an Kaspar und Dominik wenden, zumal sich Dominik wie Kaspar in diesem Augenblick auch Barbara nähern (siehe oben Bilder 9-10). Diese Feinabstimmung zwischen den Beteiligten würde jedenfalls dazu passen, dass schon die Äußerungsproduktion in diesem Fall kollaborativ erfolgt: Kaspar liefert den syntaktischen Kern der Äußerung (Z. 3), die Barbara dann vervollständigt (Hinweis von Lorenza Mondada). Im unmittelbaren Anschluss an die Szene (hier nicht mehr wiedergegeben) finden sich keine Spuren der Verarbeitung mehr, da Kaspar das Thema wechselt. Heiko Hausendorf 170 verlassen zu dürfen, was Barbara dazu anregt, ihre Rolle in der Gruppe zu thematisieren. Unterdessen hat Nils den Raum wieder betreten, und er unterhält sich nahe der Tür kurz mit Kaspar. Mit Werner hat zudem ein bislang noch nicht aufgetretener Teilnehmer den Raum betreten. Der ausgewählte Ausschnitt beginnt damit, dass Nils auf Barbara zugeht und seine Frage wiederholt, ob er noch etwas helfen kann: ÖPPis hÄlfe-> 11 12 DO NI BA: JA- (.) mer mer müend eifach irgendwie de rum so: (.) mache dass mer nachene chan en ↑ FILM LUEge, Aso (--) eifach irgendwie d BÄNK ( ) NI: <<Richtung BA laufend> BARbara (.) cha mer no ÖPPis hÄlfe-> ÖPPis hÄlfe-> 13 14 BA: bÄnk z sitze wie i de vOrlesig; (.) BA: aso ich find_s eifach ned gmüetlich a dene WE BA Über Tische und Bänke 171 ÖPPis hÄlfe-> 15 16 BA: vo dem her han i [dänkt- NI: [wotsch EIfach NUR stüehl, BA: NUR stüehl-=ja; NI: oKE- Spätestens mit dieser Bildersequenz stoßen wir darauf, dass die Analyse dessen, was im Raum geschieht, während gesprochen und zugehört wird, sehr viel selektiver ist als die Analyse des Gesprochen-Gehörten, was die verfügbaren Daten betrifft. Ab Bild 13 bekommen wir erstmalig die andere Seite des Raumes zu sehen (während die zunächst betrachtete Seite aus dem Blickfeld verschwindet). All das ließe sich technisch korrigieren (z.B. durch den Einsatz weiterer Kameras). Aber gerade in dieser Beschränkung zeigt sich auch eine Spezifik des vorliegenden Falles: Aufgrund der Mobilität der Teilnehmer (in Bildsequenz 3 primär dokumentiert durch den Laufweg Dominiks, der von links außen um den Projektor bis zur hinteren rechten Ecke des Raumes läuft) verlagert sich auch der Fokus der Interaktion. Zum Einen im Sinne einer Verlagerung der relevanten Aktivitäten von einer Raumseite zur anderen, zum Anderen im Sinne einer größeren Spannweite - die Teilnehmenden sind in einer Position eingefangen, in der sie relativ weit voneinander entfernt im Raum stehen. Nur Nils befindet sich in der wiedergegebenen Sequenz nicht am Rande des Raumes. Eine Folge davon ist, dass wir auf keinem der Bilder alle Interagierenden im Bild haben. Natürlich ist das auch eine praktische Frage und insofern ein Aufnahmeartefakt (siehe oben Kap. 2). Aber zugleich manifestiert sich darin eben eine Charakteristik der stärker raumgreifenden Interaktion in dieser Szene: Schauplatz ist jetzt der gesamte umbaute Raum, der jetzt übrigens auch markant als Hörraum in Erscheinung tritt: Die Lautstärke des Sprechens ist ein starkes Indiz dafür, dass alle im Raum erreicht und als Heiko Hausendorf 172 Erreichte und Betroffene definiert werden. Das lässt immer noch Raum für partielle Abwesenheit, aber diese wird nunmehr selbst wahrnehmbar und potentiell problematisch (was wir an der Positionierung und Körper- und Armhaltung von Werner belegen werden). Zugleich zeigen die Bilder, dass der Seminarraum in diesem Augenblick auch zum Schau- und Bewegungsraum wird. 31 Aufgrund der Positionierung wird das Rauminnere gleichermaßen thematisch als Gegenstand der Wahrnehmung. Es muss, so die Suggestion, etwas geben, was die sichtbaren Positionierungen und Bewegungen sinnvoll macht, was nicht mit den mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen des Raumes gedeckt ist. Letztere werden uns ab Bild 13 im Grunde erstmalig analytisch zugänglich. Anders als noch in der Bildersequenz 1 wird eine (wenn auch bereits in Auflösung begriffene) Ordnung von Tischen und Stühlen erkennbar, in der sich Situierungssedimente sehr anschaulich manifestieren. ÖPPis hÄlfe-> 13 Wir sehen eine nach vorne („frontal“) arrangierte Bestuhlung mit Tischen und eine rechte Sitz- und Tischreihe längs der Seitenwand des Raumes. Beides erinnert vertrautheitsabhängig an die typische mobiliare Gestaltung eines Seminarraumes bzw. eines Klassenzimmers. Wesentliche Aspekte davon betreffen die hochgradig asymmetrische Verteilung der Wahrnehmungschancen derjenigen, die dieser Ordnung gemäß Platz nehmen. Wir wollen darauf hier nicht näher eingehen, weil in unserer Szene niemand Platz genommen hat. 32 Im Gegenteil belegt unsere Interaktionsepisode ja gerade die Auflösung dieser 31 Hinweise zur Differenzierung des Raumes nach seiner sinnlichen Wahrnehmbarkeit und ihrer Relevanz für das ablaufende Geschehen z.B. bei Breidenstein (2004) (Klassenzimmer) und bei Fischer-Lichte (2006) (Kirchenraum). 32 Und weil die Ko-Orientierungs-, Ko-Ordinations- und Ko-Operations-Implikationen des Klassenzimmers auch andernorts gut beschrieben sind (vgl. z.B. Hausendorf 2008 und andere in Willems (Hg.) 2008). Über Tische und Bänke 173 Art von mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen. Es muss, so drängt es sich durch den bisherigen Interaktionsverlauf auf, dieses jetzt sichtbar werdende Tisch- Stuhl-Arrangement sein, das für das „Vorlesungsmäßige“ des Raumes verantwortlich ist und das es genau deshalb nunmehr irgendwie außer Kraft zu setzen gilt (siehe oben). Auf den Bildern zeigt sich auch wieder (wie in Bilderfolge 1), dass nicht schon alle Beteiligten gleichermaßen in die gemeinsame Aktivität des Umräumens (siehe oben) involviert sind. Am deutlichsten sichtbar wird das an Werner, der mit seiner Körper- und Armhaltung signalisiert, noch nicht bzw. nicht mehr beschäftigt zu sein. Von Dominik kann man wissen, wenn man die hier nicht dokumentierten Teile der Episode dazu nimmt, dass er wie Barbara bereits aktiv beteiligt ist - aber nunmehr neben Werner zunächst verharrt (ab Bild 14). Es ist eine Situation eingetreten, in der es offenkundig Ko-Ordinationsbedarf gibt, was die Organisation der weiteren Aktivitäten betrifft. Wieder ist Barbara den anderen ein Stück voraus, was speziell deutlich wird, wenn wir uns dem zuwenden, was gesprochen und gehört wird; Barbara ist diejenige, die von Nils explizit angesprochen wird (barbara) und an die sich Nils mit einer Frage wendet, die suggeriert, dass Barbara bereits begonnen hat, eine bestimmte Tätigkeit zu vollziehen und dass es eine Tätigkeit ist, bei der man ihr helfen könnte. Zugleich scheint nicht ganz klar zu sein, worin genau das Ziel der fraglichen Tätigkeit besteht, so dass es nicht evident ist, an welcher Stelle eine Hilfe erfolgen, wo man, salopp gesagt, „anpacken“ könnte. Diese Unsicherheit zeigt sich auch in der Annäherung von Nils an Barbara; Nils geht, von der Tür kommend, auf Barbara zu und bleibt dann etwa in der Mitte des Raumes stehen: Er suggeriert damit, dass sich sein Bewegungsverhalten nicht einer praktischen, für die fragliche Tätigkeit gerade relevanten Positionierung verdankt, sondern als Zeichen eines „Auf-Barbara-Zugehens“ zu verstehen ist. Die Be- ÖPPis hÄlfe-> 12 NI Heiko Hausendorf 174 wegung verkörpert gleichsam sein Hilfeangebot. 33 Und im Verharren macht er dieses Angebot zugleich öffentlich, das heißt, für die anderen Mitanwesenden, das sind Dominik und Werner, prinzipiell hör- und sichtbar. Wir stoßen auch an dieser Stelle wieder darauf, dass der Seminarraum als umbauter überschaubarer Raum ein starkes Situierungssediment ist; er leistet für die sich in ihm Einfindenden und die sich in ihm Aufhaltenden ein starkes Ko-Orientierungsangebot: Auch wenn wir aufgrund des zwischen Barbara und Nils Gesprochen-Gehörten und aufgrund der relativen Nähe und Körperzuwendung zwischen Dominik und Werner von zwei Dyaden ausgehen könnten, ist innerhalb der Überschaubarkeit des Seminarraumes die wechselseitige Wahrnehmungswahrnehmung so gut wie nicht auszuschließen. Unter diesem Blickwinkel lässt die Form mer (‘man’) in cha mer hälfe (Bild 11) offen, wer von den Anwesenden eingeschlossen ist, sofern von ihnen nicht ohnehin vorauszusetzen ist, dass sie bereits dabei sind, Barbara zu helfen. Dies gilt auch für Dominik, der zwar - anders als Nils - schon seit Längerem und ununterbrochen im Raum und bereits in die angelaufenen Umräumaktivitäten involviert ist, aber in der vorliegenden Episode eine Position erreicht hat, die nicht eindeutig ist im Hinblick auf ihre Relevanz für weitere anstehende Tätigkeiten. Die entstandene Nähe zu Werner, der ostentativ unbeteiligt ist, deutet auch die Möglichkeit eines mehr oder weniger exklusiven Interaktionsintermezzos zwischen Dominik und Werner an. Die Situation ist also uneindeutig, was ihre projektive Kraft betrifft - und Nils thematisiert mit seinem auf Klärung drängenden Hilfsangebot auch diese Uneindeutigkeit zukünftiger Ko-Ordination. In gewisser Weise setzt sich an dieser Stelle fort, was wir bereits anhand der ersten Bilderfolge rekonstruiert haben: eine Unklarheit in Bezug auf die Inklusion Anwesender in eine irgendwie anstehende gemeinsame Umräumaktion, die auch mit dem Sinn und Zweck der Manipulation von Tischen und Stühlen zu tun hat. In der Frage von Nils schwingt ja auch die Frage mit, ob die fragliche Aktion möglicherweise schon abgeschlossen ist. Wir betonen 33 Aufschlussreich wäre ein Vergleich der Annäherung von Nils an Barbara mit der von Kaspar an Barbara, die zwischen den Bildfolgen 2 und 3 stattfindet und die wir hier aus Platzgründen ausgespart haben. Kaspar sucht eben auch in seiner Annäherung die Nähe und Intimität zu Barbara, die Exklusivität für das Vorbringen seines Anliegens verspricht und diesem auch eine beziehungsdefinierende Kraft gibt (das Anliegen besteht darin, sich für das kurzfristige Verlassen des Raumes von Barbara entschuldigen zu lassen, also Hilfe für eine Zeit lang unmöglich zu machen). Im Gegensatz dazu findet das Angebot von Nils in der Öffentlichkeit des umbauten Raumes statt. Über Tische und Bänke 175 diesen Aspekt hier auch deshalb, weil er eine Unsicherheit bezüglich der mobiliaren Benutzbarkeitshinweise und ihrer interaktiven Aneignung thematisiert: Welcher Art ist die hier und jetzt anzustrebende Benutzbarkeit, die durch Tische (und Stühle) und ihre Anordnung angestrebt werden soll? Die Bilder 13 bis 15 machen diesen Moment der Prüfung des Raumes durch die seitlich postierten Teilnehmenden sehr anschaulich: Es scheint - so die Suggestion -, als ob die Beteiligten dabei wären zu prüfen, wie man aus der aktuellen Unordnung eine neue Ordnung schaffen könnte. Barbaras Antwort ist vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Sie verhält sich nicht unmittelbar zum Hilfsangebot durch Nils (indem sie etwa eine Handlungsinstruktion gibt im Sinne einer Äußerung wie *ja schieb doch auch schon mal die Tische an die Wand*), sondern antwortet auf genau das Problem der Unsicherheit über das weitere Vorgehen, wenn sie - erstmals in der gesamten Interaktionsepisode - auf das hinweist, was ‘nachher’ (nachene) im Raum passieren soll (‘einen Film ansehen’). Das, was mit dem Verschieben der Tische erreicht werden soll, steht im Dienst eines bestimmten sozialen Anlasses, von dem wir aus Barbaras Äußerung mitverstehen, dass er mit dem mobiliaren Status Quo nicht vereinbar bzw. nicht zu realisieren ist. Der Raum, so Barbaras Darstellung, ist noch nicht dafür geeignet, dass man nachher darin einen Film ansehen kann. Aufschlussreich ist, dass die Formulierung selbst die fragliche Aktivität nicht benennt, sondern umschreibt: ‘den Raum so machen dass …’. Möbel werden also, anders als in der strukturell ähnlichen Äußerung in der Bilderfolge 2, nicht thematisiert. Von Tischen ist an dieser Stelle zunächst keine Rede. Ähnlich wie in der Äußerung zuvor ist auch diese Äusserung durch Vagheit der Umschreibung ausgezeichnet (‘irgendwie den Raum so machen dass’). Zugleich wählt Barbara eine Formulierung, die ihre eigene Rolle als Agens hinter die gewissermassen normative Kraft des Faktischen zurücktreten lässt: Was zu tun ist, erscheint als irgendwie evidente, nicht weiter zu thematisierende Handlungsnotwendigkeit (‘wir müssen einfach’). Diese Darstellung „normalisiert“ insofern die bereits angelaufene und noch fortzuführende Umräumaktion - und steht damit in einem gewissen Kontrast zu der im Raum entstandenen Ko-Ordinations-Problematik: Nils und abgeschwächt auch Dominik und Werner demonstrieren gerade, dass es sich eben nicht von selbst versteht, wie es weitergehen soll und was die nächsten Schritte sind. Barbara ist, wie schon zuvor, die Einzige, die noch „beschäftigt“ ist mit dem Umräumen, während die anderen gerade „Unbeteiligt-Sein“ bzw. momentane „Unschlüssigkeit“ demonstrieren. Heiko Hausendorf 176 Nicht vollkommen unerwähnt lassen wollen wir an dieser Stelle, dass man sich in der Tat fragen könnte, warum der Raum so, wie er sich im Moment präsentiert (siehe oben z.B. Bild 13), nicht geeignet ist, einen Film anzusehen. Barbaras Äußerung zielt ja mit der Umschreibung auf das ab, was mit den Tischen passieren soll. Darin steckt also ein impliziter Hinweis, dass das Vorhanden-Sein von Tischen mit dem Ansehen eines Films nicht vereinbar ist, also eine Idee davon, welche Art von mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen ein sozialer Anlass wie der des Ansehens eines Films verlangt. Der in mancher Hinsicht prototypische Ort für das gemeinsame Ansehen eines Films, der Kinosaal, deutet an, in welcher Richtung solche Benutzbarkeitshinweise liegen könnten und dass sie zumindest nicht mit dem Hinweis auf die ständige Nutzbarkeit einer zugänglichen Tischfläche vereinbar sind. Letztlich steht das Ansehen eines Films in Barbaras Äußerung also für die soziale Typik des damit verbundenen Anlasses. Offenbar folgt diese nicht der Typik der zu Seminarzwecken veranstalteten Filmvorführung, bei der sich die Teilnehmenden z.B. fortlaufend auf dem Tisch Notizen machen können. Zu der kleinen Ko-Ordinations-Krise, die wir versuchsweise rekonstruiert haben, passt die sich unmittelbar anschließende Begründung (‘account’), die strukturell vergleichbar ist mit der bereits erfolgten Begründung der Umräumaktion. Inhaltlich besteht sie darin, einen Wert einzuführen, der für das, was geplant ist (Ansehen eines Films), von großer Bedeutung ist: ‘Gemütlichkeit’. Dazu wird der Status Quo der räumlichen Benutzbarkeitshinweise erstens mit dem sozialen Anlass ‘Vorlesung’ in Zusammenhang gebracht - wie es jetzt im Raum ist, entspricht die mobiliare Ordnung einer Vorlesung -, und zweitens wird diese Sitzordnung als unangemessen und unpassend für den vorzubereitenden Anlass behandelt. Dass es um so etwas wie eine Sitzordnung geht, manifestiert sich in der Thematisierung der Art und Weise des Sitzens: a dene bänk z sitze wie i de vorlesig (Bild 14f.). Barbaras Äußerung enthält auch hier wieder den Keim eines argumentativen Sprachspiels (vo dem her han i dänkt), mit dem die bereits begonnene Aktion den Status einer möglicherweise in Frage gestellten Aktivität bekommt. Unter den Zugzwang der Begründung gestellt, reagiert Barbara mit der Thematisierung mobiliarer Benutzbarkeitshinweise: Tische und Stühle werden in der aktuell (noch) vorhandenen Ordnung als Ausdruck eines dem universitären Lehr-Lern-Betrieb entsprechenden institutionellen Geschehens definiert. Diese Zuschreibung manifestiert sich übrigens auch in der Referenz auf die fraglichen Möbel: Anders als zuvor ist an dieser Stelle von bänk die Rede, was man als Hinweis auf die sprich- Über Tische und Bänke 177 wörtlichen ‘Schulbänke’ verstehen könnte. 34 Die Vorlesung erscheint in diesem Zusammenhang als Prototyp einer ganz auf die Lehr-Lern-Kommunikation bezogenen Lernvergemeinschaftung und -disziplinierung, die als unpassend (‘ungemütlich’) bewertet wird. Deshalb, so die Darstellung, muss etwas mit den Möbeln im Raum passieren. Daraufhin zieht Nils, mit Barbaras Äußerung noch überlappend, die Konsequenz im Sinne einer praktischen Handlungsanweisung: ‘willst (du) einfach nur stühle’, die von Barbara bestätigt wird. Damit ist das kleine Ko-Ordinations-Problem zunächst gelöst: Die Aktion kann beginnen bzw. fortgeführt werden als gemeinsame Aktion. Nils stimmt seinerseits noch einmal zu (oke) und Dominik beginnt, einen neben ihm stehenden Stuhl zu ergreifen. Barbara ist auf dem letzten Bild der Folge (16) bereits in einer nach unten gerichteten Bewegung erfasst, die auf einen umgefallenen Stuhl gerichtet ist. Nur Werner demonstriert nach wie vor Unbeteiligt-Sein. Die Umräumaktion, die auf Kosten der Tische zugunsten der Stühle (‘nur Stühle’) geht, nimmt damit ihren Lauf. Wenige Sekunden später ergibt sich jedoch eine weitere Thematisierungsschleife, mit deren Betrachtung wir die Fallanalyse abschließen wollen. 34 Im Sinne z.B. der Redewendung „Die Schulbank drücken“. Wie immer sind es die Details, die Aufschluss geben. Wenn wir richtig liegen mit der Anbindung von bänk an ‘Schulbank’, haben wir hier eine lexikalische Konnotation mobiliarer Benutzbarkeitshinweise, wie sie passender nicht sein könnte (vgl. dazu den Artikel Schulbank und die Abbildungen bei de.wikipedia.org/ wiki/ Schulbank , Stand: 04/ 2011). ÖPPis hÄlfe-> 17 18 WE: (was git_s)<<kopfnickend> (unverständlich 1.0)> (2.0) WE DO BA Heiko Hausendorf 178 Die Folge dieser Bilder zeigt den weiteren Verlauf der Umräumaktion, an der Werner allerdings nicht beteiligt ist. Abgesehen von einem kurzen Moment des Aufstützens (Bild 20) bleibt er mehr oder weniger bewegungslos auf seiner Position und behält auch die Armhaltung (beide Arme seitlich auf die Hüften gestützt) bei. Alle anderen sind in unterschiedlichen Momenten des Umräumens festgehalten: Dominik ist damit beschäftigt, einen Tisch zu verschieben, Nils versetzt einen Stuhl, und Barbara bereitet - soweit erkennbar - eine Aktivität vor, die mit den unmittelbar in ihrer Nähe befindlichen Tischen zu tun hat. Die Abstinenz von Werner ist auf den ersten Blick auffällig: Er befindet sich unübersehbar dort, wo gerade das Umräumen stattfindet, läuft also fast Gefahr, im Weg zu sein und kann jedenfalls von den Beteiligten nicht ignoriert werden; er selbst macht keine Anstalten, sich einzubringen oder aber sich in eine nicht-fokale Zone zurückzuziehen. Insbesondere die Haltung der ÖPPis hÄlfe-> 19 20 BA: KIno irichte; => WE: =beSTUEHLlig; = [(unverständlich) [=JA: eifach wel SUSCH isch_s halt (.) BA: <<auf WE zugehend> (mir tüen / i wür)[jetzt e CHLI (--) WE: [(unverständlich) ÖPPis hÄlfe-> 21 22 BA: de rUm isch susch halt eifach wie i de vOrläsige-=oder; NI Über Tische und Bänke 179 seitlich in die Hüften gestützten Arme schließt gleichzeitig aus, dass er gerade mit einer eigenen Aktivität beschäftigt ist, die seine Aufmerksamkeit und Präsenz erfordert. Im Gegenteil verkörpert seine Haltung eine Darstellung, ‘bereit’ zu sein: 35 ÖPPis hÄlfe-> 19 Diese Darstellung von ‘Handlungs-‘Bereitschaft’ gerät mit fortlaufender Dauer in einen Widerspruch zu der Haltung des unbeteiligten Abwartens. Wie auch immer man die Haltung von Werner rekonstruieren mag: Es fällt schwer, dafür eine passende „Präsenzfigur“ (Schmitt 1992, S. 84 ff.) zu finden, aus der heraus sie sozial sinnvoll und für alle Beteiligten ‘accountable’ wird. Wenn diese Beschreibung zutrifft, wird sein bewegungsloses Verharren in einer Position gespannter Handlungsbereitschaft mehr und mehr begründungspflichtig. Das gilt erst recht, wenn man hinzunimmt, dass sich die Beteiligten unmittelbar zuvor noch darüber verständigt haben, was zu tun ist und was der Sinn ihrer Aktivitäten ist (siehe oben). In diese Phase fällt der oben wiedergegebene Dialog von Werner und Barbara (ab Bild 18), der durch die Markierung eines Klärungsbedarfes durch Werner eröffnet wird. Der im Wortlaut nicht vollständig erhaltene Beitrag liefert tatsächlich eine Begründung für die von uns als auffällig rekonstruierte Gegenwart von Werner: Es ist die Fraglichkeit dessen, was hier und jetzt zu tun ist, die gleichsam erklärt, warum Werner sich nicht beteiligen kann. Auf kleinem Raum (zeitlich wie räumlich gesehen) wie- 35 Es fragt sich natürlich, auf welche Evidenz sich eine solche Analyse stützen kann. Wenn man in dieser Frage nicht populärwissenschaftlichen Konzepten von ‘Körpersprache’ auf den Leim gehen will, führt kein Weg daran vorbei, soziale Situationen zu studieren, in denen diese Haltung auftaucht, um so Lesarten zu explizieren, die sie pragmatisch sinnvoll machen. Vereinfacht gesagt: Was für Situationen (Situierungen) sind es, in denen die von Werner eingenommene Haltung auf eine unmittelbar eingängige Weise „Sinn macht“ und was sind die strukturellen Implikationen dieser Situation? Die These hier ist: Es hat etwas mit der Darstellung von ‘Handlungs-Bereitschaft’, des Abwartens vor einer unmittelbar bevorstehenden Aktion zu tun. Heiko Hausendorf 180 derholt sich hier die bereits rekonstruierte Struktur der Ungleichzeitigkeit: Die, die anwesend sind, sind nicht in gleicher Weise in ihren Bewegungen koordiniert, so dass eine grundlegende Voraussetzung für die fragliche Ko-Operation (hier: das Umräumen des Seminarraumes) fehlt und die Ko-Operation selbst immer wieder thematisiert werden muss. Barbaras (dritte) Antwort nimmt zunächst die Form einer Kommentierung der laufenden Aktivitäten an. Sie setzt an zu beschreiben, was Nils, Dominik und sie selbst gerade tun (mir tüen / i wür), bringt diese Äußerung aber nicht zum Abschluss und schränkt die Reichweite und das Ausmaß der Aktivitäten gleich ein (e chli). In der dann folgenden Äußerung, die die abgebrochene gleichsam reformuliert, verschiebt sich der Fokus auf die Darstellung eines eigenen Handlungsplans und -ziels, zu dessen Beschreibung eine bestimmte Raumvorstellung benannt wird (kino irichte). Das eigene Tun, die Umräumaktion, bekommt damit den Charakter einer „Einrichtung“’ des Raumes im Sinne eines (kleinen) Kinos. ‘Kino’ steht damit für einen Ort, an dem der vorzubereitende soziale Anlass (einen Film ansehen, siehe oben Transkription Szenen (1) und (2), Z. 10f.), angemessen aufgehoben ist. Aus dem Seminarraum, der als solcher nicht benannt wird, soll ein ‘Kino’ werden. Umsetzbar wird dieser Plan über die Veränderung der Sitzordnung (‘nur Stühle’). Um mobiliare Benutzbarkeitshinweise zu thematisieren, greift Barbara also auf eine Lexik anlassdefinierter Räume zurück: Ein „Kino“ ist ein Raum, „in dem vor einem Publikum Filme gezeigt werden, in dem Filmvorführungen stattfinden“ (Wahrig-Burfeind 2006, Eintrag Kino). Und Barbara appelliert an die Vertrautheit der mit diesem Anlassraum verbundenen Sitzordnung, wenn sie unterstellt, dass es möglich ist, aus dem Seminarraum (als einem alternativen Anlassraum, der etwas mit universitärer Lehr-Lern-Interaktion zu tun hat: ‘Vorlesung’) ein ‘Kino’ zu machen. In der Sprache von Nils wird dieses Vorhaben unmittelbar handlungspraktisch auf das Entfernen der Tische zurückgeführt (wotsch eifach nur stüehl? ). In der Antwort von Werner, die erneut nur bruchstückhaft erhalten ist, wird das Vorhaben der Kinoeinrichtung dagegen in abstrakter Weise auf die Ausstattung eines Raumes mit Stühlen bezogen (bestuehlig). Die Wortbildung dieser Form verrät dabei einen moderat fachsprachlichen Akzent, 36 der besonders im Kontrast mit der Äußerung von Nils hervortritt und das bereits im Gang befindliche Tun auf eine Weise kom- 36 Ohne hier in die Details der Wortbildung zu gehen, könnte man dazu insbesondere auf die Präfigierung mit beverweisen, mithilfe derer verbale Grundformen (hier eine Konversion des Substantivs Stuhl, die als Grundform sonst nicht vorkommt) in vielen Fällen einen fachsprachlichen, z.T. auch bürokratischen Unterton bekommen (wie in beschriften oder auch beschulen; vgl. dazu Weinrich 1993, S. 1063f.). Über Tische und Bänke 181 mentiert, die ihr einen weniger spontan-okkasionellen als vielmehr professionellen und organisierten Charakter gibt. Dieser Charakter kontrastiert scharf mit Barbaras Umschreibungen dessen, was getan wird und getan werden muss. Werner bringt auf einen Begriff, was Barbara in ihren Äußerungen umschreibt (dingsmäßig, vorlesigsmäßig) oder in konkreten Handlungen ausdrückt (tisch scho mol ane rucke). Auch in ihrer Antwort auf Werner behält Barbara diesen Stil bei, wenn sie wieder darauf hinweist, dass der Raum (de rum) ansonsten wie in Vorlesungen ist (wie i de vorläsige). Auffällig ist auch hier wieder die Evidenzmarkierung, die dazu dient, das fragliche Vorhaben als naheliegend und sich aufdrängend darzustellen (halt; halt eifach) und dem Beitrag erneut den Keim eines argumentativen Sprachspiels gibt (siehe oben). Barbara spielt dabei erneut auf etwas an, umschreibt etwas, das mit dem Raum „sonst ist“ und mit seiner Funktionalität als Seminarraum zu tun hat und was wir weiter oben als ‘Atmosphäre’ des Raumes beschrieben haben (siehe auch Anm. 14). Die Benutzbarkeitshinweise, die mit der Bestuhlung zu tun haben, kommen so als Implikationen für die Wahrnehmung des Raumes in seiner anlassdefinierenden Kraft ins Spiel, ohne explizit benannt zu werden. Es ist ein sich wie von selbst verstehender Effekt der bestehenden Sitzordnung auf die Definition des im Raum stattfindenden Ereignisses, den Barbara ins Spiel bringt und als zu verhindernde Form der Lehr-Lern-Interaktion thematisiert. Das ist der soziale Sinn der Umräumaktion, die wir in dieser Fallstudie begleitet haben. 4. Abschluss: Wann und wie wird über Benutzbarkeitshinweise gesprochen? Was lehrt uns die vorgestellte Analyse über die Spezifik des ausgewählten Falles hinaus? Zunächst ist es evident, dass die - leicht abgehoben klingende - Rede von ‘mobiliaren Benutzbarkeitshinweisen’ mehr ist als eine „spitzfindige Phantasie von Sonderlingen“ (Alfred Schütz). 37 Auch die Beteiligten beschäftigen sich damit, dass und in welcher Weise ein Raum für eine darin stattfindende Interaktion geeignet ist oder nicht. Das geht (sogar) so weit, dass sie beginnen, einen Raum in seiner mobiliaren Struktur zu verändern, wenn er für das, was darin stattfinden soll, als irgendwie ungeeignet erscheint. Es gibt 37 „Wir wollen herausfinden, was in der wirklichen Welt passiert und nicht in den Phantasien einiger spitzfindiger Sonderlinge“, heißt es bei Schütz (1972, S. 49). - Die Formulierung geht wohl auf eine Wendung im Glasperlenspiel zurück. Dort ist von der „Eigenart und spitzfindigen Phantasie des Sonderlings“ die Rede (S. 270, Ausgabe Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978), worauf mich Barbara Zeugin aufmerksam gemacht hat. Heiko Hausendorf 182 also, wenn man so will, ein Passungsverhältnis zwischen sozialen Anlässen und den Räumen, in denen diese Anlässe stattfinden; und es gibt ein Alltagswissen über das, was einen Raum für einen bestimmten Anlass passend („gemütlich“) oder unpassend erscheinen lässt. Dafür gibt es viele Belege. Der ausgewählte Fall gehört dazu. Er öffnet ein Fenster auf die Art und Weise, in der die Thematik unseres Beitrags (mobiliare Benutzbarkeitshinweise) und vielleicht die Thematik des Sammelbandes insgesamt (Raum als interaktive Ressource) im Alltag der Interaktionsteilnehmer selbst zum Thema werden kann, über das man sich ausdrücklich verständigt. Darauf wollen wir abschließend noch einen Blick werfen. Aufschlussreich ist bereits, dass in dem Moment, in dem räumliche Benutzbarkeitshinweise in ihren Implikationen für eine bestimmte Interaktion problematisch werden, andere Situierungsressourcen vermehrt in Erscheinung treten und auffällig werden: Zum Einen alles, was mit dem Einsatz des Körpers zu tun hat und über seine Funktionalität als komplexe eingefleischte Sprech- und Kommunikationstechnologie hinausgeht und sich vor allem in „körperlicher Arbeit“ bemerkbar macht. Mit vermehrtem Körpereinsatz muss gleichsam kompensiert werden, was die raumbasierten Ressourcen nicht leisten bzw. sogar zu verhindern drohen. Im Beispiel äußert sich das vor allem in allen Aktivitäten, die irgendwie auf die stattfindende Umräumaktion bezogen werden können. Dazu kommt zum Anderen alles, was mit Sprache und Gesprochen-Gehörtem zu tun hat, und was es erlaubt, die stattfindenden Aktivitäten „bei laufendem Motor“ (Paul 1999, Kap. 4.1) zu thematisieren. Im Beispiel betrifft das vor allem die mehrfachen Begründungen (‘accounts’), mit denen die Umräumaktion als solche in Frage gestellt, kommentiert und beschrieben und im Hinblick auf ihren Sinn und Zweck besprochen und sinnvoll gemacht wird. Aufschlussreich ist weiter, was genau dabei zur Sprache kommt und in welcher Sprache. Nicht zufällig wird auch die Ko-Operation während der Umräumaktion selbst zum Thema. Die Beteiligten sprechen über das, was geschehen soll und kreisen dabei um die fraglichen Aktivitäten (z.B. das Verschieben der Tische). Die Sicherstellung des Umräumens als gemeinsame interaktive Tätigkeit ist ja, wie wir gesehen haben, auch ihrerseits anspruchsvoll, und sie funktioniert im vorliegenden Fall alles andere als reibungslos, was sich z.B. in Phänomenen von Vor- und Nachzeitigkeit bemerkbar macht, die dann durch die sprachliche Markierung von Klärungsbedarf (im Beispiel gleich dreimal realisiert durch Beiträge von Dominik, Nils und Werner) bearbeitet und aufgelöst werden. Über Tische und Bänke 183 Man kann daran sehen, dass die Situierung zu einem Problem geworden ist und dass die verbale Thematisierung eine Art Krisenmanagement ist, auf das zurückgegriffen wird, wenn eine körperlich anspruchsvollere Ko-Operation (das Umräumen von Tischen und Stühlen) in einer nicht auf diese Aktivität hin eingespielten Gruppe geleistet werden soll. Die Beteiligten sind nicht darauf vorbereitet und haben (noch) keine Routinen dafür ausgebildet, gemeinsam Hand in Hand zu arbeiten, so dass es zu den benannten Phänomenen von Ungleichzeitigkeit kommt, die z.T. eben auch die Gemeinsamkeit der fraglichen Aktion selbst betreffen. Genau das wird im Fallbeispiel des Öfteren durch und mit Sprache bearbeitet. Auf einer anderen Ebene liegt dann die Art und Weise, in der die Beteiligten ihre Vorbereitung des Raumes begründen. Zur Sprache kommt dabei tatsächlich das Verhältnis von Interaktion (verstanden als sozialer Anlass: einen Film ansehen vs. Vorlesung) und Raum (Kino vs. Seminarraum). Die sprachlichen Formen, die dabei auftreten, sind Teil einer mobiliaren Lexik nicht weiter spezifizierter Begriffe für grundlegende Einrichtungsgegenstände (Tische, Stühle, ...), zum Teil mit einer für die fragliche Thematik aufschlussreichen Konnotation (Bänke, …), zu Teil mit Rückgriff auf fachsprachlich anmutende Abstrakta (Bestuhlung). Der Zusammenhang, in dem in dieser Art und Weise auf Möbel referiert wird, ist der der Thematisierung der Passung des Raumes (hier: seiner Möblierung) für einen bestimmten sozialen Anlass. Dazu wird zum Teil auf lexikalische Prägungen für konkrete Verbindungen von Anlässen und Raumvorkehrungen zurückgegriffen (Kino), zum Teil auf Umschreibungen, die auf so etwas wie die Atmosphäre eines Raumes, seine Wirkungen und seine Implikationen schließen lassen (vorlesungsmäßig). Worüber also offenbar gesprochen werden kann, ist der Zusammenhang von Raum und anlassbezogener Aktivität; über die, wenn man so will, institutionalisierte Definition anlassbezogener Räume, die schon mehr mit der Rahmung als mit der Situierung im engeren Sinne zu tun hat. Über Rahmen und Anlass (‘Kontext’) der Interaktion und über die Passung des Raumes für einen Anlass kann man im Alltag sprechen und diskutieren - über die Situierung, das Hier von Ko-Orientierung, -Ordination und -Operation und die basalen Situierungssedimente, zu denen z.B. der umbaute Raum gehört und die Tür, durch die man ihn betreten und verlassen kann, wohl nur sehr viel eingeschränkter. Heiko Hausendorf 184 5. Literatur Akrich, Madeleine (1992): The de-scription of technical objects. In: Bijker/ Law (Hg.), S. 205-224. Akrich, Madeleine/ Latour, Bruno (1992): A summary of a convenient vocabulary for the semiotics of human and nonhuman assemblies. In: Bijker/ Law (Hg.), S. 259-264. Bijker, Wiebe E./ Law, John (Hg.) (1992): Shaping technology/ building society. Studies in sociotechnical change. Cambridge, MA. Böhme, Gernot (2006): Atmosphären kirchlicher Räume. In: Artheon-Mitteilungen 24, S. 26-31. Bohnsack, Ralf (2009): Qualitative Bild- und Videointerpretation. 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Drew und Heritage haben diese Auffassung pointiert als „‘bucket theory’ of space“ bezeichnet, weil Raum in dieser Sichtweise als eine Art ‘Gefäß’ betrachtet wird, in dem sich all unser Handeln abspielt, ohne dass das ‘Gefäß’ dadurch verändert würde (Drew/ Heritage 1992, S. 19). Für die Konversationsanalyse dagegen wird Raum in der Interaktion hervorgebracht, und zwar durch die raumkonstituierenden Aktivitäten der Interaktionsteilnehmer. Die Hervorbringung des Raums ist kein einmaliger Akt. Vielmehr durchziehen Aktivitäten der Raumkonstitution die gesamte Interaktion. Die Teilnehmer ko-konstruieren den Raum, halten ihn aufrecht, modifizieren ihn oder wählen ihn zugunsten anderer Raumkonstruktionen ab, immer entsprechend ihren wechselnden kommunikativen Zielen und Bedürfnissen (Broth 2009). Eine wachsende Zahl von Studien aus der konversationsanalytischen Multimodalitätsforschung (Mondada/ Schmitt 2010, Dausendschön- Gay/ Krafft 2009, McNeill 1992, Schmitt (Hg.) 2007 und viele mehr), aber auch aus Ansätzen wie der so genannten „context analysis“ (siehe z.B. Kendon 1990, 2005) hat gezeigt, dass die Teilnehmer dazu eine ganze Reihe von körpergebundenen Ausdrucksressourcen (‘embodied modes’) mobilisieren können: Gestik, Blick, Positionierung und Ausrichtung des Ober- und Unterkörpers und viele andere mehr. Auf der Grundlage von Videoaufnahmen authentischer Interaktionen konnten diese Studien im Detail nachzeichnen, wie die Interaktionsteilnehmer auf mehrere dieser Ausdrucksressourcen gleichzeitig zurückgreifen, um den Raum für ihre Interaktion herzustellen, und wie präzise diese den Einsatz ihrer Ausdrucks- Wolfgang Kesselheim 188 ressourcen auf die ebenfalls multimodalen Beiträge ihrer Interaktionspartner abstimmen. Fluchtpunkt der in diesen Untersuchungen gewonnenen empirischen Beobachtungen ist eine Reihe grundlegender theoretischer Konzepte, die den aus den Konstitutionsaktivitäten hervorgehenden Raum beschreiben („Interaktionsraum“, z.B. Mondada 2009), spezielle Konfigurationen der Beteiligten Individuen („Interaktionsensemble“, Deppermann/ Schmitt 2007 und Schmitt i.d.Bd.), „F-Formations“, z.B. Ciolek/ Kendon 1980) sowie die Art und Weise des Zusammenspiels der verschiedenen Ausdrucksressourcen oder ‘modes’ (siehe die Beiträge zur „Koordination“ in Schmitt (Hg.) 2007). Der Beitrag der körpergebundenen Ausdrucksmittel zur Konstitution von Raum ist unterdessen also relativ gut untersucht. Bedeutend weniger konversationsanalytische Untersuchungen gibt es dagegen zu der Frage, welche Rolle solche Elemente der materiellen Umwelt für die Interaktion spielen, die zwar unbestreitbar in der Interaktionssituation wahrnehmbar sind, aber nicht erst von den Körpern der Interaktionsbeteiligten erzeugt werden. Konkreter: Welche Rolle spielen beispielsweise Straßen, Wege, Plätze, Parks usw. mit ihrer konkreten Gestalt, den verwendeten Baumaterialien, ihrer ‘Möblierung’ mit Bänken, Poldern, Absperrungen, ihrer Beschilderung (Schilder zur Verkehrsregelung, Parkleitsystemen, Straßennamen) für die Interaktionen, die dort ablaufen? Was ist mit den öffentlichen Räumlichkeiten, in denen sich viele unserer alltäglichen Interaktionen vollziehen - Räumlichkeiten, die oftmals genau dazu gebaut worden sind, einen bestimmten Typ von Interaktion zu ermöglichen oder zu befördern: Beichtstühle in Kirchen, Kassenbereiche in Supermärkten, Sicherheitsschleusen in Flughäfen, Garderoben, Postschalter usw. Diese werden zwar ebenfalls von Menschen gemacht, jedoch häufig von anderen als den von uns beobachteten Interaktionsbeteiligten - nämlich von Stadtplanern, Politikern, Architekten, Bauarbeitern, Inneneinrichtern usw. - und in der Regel lange bevor die von uns untersuchten Interaktionen in ihnen ablaufen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 kritisiert Charles Goodwin, dass in Studien zur Multimodalität in der Regel die physische Umwelt vernachlässigt werde, in der sich die untersuchten Interaktionen abspielen: „In essence an analytic boundary is drawn at the skin of the participants“ (Goodwin 2005, S. 24). Dies zeigt er mit Hilfe der detaillierten Analyse eines Streits zweier Mädchen während eines Himmel-und-Hölle-Spiels. Er beobachtet, dass die spielenden Kinder die Frage, ob der beanstandete Spielzug korrekt ausgeführt worden ist, dadurch zu beantworten versuchen, dass sie die auf den Boden aufgemalten Linien und Zahlen des Spielfelds - Goodwin spricht von der Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 189 „graphic and socially sedimented structure in the surround“ - zu den Bewegungen ihrer Körper in Bezug setzen. Das Spiel und der Disput, so folgert er, ist nur dann angemessen zu erfassen, wenn man neben der dynamischen Körperlichkeit der Mädchen auch die statischen ‘grafischen Strukturen’ in der Umwelt miterfasst, an denen sich die Kinder in ihrer Interaktion orientieren: die auf den Boden gemalten Linien und Zahlen des Spielfelds. In jüngerer Zeit sind eine ganze Reihe von konversationsanalytischen Untersuchungen entstanden, die - auch wenn der Raumaspekt nicht immer im Mittelpunkt steht - der Rolle der materiellen Umwelt für die Interaktion oder spezifischer: der Einbettung der Interaktion in strukturierte bauliche Umgebungen nachgehen. Beispielhaft seien hier genannt: - Untersuchungen zu Wegerklärungen (Mondada 2009) oder zu Führungen in der Stadt (Kesselheim 2010b, Mondada 2007); - Untersuchungen zum Gehen in der bebauten Umwelt (Relieu 1999, Lee/ Watson 1992-1993) und zum Thema „Mobilität“ (Haddington/ Keisanen 2009); - Untersuchungen zum professionellen Sehen (Goodwin 2001, Goodwin/ Goodwin 1996) oder - Untersuchungen zur Konstruktion von Raum in technisch komplexen Arbeitsumgebungen (Broth 2009, Heath/ vom Lehn/ Osborne 2005). Die thematische Breite dieser Untersuchungen macht sichtbar, in wie vielen unterschiedlichen Bereichen unseres Alltags die materielle Umwelt für unsere Interaktionen bedeutsam sein kann. 2. Interaktion im Ausstellungsraum 2.1 ‘Ausstellungskommunikation’ Eine Umgebung, die besonders geeignet ist, die Rolle der materiellen Umwelt für die in ihr stattfindende Interaktion auszuloten, ist zweifellos die Museumsausstellung. Der Ausstellungsraum ist voller Dinge, die schon da sind, bevor Besucher die Museumsschwelle überschreiten: Fossilien, ausgestopfte Tiere, Tiermodelle, Landkarten, Skizzen, Erläuterungstexte, unzählige „Schildchen“ mit den Namen der Exponate. Gleiches gilt für Architektur und Innenarchitektur des Museums, die dem Besucher in Form von Räumen, Türen, Treppen, Stellwänden, Wolfgang Kesselheim 190 Vitrinen, Podesten, Textstelen, Beleuchtungssystemen usw. entgegentreten. All diese Dinge bilden ein komplexes multimodales Arrangement (Kesselheim/ Hausendorf 2007), in dem vieles, wenn nicht alles, darauf ausgerichtet ist, eine spezielle Art von Kommunikation zu ermöglichen, ja: erwartbar zu machen, die auf dem im Raum Präsentierten aufsetzt: der ‘Ausstellungskommunikation’. 1 Ausstellungskommunikation ist eine spezielle Form von Dauerkommunikation (siehe Ehlich 1994), also eine Kommunikation, bei der Produktions- und Rezeptionssituation zeitlich auseinanderfallen und die deshalb auf den Einsatz zeitbeständiger Zeichenträger angewiesen ist. Ein typischer Fall von Dauerkommunikation ist die Kommunikation per Brief. Anders als der Brief, den man problemlos von einem Ort zum anderen transportieren kann, ist die Ausstellungskommunikation aber „raumgebunden“ (vgl. Kesselheim/ Hausendorf 2007). Nur wenn sich die Besucher durch den Museumsraum bewegen, können sie überhaupt die Exponate zu Gesicht bekommen, auf denen die Ausstellungskommunikation aufbaut. 2 Welche Objekte sie dabei sehen, wieviel und welche Details sie an den einzelnen Objekten erkennen können, in welcher Reihenfolge und Kombination (Gesichtsfeld) sie die präsentierten Objekte wahrnehmen usw. hängt von ihren konkreten Bewegungen durch den Museumsraum ab. Schließlich ist Ausstellungskommunikation in hohem Maße ‘Augenkommunikation’. Im Museum ist vieles, wenn nicht alles, darauf ausgerichtet, dass bestimmte im Raum arrangierte Dinge (Exponate, erläuternde Texte) von Besuchern gesehen und betrachtet werden. Aus Produzentenperspektive bezeichnet der Museologe Friedrich Waidacher die Museumsausstellung deshalb als einen Fall von ‘präsentativer Kommunikation’: eine Kommunikation, die davon lebt, dass dem Besucher Dinge vor Augen gestellt werden, die dieser im Lauf des Museumsbesuchs betrachtet (Waidacher 2005). 3 In dem vorliegenden Beitrag möchte ich mit konversationsanalytischer Methodik der Frage nachgehen, wie Besucher den Ausstellungsraum und das in ihm Vorgefundene 4 für die soziale Praxis des gemeinsamen Museumsbesuchs nutzen. 1 Ein Begriff aus der Museologie (vgl. Noschka 2003); kritisch zur Begrifflichkeit: Parmentier (2004). 2 Vgl. Zebhauser (2000) zur Rede vom Museum als „begehbarem Medium“. 3 Die Vitrine mit ihrer Verglasung, die ein Betrachten ermöglicht, ein Berühren aber gleichzeitig unmöglich macht, ist für diese Orientierung am Sehen emblematisch. Andere Kanäle der Wahrnehmung außer dem visuellen werden nur zögerlich in die Ausstellungsgestaltung einbezogen. Häufig scheint es nötig zu sein, nicht-visuelle Formen der Wahrnehmung explizit durch Beschilderung einzufordern: „Bitte berühren! “, „Lege deine Hand in die Saurierfährte! “ u.Ä.m. 4 Mit der Rede vom „Vorgefundenen“ soll lediglich die Tatsache ausgedrückt werden, dass es um Dinge oder Raumaspekte geht, die nicht durch die Körper der Interaktionsteilnehmer in Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 191 Diese allgemeine Frage lässt sich in drei Teilfragen untergliedern: - Wie beziehen die Besucher den Museumsraum und das in ihm Vorgefundene in ihre Konstruktion eines gemeinsamen für den Museumsbesuch spezifischen ‘Bewegungsraums’ ein? Welche Rolle spielen der Raum und das im Raum Vorgefundene für die Organisation dieses Bewegungsraums? - Wie beziehen die Besucher den Museumsraum und das in ihm Vorgefundene in ihre Konstruktion eines gemeinsamen für den Museumsbesuch spezifischen ‘Wahrnehmungsraums’ ein und welchen Platz weisen sie in diesem Wahrnehmungsraum Elementen des ‘vorgefundenen’ Raums zu? - Und wie beziehen die Besucher den Museumsraum und das in ihm Vorgefundene in ihre Konstruktion eines gemeinsamen für den Museumsbesuch spezifischen ‘Handlungsraums’ ein? Was machen sie mit dem Raum und den in ihm vorfindlichen Dingen? Diese Fragen werde ich in drei Analysekapiteln (Kap. 3.1 bis 3.3) nacheinander behandeln - wenn sie sich den Museumsbesuchern auch in der Regel nicht nacheinander, sondern überlappend, und nicht einmalig, sondern im Verlauf des Besuchs immer wieder stellen. Dass diese Fragen mit ihrer Terminologie von ‘Bewegungsraum’, ‘Wahrnehmungsraum’ und ‘Handlungsraum’ an Heiko Hausendorfs analytische Unterscheidung dreier 5 grundlegender Teilaufgaben der „Situierung“ in der Interaktion anschließen (Hausendorf 2010), ist kein Zufall. Tatsächlich zielen die Fragen darauf ab zu ergründen, wie die von Hausendorf beschriebenen, allgemeinen Aufgaben der Situierung hier auf eine für den Museumsbesuch spezifischen Art und Weise bearbeitet werden. Durch diese Anknüpfung an die alldie Interaktionssituation „mitgebracht“ werden. Keineswegs ist der Kurzschluss erlaubt, dass das Vorgefundene als externer Faktor die Interaktion determiniert. Gerade das wird sich in den Analysen zeigen: Zwar behandeln die Interaktionsteilnehmer das Vorgefundene als etwas, was ‘schon da ist’. Als was es ‘da ist’, ist aber Gegenstand von Aushandlungsprozessen (siehe unten Kap. 3.3). 5 Hausendorf (2010) setzt neben diesen drei ‘Räumen’ noch einen ‘Spielraum’ an, der dann zum Tragen kommt, wenn Interaktionsbeteiligte Räume nicht nur benutzen, sondern mit Rückgriff auf Konventionen „lesen“ und verstehen. Für mich zeigt sich die Nutzung von solchen Konventionen auch in den anderen ‘Räumen’, vgl. etwa unten die Analyse zur Nutzung von Exponaten als semiotischen Objekten (Handlungsraum, Kap. 3.3) oder die Vertrautheit mit Vitrinen als museumstypischen Bewegungszielen, die in der Interpretation einer ungenauen Richtungsangabe sichtbar wird (Bewegungsraum, Kap. 3.1 zur vertrautheitsabhängigen Interpretation von ‘gehen wir weiter’). Wolfgang Kesselheim 192 gemeinen Aufgaben der Situierung gewinnen die Beobachtungen am Einzelfall des Museumsbesuchs Relevanz für die Erforschung der Prozesse der Herstellung von Raum in der Interaktion allgemein. 2.2 Konversationsanalytische Anknüpfungspunkte Konversationsanalytische Bezugspunkte zur Untersuchung der Interaktion im Museumsraum sind Studien, die entweder das Gehen allgemein (Ryave/ Schenkein 1974) oder in architektonisch gestalteten Umgebungen thematisieren (Lee/ Watson 1992-1993, Relieu 1999). Auch zum Gehen (‘Navigation’) in Ausstellungsräumen und zum Verweilen vor Kunstwerken gibt es konversationsanalytische Arbeiten (z.B. Hausendorf 2010), die auf Videoaufnahmen authentischer Museums- oder Galeriebesuche beruhen und an die meine Untersuchung unmittelbar anschließt. 6 Schließlich ist die Rolle der Bewegungen der Interaktionspartner (und deren gegenseitige Wahrnehmung) bei der Herstellung eines gemeinsamen Interaktionsraums durch die konversationsanalytische Forschung breit thematisiert worden (siehe erst kürzlich Mondada/ Schmitt 2010). Konversationsanalytische Anknüpfungspunkte gibt es nicht nur in Bezug auf Bewegungen im Museumsraum, sondern auch zum Sehen. So hat Charles Goodwin sich schon in den 1990er Jahren dem professionellen Sehen gewidmet und dabei untersucht, wie Merkmale der materiellen Umwelt in fachliches Handeln eingebettet werden. Unmittelbar einschlägig für das hier verfolgte Untersuchungsinteresse sind auch die Arbeiten von Christian Heath, Dirk vom Lehn und Kollegen (vom Lehn/ Heath 2007, Hindmarsh/ Heath 2005, Heath/ vom Lehn 2004, Heath et al. 2002) sowie erst kürzlich von Heiko Hausendorf (Hausendorf 2010) zum gemeinsamen Betrachten von Exponaten in Museen und Galerien. 7 Schließlich ist in der naturwissenschaftli- 6 Schon lange sind die Bewegungen der Besucher im Museum Gegenstand der museologischen Forschung gewesen. Neben Autoren, die versuchen, eine Reihe typischer Bewegungsmuster zu beschreiben (z.B. aus ethnografischer Perspektive: Véron/ Levasseur 1991, aus der ausstellungsgestalterischen Praxis: Dean 1994) oder zu erklären (Bitgood 2006), gibt es eine beinahe unüberschaubare Anzahl von Einzelstudien aus dem Bereich der empirischen Besucherforschung, die den Einfluss der unterschiedlichsten Faktoren auf die Bewegung der Besucher evaluieren (Raumhelligkeit, Position der Exponate, Textlänge usw., siehe etwa Bitgood 2006). Allerdings bleiben diese Untersuchungen der Besucherbewegung für die hier verfolgten Untersuchungsinteressen zu „grobkörnig“: Häufig werden nur die betrachteten Objekte sowie die Verweildauer vor dem einzelnen Exponat protokolliert; wenn die Körperbewegungen notiert werden, dann in der Regel ohne festzuhalten, wie nahe die Besucher den Exponaten kommen, worauf sie zeigen, wohin sie blicken usw. 7 Neben diesen konversationsanalytischen Studien zum Sehen gibt es eine schier unüberschaubare Anzahl weiterer Arbeiten, die das Betrachten von Exponaten, speziell: von Kunst- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 193 chen Museumsausstellung Wissen immer wieder thematisch (siehe etwa Kesselheim 2010a). 8 Einen dritten Anknüpfungspunkt für die Analyse stellen daher aktuelle konversationsanalytische Arbeiten zur lokalen Herstellung von Wissen in der Interaktion dar (siehe die Beiträge in Dausendschön-Gay (Hg.) 2010, etwa Bergmann/ Quasthoff 2010). Mit der Frage, wie Interaktion an raumgebundene Kommunikation anschließen kann, ist der vorliegende Beitrag in meinem Habilitationsprojekt zum Thema ‘Kommunikation im Museum’ verankert. An anderer Stelle habe ich den Nachweis erbracht, dass es fruchtbar sein kann, auf der Grundlage der fotografischen Dokumentation von Museumsräumen die Angebots- oder Hinweisstrukturen im Raum zu rekonstruieren, die den Besuchern bei ihrem Museumsbesuch zur Verfügung stehen, ohne dass die Besucher auf den Fotografien zu sehen sein müssten (Kesselheim 2010a). Der vorliegende Beitrag nimmt nun die komplementäre Position ein: Er untersucht, wie Menschen den Museumsraum für die charakteristische Form der Interaktion nutzen, die man im Museum beobachten kann. 2.3 Eine Hortgruppe mit Betreuerin im Zoologischen Museum Konkret werde ich einen Einzelfall im Detail untersuchen: den Besuch einer Hortgruppe - bestehend aus vier Kindern (Anna, Chrigu, Didier, Emil) und einer Betreuerin (Barbara) - im Zoologischen Museum der Universität Zürich (siehe Abb. 1). werken thematisiert haben. Untersuchungen und Theorien gibt es aus der Kunstgeschichte, Kulturwissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaft und vielen Disziplinen mehr (z.B. Bryson 2001, Bal 2008, Gombrich 1984, Emmison/ Smith 2000). 8 Dort findet man auch Näheres zum Begriff der Wissenskommunikation und seiner Anwendung aus konversationsanalytischer Perspektive. Abb. 1 Wolfgang Kesselheim 194 Dieser Einzelfall ist besonders aufschlussreich, weil die Betreuerin bestrebt ist, ihrer Gruppe den für den Museumsbesuch angemessenen Umgang mit dem Museumsraum und den in ihm präsenten Dingen nahezubringen. Auf diese Weise tritt zutage, was oft nur schwer zu beobachten ist, wenn man Museumsbesuche von „kundigen“ Museumsbesuchern beobachtet, nämlich wie die Museumsbesucher Dinge im Raum für die spezifischen Zwecke der Interaktion im Museum aktivieren und so als kommunikative Ressource nutzen. Die Datengrundlage bildet eine ca. zehnminütige Videoaufnahme, von der ich hier ca. zweieinhalb Minuten analysiere. Um das Video zu erstellen, folgte ich der Gruppe (die sich zu diesem Zeitpunkt schon länger im Museumsraum befand) mit einer kleinen Handkamera. Die Mitglieder der Gruppe wurden nicht „verkabelt“; auch wurde auf den Einsatz auffälliger Richtmikrofone usw. verzichtet, um die Besuchssituation möglichst wenig zu beeinflussen. 9 Die Aufnahme ist Teil eines größeren Korpus, das neben solchen Videoaufnahmen von „freien“ Museumsbesuchen Aufnahmen von Besucherpaaren umfasst, die sich im Rahmen eines semi-experimentellen Settings einzelne Vitrinen anschauen und sich deren Inhalt gemeinsam zu erschließen versuchen, sowie stationäre Aufnahmen von einzelnen Bereichen des Museumsraums (bestimmten Vitrinen, Multimediastationen, Mikroskoptischen), die von Einzelbesuchern und Besuchergruppen genutzt werden. Im Mittelpunkt der Analyse steht ein für das Museum emblematisches Objekt: die Vitrine. Anhand eines etwa zweieinhalbminütigen Videoausschnitts werde ich drei Phasen der Beschäftigung mit der Vitrine nachzeichnen: den Weg der Gruppe zur Vitrine (siehe unten Kap. 3.1), die Schaffung eines gemeinsamen Wahrnehmungsraums und eines geteilten Aufmerksamkeitszentrums vor der Vitrine (Kap. 3.2) und schließlich die interaktive Nutzung der Dinge in der Vitrine (Kap. 3.3), mit der die Hortgruppe an die durch den Raum nahegelegte Ausstellungskommunikation anschließt. 3. Der Museumsraum als interaktive Ressource 3.1 Der Weg zur Vitrine Der hier analysierte Ausschnitt von circa zweieinhalb Minuten Länge setzt ungefähr vier Minuten nach Beginn der Aufnahmen ein. Zu Beginn des Aus- 9 Dennoch ist es nicht zu vermeiden, dass meine Gegenwart auch die hier untersuchte Raumkonstitution der Besucher beeinflussen kann. Zum Einfluss der Kamera siehe z.B Schmitt/ Fiehler/ Reitemeier (2007). Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 195 schnitts ist die Gruppe gerade im Begriff, sich von einer Bildschirmstation zu lösen, an der die Kinder und die Betreuerin gemeinsam ein Computerquiz zu Lebensräumen und Ernährungsweisen von Tieren beantwortet haben (siehe unten Abb. 2). Man sieht, wie sich die statische Konstellation auflöst, die die Hortgruppe über eine längere Zeit hinweg eingenommen hat, um nach einer kurzen Zwischenstation in eine neue ortsstabile Konstellation zu münden, dieses Mal vor einer Vitrine mit einheimischen Nagetieren. Diese Übergangsphase möchte ich nun im Detail analysieren. Gemeinsamer Fluchtpunkt der folgenden Beobachtungen ist die Frage, wie die Gefilmten den Museumsraum und die im Raum vorhandenen Dinge für ihre Interaktion nutzen. Ausschnitt 1 (321_04: 21) 10 10 Das Symbol # markiert im verbalen Teil den Moment, der vom Standbild wiedergegeben wird. Abb. 2 B: scho wieder FALSCH; (-) #GÖMmer wIter. (-) Abb. 3 A: #AH: : ; = B: =tü mer mal dihei LUEge; Abb. 4 A: #mir hetted DA Abb. 5 A: d#RRRrrr Wolfgang Kesselheim 196 Abb. 6 A: #(mached), (.) ( [ ) C: [GÖMmer mAl Abb. 7 C: [zu de B: [gömmer #DA, (.) Abb. 8 B: CHOM da; # (-) Abb. 9 B: (--)# Abb. 10 D: ( ) B: ( )# Abb. 11 #(--) Abb. 12 C: #Ich ga Abb. 13 C: #etz DA: - Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 197 Die Abwendung von der Quizstation setzt mit der Äußerung GÖMmer wIter (‘gehen wir weiter’) der Betreuerin Barbara ein (Abb. 2). Unmittelbar nach dieser Äußerung tritt Barbara nach hinten aus der räumlichen Formation heraus, die die Gruppe für das Lösen des Computerquiz eingenommen hat (Abb. 3). Abb. 14 C: #Ich ga HIE- Abb. 15 #(1.5) Abb. 16 #(1.5) Abb. 17 B: ( ) (.) (WO: -) # Abb. 2 B: scho wieder FALSCH; (-) #GÖMmer wIter. (-) Abb. 3 A: #AH: : ; = B: =tü mer mal dihei LUEge; Wolfgang Kesselheim 198 Damit bringt sie sich in eine Position, aus der heraus sie nicht mehr direkt an der bisherigen Aktivität teilnehmen kann. Weder kann sie die Touchscreens berühren, noch die Bewertung der Antworten durch das Computerprogramm visuell kontrollieren. Anschließend dreht sie ihren Körper leicht nach rechts, was ihr einen freien Laufweg hinter den Kindern vorbei eröffnet 11 und schiebt das Kind, das ihr am nächsten steht (Chrigu, den Jungen mit dem roten T- Shirt) in diese Richtung. Damit setzt sie einen Bewegungsimpuls, den die anderen Kinder übernehmen (Abb. 4). 12 Die Kinder Chrigu, Didier und Emil nutzen daraufhin die Vielzahl der möglichen Bewegungsrichtungen, die ihnen der breite von Vitrinen freie Bodenraum des Museums an dieser Stelle bietet, um sich gehend adäquate Ziele für Barbaras wIter zu erschließen. 13 Daraus, dass sie ihren Kopf auf relativ weit entfernte Raumbereiche oder Dinge in der projizierten Gehrichtung ausrichten und dass ihr Gehen ihren Kopfbewegungen zeitlich folgt, lässt sich schließen, dass sich die Bewegungen der Kinder in dieser Phase an dem orientieren, was sie in ihrer räumlichen Umwelt, dem Museumsraum, sehen können. So dreht beispielsweise Chrigu seinen Kopf leicht nach links, und gleich im Anschluss ändert sich seine Laufrichtung (vgl. Abb. 5, 6). 11 Lee/ Watson (1992-1993) beschreiben, wie das Gehen eine geradlinige „trajectoire“ beansprucht. Eine Bewegung, die vor einer Person einen freien Raum entstehen lässt, kann in dem Sinn als mögliche „trajectoire“ verstanden werden, die eine Gehbewegung in die freie Richtung erwartbar macht. 12 Die Auflösung von Formationen der Betrachtung im Museum wird detaillierter in den schon zitierten Arbeiten von Hausendorf, vom Lehn und Heath untersucht. 13 Anna dagegen bleibt bald wieder an einem anderen Bildschirm der Quizstation „hängen“. Abb. 5: Ausschnitt, bearbeitet Abb. 6: Ausschnitt, bearbeitet Abb. 4 A: #mir hetted DA Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 199 Interessant ist, dass die Kinder offensichtlich ganz problemlos in der Lage sind, mögliche Bewegungsziele zu identifizieren und anzusteuern, obwohl Barbara mit GÖMmer wIter kein konkretes Bewegungsziel identifiziert hat. Das zeigt, dass die Kinder mit dem Museumsraum und seiner Nutzung für den gemeinsamen Museumsbesuch vertraut sind. Sie sind in der Lage, das unspezifische wIter museusspezifisch zu interpretieren: Finde ein potenzielles nächstes Etappenziel, um den Museumsrundgang fortzusetzen! Barbaras Losgehen folgt dem bei den Kindern beobachteten Muster: Sie steuert mit den Augen, dann mit dem Körper ein Bewegungsziel an, das als ein mögliches wIter im Rahmen des Museumsbesuchs infrage kommt: eine Vitrine in der Nachbarschaft der Quizstation mit einem auffälligen Knochenfischexponat. In der Nähe der Vitrine verlangsamt sie ihren Schritt. Mit gömmer DA, (.) CHOM da; (‘gehn wir hier[hin], komm hier[hin]’) schlägt sie den in verschiedene Richtungen vorausgeeilten Kindern ein Bewegungsziel vor. Was mit DA (‘hier’) gemeint ist, verdeutlicht sie, indem sie in geringem Abstand zur Vorderfront der Knochenfischvitrine den Schritt reduziert (Abb. 7) und schließlich stehen bleibt (Abb. 8). Ihr Körper weist nun nicht zur Vitrine, womit die Glasfront der Vitrine eindeutig als das von ihr intendierte Bewegungsziel ausgewiesen wäre. Vielmehr bleibt sie so stehen, dass sich sowohl die vorgeeilten Kinder (links) als auch die Knochenfischvitrine (rechts) vor ihr befinden. Durch diese „neutrale“ Ausrichtung ihres Körpers macht sie Kinder und Vitrine zu potenziellen Aufmerksamkeitszentren: denn eine minimale Kopfbewegung genügt, um alternativ das eine oder andere dieser Aufmerksamkeitszentren zu aktivieren. Aus dieser Position lenkt sie die Aufmerksamkeit der Kinder durch eine ausladende Geste des rechten Arms in die Richtung der Vitrine (Abb. 8). Mit dem an- Abb. 7 C: [zu de B: [gömmer #DA, (.) Abb. 8 B: CHOM da; # (-) Wolfgang Kesselheim 200 deren Arm „holt“ sie Anna „heran“, die sich nicht von der Quizstation gelöst hat (Abb. 9). So etabliert sie die Vitrine als gemeinsames Bewegungsziel (vgl. schon die 1. Pers. Pl. in gömmer DA). Barbara interpretiert hier also ein Element des Museumsraums - eine Vitrine - als legitimes Bewegungsziel für einen Museumsbesuch. Gleichzeitig tut sie einiges dafür, dass die Mitglieder ihrer Gruppe dieses Ziel gemeinsam ansteuern (wenn ihr dies hier auch nicht vollständig gelingt). Ob Barbara lediglich am Zusammenbleiben der Gruppe orientiert ist („Ko-Ordination“ im Sinne von Hausendorf 2010) oder ob sie versucht, den Kindern den Umgang mit dem Museumsraum und konkreter: mit der Museumsvitrine nahezubringen, lässt sich hier nicht zweifelsfrei klären. Festhalten kann man jedoch bereits, dass Barbara Mitglieder ihrer Gruppe dabei unterstützt, den Museumsraum im Sinne der Ausstellungskommunikation zu nutzen. So wählt Barbara die Position, von der aus sie die Vitrine als Bewegungsziel markiert, so, dass das Bänkchen, das sich vor der Fischvitrine (wie vor vielen anderen Vitrinen des Museums) befindet, zusammen mit ihrer Körperposition und -haltung eine Art „Trichter“ bildet, die den herankommenden Emil und Didier eine klar umgrenzte Zielzone vorgibt: den schmalen Raum nämlich zwischen Bänkchen und Vitrinenfront (Abb. 10). Diesen Raum schließt sie mit ihrem Körper nach hinten ab, sobald Emil und Didier bei ihr eintreffen. Barbaras „Trichter“ führt Emil und Didier also an eine Position, von der aus sie möglichst viele Details des in der Vitrine Präsentierten sehen können. Dadurch, dass sie sich nach vorne beugt und ihre Hand auf Emils Rücken legt, macht sie das gemeinsame Sich-intensiv-der- Vitrine-Widmen zumindest für Emil körperlich spürbar (Abb. 11-14). Abb. 9 B: (--)# Abb. 11 #(--) Abb. 12 C: #Ich ga Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 201 Didiers Nutzung der Bank entspricht der von Barbara nahegelegten Relevanzsetzung des Vitrinen-„Studiums“. Didier setzt sich - ohne den Blick von der Vitrine abzuwenden - auf das Bänkchen (Abb. 13 und 14, Pfeile), was auf seine Erwartung schließen lässt, dass das in der Vitrine Präsentierte längere Zeit zum Aufmerksamkeitsfokus werden wird, sodass die Einbuße an Beweglichkeit, die mit dieser Nutzung der Bank verbunden ist, durch ein Mehr an Bequemlichkeit aufgewogen wird. Die bisherigen Beobachtungen haben gezeigt, dass sich die Gefilmten von dem Moment an, in dem sie ihre Abwendung von der Quizstation signalisieren, an dem Museumsraum und dem in ihm Vorgefundenen orientieren: den Bewegungsmöglichkeiten, die der ‘freie Raum’ offeriert, den Vitrinen als möglichen Bewegungszielen, der Bank als ein Objekt, das die „hintere“ Grenze eines Bereichs markiert, der für die intensive Betrachtung des in der Vitrine Arrangierten geeignet ist. Andererseits kann man auch beobachten, dass sich die Bewegungen im Museumsraum an den Bewegungen der anderen orientieren; speziell, wenn diese ihre Orientierung an einer Vitrine als Bewegungsziel markieren. Das sieht man gut an Chrigu, der sich ein eigenes Etappenziel wählt und dem es gelingt, dieses Ziel gegen die Konkurrenz der zahlreichen anderen „Schauobjekte“ als gemeinsames Aufmerksamkeitszentrum zu etablieren: - Chrigu hat sich zunächst der von Barbara ausgewählten Vitrine angenähert, wählt dann aber die Vitrine links davon als Bewegungsziel (‘Einheimische Nagetiere’), ein Abweichen von dem von Barbara etablierten Ziel, das er mit Ich ga etz DA: - (‘ich gehe jetz hier[hin]’) kommentiert (Abb. 11-13, siehe oben). (Wieder kann man das schon beschriebene schnelle, geradlinige Gehen mit erhobenem Kopf beobachten, das in unmittelbarer Nähe zur Vitrinenfront langsamer wird.) Abb. 13 C: #etz DA: - Abb. 14 #Ich ga HIE- Wolfgang Kesselheim 202 Chrigu setzt sich auf das Bänkchen vor der Vitrine, beugt seinen Oberkörper weit vor und signalisiert mit vorgerecktem Kopf überdeutlich ein aufmerksames „Studieren“ dessen, was sich in der Vitrine befindet (Abb. 14 und 15). Chrigu demonstriert hier den anderen, dass er mit dem spezifischen Angebot der Museumsvitrine angemessen umgehen kann. Und genau dieser Aspekt von Chrigus sichtbarem Handeln ist dafür verantwortlich, dass es ihm in der Folge gelingt, die anderen zu seinem selbst gewählten Standort zu „locken“. - Chrigus sichtbare Orientierung an dem in der Vitrine zu Sehenden wird zu einem Orientierungspunkt für die Bewegung von Emil und Didier und schließlich der Betreuerin: 14 Emil „taucht“ unter Barbaras zum Betrachten der Vitrine vorgeneigten Oberkörper durch (Abb. 14, Pfeil), und läuft auf Chrigus Position zu, Didier folgt (Abb. 16). 15 Schließlich folgt auch Barbara - wieder am Zusammenbleiben der Gruppe orientiert - dem von Chrigu angezeigten Ziel (Abb. 17 und 18). 14 Wie er selbst auch beim Hinsetzen kurz zu den anderen schaut, bevor er seine auffallende Betrachtungshaltung einnimmt. 15 Anna ist in dieser Phase der Aufnahme eher schwach in die gemeinsame Aktivität involviert. Sie setzt sich zwar in Chrigus Richtung in Bewegung, verlässt dann aber den von der Kamera erfassten Raumausschnitt - der sichtbar werden lässt, wie der Kameramann den für die gefilmte Aktivität relevanten Raums interpretiert hat - und kehrt erst einige Zeit später zur Gruppe zurück, siehe unten Abschnitt 3.3.1. Abb. 14 C: #Ich ga HIE- Abb. 15 #(1.5) Abb. 16 #(1.5) Abb. 17 B: ( ) (.) (WO: -) # Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 203 In diesem Abschnitt haben wir gesehen, wie sich die Mitglieder der Gruppe auf der Suche nach einem nächsten Etappenziel durch den Museumsraum bewegen. Hierbei konnte gezeigt werden, wie die Besucher die Bewegungsmöglichkeiten nutzen, die der Museumsraum ihnen bietet (der ‘freie Raum’ am Boden, die Bank vor der Vitrine als Sitzfläche und Betrachtungsstandort) und bestimmte Elemente im Raum, die Vitrinen, als Orte nutzen, die im Rahmen ihrer gemeinsamen sozialen Praxis des Museumsbesuchs sinnvolle Bewegungsziele darstellen (zur Vitrine als ‘Schauobjekt’ siehe Kap. 3.2). Bei ihren Bewegungen im Museumsraum orientieren sie sich auch, wie das Beispiel von Chrigus „Sonderweg“ gezeigt hat, an den Aktivitäten der anderen Mitglieder der Gruppe. Doch ohne Bezug auf das, was die Besuchergruppe in ihrer Umwelt - dem Ausstellungsraum - vorfindet und ohne Berücksichtigung der Frage, als was sie das Gesehene interpretiert, wäre die Beschreibung der Interaktion, die wir in diesem Videoausschnitt sehen können, nicht vollständig. Konkret heißt das beispielsweise: Chrigus Gehen ergibt nur vor dem Hintergrund Sinn, dass er sich auf eine Vitrine zu bewegt, und das „Heranlocken“ der Gruppe durch Chrigu kann man nur verstehen, wenn man in Betracht zieht, dass Chrigu ein Objekt in seiner Umwelt, ein Exponat in der Vitrine, als für den Museumsrundgang relevantes Betrachtungsobjekt etabliert. 3.2 Vor der Vitrine Im folgenden Abschnitt möchte ich der Frage nachgehen, was es für die beobachtete Interaktion konkret bedeutet, dass sie sich vor einer Vitrine ereignet. Wie nutzt die Hortgruppe die Vitrine für ihre Interaktion? Wie interpretiert sie ihre Implikationen im Rahmen der gemeinsamen sozialen Praxis des Museumsbesuchs? Dazu möchte ich einen Ausschnitt analysieren (Ausschnitt 2), der direkt nach der zuletzt analysierten Sequenz stattgefunden hat. Abb. 18 C: lUeg mal wie dä #A: knabberd isch= Wolfgang Kesselheim 204 Ausschnitt 2 (321_04: 43) Abb. 14 C: #Ich ga HIE- Abb. 15 #(1.5) Abb. 16 #(1.5) Abb. 17 B: ( ) (.) (WO: -) # Abb. 18 C: lUeg mal wie dä #A: knabberd isch= Abb. 19 B: #=und WAS (isch? sind) dAs, C: hm- Abb. 20 B: (ja #Aso-) C: äh: , Abb. 21 B: da isch en #biBER, C: BibE: r- (-) Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 205 Wenn bisher die Rede davon war, dass Chrigu „die Vitrine“ als Ziel seiner Bewegung wählt, dann war das nicht präzise genug. Tatsächlich steuert er einen Bereich vor der Vitrine an und setzt sich so vor die Vitrine, dass er in sie hineinschauen kann (Abb. 14 und 15). Damit knüpft Chrigu an eine Nutzungsweise an, die von der Bauart der Vitrine und ihrer Positionierung im Museumsraum gefördert wird: 16 16 Die Platzierung der Vitrine im Museumsraum und ihre konkrete Bauweise und Gestaltung befördern die Nutzung der Vitrine als eine Art dauerkommunikativem ‘Demonstrations- Abb. 22 C: ich #LIEbe Abb. 23 C: bIber; # Abb. 24 B: die händ esO Komischi schwänz#li Abb. 25 B: die sind Eso im Was#ser- ( ) die BI[ber X: [( ) Abb. 14 C: #Ich ga HIE- Abb. 15 #(1.5) Wolfgang Kesselheim 206 - durch den ‘freien Raum’ vor der Vitrine, der es erlaubt, sich in unmittelbarer Nähe der Vitrinenfront aufzuhalten (hinter der Vitrine gibt es einen solchen Raum nicht! ), ohne dabei andere Besucher in ihrer Bewegung zu stören; - durch die großflächige Glasfront, die über die gesamte Breite der Vitrine ein störungsfreies Schauen ermöglicht (aber gleichzeitig ein Anfassen verhindert); - die Innenbeleuchtung, die die Voraussetzung für eine am Detail interessierte Betrachtung der Vitrineninhalte darstellt und die so genau diese Art der Betrachtung nahelegt; - durch die Bank, die - wie schon oben angedeutet - signalisiert, dass es hier etwas zu tun gibt, wofür ein längeres Verharren an einer Position funktional sein kann; - durch die geringe Entfernung zwischen Vitrinenfront und Bank, die das Signal gibt, dass es hier offensichtlich um einen Ausschnitt der Vitrine oder des in der Vitrine Angeordneten gehen soll 17 - wer auf der Bank sitzt, kann nicht die gesamte Vitrine im Blick behalten. Schließlich zeigt Chrigu, wie schon oben analysiert, mit seiner Körperhaltung, dass er etwas in der Vitrine genau in Augenschein nimmt. Sein Sich- Vorbeugen kann als Versuch gesehen werden, seine Augen möglichst nah an etwas heranzubringen, das sich in der Vitrine befindet, und diese Orientierung auch für andere sichtbar zu machen. 18 Chrigu gelingt es mit seiner Relevantsetzung des genauen Betrachtens von etwas, das sich in der Vitrine befindet, einen Prozess der gemeinsamen Etablierung eines Wahrnehmungsraums in Gang zu setzen. Zunächst nähern sich ihm Emil und Didier. Emil setzt sich links neben Chrigu (Abb. 16 und 17, Pfeile). 19 raum’, in dem Gegenstände sichtbar nicht nur aufbewahrt, sondern ‘präsentiert’ werden. Zum Begriff des „Demonstrationsraums in Angesichtskommunikation“: siehe Richter i.d.Bd. 17 Anders etwa als beim Betrachten von Kunstwerken, bei denen die Besucher oftmals zurücktreten, um das ganze Werk auf sich wirken zu lassen. 18 Verstärkt durch lUeg mal wie dä A: knabberd isch (siehe oben). 19 Emil geht kurz durch Chrigus Blickfeld, was erfordert, dass dieser seine Beobachtung kurz unterbrechen muss. Ob es eine Form des „body gloss“ (Goffman 1971, S. 122) gibt oder einen verbalen Austausch zwischen den beiden Kindern, lässt sich auf der Aufnahme nicht feststellen. Die Unterbrechung ist allerdings nur kurz und ein Übergang zu einer Betrachterposition, die Chrigus Beobachtung in der Vitrine nicht einschränkt. Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 207 Didier geht von hinten um die Bank herum und setzt sich direkt links neben die beiden Jungen (Abb. 18, 19). Dass das Sehen von etwas in der Vitrine Befindlichem hier eine relevante Orientierung ist, sieht man zum einen an Chrigus Zeigegeste (die am Vitrinenglas endet), zum anderen wohl auch daran, dass Didier den längeren Weg hinten um die Bank herum wählt, der aber den Vorteil hat, nicht mit den Blicken der Zweiergruppe in Konflikt zu treten. Auch kann man feststellen, dass Emil und Didier ihre Sitzposition so wählen, dass sie in die Vitrine schauen können, ohne die Sicht des/ der schon Schauenden auf die Vitrine zu beeinträchtigen. Gleiches gilt auch für Barbara. Schon während ihrer Annäherung hat sie ihren Blick auf die Stelle gerichtet, die Chrigu durch sein demonstriertes Betrachten hervorgehoben hat (Abb. 19), und sie bleibt unmittelbar rechts neben den drei Sitzenden stehen, nahe an dem von Chrigu signalisierten Punkt des Interesses, aber ohne den anderen die Sicht darauf zu nehmen (Abb. 20). 20 20 Anna ist, wie erwähnt, auf „Abwegen“. - Dass sie hier nicht an der gemeinsamen Aktivität teilnimmt, kann man hier auch mit Bezug auf die Elemente des Museumsraums beurteilen. Steht sie so, dass sie nicht in die Vitrine schauen kann, nimmt sie sichtbar nicht am Museumsbesuch teil. Abb. 16 #(1.5) Abb. 17 B: ( ) (.) (WO: -) # Abb. 18 C: lUeg mal wie dä #A: knabberd isch= Abb. 19 B: #=und WAS (isch? sind) dAs, C: hm- Wolfgang Kesselheim 208 Aus der Annäherungsphase ergibt sich eine räumliche Anordnung der Gruppe vor der Vitrine, die über einen längeren Zeitraum (nahezu) beibehalten wird: eine „F-Formation“ in Form des Buchstabens „I“ (siehe Ciolek/ Kendon 1980, S. 249). 21 In dieser Aufstellung der Gruppe vor der Vitrine sind zwei Orientierungen sichtbar: eine Orientierung an der Anwesenheit als Gruppe - vgl. die große körperliche Nähe, die mit vielfachen Berührungen der Körper einhergeht (siehe unten) - und eine Orientierung an der Vitrine als „signifikantem Objekt“ (Schmitt/ Deppermann 2007), genauer: am ausführlichen In-die-Vitrine-Schauen (vgl. die sitzende Position, die Relevanz des Sehens, wobei sich die Gruppenmitglieder gegenseitig die meiste Zeit nur über das periphere Sehen wahrnehmen). In der Formation vor der Vitrine setzen sie ihre Abstimmung auf ein gemeinsames visuelles Aufmerksamkeitszentrum fort, die in der Annäherungsphase begonnen hat. Gehen wir noch einmal zurück zum Beginn von Ausschnitt 2 und schauen, wie die Gruppe einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum herstellt, in dessen Zentrum sich Objekte innerhalb der Vitrine befinden. - Durch die Nachfrage WO: -, mit der Barbara auf eine unverständliche Äußerung von Chrigu reagiert, gibt sie ihren Vitrinenwechsel als eine Reaktion auf das von Chrigu markierte interessante Objekt in der Vitrine zu erkennen. - In die letzten auslaufenden Schritten hinein fragt sie und WAS (isch? sind) dAs, und beugt anschließend ihren Oberkörper in ‘Betrachtungshaltung’ nach vorne (siehe oben Abb. 20) - ihr Gehen ist nun nicht mehr am Grobziel der Vitrine orientiert, sondern richtet sich auf einen konkreten Inhalt aus, auf den sie mit der Frage referiert. - Sie selbst gibt die Antwort da isch en biBER, (und verschiebt so die Aufmerksamkeit von dem Baumstumpf mit Bissspuren, den Chrigu als interessantes Objekt markiert hatte, zu dem daneben stehenden Biberexponat). 21 In Abbildung 19 ist die Formation nur schlecht zu erkennen, weil sich die Gruppe in Richtung der Kameraachse aufgestellt hat. Abb. 20 B: (ja #Aso-) C: äh: , Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 209 - Barbara streckt den Arm nach vorn, um auf den Biber zu zeigen (Abb. 21), begleitet von einer parallelen Bewegung von Emils Oberkörper, der sich damit dem Ziel ihres Zeigens nähert und die gemeinsame Orientierung auf den Biber sichtbar macht. Chrigus Aufmerksamkeit scheint ebenfalls auf dem Biber zu ruhen (was man auf der Aufnahme aber nicht zweifelsfrei feststellen kann). - Barbaras zeigende Geste streicht einmal vom Kopf des Bibers zu seinem Schwanz und wieder zurück (Abb. 22 und 23). Zeitgleich führt Emil eine (seltsam halbherzige) Zeigegeste aus, ebenfalls in Richtung des Bibers, mit der er seine persönliche Ausrichtung auf das von Barbara etablierte gemeinsame Aufmerksamkeitszentrum zu manifestieren scheint (Abb. 22, Pfeil). So haben die Betreuerin und die Kinder Chrigu und Didier (Emil ist von den anderen verdeckt, Anna befindet sich auf Abwegen) schließlich von ihrer Position vor der Vitrine aus einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum und ein geteiltes Aufmerksamkeitszentrum etabliert: den Biber in der Nagetiervitrine. Charakteristisch für die hier analysierte Interaktion ist, dass die geteilte Aufmerksamkeit auf Elementen der materiellen Umwelt ruht. Die Vitrine wird als eine ‘Objektsammlung’ genutzt (analog zu einer ‘Textsammlung’ wie einem Aktenordner, in dem eine Reihe unterschiedlicher Texte organisiert sind), und diese Objekte werden über eine auffallend lange Zeit fixiert. 22 Durch diese fokussierte und konzentrierte Form der Wahrnehmung unterscheidet sich die Vitrine von anderen Zonen des Museumsraums, wo man derartige lange, in- 22 Die konstante Kopfhaltung macht dies zumindest wahrscheinlich. Abb. 21 B: da isch en #biBER, C: BibE: r- (-) Abb. 22 C: ich #LIEbe Abb. 23 C: bIber; # Wolfgang Kesselheim 210 tensive Blicke nicht vorfindet bzw. in denen sie nicht als Bestandteil des Museumsbesuchs verstanden würden (man stelle sich einmal in die Garderobe und schaue sehr intensiv auf eine fremde Jacke! ). Umgekehrt ist der Blickkontakt zwischen den Gruppenmitgliedern selten. Häufig handelt es sich um Blicke, mit denen sich die Mitglieder der Gruppe zu versichern scheinen, worauf die anderen gerade orientiert sind. Das zeigt sich etwa im unmittelbar sich anschließenden Stück der Aufnahme: Barbara äußert die händ esO KOmischi schwänzli die sind Eso im wAsser- ( ) die BIber, (‘die haben so komische Schwänzchen, die sind so im Wasser, die Biber’ - spätestens hier schaut auch Chrigu den Biber an, Abb. 24, Kreis). Während des ersten Satzes dieser Äußerung zeigt Barbara auf den Biberschwanz, blickt aber auf die neben ihr sitzenden Kinder. Mit im wasser blickt sie auf den Biber zurück, gerade als Didier ihr den Blick für eine Sekunde zuwendet (Abb. 25, Kreis). Wir haben in diesem Abschnitt gesehen, dass das Sehen durchgehend eine relevante Orientierung der Besuchergruppe vor der Vitrine ist, und wir haben die schrittweise Herstellung eines gemeinsamen Wahrnehmungsraums mit einem geteilten Aufmerksamkeitszentrum in der Vitrine nachverfolgt. Dabei wurde deutlich, dass sich die Gruppe bei ihrem Museumsbesuch mit ihren Bewegungen und Blicken an Dingen orientiert, die in ihrer materiellen Umwelt für sie arrangiert worden sind. 3.3 Dinge in der Vitrine Die Betrachtung der im Museumsraum arrangierten Objekte durch die Besucher ist, wie schon zu Anfang gesagt, grundlegend für das Funktionieren der Ausstellungskommunikation. In der hier analysierten Interaktion der Hort- Abb. 24 B: die händ esO Komischi schwänz#li Abb. 25 B: die sind Eso im Was#ser- ( ) die BI[ber X: [( ) Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 211 gruppe wird diese Orientierung besonders gut greifbar, weil das Sehen im Museum zum Gegenstand der Vermittlungsbemühungen der Betreuerin Barbara wird. Allerdings ist das Betrachten der Objekte kein Selbstzweck. Es handelt sich nicht um ein selbstgenügsames Sehen, sondern um ein Sehen, um etwas lernen zu können. Jedenfalls ist die Vermittlung dieses museumsspezifischen, wissensorientierten Sehens eine wichtige Orientierung der Betreuerin Barbara in dem hier analysierten Material! Im Folgenden möchte ich mich auf diesen Vermittlungsaspekt konzentrieren. Wir werden sehen, wie Barbara das fokussierte, konzentrierte Sehen relevant setzt, wie sie die Kinder ihrer Gruppe unterstützt, wenn diese die Exponate dazu nutzen, um an ihnen etwas zu entdecken, während sie andere Aktivitäten der Kinder nicht aufgreift. Und wir werden sehen, wie Barbara die Betrachtung der Exponate auf unterschiedliche Art und Weise mit Wissen in Verbindung setzt, etwa indem sie die Exponate als Stellvertreter zoologischer Gattungen behandelt, indem sie ihnen ausgehend von dem Sichtbaren und der deiktischen Verankerung im gemeinsamen Wahrnehmungsraum Eigenschaften oder Lebensräume als typisch zuschreibt, und schließlich, indem sie diese Wissenselemente mit theoretischen Erklärungsmodellen verbindet. Durch all diese Aspekte ihres Handelns macht sie sich, wenn man so will, zur „Vermittlerin“ des materiell in der Vitrine ausgestellten Wissens. 3.3.1 Castor fiber Mit der Analyse möchte ich wieder an der Stelle einsteigen, an der Barbara den vorausgeeilten Kindern zur Nagervitrine folgt (Ausschnitt 2, siehe oben). Hier ist zu beobachten, wie Barbara von der Betonung des in der Vitrine zu Sehenden zu Aussagen über die durch das Sichtbare repräsentierten Gattung und dann weiter zur Erklärung des über die Gattung Ausgesagten mit Hilfe eines wissenschaftlichen Erklärungsmodells übergeht. So wird in ihrer Beteiligung an der gemeinsamen Interaktion sichtbar, wie Vitrinen im Rahmen der Ausstellungskommunikation verwendet werden können, nämlich als Ausgangspunkt im geteilten Wahrnehmungsraum, von dem aus sich neues Wissen über das ausgestellte Fachgebiet kommunikativ generieren 23 lässt: - Barbara geht (noch während ihrer Annäherung an die Vitrine) auf Chrigus Äußerung lUeg mal wie dä A: knabberd isch ein. Barbara reagiert also auf 23 Vgl. Dausendschön-Gay/ Domke/ Ohlhus (2010), die von „Wissensgenerierung“, der „lokalen Genese“ oder „Aktualgenese“ von Wissen in der Interaktion sprechen. Wolfgang Kesselheim 212 die Formulierung eines spezifischen visuellen Eindrucks durch eines ihrer Hortkinder. Mit ihrer Frage nach dem Was (und WAS (isch? sind ) dAs,) setzt sie den Aspekt der Kategorisierung des Gesehenen relevant und benennt gleich selbst die Kategorie, um die es hier geht: das isch en BIbEr,. Mit dieser Äußerung beschreibt sie das gesehene Objekt nicht als Individuum in seiner Einzigartigkeit, sondern referiert auf es als Vertreter einer Klasse, einer zoologischen Gattung (en BIbEr). - Mit ihrer gleichzeitigen Zeigegeste (Abb. 21ff.) verankert sie die zoologische Kategorisierung mit dem visuellen Eindruck des Vitrinenobjekts (und macht den Biber zum Aufmerkamkeitszentrum im geteilten Wahrnehmungsraum, siehe oben die Reaktionen der Jungen). Ihre oben schon erwähnte auffällige Zeigegeste, mit der sie ikonisch die Form des Rückens nachzeichnet, ist für mich ein Hinweis auf die Bedeutsamkeit der gesehenen Form: Hier geht es um ein genaues, die Eigenschaften des Gesehenen registrierendes Sehen. Abb. 21 B: da isch en #biBER, C: BibE: r- (-) Abb. 22 C: bIber; # Abb. 23 B: die händ esO KOmischi schwänz# Abb. 24 B: die sind Eso im wAs#ser- ( ) die BI[ber X: [( ) Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 213 - Ihre Äußerung dagegen - die händ esO KOmischi schwänz die sind Eso im wAsser- ( ) die BIber, - verknüpft sie deiktisch mit dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum: Zeitgleich mit die händ esO KOmischi schwänz erreicht ihre Zeigegeste nämlich den Schwanz des Biberexponats (Abb. 24). Obwohl sie ja auf ein einzelnes Exponat zeigt, verwendet sie den Plural (die händ … die sind ). Barbara beschreibt also nicht nur etwas, das sie in diesem Moment in der Vitrine sehen kann, sie schreibt davon ausgehend auch der Gattung der Biber eine typische Eigenschaft zu. Hier wird offensichtlich, dass sie das Biberexponat als ‘Stellvertreter’ für die Gattung der Biber behandelt. Technisch gesagt: Sie behandelt ein Bestandteil ihrer materiellen Umwelt als ‘semiotisches Objekt’: das Gesehene (Biberexponat) steht für etwas anderes (typische Gattungsmerkmale). - Schließlich ist die Behauptung, dass Biber im Wasser wohnen, nicht nur deshalb interessant, weil Barbara dieses Verhalten in der Vitrine ja nicht sehen kann. Auch ruft sie so implizit ein (vulgär-)zoologisches Erklärungsmodell auf: die Darwin'sche Vorstellung, dass Eigenschaften des Körperbaus sich aus den Anforderungen des Lebensraums erklären lassen. Das am Exponat zu Sehende wird damit in den Rahmen einer großen biologischen Theorie eingebettet. Ganz ähnlich wie in Ausschnitt 2 agiert Barbara auch in der unmittelbar nachfolgenden Sequenz (Ausschnitt 3). Ausschnitt 3 (M321_05: 00) Abb. 25 B: die sind Eso im Was#ser- ( ) die BI[ber X: [( ) A: und kOmischi FÜESS: - Abb. 26 B: sind #KOmischija die sind Ebe die händ fAscht flOsse, genau du gsEhsch DAS; Wolfgang Kesselheim 214 Auch hier zeigt sich wieder deutlich Barbaras Orientierung an Wissenskommunikation als Fluchtpunkt des Sehens: - Annas Äußerung und kOmischi FÜESS: interpretiert Barbara weniger als Bewertung denn als Aussage über etwas am Exponat Sichtbares. Barbara greift die Äußerung auf (sind KOmischi-, Abb. 26). Dann verändert sie die Position ihres Oberkörpers, bis sie eine freie Sichtlinie auf das Biberexponat hat (Abb. 26 und 27) und zeigt auf diese Weise an, dass sie jetzt eine Bestätigung für Annas bewertende Äußerung an dem Exponat sucht. - Ihre folgende Äußerung bezieht sich auf das von Anna Gesehene. Wieder verbindet sie Gesehenes mit allgemeinen Aussagen über die vom Exponat repräsentierte Gattung: ja die sind Ebe die händ fAscht flOsse, genau du gsEhsch DAS; (.) si händ FLOSse (.) däzwüsche dinne; (‘ja, die sind eben, die haben fast Flossen, genau du siehst das, sie haben Flossen zwischendrin’, Zeigegeste auf dazwüsche, Abb. 28). Mit Ebe markiert Barbara die seltsame Form der Füße als (von ihr und Anna) geteiltes Wissen, wobei sie Abb. 27 B: (.) si händ FLOS#se (.) Abb. 28 B: [däzwü#sche dinne; ] C: [OH lu: g mal hIe,] Abb. 29 A: aber# DÄ nöd; B: DÄ nöd- (.) das isch en BIsamdä_isch e RATte; (...) (aso) esO gsehnd [die] us- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 215 Annas Aussage als eine Aussage über eine in der Vitrine gemachte Beobachtung (re-)interpretiert: genau du gsEhsch DAS (Abb. 26). Zum ersten Mal spricht Barbara dabei aus der Position dessen, der über ein größeres Wissen verfügt: Mit ja und genau weist sie sich als jemand aus, der die Beobachtungen der anderen ratifizieren (und wohl gegebenenfalls auch korrigieren und zurückweisen) kann. - Anna greift Barbaras allgemeine Aussage über die Fußform der Gattung Biber auf und konfrontiert sie mit einer Beobachtung, die sie an einem konkreten Exponat in der Vitrine macht: aber DÄ nöd; (‘aber der nicht’) - man beachte die spezifische Referenz dä und die Zeigegeste auf aber DÄ (Abb. 29). 24 In ihrer Reaktion verschiebt Barbara den Fokus aber wieder auf die Gattung. Sie ordnet das Exponat ein in die Gattung und die Familie (DÄ nöd- (.) das isch en bisam dä_isch e RATte; ‘der nicht, das ist ein Bisam, der ist eine Ratte’) und ruft dann aus, als ob sich anstelle des einen ausgestopften Tierindividuums die betreffende Spezies in der Vitrine befände: (aso) esO gsehnd die us- (Plural! ). Wieder stellt sie eine Verbindung zwischen den allgemeinen Aussagen über die Gattungs- und Familienzugehörigkeit und dem in der Vitrine zu Sehenden her: Mit so verweist sie deiktisch auf etwas, das an dem Exponat sichtbar ist und mit gsehnd wird die Wichtigkeit des Visuellen hörbar. In diesen beiden Ausschnitten geht es also darum, Elemente der physischen Umwelt als Ressource zu nutzen, um im Verlauf des gemeinsamen Museumsbesuchs Wissen über zoologische Sachverhalte und Zusammenhänge zu erwerben. Dabei unterstützt Barbara ihre Hortgruppe. Sie fördert eine Nutzung der in der Vitrine arrangierten Objekte als semiotische Objekte, als Stellvertreter, von deren Betrachtung aus allgemeines Wissen über die durch das Objekt repräsentierten Klasse von Tieren erschlossen werden kann. 25 Redebeiträge, die nicht auf das zu Sehende Bezug nehmen, übergeht Barbara dagegen oft. 24 Diese Entgegnung zeigt, dass Anna wie Barbara die Exponate als Stellvertreter für Gattungen versteht, sonst ergäbe es keinen Sinn, mit Verweis auf ein einzelnes Exemplar eine Aussage über die Gattung infrage zu stellen. 25 Barbara greift selten dirigierend in den Ablauf des gemeinsamen Museumsbesuchs ein (siehe oben, GÖMmer wIter). Vielmehr ist sie vor allem am Zusammenhalt als Gruppe orientiert (‘Ko-Ordinierung’) und folgt den Relevantsetzungen der Kinder mit ihrem Gehen (Chrigus Wahl der Bibervitrine) oder ihren Blicken (gerade eben: Annas Blick auf den Bisam, dem Barbara folgt, Abb. 28). Die Vermittlung der sozialen Praxis des Museumsbesuchs unternimmt sie - wie ich gezeigt habe - meist im Hintergrund, durch die Wahl der Äußerungen oder Aktivitäten, auf die sie reagiert, durch die Konzentration auf die Identifizierung der Exponate, ihre Klassifizierung usw. Wolfgang Kesselheim 216 So lässt sie beispielsweise die unspezifische, nicht auf eine konkrete Beobachtung am Exponat bezogene Begeisterung von Chrigu unkommentiert (BIbE: r- (-) ich LIEbe bIber; ) und deutet Annas Bewertung komischi füess in eine Beschreibung der sichtbaren Eigenschaften der Füße um. 3.3.2 Sciuridae Wie wichtig die Betrachtung der Objekte im gemeinsamen Wahrnehmungsraum für die Ausstellungskommunikation ist, sieht man dort, wo sich jemand von diesen Objekten abwendet, um die Gültigkeit einer Behauptungen in der Interaktion durchzusetzen, die gegen die Evidenz der in der Vitrine präsentierten Objekte sprechen. Ein solcher Fall ist die folgende kurze Diskussion zwischen der Betreuerin und Anna über die Größe amerikanischer Eichhörnchen (Ausschnitt 4). Ausschnitt 4 (M321_05: 43) Abb. 30 B: JÄ (.)[was isch dänn das] da, A: [chan die bisse,] B: das da(.) #känned_er jetzt; [( ) ] C: [EICH]hörnchen- B: das SIND eichhörndli-=hä, (-) und die_sch da une isch aU es EICHhörndli aber das sind glaub afrikanischi- (.) amerikanischi sind die [GRAUe; ] E: [( ) ] Abb. 31 A: #die sind Abb. 32 A: #RIsig- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 217 Abb. 33 A: (.) die chönd #RIsig werde; Abb. 34 B: ! NEI! (.) #nid grösser weder SO; (.) nöd vil GRÖSser; (-) Abb. 35 B: da z_ZÜri häts au söttig# (.) det won ich wohne Abb. 36 B: [hätts au so (eichhörnli) (so)-] A: [ABer (.) ameri#kAnischi chönd] sO gross werde; Abb. 37 B: #(.)AHja Abb. 38 B: (kla: r; )# Abb. 39 B: <<p>(die sind) ( ) (so) ( )> #die sind nöd SO gross; Wolfgang Kesselheim 218 In der sich entwickelnden Diskussion mit Anna lassen sich zwei Positionen beobachten, die von den Teilnehmern auch durch ihre Körper sichtbar gemacht werden: Barbara stützt ihre Argumentation auf das, was an den Exponaten der Vitrine sichtbar ist, und nutzt die Exponate so im Sinne der musealen Wissenskommunikation; Anna dagegen verweigert sich vorübergehend der Teilnahme an dieser Form objektgestützter Generierung von Wissen und stützt sich auf eigene Erfahrungen mit den ausgestellten Tieren. - Die Beschäftigung mit den Eichhörnchen wird von Barbaras Äußerung das da (.) känned_er jetzt; (‘das da kennt ihr jetzt’) eingeleitet. Wieder verknüpft Barbara die deiktische Verankerung im gemeinsamen Wahrnehmungsraum (das da, Zeigegeste Abb. 30) mit dem Aspekt des Wissens (känned_er). Neu ist hier allerdings, dass die gemeinsame Interaktion erstmalig explizit als Fall von Wissenskommunikation ausgewiesen wird (wenn die Betreuerin das zoologische Wissen auch mit der vertrauten Erfahrungswelt der Kinder in Verbindung setzt). - Als Antwort erhält sie die Gattungsbezeichnung EICHhörnchen, die sie aufgreift und zur Darstellung von Verwandtschaftsverhältnissen nutzt: das SIND eichhörndli-=hä, (-) und die_sch da une isch aU es EICHhörndli aber das sind glaub afrikanischi- (.) amerikanischi sind die GRAUe; (‘das sind Eichhörnchen und die is da unten ist auch ein Eichhörnchen, aber das sind glaube ich afrikanische, amerikanische sind die grauen’). - Nun behauptet Anna: die sind RIsig- (.) die chönd RIsig werde; . Im Wort ‘riesig’ wendet sie sich von der Vitrine ab und schaut zu Barbara hoch (in der Spiegelung der Glasfront zu erkennen, Abb. 31, 32), und wählt sie so als Adressatin ihrer Behauptung. Das anaphorische „die [d.h. die amerikanischen Eichhörnchen]“ weist ihren Beitrag als thematische Fortführung des von Barbara Gesagten aus. Abb. 31 A: #die sind Abb. 32 A: #RIsig- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 219 - Betreuerin Barbara blickt, noch während Anna ihre Behauptung wiederholt, in die Vitrine (Abb. 33, kurz vorher ist sie abgelenkt worden) und zweifelt Annas Behauptung an: ! NEI! ned grösser wie d eSO. Mit ! NEI! zeigt sie auf das Exponat (Abb. 34) und lässt ihren Blick auch nach Beendigung der Zeigegeste starr auf die Vitrine gerichtet. Anna dreht ihren Kopf parallel zu Barbaras Zeigebewegung zur Vitrine (Abb. 34 stellt den Endpunkt dieser Bewegung dar) und kann so das von Barbara Gezeigte überprüfen. Die Betreuerin zeigt auf die Vitrine (Abb. 35) und sagt gleichzeitig 26 etwas über die von dem oberen Exponat repräsentierte Klasse von Tieren: da z_ZÜri häts au söttig (.) det won ich wohne häts au so (eichhörnli) (so)-] (‘hier in Zürich gibt es auch solche, dort wo ich wohne gibt es auch so Eichhörnchen’). Auch die Blicke der Kinder gehen in die Richtung, die Barbara anzeigt, womit die Eichhörnchenexponate als gemeinsames Aufmerksamkeitszentrum etabliert sind. Bemerkenswert ist hier, dass Barbara ihre Aussage deiktisch in der Vitrine verankert, obwohl sie etwas über ihr außerhalb des Museums erworbenes Wissen sagt. - Anna wiederholt ihre Behauptung, durch ABer als Kontrast zu dem von Barbara Gesagten markiert: ABer (.) amerikAnischi chönd sO gross werde; (‘aber amerikanische können so groß werden’). Schon mit Barbaras 26 Die Zeigegeste endet mit wohne. Abb. 33 A: (.) die chönd #RIsig werde; Abb. 34 B: ! NEI! (.) #nid grösser weder SO; (.) nöd vil GRÖSser; (-) Abb. 35 B: da z_ZÜri häts au söttig# (.) det won ich wohne Wolfgang Kesselheim 220 wohn beginnt sie, die Größe der amerikanischen Eichhörnchen mit ihren Armen anzuzeigen. Zeitgleich zum eröffnenden ABer tritt sie zwei Schritte zurück und dreht sich von der Vitrine weg (Abb. 36). So kann nicht nur sie das ausgestopfte Eichhörnchen nicht mehr sehen; gleiches gilt auch für die anderen, solange sie Anna anschauen. (Genau dieses Anschauen macht Anna für ihre Interaktionspartner erforderlich, indem sie die Größe der amerikanischen Eichhörnchen mit ihren Armen anzeigt.) - Tatsächlich wenden sich die anderen ihr zu (Abb. 36), Didier steht sogar im Anschluss auf, um Anna sehen zu können (Abb. 37). So etabliert Anna einen alternativen Wahrnehmungsraum ohne die Vitrine. - Barbara übernimmt erst Annas Armgeste mit ihren Armen (Abb. 38), was von den Jungen ohne Positionsveränderung gesehen werden kann. Dann vergleicht sie diese mit dem, was sie in der Vitrine sieht (Abb. 39) und folgert die sind nÖd SO gross; . 27 27 Daraufhin beugt sie sich nach vorn und befragt Anna nach der Quelle ihres Wissens. Unklar ist, ob sie dabei noch das Eichhörnchen oder schon das Murmeltierexponat betrachtet. Abb. 36 B: [häts au so (eichhörnli) (so)-] A: [ABer (.) ameri#kAnischi chönd] sO gross werde; Abb. 37 B: #(.)AHja Abb. 38 B: (kla: r; )# Abb. 39 B: <<p>(die sind) ( ) (so) ( )> #die sind nÖd SO gross; Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 221 Man kann also sehen, dass sich Anna in dem Moment, in dem sie die Behauptung aufstellt, die der in der Vitrine vorhandenen Evidenz widerspricht, von der Vitrine wegdreht und den Blick der anderen ebenfalls von der Vitrine „fortzuziehen“ versucht. Mit diesem Wegdrehen von den Exponaten tritt sie aus aus der vitrinenbasierten Wissenskommunikation im Museum heraus. Zwar geht es immer noch um zoologische Sachverhalte. Allerdings nimmt sie nicht mehr an der Wissenskonstitution teil, die auf dem im Ausstellungsraum Arrangierten ausgeht. Vielmehr stützt sie sich auf bereits zuvor Gesehenes, ihre persönliche Erfahrung. 28 Die Betreuerin dagegen benutzt die Vitrine, um ihre Gegenthese zu stützen: Dazu benötigt sie den Blick auf das Eichhörnchenxponat. Sie baut, wie schon in den zuvor analysierten Ausschnitten, Wissen auf dem auf, was in der Vitrine wahrgenommen werden kann. Dafür ist die Ausrichtung des gemeinsamen Wahrnehmungsraums auf die Vitrine Voraussetzung. Und so versucht sie, durch das deutliche Vorbeugen und In-die-Vitrine-Schauen die Interaktionspartner dazu zu bewegen, die Vitrine nach dem von Anna initiierten „Intermezzo“ wieder in den gemeinsamen Wahrnehmungsraum einzubeziehen. 3.3.3 Marmota marmota Nicht nur Exponate werden beim gemeinsamen Museumsbesuch betrachtet, die Hortgruppe wendet sich auch kleineren und größeren Textobjekten in den Vitrinen zu. Das gemeinsame Lesen lässt die Typik der Interaktion vor der Vitrine besonders deutlich zu Tage treten. Die folgende Lesesequenz setzt gegen Ende von Abschnitt 4 ein. 28 Annas expressive Sprechweise kann ein Hinweis darauf sein, dass in ihrem Beitrag die Unterhaltungsfunktion dominiert. Doch trotz seines unterhaltsamen Charakters trägt er zweifellos zur Wissenskonstitution bei, indem er allgemeine Aussagen über Merkmale der amerikanischen Eichhörnchen trifft. Wolfgang Kesselheim 222 Ausschnitt 5 (M321_06: 17) Abb. 40 A: doch die chönd esO GROSS werde; B: ach_hani noch NIE ( ) villicht, (.) #hesch denn du e GROSses gseh [mal] in amerika- A: [JA-] Abb. 41 C: ‹‹liest> MU: R#[emEltIer-›] A: [( )] (E: ) SCHO; C: ‹‹liest›! MUR! mel[tier-›] A: [( ) ] B: [MURmeltierli.] C: [mA: rM: : O ]tA: (.) MAR (.) mA (.) ta. B: ((lacht)) <<liest>marMOtA, (.) marMOta> (HEISCH) das, Abb. 42 B: NEI. muess churz d brÜle ahlegge- (-)# Abb. 43 #((alle lesen miteinander marmota marmata muta murmeltier)) Abb. 44 B: das_isch dä laTInisch# name- =HÄ, (2.0) Abb. 45 B: #und das sind eifach sUscht MÜ: mü: sli-=hä- (.) MÜsli und RAtte- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 223 In Lesesequenzen wie dieser wird der Bezug auf den Museumsraum und seine „grafischen Strukturen“ (Goodwin) besonders augenfällig. Nirgendwo sonst wird so klar ersichtlich, dass die Besuchergruppe sich auf etwas bezieht, was sie im Raum vorfinden. Zu erklären, was in den Momenten des Museumsbesuchs geschieht, in denen sich die Mitglieder der Besuchergruppe ihr Lesen gegenseitig verdeutlichen, ist ohne die Berücksichtigung dieses Lesbaren im Raum nicht möglich. Zum anderen wird an der Nutzung der Schriftzeichen besonders eindrücklich deutlich, dass in der Interaktion im Museum Elemente des Raums symbolisch genutzt werden und dass diese Nutzung des im Raum Sichtbaren Ausgangspunkt für die gemeinsame lokale Generierung von Wissen ist. Mit dem lauten Lesen zeigen sich die Beteiligten an, worauf ihre gemeinsame lokale Generierung von Wissen in dieser Sequenz aufsetzt. - Während Barbara und Anna noch über die Größe der Eichhörnchen diskutieren, rutscht Chrigu auf dem Bänkchen nach vorne, beugt seinen Oberkörper vor (Abb. 40 und 41) und beginnt damit, eine Objektkennung vorzulesen: MuremEltIer- ! MUR! meltiermA: rM: OtA: (.) MAR (.) mA (.) ta. - Dass hier gelesen wird, wird durch eine spezielle wiedererkennbare Leseintonation angezeigt, zusätzlich zu einer äußerst langsamen, syllabierendgedehnten Sprechweise. - Barbara macht die Leseaktivität zu einer gemeinsamen Aktivität, indem sie (nachdem sie mit MURmeltierli schon angezeigt hat, dass sie Chrigu verstanden hat) ebenfalls mit Leseintonation marMOtA, (.) marMOta äußert. So unterstützt sie Chrigus Leseaktivität durch ihr eigenes Lesen als Aktivität (so wie sie vorher das Sehen als gemeinsame Aktivität beim Museumsbesuch unterstützt hat). Die nachgeschobene Korrektur HEISCH das unterstreicht, dass es ihr hier um das genaue Lesen geht: Denn durch das Aufsetzen der Brille, das sie auch noch kommentiert, macht sie deutlich, dass es im Nahbereich etwas zu sehen gibt, für das das Erkennen von Details wichtig ist (muess churz d brÜle ahlegge-, ‘ich muss kurz die Brille aufsetzen’). - Nach dem Aufsetzen der Brille (was von Chrigu beobachtet wird, Abb. 42) lehnt sich Barbara auffällig nach vorne und demonstriert so ihr „Studium“ des Vitrinentexts; Chrigu, Didier und Anna zeigen ebenfalls ihre gemeinsame Orientierung auf den betreffenden Bereich der Vitrine an (Abb. 43). Eine Phase des gemeinsamen ‘fugalen’ und ‘choralen’ Vorlesens 29 beginnt - vielleicht als Reaktion auf Barbaras Unsicherheit beim ersten Lesen (NEI.), das das richtige Lesen zur lokalen Aufgabe gemacht hat. 29 Vgl. Schwitallas „fugales“ und „chorales Sprechen“ (Schwitalla 1992). Wolfgang Kesselheim 224 - Dabei liest Barbara erneut marmota vor, richtet sich auf und kommentiert das_isch dä laTInisch name- (‘das ist der lateinische Name’, Abb. 44). Ihr Sich-Aufrichten scheint für Anna Anlass zu sein, zur nächsten Vitrine weiter zu laufen - unterstützt von der Logik der Vitrine, deren linkester Rand durch die Betrachtung der Eichhörnchen erreicht worden ist. Barbara schiebt ihre Brille hoch (Abb. 45) und zeigt so die Beendigung ihres Lesens an. Der gemeinsame Aufmerksamkeitsfokus löst sich langsam auf. Mit ihrem Vorlesen signalisiert sich die Gruppe gegenseitig, dass sie gerade ein Element des Raums, das sich in ihrem gemeinsamen visuellen Wahrnehmungsraum befindet, lesend nutzen, also als sprachliche Zeichen interpretieren. Durch ihr lautes Lesen - das ja zum Verstehen des Geschriebenen nicht notwendig ist - machen sie ihre kognitiven Prozesse für alle gemeinsam hörbar. Sie zeigen sich an, woran sie „arbeiten“: nämlich am Erwerb der wissenschaftlichen Benennung eines Exponats, das sich im gemeinsamen Wahrnehmungsraum befindet. Wie schon zuvor, lenkt Barbara damit die gemeinsame Aktivität in Richtung Wissenskommunikation. Sie macht das Entziffern der korrekten Benennung des Tierexponats zur gemeinsamen Aktivität und führt auch lateinische Sprache als relevanten Verstehenshintergrund für die zoologische Taxonomie an. Auch wenn sicherlich in diesem Ausschnitt noch mehr passiert: Die Nutzung der Vitrine und des in ihr Arrangierten im Sinne einer speziellen Form von Dauerkommunikation - der Ausstellungskommunikation als Wissenskommunikation - ist hier eine relevante Orientierung. 4. Schluss Die hier analysierten Videoaufnahmen ermöglichen über das Interesse an der Rekonstruktion des Einzelfalls hinaus Einsichten in grundlegende Charakteristika der Interaktion im Museum und die spezielle Rolle, die die bauliche Umgebung und die in ihr präsenten Objekte für diesen Typ von Interaktion spielen. Dieser Schluss vom Besonderen zum Allgemeinen wird dadurch erleichtert, dass die Betreuerin Barbara in den analysierten Daten sicht- und hörbar daran orientiert ist, die Mitglieder ihrer Gruppe in der sozialen Praxis des gemeinsamen Museumsbesuchs zu unterweisen und ihnen dabei auch die angemessene Nutzung des Museumsraums und seiner Objekte nahezubringen. 30 30 Damit soll nicht bestritten werden, dass andere Orientierungen für die gefilmte Interaktion gleichermaßen relevant sind, etwa die Herstellung eines emotional befriedigenden Gruppenerlebnisses oder die Bestärkung emotionaler Bindungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe. Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 225 Das Spezifikum des hier beobachteten Interaktionstyps scheint mir darin zu liegen, dass die Besucher den Museumsraum, speziell: die in ihm aufgestellten Vitrinen und ihre Gegenstände, dazu nutzen, um auf dieser Grundlage interaktiv Wissen über zoologische Sachverhalte zu konstruieren. In genau diesem Sinne handelt es sich bei der Interaktion im zoologischen Museum um einen Fall von Wissenskommunikation, einer Wissenskommunikation, die ganz wesentlich objekt- und raumbasiert ist. In dieser Form von Wissenskommunikation geht es, wie wir sehen konnten, nicht um jedes beliebige zu Wissende, das mit den Objekten verbunden werden kann. Hervorgehoben werden nur bestimmte Wissensverbindungen. So erfolgt die Referenz auf die Tierexponate fast ausschließlich unter dem Aspekt, wie das konkrete Exponat in Begriffen der zoologischen Taxonomie zu fassen ist oder was man ausgehend von einem konkreten Exponat über die Merkmale der repräsentierten Gattung erfahren kann. 31 Neben der gattungsmäßigen Identifizierung der Exponate finden wir die Beschreibung typischer äußerlicher Merkmale, Eigenschaften, bevorzugter Lebensräume usw. sowie Versuche, das Gesehene mit Aussagen über eigene Vorerfahrungen mit der betreffenden Gattung zu verknüpfen (beispielsweise: z züri häts au söttig dette won ich wohne). Ausgangspunkt für die interaktive Generierung von Wissen beim Museumsrundgang ist das Sehen (vgl. etwa du gsEhsch DAS; sie händ FLOSse däzwüsche dinne; oder aso esO gsehnt die usin dem oben präsentierten Material) oder besser: eine fokussierte, konzentierte Form des gemeinsamen Wahrnehmens. Die Herstellung einer Verbindung von (genauer) Wahrnehmung von im Raum präsentierten Objekten zu zoologischem Wissen bildet ein grundlegendes Merkmal der Wissenskonstitution im Rahmen des gemeinsamen Museumsbesuchs. Greifbar wird das etwa daran, dass selbst allgemeine Aussagen zu einer Gattung, die gerade nicht an dem Exponat sichtbar sind, in aller Regel deiktisch an dem Objekt verankert werden. Oder aber daran, dass die körperliche Abwendung von der Vitrine und ihren Objekten sofort die Frage provoziert, ob die betreffende Person überhaupt noch an der gemeinsamen musealen Wissenskonstitution beteiligt ist, selbst wenn sie über die in der Vitrine präsentierten Tiergattungen spricht (siehe Anm. 25 zur Funktion von Annas Abwendung von der Eichhörnchenvitrine). 31 Interessant scheint mir hier der Vergleich zu anderen Arten von Interaktion zu sein, die ebenfalls Bezug auf Objekte in der baulichen Umgebung nehmen, aber völlig anders auf sie Bezug nehmen, so beispielsweise der gemeinsame Supermarktbesuch. In der dort zu beobachtenden Interaktion wird auf Objekte unter dem spezifischen Aspekt ihrer ‘Kaufbarkeit’ referiert (vgl. de Stefani 2009). Wolfgang Kesselheim 226 Formuliert man dieses Charakteristikum der interaktiven Nutzung des Museumsraums und seiner Objekte allgemeiner, kann man sagen, dass die Besucher ihre gemeinsame Wissenskonstitution auf statischen, im Museumsraum „vorgefundenen“, nicht an die Präsenz ihrer Körper gebundenen Dingen aufruhen lassen, die sie als sicht- und lesbare Oberfläche eines „verdauerten“ Kommunikationsprozesses (Ehlich 1994, S. 18f.) interpretieren. Wenn davon die Rede ist, dass die Museumsausstellung Wissen „durch den Raum selbst“ vermitteln könne (Maximea 2002, S. 77), dann ist damit genau diese interpretative Bezugnahme auf Dinge im Raum gemeint, die nicht von den Besuchern in die Interaktionssituation „hineingebracht“ worden sind. Ohne diese Bezugnahme auf Elemente der materiellen Umwelt (Exponate, Textobjekte usw.), wäre die museumsspezifische Art der Wissenskommunikation nicht möglich. Wie aber kann man den Einbezug der materiellen Umwelt und ihrer Bestandteile in die Interaktion im Museum theoretisch fassen? Konkret: Wie beschreibt man, wie die Besucher Elemente ihrer baulichen Umgebung aktivieren und interpretieren, und wie sie ihre materielle Umwelt für ihre gemeinsame Aktivität, den Museumsrundgang, nutzen? Diese Frage(n) lassen sich mit Gewinn unter Rückgriff auf die von Heiko Hausendorf (2010) beschriebenen Aufgaben der ‘Situierung’ in der Interaktion beschreiben. Die museumsspezifische Nutzung der materiell-semiotischen Umwelt kann man meines Erachtens am besten in zwei Schritten beschreiben (die aber keine zeitliche Abfolge implizieren): Die Besucher konstruieren einen gemeinsamen Bewegungsraum (durch die Aufgabe der ‘Ko-Ordinierung’), einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum (durch die Aufgabe der ‘Ko-Orientierung’) und einen gemeinsamen Handlungsraum (durch ‘Ko-Operation’), und sie tun das auf eine wiedererkennbare, museumsspezifische Art und Weise. Auf die einzelnen Aufgaben der Situierung bezogen, heißt das: - Die Beteiligten konstruieren einen gemeinsamen Bewegungsraum, und sie tun dies auf eine Art und Weise, die es anderen (und damit auch uns als Analysierenden) erlaubt, den von ihnen konstruierten Bewegungsraum als einen Bewegungsraum für einen gemeinsamen Museumsbesuch zu erkennen - etwa dadurch, dass sie Vitrinen (also spezifische Bestandteile ihrer materiellen Umwelt) als legitime und relevante Ziele für ihre Bewegungen definieren (siehe oben Kap. 3.1). - Weiterhin konstruieren sie einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum, und sie tun dies auf eine Art und Weise, die es erlaubt, den von ihnen konstruier- Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung 227 ten Wahrnehmungsraum als einen Wahrnehmungsraum für einen gemeinsamen Museumsbesuch zu erkennen - etwa dadurch, dass sie Objekte der materiellen Umwelt, Vitrinen und Exponate, als legitime, für ihre gemeinsame Aktivität relevante Betrachtungsfoki definieren (siehe oben Kap. 3.2). - Schließlich konstruieren sie einen gemeinsamen Handlungsraum, und sie tun dies auf eine Art und Weise, die es erlaubt, den von ihnen konstruierten Handlungsraum als einen Handlungsraum für einen gemeinsamen Museumsbesuch zu erkennen - etwa dadurch, dass sie sich gegenseitig anzeigen, dass bestimmte Elemente des Raums (Exponate und Texte) als semiotische Objekte zu behandeln sind, auf denen die gemeinsame museumsspezifische Wissenskonstitution gründet (siehe oben Kap. 3.3). Der museumsspezifische Interaktionsraum wird also dadurch hervorgebracht, dass allgemeinen Aufgaben der Situierung auf eine musterhafte Weise gestaltet werden (wobei die materielle Umwelt und ihre Bestandteile, wie in den Analysen dieses Beitrags sichtbar geworden ist, eine wichtige Rolle spielen). Diese Konzeptionalisierung der Herstellung des Interaktionsraums für den gemeinsamen Museumsbesuch gestattet es, die Beschreibung dieses konkreten Interaktionstyps an die Forschung zur Konstitution des Interaktionsraums anzuschließen und erlaubt es, die Interaktion im Museum mit anderen Typen von Interaktion zu verlgeichen, in denen die materielle Umwelt, die bauliche Umgebung, Objekte usw. eine herausgehobene Rolle spielen. Entfernt man sich noch einen Schritt weiter von der Rekonstruktion des konkreten Einzelfalls, gilt es festzuhalten, dass die hier durchgeführten Analysen einen Hinweis darauf geben, wie das im Raum „Vorgefundene“, Aspekte der materiellen Umwelt der Interaktion, die nicht von den Interaktanten und ihren Körpern in der Interaktionssituation selbst produziert werden, analysiert werden können, ohne in einen „Raumdeterminismus“ (Mondada) zu verfallen. Hier hat der vorliegende Beitrag gezeigt, dass es fruchtbar ist, das in der materiellen Umwelt Vorgefundene nicht als externen Faktor oder äußere Bedingung zu sehen, der die sich entwickelnde Interaktion determiniert, sondern analytisch zu klären, wie die materielle Umwelt und ihre Bestandteile von den Besuchern für ihre spezifische Interaktion im Museum aktiviert und interpretiert werden. Konkret konnten wir hier beobachten, wie die Teilnehmer eine große Bandbreite „verkörperter“ Ausdrucksressourcen zum Einsatz bringen, um sich für die Zwecke ihres gemeinsamen Museumsbesuchs im Raum zu situieren: Bewegungen und Positionen des Körpers, Körperhaltung, Blicke, deiktische Gesten, sprachliche Äußerungen usw. Wolfgang Kesselheim 228 Andererseits aber wurde ebenso deutlich: Um die Interaktion im Museum verstehen zu können, muss man genauso die ‘historisch sedimentierten Strukturen in der Umwelt’ berücksichtigen, wie Goodwin das am Beispiel der auf den Boden aufgemalten „Kästchen“ eines Himmel-und-Hölle-Spiels vorgeführt hat (siehe oben Kap. 1). Wie gezeigt worden ist, greifen die Interaktionspartner für die Zwecke ihres Museumsbesuchs ganz grundlegend auf das zurück, was im Museumsraum schon vorhanden ist, wenn sie ihn betreten. Die Analysen dieses Beitrags zeigen Raum in der Interaktion also in einer typisch ‘reflexiven’ Figur: als Interpretationsfolie für die Handlungen und Interaktionen, die in dem Raum stattfinden und gleichzeitig als etwas, das erst im Zuge der Konstitutionsaktivitäten der Beteiligten mit ihren verkörperten Ausdrucksressourcen hergestellt (aktiviert, interpretiert, kommunikativ genutzt) wird. 5. Literatur Bal, Mieke (2008): Exposing the public. In: Macdonald, Sharon (Hg.): A companion to museum studies. 4. Aufl. (= Blackwell Companions in Cultural Studies 12). Malden, MA, S. 525-542. Bergmann, Jörg R./ Quasthoff, Uta M. (2010): Interaktive Verfahren der Wissensgenerierung. Methodische Problemfelder. In: Dausendschön-Gay (Hg.), S. 21-34. Bitgood, Stephen (2006): An analysis of visitor circulation. Movement patterns and the general value principle. In: Curator: The Museum Journal 49, S. 463-475. Broth, Mathias (2009): Seeing through screens, hearing through speakers. 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Einleitung 1 Mit der Hinwendung zu multimodalen Aspekten von Face-to-Face Interaktion und dem in den Workplace Studies genährten Interesse an Situationen, in denen Interaktionsteilnehmer sich mobil in ihrer Umwelt bewegen, gerät in jüngster Zeit verstärkt die Dimension ‘Raum’ in den Fokus des interaktionsanalytischen Interesses (z.B. McIllvenny/ Broth/ Haddington (Hg.) 2009). Die räumliche Situierung von sozialer Interaktion wird nicht mehr nur als externer, situativer Kontext beschrieben, sondern die Frage wird relevant, wie Teilnehmer ‘Raum’ in ihrer Interaktion herstellen, sukzessive verändern und als Ressource zur Organisation von Interaktion verwenden. Zur Erforschung dieser Fragen stellen Settings wie ‘Interaktion im Museum’ (vom Lehn/ Heath/ Hindmarsh 2001) und ‘Guided Tours’ (z.B. de Stefani 2010) einen fruchtbaren Untersuchungsgegenstand dar: - Ausstellungsräume in Museen bieten eine bedeutungsvolle materielle Umwelt an, in der Objekte und Artefakte zum Zweck des Betrachtet-Werdens ausgestellt sind und in der Regel durch spezifische Formen der Präsentation als „wertvoll“ ausgewiesen werden. - Menschliche Face-to-Face Interaktion ist auf Mobilität angelegt, da sich Besucher - einzeln, in Kleingruppen oder im Rahmen einer Führung - zum Betrachten und ggf. Manipulieren der Objekte im Raum bewegen müssen. Die interaktionsanalytische Forschung hat einerseits herausgearbeitet, wie Exponate von Besuchern gemeinsam in und durch ihre Interaktion als bedeutungsvoll hergestellt werden (Heath/ vom Lehn 2004) und andererseits darauf hingewiesen, dass die Raumstruktur selbst kommunikative Angebote an die Besucher zur Organisation ihrer Wahrnehmung und Bewegung bereitstellt (Kesselheim/ Hausendorf 2007, Kesselheim 2009). Allerdings gibt es auch Situationen - wie wir sie im vorliegenden Text untersuchen wollen -, in denen der Status von Objekten in einer Ausstellung für die Besucher nicht eindeutig zuzuordnen ist: Im Rahmen einer Museumsführung 1 Der vorliegende Text geht aus dem Projekt Interaktion & Raum hervor, das von der Volkswagenstiftung im Rahmen eines Dilthey-Fellowship (2012-2017) gefördert wird. Karola Pitsch 234 zum Thema ‘Kulturgeschichte des Sports’ behandeln Besucher ein im Raum angetroffenes Objekt - einen Barren - innerhalb von ca. fünf Minuten auf sehr unterschiedliche Art und Weise: mal als Alltagsobjekt (durch Anlehnen), mal als Museumsexponat (durch fokussiertes Betrachten) und mal als Turngerät (durch „Be-Turnen“). Dieser sich - durch die Aktivitäten der Teilnehmer - verändernde Status des Objekts ‘Barren’ verweist zum einen darauf, dass ein Objekt durch seine Materialität verschiedene Nutzungsmöglichkeiten anbietet. Zum anderen wirft es die Frage auf, wie Objekte als Teil räumlicher Arrangements in sozialer Interaktion und durch selbige als bedeutungsvoll konstituiert werden: Wie ist die Konstitution des Interaktionsraums in die lokale Organisation von Aktivitäten und sich verändernder Beteiligungsweisen in einer Gruppeninteraktion eingebunden? Welche interaktiven Praktiken, Verfahren und kommunikativen Ressourcen mobilisieren die Interaktionsteilnehmer dabei? Welche Implikationen haben die Beobachtungen aus einer explorativen Fallanalyse für die Konzeption von Interaktionsraum? Diesen Fragen wird im Folgenden anhand einer Fallanalyse der skizzierten interaktiven Nutzungsgeschichte des Barrens nachgegangen (Kap. 3), wobei der sich verändernde Status des Objekts in drei Etappen rekonstruiert wird (Kap. 4, 5 und 6). Methodisch und konzeptuell wird dabei von den Grundannahmen und dem mikro-analytischen Instrumentarium der ethnomethodologischen Konversationsanalyse ausgegangen. Abschließend werden die Beobachtungen zum Zusammenspiel von interaktiver Beteiligung und Raumkonstitution gebündelt und Implikationen für die Konzeptualisierung von ‘Interaktionsraum’ skizziert (Kap. 7). 2. Hintergrund: Interaktion und Raum 2.1 Multimodalität in der Museumsführung Museen und Ausstellungen bieten eine artefaktreiche strukturierte Umwelt an, die zum Zweck des Betrachtet-Werdens und darüber Kommunizierens geschaffen wurde. Die Interaktion in einem solchen Setting - zwischen Besuchern ebenso wie im Rahmen einer Museumsführung - umfasst also neben verbalsprachlichen Aktivitäten und redebegleitender Gestik insbesondere auch Verweise auf Objekte (bzw. Features von Objekten) und ggf. das Manipulieren derselben. Gleichzeitig ist die Interaktion auf Mobilität angelegt, da sich Teilnehmer gemeinsam und koordiniert durch die Ausstellung bewegen, sich dabei thematisierungswürdige Objekte aufzeigen und vor diesen stehen bleiben, um sie zu betrachten und zu kommentieren. D.h., es entsteht im Verlauf einer Mu- Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 235 seumsführung eine Abfolge an Interaktionsepisoden, in denen eine Gruppe von Teilnehmern sich neu im Raum - in Relation zu Objekten und anderen Menschen - positioniert und einen für die Bearbeitung der aktuellen Aufgabe angemessenen Interaktionsraum herstellt (und sukzessive rekonfiguriert). Um solche Interaktionssituationen angemessen beschreiben zu können, bedarf es zum einen eines konzeptuellen Frameworks, das erlaubt, diese verschiedenen multimodalen Zeichensysteme aufeinander zu beziehen. Goodwin (2000) schlägt hierzu im Rahmen seiner „ecology of sign systems“ vor, die körpereigenen Kommunikationsressourcen und die materiellen Strukturen der Umwelt als „semiotic fields“ zu verstehen, die jeweils lokal wechselnde „contextual configurations“ bilden. Hierbei ist die Dimension des ‘Raums’ zwar prinzipiell angelegt über die Relevantsetzung verschiedener materieller Zeichensysteme (z.B. eines hopscotch grids), wird aber nicht explizit eingeholt. Zum anderen ist ein interaktionistischer Ansatz zum Status von Objekten erforderlich: Heath/ vom Lehn (2004) haben zentral das Betrachten von Exponaten als einen sozialen Prozess beschrieben, in dem sich Besucher gegenseitig aufzeigen, wie sie ein Objekt wahrnehmen. Dabei spielen auch die die Exponate begleitenden Labels und sonstige, unter Umständen technisch mediatisierte Informationen eine wichtige Rolle für die Teilnehmer (vom Lehn et al. 2008, Kesselheim 2010). Teilnehmer stellen mit und durch ihre Interaktion die Sinnhaftigkeit und Bedeutung von Objekten her, so dass es sich um ‘objectsin-action’ bzw. ‘enlivened exhibits’ handelt: The discovery of the objects and their significance arises within the interaction and the contingent and emerging contributions of the participants. What is seen, how it is looked at, and its momentary sense and significance are reflexively constituted from within the interaction of the participants themselves. (Heath/ vom Lehn 2004, S. 60). Während Heath/ vom Lehn zentral die Idee der interaktiven Konstitution des Objekts einbringen, wird hier gleichzeitig vorausgesetzt, dass ein Exponat als solches erkennbar ist. Fälle wie der eingangs skizzierte sich verändernde Status des Barrens, der nicht von vornherein als ein Exponat behandelt wird, sind hiermit noch nicht abgedeckt. In Bezug auf den Aspekt der Mobilität des Settings zeigt sich, wie sich Teilnehmer sequenziell an den Gehbewegungen anderer Besucher orientieren (vom Lehn/ Heath/ Hindmarsh 2001) und wie Museumsführer spezifische grammatische Ressourcen bei der Gestaltung von Übergängen zwischen im Raum verteilten Objekten mobilisieren (Pitsch 2009). Karola Pitsch 236 2.2 Interaktionsraum Das in den letzten Jahren verstärkte Interesse an der räumlichen Dimension von Interaktion (z.B. McIllvenny/ Broth/ Haddington (Hg.) 2009) hat eine Reihe an Konzeptualisierungen von ‘Interaktionsraum’ hervorgebracht, die im folgenden kurz skizziert werden. a) Interaktionsraum als körperliche Konfiguration: Kendon (1990) beschreibt das Herausbilden einer „F-formation“ („facing formation“) als die Situation, in der sich zwei oder mehrere Interaktionspartner so zueinander körperlich ausrichten, dass sich ihre „transactional segments“ (individuelle Bereiche, in denen sie typischerweise Objekte manipulieren bzw. ihre Aufmerksamkeit gerichtet ist) überlappen. Den gemeinsamen, überlappenden Raum bezeichnet er als „o-space“ und den direkt die Teilnehmer umgebenden Bereich als „p-space“. Außerhalb dieser körperlichen Konfiguration befindet sich der „r-space“, dessen Relevanz auf die Funktion einer äußeren ‘Buffer’-Zone für die bestehende Interaktion reduziert wird: and beyond this a much less well defined region or r-space which functions as a buffer, protecting the system from outside influences, and also as a kind of front hall or reception room in which visitors may be dealt with or newcomers greeted before they are fully incorporated into the system itself. (Kendon 1990, S. 234f.) Während die körperliche Ausrichtung der Teilnehmer zueinander und der dadurch entstehende Interaktionsraum bei der Analyse von Museumsführungen empirisch relevant sind, ist dieses Konzept gleichzeitig begrenzt: - Es stellt eine idealisierte Moment-Aufnahme von interaktiver Dynamik dar. Der Prozess der Herstellung und sukzessiven Veränderung des Interaktionsraums bleibt unberücksichtigt (vgl. Müller/ Bohle 2007). - Die Einbettung der Teilnehmer in die materiellen Strukturen der Umwelt wird ausgeblendet. - Die Relevanz des ‘r-space’ wird auf Einflüsse reduziert, die sich außerhalb einer laufenden Interaktion abspielen. b) Raumstruktur als kommunikatives Angebot und mobiliare Benutzbarkeitshinweise: Ausgehend von der materiellen Dimension von Raum und auf der Basis von Fotografien aus musealen Ausstellungsräumen schlagen Kesselheim/ Hausendorf (2007) vor, vorfindbare Raumstrukturen als kommunikative Angebote an die Besucher zu konzeptualisieren. Die materielle Struktur des Raumes stellt Lösungen für wiederkehrende kommunikative Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 237 Probleme bereit, z.B. als Bearbeitung von Aufgaben der Begrenzung, des Herausstellens von Exponaten (‘Figur’ vs. Hintergrund), der Organisation von Bewegung und Wahrnehmung sowie der Binnenstrukturierung (Kesselheim/ Hausendorf 2007, Kesselheim 2009). Dieses wird zunächst losgelöst von der tatsächlichen Benutzung durch die Interaktionsteilnehmer beschrieben und beinhaltet die Vorstellung eines „impliziten“ (d.h. erwarteten, nicht empirischen oder durchschnittlichen) Besuchers. Während diese Konzeptualisierung die in der Interaktionanalyse weitgehend vernachlässigte räumliche Materialität ernst nimmt und linguistische Konzepte wie Textualität und Kontext herausfordert, bleibt die Frage offen, wie Interaktionsteilnehmer tatsächlich mit solchen kommunikativen Angeboten umgehen. - Diesen Ansatz denkt Hausendorf (i.d.Bd.) an anderem Material weiter mit dem Konzept ‘mobiliarer Benutzbarkeitshinweise’: Räume enthalten „vertrautheitsabhängig wahrnehmbare (manchmal sogar lesbare) Hinweise, die durch und mit Interaktion zur Geltung kommen“. Während dieses Konzept an einem Beispiel entwickelt wird, in dem Teilnehmer einen Raum für eine bevorstehende Aktivität neu strukturieren, stellt sich empirisch die Frage, wie Teilnehmer vorhandene Strukturen interpretieren. c) Zusammenspiel von physikalischen Strukturen und interaktiven Herstellungsleistungen: Schmitt/ Deppermann (2007) und Mondada (2007) schlagen eine Konzeption von ‘Interaktionsraum’ vor, die diesen als einen gemeinsamen, interaktiven Herstellungsprozess von Teilnehmern (‘interactive achievement’) versteht, der in die materiellen Strukturen der Umgebung eingeschrieben ist. Ein Interaktionsraum wird lokal für eine anstehende Aufgabe hergestellt und dynamisch rekonfiguriert. Dabei werden die interaktiven Herstellungsverfahren und multimodalen Ressourcen der Teilnehmer herausgearbeitet und die Verortung von Blicken, Gesten und Positionierungen in einer bedeutungsvollen Umwelt berücksichtigt. Eine solche Konzeption ist zentral für unsere Analyse. Empirisch zeigt sich dieses z.B. in der Gesprächseröffnung von Wegerkundigungen, in der sich Teilnehmer aneinander und in Relation zu relevanten Orten ausrichten und dieses in die emergente syntaktische Struktur eingebunden ist (Mondada 2009). Die Untersuchung einer moderierten Diskussionsrunde zum Thema ‘Städteplanung’ zeigt darüber hinaus die interaktive Herstellungsleistung von verschiedenen parallelen in der Interaktion relevanten und in der materiellen Umwelt verankerten Räumlichkeiten (Mondada 2011): einen ‘represented space’ (sprachlich hergestellt), einen ‘interactional space’ (durch die Disposition der Teilnehmer im Raum manifestiert) sowie einen ‘inscriptional Karola Pitsch 238 space’ (den Ort der öffentlichen Mitschrift von Diskussionsbeiträgen). Diese Analyse verweist insbesondere auf die Mehrschichtigkeit von ‘Interaktionsraum’. Dieses wird am Beispiel der Untersuchung der Interaktion am Film-Set ergänzt um den Fokus auf ‘signifikante Objekte’ (wie z.B. eine Filmkamera) als konstitutive Bestandteile eines Interaktionsraums, die durch ihre Benutzung eine eigene Sequenzialität von Handlungen vorschlagen und damit strukturimplikativ für die Herstellung von Raum und Organisation von interaktiver Beteiligung sind (Schmitt/ Deppermann 2007). Insgesamt zeigt sich in jüngster Zeit also eine Ausdifferenzierung von interaktionistischen Raum-Konzepten, die jeweils an spezifischen Daten und mit eigenem Erkenntnisinteresse entwickelt wurden und damit den Vorteil bieten, eine Reihe verschiedener Aspekte exemplarisch zu beleuchten. Ausgehend von diesen ersten empirischen Fallanalysen stellt sich die Frage, inwieweit solche Konzeptualisierungen sich auch an anderen Daten als produktiv erweisen, ergänzt und verfeinert werden können. 2.3 Interaktive Beteiligung Eine Museumsführung ist durch eine spezifische (idealtypische) Teilnehmerkonstellation gekennzeichnet: ein Museumsführer bietet einer Gruppe von Zuhörern Informationen zu bestimmten Exponaten und ihrer kontextuellen Einordnung an. Der Museumsführer übernimmt dabei in der Regel die Initiative für nächste Topics, führt zu betrachtende Objekte ein und wählt einen Parcours durch das Museum, während die Besucher seinen Orientierungshinweisen folgen und als ‘audience’ seinen Erklärungen zuhören. In diese Basisstruktur integriert gibt es eine Reihe von Verfahren, mittels derer Besucher aktiver in die Präsentation des Führers involviert werden, ebenso übernehmen sie selbst auch stellenweise die Initiative für neue Topics und stellen Fragen. Das heißt, es gibt eine grundlegende Beteiligungsstruktur, die einen primär Informationen anbietenden Experten und eine primär rezipierende Zuhörerschaft umfasst. Eine multimodale Sicht auf solche Teilnehmerkonstellationen hat insbesondere den Rezipienten als einen aktiven Ko-Partizipienten in den Blick gerückt: Seine Beteiligungsweisen äußern sich vorrangig in Blicken, Körperpositur und Verankerung in den materiellen Strukturen des Raumes (Goodwin/ Goodwin 2004: „embodied participation“). Dabei wurde gezeigt, wie auch die nichthörbaren Teilnehmer-Aktivitäten strukturell implikativ für die Interaktion und Emergenz von Gesprächsbeiträgen sind (Goodwin 1979). Gleichzeitig sind Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 239 die Besucher in einer Museumsführung nicht als eine homogene Kategorie aufzufassen, sondern als Individuen mit jeweils unterschiedlicher Aufmerksamkeitsorientierung, eigenen zeitlichen Relevanzstrukturen und Eingebundenheit in z.T. parallel laufende andere Aktivitäten (vgl. zur Unterrichtskommunikation Pitsch 2006, Pitsch/ Ayaß 2008). Bei der Analyse ist also eine Ausdifferenzierung der Zuhörerschaft - die „audience diversity“ (Goodwin 1986) - zu berücksichtigen. Eine solche Diversifizierung der Teilnehmer ins Zentrum rückend und mit der räumlichen Dimension verbindend leistet Schmitt (i.d.Bd.). Am Beispiel der Interaktion am Film-Set mit seinen komplexen, hierarchie- und funktionsgebundenen Beteiligungsstrukturen wird der Zusammenhang von Partizipation und Raum herausgearbeitet: Es gibt Fokus-Personen, um die herum sich - basierend auf ‘mutual monitoring’ und ‘availability display’ - funktional gebundene Teilnehmer-Konstellationen lokal herausbilden, die konzeptuell als ‘Interaktions-Ensembles’ gefasst werden. In Bezug auf Museumsführungen stellt sich die Frage, wie sich die verschiedenen Beteiligungsweisen der Teilnehmer in ihrer Nutzung und Herstellung des Interaktionsraums manifestieren. Wie verändert sich die Strukturierung des Interaktionsraums mit verändertem Teilnehmer-Display? 3. Fallbeispiel: Der Barren als Museumsexponat, Alltagsobjekt und Turngerät Die Grundlage der empirischen Analyse bilden drei kurze Interaktionsepisoden, die sich nacheinander in einer Zeitspanne von ca. fünf Minuten im Rahmen einer geführten Museumstour ereignen: Eine siebenköpfige Besuchergruppe wird im Historischen Museum von einer Mitarbeiterin des Hauses durch die aktuelle Sonderausstellung zur Kulturgeschichte des Sports geleitet. 2 Der Parcours führt über mehrere chronologisch geordnete Stationen hin zum Thema ‘Arbeitersportvereine im 19. Jahrhundert’. Nach ca. 22 Minuten wird ein neuer Raum betreten, in dem sich neben Wandtafeln, Bildern, Fahnen, Pokalen und Kleidungsstücken eine Reihe „ältlich“ anmutender Sportgeräte befinden: ein Barren, ein Pauschenpferd und eine Hürde. Ausgangspunkt für unsere Analyse ist die Beobachtung, dass die Teilnehmer - innerhalb von knapp fünf Minuten - den Barren auf sehr unterschiedliche Weise nutzen und ihm dadurch lokal einen jeweils verschiedenen Status zuschreiben: 2 Es handelt sich um die Ausstellung SportGeist. Die Kulturgeschichte von Turnen und Sport in Westfalen im Historischen Museum der Stadt Bielefeld (13.04.-07.09.2008). Aufgrund des mobilen Settings wird die Gruppe von zwei Personen mit je einer Handkamera gefilmt. Die Kameras verfügen über eine unterschiedliche Aufnahmequalität (HD vs. DV), was sich in Größe und Qualität der Standbilder im Text widerspiegelt. Karola Pitsch 240 - einige Besucher lehnen sich zunächst an den Barren an, während sie den Ausführungen der Museumsführerin zu einem anderen Exponat lauschen (#24.06); - dann rückt der Barren in den Aufmerksamkeitsfokus der Gruppe und wird ausgiebig betrachtet (#25.52); - schließlich geht ein Besucher kurzzeitig am Barren in den Stütz und vollführt mit einer anderen Besucherin partnerschaftliche Turnübungen (#28.29). Das heißt: Ein im Raum angetroffenes Objekt wird durch die Aktivitäten der Teilnehmer mal als Alltagsobjekt (durch Anlehnen), mal als Museumsexponat (durch fokussiertes Betrachten) und mal als Turngerät (durch „Be-Turnen“) behandelt. 24.06 25.52 28.29 Alltagsobjekt (Anlehnen) Museumsexponat (Fokussiertes Betrachten) Turngerät (Gemeinsames ‘Be-Turnen’) Bild 1: Nutzung des Barrens durch die Teilnehmer der Museumsführung Diese Nutzungsgeschichte des Barrens ist insofern bemerkenswert und relevant für die Konzeptualisierung von ‘Interaktionsraum’ als sie prototypisch auf die Notwendigkeit eines dynamisch-interaktiven Konzepts von ‘Raum’ verweist. Der Barren wird hier in der Interpretation der Teilnehmer als ein multidimensionales Objekt erkennbar, dem - je nach situativer und interaktiver Herstellung - unterschiedliche Aufmerksamkeit, Bedeutung und Funktion zugewiesen wird. Damit stellt sich die Frage, wie diese unterschiedlichen Bedeutungen und Kategorisierungen des Objekts durch die multimodalen Aktivitäten der Teilnehmer hergestellt werden. Da der Barren als Bestandteil eines Ausstellungsraums kein isoliertes Objekt darstellt, wollen wir kurz das ihn umgebende räumliche Arrangement skizzieren: An den umliegenden Wänden befindet sich eine Ansammlung von be- Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 241 schrifteten und bebilderten Wandtafeln, gerahmten Bildern, Medaillen, Fahnen und Wimpeln, alter Sportkleidung etc., die ausgewiesen werden als wertvoll (Abschirmung durch Glas), bemerkenswert (mit Beschriftung versehen) und zur Betrachtung einladend (auf Sockel stehend, gerahmt, zentriert im Raum positioniert und von allen Seiten begehbar, durch Licht in Szene gesetzt). Die Objekte ‘Barren’, ‘Pauschenpferd’ und ‘Hürde’ hingegen sind nicht mit diesen typisch musealen Attributen ausgestattet. Das heißt: Die Teilnehmer finden hier keine museumstypischen Hinweise auf „Nicht-Berühren“ als relevante „category-bound activity“ (Sacks, dargestellt in Schegloff 2007) für den Umgang mit dem Objekt ‘Barren’ vor. Bild 2: Skizze des Ausstellungsraums Den Eingang zu dieser Ausstellungsfläche bildet eine breite Tür mit massiven, weit geöffneten Holzflügeln, deren Durchgang mit einem vertikal geschlossenen und mit einer fotografierten historischen Turnhallenszene bedruckten Lamellenvorhang geschützt ist. Diese Gestaltung markiert nicht nur die dahinter liegende Ausstellungsfläche als einen eigenständigen Raum, sondern bietet dem Besucher auch den optischen Eindruck des Eintretens in eine alte Turnhalle. Diese materielle Kontextualisierung wird von der Museumsführerin vor dem Betreten des Raumes aufgegriffen und verbal hergestellt: Sie lädt die Besucher ein, ihr in die „Turnhalle“ zu folgen und diese durch das „Turnhallentor“ zu betreten. Durch diese materielle und interaktive Kategorisierung wird den Besuchern - noch vor der ersten Begegnung mit dem Objekt ‘Barren’ - der nächste zu betretende Raum als ein hybrider Ort angeboten: ein musealer Ausstellungsraum, der gleichzeitig an die alltagsweltlichen Erfahrungen der Besucher anknüpft Karola Pitsch 242 und damit verschiedene Typen von relevanten Aktivitäten im Umgang mit dem Barren ermöglicht - solche, die sich auf den Kontext ‘Turnhalle’ beziehen und solche, die sich auf den Kontext ‘Museum’ beziehen. Durch die Gestaltung der Ausstellungsfläche und dessen einführende Kontextualisierung durch die Museumsführerin sind also die beobachteten unterschiedlichen - und in der Materialität des Barrens gründenden - Nutzungsweisen des Barrens prinzipiell als relevante Handlungen im Umgang mit dem Objekt angelegt. In der folgenden Analyse wird daher herauszuarbeiten sein, wie diese verschiedenen Nutzungsweisen konkret in der Interaktion zustande kommen und welche Aktivitäten und interaktiven Ressourcen dabei verwendet werden. 4. Der Barren als Alltagsobjekt: Beteiligungsstatus und Interaktionsraum Der Chronologie der interaktiven Nutzungsgeschichte des Barrens folgend untersuchen wir zunächst den ersten Fall, in dem der Barren von den Teilnehmern als ein Alltagsobjekt behandelt wird, d.h. als ein Möbel, das sich zum Abstützen und Anlehnen während der Erläuterungen der Museumsführerin eignet. 4.1 Herstellung einer Konfiguration zur Betrachtung des Exponats ‘Fahne’ Wir steigen in die Analyse der Interaktion ein, nachdem die Gruppe den neuen Ausstellungsraum (die sog. Turnhalle) betreten hat. Während die Besucher zunächst im Eingangsbereich stehen bleiben, lenkt die Museumsführerin (im Transkript 3 als „F “ abgekürzt) ihre Aufmerksamkeit auf ein ausgewähltes Objekt: eine Fahne, die in der linken Ecke des Raumes unter der Decke befestigt ist. Dann geht sie in die linke Raumecke vor, kehrt zu den noch im Eingangsbereich verharrenden Besuchern zurück, dreht sich zur Fahne um und bietet diese als ein zu betrachtendes Objekt an: 3 Die Transkription folgt für die Verbalsprache den GAT-Konventionen (Selting et al. 2010) und wird für die Ebene der sichtbaren Aktivitäten um die folgenden Annotationen erweitert (siehe ausführlicher Pitsch 2006): Die multimodalen Teilnehmer-Aktivitäten werden in Zeilen für Verbalsprache (X-v), Blick/ ‘Gaze’ (X-g) und Aktivitäten (X-a) notiert. Dabei wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit keine Vollständigkeit angestrebt, sondern es werden nur die an dieser Stelle in der Analyse relevanten Annotationen aufgeführt. Für die Notation der Blickorganisation und der sonstigen körperlichen Aktivitäten wird unterschieden zwischen Momenten, in denen eine Orientierung/ Positur eingenommen wird (@Fahne, @Besucher) und Übergängen zwischen diesen (~~~). Die Standbilder sind nach dem jeweiligen Time- Code des Videos benannt (Minute.Sekunde.Millisekunde). Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 243 Fragment 1: 01 F-v: |SO; (-) .h und zwar habe ich eben auf diesem F-g: |@Besucher ... 02 F-v: FRISCH FROMM FRÖHLICH FREI 03 F-v: |auch so’n |bisschen rumgeritten, F-g: |~~~~~~~~~~|@Fahne ... 04 F-v: |WEIL(.) wenn sie da |OBen auf der FAHNE gucken F-a: |bückt sich, zeigt auf Fahne ... |#20.56.99 05 F-v: die von der .h |ARbeiterturnerschaft |ist, F-a: ... |geht zur Fahne |zeigt 06 F-v: das ist |#die SCHWARZ-rot-GOLdene HIER, (-) |#21.00.89 07 F-v: steht da, (.) FRISCH |FREI |STARK TREU. F-g: ... | |@Besucher #20.56.99 #21.00.89 Karola Pitsch 244 Sie fordert dabei die Besucher verbal (Z. 04: gucken) und körperlich-gestisch (#20.56.99, #21.00.89: gebückte Körperhaltung, Deixis) zur Aktivität des ‘Anschauens’ auf und benennt sukzessive markante Eigenschaften der Fahne (Farbe, Aufschrift). Damit setzt sie das Objekt ‘Fahne’ für die Teilnehmer relevant und bietet es als ein museales Exponat an. Diese Orientierungsangebote werden von den Besuchern beantwortet, indem sie ihren Blick zur Fahne wenden (Marc in #20.56.99; Katja und Jan in #21.00.89) und sich nach und nach in Richtung des linken Raumbereichs in Bewegung setzen (Marc in #21.00.89, alle anderen in #21.08.06 unten). Während die Besucher nach und nach herantreten (#21.08.06), beginnt die Museumsführerin, die historischen Zusammenhänge zu erläutern, für die die Fahne exemplarisch steht (Z. 08-11). Die Gruppe positioniert sich schließlich so an die Führerin anschließend, dass alle Teilnehmer freie Sicht auf das indizierte Objekt haben (#21.12.93): im rechten Winkel zur Fahne in zwei nach hinten spitzwinklig zulaufenden Reihen entlang der Wand bzw. eines Mauervorsprungs. 08 F-v: .h das haben die ARbeiterturner ABgewandelt; F-g: ... 09 F-v: |also weil natürlich dann jeder auch guckt, |#21.08.06 10 F-v: dass es ehehzur eigenen eh- |politischen | F-g: ... |~~~~~~~~~~~~| 11 F-v: |ausrichtung passt (-)| F-g: |@Fahne |#21.12.93 #21.08.06 Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 245 #21.12.93 Das heißt, die Besucher steigen in die von der Führerin vorgeschlagene Aktivität ‘Betrachten einer Fahne’ ein, konstituieren gemeinsam die Fahne als ein zu betrachtendes museales Exponat und nehmen dafür durch die Ausrichtung ihrer Körper und Blicke eine angemessene räumliche Konfiguration ein. Der in Kapitel 3 beschriebene Barren spielt dabei zunächst noch keine Rolle für die Teilnehmer. 4.2 Heterogenität in der Beteiligungsweise der Gruppe Abseits des Fokus der Gruppe auf das Exponat ‘Fahne’ wird das Objekt ‘Barren’ für einzelne Teilnehmer in dem Maße relevant, in dem sie sich zeitweise aus der fokussierten Gruppenaktivität heraus orientieren. Bei der Herstellung der Gruppen-Konfiguration fällt auf, dass sich fünf Besucher gemeinsam mit der Museumsführerin auf die Fahne ausrichten, während zwei Besucherinnen eine andere Orientierung einnehmen: Nachdem Tina (im Transkript als „T “ abgekürzt) die anfängliche Ausrichtung auf die Fahne mit vollzogen hat, wendet sie ihren Blick zur Seite, sobald die Führerin mit der Erläuterung des historischen Kontexts beginnt (Z. 08, siehe oben #21.08.06): 08 F-v: .h das haben die Arbeiter|turner |ABgewandelt; T-g: @Fahne |~~~~~~~|@Wand 09 F-v: |also weil natürlich dann jeder auch guckt, |#21.08.06 Dieses zeigt, dass Tina sich - durch ihr Mitgehen und Positionieren - an der Herstellung der aufgabenbezogenen Gruppen-Konfiguration orientiert, gleichzeitig aber auch den Übergang von den Orientierungshinweisen auf die Fahne zur historischen Erläuterung als einen möglichen Moment für eine Verände- Karola Pitsch 246 rung ihrer Beteiligungsweise behandelt. Tatsächlich ist - nachdem die Features der Fahne beschrieben worden sind (Z. 05-07) - ein permanenter Blick zur Fahne nicht unbedingt erforderlich, um den historischen Erläuterungen der Führerin folgen zu können. Ebenso betrachtet Else (im Transkript abgekürzt als „E“) beim Annähern die Fahne (siehe oben #21.08.06), tritt dann aber nicht in die sich bildende Konfiguration ein, sondern positioniert sich - in Hörweite - vor einer anderen Wandtafel hinter dem Wandvorsprung (#21.12.93). 09 T-v: |also weil natürlich dann jeder auch guckt, E-g: |@Fahne ... |#21.08.06 10 T-v: dass es |ehehzur |eigenen ehpolitischen E-g: ... |~~~~~~~~~~~~|@Wandtafel E-a: |Gang zu Wandtafel 11 T-v: |ausrichtung passt (-)| E-a: |umgreift Holm des Barrens |#21.12.93 # 21.12.93 Elses Zugang zur Wandtafel wird durch Igor (in seiner Position in der Gruppen-Konfiguration) und durch den Barren erschwert. Bei ihrem „Umrundungsmanöver“ des Barrens stützt sie sich am ihr zugewandten Holmende ab (#21.12.93), wodurch sie den Barren in ihrem ersten spontanen Zugang - ähnlich wie Igor in #20.56.99 - nicht als ein wertvolles, unberührbares Ausstellungsexponat behandelt, sondern als ein Möbel zum Abstützen. Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 247 Wenn die Museumsführerin anschließend ihre erste Erläuterung reformuliert (Z. 12-16), lösen sich zwei weitere Besucher aus der bisherigen gemeinsamen Fokussierung: zunächst Jan mit Blick zur Wandtafel/ Vitrine (Z. 12, #21.17.41), dann Hans mit Gang zum Barren (Z. 14, #21.18.67). 12 F-v: euhm (-) |JA wurde das dann hier eben .h euh H-g: @Fahne ... J-g: @Fahne |@Wandtafel ... 13 F-v: |angeange|glichen, H-g: |@Fahne |~~~~~~~ |#21.17.41 14 F-v: |dass |eben auch noch dieses dieses |STARKE H-g: |@Barren H-a: |Gang zu Barren |#21.18.67 15 F-v: und dieses |TREUE zueinander halten dazu H-a: ... |Auflehnen ... 16 F-v: kommen soll; | |#21.21.98 Auf den Einstieg in die Reformulierung und Hesitationen (Z. 12-13) reagierend orientiert sich Hans zunächst per Blick zum rechts von ihm stehenden Barren (#21.17.41), massiert seinen Rücken und begibt sich zum Barren (#21.18.67), stützt sich mit den Armen auf dem vorderen Holm ab und nimmt damit für ca. 10 Sekunden eine Rücken-Dehn-Pose ein (#21.21.98). Wenn die Führerin am Ende der Reformulierung (Z. 16) ihren Blick von der Fahne löst und wieder den Besuchern zuwendet, dann findet sie eine veränderte, im Raum manifestierte Beteiligungsstruktur ihrer Zuhörer vor: Nur noch Marc, Igor und Katja schenken ihr visuelle Aufmerksamkeit, während die anderen Besucher die aktuelle Situation als einen Moment definieren, in dem sie sich anderen geräuschlosen Neben-Aktivitäten zuwenden können. Ca. 10 Sekunden später dreht sich Hans wieder zur Gruppe um und lehnt sich seitlich an den Barren an (#21.52.52). Da Else - die sich zuvor außerhalb der Gruppenkonfiguration eine andere Wandtafel angesehen hat - mittlerweile in diese Konfiguration eingetreten ist, schließt Hans' neuer Standort direkt an die übrigen Teilnehmer an. Karola Pitsch 248 #21.17.41 #21.18.67 #21.21.98 #21.52.52 Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 249 Es zeigt sich also, dass die Besuchergruppe keine homogene Zuhörerschaft darstellt, sondern sich die Beteiligungsweisen der Besucher individuell und in Relation zu den Aktivitäten der Führerin (Orientierung auf ein Objekt, Erläuterung des historischen Kontexts, Reformulierung) verändern. Die Beteiligungsweise der Besucher äußert sich im Eintritt bzw. Austritt aus der auf eine aktuelle Aufgabe ausgerichteten Gruppen-Konfiguration - sowohl per Blick als auch durch Körperbewegung und Positionierung im Raum. Dieses erfolgt in Relation zu strukturell markanten Stellen in der Präsentation der Führerin und führt zu Parallelaktivitäten, die lautlos und in Hörweite ausgeführt werden. Damit stellt sich die Frage, was in einer solchen mehrschichtigen Situation als ‘Interaktionsraum’ beschreibbar ist. Einerseits stellen die Teilnehmer eingangs mit der Einnahme der auf die Betrachtung der Fahne ausgerichteten Konfiguration innerhalb der vorgefundenen materiellen Strukturen einen für die aktuelle Aufgabe angemessenen Interaktionsraum her. Dieser behält für eine gewisse Zeit seine Gültigkeit und bleibt lokal ein ‘stabiler Kernbereich’, solange die Führerin und ein Teil der Besucher in der eingenommenen Konfiguration verbleiben und sich die - aus diesem Bereich heraustretenden Besucher - daran orientieren. Diese Orientierung zeigt sich bei Tina darin, dass sie trotz anderweitiger visueller Aufmerksamkeit (auf das Gedicht an der Wand) eine Position in der entstehenden Konfiguration einnimmt und aufrecht erhält. Bei Else wird sie dadurch sichtbar, dass sie - nach ihrer individuellen Besichtigung der Wandtafel - in die bestehende Konfiguration eintritt und die körperliche und visuelle Ausrichtung der anderen Teilnehmer übernimmt. Da sie sich beim Betrachten der Wandtafel durchaus in Hörweite der Führerin befand, hätte sie auch von dort weiter den verbalen historischen Ausführungen lauschen können. Ebenso tritt Hans nach dem Rückendehnen wieder in die Konfiguration ein, indem er sich wieder umdreht und den Blick zur Führerin wendet. Auch die Museumsführerin liefert zu diesem Zeitpunkt - parallel zur historischen Darstellung - weiterhin gestische Orientierungshinweise auf die Fahne und setzt damit die Ausrichtung der Gruppe relevant. Daneben gehören auch die von den einzelnen, aus der Gruppenfokussierung aussteigenden Besuchern einbezogenen Bereiche der Ausstellungsfläche zum Interaktionsraum dazu, haben aber einen anderen Status für die Gruppe: Sie werden von einzelnen Teilnehmern einbezogen, ohne dass sich daraus strukturelle Relevanzen für die übrigen Gruppenmitglieder ergeben. Indem sich auch die übrigen Teilnehmer nicht auf diese Bereiche ausrichten, behandeln sie sie als peripher für die Interaktion der Gruppe (was sich zu einem anderen Zeitpunkt ändern und Karola Pitsch 250 zu einer Rekonfiguration der Konstellation und des Raumes führen könnte). Damit ergibt sich - aus der Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive - ein mehrschichtiges Konzept von Interaktionsraum, das sowohl Stabilität und Dynamik als auch einen Kern und periphere Bereiche umfasst. Insbesondere der von Kendon (1990) als „r-space“ beschriebene Bereich erweist sich als viel komplexer und relevanter für die aktuelle Interaktionsgruppe als die Beschreibung als ‘Buffer’-Zone vorschlägt. Im Rahmen der individuellen Besucheraktivitäten werden bis dahin von der Gruppe unbeachtete materielle Strukturen - wie der Barren - für einzelne Teilnehmer relevant. Im intuitiven, spontanen Zugang verschiedener Besucher (Else, Hans) wird der Barren als Alltagsobjekt genutzt, an dem man sich abstützt, um es zu umrunden, sich den Rücken dehnen oder rücklings anlehnen kann. 4.3 Adressierung und Implikationen für die Beteiligungsweise Im Anschluss an Hans' neue Positionierung löst eine Besucherfrage eine weitere Verschiebung der Konfiguration aus, bei der sich auch Jan und Katja an den Barren anlehnen: Den Moment, in dem die Museumsführerin den Übergang zu einem neuen Objekt ankündigt, nutzt Marc, um eine Frage zu stellen: warum hat man denn gerade das FRÖHlich gestrichen (Z. 01-03). Während er dieses erläutert (Z. 04-09), wendet sich die Museumsführerin ihm per Blick und Schritt nach vorn zu (#21.52.21). Ähnlich zu Kapitel 4.2 hat auch diese primäre Aufmerksamkeitszuwendung zu einem Individuum (bzw. Abwendung von den anderen Besuchern) Implikationen für die Beteiligung der anderen Teilnehmer. Fragment 2: 01 F-v: (.) u: : nd euhm (.) | |JA, M-v: |frage, | 02 M-v: warum hat man denn dann gerade das 03 M-v: |FRÖHlich gestrichen, |#21.52.21 04 M-v: also, FRÖHlich |ist ja jetzt |wenn man F-v: |((lacht )) J-g: |zur Seite Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 251 05 M-v: sich’s (-) geNAU überlegt,| eigentlich F-v: ... | J-g: |@Glaskasten 06 M-v: |das-| |das wort was ich jetzt nicht F-v: |ja: , | |#21.57.25 07 M-v: unbedingt mit turnvater jahn verbinden 08 M-v: würde; das schien ja alles sehr straff 09 M-v: organisiert; und euhm- | F-v: |ja: , 10 F-v: .h ja, das ist ne gute frage; #21.52.21 #21.57.25 Jan wendet seinen Blick von der Führerin ab und schaut sich die im Glaskasten ausgestellten Objekte an (Z. 04ff., #21.57.25). Er behandelt damit die Situation als eine primäre Interaktion zwischen Marc und der Führerin und definiert seinen Beteiligungsstatus als den eines ‘overhearers’ (Goffman 1981, S. 132) - zuhörend teilnehmend, aber nicht direkt involviert. Als eine Nachfrage Marcs diese Konstellation verlängert, orientiert sich Jan neu: Er blickt und geht zum Barren, betrachtet ihn zunächst genauer und befühlt dann dessen vordersten Holm (#22.46.73). Damit begibt auch er sich - analog zu Hans in Kapitel 4.2 - aus der Gruppen-Konfiguration heraus und zeigt sichtbar seine nachlassende direkte Involviertheit bei der Erklärung. Karola Pitsch 252 #22.46.73 Durch Jans Übergang entsteht eine neue Situation in Bezug auf das Objekt ‘Barren’: Während Else und Hans bisher den Barren zum Abstützen bzw. Anlehnen verwendet haben, verleiht Jan dem Objekt nun - durch sein genaues Inspizieren - erstmals den Status eines musealen Exponats: ein Objekt, das genau betrachtet wird und dessen besondere Eigenschaften (wie z.B. Oberflächenbeschaffenheit des Holms) inspiziert werden. Standbild #22.46.73 zeigt dabei, dass diese beiden unterschiedlichen Verwendungsweisen - als Alltagsobjekt vs. als museales Exponat - zeitgleich nebeneinander erfolgen können. Während Jan den vorderen Holm des Barrens inspiziert, lehnt sich Hans daran an. Gleichzeitig schafft Jans „Abwandern“ auch für die Teilnehmerin Katja eine neue Situation: Sie steht nun allein in der Raummitte zwischen den anderen an der Barrenseite aufgereihten Besuchern, Museumsführerin und den von ihr in den Vitrinen relevant gesetzten Exponaten (#22.46.73). #22.48.56 #22.56.87 Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 253 Als die Führerin einen Schritt auf Katja zugeht, um auf ein weiteres Objekt in der Vitrine zu zeigen (#22.48.56), löst dieses auch bei Katja eine räumliche Neuorientierung aus: Sie gibt den Platz vor der Vitrine frei und folgt Jan zum Barren (#22.48.56). Jan, der mittlerweile wieder vom Barren zurückgetreten ist und diesen weiter betrachtet, und Katja lehnen sich nun sukzessive und miteinander koordiniert an den Barren an und richten dann ihre visuelle Aufmerksamkeit wieder auf die von der Museumsführerin relevant gesetzten Objekte (#22.56.87). Damit verschiebt sich die Konfiguration der Teilnehmer erneut und der Barren wird nun durch das rückwärtige Anlehnen zu einer Begrenzung des Interaktionsraums. 4.4 Fazit Die Analyse hat gezeigt, - dass und wie sich die interaktive Beteiligungsweise der Teilnehmer in ihrer Nutzung der materiellen Strukturen und des Raumes niederschlägt. Dabei wurde sichtbar, dass die Besuchergruppe keine homogene Zuhörerschaft darstellt, sondern sich die Beteiligungsweisen der Besucher individuell und in Relation zu den Aktivitäten der Führerin (Orientierung auf ein Objekt, Erläuterung des historischen Kontexts, Reformulierung) verändern. Dabei wurde rekonstruiert, - wie sich Teilnehmer - wenn sie als Individuen vorübergehend aus einer fokussierten Gruppen-Konfiguration ausbzw. einsteigen - an dieser Konfiguration orientieren. Damit ergibt sich - aus der Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive - ein mehrschichtiges Konzept von Interaktionsraum, das sowohl Stabilität und Dynamik als auch einen Kern und periphere Bereiche umfasst. Insbesondere der von Kendon (1990) als „r-space“ beschriebene Bereich erweist sich als viel komplexer und relevanter für die aktuelle Interaktionsgruppe als die Beschreibung als ‘Buffer’-Zone vorschlägt. - In Bezug auf den Barren als ein in der Ausstellungsfläche vorgefundenes und von der Museumsführerin zunächst nicht relevant gesetztes Objekt lässt sich festhalten, dass die Besucher es in ihren individuellen, spontanen Zugängen auf unterschiedliche Art und Weise behandeln: einerseits als Alltagsobjekt, an dem man sich abstützen, um es zu umrunden, sich den Rücken dehnen oder rücklings anlehnen kann (Else, Hans, Jan, Katja); andererseits verleiht Jan diesem Objekt - parallel zur ersten Nutzungsweise - durch genaues visuelles und taktiles Inspizieren zeitgleich auch vorüber- Karola Pitsch 254 gehend den Status eines Exponats. Der Barren bietet also parallel verschiedene „mobiliare Benutzbarkeitshinweise“ (Hausendorf i.d.Bd.) an. Um dem Barren - innerhalb der Museumsausstellung - den Status eines musealen Exponats zu verleihen, ist kommunikative Arbeit erforderlich. 5. Der Barren als Exponat: Ko-Orientierung und Herstellung eines musealen Fokus-Objekts Während im ersten Fall der Barren außerhalb des gemeinsamen Gruppenfokus von den Besuchern nach und nach zum Anlehnen/ Abstützen benutzt wird, entsteht ca. eine Minute später eine neue Konstellation: Der Barren wird redefiniert als ein museales Exponat, um das herum die Gruppe eine neue Konfiguration bildet. Im Folgenden untersuchen wir, wie die Vorbereitung und Projektion einer neuen Äußerung in die materiellen Strukturen des Raumes eingebunden ist. 5.1 Orientierung auf das Objekt ‘Barren’ Wie am Ende von Kapitel 4 gezeigt, stehen die Besucher gegenüber der Vitrinen-Seite aufgereiht, einige von ihnen rücklings an den Barren angelehnt. Die Museumsführerin steht ihnen gegenüber und erläutert nach und nach einige in der Vitrine befindliche Objekte. In dieser Ausgangskonstellation führt sie das Objekt ‘Barren’ als ein neues Topic ein. Sie blickt und zeigt auf den ihr gegenüberliegenden Barren (#25.03.50) und beginnt zu formulieren: sie stehen da alle so schön an den BARren angelehnt, (Z. 01-04). Fragment 3: 01 F-v: .hh |und euh: |SIE stehen da ALle F-g: |@Barren F-a: |point@Barren |#25.03.50 02 F-v: so schön an den BARren angelehnt, 03 F-v: |euh können sie |auch ruhig, F-a: ~~~~~~~~~~~~~~ |@Wand |#25.05.53 04 F-v: |.h eu: hm |.hh |~~~~~~~~ |@Barren |#25.07.67 Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 255 #25.03.50 #25.05.53 #25.07.67 Zum einen werden die verschiedenen Körperposituren der Besucher (Rücken anlehnen; Ellenbogen aufstützen; Hand aufstützen) mit der Teilnehmerkategorie ‘Anlehnen’ beschreibbar. Zum anderen behandeln die Besucher dieses unmittelbar als das Ankündigen eines neuen Themas: Marc, Tina und Igor wenden ihren Blick zum Barren; Katja, die genau im Zielpunkt der Zeigegeste steht, tritt einen Schritt vor und dreht sich um (#25.05.53). Die Art, wie die Besucher den Barren frei geben - zwar unverzüglich, aber in normaler Geschwindigkeit - wird nicht als eine Entschuldigung für Fehlverhalten gestaltet, sondern als das routinierte Befolgen eines Orientierungshinweises. Diese Einschätzung wird unmittelbar von der Führerin bestätigt: sie ratifiziert das Anlehnen als eine ‘legitime Aktivität’ (euh können sie auch ruhig). Dennoch richten sich drei Sekunden später auch Jan, Hans und Else vom Barren auf und drehen sich um, Igor zieht seine abstützende Hand zurück (#25.07.67). Else vollzieht ebenfalls die Orientierung auf den Barren mit und umgreift dabei den vorderen Holm. Dieses zeigt verschiedene Teilnehmer-Praktiken beim Betrachten eines Objekts: - Anschauen im Sinne von Distanz herstellen vs. - Anschauen kombiniert mit taktiler Erfahrung des Objekts) Karola Pitsch 256 5.2 Topic ‘Barrenstreit’ und wechselnde Orientierung Anschließend benennt die Museumsführerin das neue Topic: und zwar gab es einen ! BARREN! strei: t; (Z. 05-07). Dabei geht sie einen Schritt auf den Wandvorsprung (auf dem in Augenhöhe ein Gedicht angebracht ist) zwischen Tina und Marc zu (#25.08.90). Die Besucher, die sich in unmittelbarer Nähe befinden - Marc, Tina und Igor - folgen ihrer Blickrichtung mit einer Kopfdrehung zum Wandvorsprung (#25.09.67). Am Ende dieser Äußerung blickt sie zurück zum Barren, was von Igor direkt mitvollzogen wird (#25.10.31): 05 F-v: |und |zwar gab es |einen |! BARREN! |strei: t; F-g: |~~~ |@Wand |~~~~~ |@Barren |#25.08.90 |#25.09.67 |#25.10.31 #25.08.90 #25.09.67 #25.10.31 Anschließend setzt sie mit um DEN gerade auch noch zu erwähnen; fort, wobei sie erneut zum Wandvorsprung blickt. Dieses veranlasst Marc dazu, hinter den Wandvorsprung zurückzutreten (im aktuellen Standbild daher Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 257 nicht sichtbar) und damit den Zugang zum Gedicht freizugeben. Igor, Tina und nun auch Else reagieren, indem sie sich zur Wandtafel hinter dem Barren umwenden. 06 F-v: um um DEN gerade auch |noch zu erwähnen; F-g: ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ @Gedicht |#25.11.87 #25.11.87 Die verbale Einführung des Topics ‘Barrenstreit’ wird also durch die wechselnden Aufmerksamkeitsfoki und Gehbewegungen im Raum verortet und von den Teilnehmern kleinschrittig mit vollzogen und gespiegelt. In dem Maße, in dem sie sich zwischen dem Barren, dem Wandvorsprung (mit Gedicht) und der Wandtafel hinter dem Barren orientiert, übernimmt die Gruppe diese vorübergehende Doppelorientierung: Sowohl die Ausrichtung der Körper (insbesondere der Füße) als auch der visuellen Orientierung ist in dieser Übergangsphase in der Gruppe heterogen (#25.11.87). Nicht nur ist hier eine Konfiguration in der Umorientierung begriffen, sondern es werden dabei auch eine Reihe unterschiedlicher Objekte von den Teilnehmern einbezogen und damit zum Teil des Interaktionsraums. Die Analyse der Fortsetzung dieser Episode wird die wechselnden Aufmerksamkeitsfoki der Museumsführerin als Vorbereitung der kommenden Erläuterung und Projektion der dazu benötigten materiellen Ressourcen erkennbar werden lassen. 5.3 Multifunktionale Position und Einlösen der materiellen Projektion während der Erläuterung Dann folgt eine kurze Phase der verbalen Hesitation im Formulierungsfluss der Führerin (Z. 07: e: : hm tsk. Hh), an deren Ende sie nun erstmals eine stabile Positur einnimmt (beide Füße auf der Erde, Arm verschränkt, eine Hand vor dem Körper zum Gestikulieren) und die projizierte Erklärung zum ‘Barren- Karola Pitsch 258 streit’ beginnt (#25.15.51): ja dieser barrenstreit zäumte sich eben auch wieder daran auf was man denn jetzt unter dem sport versteht (Z. 10-13). 07 F-v: (1.5) e: : hm tsk. Hh | F-g: ~~~ @Barren ... |#25.15.51 08 F-v: ja; dieser barrenstreit zäumte 09 F-v: sich eben AUCH wieder daran auf 10 F-v: <<len> was man jetzt unter dem 11 F-v: |spo: rt verste: ht.> |#25.19.55 #25.15.51 #25.19.55 Diese erneute Orientierung auf den Barren und die damit (für diese Interaktionsphase) einhergehende neue Stabilität veranlasst die Besucher, ihre Aufmerksamkeit nun wieder auf den Barren bzw. die Führerin zu richten (#25.15.51); Marc tritt hinter dem Wandvorsprung hervor und nähert sich ansatzweise den anderen Gruppenmitgliedern (#25.19.55). Damit beginnt die Gruppe, eine Konfiguration mit einem gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herzustellen. Lediglich Else steht zu diesem Zeitpunkt noch in der Mitte dieses so konstituierten Raumes, nah am Barren und inspiziert ihn, löst aber nun ihre Hand vom vorderen Holm (#25.19.55). Der Barren erhält durch die verbale Ankündigung barren und barrenstreit und die körperlichen Aktivitäten aller Teilnehmer (Zurücktreten, Umdrehen, Blickzuwendung, Holm loslassen) einen neuen Status: er wird als ein museales Exponat herausgestellt. Die von der Museumsführerin gewählte neue Positionierung erweist sich als multifunktional für die folgende Erläuterung: Sie erlaubt die primäre Fokussierung auf den Barren und gleichzeitig leichten Zugriff auf das zuvor kurz Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 259 betrachtete Gedicht am Wandvorsprung. Dieses wird im weiteren Verlauf ihrer historischen Erläuterung relevant, wenn die Führerin einen Punkt des Zögerns im Formulierungsfluss erreicht (Z. 01-04): Fragment 4: 01 F-v: es gab in inin BERlin ein euheuhm hm; 02 F-v: ja; ein ein |sporteuh wie nannte sich das |#25.29.32 03 F-v: muß ich grad mal erst nachlesen; irgendwie; 04 F-v: irgendwie sportminister war′s nicht, 05 F-v: <<liest> ZENTRAL TURNanstalt in BERLIN; > so; 06 F-v: und das war der LEITER; 07 F-v: .hh u: nd euhm |(.) DER fand euhm (.) |#25.35.26 08 F-v: dass euh euhm dem BARREN eigentlich kein euhm 09 F-v: pädagogischer wert beizumessen ist; #25.29.32 #25.35.26 Bei der Wortsuche nach der Amtsbezeichnung eines zentralen Protagonisten ihrer Story (Z. 03-04) mobilisiert sie nun die zuvor etablierten materiellen Ressourcen: Sie geht einen Schritt auf den Wandvorsprung zu und liest vom dort angebrachten Gedicht die gesuchte Bezeichnung vor: ZENTRAL TURNanstalt in BERLIN; so; und das war der LEIter; (Z. 05-06; #25.29.32). Wenn sie anschließend ihre Erläuterung fortsetzt, dann kehrt sie in ihre vorherige auf den Barren orientierte Ausgangsposition zurück (Z. 07-09, #25.35.26), die damit als eine räumliche Home-Position (Sacks/ Schegloff 2002) erkennbar Karola Pitsch 260 wird. Damit wird die Wortsuche systematisch in die Materialität des Raumes eingeschrieben und die anfängliche wechselnde Orientierung erkennbar als Projektion und das antizipierende Zusammenstellen von Ressourcen, die im Bedarfsfall während der Erläuterung mobilisiert werden können. 5.4 Herstellen einer stabilen Orientierung Bei der Fortsetzung ihrer Erläuterung lenkt die Führerin wieder den Fokus auf den Barren: verbal (Z. 08), und sie geht parallel dazu einen Schritt vorwärts auf den Barren zu (#25.38.77): 07 F-v: .hh u: nd euhm (.) DER fand |euhm (.) F-a: |Schritt zu Barren 08 F-v: dass euh |euhm dem BARREN eigentlich kein F-a: ... | |#25.38.77 09 F-v: |euhm (.) pädagogischer wert beizumessen ist; |#25.40.84 #25.38.77 #25.40.84 Dieses löst eine Veränderung in der Formation der Gruppe aus: Hans tritt einen Schritt zurück (#25.40.84, oben), Katja folgt und reiht sich zwischen Hans und Jan ein (#25.45.74), worauf schließlich auch Else aus der Gruppenmitte heraustritt und sich zwischen Hans und die Führerin einordnet (#25.51.51). 10 F-v: .h weil euh das BAR|RENturnen eben nicht so |#25.45.74 11 F-v: recht jetzt inindiese militärische Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 261 12 F-v: körperertüchtigung rein passt; | |#25.51.51 13 F-v: .h u: : nd euhmes gibt sozusagen ... #25.45.74 #25.51.51 Auf diese Weise entsteht - durch das minutiöse, sequenzielle Koordinieren mit den körperlichen Bewegungen benachbarter Teilnehmer - eine halbkreisförmige Konfiguration, die auf die Betrachtung des Barrens als Fokus-Objekt ausgerichtet ist. Damit wird der Barren durch die gemeinsame - verbale, körperliche und räumliche - Aktivität der Teilnehmer als ein zu fokussierendes Museumsexponat hergestellt. Eingangs (Z. 01-02) zwar als Fokus-Objekt eingeführt (sie stehen da alle so schön am BARRen angelehnt) wird erst jetzt die Ko-Orientierung auf den Barren tatsächlich vollzogen. Die so hergestellte Konfiguration wird von den Teilnehmern für die folgende Erläuterung zum Thema ‘Barrenstreit’ aufrecht erhalten. Auch wenn die Führerin ca. eine Minute später erneut an den Wandvorsprung herantritt und Zeilen aus dem dort angebrachten Gedicht vorliest, verbleiben die Besucher in dieser Formation. Die Besucher behandeln die Konstellation also für die Bearbeitung des Themas ‘Barrenstreit’ relevant und orientieren sich - durch ihr eigenes Stehenbleiben - an der Konfiguration und verleihen ihr damit (für diese Aufgabe) Stabilität. Seinen Status als museales Exponat verliert der Barren erst ca. 1: 30 Minuten später, als die Museumsführerin einen Themenwechsel projiziert: das ist jetzt eigentlich auch die überleitung dazu dass die frauen anfangen im sport sich mit breit zu machen während sie zur gegenüberliegenden Seite der Ausstellungsfläche blickt. Igor reagiert als erster auf diese Projektion, indem er sich nun wieder erneut auf dem Barren abstützt (#27.29.94). Dieser wird damit aus dem Kontext ‘museales Exponat’ herausgelöst und wieder als ‘Alltagsobjekt’ nutzbar. Karola Pitsch 262 #27.29.94 Hiermit findet sich ein Hinweis darauf, dass die Besucher sich auch bei der Beendigung von Aktivitäten am Zusammenhang von Aufgabenbearbeitung und der Konstitution des Interaktionsraums orientieren. 5.5 Fazit Die Analyse hat den Prozess und die Verfahren rekonstruiert, mittels derer das Objekt ‘Barren’ interaktiv zu einem musealen Exponat wird. Das Herstellen einer gemeinsamen Orientierung auf ein Fokus-Objekt erfolgt dabei in enger Mikro-Koordinierung zwischen der Museumsführerin und den Besuchern, die sich an der wechselnden Orientierung der Führerin kleinschrittig ausrichten und sie direkt mitvollziehen. Diese wechselnde Orientierung (auf den Barren, auf den Wandvorsprung mit Gedicht, auf die Wandtafel) erweist sich als Vorbereitung der Erläuterung und Projektion von materiellen Ressourcen, die im weiteren Verlauf der Erklärung mobilisiert werden können. 6. Der Barren als Turngerät: Neue Handlungsoptionen in der Peripherie des Interaktionsraums Nach der Betrachtung des Barren und der Bearbeitung des Topics ‘Barrenstreit’ leitet die Führerin die Besucher in die rechte Raumecke. Der Exponat-Status des Barrens wird dabei aufgehoben. Die Besucher gehen am Barren vorbei und positionieren sich - mit dem Rücken zum Barren - neu, um sich anderen Objekten zuzuwenden. In dieser Situation entsteht der dritte Fall der Nutzung und interaktiven Status-Zuschreibung des Barrens: Marc und Tina verwenden ihn zunächst als ein partnerschaftliches Turngerät bevor er für Tina zu einem ‘festen Standpunkt’ wird, von dem aus sie das weitere Interaktionsgeschehen beobachtet. Dieses verweist darauf, dass die Peripherie des Interaktionsraums und insbesondere die Entfernung der Teilnehmer zum Zentrum neue Beteiligungsweisen ermöglichen und das - in Kapitel 4 und 5 aufgezeigte - Prinzip Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 263 der räumlichen Mikro-Koordinierung der Zuhörer in Relation zum Fortschritt der Erläuterungen durch das Nutzen bestimmter materieller Ressourcen im Raum lokal außer Kraft gesetzt werden kann. 6.1 Parenthese und Eröffnung von neuen Beteiligungsweisen Wenn die Teilnehmer sich zum Betrachten weiterer Exponate in der rechten Raumecke positionieren, bilden sie eine Halbkreisformation, deren Ausdehnung nach hinten durch den Barren begrenzt wird. Die Besucher beachten den Barren zwar nicht bzw. setzen ihn nicht relevant, aber sie orientieren sich am Vorhandensein seiner materiellen Struktur, wenn sie ihre Plätze in der entstehenden Halbkreisformation einnehmen. Dieser begrenzende Charakter wird besonders plastisch, wenn Tina - während sie den Ausführungen der Museumsführerin zuhört - versehentlich mit dem Oberarm an den Barren anstößt: Sie wendet sich kurz zur „Störquelle“ um und stützt schließlich den rechten Ellenbogen locker auf dem rechten Holm ab (#28.06.00). Der Barren wird also wieder von den Teilnehmern als Alltagsobjekt in den Raum integriert und damit für verschiedenste Aktivitäten nutzbar (analog zu Kap. 4). Fragment 5: 01 F-v: JA: ; also man kann sagen dass das so grob (.) 02 F-v: FUFFzig, sechzig siebzig jahre SPÄter war 03 F-v: nachdem die männer ehm OFFIziell das turnen 04 F-v: anfingen, .h kamen die ersten FRAUEN dazu, 05 F-v: .hh u: nd euhm |(.) |#28.05.51 #28.05.51 Karola Pitsch 264 Mit dieser Zuhörer-Konstellation und aus der laufenden Erklärung heraus leitet die Museumsführerin eine Parenthese ein, bei der sie ankündigt, einen weiteren Passus aus dem bereits zuvor rezitierten Gedicht zum ‘Barrenstreit’ vorzulesen (Z. 06-13). Dazu tritt sie aus der aktuellen Konfiguration heraus und geht zur vorherigen linken Raumecke zurück (#28.15.76). 06 F-v: ACH SO; ich wollte EBEN aber noch die ZEILE 07 F-v: vorlesen, wo es dann da auch darum geht, 08 F-v: euhm dass eh die FRAU sich sozusagen jetzt 09 F-v: die HOSEN anziehen soll; 10 F-v: ichich les ihnen das DOCH noch vor, 11 F-v: ich fand das gedicht |jetzt eben zu lang, |#28.15.72 12 F-v: aber (3.0) eu: hm |(.) .hm (3.0) |#28.19.43 #28.15.72 Die Teilnehmer reagieren hierauf a) mit einer Neu-Orientierung, und b) derart, dass sie sie ebenfalls als eine Parenthese organisieren: Sie halten ihre Positionen im Raum weitgehend aufrecht, wobei sie Kopf und Oberkörper in die Richtung der Führerin wenden („body torque“, Schegloff 1998). Tina allerdings dreht sich mit ihrem ganzen Körper zur Museumsführerin um, wodurch sie frontal vor der offenen Seite des Barrens zwischen den Holmen steht. Dieses eröffnet neue Nutzungsmöglichkeiten des Objekts: beide Arme seitlich auf den Holmen abzustützen und damit „in“ den Barren hineinzutreten (#28.19.43). Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 265 #28.19.43 Diese Situation wird von Marc für Anschlusshandlungen genutzt, durch die Tinas bisherige Beteiligungsform eines aufmerksamen Zuhörers sukzessive transformiert wird: Marc umfasst die Enden der beiden Holme und drückt sich hinter Tina am Barren in den Stütz (#28.25.37), so dass sie sich zu ihm umschaut (#28.28.60). Diesen Blickkontakt behandelt Marc als einen ‘go ahead’ und beginnt, Tina mit den Knien anzustupsen (#28.30.04). 13 F-v: DEUTSCHE JUNGfrau WEG das ARMband, 14 F-v: in die HO: SE, AUS dem ROCKE,| |#28.25.37 15 F-v: aus dem STRECKstütz in den ARMstand, 16 F-v: nun die FLANKE, sehr gut; danke,| |#28.28.60 17 F-v: deutsches mädchen HOCKE; |HOCKE; |#28.30.04 #28.25.37 #28.28.60 #28.30.04 Karola Pitsch 266 Das heißt, Marc schließt hier an Tinas eigentliche Zuhörerpositur „im“ Barren an und transformiert diese in eine gemeisame, mit der Führung konkurrierende Handlung. Auf diese Weise wird der Barren zu einem partnerschaftlichen Turngerät und zu einer Ressource für die Beziehungsarbeit zwischen Marc und Tina. 18 F-v: SO; also es ging darum jetzt auch den 19 F-v: eitlen TAND |Abzulegen, (.) |#28.32.77 20 F-v: in die HOSE zu gehen, 21 F-v: ABER wenn man mal kuckt, 22 F-v: so von den |JÜNGsten FOtos her, |#28.37.25 23 F-v: hier und auch da, 24 F-v: das ERSTE turnen der damen war noch im KLEID, Wenn die Führerin am Ende der Gedichtlektüre wieder in die alte, vorübergehend suspendierte Konfiguration zurückkehrt (#28.32.77), verändern Tina und Marc umgehend ihre Beteiligungsweise und re-orientieren sich wieder auf die Aktivität ‘Museumsführung’: Marc springt vom Barren und re-integriert sich in die Halbkreisformation der Gruppe (#28.37.01), Tina dreht sich um mit Gesicht zur Führerin, belässt aber beide Arme in aufgestützter Haltung im Barren. Damit re-definieren sich Tina und Marc wieder als aufmerksame Besucher und Zuhörer. #28.32.77 #28.37.25 Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 267 Somit lässt sich bezüglich des Konzepts ‘Interaktionsraum’ eine neue Konstellation einer weit auseinander gezogenen Konfiguration erkennen, die - als Parenthese ausgewiesen - nur auf kurze Zeit angelegt ist. Diese Konstellation eröffnet neue Beteiligungsmöglichkeiten für die Zuhörer: Teilnehmer erlauben sich eine kurze „Auszeit“, in der die ausgeführten Handlungen - ähnlich zu „Nebenkommunikation“ im Schulunterricht - in Konkurrenz mit der offiziellen Handlung stehen. 6.2 Der Barren als Ressource für die Einnahme einer stabilen Position in der Peripherie Die Materialität des Barrens und die von Tina eingenommene Position zwischen den Holmen erweist sich im weiteren Verlauf der Führung als Ressource für eine stabile Zuhörer-Position. In den vorangehenden Abschnitten haben wir gezeigt, wie die Zuhörer jeweils kleinschrittig auf die in den multimodalen Aktivitäten der Führerin enthaltenen Orientierungsangebote (siehe Kap. 4 und 5) reagieren und diese - in den meisten Fällen - sukzessive mitvollziehen. Demgegenüber ermöglicht Tinas Position „im“ Barren nun, diese Strukturimplikationen zu suspendieren. Während die anderen Teilnehmer jeweils sukzessive die nächsten, von der Führerin angebotenen Objektrelevantsetzungen mitverfolgen und sich dabei jeweils neu im Raum positionieren, bleibt Tina während der nächsten Stationen der Gruppe an ihrer Position im Barren stehen (#28.55.23, #29.37.08 und #30.33.29). #28.55.23 Karola Pitsch 268 #29.37.08 #30.33.29 Dabei zeigen die Standbilder, dass sich die Gruppe auch an Tinas neuer Position orientiert: Die anderen Teilnehmer lassen teilweise eine Lücke, durch die Tina freie Sicht auf die von der Museumsführerin vorgestellten Exponate hat (vgl. besonders deutlich #29.37.08) Dass Tina trotz ihrer fixierten Position im Barren als aktive Zuhörerin an der Führung teilnimmt, zeigt sich in dem Moment, in dem ihre Position keinen geeigneten Zuhörer-Standort mehr darstellt. Wenn die Führerin die Besprechung eines neuen, weiter entfernten Objekts zu initiieren beginnt (03-04), löst sich Tina antizipierend und pro-aktiv aus dem Barren und re-integriert sich physisch in die Gruppe (#30.52.18). Fragment 6: 01 F-v: auf jeden fall sind das auch übungen 02 F-v: für die man auch kraft braucht dann Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 269 03 F-v: .hh JAA; (.) soviel vielleicht erstmal dazu, 04 F-v: zu den FRAUen im sport,| (.) euhm- (.) |#30.52.18 05 F-v: wenn wir in DIESE ecke hier kommen, #30.52.18 6.3 Fazit Im betrachteten dritten Fall wird dem Barren zunächst der Status eines Turngeräts zugeschrieben. Damit lässt sich bezüglich des Konzepts ‘Interaktionsraum’ eine neue Konstellation einer weit auseinander gezogenen Konfiguration erkennen, die - als Parenthese ausgewiesen - nur auf kurze Zeit angelegt ist. Diese Konstellation eröffnet neue Beteiligungsmöglichkeiten für die Zuhörer, z.B. das „Be-Turnen“ des Barrens. Während in den vorangegangenen Episoden jeweils der vordere Holm des Barrens von den Teilnehmern genutzt wurde (zum Umgreifen, Befühlen, Anlehnen), gerät Tina hier durch Umwenden zur Museumsführerin in eine neue Position: Sie befindet sich „im“ Barren zwischen den beiden Holmen, was den Ausgangspunkt für die Nutzung als Sportgerät bildet. Darüber hinaus ermöglicht diese Position im weiteren Verlauf die die Möglichkeit, Strukturprinzipien der räumlichen Mikro-Koordinierung der Zuhörer mit der Museumsführerin (d.h. das kleinschrittige räumliche Mitverfolgen von Aktivitäten und Bewegungen) vorübergehend zu suspendieren. Damit werden Materialität und Struktur des Barrens nicht nur zu einer Ressource für die Darstellung von Beteiligungsstatus, sondern erhalten strukturelle Implikationen für die Interaktion. Karola Pitsch 270 7. Zusammenfassung und Implikationen Wir sind im vorliegenden Text von der Beobachtung einer sukzessive verschiedenartigen Nutzung eines Objekts - dem Barren - während einer Museumsführung ausgegangen und sind der Frage nachgegangen, wie sich in drei aufeinander folgenden Interaktionsepisoden 1) der Status des Objekts ‘Barren’ durch die jeweiligen körperlich-multimodalen Nutzungsaktivitäten der Teilnehmer verändert und 2) wie sich im Umgang mit dem Barren die Beteiligungsweisen der Teilnehmer manifestieren. Die Analyse hat Ergebnisse und Implikationen auf drei Ebenen erbracht: 1) Ausdifferenzierung und räumliche Verortung von Konzepten interaktiver Beteiligung: Die Besucher in einer Museumsführung müssen sich permanent als Zuhörer zu erkennen geben, wobei neben in der Interaktionsforschung beschriebenen typischen Display-Formen wie verbales Feedback (‘continuers’) und Nicken hier besonders die Orientierung im Raum und seine Nutzung relevant wird. Diese erfolgt als ein kleinschrittiges Ausrichten an den verbalen und körperlichen Orientierungshinweisen der Museumsführerin. Die Daten liefern erste Hinweise auf spezifische Momente, die die Teilnehmer als relevante strukturelle Möglichkeiten für eine Veränderung ihrer Beteiligungsweise (insbesondere den Ausstieg aus einer gemeinsamen Fokussierung) behandeln: den Übergang vom Fokussieren auf ein spezielles Exponat zum Darstellen seines historischen Kontexts, bei der Beantwortung einer Besucher-Frage oder bei Reformulierungen. Bei der Herstellung von Ko-Orientierung auf ein Fokus-Objekt ist diese Mikro-Koordinierung zwischen Museumsführerin und Besuchern besonders deutlich: Während die Führerin bei der Vorbereitung ihrer kommenden Erläuterung auch durch ihr Raumverhalten die materiellen Ressourcen bereit stellt, die im Folgenden relevant werden, vollziehen Besucher diese Antizipation minutiös in ihrem eigenen Raumverhalten mit. Demgegenüber ermöglichen bestimmte Formen der Positionierung und der Nutzung von Objekten im Raum - hier: Tinas Position im Barren -, diese Anforderungen lokal außer Kraft zu setzen und eine - für eine gewisse Zeit - stabile Beobachterrolle einzunehmen. Dabei wurde deutlich, dass eine Besuchergruppe keine homogene Zuhörerschaft darstellt, sondern sich die Beteiligungsweisen der Besucher individuell unterscheiden und verändern und in dieser Heterogenität zu untersuchen sind, da eine solche Mehr-Personen-Konstellation spezifische Anforderungen an die Teilnehmer stellt. Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät 271 2) Konstitution von Objekten im Interaktionsraum: Heath/ vom Lehn 2004 haben gezeigt, dass die Bedeutung von Museumsexponaten in und durch Interaktion hergestellt wird (‘objects-in-inter action’). Unsere Daten zeigen, dass eine solche Konzeptualisierung sogar noch einen Schritt früher anfangen muss: Für Besucher ist es in einigen Fällen nicht grundsätzlich eindeutig, welche materiellen Strukturen überhaupt ein Exponat darstellen. Das bedeutet auch, dass die Konzeptualisierung von Raumstrukturen als „kommunikative Angebote“, die anhand eines „implizierten Betrachters“ rekonstruierbar sind (Kesselheim/ Hausendorf 2007, Kesselheim 2009), zwar den wichtigen (häufig zu kurz gekommenen) Vorzug besitzen, den Fokus explizit auf die materielle Beschaffenheit des Raumes zu legen, aber andererseits Schwierigkeiten z.B. bei der Scheidung von ‘Figur’ vs. ‘Hintergrund’ erst in der Interaktion von konkreten Teilnehmern sichtbar werden. Der Status von Objekten im Raum wird erst durch konkrete interaktive Verfahren hergestellt und kann sich lokal innerhalb kurzer Zeit verändern. Das Beispiel des Barrens zeigt, dass ein Objekt eine Reihe verschiedener „mobiliarer Benutzbarkeitshinweise“ (Hausendorf i.d.Bd.) ent-halten kann, die jeweils lokal vom ausgeführten Aktivitätstyp abhängen. Der erste, intuitive Zugang der Besucher zum Barren involviert alltagstypische Behandlungen wie Anfassen, Abstützen oder Anlehnen, wodurch der Barren mal als Hindernis, mal als begrenzende Wand erkennbar wird. Die Konstitution des Barrens als ein museales Exponat erfordert demgegenüber einen höheren kommunikativen Aufwand, der - sobald diese Fokussierung erfolgt - allerdings (in dieser Gruppe) genau so reibungslos erfolgt. Die sukzessive Veränderung des Status des Barrens innerhalb von nur fünf Minuten ruft dazu auf, stärker die Dynamik und Veränderungen in solchen Statuszuschreibungen einzubeziehen. Die spezifischen Verfahren, mit denen Objekte als Exponate hergestellt werden, sind in Zukunft weiter zu untersuchen. 3) Interaktionsraum - Dynamik vs. Stabilität und Kern vs. periphere Bereiche: Mit der Untersuchung der Verfahren der interaktiven Konstitution des Objekts ‘Barren’ rückt auch die Frage nach der Konzeptualisierung von Interaktionsraums in den Blick. Wir haben aufgezeigt, dass Teilnehmer sich einerseits an der vor allem durch Körperausrichtung hergestellten fokussierten Konfiguration einer Gruppe von Teilnehmern orientieren, andererseits außerhalb dieser Konfiguration individuell andere Objekte einbeziehen, ohne dass dieses unmittelbare strukturelle Implikationen für die übrigen Besucher mit sich brächte oder diese sich daran orientieren wür- Karola Pitsch 272 den. Das bedeutet - aus der Rekonstruktion der Teilnehmerperspektive heraus formuliert - wird ein mehrschichtiges Konzept von Interaktionsraum benötigt, das sowohl Stabilität und Dynamik als auch einen Kern und periphere Bereiche umfasst. Insbesondere der von Kendon (1990) als „r-space“ beschriebene Bereich erweist sich als viel komplexer und relevanter für die aktuelle Interaktionsgruppe als die Beschreibung als ‘Buffer’- Zone vorschlägt. 8. Literatur De Stefani, Elwys (2010): Reference as an interactively and multimodally accomplished practice. Organizing spatial reorientation in guided tours. In: Pettorino, Massimo et al. (Hg.): Spoken communication. Newcastle, S. 137-170. Goffman, Erving (1981). Footing. In: Goffman, Erving: Forms of talk. Philadelphia, S. 124-159. Goodwin, Charles (1979): The interactive construction of a sentence in natural conversation. In: Psathas, George (Hg.): Everyday language. Studies in ethnomethodology. New York, S. 97-121. 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HIER; (---) 34 VO: rne’ Mit „Machen“ ist das zentrale Fachspezifikum von Chemieunterricht bezeichnet, das zunächst noch ganz allgemein der Tatsache Rechnung trägt, dass Chemie de facto realisiert werden muss, sei es im Einsatz einzelner Objekte oder in der Durchführung komplexer Experimente. Das „Machen“ ist per definitionem an Materialität und Räumlichkeit gebunden und kann davon losgelöst nicht gedacht werden. Wann immer die Beteiligten im Chemieunterricht Objekte arrangieren, auf- oder wegräumen, wann immer sie Chemikalien einsetzen, umgießen oder anzünden, wann immer sie auf dem Pult oder den Labortischen Experimente durchführen, gehen sie im Raum mit Raum um. Qua Funktionsrolle obliegt das „Machen“ von Chemie in erster Linie dem Lehrer. Als zentrale „Fokusperson“ (Schmitt/ Deppermann 2007) steht er unter der kontinuierlichen Beobachtung der Schüler und agiert immer unter der Voraussetzung von „Wahrnehmungswahrnehmungsstrukturen“ (Hausendorf 2003). Dieser Aspekt ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium für das „Machen“ im Chemieunterricht und das „Machen“ von Chemie im Laboratorium. Der Lehrer „macht“ Chemie nicht zur eigenen Erkenntnisgewinnung, Eva-Maria Putzier 276 sondern um den Schülern fachspezifisches Wissen zu vermitteln und zu lehren. Sein „Chemie-Machen“ ist permanent sichtbar und kann und soll von den Schülern wahrgenommen werden. Wenngleich die Wahrnehmungsrichtung und der Fokus auf das zentral im Raum verankerte Lehrerpult bereits in der Architektur des institutionell vorstrukturierten Raums angelegt ist (Breidenstein 2004, Hausendorf 2008), muss der Lehrer die Wahrnehmung der Schüler im Bezug auf seine Kernaktivität kontinuierlich strukturieren. In der Regel befindet sich auf dem Lehrerpult eine Fülle fachspezifischer Gegenstände, die aufgrund ihrer Position im Raum zunächst alle unter „Wahrnehmungsverdacht“ stehen. Durch sein Verhalten und sein praktisches Tun verdeutlicht der Lehrer den Schülern, welche der zahlreichen Gegenstände im Rahmen eines Versuches zu beobachten sind. Hinzu kommt, dass nicht alle Aktivitäten des Lehrers der Kernaktivität zuzurechnen sind und als solche von ihm gerahmt werden müssen. Oftmals weisen praktische Versuchsphasen Sequenzen auf, in denen der Lehrer anderen Relevanzen nachgeht, wie etwa der verbalen Erarbeitung von versuchsrelevantem Wissen. Die grundsätzliche, lehrerseitige Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung manifestiert sich in der konkreten Interaktionssituation jeweils in einer spezifischen Form des „Chemie-Machens“. Im Rahmen von Unterrichtsphasen, die durch die Realisierung von Experimenten gekennzeichnet sind, erhalten die Aktivitäten des Lehrers demonstrative Qualität und stehen im Dienste der Wissensvorführung oder -demonstration. Das „Chemie-Machen“ kann im Rahmen solcher Versuchsphasen daher als „Vorführen“ spezifiziert werden. Im ausgewählten Videoausschnitt führt der Lehrer den Schülern mithilfe eines gemeinsam erarbeiteten Versuchsaufbaus den Nachweis von Alkohol vor. Dabei stehen nicht alle seine Aktivitäten im Dienste des „Vorführens“, und er muss den Schülern explizit verdeutlichen, ob bestimmte Aktivitäten diesem Aspekt zuzuordnen sind oder nicht. Das „Vorführen“ von Chemie verweist wie sein strukturell übergeordnetes Pendant „Machen“ auf Raum. Nur auf der Grundlage räumlicher Relevanzen kann Chemie vorgeführt werden. Dabei stellt der Raum nicht nur eine Ressource dar, der sich der Lehrer zur Realisierung seiner Handlungszwecke bedient, sondern er wird auch in Form räumlicher Kontingenzen evident: Der Lehrer ist den vorliegenden räumlichen Strukturen zwangsläufig ausgesetzt, wenngleich er sie für seine handlungspraktische Zielorientierung produktiv nutzen kann. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 277 Der kontinuierliche Umgang in und mit Raum manifestiert sich in seinem gesamten Verhalten und schreibt sich in seiner Multidimensionalität in allen den Interaktionsbeteiligten zur Verfügung stehenden Ausdrucksebenen ein. 2. Konzeptuelle Vororientierung Mit dem Konzept ‘Demonstrationsraum’ wird ein Beitrag zu bisherigen Raumkonzepten in der einschlägigen multimodalen Forschung geleistet. Im Hinblick auf die „Wahrnehmungswahrnehmung“ (Hausendorf 2003) in Lehr- Lern-Interaktionen ergeben sich unterschiedliche Raumbereiche, die für das Konzept des ‘Demonstrationsraums’ wesentlich sind. Zunächst wirkt sich der Klassenraum als institutionell vorstrukturierter Raum, in dem das ‘Vorne’ und ‘Hinten’ bereits architektonisch angelegt sind (vgl. Breidenstein 2006, Hausendorf 2008), organisierend auf die Wahrnehmungsrichtung der Schüler aus. Die Schüler konstituieren gemeinsam mit dem Lehrer innerhalb dieses physikalisch-territorialen Raumes einen „Interaktionsraum“ (Mondada 2007, i.d.Bd.), in dem sie sich in unterschiedlichen körperlich-räumlichen Konstellationen, „formations“ (Kendon 1977, 1990), handelnd aufeinander beziehen und ihre Wahrnehmung auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten (vgl. auch „Interaktionsensemble“; Schmitt i.d.Bd.). Das Lehrerpult bildet als sedimentiertes, gemeinsames ‘Vorne’ das Zentrum der Schülerwahrnehmung, die Streeck (1983, S. 46) als „fokale Zone“ bezeichnet. Die fokale Zone ist ganz wesentlich durch die Position der „Fokusperson“ (Schmitt/ Deppermann 2007), d.h. des Lehrers bestimmt, der „einen Anspruch auf die Aufmerksamkeit aller Anwesenden“ (Streeck 1983, S. 46) erhebt. Genau diesen Anspruch erhebt der Lehrer auch für den ‘Demonstrationsraum’, der einen Teil der fokalen Zone darstellt, jedoch durch die lokale Organisation des Experiments eingegrenzt ist. Im Rahmen des Experiments stellt der Demonstrationsraum ein von der Fokusperson teilautonomes Bezugssystem dar (vgl. Kap. 6), das eine qualifizierte Form der Wahrnehmung impliziert: Im Sinne der Epistemologie des Experimentes gilt es, die Aktivitäten im ‘Demonstrationsraum’ zu „beobachten“, d.h. die visuelle Wahrnehmung für den Zweck der Wahrheitsgewinnung zu nutzen (vgl. „symbiotische Mechanismen“; Luhmann 1984, S. 337f.). Der ‘Demonstrationsraum’ ist ein empirisch entwickeltes Konzept, das den in der Einleitung skizzierten Dimensionen von Räumlichkeit und Materialität, d.h. der Wahrnehmungsstrukturierung, den räumlichen Relevanzen und der spezifischen Kernaktivität Rechnung trägt und den Beteiligten weder aktiv in Eva-Maria Putzier 278 der konkreten Interaktionssituation noch reflexiv zugänglich ist. Für den ‘Demonstrationsraum’ sind zweierlei Beteiligungsstatus konstitutiv: Er erfordert einerseits eine demonstrierende Person, die ihre Aktivitäten hinsichtlich ihrer demonstrativen Qualität erkennbar strukturiert, und andererseits die wahrnehmenden Personen, die die Aktivitäten der demonstrierenden Person wahrnehmen und hinsichtlich ihrer demonstrativen Qualität interpretieren. Obwohl die Perspektive der Wahrnehmenden, d.h. der Schüler, in dem meiner Studie zugrunde liegenden Material empirisch rekonstruierbar wäre (siehe Bild 1), erfolgt die Analyse auf der Grundlage der Kamera, die das Verhalten des Lehrers dokumentiert. Das lehrerseitige Verhalten enthält verschiedene Hinweise darauf, dass auch ohne systematische Rückversicherung davon ausgegangen werden kann, dass der Lehrer kontinuierlich wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird. So kann er beispielsweise während des Versuchsaufbaus einen sich meldenden Schüler aufrufen, ohne seinen Blick aufzurichten. Es ist gerade ein konstitutiver Bestandteil des ‘Demonstrationsraums’, dass die Beteiligten das ‘hier Vorne’ als Fokuszone etablieren, von der beide Parteien als wahrgenommen ausgehen können, solange keine zu der Experimentalphase konkurrierenden Aktivitäten erfolgen. Der ‘Demonstrationsraum’ verfügt jedoch - einmal etabliert - über eine Teilautonomie, die es den Beteiligten ermöglicht, zeitweise andere Relevanzen zu verfolgen, ohne die Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ zu gefährden. Aktivitäten zur Etablierung und Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ müssen daher immer vor dem Hintergrund dieser Teilautonomie rekonstruiert werden. Die Teilautonomie hängt ganz wesentlich mit dem Phänomen des Experiments zusammen: Einmal in Gang gebracht, verfügt das Experiment über eine eigene temporale Struktur, die sich auf die gesamte Interaktionssituation organisierend auswirkt: Es müssen Vorbereitungen getroffen werden, es gilt den initiierten chemisch-physikalischen Prozess zu beobachten, die Beobachtungen werden schriftlich dokumentiert und schließlich inhaltlich ausgewertet. Mit dem Experiment wird so eine ganze Reihe fachspezifischer Relevanzen eingeführt, die oft unabhängig vom demonstrierenden Agenten existent sind. So bringt der in Betrieb gesetzte Bunsenbrenner seine eigene Relevanz hör- und sichtbar ins Klassenzimmer (vgl. Kap. 6). Zuletzt sei eine abschließende Bemerkung zum Begriff ‘Demonstrationsraum’ gemacht: In Anlehnung an Bühlers „demonstratio ad oculos et ad aures“ geht es auch beim ‘Demonstrationsraum’ um das „Zeigen am Anwesenden“, das Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 279 „einen gemeinsamen Wahrnehmungsraum als einer Ordnung, in welcher alles beisammen ist: Zeigobjekte, Sender und Empfänger der Zeiganweisungen“ (Bühler 1934 [1999], S. 125) voraussetzt. Im Unterschied zu einzelnen Zeigewörtern und Zeigegesten können nicht alle im ‘Demonstrationsraum’ realisierten Aktivitäten als ‘Demonstration’ oder eben demonstratio bezeichnet werden. Um das Experiment vorführen zu können, muss der Lehrer es auch „machen“. In diesem Sinne zündet er den Bunsenbrenner wirklich an und tut nicht nur so, als ob er ihn anzünden würde. Um den erwünschten chemischen Prozess in Gang zubringen, ist dies ein notwendiger Arbeitsschritt. Durch den spezifischen Ort des Anzündens jedoch führt er seine Tätigkeit in der etablierten Fokuszone durch, in der alles, was passiert, unter Beobachtungsverdacht fällt. Die Aktivitäten sind nicht nur für das Experiment relevant, sondern sollen von den Schülern in qualifizierter Weise wahrgenommen werden. Insofern können alle Aktivitäten, die im ‘Demonstrationsraum’ realisiert werden, ganz allgemein als beobachtungsverdächtig gelten, anhand derer ein spezifischer chemischer Aspekt „gezeigt“ werden soll. 3. Die Etablierung des Demonstrationsraumes Im folgenden Abschnitt werde ich mich mit der Etablierung des ‘Demonstrationsraumes’ in zweierlei Hinsicht beschäftigen. In einem ersten Schritt sollen die Verfahren und Aktivitäten des Lehrers rekonstruiert werden, die er zur Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler einsetzt. Wie verdeutlicht er den Schülern, welcher Bereich auf dem Pult zu beobachten ist und welche Objekte dabei eine Rolle spielen? Im zweiten Schritt wird die strukturelle Beschaffenheit des ‘Demonstrationsraums’ im Fokus der Analyse stehen, die als ‘motivierte räumliche Kontingenz’ beschrieben werden kann. Dabei werde ich unter anderem der Frage nachgehen, inwiefern die räumliche Struktur des Lehrerpultes zur Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler beiträgt. 3.1 Etablierungsaktivitäten Es gehört zu den zentralen Anforderungen des Lehrers, den Raumbereich, der im Rahmen eines Experiments als Wahrnehmungsfokus zentral ist, für seine handlungspraktischen Zwecke herzustellen und ihn darüber hinaus als solchen für die Schüler zu verdeutlichen. Der Lehrer muss das Hier und Jetzt des Experiments für die Schüler erkennbar und transparent gestalten, wobei es weniger darum geht, seine Etablierungsaktivitäten „account-able“ (Garfinkel 1967) zu machen als sie de facto zu explizieren und zu beschreiben, um sie den Schülern inhaltlich und strukturell zugänglich zu machen. Eva-Maria Putzier 280 3.1.1 Projektion und Fokussierung In der dem Ausschnitt unmittelbar vorangehenden Sequenz befindet sich der Lehrer in einer Interaktionsdyade mit der Schülerin Meli. Das Thema des Lehrer-Schüler-Gesprächs besteht in der theoretischen Entwicklung einer möglichen Nachweismethode für Alkohol. Der Lehrer steht dabei mittig vor dem Lehrerpult und hält in der rechten Hand den Erlenmeyer-Kolben mit der Lösung, die hinsichtlich ihres Alkoholgehalts überprüft werden soll (Bild 1). Der zu analysierende Ausschnitt beginnt mit dem eingangs bereits wiedergegebenen Redebeitrag des Lehrers, einer Reaktion auf Melis Vorschlag, den Alkohol mittels einer Destillation nachzuweisen: 32 LE: okay; 33 machen wir das (.) HIER; (---) 34 VO: rne’ 35 (1.80) Der Lehrer signalisiert durch die Gesprächspartikel okay; einerseits sein Einverständnis mit Melis Beitrag, andererseits kann die Partikel als gesprächssteuerndes Endsignal der vorangegangenen Diskussion verstanden werden, die aus der theoretischen Erarbeitung der Nachweismethode für Alkohol bestand. Der Abschluss dieser Phase wird darüber hinaus im körperlichen Verhalten des Lehrers deutlich: Er löst die über viele Minuten stabile Face-to- Face-Konfiguration in eine Side-to-Face-Konfiguration auf, indem er sich während der Äußerung okay; zum Pult dreht und den Erlenmeyer-Kolben absenkt (ohne ihn zunächst abzustellen) (Bild 2). 1 Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 281 In der anschließenden Äußerung rahmt er die folgende Unterrichtsphase als eine Phase, in der nun das, d.h. die von Meli vorgeschlagene Alkoholdestillation, HIER; gemacht wird. Die ankündigende Beschreibung eines noch nicht realisierten, aber aktuell relevanten und de facto folgenden Handlungszusammenhangs, die von Heidtmann/ Schmitt als „Konzeptformulierung“ (2011) bezeichnet wird, ist für die Eröffnung von neuen Unterrichtsphasen charakteristisch. Dies hängt mit der grundsätzlichen Anforderung der Wissensvermittlung zusammen, da der Lehrer seine Handlungen für die Schüler explizit, im Sinne von ‘accounts’ (Scott/ Lyman 1968, Heritage 1988), beschreiben und verstehbar machen muss. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, würde man die durch die Konzeptformulierung aufgebaute Projektion nur hinsichtlich des sequenziell nachfolgenden Aktivitätszusammenhangs interpretieren. Die Konzeptformulierung machen wir das (.) HIER; (---) projiziert ein ganzes Handlungsmuster, das für die Schüler nicht nur die praktischen Aktivitäten des Lehrers, sondern auch ein spezifisches, eigenes Beteiligungsformat antizipierbar macht. Diese Funktionalität der Konzeptformulierung setzt ein stabiles und routiniertes Lehrer-Schüler-Verhältnis voraus, in dem sich die Beteiligten wechselseitig darauf verlassen können, dass die Handlungen des jeweils anderen im Rahmen dieses spezifischen Handlungszusammenhangs verstanden und interpretiert werden. So wird das Personalpronomen wir von den Schülern nicht im Sinne einer Aufforderung zum Experimentieren missverstanden. Die Kollektivformulierung des Lehrers ist den Schülern im Rahmen experimenteller Phasen bereits bekannt und verweist mehr auf die didaktische Methode des Lehrers, als ‘Wir-Agent’ im Auftrag der Schüler theoretisch entwickelte Aktivitäten praktisch auszuführen. Die Etablierung des ‘Demonstrationsraumes’ wird also auch wesentlich von Routinen getragen, die von Lehrer und Schülern über Monate oder Jahre hinweg ausgebildet wurden. Der Lehrer müsste in einer ihm unbekannten Schulklasse unter Um- 2 Eva-Maria Putzier 282 ständen rekurrente und explizitere Verdeutlichungsleistungen unternehmen, um das für experimentelle Phasen adäquate schülerseitige Beteiligungsformat einzuholen. Die Wahrnehmung der Schüler ist während der Äußerung von HIER; jedoch noch nicht auf ein spezifisches Objekt ausgerichtet. Der ‘Demonstrationsraum’ ist noch nicht etabliert. Versteht man unter der Verwendung von Deixis die implizite Aufforderung eines Interaktionsteilnehmers an die übrigen Interaktionsteilnehmer, sein Wahrgenommenes wahrzunehmen (Hausendorf 2003, 2010), so erweist sich das Wahrgenommene des Lehrers, auf das er mit der Lokaldeixis HIER; referiert, als noch weitgehend diffus: Obwohl sein Blickverhalten durch keine der beiden Kameraperspektiven direkt zugänglich ist, lassen seine stockende Körperbewegung und seine wechselnde Kopforientierung auf ein noch unbestimmtes HIER; schließen, das sich zunächst nur auf den Gesamtbereich des Pultes eingrenzen lässt. Sein verbales und körperliches Verhalten können den für jegliche Interaktion konstitutiven „Situierungsaktivitäten“ (Hausendorf 2007, 2010) zugeordnet werden, mittels derer er einen gemeinsamen neuen Wahrnehmungs- und Handlungsfokus etabliert und die Schüler auf eben diesen Raum fokussiert. Der Lehrer konkretisiert das HIER; zusätzlich mit der Richtungsangabe VO: rne’, die im Hinblick auf den institutionalisierten, architektonisch weitgehend vorstrukturierten Raum auf einen ganz spezifischen Teil des Klassenzimmers verweist (vgl. Breidenstein 2004, Hausendorf 2008). Mit der Äußerung realisiert er einen „Benutzbarkeitshinweis“ (Hausendorf i.d.Bd.) des Raumes, der in der spezifischen Architektur des Klassenzimmers (Bestuhlung! ) bereits angelegt ist, und er stellt das zu fokussierende VO: rne’ faktisch durch sein verbales und körperliches Verhalten her. Verstärkt und konkretisiert wird die Markierung des VO: rne’ zusätzlich durch das Abstellen des Erlenmeyer-Kolbens auf die Mitte des Pultes. Bezogen auf das Konzept des ‘Demonstrationsraumes’ können auf der Grundlage der Analyseergebnisse der ersten Etablierungsphase folgende wesentlichen Aspekte festgehalten werden: - Für den ‘Demonstrationsraum’ sind praktische Aktivitäten konstitutiv. Der Verbalität kommt im Gegensatz zu verbal dominierten Unterrichtsphasen keine primäre Funktion zu, wenngleich sie ebenfalls zur Wahrnehmungsstrukturierung eingesetzt werden kann. Im vorliegenden Fall steht der Lehrer vor der Anforderung, die sprachlich in der Theorie entwickelte Nachweismethode im Hier und Jetzt des Chemieunterrichts zu „implantieren“. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 283 Dafür nutzt er seine gesamte Körperlichkeit, indem er von der statischen in eine dynamische Position wechselt, eine andere Blickorientierung einnimmt und seine Hände einsetzt, die ihm bezogen auf sein praktisches Tun als zentrale Werkzeuge dienen. - Die Visualität ist für die Sichtbarmachung des ‘Demonstrationsraumes’ zentral. Der Lehrer fokussiert die Schüler durch sein spezifisches verbales wie körperliches Verhalten auf den „vorderen“ Teil des Klassenzimmers und schließlich auf das Lehrerpult, auf das er den Erlenmeyer-Kolben abstellt. Mit der Äußerung HIER; (---) VO: rne’ macht er seine eigene Orientierung sichtbar und fordert die Schüler implizit zur visuellen Wahrnehmung auf. Mit der Äußerung wird die Grundlage für die Invarianz und räumliche Stabilität des ‘Demonstrationsraumes’ (Kap. 6) gelegt. 3.1.2 Modalitätssynchronisierung Die folgende Etablierungsaktivität des Lehrers modifiziert den bis dorthin diffusen ‘Demonstrationsraum’ hinsichtlich seiner physikalisch-territorialen Konturierung. Aus dem unbestimmten HIER, das zunächst nur allgemein auf den Pultbereich eingegrenzt werden konnte, wird schließlich ein spezifisches, lokalisierbares hier. Die Etablierung des klar markierten, wahrzunehmenden Raumbereiches erfolgt durch ein Verfahren, das ich als „Modalitätssynchronisierung“ (Putzier 2011) bezeichne. Es stellt eine spezifische Qualität der Simultaneität von Ausdrucksmodalitäten dar, die durch die Synchronisierung mehrerer Ausdrucksressourcen (Verbalität, Gestikulation, Blickverhalten, Körperorientierung u.a.) charakterisiert ist. Dabei impliziert „Synchronisierung“ mehr als die grundsätzliche, permanente Gleichzeitigkeit von Modalitäten (Schmitt (Hg.) 2007) und ist im Sinne der „Redundanzmarkierung“ (Gumperz 1982) als markierte Aufeinanderbezogenheit von Ausdrucksressourcen zu verstehen. Die ‘Modalitätssynchronisierung’ verweist nicht auf diese kontinuierliche Gleichzeitigkeit, sondern hat durch ihre strukturellen Eigenschaften, wie etwa ihre Lokalität und Kontrastivität, Verfahrenscharakter und wird von Interaktionsbeteiligten ganz gezielt zur Umsetzung ihrer handlungspraktischen Zielorientierung eingesetzt. Sie ist eine spezifische Form der Relevanzgewichtung, die sich durch das gegenseitige Stützungsverhältnis von Verbalität und Visualität auszeichnet: Nachdem der Lehrer den Erlenmeyer-Kolben auf das Pult abgestellt hat und eine Bewegung nach links in Richtung Chemikalientisch realisiert, orientiert Eva-Maria Putzier 284 er sich kurzerhand um, indem er den Kolben wieder in die Hand nimmt und auf den Dreifuß der Versuchsapparatur auf der rechten Seite des Pultes abstellt (Bild 3-6). Gleichzeitig vollzieht er folgende Äußerung: 32 LE: stellen=ma das hier entsprechend HIN? 4 3 4 5 6 Der Lehrer beschreibt seine praktische Aktivität simultan zu ihrem Vollzug (im Sinne des ‘Kommentierens’). Dadurch etabliert er ein hier, das im Gegensatz zu dem zunächst diffusen HIER der vorangegangenen Äußerung eindeutig lokalisierbar ist. Das aktuell relevante hier ist die Versuchsapparatur bestehend aus einem Stativ, einem Dreifuß und einem Brenner, der neben der Apparatur platziert ist. Der vom Lehrer etablierte Raum hat nun seine klaren Grenzen und zeichnet sich nicht mehr durch allgemeine Aktivitäten wie etwa „machen“ aus, sondern ist durch die konkrete Realisierung spezifischer praktischer Aktivitäten charakterisiert: In diesem hier kann der Lehrer den Kolben abstellen, er könnte ihn aber auch - aus seiner Perspektive - daneben, davor oder dahinter platzieren. Die Wahrnehmung der Schüler wird im Bezug auf ein konkretes, räumliches Arrangement hin strukturiert. Hinsichtlich der internen Strukturierung des ‘Demonstrationsraums’ ist die Verwendung der Präposition entsprechend in der Äußerung des Lehrers besonders interessant. Die Versuchsapparatur legt eine spezifische usuelle Verwendung nahe, welcher „entsprechend“ der Lehrer den Kolben auch abstellt. Die vertikale Anordnung der Apparatur mit dem Brenner, dem Dreifuß und dem Stativ legt eine derartige Nutzung nahe. Der Dreifuß dient in der Chemie dem Unterstellen von Laborgefäßen, die auf einem Draht- oder Keramiknetz erhitzt werden sollen. Die Präposition im Sinne „der Versuchsapparatur entsprechend“ zu verstehen und dies in Verbindung mit der simultanen praktischen Aktivität als Aktivierung eines durch die Objektmaterialität angelegten Benutzbarkeitshinweises zu interpretieren, ist aber nur eine Lesart. Ähnlich zu Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 285 der vorangehenden Äußerung machen wir das, mit der die Projektion eines ganzen Handlungszusammenhangs verbunden war, wird durch die Form der Versuchsapparatur ebenfalls ein spezifischer Aktivitätszusammenhang projiziert, der im Wissensvorrat der Schüler bereits vorhanden ist. Als Zehntklässler verfügen sie bereits über einige Jahre Erfahrung mit dem Erhitzen von Substanzen im Chemieunterricht und ihnen dürfte bekannt sein, dass dies immer eine derartige Versuchsapparatur voraussetzt. 3.1.3 Umgehen des ‘Demonstrationsraumes’ Nachdem der Lehrer das Becherglas auf dem Dreifuß abgestellt hat, läuft er rechts um das Pult herum und positioniert sich hinter der Versuchsapparatur. 35 LE: (1.80) 7 8 Der Begriff ‘Umgehen’ charakterisiert dabei den Laufweg des Lehrers als spezifische Form des Gehens, die auf ein räumliches Zentrum ausgerichtet ist. Dieses räumliche Zentrum wird erst durch den Laufweg konstituiert, indem es als umgangener Ort den Mittelpunkt eines imaginären Halbkreises darstellt (Bild 7-10). Hinzu kommt der auffallend fokussierende Blick des Lehrers, der erkennbar auf dieses Zentrum ausgerichtet ist. Geht man von einer räumlich kontingenten Struktur aus, so hätte der Lehrer alternativ auch links um das Pult herum laufen können (vgl. Bild 11 und 12). Dabei ist nicht wichtig, weswegen er sich für die rechte Seite entschieden hat, sondern mit welchen Implikationen es verbunden ist, dass der Lehrer die Apparatur auf dieser und nicht auf der anderen Seite umgeht. Eva-Maria Putzier 286 11 12 Würde der Lehrer links um die Apparatur herumgehen, - wäre er wesentlich weiter von der Apparatur entfernt, - hätte er einen deutlich längeren Laufweg und - würde eine Reihe anderer Gegenstände umgehen, die dadurch in Verdacht geraten könnten, ebenfalls für den kommenden Versuch relevant zu sein. Umgekehrt formuliert, hat er durch die rechtsseitige Umgehung der Apparatur eine größere Nähe zu der relevant gesetzten Versuchsapparatur, er muss dafür einen kürzeren Weg zurücklegen und er läuft nur an fachspezifischen Gegenständen vorbei, die für den folgenden Versuch Relevanz haben. Inwiefern der von fachspezifischen Gegenständen freigeräumte rechte Pultbereich und der linke, zugestellte Pultbereich den ‘Demonstrationsraum’ wechselseitig, durch ihre Kontrastivität konstituieren, wird in Kapitel 3.2 ausführlich erläutert werden. In jedem Fall dient das Umgehen des wahrzunehmenden Raumbereichs dem Lehrer als Fokussierungsverfahren, das keine zusätzliche Verbalisierung erfordert. Ganz im Gegenteil ist für das Verfahren die Minimierung verbaler Aktivitäten oder „verbale Abstinenz“ (Heidtmann/ Föh 2007) konstitutiv. Während der Lehrer die Apparatur umgeht, verzichtet er auf jegliche verbale Aktivität. Im Gegensatz zu der Modalitätssynchronisierung besteht hier kein subsidiäres und synchrones Verhältnis von Verbalität und Visualität. Hier gilt das Primat der Visualität, das nur hinreichend gewährleistet ist, wenn der Lehrer seine verbalen Aktivitäten weitgehend einstellt: Der Lehrer fokussiert seine Schüler auf das visuell Wahrnehmbare, weil er verbal abstinent und gleichzeitig praktisch aktiv ist. Dadurch verdeutlicht er ihnen implizit die Relevanz des aktuell Sichtbaren und fordert gleichzeitig ein schülerseitiges Beteiligungsformat ein, das sich primär durch ‘Beobachten’ auszeichnet. Das sprachlich-interaktive Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 287 Verfahren, mit dem der Lehrer Schüler auf visuell Wahrnehmbares durch die Minimierung verbaler Aktivitäten fokussiert, habe ich in einem anderen Zusammenhang als „Fokussierung durch Informationsreduktion“ (Putzier 2011) konzeptualisiert. Es sagt allerdings nichts über die Implikationen des Laufweges des Lehrers aus, der hier für die Etablierung des ‘Demonstrationsraumes’ wesentlich ist. Mit dem Laufweg um die Apparatur ist ein Positionswechsel des Lehrers verbunden, der hinsichtlich seiner lokalen Anforderungsstruktur unterschiedlich implikationsreich ist. Während seine Hauptanforderung vor dem Pult darin besteht, die in der Theorie erarbeiteten Ergebnisse in die aktuelle (praktische) Unterrichtsphase zu transformieren und dafür einen geeigneten Raum zu etablieren, ist er hinter der Apparatur mit der Kernanforderung der Wissensvermittlung konfrontiert. Auf der verbalen Ebene manifestieren sich dieser Positionswechsel und der damit verbundene Wechsel der Anforderungsstruktur durch den Übergang vom ‘Wir-Agenten’ zum ‘Ich-Agenten’. Hat der Lehrer vor dem Pult noch die Kollektivorientierung ‘wir’ (machen wir das, Z. 33); stenn=ma das hier entsprechend HIN, Z. 36), expliziert er seine Aktivitäten nunmehr in ‘ich’-Form: 38 LE: .h ah (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB’ Dieser Übergang ist natürlich auch mit seinem Perspektivenwechsel verbunden: Während er vor dem Pult die Versuchsapparatur von der gleichen Perspektive aus wie die Schüler wahrnimmt und sie für beide Parteien als VO: rne lokalisierbar ist (Back-to-Face-Konstellation; vgl. Kap. 3.1.1), so steht er hinter der Apparatur den Schülern gegenüber und in dem Raumbereich, auf den die Schüler fokussiert sind. 3.2 Die territoriale Struktur des ‘Demonstrationsraumes’ Zunächst erscheint die Annahme naheliegend, das gesamte Lehrerpult als ‘Demonstrationsraum’ zu bezeichnen. Das Lehrerpult ist zwar materieller Träger des ‘Demonstrationsraums’, jedoch sind die beiden Räume hinsichtlich ihres konzeptionellen Status nicht miteinander kongruent. Ziel dieses Abschnittes soll es sein, den ‘Demonstrationsraum’ separat und kontrastiv zu den angrenzenden räumlichen Strukturen zu beschreiben. Dabei soll überprüft werden, inwieweit sich die Konstitution des ‘Demonstrationsraums’ in der spezifischen räumlichen Struktur de facto manifestiert. Die vorliegenden räumlichen Verhältnisse können als ‘motivierte räumliche Kontingenz’ ver- Eva-Maria Putzier 288 standen werden, insofern als sie durchaus kontingent sind, d.h. „auch anders möglich [wären]“ (Luhmann 1984, S. 152) , aber von dem Lehrer in dieser spezifischen Form interaktionsvorgängig und in motivierter Weise hergestellt wurden. Obwohl das Lehrerpult und der ‘Demonstrationsraum’ nicht identisch sind, lohnt doch gerade aufgrund der ‘materiellen Trägerschaft’ (siehe oben) die Überlegung, um welche Art von Tisch es sich bei diesem Lehrerpult eigentlich handelt. Alleine die Bezeichnung ‘Pult’ scheint für diese Art von Tisch ungeeignet zu sein, ist es doch kein Tisch, hinter dem in erster Linie gesprochen oder auf dem in erster Linie geschrieben wird. Im Hinblick auf das Geschehen in der Klasse ist die Position hinter dem Tisch doch ganz zentral mit dem praktisch handelnden Chemielehrer verbunden, der in diesen Situationen aufgrund seiner Absorbiertheit oft auf verbale Beiträge verzichtet. Die Position des Lehrers vor dem Tisch ist mit anderen Implikationen für die Interaktionssituation verbunden: Hier findet vorwiegend die verbale Wissensvermittlung statt. Der Lehrer ist von der „Bürde“ des praktischen Tuns entlastet und kann sich fachspezifischen Themen widmen, die eine verbale Erarbeitung erfordern. Der Tisch im Chemiesaal unterscheidet sich bereits auf den ersten Blick signifikant von dem normalen Lehrerpult: Er ist in seiner gesamten Architektur als Experimentiertisch erkennbar (gemacht). Im Gegensatz zu einem normalen Lehrerpult besteht er aus hitze- und schlagbeständigem Kunststoff oder ist mit entsprechenden Kacheln gefliest. Die Höhe des Tisches liefert starke Benutzbarkeitshinweise darauf, dass ein Stehender und nicht ein Sitzender an dem Tisch agieren soll, wobei ein passender Stuhl ohnehin nicht existiert. Selbst ein von Laborgeräten leer geräumter Tisch im Chemiesaal ist durch das installierte Waschbecken und die Reihe an Knöpfen, die die Gas- und Stromzugänge regeln, erkennbar als Arbeitstisch, gleich einer Werkbank, gestaltet. Zuletzt ist es die Position des Tisches, die das praktische Handeln des ‘Stehenden’ in spezifischer Weise rahmt: Durch die Architektur des Raumes kommt der Werkbank eine exponierte, auf Wahrnehmung und „Umgehbarkeit“ ausgerichtete Position zu, die sich organisierend auf das gesamte Unterrichtsgeschehen auswirkt, und im engeren Sinne die (territoriale) Struktur des ‘Demonstrationsraums’ betrifft. Bei der Beschreibung des ‘Demonstrationsraumes’ relativ zu den angrenzenden räumlichen Strukturen gibt es zwei Bezugskategorien, die die Qualität des ‘Demonstrationsraums’ auf unterschiedlichen Ebenen perspektivieren: Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 289 1) die Anzahl der Gegenstände im Raum; 2) die Qualität der Gegenstände im Raum. Abb. 1 Geht man von einem größtmöglichen ‘Demonstrationsraum’ aus, der von dem Lehrer anfänglich, weitgehend unbestimmt mit HIER VO: rne kategorisiert wurde, so muss man zunächst das gesamte Lehrerpult als potenziellen Kandidaten berücksichtigen. Die Abbildung 1 verdeutlicht schematisch die räumliche Gliederung des Lehrerpultes. Im Bezug auf die Anzahl der Gegenstände im Raum (1) kann das gesamte Lehrerpult grob in zwei Teile unterteilt werden, die in einem 1 : 2-Verhältnis stehen (Bild 13): Der kleinere, linke Teil des Pults ist mit zahlreichen Gegenständen „zugestellt“, während der zweite, rechte Teil des Pults nur im Zentrum einige sichtbar zusammengehörende Gegenstände aufweist. Rechts von beiden Teilen gibt es jeweils einen Grenzbereich, in dem sich in beiden Fällen eine vergleichbare Anzahl von Gegenständen befindet. Ausgehend von der Konzeption des ‘Demonstrationsraums’ als ein für die visuelle Wahrnehmung konstituierter Raum, ist es bereits auf der Grundlage dieser Beschreibung möglich, präzise Aussagen über die Grenzen und den Kernbereich des ‘Demonstrationsraums’ zu treffen: Bei dem linken, zugestellten Pultbereich ist eine Demonstration nicht erwartbar, da aus der ungeordneten Fülle an Gegenständen keiner sichtbar herausgehoben ist, den es bei einer Demonstration zu beobachten gelten würde. Darüber hinaus bedecken diese Gegenstände die gesamte Fläche des Pultbereiches und sind damit einer Versuchsdurch- 13 Eva-Maria Putzier 290 führung, bei der Objekte arrangiert, abgestellt und umgestellt werden, in jeder Hinsicht hinderlich. Der rechte Pultbereich verfügt hingegen über die für Chemieversuche notwendige, freie Fläche und ist insofern für die Demonstration von Versuchen prädestiniert. Hier hat der Lehrer ausreichend Platz zur Verfügung, um sein ganzes Repertoire an Labormaterialien ungehindert einzusetzen. Es ist also naheliegend, von der Übereinstimmung der Grenzen des ‘Demonstrationsraums’ und der Grenzen der freien Fläche auszugehen. Die freie Fläche weist ihrerseits wiederum ein Zentrum aus, das sich durch sein vertikales Arrangement von Gegenständen signifikant von den übrigen Gegenständen des gesamten Pults abhebt. Das Arrangement rückt insbesondere deshalb in den Fokus des Betrachters, da es durch die freie Fläche exponiert ist, wie etwa ein Ausstellungsstück in einem Museum unserer Kultur meist separat und nicht in einer ungeordneten Fülle anderer Exponate präsentiert wird (wenn dem doch so wäre, würde dies schnell unter Kunstverdacht fallen). Im Unterschied zur Ausstellungssituation im Museum kommt der das Arrangement umgebenden freien Fläche mitunter eine pragmatische Funktionalität zu: Der Lehrer benötigt für die Durchführung von Versuchen ausreichend Platz, weil er mit dem Arrangement an Gegenständen nicht nur Chemie zeigen, sondern vor allem Chemie „machen“ wird, wofür er nicht nur das Arrangement, sondern zahlreiche andere Laborgeräte und Chemikalien benötigt. Die pragmatische Funktionalität der freien Fläche im Bezug auf das Objektarrangement zielt bereits auf die zweite Bezugskategorie ab, die Qualität der Gegenstände im Raum (2), hinsichtlich der die Struktur des ‘Demonstrationsraumes’ analysiert werden kann. Bei dem Arrangement handelt es sich nicht um übereinander gestapelte Bücher oder Getränkekisten, sondern um Laborgeräte, mit welchen ein ganzes Repertoire an fachspezifischem Wissen verbunden ist. Sie stellen starke Benutzbarkeitshinweise im Sinne einer vertrautheitsabhängigen Materialisierung von Chemiewissen dar. Insofern zeugen die Gegenstände selbst von der Wissenschaft Chemie und projizieren durch ihr faktisches Vorhandensein im Chemieunterricht und ihre spezifische Position im Raum das Machen und das Demonstrieren von Chemie. Im Gegensatz dazu befinden sich auf dem linken Pultbereich hauptsächlich Unterlagen des Lehrers, die als Gegenstände nur für ihn, nicht aber für die Schüler Relevanz besitzen. Darüber hinaus handelt es sich bei den Unterlagen um unterrichtsspezifische Materialien, die von einem Englischlehrer ebenso wie von einem Mathematiklehrer eingesetzt werden (können). Ihre Materialität und ihre Funktionalität sind von keiner fachspezifischen Relevanz und insofern für die Demonstration von Chemie nicht evident. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 291 Mit den wenigen fachspezifischen Gegenständen auf dem linken Pultbereich, wie etwa dem Messzylinder oder der Weinflasche, sind im Gegensatz zu dem Arrangement auf der rechten Pultseite keinerlei projektive Implikationen verbunden. Durch die Position, das Arrangement und die Materialität (Weinflasche) der Gegenstände wird deutlich, dass sie weder aktuell noch in unmittelbar zeitlicher Nähe einen Einsatz finden werden oder in irgendeiner Form für die Demonstration von Chemie hergerichtet sind. Der Messzylinder liegt, kaum sichtbar, zwischen den Unterlagen des Lehrers und ist insofern in seiner Funktionalität relevanzabgestuft, als er nur stehend zum Einsatz kommen kann. Bei der Weinflasche handelt es sich nicht um einen dezidiert fachspezifischen Gegenstand, wenngleich er im Rahmen des Unterrichtthemas ‘Alkoholische Gärung’ als solcher klassifiziert werden kann. Die Weinflasche steht im Gegensatz zu dem Messzylinder deutlich sichtbar am vorderen Rand des Pultes und könnte, ihrer Position nach zu urteilen, für die visuelle Wahrnehmung hergerichtet sein. Sie hat ihre „Karriere“ jedoch bereits zu Unterrichtsbeginn durchlaufen, als der Lehrer die Flasche den Schülern zeigte und die problemorientierte Einstiegsfrage formulierte: Wie kommt denn der Alkohol hier rein? Während der linke Pultbereich also eine Fülle von hauptsächlich unterrichtsspezifischen und in ihrer Relevanz rückgestuften, fachspezifischen Gegenständen enthält und insofern eine Demonstration unwahrscheinlich macht, weist das exponierte, durch Laborgeräte strukturierte Arrangement des rechten Pultbereichs in Verbindung mit der freien (Arbeits-)Fläche auf genau diesen Aktivitätszusammenhang hin. Einen Sonderfall bilden die „Grenzbereiche“, die sich hinsichtlich der vorhandenen Anzahl an Gegenständen unwesentlich unterscheiden. Im äußeren rechten Grenzbereich liegen ausschließlich unterrichtsspezifische Gegenstände, wie etwa der Schwamm und der Behälter für die Kreide. Gerade weil es sich bei ihnen um unterrichtsspezifische Gegenstände handelt, die in jedem Klassenzimmer auf dem Pult liegen (können), sind sie für den Chemieunterricht nicht wahrnehmungsrelevant und bergen daher nicht die Gefahr, von den Schülern als zentrale Gegenstände interpretiert zu werden. Anders verhält es sich mit dem Grenzbereich zwischen dem linken, zugestellten und dem rechten, freien Pultbereich. Er wird durch zwei fachspezifische Objekte konstituiert und verfügt sonst, ebenso wie der rechte Pultbereich, über eine freie Fläche. Daher scheint es unklar zu sein, ob der ‘Demonstrationsraum’ diesen Bereich inkludiert oder von ihm abzugrenzen ist. Der Gegenstand am vorderen Rand des Pultes hat mit der Weinflasche gemein, dass sie beide eine visuell einwandfrei wahrnehmbaren Position besitzen und daher in den Ver- Eva-Maria Putzier 292 dacht geraten können, für die folgende Demonstration relevant zu sein. Im Unterschied zu der Weinflasche ist der Kolben durch seine Position, ungefähr in der Mitte des Pults, und durch die ihn umgebende freie Fläche weitaus exponierter. Er steht nicht in einer ungeordneten Menge von Gegenständen und ist darüber hinaus an der Tafel hinter dem Pult in der Versuchsskizze dargestellt. Es handelt sich offenbar um einen zentralen Unterrichtsgegenstand, mit dem aufgrund seiner Position projektive Implikationen verbunden sind: Es ist durchaus nahe-liegend, dass der Kolben wieder in irgendeiner Form zum Einsatz kommt. Alleine auf der Grundlage der Position kann keine Aussage getroffen werden, ob der Kolben dem ‘Demonstrationsraum’ zuzuordnen ist. Im Zusammenhang mit dem Tafelbild ist jedoch klar, dass es sich bei dem Kolben um eine eigenständige „Versuchsapparatur“ handelt und er daher nicht notwendigerweise mit der relevanten rechten Versuchsapparatur zusammenhängen muss. Zusammenfassend können aus der Analyse der räumlichen Strukturen des Lehrerpultes folgende Aspekte für die Konzeption eines ‘Demonstrationsraums’ festgehalten werden: - Der ‘Demonstrationsraum’ verfügt über keine scharfen Grenzen, die eine eindeutige Zuordnung von Gegenständen als Teil oder als Nicht-Teil dieses Raumes ermöglichen würden. - Der Randbereich des ‘Demonstrationsraums’ ist eher diffus und kann je nach Aktivität des Lehrers erweitert oder verringert werden. - Der ‘Demonstrationsraum’ verfügt über einen Kernbereich, der von dem Randbereich kontrastiv abgesetzt ist. Der Kernbereich ist durch das Arrangement fachspezifischer Gegenstände charakterisiert und stellt den zentralen Wahrnehmungsfokus des ‘Demonstrationsraumes’ dar. - Für den ‘Demonstrationsraum’ ist dieser Kernbereich konstitutiv, der durch eine freie Fläche von seiner Umgebung gleichermaßen abgegrenzt und gerahmt ist und dadurch Platz für das Machen von Chemie zur Verfügung stellt. 4. Die Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ Aufgrund der Teilautonomie des ‘Demonstrationsraums’ (vgl. Kap. 6) ist der Lehrer nicht permanent mit der Anforderung konfrontiert, die Fokussierung der Schüler auf die Apparatur aufrechtzuerhalten. Durch die Eigenlogik des Experiments erfolgt die Wahrnehmungsstrukturierung auch ohne das permanente Zutun des demonstrierenden Agenten. Für die Wahrnehmung der Schüler ist die Position des Lehrers zu dem wahrzunehmenden Raumbereich jedoch mit unterschiedlichen Implikationen verbunden. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 293 4.1 Statische Konstellation Als der Lehrer den entsprechenden Raumbereich umgangen hat, nimmt er den Kolben wieder von der Versuchsapparatur und stellt ihn auf das Pult ab, um die Lösung wegen möglicher Heferückstände in einen sauberen Kolben abzugießen. Den sauberen Kolben holt er vom Chemikalientisch und nimmt auf dem Rückweg zur Versuchsapparatur auch den Kolben mit der alkoholischen Lösung wieder in die Hand. Er positioniert sich direkt hinter der Versuchsapparatur und gießt die Lösung auf eine markierte Art und Weise ab, die den von den Schülern wahrzunehmenden Bereich mit Bedeutung auflädt. Während des Abgießens umgreift er die Versuchsapparatur (Bild 14) und behält diese Position solange unverändert bei, bis er die gesamte Lösung in den sauberen Kolben umgegossen hat. Die mit seiner Position verbundene Bedeutungsaufladung des Kernbereichs des ‘Demonstrationsraums’ wird besonders evident, wenn man mögliche Handlungsalternativen imaginiert. Der Lehrer hätte die alkoholische Lösung ebenso neben der Apparatur abgießen und damit eine wesentlich komfortablere und ökonomische Position wählen können. Eine solche Alternative wäre im Bezug auf die Wahrnehmungsstrukturierung die deutlich unmarkiertere Variante. Dieses „Mehr“ an Aufwand, das weder aus pragmatischer noch aus didaktischer Perspektive erforderlich wäre, ist jedoch für die Herstellung und Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ konstitutiv. Der Lehrer gießt die Lösung nicht einfach ab, sondern er realisiert diese Aktivität auf eine markierte, demonstrative Art und Weise, die nicht Resultat der Handlung selbst, sondern der spezifischen Position der Handlung ist. Charakterisiert ist diese Position durch folgende Aspekte: 14 Eva-Maria Putzier 294 - Körperliche Nähe der demonstrierenden Person und dem Kernbereich des ‘Demonstrationsraums’. - Statik und Invarianz: Der Lehrer hält diese Position sichtbar unverändert bei. - Dauerhaftigkeit: Die Position ist nicht von kurzer Dauer, sondern hebt sich durch ihre zeitliche Erstreckung deutlich von den vorangegangenen und folgenden Aktivitäten ab. 4.2 Dynamische Konstellationen Während der Versuchsphase entfernt sich der Lehrer immer wieder von der Versuchsapparatur. Dies kann pragmatisch motiviert sein oder mit dem aktuellen Entwicklungsstand des Chemieexperiments zusammenhängen. Im ersten Fall verlässt der Lehrer nur kurzzeitig die Apparatur (A), um von einem anderen Ort (B) notwendige Materialien zu holen oder andere Vorbereitungen für den Versuch zu treffen. Direkt im Anschluss kehrt er wieder zu der Versuchsapparatur (A) zurück. Im zweiten Fall verlässt der Lehrer die Apparatur (A) und positioniert sich an einem anderen Ort (B), an dem er über einen längeren Zeitraum verweilt. Der Laufweg von A nach B erfolgt jedoch nur, wenn der aktuelle Entwicklungsstand des Versuches es zulässt, dass der Lehrer über einige Minuten hinweg nicht in direkter körperlicher Nähe zu der Versuchsapparatur steht. Dies ist beispielsweise der Fall, als der Lehrer die Apparatur soweit aufgebaut hat, wie er es Melis Beitrag zufolge machen sollte. Der Brenner wurde zum Erhitzen der Lösung unter den Dreifuß platziert und der Lehrer hat nun ausreichend Zeit, um den weiteren Verlauf des Versuchs zu erfragen oder zeitweise gar anderen Relevanzen nachzugehen. Die kurzzeitige Entfernung vom ‘Demonstrationsraum’ ist hinsichtlich seiner Aufrechterhaltung mit weniger Risiken verbunden und erfordert daher weniger explizite Vollzugsmarkierungen als der Laufweg von A nach B, wobei der Lehrer bei B über einen längeren Zeitraum verweilt. Dies erfordert explizite Verdeutlichungsleistungen, um den ‘Demonstrationsraum’ als Fokus erkennbar konstant zu halten. Der Lehrer muss jedoch nicht kontinuierlich auf den ‘Demonstrationsraum’ referieren, da die spezifische Realisierung der Laufwege den Schülern die anhaltende Relevanz des ‘Demonstrationsraums’ verdeutlicht. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 295 4.2.1 Kurzzeitige Abwesenheit vom ‘Demonstrationsraum’ Im Folgenden werde ich zwei Sequenzen analysieren, die den Laufweg von A zu B und zurück zu A zeigen. In beiden Fällen entfernt sich der Lehrer aus pragmatischen Gründen kurzzeitig von der Versuchsapparatur, da er einen sauberen Kolben und ein Feuerzeug benötigt, um mit dem Experiment fortfahren zu können. Er wendet dabei unterschiedliche Strategien an, um das eingeforderte Beteiligungsformat der Schüler als „Versuchsbeobachter“ nicht zu gefährden. 4.2.1.1 Fokuskontinuität durch Verbalisierung Nachdem der Lehrer hinter der Versuchsapparatur (A) angekommen ist, nimmt er wieder den Erlenmeyer-Kolben und entschließt sich, nach einem kurzen Blick auf das Gefäß (Bild 15), die Lösung aufgrund von Heferückständen abzugießen: 38 LE: .h ah (.) vielleicht GIEß ich das erst nochmal AB’ 39 weil hier unten noch so=n bisschen HEFe drin ist- Er stellt den Kolben auf das Pult ab, läuft in Richtung Chemikalientisch (B) und holt einen sauberen Kolben (Bild 16 und 17), den er anschließend zur Versuchsapparatur trägt. Während seines Laufwegs von A nach B und wieder zurück nach A realisiert er folgende Äußerung: 15 Eva-Maria Putzier 296 16 17 40 LE: .hh wenn die mir sonst ANbrennt’= 41 =ist das (1.64) etwas EKlig; 42 (3.40) Die Äußerung des Lehrers kann als Expansion seiner Entscheidung zum Abgießen der Lösung verstanden werden. Inhaltlich liefert sie keine substanziell neuen Informationen („lautes Denken“), die etwa für die Schüler thematische Relevanz besäßen. Betrachtet man die Äußerung jedoch im Zusammenhang mit der Distanzierung des Lehrers von der Versuchsapparatur, werden die Implikationen, die mit seinem verbal-körperlichen Verhalten verbunden sind, deutlich: Die Verbalisierung thematisch marginaler Sachverhalte führt zu einer Relevanzrückstufung seiner praktischen Aktivitäten. Dadurch produziert seine Bewegung von A nach B und wieder zu A weniger Aufmerksamkeit. Mit der Relevanzrückstufung seiner aktuellen Aktivität lenkt er also die Wahrnehmung der Schüler auf die Apparatur und nicht auf seine eigenen Aktivitäten. Die Äußerung thematisch marginaler Sachverhalte kann unter einer funktionalen Perspektive auch als „Verbale Verstehensabsicherung“ (Putzier 2011) konzeptualisiert werden. Der thematisch-pragmatische Kontext unterscheidet sich jedoch bei der ‘Verbalen Verstehensabsicherung’ von dem der vorliegenden Situation: ‘Verbale Verstehensabsicherungen’ werden von dem Lehrer meist als Reaktion auf Phasen verbaler Abstinenz eingesetzt, um zumindest punktuell mit den Schülern in verbale Interaktion zu treten und sicher zu stellen, dass auch die schwachen Schüler seinen Aktivitäten folgen können. Im Unterschied dazu stellt die Äußerung .hh wenn die mir sonst ANbrennt, ist das (1.64) etwas EKlig (Z. 40/ 41) eine Expansion seiner vorangegangenen Äußerung dar und ist daher nicht funktional im Sinne einer ‘Verbalen Verstehens- Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 297 absicherung’. Die Äußerung dient durch die kontinuierliche Verbalisierung während seines Laufwegs vielmehr der Relevanzrückstufung des visuell Wahrnehmbaren. 4.2.1.2 Fokuskontinuität durch verbale Abstinenz Die Wahrnehmungsstrukturierung kann neben sprachlich-interaktiven Verfahren, die dem Lehrer als Relevanzrückstufung seiner Distanzierung von der Apparatur dienen, auch durch verbale Abstinenz erfolgen. Sein Laufweg wird dabei erkennbar in den Dienst der Aktivitäten an der Versuchsapparatur gestellt. Das Experiment muss bei einem solchen Verfahren bereits weiter fortgeschritten sein, damit die verbale Abstinenz als funktional für das Experiment interpretiert werden kann. Zu einem frühen Zeitpunkt des Experiments nimmt sich der Lehrer für die einzelnen praktischen Aktivitäten in der Regel länger Zeit, wodurch die Dramaturgie des Versuchsaufbaus noch nicht derart zugespitzt ist, wie es zu einem späteren Zeitpunkt der Fall ist, wenn er die praktischen Aktivitäten kurz getaktet hintereinander realisiert. Mit zunehmender Verdichtung seines praktischen Tuns nimmt auch die Absorbiertheit des Lehrers zu, die sich in der Minimierung verbaler Aktivitäten manifestiert. Verbal abstinente Phasen produzieren dann also weniger Aufmerksamkeit, da sie für das lehrerseitige Verhalten zu einem späten Zeitpunkt des Experiments konstitutiv sind. Die zweite Distanzierung von der Apparatur erfolgt zu einem späten Zeitpunkt des Chemieexperiments. Der Lehrer hat die alkoholische Lösung bereits umgegossen und den Kolben mit einer Klammer am Stativ befestigt. Während dieser Aktivitäten ist er die meiste Zeit verbal abstinent, wodurch der hohe Grad an praktischer und kognitiver Absorption des Lehrers durch sein praktisches Tun deutlich wird. Als der Kolben für die Erhitzung der Lösung ausreichend befestigt ist, realisiert er folgende Äußerung: 53 (4.09) 54 .hh BUNSenburner? 55 XX: (lachen) 56 LE: (17.49) Der Lehrer nimmt den neben der Apparatur stehenden Brenner, auf den er zeitgleich mit dem englischen Ausdruck BUNSenburner referiert, und stellt ihn unter den Dreifuß. In dem Blickverhalten und der Körperorientierung des Lehrers wird sein aktuell-situativer Fokus sichtbar „verkörpert“ (Putzier i.Vorb.) (Bild 18). Eva-Maria Putzier 298 Der Lehrer wendet sich durch all seine zur Verfügung stehenden Modalitäten dem Brenner zu, der durch die „Redundanzmarkierung“ (Gumperz 1982) als relevant hochgestuft wird. Darüber hinaus sind mit dem Verhalten des Lehrers projektive Implikationen verbunden, die mit der Funktionalität des Objekts zusammenhängen: Ein zentraler Benutzbarkeitshinweis des Brenners ist seine Verwendung als Energiequelle. In dem Moment, in dem der Lehrer den Brenner an dem Ort platziert, an dem dies pragmatisch sinnvoll ist, wird der nächste Schritt des Lehrers antizipierbar: Er wird den Brenner in Kürze anzünden. Für die folgende Distanzierung des Lehrers von der Versuchsapparatur spielen diese fokussierenden und projektiv-implikativen Aktivitäten eine große Rolle. Sie rahmen den Laufweg des Lehrers, der dadurch nicht mehr die Gefahr birgt, zu einer Defokussierung oder gar Auflösung des ‘Demonstrationsraums’ zu führen. Hinzu kommt die spezifische Qualität der Distanzierung als nur kurzzeitige, im Dienst des Versuchs stehende Aktivität. Die Qualität wird durch den spezifischen Einsatz der Ausdrucksmodalitäten und ihrer Koordination produziert: - Blickverhalten: Der Lehrer richtet seinen Blick während des Laufwegs nicht auf, sondern hält ihn schräg nach unten, entweder auf den Chemikalientisch (B) oder auf das Lehrerpult gerichtet. - Laufweg: Der Lehrer entfernt sich nicht weit von der Versuchsapparatur. Seine Schritte sind relativ zügig und er verankert sich nicht am Chemikalientisch, sondern verlagert sein Gewicht schnell auf das linke Bein, um wieder zur Apparatur zurückzukehren (vgl. „Walking as situated practice“, Goodwin 1997, 2003; Schmitt/ Deppermann 2010). 18 Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 299 - Praktische Aktivitäten: Der Lehrer realisiert sichtbar Aktivitäten, die als „Suchen eines Gegenstandes“ beschrieben werden können. Als er am Chemikalientisch angekommen ist, ergreift er kurz einen Gegenstand, den er sofort wieder loslässt. Er fasst mit der rechten Hand in seine Hosentasche. Mit der linken Hand nimmt er dann das gesuchte Feuerzeug vom Lehrerpult und kehrt zur Versuchsapparatur zurück. - Verbalität: Der Lehrer ist während seines Laufwegs verbal abstinent. Der Verzicht auf Verbalität führt zu einer Relevanzrückstufung seiner aktuellen Aktivität. Er fokussiert die Schüler auf das Experiment, indem er die Produktion von Äußerungen einstellt. Mit der verbalen Abstinenz wählt er eine Verhaltensform, die für das Chemieexperiment zu diesem späten Zeitpunkt charakteristisch ist und führt die in den unmittelbar vorangegangenen Aktivitäten dominante Präsenzform kontinuierlich fort. Die Distanzierung von der Apparatur steht also in keinerlei Kontrast zu seinen vorangegangenen Aktivitäten und ist insofern in die Entwicklungsdynamik des Versuchs inkorporiert. Auch während seiner folgenden Aktivitäten an der Apparatur führt er diesen Präsenzmodus fort, indem er beispielsweise über einen längeren Zeitraum (17,49 Sekunden) hinweg verbal abstinent bleibt (Z. 6). Insofern können auch Phasen verbaler Abstinenz als Hinweis zur Fokuskontinuität eingesetzt werden und damit zur Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ beitragen. 4.2.2 Längerfristige Distanzierung Der Lehrer entfernt sich von der Apparatur auch über einen längeren Zeitraum, indem er beispielsweise bei dem Ort B verweilt. Im Gegensatz zu der kurzzeitigen Distanzierung erfordert eine längerfristige Distanzierung explizite Vollzugsmarkierungen, um die Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ zu verdeutlichen und zu gewährleisten. Während der ‘Demonstrationsraum’ bei der kurzzeitigen Distanzierung als zentraler Fokus unverändert konstant bleibt, ist eine längerfristige Distanzierung immer mit einer ‘situativen Relevanzrückstufung’(Kap. 4.2.2.1) oder einer ‘partiellen Defokussierung’(Kap. 4.2.2.2) verbunden. 4.2.2.1 Situative Relevanzrückstufung Nachdem der Lehrer den Brenner schließlich angezündet hat, läuft er wieder nach rechts in Richtung Chemikalientisch, ist diesmal jedoch mit seinem Blick auf die Schüler orientiert. Spätestens als er am Chemikalientisch vorbei- Eva-Maria Putzier 300 läuft, ist klar, dass er nicht unmittelbar wieder zur Versuchsapparatur zurückkehren wird. Sowohl sein Laufweg als auch seine Blickorientierung sind kontrastiv zu seinem Verhalten bei der kurzzeitigen Distanzierung von der Versuchsapparatur. Außerdem wird der Lehrer verbal aktiv, wobei er mit einer Frage ein Lehrer-Schüler-Gespräch initiiert, in der er den Aufbau der Versuchsapparatur thematisiert: 57 LE: <<f>SO was sollt ich hier noch=s noch ÄNdern; 58 damit ich auch WIRklich: : anna=den>- 59 (1.51) 60 äh: : (---) 61 MEli <<all>tschuldigung>- 62 ME: ja 63 LE: .hh damit ich hier WIRklich den (.) ALkohol; 64 v=vom wasser (nacher) geTRENNT habe- Der Lehrer hat die Versuchsapparatur soweit aufgebaut, wie Meli es im Vorfeld vorgeschlagen hatte. Nun fragt er die Schülerin, was er an dieser Apparatur noch ändern müsse, um den Alkohol tatsächlich vom Wasser trennen zu können. Es ist nicht nur die Realisierung einer Frage, die diese Sequenz von der kurzzeitigen Distanzierung von der Versuchsapparatur unterscheidet. Es ist auch die Kombination des veränderten Einsatzes der Ausdrucksmodalitäten des Lehrers, die den Schülern verdeutlicht, dass es sich um eine längerfristige Distanzierung und gegebenenfalls um einen Methodenwechsel handelt. Am signifikantesten ist dabei der Positionswechsel des Lehrers, der sich nun vor dem Pult mit der rechten Hand am Overhead-Projektor regelrecht „verankert“ (Bild 19). Auch seinen linken Arm bringt er in eine stabile, invariante 19 Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 301 Position, indem er ihn in die Seite einstützt. Seine für die Konstitution des ‘Demonstrationsraums’ zentralen „Werkzeuge“ stellt er also in erkennbarer Weise „ruhig“. Die längerfristige Distanzierung unterscheidet sich also hinsichtlich der kurzfristigen Distanzierung durch folgende Aspekte: - Der Lehrer stellt eine offene w-Frage (Z. 57); - er adressiert eine Schülerin namentlich (Z. 58/ 61); - sein Blick ist auf die Schüler gerichtet; - sein Laufweg führt ihn deutlich weiter von der Apparatur weg; - er nimmt eine neue Position vor dem Pult am Overhead-Projektor ein und - verankert sich in einer stabilen, invarianten Positur. Welche Konsequenzen hat die längerfristige Distanzierung nun für die Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’? Der visuelle Fokus auf den ‘Demonstrationsraum’ wird zeitweise aufgelöst, obgleich seine Funktionalität als Form der Wissensvermittlung unverändert bleibt. Das Blickverhalten der Schüler ist weitgehend durch den Lehrer als „Fokusperson“ bestimmt. Mit dem Positionswechsel des Lehrers verändert sich also auch der visuelle Wahrnehmungsfokus der Schüler. Obwohl einige wichtige Konstituenten des ‘Demonstrationsraums’, wie etwa die praktischen Aktivitäten, die körperliche Nähe der Fokusperson und der visuelle Wahrnehmungsfokus der Schüler, zeitweise eingestellt werden, wäre es zu weit gegriffen, spräche man von einer Defokussierung oder gar einer Auflösung des ‘Demonstrationsraums’. Der ‘Demonstrationsraum’ wird lediglich in seiner Relevanz situativ zurückgestuft, da der aktuelle Unterrichtsgegenstand in der (sprachlichen) Bearbeitung der vom Lehrer gestellten Frage besteht. Der thematische Bezug auf die Apparatur bleibt jedoch während des gesamten Lehrer-Schüler-Gesprächs erhalten: 1) Zunächst tangiert die Frage des Lehrers unmittelbar die Apparatur, da er die Schüler nach möglichen, weiteren Arbeitsschritten fragt, die zu dem gewünschten Alkoholnachweis führen könnten. Dabei bleibt der Wahrnehmungsfokus auch sprachlich unverändert erhalten, indem der Lehrer zweimal mit hier (Z. 57/ 63) auf die Versuchsapparatur referiert. 2) Die Referenz auf die Apparatur erfolgt mitunter durch die spezifische Gestikulation des Lehrers. Bereits zu Beginn seiner Frage macht er eine Handbewegung, die erkennbar in Richtung der Versuchsapparatur ausgerichtet Eva-Maria Putzier 302 ist (Bild 20). Als er seine Frage schließlich reformuliert (Z. 66), realisiert er eine Gestikulation (Bild 21), die in der Gestikforschung als „Zeigegeste“ (Müller 1998, Fricke 2007) mit einer „palm up open hand“ (Kendon 2004) Handform konzeptualisiert wird. 66 LE: wie sollt=ich das ÄNdern? = 67 =ich mein wenn ich das jetzt erHITZe? (--) Diese Gestikulation realisiert er direkt im Anschluss ein zweites Mal in fast identischer Form (Bild 22). 3) 20 22 21 Der Lehrer blickt zudem während des Lehrer-Schüler-Gesprächs immer wieder auf die Versuchsapparatur (vgl. Bild 21/ 22). 4.2.2.2 Partielle Defokussierung des ‘Demonstrationsraums’ Die Schüler entwickeln gemeinsam mit dem Lehrer den nächsten praktischen Arbeitsschritt, den der Lehrer gleich im Anschluss daran ausführt: Er setzt ein Steigrohr auf den Kolben, das zum Abfangen des Alkohols dient. Danach verlässt er die Versuchsapparatur und läuft rechts am Pult vorbei, wobei er sich diesmal nicht am Overhead-Projektor positioniert, sondern von vorne an das Pult herantritt. Seinen Blick hält er während seines Laufwegs kontinuierlich auf die Apparatur gerichtet und sagt: 114 LE: ah=jetzt erhitzen wir das BISschen ERSTmal. (--) 115 muss ja erstmal ANfangen natürlich zu SIEden; 116 (2.79) Durch seine Äußerung verdeutlicht er den Schülern den aktuellen Stand des Experiments: Für dessen Progression sind keine weiteren Arbeitsschritte er- Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 303 forderlich, und die Beteiligten müssen nun abwarten, bis die Lösung zu sieden beginnt. Hierbei kommt wieder die Eigenlogik des Experiments zum Tragen: Es besitzt seine eigene Zeitlichkeit und wirkt sich dadurch auf die Unterrichtsstrukturierung aus. Den Beteiligten bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis der Alkohol seinen Siedepunkt erreicht. Im Unterschied zu der Konstellation, bei der sich der Lehrer am Overhead- Projektor positioniert hatte und bei den Schülern weitere Arbeitsschritte erfragte, dreht sich der Lehrer nun mit dem Rücken zu der Versuchsapparatur und nimmt eine vor dem Pult zentrale Position ein (Bild 23). Dadurch verdeckt er die Versuchsapparatur teilweise durch seinen Körper und schränkt die Sicht auf die Apparatur für einige Schüler ein. Gleichzeitig wendet er sich einer Apparatur zu, die zu Beginn der Unterrichtsstunde thematisiert wurde, indem er sie manipuliert und seinen Blick und Körper auf sie ausrichtet. Die Zuwendung zum neuen Unterrichtsgegenstand erfolgt gleichzeitig auch verbal, wobei der Lehrer die beginnende Unterrichtphase als „Nebensequenz“ (Jefferson 1972) rahmt: 117 währenddessen gucken wir uns jetzt mal unseren (-) 118 modELLansatz an im warmen WASser’ (---) 119 da sieht man erstmal hier UNten schon mal’(--) 120 ne deutlichere BLA: senbildung; (---) 121 und 122 (1.01) 123 NAtalie’ (---) 124 was beobachtest du hier OBen? 23 Eva-Maria Putzier 304 Mit dem temporalen Konnektor währenddessen, der an die Ankündigung des Lehrers anschließt, den Siedepunkt des Alkohols abwarten zu müssen, rahmt er seine Aktivitäten als kurzzeitige Unterbrechung der Kernaktivität. Durch den Konnektor wird die Parallelität unterschiedlicher Aktivitätszusammenhange angekündigt. Nebensequenzen zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass die Aktivitäten für die Kernaktivität keinerlei Relevanz besitzen. So steht auch die Zuwendung zur neuen Apparatur in keinem direkten Zusammenhang zu der Erarbeitung des Alkoholnachweises. Was bedeutet dies nun für die Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler? Der ‘Demonstrationsraum’ ist trotz Fokuswechsel präsent. Durch die Eigenlogik des Experiments, das während der Aktivitäten des Lehrers im Hintergrund weiterläuft, wird die Wahrnehmung der Schüler auch weiterhin strukturiert. Sie werden immer wieder durch Blicke überprüfen, wie weit das Experiment bereits fortgeschritten ist. Die Kernaktivität besteht unverändert im experimentellen Nachweis von Alkohol, wenngleich sie durch andere Aktivitäten des Lehrers kurzzeitig unterbrochen ist. Die visuelle Wahrnehmung der Apparatur ist jedoch durch die Position des Lehrers für viele Schüler stark eingeschränkt. Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt in der Nebensequenz maßgeblich durch das lehrerseitige Verhalten. Der Lehrer ist derjenige, der den neuen Fokus etabliert und die Schüler explizit auffordert, ihre Wahrnehmung auf das neue Objekt hin auszurichten. Im Gegensatz zu dem „hier vorne“ des ‘Demonstrationsraums’ wird an dieser Stelle ein aktueller Wahrnehmungspunkt markiert (Natalie’ was beobachtest du hier OBen? ). 5. Die Auflösung des ‘Demonstrationsraums’ In dem letzten Abschnitt soll nun der Frage nachgegangen werden, wann der ‘Demonstrationsraum’ als Form der Wahrnehmungsstrukturierung aufgelöst wird. Zu welchem Zeitpunkt sind die Schüler nicht mehr als Beobachter der Versuchsapparatur gefordert und richten ihre Wahrnehmung auf andere Objekte oder Aktivitäten des Lehrers aus? Ähnlich wie die Etablierung des ‘Demonstrationsraums’ erfolgt auch die Auflösung in mehreren Schritten. Der erste und zentrale Schritt der Auflösung besteht in der Realisierung der anfänglichen Projektion: In dem Moment, in dem der Lehrer mit dem Arrangement an Objekten den Alkohol durch Entzünden nachweist (Bild 24), hat die Apparatur ihren Zweck erfüllt und die Schüler müssen nicht mehr darauf fokussiert werden. Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 305 Dennoch wäre es zu weit gegriffen, wenn man von einer vollständigen Auflösung des ‘Demonstrationsraums’ sprechen würde. Der Lehrer bleibt zunächst bei der Apparatur stehen und geht zu einer verbalen Phase über. Er beschreibt retrospektiv sein Vorgehen und erläutert den experimentellen Prozess anhand der Versuchsapparatur. Der thematische und visuelle Fokus bleibt also zunächst bestehen. Erst im Anschluss entfernt sich der Lehrer räumlich von der Apparatur und wendet sich seinen Unterlagen auf der linken Pulthälfte zu, indem er eines der Blätter in die Hand nimmt. Er dreht sich zur Tafel um und macht das Licht wieder an, das er für die bessere Sichtbarkeit des brennenden Alkohols im Versuch ausgemacht hatte. Während seines Laufwegs realisiert er folgende Äußerung: 172 LE: okay’ (--) 173 das HEISST (--) wir KÖNnen hiermit auch- 174 (1.56) 175 indirekt (1.37) nachweisen 176 dass ALKohol entstanden ist. 177 (3.24) 178 äh: : m wie schreiben=wir das auf? Der Diskursmarker okay dient dem Lehrer als Strukturierungsmittel: Die Erläuterungen sind abgeschlossen und er wendet sich nun neuen Aktivitäten zu. Da er gleichzeitig die Versuchsapparatur verlässt und seine Unterlagen zur Hand nimmt, ist klar, dass die Schüler die Apparatur nicht mehr beobachten müssen. Das Experiment und die entsprechenden Erläuterungen am Objekt sind abgeschlossen. 24 Eva-Maria Putzier 306 Im Anschluss formuliert der Lehrer das Fazit, das auf die vorangegangene experimentelle Phase bezogen ist: das HEISST (--) wir KÖNnen hiermit auch- (1,56 ) indirekt (1,37) nachweisen dass ALKohol entstanden ist. Die im faktischen Nachweis von Alkohol realisierte Projektion wird also retrospektiv auch verbal thematisiert. Dem Lehrer ist das angekündigte Experiment gelungen und er kann sich schließlich weiteren Themen zuwenden, die er ihm Rahmen der alkoholischen Gärung bearbeiten möchte. Neben der Realisierung der Projektion sind es also auch andere Aktivitäten des Lehrers, die zur schrittweisen Auflösung des ‘Demonstrationsraums’ beitragen. Zentral ist dabei die Etablierung eines neuen Fokus, der schließlich zu der Defokussierung des ‘Demonstrationsraums’ führt. Der Lehrer beginnt, sein zu Stundenbeginn erstelltes Tafelbild fortzusetzen. Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt nun primär wieder durch den Lehrer, und die Schüler sind gefordert, ihren Blick auf das Tafelbild auszurichten und den Anschrieb in ihre Hefte zu übertragen. Während der gemeinsamen Erarbeitung des Tafelbildes beginnt der Lehrer schließlich, die Apparatur teilweise abzubauen (Bild 25). Dieser Arbeitsschritt ist jedoch aufgrund der vorangegangenen Etablierung des neuen Fokus nicht mehr im Rahmen der Auflösungsaktivitäten zu verstehen, sondern nur noch unter pragmatischen Gesichtspunkten. Da die Defokussierung bereits erfolgt ist, sind die bis zum Unterrichtsende auf dem Pult vorhandenen Teile der Apparatur im Bezug auf die Wahrnehmungsstrukturierung völlig unerheblich. Sie erfordern keine Aufmerksamkeit mehr seitens der Schüler. 25 Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 307 6. Die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraums’ Eine konstitutionsanalytische, fallbasierte Konzeptentwicklung ist nur vor dem Hintergrund der zentralen Eigenschaft des ‘Demonstrationsraums’ adäquat realisierbar, die ich im Folgenden als „Teilautonomie“ bezeichnen werde. Die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraums’ hängt eng mit dem Phänomen des Experiments zusammen: Ein Experiment besitzt seine eigene Zeitlichkeit und läuft in seiner Eigenlogik immer auf einen Endpunkt zu. Bei dem im Videoausschnitt realisierten Experiment des Alkoholnachweises erhitzt der Lehrer die Lösung mit dem Brenner und setzt damit das Experiment in Gang. In dem Moment, in dem er den Brenner unter den Kolben stellt, beginnt das Erhitzen der Lösung, ohne dass ein weiteres Zutun erforderlich ist. Abgeschlossen ist das Experiment jedoch erst, wenn der Lehrer den Alkohol nachweisen oder erkennbar nicht nachweisen kann, wofür er weitere Arbeitsschritte unternehmen muss. Es gibt offensichtlich Experimentphasen, in denen der Lehrer anderen Relevanzen nachgehen kann. In solchen Phasen muss der Lehrer den Schülern nicht permanent verdeutlichen, dass das Experiment weiterhin Unterrichtsthema ist und daher beobachtet werden soll. Die Apparatur macht sich sozusagen selbst bemerkbar: Sie steht sichtbar in der Mitte des Pults, der Brenner rauscht hörbar weiter, und die Lösung beginnt - visuell und olfaktorisch wahrnehmbar - zu sieden (siehe oben Kap. 4.2.2.1). Die Wahrnehmungsstrukturierung erfolgt nicht nur durch das Verhalten des Lehrers im Rahmen spezifischer physikalisch-territorialer Grenzen, sondern sie ist - einmal initiiert - partiell losgelöst von seinen Aktivitäten. „Teil“-autonom ist der ‘Demonstrationsraum’ deshalb, weil er nicht losgelöst von jeglichen Interaktionsbeteiligten existiert. Er ist zwar nicht an den demonstrierenden Agenten gebunden, jedoch sind die wahrnehmenden Interaktionsbeteiligten für seine Aufrechterhaltung konstitutiv. Wahrnehmung kann nur dort strukturiert werden, wo auch wahrgenommen wird. Im Folgenden werde ich die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraums’ anhand zweier unterschiedlicher Stellen des Ausschnitts fallanalytisch herausarbeiten. Im ersten Videoausschnitt läuft der Lehrer, nachdem er den Brenner der Versuchsapparatur angezündet hat, zu dem seitlich platzierten Overhead-Projektor, auf dem er sich mit der rechten Hand abstützt (Bild 26; siehe oben Kap. 4.2.2.1). Ausgehend von der Konzeption der Fokusperson, die im Lehr- Lern-Setting von der Lehrperson repräsentiert wird, spricht zunächst alles da- Eva-Maria Putzier 308 für, dass die Schüler mit ihren Blicken dem Lehrer folgen und mit der Positionierung des Lehrers ein neuer Fokus etabliert wird. Mit dem Laufweg des Lehrers findet jedoch keine Fokusverschiebung statt, wenngleich die Schüler zeitweise durchaus auf ihn orientiert sind. Die Versuchsapparatur bleibt unverändert sichtbar und der Brenner ist kontinuierlich hörbar im Gange. Für das Anforderungsprofil des Lehrers ist die in der Apparatur eingeschriebene Relevanz mit einer Entlastung verbunden: Er muss nicht permanent auf die Apparatur verweisen, um die Schüler entsprechend zu fokussieren, sondern er kann ungestört anderen Relevanzen nachgehen, ohne die Relevanz der Apparatur rückzustufen. DR Interessant ist nun das Verbalverhalten des Lehrers, in dem sich die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraums’ manifestiert: Er erkundigt er sich bei der Schülerin Meli, welche Modifikationen an der Apparatur noch vorgenommen werden müssten, um den Alkohol wie gewünscht nachweisen zu können: 57 LE: <<f>SO was sollt ich hier noch=s noch ÄNdern; 58 damit ich auch WIRklich: : anna=den>- 59 1.51) 60 äh: : (---) 61 MEli <<all>tschuldigung>- 62 ME: ja 63 LE: .hh damit ich hier WIRklich den (.) ALkohol; 64 v=vom wasser (nacher) geTRENNT habe- 65 (2.99) 66 wie sollt=ich das ÄNdern? = 67 =ich mein wenn ich das jetzt erHITZe? (--) 68 was sollte deiner meinung nach PASsieren? 69 (1.31) 70 ME: <<p>das WASser sollte verdampfen> 26 Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 309 Auffallend ist hierbei die deiktische Referenz des Lehrers auf die Versuchsapparatur: Obwohl er einige Meter von der Apparatur entfernt ist, verwendet er nicht die Lokaldeiktika da oder dort, sondern verweist mit hier (Z. 57/ 63) auf das Arrangement seines Versuches. Während der Lehrer unmittelbar nach dem ersten hier (Z. 57) eine Handbewegung in Richtung Versuchsapparatur realisiert (Bild 27), hält er seinen Blick während des zweiten hier auf die Apparatur gerichtet (Bild 28). 28 27 Die invariante Verwendung von hier als Referenz auf die Versuchsapparatur ist mit unterschiedlichen Implikationen verbunden: - Im Bezug auf die Anforderung der Wahrnehmungsstrukturierung dient die Lokaldeixis dem Lehrer als Fokuskontinuitätshinweis: Er verdeutlicht den Schülern implizit, dass der Primärfokus weiterhin auf der Versuchsapparatur liegt. Das Hier und Jetzt der aktuellen Interaktionssituation hat sich nicht verändert. Die Schüler sollen weiterhin die Apparatur im Blick behalten. - Gleichzeitig manifestiert sich in der spezifischen Referenz auch die eigene Orientierung des Lehrers auf die Apparatur. Den aktuell relevanten Unterrichtsfokus definiert er nicht ausgehend von seiner Person als „dort“, sondern schreibt ihm eine gewisse Eigenständigkeit zu. Das hier ist nicht an die Person des Lehrers gebunden. Die Wahrnehmungsstrukturierung der Schüler ist also teilweise losgelöst von der Person des Lehrers. Auch wenn sich der Lehrer weitgehend von der Apparatur entfernt und seine praktischen Aktivitäten einstellt, bleibt das hier der primären, qualifizierten Wahrnehmung, im Sinne des Beobachtens, unverändert erhalten. Eva-Maria Putzier 310 Im zweiten Videoausschnitt, in dem die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraumes’ sichtbar wird, führt der Lehrer sein in der vorangegangenen Stunde begonnenes Tafelbild fort. Da er mit dem Experiment erst fortfahren kann, wenn der Alkohol zu sieden beginnt, wendet er sich kurzzeitig der Besprechung einer Apparatur zu, die er vor dem Alkoholnachweis errichtet hatte (vgl. Kap. 4.2.2.2). Nun notiert er die Beobachtungen der Schüler an der Tafel (Bild 29). Sein Tafelanschrieb kollidiert jedoch mit der Zeitlichkeit des Experiments: Die Lösung kocht über, und der Lehrer ist gezwungen, seine aktuellen Aktivitäten einzustellen (Bild 30) und sich dem Experiment zuzuwenden (Bild 31). 29 30 31 129 LE: 11.92) 130 UPS 131 (9.73) 132 so jetzt SCHAUN wir mal- (---) 133 OB hier wirklich auch- 134 (1.06) 135 alkohol rauskommt? Der Videoausschnitt verdeutlicht in prototypischer Weise die Eigenlogik des Experiments. Es ist hier nicht der Lehrer, der das Experiment an die Unterrichtsstunde anpasst, sondern das Experiment zwingt ihn zur Anpassung. Will der Lehrer den Alkohol nachweisen, muss er sofort handeln. Er kann seine begonnenen Aktivitäten an der Tafel nicht erst abschließen, weil ihm sonst der gesamte Alkohol in die Luft entweicht. Dass er dabei in Zugzwang ist, formuliert er selbst, als es ihm nicht gelingt, den Glimmspan anzuzünden, der ihm als Zündquelle dient: Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 311 137 LE: schnell: sonst ist er ! WEG! ’ 138 (2.24) 139 oh: : 140 (6.16) 141 KOMM schon- Das Experiment macht sich selbst bemerkbar und strukturiert damit die Wahrnehmung der Schüler ohne das Zutun des Lehrers. Im Videoausschnitt wird wie an keiner anderen Stelle die Unabhängigkeit der Wahrnehmungsstrukturierung vom demonstrierenden Agenten evident. Die Eigenlogik des Experiments zwingt den Lehrer in die Funktion des demonstrierenden Agenten, obwohl der Lehrer eigentlich im Begriff war, anderen Relevanzen zu folgen. Zuletzt sei noch auf eine weitere Situation des Videoausschnittes hingewiesen, in der sich die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraumes’ im Lehrer- Schüler-Gespräch bemerkbar macht: Es kommt zu akustischen Verständigungsproblemen zwischen Anna und dem Lehrer, da er sie aufgrund des rauschenden Brenners nicht verstehen kann (Bild 32): 103 AN: ja was DRÜber machen wo der alkohol reingeht- 104 LE: da RAUSCHT=s so laut- 105 ich HÖR nix; (--) Unabhängig davon, ob der Lehrer Anna tatsächlich nicht versteht oder die Äußerung als implizite Aufforderungen an Anna richtet, lauter zu sprechen, zeigt sich hier wieder die kontinuierliche Eigenständigkeit des Experiments, die sich auf unterschiedlichen Ebenen der Interaktionssituationen einschreibt. 32 Eva-Maria Putzier 312 7. Zusammenfassung Ausgehend von der videobasierten Fallanalyse einer Sequenz im Chemieunterricht, in welcher der Lehrer für die Schüler ein Experiment zum Alkoholnachweis durchführt, habe ich das Konzept des ‘Demonstrationsraums’ als eine Form der Wahrnehmungsstrukturierung entwickelt. Als zentralem Agenten obliegt es dem Lehrer, den zu beobachtenden Raumbereich aus der zunächst diffusen Aufmerksamkeitsausrichtung auf das „Vorne“ kenntlich zu machen. Dafür setzt er sprachlich-interaktive oder körperlichräumliche Verfahren ein (Modaliätssynchronisierung, Umgehen des ‘Demonstrationsraums’), ist gleichzeitig jedoch handlungsentlastet, da seine Formulierung machen wir das (.) HIER; (---) VO: rne’ einen ganzen Handlungszusammenhang projiziert, der im Wissensbestand der Schüler verankert ist. Der Handlungszusammenhang impliziert für die Schüler ein spezifisches Beteiligungsformat, nämlich das des Beobachters, dessen Explizierung somit hinfällig ist. Bereits hier wird deutlich, wie eng die Etablierung des ‘Demonstrationsraumes’ mit Handlungsroutinen und vertrautheitsabhängigen Verhaltensmustern verbunden ist. Der ‘Demonstrationsraum’ ist durch keine klaren Grenzen markiert und kann in einen Kern- und Randbereich unterteilt werden. Der Randbereich des ‘Demonstrationsraums’ ist eher diffus, während der durch das Arrangement fachspezifischer Gegenstände charakterisierte Kernbereich durch eine freie Fläche von seiner Umgebung gleichermaßen abgegrenzt und gerahmt ist und dadurch Platz für das „Machen“ von Chemie zur Verfügung stellt. Bei der Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’ ist der Lehrer in Analogie zur Etablierung teilweise handlungsentlastet: Er wendet zwar Strategien zur Verdeutlichung der Fokuskontinuität (durch Verbalisierung und verbale Abstinenz) an, kann sich aber längerfristig vom ‘Demonstrationsraum’ entfernen, ohne die Schüler ihrer Beobachtungsrolle zu entbinden. Sogar in Sequenzen, in denen er Aktivitäten nachgeht, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit dem Experiment stehen, bleibt die Relevanz des ‘Demonstrationsraumes’ durch die eigene Zeitlichkeit und Logik des Experiments - visuell, auditiv und olfaktorisch wahrnehmbar - erhalten. Die Auflösung des ‘Demonstrationsraums’ wird wie die Aufrechterhaltung vorwiegend durch die Struktur des Experiments organisiert. Mit dem Nachweis des Alkohols hat das Experiment seinen Zweck der Wissenserkenntnis erfüllt, wodurch sich auch der Zweck des ‘Demonstrationsraumes’ als Form Der Demonstrationsraum als Form der Wahrnehmungsstrukturierung 313 der Wahrnehmungsstrukturierung erübrigt. Mit dem Wechsel von praktischen zu verbalen Aktivitäten des Lehrers, seiner vom ‘Demonstrationsraum’ abgewendete Position und schließlich dem schrittweisen Abbau der Apparatur sind zahlreiche Folgeaktivitäten genannt, in denen sich die Auflösung des ‘Demonstrationsraumes’ sichtbar manifestiert. Die Teilautonomie ist ein für den ‘Demonstrationsraum’ konstitutives Charakteristikum, das aus der Eigenständigkeit des Experiments resultiert. Einmal in die Welt gesetzt, wirkt sich das Experiment organisierend auf die gesamte Interaktionssituation aus und bleibt solange relevant, bis es schließlich seinen Zweck erfüllt hat. Ein zentrales Indiz für die Teilautonomie des ‘Demonstrationsraumes’ ist die Lokaldeixis hier, mit welcher der Lehrer - unabhängig von seiner eigenen Position im Raum - auf den zentralen Wahrnehmungsfokus der Schüler referiert. Zu untersuchen bleibt, ob die Realisierung von Experimenten für das Konzept ‘Demonstrationsraum’ konstitutiv ist oder ob die Wahrnehmungsstrukturierung von beobachtenden Agenten durch die Etablierung eines ‘Demonstrationsraumes’ auch in anderen Interaktionszusammenhängen, wie etwa innerhalb von Kochshows (Stukenbrock i.d.Bd.) oder vor Ausstellungsvitrinen (Kesselheim i.d.Bd.), erfolgen könnte. 8. 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Einleitung In den vergangenen Jahren ist in der Gesprächsforschung ein steigendes Interesse an multimodalen Aspekten von Interaktion festzustellen, d.h. an der Untersuchung, wie Interaktionsteilnehmer sich neben verbaler auch verschiedenster anderer Ressourcen bedienen, um gegenseitiges Verstehen zu sichern (Schmitt (Hg.) 2007, Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010). Zu diesen unterschiedlichen Ressourcen gehören neben ‘embodied actions’ auch Artefakte und räumliche sowie temporale Aspekte. Wie die Interaktanten den Einsatz dieser unterschiedlichen Ressourcen koordinieren und sich am Einsatz derselben orientieren, soll Fokus der vorliegenden Untersuchung sein. Hierbei liegt das Augenmerk auf der Frage, wie das Zurverfügungstehen bestimmter technologischer Hilfsmittel in Arbeitssitzungen (hier: ein Laptop mit Computerprojektion) für die Gesprächsteilnehmer eine Ressource zur gegenseitigen Koordinierung ihrer unterschiedlichen Handlungen darstellt. Insbesondere wird verfolgt werden, in welchen sequenziellen Positionen sich die Gesprächsteilnehmer aneinander orientieren und wann bestimmte koordinative Aktivitäten zum Einsatz kommen. Die Studie basiert auf einer „Single Case“-Analyse (Schegloff 1987) einer Strategiesitzung. Diese Sitzung ist Teil eines umfassenderen Datensets von Videoaufnahmen verschiedener Strategiesitzungen eines dänischen mittelständischen Unternehmens. Das Ziel der Sitzungen besteht darin, die Strategie des Unternehmens niederzuschreiben. Das hier zu entwickelnde Strategiedokument soll bei der nächsten Aufsichtsratssitzung zur gemeinsamen Diskussion vorgelegt werden. 1 Ich möchte an dieser Stelle den Teilnehmern des Kolloquiums „Raum als interaktive Ressource“ am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim, für die anregenden Diskussionen und konstruktiven Rückmeldungen zu früheren Versionen dieses Artikels danken. Mein besonderer Dank gilt Reinhold Schmitt, Lorenza Mondada und Heiko Hausendorf für kontinuierliches, konstruktives Feedback. Birte Asmuß 318 Bild 1 Ein erster Blick auf die Daten macht deutlich, dass die Sitzungsteilnehmer sich in einer überaus komplexen Kommunikationssituation befinden: sie sprechen miteinander, sie schauen in ihre Papierdokumente, sie machen Notizen auf Papier, sie schauen auf eine Computerprojektion, sie trinken Kaffee, sie benutzen den Laptop, die Computermaus usw. Das heißt, den Gesprächsteilnehmern steht eine Reihe unterschiedlicher Ressourcen zur Bedeutungsaushandlung zur Verfügung, die neben der Sprache auch Artefakte wie Papier oder Stifte sowie technische Arbeitsgeräte wie Computer, Computermaus und Computerprojektion umfassen. Darüberhinaus weisen die Gesprächsteilnehmer eine Orientierung am Raum auf: ihr Körper oder einzelne Körperteile wie Kopf, Oberkörper, Hand oder Arm orientieren sich an sitzungsrelevanten Artefakten oder Personen, wie beispielsweise in Bild 1, in dem der linke Gesprächsteilnehmer mit seinem Arm auf die Computerprojektion zeigt, während der andere Gesprächsteilnehmer auf den Bildschirm des vor ihm stehenden Laptops schaut. Wie die Gesprächsteilnehmer diese unterschiedlichen Ressourcen zur Koordination ihrer Handlungen einsetzen, wird der Fokus der vorliegenden Studie sein. Dabei steht insbesondere im Vordergrund, wie und wann die Gesprächsteilnehmer eine gemeinsame Orientierung an dem mittels Computerprojektion zugänglichen Text etablieren. Eine solche gemeinsame Orientierung erfordert von den Gesprächsteilnehmern eine genaue Koordinierung, da die räumliche Anordnung des Tisches mit zwei einander gegenüberstehenden Stühlen und der seitlich davon platzierten Computerprojektion eine gleichzeitige Orientierung erschwert. Doch zunächst sollen einige wesentliche Forschungsbereiche skizziert werden, von der sich die vorliegende Studie hat inspirieren lassen. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 319 2. Multimodalität und Technologie Die vorliegende Studie verschreibt sich einer multimodalen Perspektive auf Interaktion (siehe auch Schmitt (Hg.) 2007, Mondada/ Schmitt (Hg.) 2010). Daher sollen im Folgenden einige relevante Entwicklungen dieser Forschungsrichtung skizziert werden. Die Forschungsrichtung Multimodalität mit besonderem Fokus auf Interaktion hat sich Ende der 1990er Jahre aus der ethnomethodologischen Konversationsanalyse entwickelt (Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). Sie ermöglicht eine Sicht auf kommunikative Handlungen als gemeinsame ‘accomplishments’ aller beteiligten Kommunikationsteilnehmer mittels unterschiedlicher Ressourcen. Laut Stivers/ Sidnell (2005) liegt das Hauptinteresse eines multimodalen Ansatzes in der Beschreibung der „ways in which talk, gesture, gaze, and aspects of the material surround are brought together to form coherent courses of action“ (ebd., S. 1). Ein derartiges Verständnis von Interaktion ermöglicht eine gleichberechtigte Sicht auf unterschiedliche Ressourcen, anstatt das Verbale als das primäre Kommunikationsmedium zu betrachten. Doch Studien dieser Art sind noch immer relativ selten. So konstatieren Heath und Luff schon im Jahre 2000 hinsichtlich der immer häufigeren Verwendung technischer Arbeitsgeräte im Arbeitsalltag, dass es bemerkenswert ist, „how little we know about the ways in which indiviuals, both alone and in concert with each other, use tools and technologies in the practical accomplishment of their daily work“ (Heath/ Luff 2000, S. 4). Auch mehr als zehn Jahre später ist diese Feststellung weiterhin aktuell, selbst wenn das Interesse an der Interrelation zwischen Technologie und Interaktion entscheidend gewachsen ist. Dies zeigt sich beispielsweise in Studien, die sich mit sozialen Aspekten von Technologie beschäftigen (Büscher/ Mogensen 2007, Büscher 2007, Heath/ vom Lehn 2008) und in Studien, die sich speziellen Aspekten von Technologie widmen, wie beispielsweise Videokonferenzen (Mondada 2007a) und Handykommunikation (Laursen 2010a, b). Es ist auch ein gesteigertes Interesse an der Untersuchung der Koordination von Interaktion und technischen Hilfsmitteln zu verzeichnen. Schon 1994 untersucht Uhlírová die Koordination von Sprache und dem Benutzen des Computers. Sie hebt hervor, dass Kommunikation aus mehreren Kanälen besteht (Uhlírová 1994, S. 526), und in ihrer Unterscheidung zwischen einem audialen und einem mechanischen oder visuellen Kanal geht einher, die Synchro- Birte Asmuß 320 nizität der beiden Kanäle zu berücksichtigen, um die Interaktion vollständig verstehen zu können. Hier schließt Mondada (2007b, S. 64) an, wenn sie hervorhebt, dass die simultane Aushandlung von Verstehen mittels verschiedener multimodaler Ressourcen die Entstehung unterschiedlicher Relevanzen zeitgleich ermöglicht. Gardner/ Levy (2010) zeigen in ihrer Studie zum gemeinsamen Arbeiten am Computer, dass Koordination primär zu Beginn gemeinsamer Aktivitäten stattfindet. Dies ist beispielsweise nachweisbar, indem die Gesprächsteilnehmer hier die Sprache verlangsamen, um sie den Aktivitäten am Computer anzupassen. Auch Greatbatch (2006) untersucht medial unterstützte Interaktion von institutionellen Gesprächsteilnehmern. Seine Studie zu Rezeptverschreibungen, in denen der Arzt zeitgleich mit der verbalen Information über das Rezept dem Patienten das Rezept per Computer verschreibt und diese Informationen im Computersystem dokumentiert, zeigt, wie das Schreiben am Computer wechselseitig das Turn-taking der Gesprächsteilnehmer strukturiert. Studien wie die oben genannten zeigen, wie komplex zwischenmenschliche Interaktion ist, und welche entscheidende Rolle technische Arbeitsgeräte bei der Durchführung kommunikativer Handlungen spielen können. Um die Relevanz solch unterschiedlicher Ressourcen für die lokale Bedeutungsaushandlung genauer untersuchen zu können, soll in der vorliegenden Studie deren Rolle für die Koordination und Ko-Orientierung untersucht werden. 3. Koordination und Ko-Orientierung Bei einer genaueren Betrachtung der für diese Studie untersuchten Daten wird unmittelbar deutlich, dass eine besondere Herausforderung bei der gemeinsamen Textproduktion und -redigierung darin liegt, unterschiedliche Aktivitäten wie beispielsweise den Einsatz des Computers mit gegenseitigem Blickkontakt, verbalen Handlungen und ‘embodied actions’ zu koordinieren und sich somit wechselseitig an dem anderen Gesprächsteilnehmer zu orientieren. Deppermann/ Schmitt (2007) definieren Koordination als „beobachtbares Verhalten der Interaktionsbeteiligten“ (ebd., S. 20; siehe auch Mondada 2007b), das dazu dient, unterschiedliche Aktivitäten aufeinander abzustimmen. Koordination bedeutet hier einen Fokus nicht nur auf die verbal anwesenden Personen, sondern auch auf diejenigen Personen, die (zeitweise oder während der gesamten Interaktion) verbal nicht aktiv sind (Heidtmann/ Föh 2007). Daher führen Deppermann/ Schmitt (2007) auch den Begriff der ‘Interaktionsbetei- Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 321 ligten’ ein, der damit den Fokus von der Verbalität als entscheidendes Kriterium auf die Vielzahl unterschiedlicher Beteiligungsweisen (verbale und ‘embodied’) verschiebt. Neben Aspekten der Zeitlichkeit und Räumlichkeit sind hierbei auch Aspekte der Multimodalität verstärkt zu berücksichtigen. Zu dem Bereich der Multimodalität gehören neben den personengebundenen Aspekten wie Gestik, Mimik sowie Körperpositionierung und -orientierung auch materielle Aspekte wie Artefakte (Papierdokumente, Computer etc.) und deren Funktion als interaktive Ressource in der Interaktion. Deppermann/ Schmitt (2007) unterscheiden zwei Grundformen der Koordination, nämlich intrapersonelle und interpersonelle. Unter intrapersoneller Koordination werden die Aktivitäten verstanden, mit denen ein Interaktionsbeteiligter seine eigenen Handlungen (verbal, gestisch, mimisch, räumlich, zeitlich usw.) miteinander koordiniert. Interpersonelle Koordination beschreibt die Aktivitäten, die sich auf die gegenseitige Abstimmung verschiedenster multimodaler Handlungen beziehen. Hierbei beeinflussen die Interaktionsbeteiligten einander wechselseitig hinsichtlich der Abstimmung der Handlungen, indem die Handlungen des Beteiligten A eine Anpassung auf oder Abstimmung mit den Handlungen des Beteiligten B erfordern. In der vorliegenden Studie liegt der Fokus auf interpersoneller Koordination, da untersucht werden soll, wie die beiden Gesprächsteilnehmer ihre Handlungen (verbal, ‘embodied’, artefakutell) aufeinander abstimmen, um gemeinsame Bedeutungsaushandlung durchzuführen und um gegenseitiges Verstehen zu sichern. 4. Daten Die Daten für die vorliegende Studie stammen aus einer Serie von Strategiesitzungen eines mittelständischen Unternehmens und sind mit dem Ziel erhoben worden, Strategieprozesse in mittelständischen Unternehmen von der Strategieanalyse über die Strategieformulierung bis hin zur Implementierung zu untersuchen. Das Unternehmen produziert Futtermittel für unterschiedliche Haustiere (Katzen, Hunde, Vögel und Nager). Die Strategiesitzung, aus der der Auszug für die vorliegende Studie stammt, ist ein Teil der Sitzungen zur Strategieformulierung und hat zum Ziel, die vorläufig formulierte Strategie zu einzelnen Geschäftsbereichen zu vervollständigen, damit diese bei der nächsten Aufsichtsratssitzung präsentiert werden können. Birte Asmuß 322 Bild 2 Anwesend sind zwei Personen: der geschäftsführende Direktor (fortan: Möller) 2 links und der HR-Kommunikationsmanager (fortan: Petersen) rechts. Die Strategiedokumente sind auf der Basis von früheren Sitzungen mit der gesamten Managementgruppe erstellt worden und sollen nun in dieser abschließenden Sitzung fertiggestellt werden. Hierzu hat Petersen Feedback von allen relevanten Vertretern des oberen Managements eingesammelt. Der zu bearbeitende Strategietext wird per Computerbeamer an die Wand projiziert. Petersen ist derjenige, der direkten Zugang zum Computer hat und somit den Text direkt verändern kann. Er hat demnach verschiedene Aufgaben in der Sitzung: er soll dem geschäftsführenden Direktor das fachliche Feedback der Managementgruppe vermitteln, er hat praktisch den Text zu erstellen (indem er den Text tippt) und er soll auch als Diskussionspartner in den Fällen dienen, in denen der vorgeschlagene Text revidiert werden muss. Bei der Koordinierung ihrer kommunikativen Aktivitäten müssen sich die Gesprächsteilnehmer somit verschiedenen Herausforderungen stellen, da sie neben der visuellen und verbalen Orientierung aneinander auch noch Aktivitäten koordinieren müssen, die - in vielen Fällen zeitgleich - auf der Computerprojektion visuell verfügbar gemacht werden. Diese unterschiedlichen Möglichkeiten der Orientierung werden in untenstehender Abbildung 1 verdeutlicht. 2 Die Namen wurden anonymisiert. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 323 Die beiden Gesprächsteilnehmer sind folgendermaßen platziert: Laptop Computerprojektion Möller Petersen Abb. 1: Platzierung der Gesprächsteilnehmer Hinsichtlich der räumlichen Anordnung ist folgendes bemerkenswert: Die Gesprächsteilnehmer haben verschiedene Orientierungsmöglichkeiten. Beide (sowohl Möller als auch Petersen) haben Zugang zu dem zu behandelnden Dokument, indem sie ihre Orientierung an der beiden zugänglichen Computerprojektion ausrichten. Computerprojektion Möller Petersen Abb. 2: Orientierung an Computerprojektion Zusätzlich haben die Gesprächsteilnehmer die Möglichkeit, sich aneinander zu orientieren, d.h., dass sie ein- oder gegenseitig Blickkontakt etablieren können. Petersen kann außerdem als Einziger auch eine Orientierung am Laptop relevant machen, da nur er Zugang zu diesem hat. Während Petersen direkt den Strategietext ändern kann, indem er direkten Zugang zum Laptop hat, kann Möller nur Änderungen vornehmen, indem er Petersen so instruiert, dass dieser den Text dementsprechend ändert. Wenn Petersen das Strategiedokument ändert, sieht Möller das Resultat dieses Prozesses mit Hilfe der Computerprojektion. Das heißt, dass Möller mittels der Computerprojektion die Möglichkeit hat, simultan während der Durchführung der Änderungen durch Petersen Birte Asmuß 324 diese zu monitorieren (siehe auch Schmitt/ Deppermann 2007) und direkt zu kommentieren. Wie die Koordinierung dieser unterschiedlichen Orientierungen, die teilweise zeitgleich vor sich gehen, abläuft, ist ein Fokus der vorliegenden Untersuchung. Computerprojektion Möller Petersen Abb. 3: Orientierung an Computerprojektion und Gesprächsteilnehmer Petersen Computerprojektion Möller Laptop Abb. 4: Orientierung an Computerprojektion und Gesprächsteilnehmer sowie Einflussnahme auf Computerprojektion via Laptop Außerdem liegen auf dem Tisch noch einige Papierdokumente, die beiden Gesprächsteilnehmern zugänglich sind. Auch diese können die Gesprächsteilnehmer gegebenenfalls in die Interaktion mit einbeziehen und somit können die Papierdokumente und ihre Platzierung für die Interaktion bedeutungsvoll werden. Neben den zahlreichen Artefakten (Papierdokumente, Gläser, Stifte usw.) auf dem Tisch ist ein weiterer Bestandteil des Sitzungsarrangements der Aspekt der Räumlichkeit. Die Computerprojektion ist für beide Teilnehmer entfernt, Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 325 d.h., um eine Orientierung an dieser relevant zu machen, können die Teilnehmer diese nicht physisch wie die auf dem Tisch liegenden Papierdokumente in die Interaktion mit einbeziehen. Stattdessen haben sie nur über Distanz zu dieser Zugang, und diese Distanz können sie entweder mittels Gestik und Körperorientierung oder aber im Falle von Petersen mittels des Laptops überbrücken. 5. Analyse Die vorliegende Analyse konzentriert sich auf eine in den Daten häufig vorkommende Aktivität, die darin besteht, dass einer der beiden Gesprächsteilnehmer einen Vorschlag zur Änderung des Strategietextes macht. Eine solche Handlung macht eine folgende Akzeptanz oder Ablehnung des Vorschlags prozedural relevant (Houtkoop-Steenstra 1987, Maynard 1984, Heinemann/ Mitchell/ Buur 2009, Asmuß/ Oshima i.Vorb.). Eine Akzeptanz oder Nicht- Akzeptanz kann durch verbale Mittel vollzogen werden (‘acknowledgement tokens’ etc.), durch ‘embodied actions’ (z.B. Nicken) oder indem die vorgeschlagene textuelle Änderung direkt in den Strategietext geschrieben wird. Die letzte Möglichkeit steht nur Petersen zur Verfügung, da nur dieser direkten Einfluss auf den Strategietext nehmen kann. Ein erstes Beispiel für einen Vorschlag ist der untenstehende Auszug (1). Hier macht Möller einen Vorschlag zur Änderung des Textes. Dieser wird von Petersen zunächst verbal akzeptiert und dann direkt anschließend in den Strategietext eingefügt. Insofern ist hier von einer „unproblematischen“ Vorschlagssequenz die Rede, in der der Vorschlag direkt akzeptiert und umgesetzt wird. Bild 3 Birte Asmuß 326 Auszug (1) 1 PE: ((Tippt ‘ strategien ’ ( die Strategie ) und löscht danach wieder ‘ strategien ’ ( die Strategie )) 2 PE: .hh [er at] ((PE liest laut von Laptop)) .hh sind dass 3 MÖL: [i i ] i Alsted ↑ ikk? in in in Alsted nicht wahr? [((MÖL blickt auf CP3)) 4 PE: jo: . ja 5 (0.2) 6 PE: ((PE beginnt zu tippen...))= 7 MÖL: =[.ffn =[((PE tippt weiter)) 8 (1.8) ((PE tippt weiter ‘ i Alsted ’)) 9 PE: ((schiebt Cursor auf eine andere Stelle im Dokument)) Sich an der Computerprojektion orientierend macht Möller in Zeile 3 den Vorschlag, in den schon geschriebenen Strategietext de strategiske mål for produktionen er at (‘die strategischen Ziele für die Produktionsstrategie sind dass’) die Ortsangabe für die Produktionsstätte (Alsted) einzufügen. Petersen, der sich während des gesamten Auszugs am Bildschirm seines Laptops orientiert, akzeptiert in Zeile 4 diesen Vorschlag ( jo: - ‘ja’) und nach einer kurzen Pause beginnt er in Zeile 6 damit, den Vorschlag umzusetzen, indem er anfängt i Alsted (‘in Alsted’) zu tippen. Als Initiierung der Beendigung der Sequenz - und damit der Möglichkeit, eine neue Sequenz zu beginnen - rückt er in Zeile 9 den Cursor an einen anderen Punkt im Strategiedokument. Der Auszug verdeutlicht, wie sich die Gesprächsteilnehmer an den unterschiedlichen kommunikativen Aktivitäten orientieren und ihre Handlungen aufeinander abstimmen. Zur gemeinsamen Bedeutungsaushandlung orientieren sich beide Gesprächsteilnehmer am relevanten Dokument, doch jeweils an unterschiedlichen Realisierungen davon. Petersen orientiert sich am Laptopbildschirm, wodurch er gleichzeitig seine Orientierung am Dokument mit dem Tippen desselben abstimmen kann. Möller hingegen orientiert sich an der 3 CP = Computerprojektion. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 327 Computerprojektion, die ihm als einziger direkter Zugang zum Strategiedokument dient. Hiermit wird deutlich, dass eine Orientierung an einer gemeinsamen Handlung (hier dem Akzeptieren eines Vorschlags) nicht notwendigerweise auch einen gemeinsamen Orientierungspunkt enthält. Stattdessen findet die Orientierung am Strategiedokument ausschließlich über die Computerprojektion im Falle von Möller und den Laptop im Falle von Petersen statt (siehe Bild 3). In Hinblick auf die Koordinierung der kommunikativen Aktivitäten ist im Auszug zu sehen, wie Petersen, der direkten Zugang zur Computerprojektion via Laptop hat, seine Akzeptanz des von Möller gemachten Vorschlags zeigt, indem er zusätzlich zur verbalen Zustimmungsmarkierung in Zeile 4 durch das Tippen des Vorschlags denselben direkt umsetzt. Im Folgenden soll detaillierter aufgezeigt werden, welche unterschiedlichen Formen der Ko-Orientierung die Gesprächsteilnehmer in den vorliegenden Vorschlagssequenzen etablieren und welche unterschiedlichen Handlungen damit einhergehen. Im folgenden Auszug (2), der aus demselben Datenset stammt wie Auszug (1), wird der Vorschlag zur Änderung des Strategietextes nicht ebenso schnell akzeptiert und umgesetzt wie in Auszug (1). Stattdessen trifft der erste Vorschlag auf einen zweiten Vorschlag, der genauer verhandelt werden muss. Der Fokus in der folgenden Analyse wird darum darauf liegen, wie die Gesprächsteilnehmer ihre Handlungen aufeinander abstimmen und sich aneinander orientieren, um eine Einigung über die vorgebrachten Vorschläge zu erreichen. In diesem Teil der Sitzung diskutieren die beiden Gesprächsteilnehmer das Strategiedokument „Verkaufsstrategie für Futter für Wildvögel“ (im Weiteren Dokument A) sowie die „Verkaufsstrategie für Trockenfutter für Katzen und Hunde“ (im weiteren Dokument B). Dokument A ist von Zeile 1 bis 35 als Computerprojektion zu sehen, in Zeile 35 wechselt Petersen die Computerprojektion zu Dokument B. Petersen hat in seiner Hand zusätzlich ein Papierdokument (im Weiteren Dokument C), auf das er in Zeile 40-46 Bezug nimmt. Eine zweite Version dieses Dokuments liegt auch links vor Möller auf dem Tisch. Möller hat außerdem eine Papierversion des Dokuments B in seiner rechten Hand (siehe Bild 4). Bevor Möller in Zeile 1 das Wort ergreift, sind beide Gesprächsteilnehmer damit beschäftigt, die sich in ihrer Hand befindenden Dokumente zu lesen. Birte Asmuß 328 Bild 4 Auszug (2a) 1 MÖL: [men: prøv o‘ hør. aber versuche und höre. aber hör mal. 2 [((MÖL guckt zu PE, PE guckt ins Dokument C))4 3 (0.4) ((MÖL guckt zu PE, PE guckt ins Dokument C)) 4 MÖL: hvis vi kigger på [den der[op, wenn wir gucken auf das da=oben, wenn wir nach da oben gucken 5 [((MÖL guckt und zeigt auf CP Dokument A)) 6 [((PE guckt auf CP)) 7 (0.5) In diesem Abschnitt wird deutlich, wie Möller mittels verbaler Handlungen und ‘embodied actions’ ein Angebot zur Etablierung einer gemeinsamen Orientierung der Gesprächsteilnehmer macht. Möller beginnt mit der Aufmerksamkeitsaushandlung, die er mit einem ‘preface’ einleitet men: prøv og hør 4 Die ‘embodied actions’, die im Transkript angegeben werden, gelten soweit nicht anders angegeben solange, bis eine neue ‘embodied action’ im Transkript angegeben wird. Dennoch ist es wichtig anzumerken, dass es aufgrund der Komplexität menschlicher Interaktion im Transkript nie möglich ist, die gesamte Komplexitiät und Dynamik aller verbalen und ‘embodied actions’ einzufangen. Die Bildausschnitte sollen hier helfen, die wichtigsten Änderungen im Interaktionsgeschehen zu veranschaulichen. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 329 (‘aber hör mal’; Z. 1), welches einen längeren Turn seinerseits ankündigt. In Zeile 2 wird deutlich, dass Petersen sich nicht an Möllers Aufforderung zur gemeinsamen Aufmerksamkeit orientiert, da er weiterhin seinen Blick auf das Papierdokument C ausgerichtet hat (Bild 4) und damit signalisiert, dass seine momentane Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet ist. Nach der ersten Aufforderung, die nur zum Hören einlud, benutzt Möller in Zeile 4 einen Appell an einen anderen Sinn, nämlich die Augen, indem er sagt hvis vi kigger (‘wenn wir gucken’). Während das Hören noch mit dem gleichzeitigen Lesen eines Papierdokuments zu rechtfertigen war, ist dies nicht mehr der Fall, wenn die Aufforderung der gemeinsamen Blickorientierung gilt. Hinzu kommt, dass der zweite Appell syntaktisch ein projektives Element enthält, indem eine „wenn, ... dann“-Konstruktion gewählt wird, wodurch Möller sich einen längeren Turn sichert. Der Appell ans gemeinsame Betrachten wird noch verstärkt durch das deiktische Element den derop (‘da oben’; Z. 4), bei dessen Realisierung der Sprecher seinen Blick auf die Computerprojektion wendet und gleichzeitig den linken Arm anhebt und in Richtung Computerprojektion zeigt (Bild 5). Sobald diese Neuorientierung für Petersen erkennbar ist (Z. 6), ändert Petersen seine Blickrichtung von Dokument C weg hin zur Computerprojektion. Diese gemeinsame Orientierung am Dokument A ist für Möller der Punkt, an dem er mit der Darstellung des Problems fortfahren kann. Bild 5: Zeile 5 + 6 Hier wird somit deutlich, wie beide Gesprächsteilnehmer mittels der Koordinierung ihrer Handlungen eine gemeinsame Orientierung am relevanten Dokument erstellen. Erst nachdem diese Ko-Orientierung hergestellt ist, fährt Möller in seiner Darstellung des angekündigten Sachverhalts fort. Ko-Orientierung hätte im Fall von Petersen auch dadurch etabliert werden können, indem Petersen sich an dem Dokument A auf seinem Laptopbildschirm orientiert, das ja Birte Asmuß 330 mit der Computerprojektion identisch ist. Doch durch den Blick auf die Computerprojektion signalisiert Petersen außer dem Verstehen, welches Dokument in diesem Augenblick relevant ist, auch sein Verständnis darüber, welche Aktivität von Möller projiziert wird. Anstatt schon direkt in der Textredigierungsphase zu sein, in der Petersen den Text durch Tippen ändern soll, markiert Petersen hiermit, dass sie sich momentan in der Phase der Diskussion über den angemessenen Text befinden. Hier werden demnach zeitgleich unterschiedliche Ressourcen eingesetzt, um multiple Relevantmachungen durchzuführen. Im kommenden Abschnitt beginnt Möller mit der Ausführung des Sachverhalts, welche von Petersen eine kontinuierliche Anpassung an unterschiedliche Relevantmachungen von Dokumenten notwendig werden lässt. Auszug (2b) 8 MÖL så er Et af målene (.) o‘ beskYtte vo[res dann ist eines der Ziele zu beschützen unsere dann ist eines unserer Ziele unseren 9 [((MÖL blickt zu PE weiter mit dem Arm auf CP zeigend, PE blickt auf CP)) 10 MÖL: hjemmemarked; Heimmarkt; 5 heimischen Markt zu beschützen. 11 PE: Ja, Ja, 12 (1.4) ((PE blickt in seine Papiere)) 13 PE: [(gennem) ( durch ) 14 [((MÖL blickt auf CP, weiter mit dem Arm auf CP zeigend, PE blickt auf Laptopbildschirm)) 15 (.) 16 MÖL: gennem fok[us. durch Fokus. 17 [((PE berührt Maus mit rechter Hand)) 18 (1.2) 5 Hier liest Möller laut aus Dokument A vor. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 331 19 MÖL: ik‘? PRT nicht wahr? Bild 7 In diesem Ausschnitt wird deutlich, wie Möller die Aufmerksamkeit auf das zu ändernde Dokument mittels seines während des gesamten Auszugs ausgestreckten linken Arms richtet, während er gleichzeitig mittels wechselnden Augenkontakts markiert, dass eine Handlung von Petersen relevant ist. Petersens Aufmerksamkeit wechselt während Möllers Ausführungen von der Computerprojektion, die gemeinsame Orientierung anzeigt, zu seinem Laptopbildschirm. Nachdem die gemeinsame Orientierung an der Computerprojektion hergestellt ist (Z. 5-6), fährt Möller mit seiner Darstellung fort så er Et af målene (.) o‘ beskYtte vores hjemmemarked; (‘dann ist eines unserer Ziele unseren heimischen Markt zu beschützen’; Z. 8-10). Zum Ende dieser Äußerung ändert Möller seine Blickrichtung von der Computerprojektion, von der er seine Äußerung abliest, zu Petersen, während sein Arm weiterhin ausgestreckt auf die Computerprojektion weist (Bild 7). Hier werden somit mehrere Orientierungen gleichzeitig deutlich: mittels des Blickes wird eine nächste Reaktion (verbal oder ‘embodied’) von Petersen relevant gemacht, mittels des weiterhin auf die Computerprojektion ausgerichteten Arms wird außerdem deutlich gemacht, dass Möllers Äußerung noch nicht beendet ist und eine Orientierung an dem Strategietext weiterhin relevant ist. Petersen zeigt eine Orientierung an beiden Relevantmachungen, indem er zum einen den Turn übernimmt und in Zeile 10 ein minimales Zeichen der Anerkennung (‘acknow-ledgement token’) gibt und damit markiert, dass er dem Gesagten folgt und gleichzeitig deutlich macht, dass er verstanden hat, dass Möllers Turn noch nicht beendet ist. Dies Birte Asmuß 332 bestätigt auch der weitere Verlauf der Sequenz (Z. 12-15), in der Petersen seinen Turn so designt, dass er lediglich Möllers Turn weiter formuliert, basierend auf dem Vorlesen des schon formulierten Strategietextes gennem (‘durch’) in Zeile 13. In Zeile 14 wird deutlich, dass Petersen die Darstellung von Möller dahingehend interpretiert, dass er zu irgendeinem kommenden Zeitpunkt eine Aktivität am Computer ausführen soll. Petersen markiert dieses Verstehen dadurch, dass er seine Hand auf die Computermaus legt (Z. 17) und diese dort behält (siehe Bild 8). Bild 8 Insofern markieren die beiden Gesprächsteilnehmer am Ende dieses Ausschnittes ein gemeinsames Verstehen sowohl bezüglich des Inhaltes des Gesagten als auch bezüglich der Tatsache, dass dies nur der erste mehrerer Punkte in Möllers Argumentationslinie ist. Darüberhinaus zeigt Petersen mit seiner Orientierung an der Computermaus, dass am Ende dieser Argumentationslinie eine von Petersen durchzuführende Aktivität stehen wird. Es lässt sich festhalten, dass Möller, da er keinen direkten Zugang zum Strategietext hat, mittels verschiedener ‘embodied actions’ die Aufmerksamkeit seines Gesprächspartners so lenken muss, dass neben dem Inhalt des Vorschlages auch deutlich wird, was Ziel seiner Ausführungen ist, nämlich die Änderung des Textes. Dies erreicht Möller, indem er multiple Orientierungen relevant macht, nämlich sowohl den Blickkontakt mit Petersen als auch den Strategietext auf der Computerprojektion. In den kommenden neun Zeilen erweitert Möller seine Darstellung des Problems und markiert mittels einer Eigenformulierung (‘self formulation’) in Zeile 25-29 das eigentliche Problem, nämlich o’ beskytte hjemmemarked (‘den heimischen Markt zu beschützen’). Dies wird von Petersen in Zeile 31 mit einem minimalen Zeichen der Anerkennung quittiert. Während Petersen in Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 333 diesem Auszug weiterhin ausschließlich den Blick auf seinen Laptop richtet, wechselt Möller seinen Blick zwischen der Computerprojektion (siehe Bild 8) und Petersen (siehe Bild 9), während er aber weiterhin mit seinem Arm auf die Computerprojektion zeigt. Bild 8: Z. 20-23 Bild 9: Z. 24 Auszug (2c) 20 (0.2) 21 MÖL: ve‘ ved at tilbyde, (.) og fokus på England. durch durch zu anbieten, (.) und Fokus auf England. indem wir anbieten, 6 ( . ) und Fokus auf England. 22 PE: h[m, hm, 6 Hier liest Möller direkt aus dem Dokument A vor. Birte Asmuß 334 23 MÖL: [.hhh for o‘v [ .hhh um zu 24 (0.4) ((MÖL bewegt Kopf weg von CP zu PE, PE guckt weiter auf Laptop)) 25 MÖL: hhh så- [så målet her (.) de: t=o‘ >beskytte hhh also also Ziel=das hier (.) das ist=zu beschützen hhh also das Ziel hier ist den heimischen Markt zu 26 [((MÖL guckt wieder auf CP)) 27 MÖL: hjemmemarked<, homemarket=the, beschützen 28 (0.2) 29 MÖL: og afsætte over[kapacitetet.= und absetzen Überkapazität und Überkapazität abzusetzen 30 [((MÖL guckt zu PE, PE guckt auf Laptop)) 31 PE: =Ja, =Ja In diesem Auszug lässt sich erkennen, dass Möller keine gemeinsame Orientierung erreicht, in dem Sinne, dass beide sich am selben Dokument orientieren. Stattdessen orientieren sie sich an unterschiedlichen Realisierungen des gleichen Dokuments A (Petersen via Laptop, Möller via Computerprojektion). Doch Möllers multimodale Versuche, Petersens Aufmerksamkeit auf das projizierte Dokument zu lenken (sowohl mittels Armbewegung als auch durch Verlängerung des Verbalen (Z. 25-29) in Form einer Zusammenfassung des Gesagten) weisen darauf hin, dass Möller noch keine zufriedenstellende gemeinsame Orientierung erreicht hat, die für ihn ein gemeinsames Verstehen signalisieren könnte. Im Anschluss hieran macht Möller ein anderes Strategiedokument als das mittels des Computers projizierte relevant. Da er nicht den direkten Zugriff auf den Laptop hat, auf dem er das Dokument direkt aufrufen und damit beiden Gesprächsteilnehmern gleichzeitig relevant machen könnte, muss er andere Mittel einsetzen, um seine neue Orientierung verständlich und nachvollziehbar zu machen. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 335 Auszug (2d) 32 (0.2) ((MÖL blickt auf Dokument B in seiner Hand)) 33 MÖL: Hh[h her der siger vi at målet det er o‘ Hh h hier da sagen wir dass Ziel=das das ist zu Hhh hier sagen wir das Ziel ist zu 34 [((MÖL zeigt auf Dokument B in seiner Hand)) 35 MÖL: fo[kusere; fokussieren; 36 [((PE wechselt von Dokument A zu Dokument B und schaut auf Computer)) 37 (2.4) ((nach 2.0 Sekunden beginnt PE vom Computer weg auf das Dokument B in seiner Hand zu blicken)) 38 MÖL: på danmark; auf Dänemark; 39 (1.2) [((MÖL blickt zu PE, PE blickt auf B)) 40 (2.3) Bild 10: Z. 35/ 36 In Zeile 32 markiert Möller seine neue Orientierung, indem er seinen Blick von Petersen abwendet und stattdessen den Blick auf das Papierdokument B in seinen Händen richtet. In direktem Anschluss hieran formuliert er den Gegensatz, auf dem sein Argument aufbaut, nämlich dass während im Strategiedokument A davon die Rede ist, dass das Ziel ist, den heimischen Markt zu beschützen, in Strategiedokument B ein anderes Ziel formuliert wird, nämlich auf Dänemark zu fokussieren (Z. 33-38). Während er dies sagt, bewegt er in Birte Asmuß 336 Zeile 34 seinen linken Arm und zeigt mit ausgestrecktem Zeigefinger auf das relevante Dokument in seiner Hand (siehe Bild 10). In Zeile 36 zeigt Petersen sein Verstehen der Relevantmachung dieses Dokuments, indem er zu eben diesem Dokument auf der Computerprojektion wechselt. Dies führt wohlgemerkt jedoch nicht dazu, dass sich die beiden Gesprächsteilnehmer an dem nun gemeinsam via Computerprojektion zugänglichen Dokument orientieren. Stattdessen fährt Möller fort, in sein Papierdokument zu schauen, während Petersen weiterhin auf seinen Laptopbildschirm schaut. Insofern scheint der Wechsel der Dokumente in der Computerprojektion mehr der Verständnissicherung zu dienen, als dass es tatsächlich als gemeinsam zugängliche Ressource von beiden Gesprächsteilnehmern genutzt wird. Dies wird im weiteren Verlauf der Sequenz bestätigt. In der 2,4 Sekunden langen Pause in Zeile 37 wechselt Petersens Orientierung vom Computerbildschirm zu Papierdokument B, das er selbst in der linken Hand hält. Das Papierdokument ist das gleiche Dokument, das Möller in der Hand hält, und welches Petersen gerade an die Wand projiziert hat. Das heißt, dass Petersen nicht die gemeinsame Orientierung am gemeinsam zugänglichen Dokument der Computerprojektion relevant macht, sondern sich weiterhin trotz des Versuchs des Blickkontakts in Zeile 39 durch Möller an dem Papierdokument in seiner Hand orientiert. Der Mangel an gemeinsamer Orientierung mag hier zum einen dazu beitragen, dass Möller eine ‘postcompletion’ macht (Z. 38 på danmark (‘auf Dänemark’) und zum anderen die nachfolgende Pause von 2,3 Sekunden in Zeile 40 erklären, die eine Fortsetzung von Petersen projiziert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Einsatz der Computerprojektion in obigem Auszug weniger der gemeinsamen Zugänglichkeit des Dokumentes als der Markierung von Verstehen darüber dient, welches Dokument das momentan zentrale ist. Dies weist darauf hin, dass technische Hilfsmittel bei der Koordinierung gegenseitigen Verstehens eine entscheidende Rolle spielen. Im folgenden Ausschnitt macht Petersen auf der Basis des von ihm in der Hand gehaltenen Dokuments einen alternativen Vorschlag ( forsvares, ‘verteidigen’) zu den beiden vorher von Möller genannten Formulierungen beskytte (‘beschützen’) und fokusere (‘fokussieren’). Interessant ist hier, wie Petersen seinen direkten Zugang zur Computerprojektion ausnutzt, um Möllers Orientierung zu steuern, obwohl er sich nicht selbst an dieser Computerprojektion orientiert. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 337 Auszug (2e) 41 PE: [hh jhan sbruger også udtrykket (.) dette hh eer sbenutzt auch Ausdruck=den dieser hh eer benutzt auch den Ausdruck dieser 42 [((MÖL guckt zu PE, PE guckt ins Dokument B)) 43 PE: marked skal [til (.) stadighed forsvares. Markt soll zur Stetigkeit verteidigt=werden. Markt soll bis zum bitteren Ende verteidigt werden 44 [((PE wechselt zwischen Blick auf CP und Dokument B)) 45 (1.4) ((MÖL guckt auf CP)) 46 MÖL: J[a, Ja, 47 PE: [det har [du ned midt (.) [midtpå der. dies hast du unten mittig mittig dort. dies steht dort unten mittig. 48 [((PE bewegt Cursor auf relevante Stelle auf CP)) 49 MÖL: [ja, ja, 50 MÖL: .hhf .hF .hhf .hF 51 (3.2) ((PE bewegt Cursor)) Bild 11: Z. 42 Birte Asmuß 338 Bild 12: Z. 45 Während Petersen in Zeile 41 bis 43 einen neuen Aspekt hinsichtlich des von Möller präsentierten Problems vorbringt, zeigen beide Gesprächsteilnehmer unterschiedliche Orientierungen: Möller blickt auf Petersen, während Petersen ins Papierdokument blickt, aus dem er vorliest (siehe Bild 11). In Zeile 45 (siehe Bild 12) beginnt Möller sich an der gemeinsam zugänglichen Computerprojektion zu orientieren, während er gleichzeitig verbal Verstehen markiert (Z. 46). Petersen verfolgt jedoch weiter eine gemeinsame Orientierung am Papierdokument, indem er hervorhebt, wo genau diese Information zu finden ist (Z. 47, det har du ned midt (.) midtpå der - ‘das steht dort unten mittig’). Möller weist weiter eine Orientierung an der Computerprojektion auf, und das minimale Zeichen der Zustimmung in Zeile 49 lässt nicht erkennen, ob er Petersens Ausführung folgen kann und diese akzeptiert. Dies führt dazu, dass Petersen seinen Vorschlag noch einmal vorbringt, diesmal jedoch formuliert als einen Vorschlag, der eigentlich von Möller selbst stammt. In diesem Auszug wird deutlich, wie die Markierung von unterschiedlichen Orientierungen von den Gesprächsteilnehmern als Zeichen mangelnder Koordination gewertet wird, was dazu führt, dass Petersen weitere Schritte einleitet, um die gemeinsame Orientierung zu sichern. Im Folgenden werden die koordinierenden Aktivitäten deutlich, die die Gesprächsteilnehmer einsetzen, um von der einen Aktivität, dem reinen Akzept des Vorschlags, zur reellen Umsetzung des Vorschlags in getippte Wirklichkeit zu gelangen. Insbesondere Petersen markiert schon frühzeitig mittels verschiedener ‘embodied actions’, dass eine Einigkeit kurz bevorsteht und die vorgeschlagene Änderung im Strategietext vollzogen werden kann. Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 339 Auszug (2f) 52 PE: Såså mener du istedet fofokusere vi skal til Soso meinst du anstatt fofokussieren wir sollen zu also meinst du statt zu fokussieren sollen wir 53 PE: at [for[svAre det danske hjemmemarked. zu verteidigen den dänischen Heimmarkt den dänischen heimischen Markt verteidigen 54 [((PE legt Papiere auf den Tisch, lehnt sich nach vorne)) 55 [((MÖL blickt in Dokumente in seiner Hand)) 56 MÖL: Ja, ellj[a [forsvAre, ja odja verteidigen ja oder ja verteidigen 57 [((MÖL blickt auf CP)) 58 [((PE hebt seine Hände zum Laptop)) 59 (0.5) 60 MÖL: [forsvare >vores danske hjemmemarked verteidigen unseren dänischen Heimmarkt unseren dänischen heimischen Markt verteidigen 61 [((PE beginnt auf Laptop zu schreiben, MÖL blickt auf CP)) Bild 13: Z. 61 Birte Asmuß 340 Nachdem Petersen den Vorschlag zur Neuformulierung vorgebracht hat (Z. 52-53 forsvare - ‘verteidigen’) und er außerdem durch das Zurseitelegen der Papierdokumente in seiner Hand und durch seine Körperposition Bereitschaft signalisiert hat, die Worte in konkrete Handlung umzusetzen, ist es nun Möllers Aufgabe, den gemachten Vorschlag zu akzeptieren oder zurückzuweisen und bei Akzeptanz des Vorschlags anzuzeigen, dass der Vorschlag nicht nur akzeptiert ist, sondern auch direkt umgesetzt werden soll, indem der existierende Text entsprechend umgeschrieben wird. Dies geschieht in den Zeilen 56-60, in denen Möller erst verbal Zustimmung markiert, dann ein kurzes Zeichen des Einwandes einfügt (ell- - ‘oder’), um dann doch nochmals ein Zeichen der Zustimmung zu produzieren ( ja - ‘ja’). Während der Formulierung dieses Turns wechselt Möllers Blick von dem Dokument in seiner Hand zur Computerprojektion. Der Wechsel findet genau zu dem Zeitpunkt statt, an dem Möller eine selbstinitiierte Reparatur durchführt. Mit dem Wechsel des Blicks auf die Computerprojektion markiert Möller seine Bereitschaft, den Strategietext und die vorzunehmende Änderung zu monitorieren. Dies ist ausreichend für Petersen, um seine Hände anzuheben und vor der Tastatur bereit zu halten (Z. 58), während Möller nochmals das Element wiederholt, über das Einigkeit erreicht wurde ( forsvare - ‘verteidigen’). Der Auszug verdeutlicht, dass der indirekte Zugang zum Computer via Petersen für Möller keineswegs ein Problem darstellt. Stattdessen benutzt er andere multimodale Ressourcen, z.B. Blick, um seine Akzeptanz des Vorschlags zu markieren und die Sequenz voranzutreiben. Nach dieser Akzeptanz des Vorschlags durch Möller entsteht eine kurze Pause in Zeile 59, in der Petersen noch nicht beginnt, den Text zu tippen. Anschließend formuliert Möller in Zeile 60, was genau im Strategiedokument zu stehen hat forsvare >vores danske hjemmemarked (‘unseren dänischen heimischen Markt verteidigen’). Dies tut er ohne gemeinsamen Blickkontakt, indem er auf die Computerprojektion blickt, während Petersen auf seinen Laptop blickt. Hier erinnert dieser Auszug an Auszug (1), bei dem bei der unmittelbaren Akzeptanz des Vorschlags einen ebensolche Orientierung nachzuweisen war. Somit kann Möller monitorieren, inwieweit Petersen den Vorschlag im Strategiedokument umsetzt. Zeitgleich mit dieser Formulierung beginnt Petersen das Wort fokusere (‘fokussieren’) durch das neue Wort forsvare (‘verteidigen’) zu ersetzen (Bild 13). Somit orientieren sich die Gesprächsteilnehmer fortlaufend an verbalen und ‘embodied actions’, um einander zu signalisieren, wo genau sie sich in der Vorschlagssequenz befinden. Hierbei spielt wieder die Computerprojektion Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 341 eine entscheidende Rolle, indem die einseitige Orientierung an dieser durch Möller zusammen mit Petersens weiterer Orientierung auf den Laptop als Signal zu sehen ist, dass Einigkeit über den Vorschlag erreicht wurde. Ohne explizit die erfolgreiche Umsetzung des Vorschlags in den Strategietext zu adressieren, wird die Sequenz nun schnell beendet. Hierbei wird erneut deutlich, wie eng die Gesprächsteilnehmer ihre Handlungen koordinieren, um die Sequenz zum Abschluss zu bringen. Auszug (2g) 62 (9.5) ((PE tippt „forsvare” ( verteidigen ), löscht danach „fokusere” ( fokussieren ) und lehnt sich in seinen Stuhl zurück, MÖL blickt auf CP)) 63 PE: [ved at tilbyde det der. durch zu anbieten dies hier. indem wir dies hier anbieten. 64 [((PE sitzt zurückgelehnt im Stuhl und schaut auf Laptop, MÖL blickt auf CP)) 65 (0.2) 66 MÖL: Ja, ja, Bild 14: Z. 64 In der 9,5 Sekunden langen Pause in Zeile 62 tippt Petersen das neue Wort forsvare (‘verteidigen’) und löscht danach das nicht gewünschte Wort fokusere (‘fokussieren’). Anschließend lehnt er sich zurück in seinen Stuhl und markiert damit, dass seine Aufgabe, den alten Text mit neuem zu ersetzen, erfolgreich Birte Asmuß 342 erfüllt ist. Möller markiert nicht explizit, dass er diese Einschätzung teilt, was Petersen dazu führt, eine ‘post expansion’ zu machen (ved at tilbyde det der - ‘indem wir dies hier anbieten’), die dem Gesagten nichts Neues hinzufügt, aber nochmals Petersens Verstehen der vorgeschlagenen Änderung veranschaulicht. Weiterhin besteht zwischen den beiden kein direkter Blickkontakt, da Möller die Computerprojektion monitoriert, während Petersen auf den Bildschirm seines Laptops schaut. Nach einer kurzen Pause übernimmt Möller den Turn und markiert mit einem minimalen Zeichen der Zustimmung, dass er die Textänderung akzeptiert. Anschließend findet ein Themenwechsel statt. Somit wird deutlich, wie eng koordinative Aktivitäten und Ko-Orientierung Hand in Hand gehen. Die Gesprächsteilnehmer markieren einander unablässig mittels der Koordination multimodaler Ressourcen, dass der Vorschlag akzeptiert ist und erfolgreich umgesetzt wird. 6. Konklusion und Diskussion Die Analyse zeigt, wie die Gesprächsteilnehmer multimodale Ressourcen zur Bedeutungsaushandlung einsetzen. Hierbei spielen Fragen der Koordination und Ko-Orientierung eine entscheidende Rolle. Es wurde deutlich, dass Petersen den direkten Zugang zum Computer nicht nur dazu verwendet, um die vorgeschlagene Änderung im Text vorzunehmen, sondern dass er den Computer schon im Verlauf der Sequenz zu unterschiedlichen Zwecken einsetzt, die dazu dienen, seine Handlungen mit denen des anderen Gesprächsteilnehmers abzustimmen und bestimmte Relevanzmachungen zu schaffen. Hierzu gehören unter anderem die Aufmerksamkeitsorientierung, indem er beispielsweise mit dem Cursor auf die Stelle im Text zeigt, in der er das Problem lokalisiert, sowie das Zeigen von Verstehen, indem er beispielsweise durch das Wechseln von einem Strategiedokument zum anderen Möller zeigt, dass er verstanden hat, dass Möller nun über ein anderes Dokument spricht. Hiermit zeigt die Studie eindrücklich, dass Sitzungsartefakte wie beispielsweise Computer und Computerprojektion nicht nur zielgerecht, d.h. zum Tippen von Text, eingesetzt werden. Sie werden auch von den Gesprächsteilnehmern im Verlauf der Interaktion zur Durchführung unterschiedlicher Aktivitäten eingesetzt, die der gemeinsamen, kooperativen Bedeutungsaushandlung dienen. Auch Möller bedient sich unterschiedlicher multimodaler Ressourcen, um die gemeinsame Bedeutungsaushandlung zu steuern. Da er nicht mithilfe des Cursors die direkte Aufmerksamkeit auf die Computerprojektion lenken kann, setzt er andere Mittel ein, um seine Handlungen mit denen seines Gesprächs- Implikationen technischer Arbeitsgeräte für Koordination und Ko-Orientierung 343 partners zu koordinieren. Hierzu gehören beispielsweise Körperhaltung (sein Körper ist der Computerprojektion zugewendet), Gestik (sein ausgestreckter Arm) und Blick. Mithilfe des Arms und seines Blicks kann er so verschiedene Orientierungen gleichzeitig relevant machen: beispielsweise eine temporale, nämlich dass das Dokument, auf das er zeigt, über verschiedene Turns und interaktionelle Aktivitäten hinweg weiterhin relevant ist, während er gleichzeitig Blickkontakt zu Petersen aufnimmt, und damit eine nächste Aktion von Petersen potenziell relevant macht. Eine multiple Orientierung wird auch durch Möllers grundlegende Körperhaltung sichtbar. Wie Schegloff (1998) nachweist, signalisieren Gesprächsteilnehmer in Interaktion mittels ihrer Körperhaltung oftmals eine primäre und sekundäre Orientierung. Möllers grundlegende Körperhaltung ist während der gesamten Sequenz auf die Computerprojektion gerichtet als der Ort, an dem die endgültigen Resultate sichtbar gemacht werden. Mittels Kopfhaltung, Gestik und Blickkontakt markiert er eine vorübergehende und damit sekundäre Orientierung an anderen Aktivitäten, ohne jedoch die primäre Orientierung aufzugeben. D.h., hier haben ‘embodied actions’ wie die Körperhaltung die Funktion, sowohl Zeit als auch Raum zu überbrücken und eine interaktionelle Relevanzmachung über verschiedene Turns hinweg aufrechtzuerhalten. Es wurde bei der Analyse auch deutlich, dass - übereinstimmend mit anderen Studien zur Koordination (Gardner/ Levy 2010) - koordinative Aktivitäten besonders zu Beginn von Handlungssequenzen vor sich gehen. In Auszug (2) konnte somit aufgezeigt werden, dass insbesondere am Anfang neuer Phasen der Vorschlagssequenz (1. Vorschlag, 2. Vorschlag, Akzeptanz, Umsetzung in Text) die Teilnehmer ihre multimodalen Handlungen miteinander koordinierten, bevor mit der begonnenen Aktivität fortgefahren oder aber diese beendet wurde. Dies ließ sich beispielsweise an Pausen oder ‘post completions’ nachweisen, die der Koordination unterschiedlicher Handlungen dienten. Die oben skizzierten Betrachtungen weisen darauf hin, dass Teilnehmer in Interaktion sich an verschiedenen Modalitäten orientieren, selbst wenn mittels unterschiedlicher Modalitäten unterschiedliche Aktivitäten zeitgleich durchgeführt werden. Gesprächsteilnehmern steht damit die Möglichkeit zur Verfügung, eine Einteilung in primäre und sekundäre (und ggf. tertiäre) Aktivitäten vorzunehmen oder aber auch verschiedene Aktivitäten gleichzeitig sequenziell relevant zu machen, so dass verschiedene nächste Handlungen (‘next actions’) im Pomerantz'schen Sinne (Pomerantz 1984) präferiert sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass die Simultaneität der koordinativen Handlungen in keinem der analysierten Auszüge als problema- Birte Asmuß 344 tisch behandelt wurde (Mondada 2007a). Insofern erscheint es angemessener, die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher koordinativer Handlungen als interaktive Ressource zu betrachten, die es den Gesprächsteilnehmern ermöglicht, unterschiedliche Relevanzmachungen zeitgleich zu vollziehen. Die Studie verdeutlicht damit die methodische Notwendigkeit einer strikten Teilnehmerorientierung, die eine Integration aller Modalitäten umfasst. Ein Fokus auf eine Modalität oder aber auch auf eine wie auch immer vorgenommene Auswahl bestimmter Modalitäten ist problematisch, wenn sie nicht strikt dem Prinzip der Teilnehmerorientierung folgt und somit die Orientierung der Teilnehmer an diesen und nur diesen Modalitäten nachweisen kann. In Zusammenhang mit diesem Aspekt gibt die Studie Anlass dazu, erneut hervorzuheben, wie wichtig es ist, nicht a priori technischen Arbeitsgeräten oder anderen Artefakten bestimmte Funktionen zuzuschreiben. Ein Computer ist nicht notwendigerweise nur zum Schreiben eines Textes da und eine Computerprojektion nicht nur zur gemeinsamen Orientierung aller Gesprächsteilnehmer. Technische Artefakte werden von Gesprächsteilnehmern auf unterschiedliche Weise zur Koordination ihrer Handlungen eingesetzt und tragen damit dazu bei, Handlungssequenzen zu strukturieren und lokal zu organisieren. Dies bedeutet, dass vermeintlich „unbedeutende“ Ressourcen wie Sitzungsartefakte (Computerprojektion, Laptop) und deren Platzierung im Raum bei der Aushandlung von Bedeutung in der Interaktion eine entscheidende Rolle spielen, und es gilt zu berücksichtigen, dass Gesprächsteilnehmer diese Ressourcen auf unterschiedliche, und nicht immer vorhersehbare, will heißen intendierte, Weisen zur interaktiven Bedeutungsaushandlung einsetzen. Weitere Studien zur Rolle von Artefakten sowohl in Alltagsals auch in institutioneller Kommunikation könnten helfen, die Komplexität und Dynamik zwischenmenschlicher Kommunikation besser zu verstehen und Artfakte nicht bloß als leblose Gegenstände zu betrachten, sondern als interaktive Ressourcen, die es ermöglichen, eine Vielzahl sozialer Handlungen zu vollziehen. 7. Literatur Asmuß, Birte/ Oshima, Sae (2012): Negotiation of entitlement in proposal sequences. In: Discourse Studies 14, 1, S. 107-126. Büscher, Monika (2007). Interaction in motion: Embodied conduct in emergency teamwork. In: Mondada, Lorenza (Hg.): Online multimedia proceedings of the 2nd international society for gesture studies conference ‘Interacting Bodies’, 15- 18 June 2005, Lyon, France. Lyon. Internet: http: / / gesture-lyon2005.ens-lyon.fr/ article. php3? id_article=259 (Stand: 08/ 2012). 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Unabhängig davon, ob die Interaktionsteilnehmer gemeinsam in dieselbe Tätigkeit involviert sind, ob sie unterschiedlichen Aufgaben nachgehen oder nur teilweise an den jeweiligen Aktivitäten beteiligt sind, obliegt es ihnen, parallel ablaufende Aktivitäten intra- und interpersonell zu koordinieren (vgl. zum Koordinationsbegriff Deppermann/ Schmitt 2007). Sie müssen ihre Aufmerksamkeit, ihre Projektionen, Planungen und Handlungen auf unterschiedliche Aktivitätsstränge, auf deren zeitliche, personelle und interaktionsräumliche Organisation richten (vgl. zum Interaktionsraum Kendon 1990, Mondada 2007). In jüngerer Zeit findet die mediale Inszenierung empraktisch eingebetteter Kommunikationssituationen zunehmend Eingang in die Fernsehunterhaltung. Zu den beliebtesten solcher Fernsehformate gehören Kochshows, wie die steigende Zahl entsprechender Sendungen in unterschiedlichen Formaten zeigt. Bei medial inszenierten, empraktisch eingebetteten und zugleich auf einer Showbühne stattfindenden Interaktionen stehen die Bühnenakteure vor der zusätzlichen Aufgabe, über die intra- und interpersonelle Koordination praktischer und verbaler Aktivitäten hinaus die simultan ablaufenden Aktivitäten auf Publikum und Fernsehkameras zuzuschneiden. Eine besondere Herausforderung stellen in dieser Hinsicht Fälle dar, in denen im Rahmen einer Kochshow parallel zur Kochaktivität eine Geschichte er- 1 Ich danke den Herausgeber(inne)n dieses Bandes sowie den Teilnehmer(inne)n des Mannheimer MuMo-Kolloquiums für konstruktive Kritik und wertvolle Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Beitrags. Ina Hörmeyer danke ich ganz herzlich für die Anfertigung der Zeichnungen. Der vorliegende Beitrag ist im Rahmen meiner Tätigkeit am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS), Universität Freiburg, entstanden. Anja Stukenbrock 348 zählt wird. Gegenüber anderen, parallel zum Kochen unternommenen verbalen Aktivitäten wie dem Erklären eines Rezepts, dem Erteilen von Instruktionen, Aufträgen und Handlungsanweisungen, dem Bewerten und Korrigieren etc. werden beim Erzählen einer Geschichte Ereignisse, Räume, Zeiten und Personen (re-)konstruiert, die außerhalb der unmittelbar ablaufenden Interaktion situiert sind. Erzählen zeichnet sich folglich durch „displacement“ (Hockett 1960) aus. Wird beim Kochen eine Geschichte erzählt, so entsteht ein Nebeneinander von „Empraxis“ (Bühler 1934, S. 155ff.) und „displacement“, das die Beteiligten im Rahmen des medial inszenierten Interaktionsformats in spezifischer Weise organisieren müssen. Im vorliegenden Beitrag wird die Fallanalyse eines aus einer Kochshow stammenden Beispiels vorgestellt, in welchem gleichzeitig gekocht und erzählt wird. Im Fokus meines Interesses steht erstens die Frage, wie diese beiden parallel ablaufenden und phasenweise miteinander konkurrierenden Aktivitäten, in die die Beteiligten jeweils auf unterschiedliche Weise involviert sind, interaktionsräumlich, beteiligungsstrukturell und zeitlich organisiert werden. Neben der Situierung konkurrierender Aktivitäten (Kochen und Erzählen) in dem von den Akteuren gemeinsam eingenommenen Bühnenraum der Kochshow spielt beim Erzählen ein zweiter Raumaspekt eine zentrale Rolle: die narrative (Re-)Konstruktion eines sinnlich nicht zugänglichen Vorstellungsraums. Die zweite Frage lautet daher, wie der sinnlich nicht zugängliche Vorstellungsraum konstruiert und in welche Beziehung er zum sinnlich zugänglichen, materiell vor- und zuhandenen Wahrnehmungsraum gesetzt wird. 2. Theoretische Konzepte Die Anforderungen, die das Nebeneinander zweier verschiedener Aktivitäten, die des Kochens und die des Erzählens, an die Interaktionsbeteiligten stellt, erfasse ich mit Goffmans Konzept des „involvement“ (Goffman 1963). 2 Goffman unterscheidet erstens zwischen „main involvement“ und „side involvement“ (ebd., S. 43) und zweitens zwischen „dominating involvement“ und „subordinate involvement“ (ebd., S. 44). Während das ‘main involvement’ die 2 Goffman (1963, S. 43) definiert „involvement“ wie folgt: „ INVOLVEMENT refers to the capacity of an individual to give, or to withhold from giving, his concerted attention to some activity at hand - a solitary task, a conversation, a collaborative work effort. It implies a certain admitted closeness between the individual and the object of involvement, a certain overt engrossment on the part of the one who is involved. Involvement in an activity is taken to express the purpose or aim of the actor.“ Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 349 Hauptbeschäftigung eines Individuums konstituiert und dadurch definiert ist, dass es dessen Aufmerksamkeit und Interesse absorbiert und seine Handlungen determiniert, bestimmt sich das ‘side involvement’ dadurch, dass es nebenbei - mit einem geringen körperlichen, perzeptorischen und kognitiven Aufwand „en passant“ - erledigt werden kann, ohne die gleichzeitige Aufrechterhaltung und Fortführung des ‘main involvement’ zu gefährden. Die Unterscheidung zwischen ‘main involvement’ und ‘side involvement’ ist aus der individuellen, subjektiven Perspektive des Einzelnen konzeptualisiert; die zweite Unterscheidung zwischen ‘dominating’ und ‘subordinate involvement’ ist demgegenüber aus den Obligationen und Anforderungen der sozialen Situation heraus gedacht. Danach konstituiert ein ‘dominating involvement’ eine dem Individuum durch die soziale Situation (‘social occasion’) auferlegte Involviertheit, die es anzuerkennen hat und angesichts derer ‘subordinate involvements’ in dem Maß und dem Zeitrahmen lässlich sind, in dem die Aufmerksamkeit nicht vom ‘dominating involvement’ beansprucht wird. Entscheidend ist nun zum einen, dass ‘main involvements’ nicht notwendigerweise immer ‘dominating involvements’ sein müssen, 3 und zum anderen, dass die situative Beanspruchung eines Individuums sich verändern kann, so dass ein ‘dominant involvement’ seinen Status zugunsten einer neu entstehenden Priorität verlieren und zu einem ‘subordinate involvement’ werden kann. In Bezug auf parallele und potenziell konkurrierende Aktivitäten, die von zwei verschiedenen Akteuren in demselben situativen Kontext ausgeführt werden, ermöglichen die durch Goffman getroffenen Differenzierungen eine vollzugsrekonstruktive Analyse der unterschiedlichen ‘involvement’-Phasen der Beteiligten und deren interaktionsräumliche Organisation. Neben der Online-Organisation des Interaktionsraums und der Situierung parallel ablaufender Aktivitäten (Kochen und Erzählen) in dem von den Interaktanten gemeinsam eingenommenen Bühnenraum spielt beim Erzählen die narrative Konstruktion eines sinnlich nicht zugänglichen, versetzten Raums eine zentrale Rolle. Um die Beziehung zwischen dem sinnlich zugänglichen und dem narrativ konstruierten, versetzten Raum zu erfassen, unterscheide ich in Anlehnung an Bühler (1934) zwischen „Wahrnehmungs-“ und „Vorstellungs- 3 Als Beispiel dafür, dass beide auseinanderfallen können, führt Goffman die automatisierte Ausführung bestimmter Routinetätigkeiten im Rahmen von Arbeit als ‘dominating involvement’ an, die so wenig Aufmerksamkeit verlangt, dass sie den Handelnden gestattet, seinen Aufmerksamkeitsfokus auf ein Klatschgespräch zu richten, das so lange als ‘main involvement’ aufrecht erhalten werden kann, bis die Arbeitsaufgabe eine volle Aufmerksamkeitsorientierung verlangt. Anja Stukenbrock 350 raum“. 4 Mit dem Konzept des ‘Wahrnehmungsraums’ bezeichne ich den sinnlich wahrnehmbaren Raum, der von einem Subjekt als physisch-materiell vorhandene, körperlich-sinnlich zugängliche Umgebung erfahren wird. Der durch Sinneswahrnehmungen erfahrbare Raum ist vielschichtig und komplex, er ist weder als syn-aisthetisch homogenes noch als statisches Gebilde, sondern als prozesshaft konstituiertes, kaleidoskopartig sich veränderndes Konstrukt aufzufassen. Dabei konstituieren die verschiedenen Sinnesorgane/ -modalitäten unterschiedliche perzeptorische Reichweiten. Das, was im Wahrnehmungsraum als Gehörtes in Erscheinung tritt, ist nicht notwendigerweise auch visuell zugänglich. Visuelles und auditives Wahrnehmungsfeld, Hör- und Sehraum können, müssen aber nicht deckungsgleich sein (vgl. auch Schwitalla 2012). Dasselbe gilt für haptische, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmungen, die im Kontext von Kochaktivitäten eine entscheidende Rolle spielen. In massenmedial vermittelten Kommunikationssituationen besitzen die zuletzt genannten Wahrnehmungen für die Interaktionsbeteiligten, die Studiogäste und das Fernsehpublikum hinsichtlich ihrer unmittelbaren sinnlichen Erfahrbarkeit jeweils einen unterschiedlichen Status und werden daher von den Interaktionsbeteiligten stellvertretend vollzogen, im Vollzug eigens inszeniert und sprachlich kommentiert. Gegenüber dem Begriff des ‘Wahrnehmungsraums’ bezeichnet der Begriff des ‘Vorstellungsraums’ einen sinnlich nicht zugänglichen, raum-zeitlich nicht präsenten und daher in der Imagination zu kreierenden Raum, der in der Interaktion durch verbale und/ oder körperlich-visuelle Ressourcen hergestellt und intersubjektiviert werden kann (vgl. dazu auch Ehmer 2011, Murphy 2005, Schmitt/ Deppermann 2010, Stukenbrock i.Dr.). So wie der Wahrnehmungsraum aus der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts strukturiert ist, wird auch der Vorstellungsraum aus der Perspektive des von einem Subjekt in der vorgestellten Szene eingenommenen Orientierungspunkts gestaltet. 3. Formatspezifika des Datums Der im Folgenden analysierte Datenausschnitt stammt aus einem sechs Folgen der Sendung Polettos Kochschule umfassenden Videokorpus. Die aufgezeichneten Folgen wurden im Jahr 2009 vom NDR ausgestrahlt und dauern jeweils dreißig Minuten. Der Name der Sendung ist in mehrfacher Hinsicht programmatisch: Poletto ist der Familienname der norddeutschen Sternekö- 4 Verwandte Konzepte stellen das in phänomenologischer Tradition von Hanks entwickelte Konzept des „corporeal field“ (Hanks 1990) und das Konzept des „grounded space“ (Liddell 2000) dar. Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 351 chin Cornelia Poletto, den sie ihrem Ehemann verdankt und der die Sterneküche, die Poletto kultiviert, räumlich-kulturell in Italien situiert. Der zweite Namensbestandteil, Kochschule, verweist auf das explizit didaktische Format der Sendung, das sich dadurch von vielen anderen Kochsendungen, die im Deutschen Fernsehen in zunehmender Zahl ausgestrahlt werden, unterscheidet. Im Laufe ihrer Sendung kocht Poletto zusammen mit einem prominenten Gast ein Gericht, dessen Fertigstellung innerhalb der Sendezeit das übergeordnete gemeinsame Projekt ihrer Aktivitäten darstellt. Dabei handelt es sich um eine medial inszenierte Lehr-Lerninteraktion, bei der die Wissensvermittlung eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Unterhaltung. Das von Poletto ausgewählte Gericht stellt in der Regel einen persönlichen Bezug zu dem Gast her und bietet daher Gesprächsanlässe, ihn auch als Privatperson in Erscheinung treten zu lassen. Zugleich nimmt der prominente Gast eine Stellvertreterrolle für die Zuschauer ein. Er konstituiert den unmittelbaren Interaktionspartner und Adressaten der didaktischen Bemühungen Polettos. Der Lernprozess des jeweiligen Gasts wird im interaktiven Geschehen externalisiert, indem das von ihm in der Sendung online erworbene begriffliche und praktisch-prozedurale Wissen im Erwerbsprozess selbst mediengerecht auf die Bühne gebracht und inszeniert wird. Allerdings ist die Interaktion nicht allein durch die Vermittlung von Fachwissen und Fachpraxis an einen mehr oder weniger gelehrigen Schüler, sondern auch von Positionierungshandlungen und Kompetenz-Displays geprägt. Als Inhaberin eines Sternerestaurants, Buchautorin und Veranstalterin etc. verfolgt Cornelia Poletto das Interesse, sich als Sterneköchin zu positionieren und immer wieder den äußerst gehobenen Anspruch ihrer Kochkunst zu verdeutlichen. Diese Spannung zwischen einer außeralltäglichen „high end“-Küche und dem Anspruch, ein möglichst breites Alltagspublikum zu erreichen, wird über den Gast als Identifikationsfigur mit einem mittleren, alltäglichen Maß an Wissen und praktischen Kochfertigkeiten geleistet. Dieser steht damit seinerseits vor der Aufgabe, in der unmittelbaren Interaktion mit Poletto die Stellvertreterfigur des Schülers, des Gehilfen oder Assistenten zu spielen und sich dabei zugleich in anderen Rollen z.B. als Weinkenner, Vater, Mutter, Schauspielerin, Ruhrpottler etc. zu positionieren. Häufig werden im Kontext solcher Positionierungshandlungen kleine Geschichten erzählt, durch die der Gast kurzzeitig aus dem Kochgeschehen austritt und mit dem Erzählen ein zweites ‘activity framework’ eröffnet, das unter Umständen mit dem ‘activity framework’ des Kochens konkurriert. Anja Stukenbrock 352 Bis auf eine der von mir analysierten Sendungen werden alle Sendungen mit einem Live-Publikum durchgeführt, das im Fernsehstudio kopräsent ist, sich durch Klatschen, Lachen, Zwischenrufe etc. bemerkbar macht, zum Teil explizit adressiert und ins Geschehen miteinbezogen wird. Darüber hinaus interagieren sowohl Poletto als auch ihre mediengewandten Gäste mit den Fernsehkameras und konstituieren dadurch das nicht präsente Fernsehpublikum. Das Sendeformat zeichnet sich folglich durch komplexe Beteiligungsstrukturen und wechselnde Adressierungsverhältnisse sowie häufige Mehrfachadressierungen aus. Es lässt sich wie folgt schematisch veranschaulichen: Die Bühne, auf der die Interaktion zwischen Poletto und ihrem Gast stattfindet, wird durch die räumliche Vorstrukturierung des Küchenbereichs und die Fernsehkameras konstituiert. Innerhalb des durch den schwarzen Rahmen umrissenen Kochstudios wird der zentrale Bühnenbereich, auf dem das Kochgeschehen stattfindet, durch den frontal gegenüber den Zuschauerreihen aufgebauten Kochtisch konstituiert, der in der Skizze durch einen langgestreckten grauen Balken symbolisiert ist. Dahinter bewegen sich Poletto (P) und ihr Gast (G), deren Kochaktivitäten von verschiedenen Kameras aufgezeichnet und an ein anonymes, raum-zeitlich nicht präsentes Fernsehpublikum - hier durch die gepunkteten Linien visualisiert - ausgestrahlt wird. Dabei manifestieren sich auf der Ebene des persönlichen körperlichen Bewegungsfreiraums spezifische interaktionsräumliche Unterschiede zwischen den Beteiligten: So ist es ausschließlich Poletto, die in ihrer Rolle als Gastgeberin die Freizügigkeit einer selbstbestimmten (interaktions-)räumlichen Mobilität genießt und nutzt, indem sie den Kochtisch verlässt, ins Publikum geht, um Pro- Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 353 bierhäppchen anzubieten, um unangenehme Aufgaben wie Zwiebelschneiden an willige Studiogäste zu verteilen und das Ergebnis anschließend wieder abzuholen, nicht ohne deren Leistung unterhaltungswirksam zu evaluieren. Auf diese Weise wird der Bühnenraum kurzzeitig in den Zuschauerraum hinein erweitert. Im Vergleich zu Poletto und ihrem Gast, die sich beide hinter dem Kochtisch bewegen und ihre Standorte wechseln, sind die Studiogäste an ihren Sitzplatz in den Zuschauerreihen gebunden und bleiben dort stationär verankert. Da das übergeordnete Ziel darin besteht, gemeinsam ein Gericht zu kochen und im Kochprozess selbst an thematisch passenden Stellen relevantes Wissen zu vermitteln, ist für die Koordinierung verbaler und körperlicher Aktivitäten und deren räumliche Organisation die Tatsache entscheidend, dass es sich um einen empraktischen Interaktionskontext handelt. Neben praktischen Fertigkeiten und motorischen Routinen beim Kochen allgemein und bei der konkreten Bewältigung der jeweils anstehenden nächsten Aufgabe geht es ständig auch um räumliche Orientierung innerhalb des unmittelbaren Tätigkeitsraums der Studioküche. Während diese Küche für Poletto als Gastgeberin und Sterneköchin einen maßgeschneiderten Ort professioneller Aktivität darstellt, in dem jeder Handgriff sitzt und in dem sie sich folglich in ihrer Expertenrolle inszenieren kann, konstituiert diese Küche mitsamt ihren Ausstattungsdetails für den jeweiligen Gast ein unbekanntes Terrain. Dieser ist nicht allein bei den konkreten Kochaktivitäten auf Polettos Instruktionen angewiesen, sondern benötigt auch ihre Orientierungshilfen, um sich in der Studioküche räumlich zurecht zu finden. 4. Fallanalyse „Fake-Küche“ Die im Folgenden unternommene Fallanalyse repräsentiert eine kleine, aus sechs Folgen der Sendung Polettos Kochschule zusammengestellte Datenkollektion, die dadurch konstituiert wird, dass der jeweilige Gast einen bestimmten Moment des emergierenden Geschehens nutzt, um aus der übergeordneten Aktivität des gemeinsamen Kochens auszusteigen und ein Narrativ zu produzieren. Es handelt sich also um eine medial inszenierte, empraktisch eingebettete soziale Interaktion, deren grundsätzlich übergeordnete Aktivität für beide Akteure die gemeinsame Zubereitung eines Gerichts in der vorgesehenen Sendezeit darstellt und in der als untergeordnete Aktivität einer der beiden Akteure eine Geschichte erzählt. In der ausgewählten Sequenz wird die Geschichte eines Missgeschicks erzählt, das die Erzählerin als Resultat einer Diskrepanz zwischen räumlichem Schein und Sein darstellt, die für sie als Unwissende zu einer folgenreichen Anja Stukenbrock 354 räumlichen Fehlorientierung führte. Sie erzählt, dass sie als Gast in einer anderen Kochshow bei dem Versuch, eine Schublade in der Studioküche aufzuziehen, die Küchenverkleidung abgerissen hat, da es sich um eine Attrappe handelte. Die Erzählung ähnelt dem Format der so genannten „small story“ (Bamberg 2005). ‘Small stories’ sind kurze Alltagserzählungen, die im Unterschied zu elaborierten biografischen Narrativen in alltäglichen Kommunikationssituationen erzählt werden und in denen kommunikative Verfahren der Identitätsaushandlung, der Selbst- und Fremdpositionierung häufig eine wichtige Rolle spielen (Bamberg 1997, 2003; Günthner 2007; vgl. zur multimodalen Selbst- und Fremdinszenierung Stukenbrock 2012). Allerdings wird die folgende Geschichte nicht in einer informellen Alltagssituation, sondern im Rahmen einer Unterhaltungssendung und damit als Bestandteil einer massenmedial inszenierten, auf einer sowohl von Live-Publikum als auch von Fernsehkameras umgebenen Bühneninteraktion erzählt. Gegenstand der Geschichte ist auch kein Alltagsmalheur, sondern ein Missgeschick, dessen situative Einbettung (erzählte Situation) sich analog zur medial inszenierten Situation gestaltet, in der das Missgeschick erzählt wird (Erzählsituation). In beiden Fällen befindet sich die Erzählerin als Gast in einer Kochshow. Wie zu sehen sein wird, nutzt die Erzählerin die Analogien zwischen der erzählten Situation und der Erzählsituation als Ressource zur Rekonstruktion des erzählten Raums, der den Adressaten perzeptorisch nicht zugänglich ist und den sie daher in der Vorstellung imaginieren müssen. Zur Übersicht ist der ausführlichen multimodalen Analyse das Verbaltranskript (nach GAT2, vgl. Selting et al. 2009; vgl. zu multimodalen Transkripten Stukenbrock 2009b) vorangestellt: Transkriptausschnitt „Fake-Küche“ (PK1 00: 15: 33) 01 BS: hAm_wir hier noch KLEInere löffel, 02 (-) 03 PL: ((la[cht)) 04 ZZ: [((lachen)) 05 BS: [sons nEhm_ich he °h 06 PL: ((lacht)) 07 BS: ich habe EINmal [in einer ANdern] kochshow-= 08 PL: [GUCK mal HIER ist-] 09 =ver[sucht eine SCHUB]lade aufzuziehen, 10 PL: [komm mal HER, ] 11 BS: und hatte die geSAMte KÜchenverkleidung [in der hand, 12 PL: [((lacht)) 13 ZZ: ((lachen)) Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 355 14 BL: denn es war eine FAKE küche; 15 da WAR überhaupt keine schublade dahinter; 16 und dann hab ich HEIMlich, 17 während die ANdern geKOCHT ham-= 18 PL: [((lacht)) (.) 19 BS: [=versUcht diese KÜche wieder hinten in_nen griff zu kriegen. 20 PL: du WARST eigentlich während der sendung- 21 auch nich so richtig ANwesend; 22 [weil du auf_m BO]den gelegen [has,] 23 BS: [nee GAR nich; ] [ja; ] 24 PL: um die kÜche wieder zu repaRIE[ren.] 25 BS: [ja] KLAR; 4.1 Vom gesuchten Löffel zur gefundenen Geschichte: Der Einstieg in die Erzählaktivität Der Ausschnitt beginnt in der fünfzehnten Minute einer Folge von Polettos Kochschule, in der Poletto (PL) die Moderatorin Barbara Schöneberger (BS) zu Gast hat. Die beiden sind dabei, Lasagne zuzubereiten, und befinden sich zu diesem Zeitpunkt bereits mitten im Kochgeschehen. Poletto hat eine Béchamelsauce auf dem Herd angesetzt, die dort in einem Topf vor sich hin köchelt, während sie selbst am Schneidebrett mit der wenig spektakulären Aufgabe des Knoblauchschneidens beschäftigt ist. Schöneberger möchte die Sauce gerne probieren, doch die Schöpfkelle, die sie von der rückwärtigen Wand des Küchenbereichs holt (Abb. 1), ist für diesen Zweck zu groß: Poletto Schöneberger 1 Anja Stukenbrock 356 Schöneberger nutzt die Ungeeignetheit der Schöpfkelle, die sie soeben selbst herbei geholt hat, um die Diskrepanz zwischen der projizierten Aktivität des Abschmeckens und dem überdimensionierten Löffel als humorvolles Zwischenspiel zu inszenieren. Dazu tritt sie neben Poletto ans Schneidebrett, wo diese mit Knoblauchschneiden beschäftigt ist, adressiert sie mit einer Frage (Z. 1: hAm_wir hier noch KLEInere löffel,) und hält simultan dazu die Schöpfkelle in einer Präsentativgeste hoch (Abb. 2). Die interaktionsräumliche Positionierung des Löffels in Augenhöhe zwischen sich und Poletto garantiert dessen Sichtbarkeit nicht nur für ihre unmittelbare Interaktionspartnerin, sondern auch für die Studiozuschauer und die Fernsehkameras: 01 BS: hAm_wir hier noch KLEInere löf fel , 02 (-) 03 PL: ((la[cht)) 04 ZZ: [((lachen)) Die Reaktionen Polettos (PL) und der Zuschauer (ZZ), die fast gleichzeitig zu lachen anfangen (Z. 3, 4), zeigen, dass sie die Frage als humorvolle, um des Witzes willen inszenierte Interaktion verstehen. Anschließend fährt Poletto zunächst mit dem Knoblauchhacken fort (Abb. 3), während Schöneberger den vorderen Aktivitätsbereich wieder verlässt, um die Schöpfkelle im hinteren Küchenbereich an die Wand zu hängen und sich auf die Suche nach einem kleineren Probierlöffel zu begeben (Abb. 3): 03 PL: ((la[cht)) 04 ZZ: [((lachen)) 05 BS: [sons nEhm_ich he °h 2 Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 357 06 PL: ((lacht)) Als Schöneberger sich auf der Suche nach einem kleineren Löffel wieder in den hinteren Küchenbereich begibt, nutzt sie die Gelegenheit, eine Anekdote aus einer anderen Kochsendung zum Besten zu geben. Zu Beginn der Erzählung sind die beiden Interaktionspartnerinnen einander körperlich abgewandt und können sich daher wechselseitig nicht wahrnehmen. Schönebergers Erzählaktivität setzt ein, als sie dabei ist, die Schöpfkelle im hinteren Küchenbereich wieder an die Wand zu hängen und nicht sieht, was Poletto im vorderen Teil der Küche tut (Abb. 4). Diese beendet ihre manuelle Aktivität des Knoblauchschneidens und greift als verzögerte Reaktion auf die Löffelsuche ihres Gasts mit der linken Hand nach einem kleinen Löffel in einem Geschirrbehälter auf dem Kochtisch (Abb. 4): 07 BS: ich habe EIN mal [in einer ANdern] kochshow-= 08 PL: [GUCK mal HIER ist-] 3 4 Anja Stukenbrock 358 Während für Schöneberger Löffelsuche und Abschmecken zugunsten ihrer gerade begonnenen Erzählung in den Hintergrund geraten und damit die Kochaktivität insgesamt gegenüber der Erzählaktivität zurückgestuft wird, ist Poletto umgekehrt auf den Fortgang der gemeinsamen Kochaktivitäten orientiert, im Rahmen derer das Auffinden eines geeigneten Löffels zum Abschmecken das unmittelbar anstehende Problem darstellt. Da die beiden einander nicht wahrnehmen und jede so in ihre unmittelbar auf den Weg gebrachte Aktivität - Projektion einer persönlichen Erzählung beim Aufhängen der Kelle einerseits und Organisieren eines Probierlöffels andererseits - involviert ist, dass sie die Veränderungen im Aufmerksamkeitsfokus der anderen nicht nachvollzieht, entstehen zwei verschiedene ‘activity frameworks’ mit multiplen ‘involvements’ der Beteiligten. Deren verbale, kinesische und interaktionsräumliche Emergenz sollen im Folgenden näher betrachtet werden. 4.2 Konkurrierende ‘activity frameworks’ und multiple ‘involvements’ Unmittelbar nachdem Schöneberger zu reden begonnen und mit der Einleitungsformel ich habe EINmal (Z. 7) ein persönliches Narrativ projiziert hat, versucht Poletto durch eine Fokussierungsaufforderung (Z. 8: GUCK mal) im Verbund mit einer deiktischen Orientierungshandlung (Z. 8: HIER ist-) Schönebergers visuelle Aufmerksamkeit zu erlangen, um ihr den gesuchten Löffel reichen zu können. Der Beginn der Erzählung markiert den Moment, in dem Schöneberger in eine zweite Aktivität involviert wird und zugleich eine Umgewichtung der Prioritäten vornimmt, derzufolge die narrative Aktivität für sie vorübergehend zum ‘main involvement’ und die Kochaktivität (Löffelsuche, Abschmecken) zum ‘side involvement’ wird. Durch die Gleichzeitigkeit zweier verschiedener ‘involvements’, in denen Schöneberger sich durch das Aufhängen der Schöpfkelle und die zwischenzeitlich begonnene Erzählung befindet, führt Polettos Kooperativität bei der Löffelsuche zu einer Redeüberlappung zu Beginn der Erzählung. Simultan zu ihren sich überlappenden Verbaläußerungen führen die beiden außerdem ihre jeweilige manuelle Tätigkeit aus: Schöneberger hängt die Schöpfkelle auf, und Poletto greift in geradezu spiegelbildlicher Synchronizität zu Schönebergers Armbewegung nach dem Probierlöffel. Räumlich sind die in Konkurrenz geratenden ‘activity frameworks’ wie folgt organisiert: Während Poletto weiterhin am Schneidebrett steht und somit auf Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 359 der Vorderbühne des Kochbereichs agiert, bewegt Schöneberger sich in den weniger gut sichtbaren hinteren Kochbereich hinein. Dadurch allerdings, dass sie mit ihrer just begonnenen Äußerung eine Erzählung projiziert, reklamiert sie nicht nur für die Dauer ihrer Erzählaktivität das Rederecht, sondern auch die Aufmerksamkeit Polettos und mehr noch die des Publikums. Umgekehrt fordert Poletto durch die redeüberlappend produzierte Fokussierungsaufforderung die visuelle Aufmerksamkeit ihrer erzählenden Interaktionspartnerin. Die Kompetitivität dieser Überlappung stellt weniger einen Kampf um das Rederecht dar, sondern sie ist vielmehr Ausdruck konkurrierender Aktivitäten und widerstreitender perzeptorischer Aufmerksamkeitsorientierungen. So reden Poletto und ihr Gast zwar passagenweise simultan, doch sind ihre Adressierungen nicht reziprok, sondern komplementär organisiert: Polettos Fokussierungsaufforderungen sind ausschließlich an Schöneberger adressiert. Nachdem sie den Löffel aus dem Geschirrständer gezogen hat, richtet sie eine zweite Fokussierungsaufforderung an ihren Gast (Z. 10: komm mal HER,), die erneut mit einer bereits begonnenen Äußerung Schönebergers überlappt. Demgegenüber richtet Schöneberger ihre begonnene Erzählung in erster Linie an die Studiogäste und adressiert Poletto lediglich lateral. Dies ist daran zu erkennen, dass sie sich, nachdem sie die Schöpfkelle aufgehängt hat, trotz der Fokussierungsaufforderung nicht auf Poletto orientiert, sondern zum Publikum umdreht. Beim Umdrehen richtet sie ihren Blick in Richtung Publikum, fährt mit ihrer Geschichte fort und bewegt sich wieder in den vorderen Küchenbereich (Abb. 5). Während Schöneberger sich also die visuelle, auditive und kognitive Aufmerksamkeit des Publikums für ihre Erzählung sichern will, ist Poletto um Schönebergers visuelle Aufmerksamkeit bemüht. Ihre Kopf- und Schulterkoordinaten sind in Richtung Schöneberger gedreht (vgl. zum „body torque“ Schegloff 1998), und ihre Wahrnehmung ist darauf ausgerichtet, die Löffelübergabe interpersonell zu koordinieren (Abb. 5). Im Unterschied dazu sind sowohl der Blick als auch die Aufmerkgeste Schönebergers (Abb. 5) in ihrer Rolle als Erzählerin an das Publikum gerichtet. Die körperlichen Displays indizieren nicht nur ihre Adressatenauswahl, sondern sie konstitutieren auch einen deontischen Appell an das Publikum, dass die projizierte Geschichte gegenüber kookkurierenden Aktivitäten Priorität in der Aufmerksamkeitsorientierung haben soll: Anja Stukenbrock 360 5 6 09 BS: =ver[sucht eine SCHUB] la de auf zuziehen, 10 PL: [komm mal HER, ] Nach einer kurzen Monitoringaktivität, bei der sie zur interpersonellen Koordinierung flüchtig auf den Arm ihrer Interaktionspartnerin blickt (Abb. 6), orientiert Schöneberger sich wieder auf das Studiopublikum (Abb. 7). Die Suche nach einem geeigneten Löffel zum Abschmecken ist gegenüber ihrer narrativen Selbstinszenierung in den Hintergrund getreten. Folglich geschieht die Löffelübernahme „en passant“ (Abb. 7) und hat vorerst keinerlei Handlungskonsequenzen. Der Handlungsplan des Abschmeckens, der die Löffelsuche in Gang gesetzt hat, wird zugunsten der Erzählung zunächst aufgegeben. 7 11 BS: und ha tte die geSAMte KÜchenverkleidung [in der hand, 12 PL: [((lacht)) Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 361 Die Löffelübergabe fällt mit dem Beginn einer neuen Turnkonstruktionseinheit zusammen, in der Schöneberger das Resultat ihres Handelns in der narrativ rekonstruierten Kochshow darstellt (Z. 11: und hatte die geSAMte KÜchenverkleidung in der hand,). Simultan zur Artikulation des Verbs hatte (Z. 11) nimmt sie mit der rechten Hand den Löffel aus Polettos Hand (Abb. 7), senkt den rechten Arm und hebt gleichzeitig die linke Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Brusthöhe an (Abb. 8). Simultan zu den Hauptakzentsilben, die die bedeutungstragenden Ausdrücke prosodisch in den Fokus rücken (Z. 11: geSAMte KÜchenverkleidung), führt sie mehrere Batons aus. Zu diesem Zeitpunkt ist die Erzählerin im vorderen Küchenbereich neben Poletto angekommen und bleibt, als sie die Pointe erzählt, neben Poletto stehen. Diese blickt nach der Löffelübergabe zur Erzählerin und orientiert sich auch interaktionsräumlich mit dem Oberkörper auf sie (Abb. 8). Auf diese Weise konstituiert sie sich in der Rolle der Zuhörerin und liefert ein Display ihres ‘involvements’ in die von Schöneberger etablierte Erzählaktivität: 8 11 BS: und hatte die ge SAMte KÜchenverkleidung [in der hand, 12 PL: [((lacht)) Polettos vollständige körperlich-visuelle Aufmerksamkeitsorientierung dauert allerdings nur einen kurzen Moment, denn unmittelbar darauf löst sie diese flüchtige Konfiguration auf, um hinter ihrem Gast vorbei auf die andere Seite des Kochtisches zu laufen (Abb. 9): Anja Stukenbrock 362 9 11 BS: und hatte die geSAMte KÜchenver klei dung [in der hand, 12 PL: [((lacht)) 13 ZZ: [((lachen)) Was für die Erzählerin nun das ‘main involvement’ darstellt und vorübergehend als für beide verbindlich durchgesetzt wurde, wird von zwar Poletto anerkannt, doch zugleich setzt sie ihre eigene Aktivität fort, indem sie den unmittelbaren Interaktionsraum mit ihrem Gast verlässt und einen neuen Aktivitätsraum seitlich am Kochtisch konstituiert. 4.3 Komplementäre Organisation und Hierarchisierung der ‘activity frameworks’ Nachdem sie Schöneberger den Löffel gegeben hat, läuft Poletto um Schöneberger herum auf die andere Seite des Kochtischs und beginnt, mit einer auf dem Herd aufgestellten Pfanne zu hantieren (Abb. 10), während Schöneberger die Pointe ihrer Geschichte expliziert (Z. 14: denn es war eine FAKE küche; ). Indem Poletto den vorübergehend gemeinsam eingenommenen Platz verlässt und hinter Schöneberger auf die andere Seite des Kochtischs läuft, überlässt sie ihr den zentralen Bühnenraum und erkennt die vorübergehende Dominanz der Erzählaktivität an. Schönebergers ins Publikum gerichteter Blick verdeutlicht, dass die Studiogäste weiterhin ihre Hauptadressaten darstellen. Poletto signalisiert durch ihren lächelnden Gesichtsausdruck, dass sie sich, auch wenn sie primär mit ihrer Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 363 Kochaktivität beschäftigt ist, in Bezug auf die Erzählaktivität zugleich in der Beteiligungsrolle der Zuhörerin konstituiert. Ihre visuelle Aufmerksamkeit gilt hingegen der manuellen Tätigkeit der eigenen Hände (Abb. 10): 10 14 BS: denn es war eine FAKE küche ; Im weiteren Verlauf expandiert Schöneberger ihre Erzählung, indem sie zunächst erläutert, was mit FAKE küche konkret gemeint ist (Z. 15). Dabei beginnt sie, sich vom Publikum abzuwenden (Abb. 11) und durch Blick und Körperorientierung einen neuen Aktivitätsraum zu projizieren. Ihr „transactional segment“ (Kendon 1990) weist sowohl von Poletto als auch vom Publikum weg in Richtung des begehbaren Raums zwischen Kochtisch und Rückwand der Studioküche: 11 14 da WAR überhaupt keine schublade da hinter; Anja Stukenbrock 364 Mit dem Ende der erläuternden Turnkonstruktioneinheit (Z. 14: da WAR überhaupt keine schublade dahinter; ), simultan zur Artikulation der letzten Silbe des Lokaladverbs dahinter, dreht sie sich vollständig zur Rückwand von Polettos Studioküche um, projiziert damit einen neuen Handlungsraum und richtet ihren Blick auf einen Raumausschnitt, in dem sich ein Küchenunterschrank befindet (Abb. 12): 12 15 da WAR überhaupt keine schublade dahin ter ; Im Anschluss an die Erzählung des Malheurs (Z. 7-12) und der Pointe (Z. 14- 15) fährt Schöneberger fort, ihre Reparaturversuche zu schildern. Im Verlauf dieser Schilderung produziert sie eine Zeigegeste in Richtung des zuvor durch den Blick hergestellten hinteren Raumbereichs, in dem sich ein Küchenunterschrank befindet (Abb. 13): 13 16 und dann hab ich HEIM lich, Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 365 Anschließend orientiert sie sich mit Oberkörper und Blick auf Poletto und vollzieht ein Adressatenmonitoring, bei dem sie wahrnehmen kann, dass Poletto sie umgekehrt nicht wahrnimmt (Abb. 14), sondern stattdessen weiterhin damit beschäftigt ist, Pilze in einer Pfanne zu wenden. Allerdings kann Schöneberger davon ausgehen, dass sie durch das Studio- und Fernsehpublikum, das sie zuvor als Primäradressaten ihrer Erzählung ausgewählt hat, in ihren körperlichen Herstellungshandlungen wahrgenommen wird. 14 17 während die AN dern geKOCHT ham-= Ungeachtet dessen, dass Poletto der Geschichte folgt und dies durch mimische Displays (Lächeln) und gelegentliches Lachen (Z. 12, Z. 18) auch online zu verstehen gibt, konstituiert die Kochaktivität - zu diesem Zeitpunkt das Anbraten der Pilze - weiterhin ihr ‘main involvement’, das sie körperlich-manuell beansprucht und auf das sie ihre ganze visuelle Aufmerksamkeit richtet. Es definiert ihren relativ statischen Aufenthalt an einem bestimmten Ort in der Studioküche, dem Herd, und besitzt eine eigene temporale ‘involvement’-Kontur. Visuell mit dem Selbstmonitoring ihrer Kochtätigkeiten beschäftigt, kann sie der Geschichte als ‘side involvement’ lediglich ihre auditive Aufmerksamkeit widmen. 4.4 Reorganisation der ‘activity frameworks’ Schöneberger produziert insgesamt vier batonartige Gesten, deren Gipfelpunkte mit den Akzentsilben HEIMlich (Z. 16), ANdern (Z. 17), versUcht (Z. 19) und KÜche (Z. 19) zusammenfallen. Da die Gesten mit einem ausgestreckten Zeigefinger ausgeführt werden, der eine klare vektorielle Orientie- Anja Stukenbrock 366 rung auf den Raum und den dort lokalisierten Unterschrank besitzt, auf den die Sprecherin zuvor ihren Blick gerichtet hat, handelt es sich typologisch um eine Kombination aus Zeige- und Batongeste, in der sich deiktische und diskursstrukturierende Funktionskomponenten überlagern (vgl. zur Problematik von Gestentypologien Goodwin 2003; Kendon 2004; McNeill 2005, (Hg.) 2000; Streeck 2009; vgl. speziell zum Zeigen u.a. Goodwin 2000, 2003; Kendon/ Versante 2003; Kita (Hg.) 2003; Stukenbrock 2008, 2009a). Während die batonartigen Zeigegesten in forcierender Weise immer wieder auf den Unterschrank in Polettos Studioküche weisen, sind Blick und Oberkörper der Sprecherin auf Poletto orientiert. Damit nimmt die Sprecherin einen „body torque“ (Schegloff 1998) ein, der für Zeigehandlungen typisch ist (Stukenbrock 2009a) und die Doppelorientierung des Zeigenden auf das gestisch hergestellte Demonstratum einerseits und den Adressaten andererseits verkörpert. Auf diese Weise wählt die Erzählerin anstelle des Publikums nun explizit Poletto als Hauptadressatin aus. Sie begnügt sich an dieser Stelle nicht mehr damit, dass Poletto, während sie in ihre Kochaktivitäten involviert ist, nebenbei der Geschichte zuhört, sondern sie insistiert auf deren visuelle Aufmerksamkeitszuwendung und einen Wechsel in deren Beteiligungsformat zur aktiven Interaktionspartnerin. Schließlich setzt Poletto die Pfanne ab, dreht sich zu Schöneberger um (Abb. 15) und konstituiert sich damit in der Beteiligtenrolle einer zugewandten, interaktiv verfügbaren Teilnehmerin. Ihr simultan produziertes Lachen (Z. 18) signalisiert, dass die Reorientierung der visuellen Aufmerksamkeit funktional mit der narrativen Aktivität ihrer Interaktionspartnerin zusammenhängt: 15 18 PL: [(( lacht )) (.) 19 BS: [= ver sUcht diese KÜche wieder hinten in_nen griff zu kriegen. Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 367 Nach einem Blickaustausch mit ihrer Interaktionspartnerin (Abb. 15) richtet Poletto ihren Blick auf deren Geste und den dadurch relevant gesetzten Raum (Abb. 16). Dies geschieht in dem Moment, in dem Schöneberger simultan zur Artikulation der Akzentsilbe in versUcht (Z. 19) den dritten gestischen Baton produziert (Abb. 16): 16 19 BS: [=ver sUcht diese KÜche wieder hinten in_nen griff zu kriegen. An diesem Punkt in der emergierenden Interaktion hat Poletto sich nicht nur ihrer Interaktionspartnerin und deren Erzählung zugewandt, sondern sie folgt auch der räumlichen Aufmerksamkeitssteuerung, die durch deren Geste geleistet wird. Schöneberger, die weiterhin zu Poletto blickt, kann wahrnehmen, dass diese sich perzeptorisch auf den entsprechenden Raumausschnitt orientiert. Sie kann also visuell wahrnehmen, dass Poletto ihre visuelle Wahrnehmung auf den gestisch relevant gesetzten Raum richtet. Nun handelt es sich bei der Geste weder um eine reine Zeigegeste, sondern - wie oben bereits festgestellt wurde - um eine Kombination aus deiktischen und batonartigen Funktionskomponenten, noch ist die Geste für das Verständnis dessen, was im Verlauf ihrer Ausführung erzählt wird, unbedingt erforderlich. Dennoch wird sie mit einigem Aufwand hergestellt: Die Erzählerin verlässt zunächst den vorderen Küchenbereich und dreht infolgedessen sowohl dem Studiopublikum als auch ihrer Interaktionspartnerin den Rücken zu. Sie begibt sich in den hinteren Küchenbereich und orientiert sich perzeptorisch auf den Raumausschnitt, auf den sie dann mit insgesamt vier Batons ihre vektoriell präzise ausgerichtete Geste produziert. Während sie gestikuliert, begibt sie sich obendrein in einen ‘body torque’, um sicherzustellen, dass ihre Interak- Anja Stukenbrock 368 tionspartnerin sich visuell auf sie orientiert und die Geste sowie den dadurch fokussierten Raum wahrnimmt, was diese auch tut und dazu ihre Kochaktivität suspendiert. Angesichts dieses beidseitigen Aufwands stellt sich die Frage, welche Funktion der Gebrauch der Geste und die Fokussierung auf einen bestimmten Ausschnitt des Wahrnehmungsraums in der Interaktion zwischen den beiden Frauen einerseits und in der Gestaltung der Erzählung andererseits erfüllen. Im Hinblick auf die interaktive Organisation der beiden potenziell konkurrierenden Aktivitäten und der unterschiedlichen ‘involvements’ der Interaktantinnen in die aktivitätsspezifischen Anforderungen findet in diesem Moment ein Wechsel statt, demzufolge Poletto nicht mehr nur „auf Sparflamme“ in die Erzählaktivität involviert ist, sondern ihr ‘main involvement’ in die Kochaktivität zugunsten einer aktiven Beteiligung an der Erzählaktivität suspendiert. Dies zeigen ihre Folgehandlungen: Sie wendet sich ihrer Interaktionspartnerin körperlich und visuell vollständig zu, übernimmt den Turn, kommentiert das Erzählte und schmückt es aus einer anderen Perspektive weiter aus (Z. 20-24). Auch interaktionsräumlich stellt dieser Moment eine Brücke zwischen der komplementären Verortung der beiden Aktivitätsräume dar. Aus dem Side-by-Side-Arrangement und der vorübergehenden Backto-Back-Formation, die durch Schönebergers Orientierung auf den hinteren Küchenbereich zustande kam, wird eine L-Formation (Kendon 1990), die sich durch Polettos Display ihrer interaktiven Verfügbarkeit auszeichnet (Abb. 17): 17 20 PL: du WARST eigent lich während der sendung- Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 369 4.5 Vergegenwärtigung und Intersubjektivierung des narrativ konstruierten Vorstellungsraums im Wahrnehmungsraum Im Hinblick auf die Gestaltung der Erzählung tritt ein zweiter entscheidender Raumaspekt hinzu: Denn es wird zugleich ein Vorstellungsraum konstruiert, der als räumliches Analogon zu dem Raum präsentiert wird, in dem sich die Interaktionsbeteiligten im Hier-und-Jetzt ihrer situierten Aktivitäten befinden. Dieser imaginäre Raum wird nicht allein durch verbale Mittel der Raumdarstellung aufgebaut (Schwitalla 2012), sondern er wird im vorliegenden Beispiel auch durch körperlich-visuelle Ressourcen (vgl. auch Schmitt/ Deppermann 2010) konstituiert. Es sind die Bewegung in den hinteren Kochbereich, die Körperausrichtung, Blickorientierung und schließlich die batonartigen Zeigegesten der Sprecherin, die den vorgefundenen Raum von Polettos Kochstudio zum Analogon für den zu imaginierenden Raum in der anderen Kochshow machen und diesen zugleich im gegenwärtigen Wahrnehmungsraum verankern. Schöneberger zeigt folglich nicht - wie bei der klassischen „demonstratio ad oculos“ (Bühler 1934) - auf ein sichtbares Zeigeziel im Wahrnehmungsraum, sondern sie zeigt, indem sie auf analoge Elemente im Wahrnehmungsraum rekurriert, am Abwesenden. Damit weist dieser Fall Ähnlichkeiten zu dem von Bühler (ebd.) in der Sprachtheorie entwickelten Konzept der „Deixis am Phantasma“ auf, demzufolge Sprecher und ihre Hörer sich mittels deiktischer Versetzungsakte in und am Abwesenden, am gemeinsam Vorstellten orientieren können. Wie bei der Deixis am Phantasma vollbringt diese polyfunktionale Geste neben der oben erläuterten interaktiven Organisationsfunktion eine räumlich-perzeptorische Orientierungshandlung an der Adressatin. Worin diese besteht bzw. was es zu sehen gibt, sofern es etwas zu sehen gibt, gilt es im Folgenden zu klären. Als Poletto ihren Blick von ihrer Interaktionspartnerin auf deren Zeigegeste und den dadurch hergestellten Raumausschnitt richtet, nimmt sie dort kein reales Zeigeziel, sondern die oberflächenstrukturell analog gebaute, funktional jedoch mit der „Fake-Küche“ kontrastierende Innenausstattung ihrer eigenen Küche wahr, die - so ist zu hoffen - keine Attrappe ist. Dasselbe gilt für das Studio- und Fernsehpublikum, das durch die simultan zur narrativen Entlarvung der „Fake- Küche“ vollzogene visuelle Relevantsetzung von Polettos Studioküche auf die Analogien zwischen Wahrnehmungs- und Vorstellungsraum, zwischen der Küche in der gerade ablaufenden Kochshow und der „Fake-Küche“ in der narrativ rekonstruierten Kochshow aufmerksam gemacht wird. Anja Stukenbrock 370 Wie zu sehen war, ist die Erzählerin an diesem Punkt ihrer Erzählung nicht primär auf das Publikum, sondern auf ihre unmittelbare Interaktionspartnerin hinter dem Kochtisch orientiert, der dadurch als Kochhow-Gastgeberin ein besonderes Interesse an der von der Erzählerin als unerhört inszenierten Neuigkeit zugeschrieben wird, dass andere Kochshows mit innenarchitektonischen Attrappen arbeiten. Das Adressatenmonitoring ermöglicht der Erzählerin wahrzunehmen, dass ihre Adressatin sich tatsächlich umdreht und sowohl ihre körperlichen Displays als auch den gestisch relevant gesetzten Raumausschnitt wahrnimmt. Doch so wie es sich bei dem Zeigeziel nicht um ein real sichtbares Phänomen handelt, das durch einen Zeigeakt der gemeinsamen Wahrnehmung zugänglich gemacht und dadurch intersubjektiviert wird, konstituiert diese spezifische Instanz der Wahrnehmungswahrnehmung (Luhmann 1984, Hausendorf 2003, Stukenbrock 2009a) folglich auch keinen Fall der perzeptorischen Intersubjektivierung eines Wahrnehmungsobjekts. Die Wahrnehmungswahrnehmung erfüllt hier nicht wie bei der „demonstratio ad oculos et ad aures“ (Bühler 1934) die Funktion, ein Perzeptionsobjekt der gemeinsamen und als gemeinsam gewussten Wahrnehmung zugänglich zu machen, sondern sie dient dazu, ein Imaginationsobjekt zu intersubjektivieren. Die Besonderheit des Verfahrens besteht im vorliegenden Fall darin, dass dieses aus dem Vorstellungsraum der „Fake-Küche“ stammende Imaginationsobjekt ein physisch-materielles Analogon im aktuellen Wahrnehmungsraum erhält. Durch die Aufmerksamkeitsorientierung auf den Ort, an dem die Interaktionspartnerin das Imaginationsobjekt räumlich verankert, indiziert Poletto, dass sie den Vorstellungsakt mitvollzieht. Das raum-perzeptorische Alignment auf etwas Nicht-Sichtbares wird damit zum Display eines imaginativen Alignments im Hinblick auf einen zwar intrasubjektiv zu vollziehenden, aber zugleich interaktiv zu intersubjektivierenden Vorstellungsakt - mit anderen Worten also um gemeinsame Imagination bzw. um einen Akt des „collaborative imagining“ (Murphy 2005). 4.6 Narrative Ko-Konstruktion und imaginäre Weiterentwicklung des Vorstellungsraums In Übereinstimmung mit ihrer körperlich-visuellen Zuwendung vollzieht Poletto auch auf der verbalen Ebene ein entsprechendes Alignment, indem sie nun das von Schöneberger entwickelte narrative Szenario aufgreift und weiterspinnt. Sie imaginiert als Konsequenz von Schönebergers Malheur mit der Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 371 „Fake-Küche“, dass Schöneberger bei ihren Reparaturversuchen für das Publikum nicht mehr sichtbar auf dem Boden lag (Z. 20-24) - eine Phantasie, die von Schöneberger ratifiziert wird (Z. 23). Damit konstruiert Poletto gegenüber der Ich-Perspektive der Erzählerin alternativ eine Beobachterbzw. Zuschauerperspektive auf das Geschehen in der anderen Kochshow. Aus dieser Perspektive ist Schöneberger für die Zuschauer kaum noch präsent gewesen, da sie aufgrund ihrer Reparaturbemühungen die Vorderbühne des Kochens verlassen und nicht sichtbar auf dem Boden hinter der Kochtheke gelegen hat. Humorvollerweise kontrastiert das von Poletto imaginierte Szenario in der anderen Kochshow, in welcher ihr Gast „durch Abwesenheit glänzt“, mit deren dominanter Präsenz in Polettos eigener Show: 20 PL: du WARSt eigentlich während der sendung- 21 auch nIcht so richtig ANwesend; 22 [weil du auf_m] BOden gelegen [has,] 23 BS: [nee GAR nich; ] [ja; ] 24 PL: um die kÜche wieder zu repa[RIEren. ] Während Poletto ihre Kochaktivitäten suspendiert hat und die erzählte Situation aus der imaginären Zuschauerperspektive ausschmückt, kehrt Schöneberger umgekehrt zum ‘activity framework’ des Kochens zurück. Indem sie mit dem Löffel nach vorne an den Kochtisch zurückkehrt und die Béchamelsauce probiert, greift sie ihren zu Beginn der Sequenz projizierten Handlungsplan des Abschmeckens wieder auf und setzt ihn fort (Abb. 18): 18 22 [weil du auf_m] BO den gelegen [has,] 23 BS: [nee GAR nich; ] [ja; ] Anja Stukenbrock 372 An dieser Stelle wiederholt sich mit umgekehrten Vorzeichen eine komplementäre Strukturierung der ‘involvements’, bei der Poletto nun ganz in die narrative Aktivität der Ko-Konstruktion involviert ist, während ihre Interaktionspartnerin zur Kochaktivität zurückgekehrt und so mit dem Abschmecken beschäftigt ist, dass sie ihre visuelle Aufmerksamkeit auf das eigene Tun richtet und lediglich durch Rückmeldesignale ihre auditive Beteiligung an Polettos Ko-Konstruktionen zu verstehen gibt. 4.7 Rückkehr zur räumlichen Ausgangskonfiguration und Reetablierung des gemeinsamen ‘main involvement’ Bevor Poletto ihre Phantasie ausformuliert hat (Z. 23: [weil du auf_m] BOden gelegen [has,]) verlässt sie ihren Platz am Herd, den sie während Schönebergers Erzählung eingenommen hatte, und projiziert damit, dass auch sie zur Kochaktivität zurückkehren wird (Abb. 19): 19 22 [weil du auf_m] BOden gelegen [ has ,] 23 BS: [nee GAR nich; ] [ ja ; ] Während sie hinter Schöneberger vorbeiläuft, die sich ihrerseits von ihrem Platz hinter dem Saucentopf löst und die entgegengesetzte Richtung einschlägt (Abb. 20), beendet Poletto ihren Turn (Z. 24: um die kÜche wieder zu repa- RIEren.). Blick und Körperausrichtung sind auf ihren alten Platz am Schneidebrett orientiert, den sie wenig später wieder einnimmt. Indem Poletto den Platz am Schneidebrett wieder einnimmt, wird die vorherige räumliche Konfigurierung, an der die Sequenz ihren Ausgangspunkt nahm, rekonstituiert. Die raumpositionellen Transformationen rahmen die von Schöneberger produzierte Anekdote und schaffen zugleich eine Bühne für ihre kör- Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 373 perlichen Aktivitäten. Diese bewirken eine Überblendung des Wahrnehmungsraums mit imaginären Komponenten, die aus dem narrativ rekonstruierten Vorstellungsraum importiert werden. 20 23 BS: [nee GAR nich; ] [ja; ] 24 PL: um die kÜche wieder zu repa[RIEren. ] 4.8 Zur Überblendung von Wahrnehmungsraum und Vorstellungsraum Konstitutiv für die Überblendung des durch Empraxis gekennzeichneten Wahrnehmungsraums mit einem durch narratives Displacement konstituierten Vorstellungsraum ist die Tatsache, dass das Zeigeziel der von Schöneberger produzierten Gesten kein sichtbares Detail von Polettos Kücheneinrichtung ist, sondern dass das Zeigen am Phantasma der imaginären Studioküche bzw. des zu imaginierenden Mobiliars jener anderen Kochshow ausgeführt wird. Dem wahrnehmbaren Raum kommt dabei eine die Vorstellung strukturierende Rolle eines räumlichen Analogons zu. Er dient als Ressource zum Zeigen am Abwesenden mit dem Ergebnis, dass eine Überblendung von wahrnehmbarem und imaginärem Raum und deren entsprechenden räumlichen Eigenschaften entsteht. Die Zeigende nutzt die intrinsische Ausrichtung der Küche, in der sie sich gerade befindet, sowie die räumliche Konfigurierung und Orientierung der Teilnehmer darin, um die Vorstellung jener nicht vorhandenen, visuell nicht zugänglichen Küche zu evozieren. Die zum Sprechzeitpunkt empraktisch vorhandene Küche nimmt eine Stellvertreter- oder Platzhalterfunktion für die analog zu imaginierende Küche ein, mit dem entscheidenden Unterschied, dass die vorzustellende Küche im Gegensatz zu Polettos Küche offenbar aus funktionslosen, innenarchitektonischen Attrappen bestand. Anja Stukenbrock 374 In diesem Beispiel wird der Wahrnehmungsraum als Platzhalter bzw. Analogon für einen imaginierten Raum gebraucht, der ähnliche Strukturen und Merkmale aufweist wie der aktuelle Wahrnehmungsraum. Diese räumlichen Analogien zwischen Wahrnehmungsraum und imaginärem Raum werden von der Sprecherin als Ressource genutzt, um dem Imaginären mehr Plastizität zu verleihen und die entsprechende Vorstellung durch Rekurs auf perzeptorische Parallelen im Wahrnehmungsraum zu konkretisieren. Dadurch dass die Sprecherin Zeigegesten verwendet, die zwar am wahrnehmbaren Raum orientiert sind, obgleich das Zeigeziel dieser Gesten etwas Abwesendes darstellt, entsteht eine Überblendung von wahrnehmbarem und imaginärem Küchenraum dergestalt, dass das wahrnehmbare Küchenmobiliar den perzeptorischen Anker für die räumliche Überblendung bildet. Zugleich werden die „Fake“-Aspekte der narrativ rekonstruierten Küche durch die gestikulatorischen Aktivitäten der Sprecherin potenziell in die sichtbare Küche „hineingedeutet“. Die analogen Raumstrukturen des Vorstellungsraums, dem das Abwesende entstammt, werden aufgrund der strukturellen Analogien im Wahrnehmungsraum „sichtbar“ gemacht bzw. erhellt. Verantwortlich dafür ist die besondere Passung bzw. Analogie zwischen wahrnehmbaren und imaginären Raumstrukturen und vor allem die Tatsache, dass die Erzählerin diese Parallelen aktiv als Ressource nutzt. Die vorstellungsräumlichen Komponenten werden durch das im vorhandenden Küchenstudio stattfindende und inszenierte räumliche Orientierungsverhalten der Sprecherin, ihren Gestengebrauch, ihren Blickeinsatz, ihre Bewegung und ihre Körperausrichtung im Wahrnehmungsraum verankert. Im vorliegenden Fall gestaltet sich die Überblendung von Wahrnehmungsraum (WR) und Vorstellungsraum (VR) wie folgt: Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 375 5. Raum als interaktive Ressource zur Herstellung von und Vermittlung zwischen Empraxis und Displacement Im Anschluss an die Fallanalyse soll nun abschließend die Feststellung reflektiert werden, dass Raum in dem analysierten Beispiel zugleich als Ressource und als Gegenstand in Erscheinung tritt. In der Sequenz werden zwei verschiedene Studioküchen in zwei verschiedenen Kochshows auf unterschiedliche Art und Weise relevant: Während sich die eine Küche als physisch-materieller, sinnlich wahrnehmbarer, gegenständlich angereicherter und empraktisch zuhandender Raum manifestiert, der die Umgebung, den Handlungsraum und die Bühne der Interaktanten, mit anderen Worten also ihre medial inszenierte „Welt in aktueller Reichweite“ (Schütz/ Luckmann 1984) konstituiert, wird die andere Küche im Rahmen einer Erzählung narrativ rekonstruiert. Für die eine Küche wird im empraktischen Aktivitätsrahmen der unmittelbar stattfindenden Kochshow studioküchenspezifische „Echtheit“ reklamiert, die andere wird als „Fake-Küche“, als Attrappe entlarvt und enttarnt. Auch wenn es sich in beiden Fällen anerkanntermaßen um Studioküchen handelt, deren räumliche Konfiguration, deren Ausstattung und Gestaltung für die massenmediale Inszenierung prepariert sind, liegt die von der Erzählerin entlarvte Unechtheit der „Fake-Küche“ zusätzlich darin, dass dort im Rahmen der zwischen Zuschauern und Bühnenakteuren stillschweigend vereinbarten, allgemein akzeptierten Illusion (‘agreed upon illusion’) eine weitere, den Zuschauern verborgene optische Täuschung vorliegt. Darauf bezieht sich auch das Display belustigt-belustigender Empörung, mit dem die Erzählerin beim Erzählen der Pointe das Publikum von Polettos Kochschule unterhält. Die Erzählerin erzählt eine Geschichte, in der sie im Rahmen ihres vermeintlich bühnenkonformen Verhaltens beim Versuch des Schubladenöffnens ungewollt ein Stück Hinterbühne auf die Vorderbühne (Goffman 1959) gebracht hat. Was sie dort im Rahmen ihrer empraktisch eingebundenen Kochaktivität getan hat, wiederholt sie nun indirekt durch Displacement, indem sie - diesmal im Rahmen ihrer Erzählaktivität - Analogien zwischen dem räumlichen ‘made-up’ von Kochshows herstellt. So wie die Erzählerin in Polettos Kochshow aus der Kochaktivität als ‘main involvement’ austritt, um ihr Malheur in der anderen Kochshow zu erzählen, ist sie dort im Zuge ihres Malheurs ebenfalls aus der Kochaktivität ausgetreten und war statt dessen - so die narrative Rekonstruktion - mit der Reparatur der von ihr zerstörten Küchenverkleidung beschäftigt. Anja Stukenbrock 376 Die Moral der vom Gast erzählten Geschichte besagt, dass es gefährlich sein bzw. peinliche Konsequenzen haben kann, in einer fremden Studioküche die Dinge für das zu halten, was sie scheinen und zumindest im Alltag normalerweise auch sind. Angesichts der räumlichen Analogien zwischen Erzählsituation (Polettos Studioküche) und erzählter Situation (Fake-Studioküche) und der sequenziellen Platzierung der Erzählung in unmittelbarem Anschluss an eine Lokalisierungsfrage des Gasts (Z. 1: hAm_wir hier noch KLEInere löffel,), die zugleich ein Display ihres Fremdseins in der Küche liefert, birgt die Erzählung ein gewisses gesichtsbedrohendes Potenzial für Poletto. Denn durch die Überblendung beider Räume erbt die wahrnehmbare Studioküche bis zu einem gewissen Grad den „Fake“-Verdacht der vorgestellten Studioküche. Damit wird der Wahrnehmungsraum - der aktuelle, in dem sich die Beteiligten zum Zeitpunkt ihrer Interaktion befinden - selbst problematisch: Die Dinge sind nicht, wie und was sie scheinen. Bezogen auf die Situation von Kochshow bedeutet das, dass im Grunde alle Studioküchen dem „Fake“- Verdacht ausgesetzt sind. Für Poletto ist es angesichts dessen wichtig, dass sie im Rahmen des Showformats ihren Anspruch auf Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit aufrecht erhalten kann. Ihr Fortspinnen der Erzählung belegt gegenüber den von der Erzählerin implizierten Parallelen zwischen den Kochshows eine um Kontrastierung bemühte Deutung. Raum begegnet in der vorliegenden Sequenz gleich in mehrfacher Hinsicht als interaktive Ressource: Durch die Art und Weise, wie die Akteure sich in dem durch das räumliche Arrangement der Studioküche bedingten Handlungsraum bewegen, tritt Raum als Ressource zur Strukturierung parallel vollzogener, potenziell konkurrierender Aktivitäten, aber auch als Ressource zur Aushandlung des Status konkurrierender Aktivitäten sowie zum wechselseitigen und zum publikumsseitigen Display der ‘involvements’, deren relativen Status und deren Online-Hierarchisierung in Erscheinung. Zudem lässt sich an dieser Sequenz exemplarisch nachvollziehen, wie Raumanalogien als Ressource zur wechselseitigen Reflexion genutzt werden: Indem die Erzählerin den Wahrnehmungsraum als Ressource nutzt, um einen narrativ konstruierten Vorstellungsraum durch Analogie „präsenter“ zu machen und zu vergegenwärtigen, führt sie dabei umgekehrt den Vorstellungsraum als Ressource ein, um durch die Analogisierung implizit den Wahrnehmungsraum in Frage zu stellen. Raum wird damit als Ressource zur Vergegenwärtigung von Abwesendem und zur Analogisierung verschiedener Raumerfahrungen und dadurch schließlich auch als Ressource eingesetzt, um Räume und Räumlichkeiten selbst auf humorvolle Art in Frage zu stellen. Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion 377 Damit, dass die Geschichte das Illusionäre der Kochstudio-Illusion offenbart, wirft sie auf spielerische Art auch die Frage nach der lässlichen und der weniger lässlichen Illusion bei der medialen Selbstdarstellung bzw. bei der Selbstdarstellung (Goffman 1959) im medialen Alltag auf. 6. Literatur Bamberg, Michael (1997): Positioning between structure and performance. In: Journal of Narrative and Life History 7, 1-4, S. 335-342. Bamberg, Michael (2003): Positioning with David Hogan. Stories, tellings, and identities. In: Daiute, Colette/ Lightfoot, Cynthia (Hg.): Narrative analysis: Studying the development in society. London, S. 135-157. Bamberg, Michael (2005): Narrative discourse and identities. In: Meister, Jan Christoph/ Kindt, Tom/ Schernus, Wilhelm (Hg.): Narratology beyond literary criticism. Mediality, disciplinarity. 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Die Nachbearbeitung versucht, wichtige Informationen und Bedeutungen, die der Film in visueller Form enthält, auch den sehbehinderten oder blinden Rezipienten auditiv zu vermitteln. Der Hörfilm versucht, das komplexe, multimodal konstituierte Angebot des sichtbaren Films in auditiver Form zur Verfügung zu stellen, um so auch den sehbehinderten Rezipienten ein detailliertes, schrittweise entstehendes Verständnis des Films zu ermöglichen. Für die Mehrheit der Menschen ist Sehen eine selbstverständliche, fast unauffällige Fähigkeit - wir nehmen sie meist erst dann wahr, wenn wir sie verlieren. Die visuelle Wahrnehmung ist einer der schärfsten Sinne der Menschen, und Visualität spielt in der alltäglichen Kultur und Kommunikation eine wesentliche Rolle. Personen, die unter Sehbehinderungen leiden, können zentrale Bedeutungsinhalte des gesellschaftlichen und ästhetischen Lebens nicht vollständig wahrnehmen. Ein Großteil der Sehbehinderten hat jedoch früher im Leben gesehen, und viele sind immer noch fähig, visuelle Reize wie Licht und Schatten oder Gestalten wahrzunehmen. Um durch die Sehbehinderung verursachte Benachteiligung zu kompensieren, wurde ein Verfahren der Verbalisierung des Visuellen - heute Audiodeskription genannt - in den 1980er Jahren zuerst in den Vereinigten Staaten und ein wenig später auch in Europa eingeführt. Audiodeskription ist ein kommunikatives Hilfsmittel, mit dem visuelle und gelegentlich auch auditive Informationen in eine sprachliche Form übertragen werden. Der Bedarf an Verbalisierung kann in einer Vielfalt von Situationen auftreten. Dabei kann es sich um Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 382 die Rezeption von Filmen und Fernsehsendungen, den Besuch von Ausstellungen in Museen oder von Theaterstücken usw. handeln. Audiodeskription eröffnet den Nichtsehenden einen Zugang zur visuellen Welt z.B. durch die Beschreibung körperlicher Kommunikation. Des Weiteren ermöglicht sie Rezipienten mit einer eingeschränkten Sehfähigkeit eine einheitliche Interpretation komplexer multimodaler Inhalte in Form eines ‘erweiterten Sehens’, bei der die bereits wahrgenommenen Elemente der Kommunikation durch Audiodeskription ergänzt werden. Die Audiodeskription trägt zur stärkeren Integration und Gleichberechtigung der Sehbehinderten bei, weil sie dadurch einen selbstständigen Zugang zu audiovisuellen Medien haben und u.a. gemeinsam mit Sehenden Erlebnisse im Kino und Theater genießen können. Dank der Audiodeskription müssen sich Sehbehinderte aus den Diskursen über das ausgedehnte audiovisuelle Informations- und Unterhaltungsangebot nicht ausgeschlossen fühlen (Poethe 2005, S. 34). Wir werden in diesem Beitrag zunächst die zentralen Charakteristika des Hörfilms einführen und danach den Anfang der Hörfilmfassung von Der Untergang (Deutschland, 2004) analysieren. Dabei stellen wir uns die Frage, wie die im Hörfilm präsenten Modalitäten - gesprochene Sprache, Musik und Geräusche - Raum als ein multimodales Angebot ausgestalten. Nach der Analyse fassen wir die Mittel der Hörbarmachung des Raumes zusammen und setzen uns abschließend mit den besonderen Implikationen des Hörfilms hinsichtlich der auditiven Konstitution von Raum auseinander. 2. Der Hörfilm Ein Hörfilm ist eine überarbeitete Version eines gewöhnlichen Films, zum Hören geeignet und mit einer zusätzlichen sprachlichen Erzählung, Audiodeskription, ausgestattet. Audiodeskription kann mit anderen audiovisuellen Übersetzungsmethoden (Synchronisierung oder Untertitelung von Filmdialogen) verglichen werden, die zur Überwindung eines Hindernisses (das Fehlen bestimmter Fähigkeiten oder Kompetenzen wie Sprachkenntnisse) beitragen und somit die Rezeption ermöglichen bzw. unterstützen. Audiodeskriptionen lassen sich demnach als „akustische Untertitel“ bezeichnen (Poethe 2005, S. 33): Das Visuelle wird in Teilen ins Sprachliche übersetzt und in Dialogpausen eingesprochen. Mit der Audiodeskription ist es für sehbehinderte und blinde Rezipienten möglich, selbstständig über den Ton zu verfolgen, was im Bild geschieht (vgl. Poethe 2005). Der Hörfilm stellt also eine auditiv rezipierbare Erzählung dar, Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 383 die neben der Audiodeskription den originalen Ton des Films (Dialog, Geräusche und Musik) enthält. In der filmischen Audiodeskription wird die Tonspur des Filmes generell für eine erstrangige Modalität der Wahrnehmung gehalten und wird daher möglichst ungestört wiedergegeben. Dies hat zur Folge, dass oft nur wenig Zeit für Audiodeskription bleibt. Hörfilme werden in der Postproduktionsphase gefertigt. Visuelle und gegebenenfalls auditive Informationen werden von speziell ausgebildeten Beschreibern verbalisiert und zusammen mit Timecodes und Anmerkungen des Originaltons in ein schriftliches Skript verarbeitet. Die Beschreiber arbeiten im Team oder individuell. In Deutschland hat sich das Verfahren der Dreiergruppen (zwei Sehende und eine blinde Person) etabliert, um für die Zielgruppe sinnvolle und vollständige Beschreibungen zu liefern. Zuletzt wird das Skript im Tonstudio in der Regel von einem/ einer Synchronsprecher/ in vorgetragen und in den Film integriert, der dadurch zum Hörfilm wird. Der Zweck der Audiodeskription beim Film ist es, für den narrativen Verlauf relevante Informationen möglichst sachgemäß zu versprachlichen und diese an einer geeigneten Stelle innerhalb der Filmdynamik zu platzieren. 1 In der Regel sind es sprachliche Beschreibungen von Handlungen, Personen und Schauplätzen, die in Dialogpausen gegeben werden. Gelegentlich müssen auch Geräusche verstehbar gemacht werden, und zwar insbesondere dann, wenn sie im Originalton schwer identifizierbar sind (z.B. das Rücken von Möbeln oder das Rauschen von Kleidung). Die Audiodeskription verläuft also nach der zeitlich vorbestimmten Struktur des Films: Der Film läuft in seinem eigenen Tempo weiter, und die Audiodeskription muss damit Schritt halten, ohne die Möglichkeit, den Film z.B. für Ergänzungen anzuhalten. Die Intermodalität, d.h. die Übertragung visueller Informationen in eine sprachliche Beschreibung bzw. Erzählung, stellt an die Übersetzung sehr verschiedene Anforderungen, 2 die in der Bearbeitung unterschiedlicher Probleme bestehen. Es gibt ein - Selektionsproblem (Visualität kann eine weitgehende, gar unbestimmte Menge an Informationen einschließen, von denen, vor allem in Zeitdruck, nur einige Teile versprachlicht werden können), - Linearisierungsproblem (Sprache erfordert eine temporale Folge, während Visualität in erster Linie eine gleichzeitig wahrzunehmende Informationsmenge darstellt), und 1 Zur Praxis der Audiodeskription siehe z.B. Dosch/ Benecke (2004) und Hyks (2005). 2 Vgl. u.a. Grodal (1997), Stutterheim/ Kohlmann (2001), Stöckl (2004) sowie Schubert (2009). Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 384 - Ikonizitätsproblem (Bilder können Dinge in konkreter, manchmal sogar zur Wahrnehmung analoger Form zeigen; Sprache dagegen muss wegen ihres semiotischen Charakters von der Konkretheit abstrahieren und auf die Dinge symbolisch referieren). Der filmischen Audiodeskription liegt der Originalfilm mit seiner Stilistik und narrativen Relevanz zugrunde. Die Kamera- und Schnittarbeit hat die Eigenschaft, die Aufmerksamkeit zu lenken, und kann dadurch wichtige Aspekte verdeutlichen (wenn z.B. durch Beleuchtung oder Einstellungsgröße auf bestimmte Elemente fokussiert wird). An den Stellen, an denen nicht viel Zeit für die Audiodeskription bleibt, fällt die Wahl der zu beschreibenden Elemente häufig auf die Handlung der Hauptfiguren. Narrativ-stilistische Hinweise dieser Art können bei der Selektions- und Linearisierungsarbeit behilflich sein. Seiffert (2005, S. 84) weist darauf hin, dass die visuelle Erzählung des Films in einen konsekutiven Verlauf strukturiert sein kann und dementsprechend eine „zeitlich verzögerte“ Rezeption impliziert, die die Versprachlichung nachahmen kann. Auch die Simultanität der Bildrezeption kann mit bestimmten sprachlich realisierten Mitteln kompensiert werden, wie z.B. durch die Anwendung von Schlüsselwörtern, die das schematische Wissen unverzögert im Gedächtnis aufrufen können (ebd.). 3. Gegenstand und Ziel Die empirische Grundlage unserer Analyse besteht aus einem Ausschnitt aus der Hörfilmfassung des Films Der Untergang (Deutschland, 2004; Hörfilmproduktion von BR/ BBSB/ Constantin Film 2005). 3 Gegen Ende des zweiten Weltkriegs nach Berlin verlegt erzählt Der Untergang die Ereignisse im Führerbunker und in Berlin kurz vor der Kapitulation. Die Geschichte schildert vorrangig die Erfahrungen der Sekretärin von Hitler, Traudl Junge, deren Autobiografie Bis zur letzten Stunde − Hitlers Sekretärin als Grundlage für den Film diente. 4 Der Ausschnitt umfasst die ersten zwei Minuten des Films und schließt drei Phasen ein: 1) den Vorspann, in dem der Jingle (Audio-Logo) der Produktionsgesellschaft abgespielt wird und die Produktionsgesellschaft, der Name des Drehbuchautors sowie der Name des Films präsentiert werden, 3 http: / / hoerfilmev.de/ index.php? id=712&action=hoerfilm.show 4 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Traudl_Junge Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 385 2) einen biografischen Monolog und 3) den Anfang der Handlung. Wir haben den Filmanfang zur Analyse gewählt, weil es da noch keine Bezüge auf Vorangegangenes oder schon Erwähntes gibt, sondern gleichsam alles, was relevant ist, beschrieben werden muss bzw. alles, was beschrieben wird, durch die Tatsache seiner Beschreibung erstmalig relevant gemacht wird. Unser Analyseinteresse richtet sich auf den auditiv wahrnehmbaren Film, der lediglich aus akustisch hörbaren Elementen besteht, d.h. aus dem Filmton und der Audiodeskription. Der Filmton schließt sowohl Stimmen der Personen, ihre Redebeiträge als auch Musik, Geräusche und Spezialeffekte ein. Das Sprachliche kann dreierlei Einheiten umfassen: den Dialog bzw. die Äußerungen der Personen sowie den eingesprochenen Text des Beschreibers und das Voice-Over. Die Fokussierung auf die auditive Hörfilmfassung bedeutet, dass wir zum einen visuelle Elemente aus der Analyse ausschließen sowie zum anderen auf den Vergleich der Hörfilmfassung mit dem Originalfilm verzichten. Dies ist methodisch motiviert und hat folgende Gründe: Es geht uns nicht darum zu analysieren, wie das visuell Dargestellte in der Audiodeskription umgesetzt worden ist, ob der durch Audiodeskription gelieferte „Ersatz“ für das Visuelle das durch die Bilder Vermittelte kompensiert oder welche Folgen die Reduktion eines komplexen multimodalen Films auf einen nur über das Hören zu erfahrenden Film hat (vgl. Fix 2005, S. 7f.). Unser Interesse besteht vielmehr darin, herauszufinden, wie speziell Raum hörbar gemacht wird, und vor allem, wie der ‘Szenenraum’, der in erster Linie ein visueller Begriff ist, durch hörbare Modalitäten hergestellt wird und welche Mittel dabei eine Rolle spielen (vgl. Seiffert 2005). Als Szenenraum fassen wir den dargestellten, inszenierten und medial vermittelten diegetischen 5 Raum des Films: den fiktiven Ort, die Handlung, die Interaktion usw. Im Hörfilm ist der Szenenraum ein dargestellter, imaginärer Raum, der sich schrittweise durch verschiedene auditive Ressourcen konstituiert und von den Rezipienten visuell nicht oder nur in eingeschränkter Weise wahrgenommen werden kann. Des Weiteren gehen wir der Frage nach, welche Dimensionen und welche Teilbereiche des Szenenraumes als relevant dargestellt werden. Wir orientieren uns dabei an der Analyse und der Visualisierung der Analyseergebnisse, wie sie Schmitt/ Deppermann (2010) bei ihrer Analyse der multimodalen Konstitution eines imaginären Raumes realisiert haben. 5 ‘Diegetische Handlung’ bezieht sich auf solche Ereignisse, die sich durch die fiktive, erzählte Welt des Films motivieren. Der Terminus ‘nichtdiegetisch’ wird in gegensätzlicher Bedeutung benutzt: dazu gehört z.B. die Hintergrundmusik, deren Quelle nicht in der Erzählung zu finden ist; vgl. Bordwell (1985). Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 386 Obwohl viele sehbehinderte Rezipienten visuelle Reize wahrnehmen und diese im Zusammenhang mit der audiovisuellen Narration interpretieren können, gehen wir bei der Analyse von der Perspektive eines Nichtsehenden aus. Wir konzentrieren uns vollständig auf das Hörbare und auf die Rolle der auditiven Modalitäten bei der Raumkonstitution. Wir glauben, dass es schwieriger ist, das Akustische in vollem Umfang wahrzunehmen, wenn wir gleichzeitig noch das visuelle Bild vor Augen haben. Wir können uns natürlich nicht völlig in die Lage der blinden oder sehbehinderten Rezipienten versetzen, erstens weil wir nicht daran gewohnt sind, unsere Welt ausschließlich auditiv wahrzunehmen, zweitens weil die tatsächlichen Rezipienten des Hörfilms über Sehvermögen unterschiedlichen Grads verfügen und drittens, weil wir den Film schon vor unserer Untersuchung gesehen hatten. Im Folgenden werden wir zunächst eine feinschrittige Analyse des ganzen Ausschnitts durchführen, in der wir die multimodale Konstitution eines imaginären Raums detailliert rekonstruieren. Im Mittelpunkt steht die Konstitution des Szenenraumes, der aber ein Vorspann und ein einleitender dokumentarischer Monolog vorangehen. Diese beiden Segmente werden wir kurz behandeln, weil sie zum Verständnis des gesamten (Hör-)Films und auch des zu analysierenden Szenenraums beitragen. 4. Analyse des Ausschnitts Unsere Analyse hat zwei Teile: Der erste, kürzere Teil besteht aus einer Beschreibung des Filmanfangs, also des Vorspanns und der Einführung. Der zweite Teil präsentiert die Analyse des Szenenraumes ausgehend von der Frage, wie der Raum, den die Rezipienten durch Sprache und andere auditive Modalitäten hören (können/ müssen), Schritt für Schritt konstituiert wird. Die Ergebnisse unserer Rekonstruktion dieser schrittweisen Herstellung des Raumes wollen wir mit einer Reihe grafischer Darstellungen präsentieren (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010, S. 206). Diese Abbildungen werden absichtlich als abstrakte Konstellationen realisiert, um die Bedingungen der Rezeption des Hörfilms nachzuahmen: Sie veranschaulichen primär das Potenzial des hörbaren Angebots (Audiodeskription, Geräusche, Musik und Dialog) für die räumliche Konstruktion in einer Abstraktion. Sie beabsichtigen nicht, das bei einem konkreten Rezipienten faktisch erzeugte Bild wiederzugeben, das individuell je nach Zuhörer/ in in spezifischen mentalen Vorstellungen konkretisiert wird. Das hörbare Angebot des Films wird in einem Transkript dargestellt, um das Zusammenspiel und die Simultaneität verschiedener auditiver Ressourcen zu Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 387 verdeutlichen. Dabei haben wir versucht, alles, was hörbar ist, zu notieren. Allerdings wird nicht alles in gleichem Maße und in vergleichbarer Detailliertheit analysiert, sondern wir werden uns auf die relevant erscheinenden Elemente konzentrieren. Die auditiven Informationen sind im Transkript nach folgender Architektur systematisiert: Jede Quelle wird (wie verschiedene Sprecher) in einer eigenen Zeile notiert und eigenständig nummeriert. In der ersten Zeile haben wir Musik notiert, in der zweiten Zeile gesprochene Sprache und in der dritten Zeile Geräusche. Längere Pausen stehen zudem in einer eigenen Zeile. Wir benutzen in unserem Transkript folgende Siglen: FM1 und FM2 für Filmmusik, ADE für Audiodeskription, AF für die alte Frau im Monolog, MS1 und MS2 für unterschiedliche männliche Filmstimmen, WS für eine weibliche Filmstimme, VO für das Voice-Over sowie FGE für Filmgeräusche. Das Transkript wurde von uns in Anlehnung an die Konventionen von GAT (Selting et al. 1998) erstellt. Ihm lag das Drehbuch des Films (erhältlich in Fest/ Eichinger 2005) sowie das Skript der Audiodeskription 6 zugrunde. 4.1 Vorspann und Einführung Der Film beginnt mit Musik (FM1) und gleich danach setzt eine Männerstimme (ADE) ein. 1 FM1: ¯ ¯ 2 (0.5) 3 FM1: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ 4 ADE [in eine rotierende trommel 5 FM1: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ 6 ADE: mit schmalen schlitzen (.) wird der 7 FM1: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 8 ADE: schriftzug zu CONStantin film projiziert; ] 9 FM1: ¯ ¯ 10 (0.8) 11 FM1: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 12 ADE: [die trommel stellt sich senkrecht. ] 13 FM1: ¯ ¯ 14 (0.6) 15 FM1: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ 16 ADE: [aus den schlitzen werden die 6 Für das Audiodeskriptions-Skript danken wir Hörfilmredakteur Bernd Benecke vom Bayerischen Rundfunk. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 388 17 FM1: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 18 ADE: perforationslöcher eines filmstreifens; ] 19 FM1: ¯ MUSIK nimmt ab und verstummt ¯ 20 (1.1) 21 ADE: weiße schrift auf schwarzem grund. 22 FM2: ¯ ¯ 23 (0.8) 24 FM2: [ ¯ ¯ ¯ 25 ADE: [constantin film, (.) 26 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 27 ADE: und bernd eichinger zeigen-] 28 FM2: ¯ ¯ 29 (1.3) 30 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 31 ADE: [der untergang. ] 32 FM2: ¯ ¯ 33 (1.8) Dieser Teil ist durch den Jingle und die verbalen Äußerungen als Vorspann erkennbar, der den Nichtsehenden beschrieben wird. Der Vorspann ist ein konventionelles, den Filmkonsumenten vertrautes Merkmal, das den Filmstart ankündigt. Für Nichtsehende wird hier die Stimme und Sprechweise des Beschreibers eingeführt, was seine Stimme von denen der Figuren des Films unterscheidbar macht. Der heroisch klingende Symphonieanfang der als Jingle fungierenden Musik erweckt den Eindruck, dass etwas Schicksalhaftes angekündigt wird. Der Vorspann endet mit der Ansage des Filmtitels der untergang (Z. 31). In der Pause von 0,8 Sekunden (Z. 23) beginnt zunächst sehr leise, kaum hörbar eine neue Musik, die einen Gegensatz zur zuerst gehörten schnellen Musik bildet. Das Tempo ist langsam, die Melodie einfach, die Tonart in Moll. 7 Die verbale Beschreibung (Z. 25, 27, 31) mit den prosodischen Merkmalen einschließlich der Pausen und die Musik signalisieren einen Wechsel des Ereigniszusammenhangs. Nach einer Pause fährt die Stimme des Beschreibers fort: 34 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 35 ADE: [das gesicht einer weißhaarigen frau- 36 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 37 ADE: (.) anfang achtzig. ] 38 FM2: ¯ ¯ 39 (0.6) 7 Die Analyse der Musikstellen verdanken wir der Komponistin Maija Hynninen. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 389 Nachdem der Titel des Films genannt worden ist, beginnt typischerweise die diegetische Erzählung bzw. die narrative Handlung. Die obige Äußerung, die in unserem Beispiel nach dem Vorspann kommt, ist eine knappe, lediglich aus einer Nominalphrase bestehende Beschreibung. Die Untersuchung von Kluckhohn (2005) über Informationsstrukturierung in Audiodeskription hat ergeben, dass derartige Beschreibungen in verkürzter, elliptischer Form häufig einen Szenenwechsel oder eine neue Situation kenntlich machen. Die Verkürzung dient einer maximalen Fokussierung auf die Frau. Über den Raum, in dem sie sich befindet, wird nichts gesagt. Die Beschreibung deutet auf ein Nahbild hin, also auf eine visuelle Fokussierung, d.h., der Raum ist weder in der Beschreibung noch im Bild relevant. Die Beschreibung einer weißhaarigen frau und die Altersangabe anfang achtzig kategorisieren die fokussierte Person als ‘alt’. In der im Hintergrund weiterhin hörbaren, melodisch und harmonisch einfachen Musik unterscheiden sich einzelne Klaviertöne. Eine Frauenstimme (AF) setzt an: 40 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 41 AF: [ich hab das gefühl, (0.3) dass 42 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 43 AF: ich diesem (0.3) kind diesem (.) 44 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 45 AF: kindischen (.) jungen ding,] 46 FM2: ¯ ¯ 47 (1.0) 48 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 49 AF: [BÖ: S sein muss? ] 50 FM2: ¯ ¯ 51 (0.7) 52 FM2: [ ¯ ¯ ¯ 53 AF: [.hh oder dass 54 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 55 AF: ich ihm nicht verzeihen kann .hh 56 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 57 AF: dass es die .hh die schrecken 58 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 59 AF: dieses MONSter nicht rechtzeitig 60 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 61 AF: erkannt hat. .hh dass es nicht Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 390 62 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 63 AF: durchschaut hat .hh in was es da 64 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 65 AF: hinEINgeraten ist. .hh und @vor allem@ 66 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 67 AF: .hhh dass ich so UNüberlegt JA gesagt habe. 68 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 69 AF: ich war ja .hh (.) ich war ja keine 70 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 71 AF: begeisterte nationalsozialistin; 72 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 73 AF: .hh ich hätte ja (.) als ich dann 74 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 75 AF: .hh nach berlin kam sagen können nein, 76 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 77 AF: .hh ich will da nicht mitmachen, und 78 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 79 AF: ich will auch nicht ins führer- 80 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 81 AF: hauptquartier geschickt werden; 82 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 83 AF: .hhh ich habs aber nicht gemacht 84 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 85 AF: aber da war .hh die NEUgier zu groß 86 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 87 AF: und .hhh irgendwie hab ich das auch 88 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 89 AF: nicht so (.) .h ich hab ja nicht gedacht 90 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 91 AF: .hhh dass mich das schicksal so vorANtreibt 92 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 93 AF: .hhh an eine stelle die ich überhaupt 94 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 95 AF: nicht ANgestrebt hab. .hhh] 96 FM2: ¯ ¯ 97 (0.5) 98 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 99 AF: [und TROTZdem, ] 100 FM2: ¯ ¯ 101 (1.0) 102 FM2: [ ¯ ¯ 103 AF: [es fällt Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 391 104 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 105 AF: mir schwer (.) mir das zu verzeihen.] Die in Zeile 22 begonnene Musik läuft während des gesamten Monologs weiter und gewinnt nach und nach gegen Ende der Sequenz an Intensität. Die Orchestrierung ist dünn, knapp und dynamisch langsam, die Dynamik ist gedämpft. Der Mollton schafft eine melancholische Stimmung. Die Melodie bleibt weiterhin einfach. Die einfache und sich langsam entwickelnde Harmonie erweckt Erwartung und Spannung. Der Monolog beginnt mit einer Aussage, in der die Frau mit dem Personalpronomen ich auf sich selbst referiert: ich hab das gefühl. Die Äußerung geht unmittelbar mit einem Komplementsatz weiter: dass ich diesem kind diesem kindischen jungen ding bös sein muss. Es gibt also zwei Akteure, die eine Rolle im Monolog haben: ich als die Frau, die spricht, und dieses kind bzw. kindisches junges ding. Der Anfang und das Ende des Monologs bilden einen Rahmen: ich hab das Gefühl… dass ich … nicht verzeihen kann - es fällt mir schwer … zu verzeihen, nur das Objekt des Verzeihens wechselt von der dritten Person zur ersten: vom kind, kindischen jungen ding, ihm zu mir. Dass es sich um dieselbe Person handelt, wird durch den Wechsel des Personalpronomens mitten in der Konstruktion deutlich: 49 AF: BÖ: S sein muss? 51 AF: (0.7) 53 AF: .hh oder dass 55 AF: ich ihm nicht verzeihen kann .hh 57 AF: dass es die .hh die schrecken 59 AF: dieses MONSter nicht rechtzeitig 61 AF: erkannt hat. .hh dass es nicht 63 AF: durchschaut hat .hh in was es da 65 AF: hinEINgeraten ist. .hh und @vor allem@ 67 AF: .hhh dass ich so UNüberlegt JA gesagt habe. Die letzte dass-Äußerung (Z. 67) beendet den ersten syntaktischen Teil des Monologs mit dem übergeordneten Satz ich hab das gefühl. Was das kind, kindische junge ding gemacht hat (bzw. nicht gemacht hat), ist in der Vergangenheit passiert. Nach diesem Teil verschwindet das Kind und die Ereignisse werden aus der aktuellen Perspektive der Frau in der 1. Person erzählt. In beiden Teilen ist das syntaktische Subjekt ein ‘experiencer’, der im ersten Teil nicht erkannt und durchschaut hat, aber hineingeraten ist, im zweiten Teil nicht gedacht hat und Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 392 den das schicksal vorantreibt. Die Verben hineingeraten und vorantreiben sowie die Objektposition (mich das schicksal vorANtreibt) stellen den ‘experiencer’ in eine Opferrolle. Der unbenannte Täter wird als MONSter (Z. 59) dargestellt. Die beschriebene Naivität des Subjekts wird durch die melodisch und harmonisch einfache Musik, in der vereinzelt Klavierklänge hörbar sind, verstärkt. Es kommen raumbezogene Ausdrücke vor: nach berlin kam (Z. 75) und ins führerhauptquartier geschickt (Z. 79, 81), die das Erzählte lokal und zeitlich in einen imaginären/ konkreten historischen Raum verorten. Der Monolog fungiert als Prolog zum Filmgeschehen, das er in reflexiver, kategorialer und evaluativer Weise sprachlich beschreibt (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010). Der Monolog beginnt in einem ruhigen Tempo, das ab Zeile 53 zulegt und von Zeile 67 bis Ende 95 deutlich schneller ist. Die Sprecherin legt in diesem langen Teil kaum Pausen ein bzw. nutzt sie zum hörbaren Atemholen. So wie die Musik erzeugt also auch die Prosodie Spannung. Der Aufbau des Monologs schafft Erwartungen in Bezug auf den weiteren Fortgang, die Handlungen und die Figuren des Films sowie hinsichtlich der Zeit und der Orte der Erzählung. Unmittelbar nach dem Monolog fährt die Stimme des Beschreibers fort: 106 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 107 ADE: [das bild erstarrt und wird schwarz.] 108 FM2: ¯ ¯ 109 (0.8) Die Äußerung ist Teil einer filmischen Metasprache, die der Markierung eines Übergangs dient: Das Standbild (das bild erstarrt) und die daraus folgende Abblendung zu schwarz (und wird schwarz) bilden einen typischen Filmkode, der das Ende einer Passage und den Anfang einer anderen signalisiert (vgl. filmische Interpunktion, Monaco 2009, S. 247-249). Nach dem metasprachlichen Übergang folgt eine längere Pause (0,8 Sekunden). 4.2 Der Szenenraum Die Stimme des Beschreibers beendet die Pause und fährt in seiner Beschreibung fort: 110 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 111 ADE: [es ist nacht. ] 112 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 113 [(0.7) ] 114 FGE: [leises Geraschel] Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 393 115 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 116 ADE: [frauen werden von ss-soldaten durch 117 FGE: [leises Geraschel 118 FM2: ¯ ¯ ¯ ] 119 ADE: einen wald geführt.] 120 FGE: leises Geraschel ] Die bereits im Vorspann einsetzende Musik ist weiterhin zu hören. Mit dem Übergang zur Filmhandlung und bei der Entwicklung der Ereignisse verändert sich die Harmonie, die Melodie fängt an sich zu entwickeln und zu beleben, die Orchestrierung wird „dicker“, d.h., die Zahl der Instrumente steigt und die Dynamik verstärkt sich. Die temporale Äußerung es ist nacht. (Z. 111) ist durch Pausen eingerahmt. Die Rahmung und die zeitliche Angabe deuten eine neue Szene an. Die Äußerung eröffnet einen bestimmten Interpretationskontext, wobei die Konstruktion es ist als ein Mittel von ‘scene setting’ funktioniert (vgl. Smith 2002). nacht stellt den Zeitpunkt im Gegensatz zu ‘Tag’ fest und impliziert ‘draußen sein’ im Gegensatz zu einem ‘Innen’-Setting, bei dem die Beschreibung wahrscheinlich eher mit dem prädikativen Adjektiv dunkel realisiert würde. Die Festlegung der Zeit ist demnach mit räumlichen Implikationen verbunden. Der Übergang hat die Geschichte vom einführenden Monolog in die diegetische Handlung und damit in den Szenenraum geleitet. Kontinuität zwischen den zwei Phasen wird mit der weiterführenden Hintergrundmusik geschaffen. Es fängt also etwas Neues an (die Handlung, es entsteht ein Szenenraum), gleichzeitig aber fährt etwas bereits Existierendes fort (die Musik als Verknüpfung zwischen zwei imaginären Räumen). Darüber hinaus erwecken die im Monolog erwähnten raumbezogenen Ausdrücke (nach berlin; ins führerhauptquartier) und die Projektionen der Sprecherin (z.B. ich war ja keine begeisterte nationalsozialistin; mich das schicksal vorANtreibt an eine stelle die ich überhaupt nicht ANgestrebt hab) ihrerseits Erwartungen. Sie bilden Hypothesen in Bezug auf die Geschichte des Films (vgl. Bordwell 1985) und schaffen einen möglichen Interpretationskontext für den Szenenraum und dessen Beschreibung. Solche Passagen, wie die kurze Pause nach der Äußerung es ist nacht. (Z. 113), in denen die verbalen Informationen reduziert sind oder auf sie verzichtet wird, haben die Funktion, die Fokussierung auf die nicht-sprachlichen, akustischen Elemente zu lenken (vgl. Putzier 2011). So gewinnen hier die Hintergrundmusik und ein Geräusch, das sich wie leises Geraschel anhört, mehr Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 394 Aufmerksamkeit und werden dadurch in den Vordergrund gerückt. Der Nacht- Raum wird durch das Geräusch lebendig und deutet eine Handlung an. 8 Als die Beschreibung mit der Aussage frauen werden von ss-soldaten durch einen wald geführt (Z. 116, 119) fortfährt, laufen das Geräusch und die Musik im Hintergrund weiter. Das Geräusch bekommt in diesem konkreten Kontext einen räumlichen Bezugspunkt: Sinnvoll scheint, es als Geraschel von Blättern oder Unterholz zu interpretieren, das durch Bewegung (werden ... durch ... geführt) der Personen ( frauen und ss-soldaten) im eröffneten nächtlichen Raum (wald ) entsteht. Das Geräusch schafft demnach einen realistischen, die Handlung bestätigenden Effekt (Fryer 2010, S. 207f.). 9 Die Beschreibung etabliert unterschiedliche Raumdimensionen: Die Personenkennzeichnungen frauen und ss-soldaten zusammen mit dem Bewegungsverb werden ... geführt verweisen auf einen Interaktionsraum (Mondada 2007, i.d.Bd.) innerhalb der natürlich-physischen Umgebung wald (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010). Die Beschreibung ist zu verstehen als ein Interpretations- und Konkretisierungsangebot an die Rezipienten, das sowohl mit kulturellen als auch mit individuellen Wissensgrundlagen der Rezipienten arbeitet. Das Wissen, das die Rezipienten individuell und als Mitglieder der gleichen Wissensgemeinschaft mit den verwendeten Kategorien ( frauen und ss-soldaten) und dem Bewegungskonzept (werden … geführt) sowie Wissen über sozialräumliche Handlungskonzepte verbinden, wird durch die Beschreibung angesprochen. Dessen Aktivierung im Prozess kognitiver Ausgestaltung und Präzisierung ist zentral bei dem Versuch, den Rezipienten die räumlichen Gegebenheiten des Films verstehbar, d.h. imaginierbar zu machen (Schmitt/ Deppermann 2010, siehe auch Seiffert 2005 und Stockwell 2006). Auch nacht und wald stellen Angebote zur interpretativen Imagination dar und rufen bestimmte Assoziations- und Wissensaspekte wach. Hierzu gehören sowohl solche, die sich auf Eigenschaften der physischen Umgebung beziehen (u.a. Dunkelheit/ Bäume) als auch handlungsspezifische Implikationen besitzen (z.B. Schlafen/ Spaziergang). Diese Interpretationsangebote werden bei der Rezeption auf der Basis allgemeinen, sedimentierten gesellschaftlichen Wissens mit spezifischen individuellen Erfahrungen und Vorstellungen verbunden und zu einer komplexen kognitiven Vorstellung verschmolzen. 8 Vgl. hierzu Seiffert (2005, S. 68), die feststellt, dass statische Räume keine akustischen Informationen liefern, also auch kein Geräusch erzeugen, denn es ist gerade die dynamische Handlung, die den Raum hörbar macht. 9 Zugleich sei an dieser Stelle bemerkt, dass Geräusche generell ambivalent sind, d.h., sie können auf unterschiedliche Weise verstanden werden. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 395 Dabei wird durch die Beschreibung des sozialen Handlungszusammenhangs (werden … geführt) in der physischen Umgebung ein dynamischer Interaktionsraum ausgegrenzt, der auf Grund von Kenntnissen und mit den Kategorien und dem Bewegungskonzept verbundenen Konnotationen und Assoziationen Fragen und Erwartungen hinsichtlich der sozial-räumlichen Konstellation erweckt: Was machen Frauen und Soldaten nachts in einem Wald? Sind die Frauen Opfer böswilliger Geschehnisse (der nächtliche Wald ist kein Ort für Frauen)? Werden sie zu einem Verhör oder gar zu einer Erschießung geführt? Werden sie von den SS-Soldaten erschossen werden? Das Wort wald evoziert eine Vorstellung von einem weitläufigen, natürlichen Raum, mit dem bestimmte Elemente wie z.B. Bäume, Vögel, Flora und Fauna verknüpft werden. Im Gegensatz zu es ist nacht scheint wald also eher „ein komplexes räumliches Gebilde“ zu etablieren, das „gewissen Ausmaßen und Eigenschaften“ assoziiert ist (vgl. die Analyse von Die Straße in Schmitt/ Deppermann 2010, S. 205). Die Beschreibung der Figuren als ss-soldaten versetzt die Handlung in eine bestimmte Zeit, was das Filmgeschehen an die Projektionen im Monolog (nationalsozialistin, berlin, führerhauptquartier) anschließt. Die Beschreibung frauen werden von ss-soldaten durch einen wald geführt (Z. 116, 119) wird als Passivkonstruktion formuliert, die die Proposition perspektivisch modifiziert, denn das Objekt frauen erscheint im Vorfeld und wird dadurch akzentuiert. Dies lässt - im Kontrast etwa zu einer Beschreibung „gehen gemeinsam mit SS-Soldaten“ eher eine Hypothese über die Frauen als Opfer entstehen. Diese Interpretation wird auch durch den vorangegangenen Monolog gestützt, in dem bereits die Sprecherin die Rolle eines Opfers eingenommen hatte: dass mich das schicksal so vorANtreibt an eine stelle die ich überhaupt nicht ANgestrebt hab. Die Beschreibung am Handlungsanfang erweckt insgesamt eine Stimmung, die durch die Zeitangabe (nacht), die Passivkonstruktion des Bewegungskonzeptes frauen werden von ss-soldaten ... geführt und den Ort der Handlung durch einen wald als unbestimmt-dubios, jedoch durch die Kategorien ( frauen, ss-soldaten) in indefiniter Form als ungemütlich bis bedrohlich charakterisiert wird. Diese Interpretation setzt vor allem auf der konnotativen Dimension der Kategorien (vgl. Hyks 2005) nacht, wald und ss-soldaten auf, wodurch eher Assoziationen wie Angst und Bedrohung als Freude und Leichtigkeit geweckt werden. Wir fassen den initialen Schritt bei der Konstitution des Szenenraumes auf Grund von hörbaren Ressourcen (Z. 110-120) in einer ersten grafischen Darstellung zusammen: Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 396 Abb. 1 Die erste Abbildung illustriert die Eröffnung des Szenenraumes, wie sie in der Audiodeskription beschrieben worden ist. An dieser Stelle ist zunächst nur die ‘Nacht’ als raumimplikative Beschreibung eingeführt worden. Wir lokalisieren den Raum demgemäß als unspezifisch und als ‘irgendwo draußen’ und statten ihn mit der Qualität ‘Dunkelheit’ aus (in der Abbildung durch graue Schattierung gekennzeichnet). Die untere kurvige Spalte gibt an, welche anderen Informationen (z.B. Geräusche und Musik) gleichzeitig neben der sprachlichen Beschreibung zu hören sind. Dieser eher unspezifische Nacht- Raum wird dann durch den Einsatz mehrerer auditiver Ressourcen weiter spezifiziert und ausgestaltet (Z. 112-120). Die Abbildung 2 zeichnet die Konstellation im Szenenraum an dieser Stelle nach: Abb. 2 Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 397 Legende: = Symbol für Frauen = Symbol für Soldaten = Wald = Symbol für Bewegung (Bewegungsrichtung) Im nächsten Schritt (Z. 114, ab der Pause in der Audiodeskription) wird der Raum selbst durch Geraschel lebendig. Jetzt ist die beschriebene Bewegung im Raum auch akustisch wahrnehmbar (vgl. Seiffert 2005). Wie als Beweis der vorangegangenen Beschreibung wird nun die evozierte Vorstellung des dynamischen Interaktionsraumes im Wald durch die Folgen der Bewegung der beschriebenen Personen und deren Berührung von Laub und Ästen, die dadurch raschelnde Geräusche produzieren, belegt. Die verbalen Referenten in der Beschreibung funktionieren als Spezifizierungen der Raumkonstellation und ergänzen den Nacht-Raum nun mit Figuren ( frauen und ss-soldaten), Bewegung (werden ... geführt) und Lokalität (durch einen wald). Zentral an dieser Stelle ist der interaktive Raum mit der Konstellation ‘Frauen / geführt werden / SS-Soldaten’. Die Beschreibung lässt offen, wie viele Frauen oder Soldaten es sind (wir veranschaulichen dies mit drei und drei) oder wie sie zueinander positioniert sind, was unterschiedliche Interpretationen ermöglicht (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010). Unabhängig davon, ob man die Bewegung von rechts nach links oder von vorne nach hinten usw. imaginiert, impliziert das Bewegungskonzept ‘geführt werden’ einiges hinsichtlich der Positionierung und der Koordinierung der Beteiligten. Es ist klar, dass die Agenten, die führenden SS-Soldaten, vor den Frauen gehen. Wir visualisieren die Situation so, dass es Soldaten sowohl vor als auch hinter den Frauen gibt. Ebensowenig wird in der Beschreibung etwas über die Bewegungsrichtung oder die Perspektive auf die Raumdarstellung gesagt. Unser Blickwinkel ist hier wie auch in der restlichen Analyse so, dass der Raum von oben gesehen wird und dass die Bewegung jeweils von der oberen Seite der Abbildung nach unteren erfolgt. Nach den ersten Beschreibungen des Szenenraumes ist eine andere Männerstimme zu hören, die sich akustisch erkennbar von der Stimme des Beschreibers unterscheidet (sie klingt gedämpft). Sie lässt sich einer Figur der diegetischen Handlung zuschreiben (MS1): Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 398 121 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 122 MS1: [((gedämpft)) die DAmen sind hier.] 123 FGE: [GERASCHEL ] 124 FM2: [ ¯ ¯ ] 125 WS: [.hh ] 126 FGe: [GERASCHEL] 127 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 128 ADE: [eine junge brünette wird ANgestrahlt; ] 129 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 130 MS2: [((entfernt)) ( )zwoo [hat bestätigt; ] 131 FGE: [Klickgeräusch ] 132 FM2: ¯ ¯ 133 (0.5) 134 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 135 MS2: [((entfernter Ruf)) können [passieren; ] 136 FGE: [Klickgeräusch] 137 FM2: ¯ ¯ 138 (0.5) Während die Musik im Hintergrund weiterhin in der gleichen Lautstärke zu hören ist, tritt das Geraschel bei der ersten dialogischen Äußerung die DAmen sind hier (M1, Z. 122) deutlicher als in der vorangegangenen Sequenz (Z. 114- 120) in den Vordergrund. Die bessere Hörbarkeit des Geräusches an dieser Stelle liegt zum einen daran, dass andere auditive Informationen eher abgedämpft sind und zum anderen, dass die Lautstärke des Geraschels gestiegen zu sein scheint. 10 Dadurch wird das Geräusch relevanter als zuvor und die Vorstellung von Bewegung tritt in den Vordergrund. Die Stimme des Sprechers klingt leiser als die Beschreiberstimme und kommt nicht so nah heran wie diese. Dabei fällt die Audiodeskription durch eine klare Stimmqualität auf. Die Männerstimme könnte der Person gehören, die die Frauen durch den Wald geführt hat und nun darüber Auskunft gibt (die DAmen sind hier). Die Frauen werden vom Sprecher die DAmen genannt. Der definite Artikel gibt an, dass er weiß, wer die Frauen sind, und dass ihre Ankunft erwartet wird. Die Wahl der Kategorie DAmen deutet darauf hin, dass die Frauen trotz der offenen und ambivalenten Umgebung (nacht, wald ) nicht bedroht sind. Dadurch wird die eingangs nahegelegte Vermutung, die Frauen seien Opfer, relativiert. 10 Veränderungen in der Lautstärke der Geräusche und des Dialogs implizieren unterschiedliche Nähe-Distanz-Relationen der Kameraeinstellungen. Die Rezipienten wissen aus eigener Erfahrung, dass die größere Lautstärke eine geringere Distanz zur sprechenden Person impliziert. Da solche Erfahrungen aber individuell bestimmt werden und letztendlich hochgradig variieren (können), haben wir in unserer Analyse auf eine bildliche Darstellung dieser Veränderungen verzichtet. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 399 Im Hinblick auf den von den Damen und den SS-Soldaten konstituierten Interaktionsraum gibt es eine Veränderungen in Form einer situativen Erweiterung der Interaktionsbeteiligten. Geht man davon aus, dass die Ankündigung der Frauen an eine neue Person adressiert ist, so kann man zwei Schlüsse daraus ziehen: Zum einen muss sich der Kreis handelnder Personen erweitert haben (zumindest um den Adressaten der Äußerung) und zum anderen kommt die Erweiterung dadurch zu Stande, dass die Frauen und die SS-Offiziere bei ihrer gemeinsamen Bewegung durch den Wald inzwischen bei anderen relevanten Personen (weiteren Soldaten? ) angekommen sind. Nach der Ankündigung ist ein schnelles Einatmen zu hören (WS, Z. 125); im Hintergrund läuft die Musik weiter und auch das Geraschel ist weiter zu hören. Es scheinen also noch nicht alle Personen am Ziel angekommen zu sein oder es bewegen sich neben den bekannten und erschließbaren Personen noch andere Menschen in der Nähe. Im Sinne der letzten Interpretation scheint es sich bei dem nächtlichen Waldstück um einen vielfach belebten Raum zu handeln. Danach hören wir wieder die Stimme des Beschreibers (eine junge brünette wird ANgestrahlt, Z. 128). Im Kontext dieser Beschreibung kann - als eine Möglichkeit - geschlossen werden, dass das Einatmen zu einer weiblichen Person, nämlich der angestrahlten jungen Brünetten, gehört. In diesem Fall entsteht eine wechselseitige Kontextualisierung, in der das Geräusch (das Einatmen) eine Handlung bzw. ein Verhalten relevant macht (vgl. Fryer 2010, S. 207f.) und die sprachliche Beschreibung diese Handlung/ dieses Verhalten sowie das Geräusch „erklärt“. Durch die Singularisierung eine junge brünette und die Passivkonstruktion, die das Objekt ins Vorfeld rückt und das Agens verbirgt, wird eine der Frauen hervorgehoben. Durch die Benennung eine junge brünette wird eine Frau aus der generischen Kategorie frauen - wie mit der Lampe (oder einer anderen Lichtquelle) - fokussiert. Eine ‘Brünette’ bedeutet eine braunhaarige Frau und ist damit spezifischer als eine ‘Frau’. Das Alter der Frau wird mit jung beschrieben, durch die Beschreibung der Haarfarbe und des Alters kontrastiert die Brünette mit der weißhaarigen frau (.) anfang achtzig aus der Einführung. Eine Beziehung zwischen den beiden Figuren erscheint als wahrscheinlich. Dass gerade diese Charakteristika für die Beschreibung gewählt wurden und nicht eine Aussage wie z.B. ‘die Frau ganz vorne’, lässt vermuten, dass das Gesicht der Frau nicht nur in der Beschreibung, sondern auch bei der Kameraeinstellung im Fokus steht. Der Beschreibung folgen zwei weitere filmdialogische Äußerungen: ( )zwoo hat bestätigt (Z. 130) und können passieren (Z. 135). können passieren knüpft durch die Subjektauslassung an die DAmen an. In der Äußerung in Zeile 130 ist der Anfang (ein Wort) nicht verstehbar. Die Äußerungen werden in einer Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 400 ähnlichen Stimmqualität gesprochen wie die DAmen sind hier, sie hören sich jedoch entfernt und rufähnlich an. Die gedämpfte Stimmqualität verstärkt einerseits die Vorstellung von wald, die einen weitläufigen, nicht von Wänden oder anderen Barrieren begrenzten Raum nahelegt: In einem solchen Raum nehmen Gespräch und Rufe allmählich ab, bis sie schließlich - in einiger Entfernung - gänzlich verstummen. Im Film haben derartige akustische Eigenschaften, die als ‘room tone’ bezeichnet werden (Monaco 2009, S. 235), die Funktion, Ambiente zu erzeugen und die Interpretation der Szene zu unterstützen. Diese Unterstützung läuft hier primär über die durch die Stimmqualität und Lautstärke modellierte Nähe-Distanz-Relation der beteiligten Personen: Der konstituierte Raum erhält dadurch eine Tiefe, die durch die Beschreibung selbst nicht thematisiert wird. Die Stimmen der zweiten und dritten filmdialogischen Äußerungen (Z. 130 und 135) klingen sehr ähnlich, was vermuten lässt, dass es sich um eine Person handelt (MS2), die nach der Bestätigung (( )zwoo hat bestätigt) eine Erlaubnis zum Durchgang (können passieren) gibt. Wir hätten in diesem Fall den Adressaten der Ankündigung nun durch einen verbalen Beitrag repräsentiert. Die Äußerung gibt an, dass es den Frauen erlaubt ist, an etwas vorbei oder durch etwas hindurch zu gehen. Während der Äußerungen ( )zwoo hat bestätigt und können passieren sind sehr leise zwei Klickgeräusche zu hören, die mit den Soldaten thematisch verknüpft werden können, z.B. dass sie ihre Gewehre bewegen. Auf der Basis der analysierten Sequenz (Z. 121-138) kann der aktuelle Szenenraum folgendermaßen illustriert werden (Abb. 4-6): Abb. 3 Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 401 Es ist nicht explizit dargestellt, wer die DAmen sind hier spricht und wo sich diese Person befindet, aber wir können aus der vorangegangenen Beschreibung ( frauen werden von ss-soldaten durch den wald geführt ), der Männerstimme und dem propositionalen Gehalt schließen, dass der Sprecher ein Soldat ist, was in der Abbildung 3 durch die Verbindung des Sprechkästchens und eines der Soldatensymbole illustriert ist. Die Konstellation der Frauen und SS- Soldaten dagegen wird durch diese Aussage raumspezifisch geschärft: Das lokaldeiktische Adverb hier setzt die Handlung in dem bereits eröffneten weitläufigen Raum (wald ) an eine bestimmte Stelle (hier verweist auf die Anwesenheit und Nähe des Sprechers). Im Verhältnis zum dynamischen werden ... durch einen wald geführt in der vorigen Sequenz wird jetzt mit die DAmen sind hier eine statische Situation gestaltet (der die Bewegungsrichtung symbolisierende Pfeil verweist auf die Ausrichtung der Personen). Freilich könnten die Frauen und Soldaten immer noch auf sehr unterschiedliche Weisen zueinander positioniert sein. 11 Das darauf folgende Einatmen und die Beschreibung verweisen auf eine der Frauen: Abb. 4 11 Dies trifft auch auf andere Stellen zu: Die verbalen Beschreibungen lassen viele Aspekte offen, und es ist nicht möglich, sämtliche raumkonstituierenden Implikationen zu explizieren. Vielmehr geht es uns in der Analyse darum, relevante Raumstrukturen und personelle Konstellationen hervorzuheben und zu illustrieren. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 402 Die Sprechblase zeigt das Einatmen, was dazu führt, dass eine der Frauen differenziert hervortritt (mit dem grauen Frauensymbol visualisiert). Mit der Beschreibung eine junge brünette wird ANgestrahlt wird diese dann explizit fokussiert: Abb. 5 Eine der Frauen ist jetzt als junge brünette hervorgehoben; dementsprechend haben wir das graue Frauensymbol größer modifiziert. Diese Person wird ANgestrahlt (dargestellt durch das weiße umgedrehte Dreieck, das auf das Brünettensymbol fällt), was auf eine bestimmte körperlich-räumliche Konstellation hinweist. Die anstrahlende Person muss relativ nah bei der angestrahlten Person stehen, weil Eigenschaften beschrieben werden, die vor allem am Gesicht sichtbar sind: das Alter und die Haarfarbe. Durch die zwei Äußerungen ( )zwoo hat bestätigt (Z. 130) und können passieren (Z. 135) werden wieder neue konstellative Bezugspunkte für den Interaktionsraum angedeutet. An dieser Stelle kann der Sprecher im Szenenraum nicht genau verortet werden, was durch die duale Verteilung der Sprechkästchen in der Abbildung 6 symbolisiert wird. Jedoch weist die Rufähnlichkeit seiner Stimme darauf hin, dass er nicht in unmittelbarer Nähe seines Gesprächspartners steht, der wiederum in der Nähe der Frauen ist (siehe die Analyse von die damen sind hier). In diesem Moment befindet sich die Kernkonstellation (die Frauen und die sie begleitenden Soldaten) in einer statischen Position; die Äußerung können passieren projiziert jedoch eine Bewegung und eine Positionsänderung. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 403 Abb. 6 Der Ausschnitt geht mit der Beschreibung weiter: 139 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 140 ADE: [an einer schranke, 141 FGE: [Geraschel+ 142 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 143 ADE: (.) weitere ss-soldaten; ] 144 FGE: schwaches Knarren ] 145 FM2: ¯ ¯ 146 (0.5) 147 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 148 ADE: [sie tragen graue uniformmäntel, (.) 149 FGE: [Geraschel 150 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 151 ADE: stahlhelme- und geschulterte gewehre.] 152 FGE: Geraschel ] Die knappe Beschreibung an einer schranke, (.) weitere ss-soldaten (Z. 140, 143) weist auf eine neue Position (die Lokalisierung an einer schranke) und neue Personen (weitere ss-soldaten) im Szenenraum hin. Die Lokal- und Personenangaben sind prädikatlos formuliert, was mit einem Wechsel des Fokus einhergeht. Die Lokalisierung an einer schranke ist informationsstrukturell betont: Die Topikalisierung macht den Rezipienten auf ein Element aufmerksam, hier auf eine bestimmte Stelle im Szenenraum, das früher als wald und hier bezeichnet wurde. Die Nomen in an einer schranke und weitere ss-solda- Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 404 ten sind beide in indefiniter Form und verweisen damit auf neue, nicht vorher bekannte Referenten. Mit dem Adjektivattribut weitere zum Nomen ss-soldaten bekommen sowohl die Männerstimmen des vorangehenden Dialogs (MS1: die DAmen sind hier, Z. 122; MS2: ( )zwoo hat bestätigt, Z. 130 und können passieren, Z. 135) als auch die jetzt beschriebenen Personen eine Identifizierung: Es handelt sich um Soldaten, jedoch nicht um dieselben wie früher (weitere im Sinne von ‘andere’). Im Hintergrund ist zu hören, wie erneut eine Art Geraschel einsetzt (Z. 141). Zudem ist kurzfristig ein schwaches Knarrgeräusch hörbar (Z. 144). Die Konzepte schranke, ss-soldaten sowie passieren erzeugen auf Grund unseres schematischen Wissens Erwartungen und Hypothesen über den weiteren Verlauf der Handlung. Beispielsweise deutet schranke auf einen Gegenstand mit besonderer Funktion (eine Schranke steuert den Zugang), bestimmten Bestandteilen (u.a. Schlagbaum) und Bewegungsmöglichkeiten (man passiert eine Schranke) hin. Mit der Personenangabe ss-soldaten wird über die Konstellation noch mehr gesagt. Die Soldaten stehen normalerweise nicht nur um eine Schranke herum, sondern haben eine ganz besondere Aufgabe, nämlich ‘Wache halten’. Auf Grund des konzeptspezifischen Wissens über ‘Schranke’ und ‘Soldaten’ lässt sich folglich schließen, dass die ss-soldaten an der schranke Wache halten. Das Geraschel dagegen deutet wieder auf Bewegung hin, und in Verbindung mit dem vorher erwähnten Verb passieren verweist es auf die frauen, die nach dem statischen ‘hier’-Sein (Z. 122-138) sich wohl wieder in Bewegung gesetzt haben und die schranke passieren (werden). Das Knarrgeräusch kann in diesem Kontext als Bewegung eines Scharniers verstanden werden, was auf die Öffnung der schranke verweist. Mit der Äußerung sie tragen graue uniformmäntel, stahlhelme und geschulterte gewehre werden äußerliche Charakteristika der Personen beschrieben (Z. 148, 151), wobei das Pronomen sie eine anaphorische Verbindung mit dem vorstehenden ss-soldaten herstellt. Die Differenzierung nach den Eigenschaften graue uniformmäntel, stahlhelme und geschulterte gewehre ist interessant, denn sie beschreibt im Grunde genommen nur solche Charakteristika, die sowieso mit der Referenzkategorie ‘(SS-)Soldaten’ leicht zu verbinden sind. Die neue Lokalisierung im Szenenraum und die Positionierung der Personen werden in der grafischen Darstellung wie folgt illustriert: Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 405 Legende: = Schrankensymbol Abb. 7 Die schranke wird mit der schwarzen Zaunfigur symbolisiert, und die Lokalpräposition an mit der Verteilung der Soldatensymbole um den Hauptreferenten schranke herum. Die Lokalpräposition an markiert keine spezifische Position an der Schranke, sondern bedeutet so viel wie ‘in der Nähe von’. Die Positionsveränderungen der Wald- und Soldatensymbole sowie das Verschwinden der Frauensymbole illustriert die Neufokussierung im Szenenraum. Die Handlung findet immer noch irgendwo im wald statt, obgleich wir keine genauen Koordinationsangaben bekommen und auch nicht wissen, in welchem räumlichen Verhälnis diese ss-soldaten und schranke zu den vorher genannten Personen und Lokalisierungen stehen. Obgleich es weiterhin möglich ist, dass sich die Frauen und die sie führenden Soldaten zu diesem Zeitpunkt bereits in der Nähe der Schranke befinden, haben wir auf die Abbildung einer solchen Konstellation in der Abbildung verzichtet. Durch die Beschreibung der Ausstattung der Soldaten (Z. 148, 151) wird die Raumkonstitution der oben analysierten Sequenz nicht verändert: Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 406 Abb. 8 In Abbildung 8 haben sich nur die Größe und Farbe (von hellgrau zu weiß) der Soldatensymbole verändert. Der Grund dafür liegt in der Beschreibung sie tragen graue uniformmäntel, stahlhelme und geschulterte gewehre, die eine Ergänzung zu den vorher eingeführten Personen ss-soldaten ist. Der Fokus im Raum liegt also auf diesen Personen. Die Beschreibung der dynamischen Erzählung macht an dieser Stelle halt und bleibt einige Sekunden bei einem personenzentrierten Teilbereich des neuen Interaktionsraumes um die Schranke herum. Dies ist vor allem der Fall bei der Äußerung geschulterte gewehre, die eine körperräumliche Positionierung von ‘Gewehr auf der Schulter’ beschreibt. Allerdings hält die Dynamik mit der Musik und dem Geraschel an, und eine Bewegung wird vor allem während der fast eine Sekunde langen Pause durch das Geraschel hörbar gemacht. Die Beschreibung geht dann wie folgt weiter: 153 FM2: [ ¯ ¯ ] 154 [(0.8) ] 155 FGE: [Geraschel] 156 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 157 ADE: [der schlagbaum geht hoch; ] 158 FGE: [Geraschel ] 159 FM2: [ ¯ ¯ ] 160 [(0.9) ] 161 FGE: [SCHLAG ] Dank der längeren Pause in der Audiodeskription (Z. 154) bleibt die Beschreibung der physischen Charakteristika der Soldaten (Z. 148, 151) einen Mo- Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 407 ment lang im Gedächtnis, und die in der verbalen Modalität ereignende Informationsreduktion ermöglicht eine stärkere Fokussierung auf sonstige Ressourcen, hier also auf Geräusche und Musik (vgl. Putzier 2011). Das Geraschel (Z. 155) hört sich während der Pause in der Audiodeskription wie Schritte an. Die Äußerung der schlagbaum geht hoch (Z. 157) beschreibt ein Ereignis im Szenenraum und scheint zugleich das der Beschreibung folgende Geräusch ( SCHLAG in Z. 161) kataphorisch zu kontextualisieren, das die Handlung realistisch darstellt (vgl. Fryer 2010, S. 207f.). Das Geraschel (Z. 158) hört gegen Ende der Beschreibung auf. Da der Kontext ‘Schranke’ schon in der vorigen Sequenz (Z. 140) eingeführt worden ist, sind seine Bestandteile weiterhin verfügbar, sodass auf sie in der definiten Form der schlagbaum (der Schranke) referiert werden kann (vgl. Seiffert 2005, Stockwell 2006). Die Situation ist in Abbildung 9 nachgezeichnet: Abb. 9 Die einzige Veränderung im Raum während der obigen Sequenz (Z. 153-161) besteht in der Aufwärtsbewegung des Schlagbaums (visualisiert mit dem weißen schräggerichteten Strich), die das Schlaggeräusch produziert (der weiße Fleck). Nach dem Schlaggeräusch hören wir wieder die Stimme des Beschreibers: 162 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 163 ADE: [hintereinander hasten die fünf frauen 164 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 165 ADE: [zwischen den soldaten [hindurch. (0.4) 166 FGE: [leises Geraschel Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 408 167 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 168 ADE: zwei junge ss-leute sehen sich grinsend an.] 169 FGE: leisel Geraschel ] 170 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 171 [(0.8) ] 172 FGE: [leises Geraschel] Die Beschreibung beginnt mit einer Lokalisierung (hintereinander, Z. 163), die topikalisiert ist und auf die Positionierung der Figuren zueinander aufmerksam macht: hintereinander. Die danach folgende Beschreibung hasten die fünf frauen zwischen den soldaten hindurch fokussiert nun wieder auf die Frauen, nachdem diese sowohl bei der Schranke als auch den Soldaten zwischenzeitig keine Erwähnung mehr fanden (Z. 140-157). Die Beschreibung umfasst sehr unterschiedliche raumbezogene bzw. raumimplikative Aspekte: eine Angabe zur Positionierung und Koordinierung der Frauen (hintereinander), eine Bewegungsdynamik (hasten), eine Personenangabe (die fünf frauen) und eine zweite Positionierung und Koordinierung, diesmal der Frauen und den Soldaten (zwischen den soldaten hindurch). Mit dieser Beschreibung wechselt der Fokus im Szenenraum von den physischen, soziale Handlung implizierenden Elementen in der Umgebung (schranke, schlagbaum) zu einem dynamischen Interaktionsraum, der die Frauen nicht nur in ihrer Relation zueinander, sondern auch zu den Soldaten präsentiert. Es werden bestimmte Personen (die fünf frauen und soldaten) thematisiert, deren Dynamik im Szenenraum durch die lokaldeiktischen Adverbien hintereinander und hindurch sowie die Präpositionalphrase zwischen den Soldaten und das Bewegungsverb hasten beschrieben wird. ‘Hasten’ beschreibt dabei nicht nur eine Bewegung, sondern eine spezifische Art des Sich-Bewegens, nämlich Schnelligkeit, sowie einen besonderen Gemütszustand des Akteurs (siehe Duden 2011 s.v. hasten: „sehr eilig, von innerer Unruhe getrieben gehen“). Der Ausdruck scheint also zu implizieren, dass die Situation den Frauen unangenehm ist. 12 Das Direktivkomplement hindurch ergänzt das Verb hasten mit einer Richtung und beschreibt zusammen mit zwischen den soldaten einen Bewegungspfad. Das bei hindurch einsetzende Geräusch (Z. 166) wird erneut durch die Beschreibung projektiv kontextualisiert und kann als Folge der Bewegung der Frauen (Schritte auf der Erde und auf Blättern) verstanden werden. 12 Nicht uninteressant wäre auch zu analysieren, wie solche inneren Gemütszustände visuell dargestellt werden, die z.B. diese Audiodeskription dazu geführt hat, das Visuelle mit hasten anstatt des neutralen gehen zu verbalisieren. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 409 Nach einer kurzen Pause (Z. 165) setzt die Beschreibung wieder ein mit zwei junge ss-leute sehen sich grinsend an (Z. 168), was den Fokus von den Frauen nimmt und eine Interaktion zwischen zwei Soldaten präsentiert. Damit wird zum ersten Mal zwischen den generellen Bezeichnungen ss-soldaten/ soldaten und spezifischen zwei junge ss-leute differenziert und auf bestimmte Akteure (zwei) im Raum verwiesen. Die Kategorisierung kommt in einer ähnlichen Form vor, wie bei eine junge brünette (Z. 128), in dem das Alter als das differenzierende Merkmal genannt wird. Die Handlung der Soldaten (sehen sich grinsend an) kann auf Grund der allgemeinen Kohärenzprinzipien, des schematischen Wissens und des diskursiv-narrativen Kohärenzprozesses mit den Frauen verknüpft werden. Wenn nicht explizit anders signalisiert, baut die Äußerung auf der voran gebildeten Szenerie auf (vgl. Schubert 2009, S. 153). Dieser Zusammenhang wird auch durch eine recht kurze Pause (0,4 Sekunden, Z. 165) anstatt einer gewöhnlichen längeren Pause zwischen zwei Äußerungen verdeutlicht. Also scheinen sich die ‘jungen Soldaten’ über die ‘(jungen) Frauen’ zu amüsieren. In jedem Fall wird mit grinsend eine Verhaltensspezifik beschrieben, die, wie beim Verb hasten, einen Gemütszustand des Subjekts andeutet und als solches eine Reihe von Implikationen hinsichtlich des Bezugsobjekts auslöst. Die Sequenz beschreibt zunächst eine dynamische Bewegung im Raum: Abb. 10 Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 410 Die Beschreibung legt den Fokus wieder auf die Frauen und die Soldaten. Ob die Frauen nun durch die geöffnete Schranke gehen oder nicht, bleibt in der Beschreibung implizit. Dass sie es tun, kann aber erschlossen werden aus dem Wissen über ‘passieren’ und ‘Schranke’, aus der Reihenfolge der Ereignisse (die Schranke wird geöffnet, die Frauen gehen) sowie aus der Art und Weise, wie die soldaten in definiter Form wieder aufgenommen werden (weitere ss-soldaten → sie → zwischen den soldaten). Die Bestimmtheit und die enge Wiederaufnahme des Referenten lassen vermuten, dass die Frauen gerade zwischen denjenigen Soldaten hindurch hasten, die an der Schranke stehen. Infolgedessen haben wir in der Abbildung noch die geöffnete Schranke visualisiert. Die Neufokussierung der nächsten Äußerung auf zwei junge ss-leute haben wir in Abbildung 11 mit den zwei größeren weißen Vierecken und die interaktive Handlung sehen sich grinsend an mit dem dazwischen gesetzten schwarzen wechselseitigen Pfeil illustriert: Abb. 11 Die Verknüpfung des Grinsens der Soldaten mit den hastenden Frauen deutet an, dass die Frauen sich in Sichtweite der grinsenden Soldaten befinden, was wir in der Abbildung mit dem gleichzeitigen Dasein der Akteure im Raum wiedergeben. Nach der etwas längeren Pause (Z. 171), während der die Musik und das Geraschel kontinuierlich im Hintergrund zu hören sind, thematisiert die Audiodeskription wieder eine der Frauen: Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 411 173 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 174 ADE: [die brünette eilt vorneweg. (0.4) 175 FGE: [leises Geraschel 176 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ] 177 ADE: ängstlich sieht sie sich um,] 178 FGE: leises Geraschel ] 179 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 180 WS: [ha, ] 181 FGE: [ KNACKEN ] 182 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 183 ADE: [und stolpert. ] 184 FGE: [leises Geraschel ] 185 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 186 [(1.1) ] 187 FGE: [leises Geraschel] Die Äußerung die brünette eilt vorneweg (Z. 174) weist weiterhin auf die Konstellation der Frauen hin, wobei das vorneweg die Brünette in einer Führungsposition situiert. Die Frauen werden als dynamisches Ensemble beschrieben, was besonders durch das Bewegungsverb eilt vorneweg deutlich wird, und die dynamische Bewegung erfolgt auf ein Ziel hin, welches die Gruppe im Moment noch nicht erreicht hat. Die danach folgende Äußerung ängstlich sieht sie sich um (Z. 177) bringt uns wieder nah an die Brünette heran (das Pronomen sie referiert anaphorisch auf die brünette). Nur wenn wir nahe an der Brünetten sind, können wir die Angst in ihrem Gesicht erkennen. Ihr Umdrehen hingegen könnten wir auch aus weiter Entfernung noch als solches erkennen. Die Aufmerksamkeitslenkung wird mit der Topikalisierung des adverbial verwendeten Adjektivs ängstlich gesichert. Die mittel steigende Intonation bei um lässt noch mehr Information über den Zusammenhang erwarten. Diese Erwartung wird nach dem Knackgeräusch und der Interjektion ha (Z. 180) bestätigt. Die bisherige Beschreibung wird mit und weitergeführt und endet mit einem subjektlosen Prädikat stolpert (Z. 183). Der Konnektor und sowie der fehlende Verweis auf die konkrete Person, die stolpert, signalisieren eine Fortsetzung der vorangehenden Proposition: Es ist ‘die Brünette’, die ‘stolpert’. Darüber hinaus fungiert die Beschreibung und stolpert als Erklärung für die akustischen Hinweise: das Knackgeräusch und die Interjektion können nun als lautliche Folge bzw. Ausdruck des Stolperns interpretiert werden (vgl. Fryer 2010, S. 207f., Reber/ Couper-Kuhlen 2010). Das Knacken wäre dann Ergebnis des Zusammenstoßes der Brünetten mit etwas, die Interjektion ein emotionaler Ausdruck ihrer Schreckreaktion. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 412 Die Beschreibungen die brünette eilt vorneweg, ängstlich sieht sie sich um und und stolpert (Z. 174, 177 und 183) fokussieren auf die Brünette und beschreiben Konstellationen des gemeinsamen Interaktionsraumes der Frauen sowie der individuellen Orientierung der Brünetten. Es wird also nach wie vor eine dynamische Handlung erzählt. Diese Raumaspekte werden in den Abbildungen 12-14 visualisiert: Abb. 12 Die Frauenkonstellation wird spezifiziert: Die Brünette geht in der Vorderposition. Bei der nächsten Beschreibung wird auf diese Person noch stärker fokussiert (das Adverb ängstlich in topikalisierter Position), was wir mit einem vergrößerten Brünettensymbol illustrieren: Abb. 13 Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 413 Zudem haben wir den Gesichtsausdruck, auf den die Beschreibung ängstlich sieht sie sich um hinweist, auf dem Brünettensymbol mit den schwarzen Ellipsen verdeutlicht, die Augen symbolisieren. Den Akt des Umsehens, der eine Bewegung der Augen oder sogar des Kopfs impliziert, zeichnen wir mit dem schwarzen Pfeil nach. Nach der mittel steigenden Intonation in um folgen ein Knackgeräusch und unmittelbar danach eine Interjektion: Abb. 14 Das Geräusch ist wieder mit einem weißen Fleck und die Interjektion mit einer Sprechblase illustriert. Die Brünette bleibt weiterhin im Fokus (das vergrößerte Brünettensymbol). Das Stolpern wird mit dem schwarzen bogenförmigen Pfeil symbolisiert; seine Form soll die Richtung der Bewegung zu Boden bzw. eine prompte Beugung des Körpers nachzeichnen, die die Beschreibung impliziert. Fassen wir die analysierten Sequenzen (Z. 162-187) zusammen, ergeben sich folgende Einsichten: - Die Musik und das Geraschel bleiben im Hintergrund und funktionieren als eine Art „lautliche Kulisse“. Darüber hinaus schaffen sie Kontinuität in der Geschichte (kontinuierliche Stimmung) und im Raum (kontinuierliche Bewegung). In Abwesenheit des Filmdialogs und auffallender Geräusche tritt die Audiodeskription in den Vordergrund. Demgegenüber sind schlagartige Geräusche und stimmliche Artikulationen wie das Knacken und die Interjektion als wichtige narrative Elemente nicht übersprochen worden (vgl. auch Z. 125 und 160). Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 414 - Die sozial-räumliche Handlung wird mit einer assoziativ-evaluativen Wortwahl vor allem bei Verben beschrieben. Auffallend ist dabei eine Dichte dieser Wortwahl im verbalen Informationsangebot: hintereinander hasten ... sehen sich grinsend an ... eilt vorneweg ... ängstlich sieht sie sich um ... Hierdurch wird stilistische Kontinuität erzeugt, das Informationsangebot wird intensiviert und pointiert. Zudem wird der Interaktionsraum durch die Singularisierung der Figuren (die fünf frauen und zwei junge ss-leute) und die Beschreibung der Positionierung (hintereinander ... hindurch und vorneweg) differenzierter als zuvor ausgestaltet. Nach einer etwas längeren Pause (ca. 1 Sekunde), in der die Filmmusik und das Geraschel kontinuierlich zu hören sind (Z. 185-187), geht die Beschreibung weiter: 188 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 189 ADE: [an einigen stellen liegt schnee; ] 190 FGE: [leises Geraschel ] 191 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ] 192 [(1.0) ] 193 FGE: [Marschschritte ] 194 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 195 ADE: [die frauen nähern sich dem 196 FGE: [Marschschritte 197 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 198 ADE: bewachten eingang eines bunkers.] 199 FGE: +Schallgeräusch ] 200 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 201 [(0.9) ] 202 FGE: [Marschschritte + entferntes Hundegebell] Die Äußerung an einigen stellen liegt schnee verschiebt die Perspektive im Vergleich zur vorigen Beschreibung und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen neuen Bezugspunkt. Die Beschreibung verlegt das Thema nun vom dynamischen Handeln im Interaktionsraum der vorangegangenen Sequenz (Z. 173- 187) auf einen statischen Sachverhalt der physischen Umgebung (liegt schnee). Neben dem Bezug auf einen physischen Sachverhalt im Wald-Raum referiert ‘Schnee’ auch implizit auf die Jahreszeit des Geschehens (Winter) und ruft Assoziationen wie Kälte und Unbehagen (insbesondere im Kontext von ‘Wald’ und ‘SS-Soldaten’) wach. Die Musik und das Geraschel sind nach wie vor im Hintergrund hörbar. Das Geraschel wird durch die Informationsreduktion der einsekündigen Pause in der Audiodeskription in den Vordergrund gerückt (Z. 192, 193) und lässt sich Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 415 in diesem Kontext als Marschschritte interpretieren. Danach kehrt die Beschreibung wieder zu den Frauen und ihren Bewegungen zurück: die frauen nähern sich dem bewachten eingang eines bunkers. (Z. 195, 198). Mit dem perspektivistischen, reflexiven Bewegungsverb nähern sich (siehe Duden 2011 s.v. nähern + sich: „sich näher auf jmdn., etw. zubewegen; näher herankommen“) und der es ergänzenden Nominalphrase dem bewachten eingang eines bunkers werden erneut ein Pfad und ein klares Bewegungsziel beschrieben. Zudem spezifiziert bewachten einen neuen interaktiven Raum: Es gibt Soldaten nicht nur an der Schranke und als Begleiter der Damen, sondern auch am Eingang des Bunkers. Die Beschreibung gibt einerseits das Ziel der Bewegung an und führt andererseits mit der indefiniten Bezugsform eines bunkers einen neuen physikalisch-sozialen Bereich innerhalb des Wald-Raumes ein. Dann ist im Hintergrund ein weiteres Element zu hören (Z. 199): Ab und zu und sehr leise schallt etwas durch den Wald, was in der Sprechpause von 0,9 Sekunden als Hundegebell zu erkennen ist (Z. 201, 202). Das Gebell klingt noch entfernter als die Männerstimmen (Z. 130, 135), was den Eindruck einer entlegenen Position des Hundes bzw. der Hunde schafft und die Vorstellung von einem weitläufigen und durch unterschiedliche Bewachungsvorkehrungen strukturierten Wald-Raum verstärkt (vgl. Fryer 2010, S. 208). Darüber hinaus ruft das Gebell der ‘Wachhunde’ einen symbolischen Effekt hervor, der in diesem Kontext (Nacht, Frauen, Soldaten, Wald) Angst oder Spannung etabliert (vgl. ebd., S. 209). Diese Situation haben wir folgendermaßen visualisiert (Abb. 15 und 16): Abb. 15 Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 416 Wo immer der Schnee genau liegt, ist nicht relevant; wichtig ist, dass er als Schneeflecken vorstellbar ist (die wolkenähnlichen Flecken im Bild), was sich z.B. vom ‘schneebedeckten Boden’ unterscheidet. Der Interaktionsraum mit den Frauen und Soldaten bleibt noch aktiv bzw. weiter verfügbar, weil die Rezipienten das während des Hörfilms schrittweise aufgebaute Wissen mit sich tragen und weil keine Veränderungen hörbar sind oder beschrieben werden. Bei der Beschreibung nach der Pause (Z. 195, 198) wird wieder auf die Frauen fokussiert: Legende: Abb. 16 Die Frauen befinden sich nach wie vor in einer ‘Hintereinander-Konfiguration’, mit der Brünetten an der Spitze, und sie gehen Richtung Bunkereingang, in dessen Nähe Soldaten auf Wache stehen. Die Umgebung ist nun durch physische Elemente (etwa schnee, wald und bunker) sowie soziales Handeln ( frauen, soldaten und ihre Konstellation) gekennzeichnet. Es wird verbal auf eine bestimmte Stelle im Szenenraum fokussiert (eingang eines bunkers), obgleich weiterhin der Wald-Raum durch das entfernt klingende Hundegebell hörbar präsent ist. Folgt man den Benutzbarkeitshinweisen des Eingangs = Bunkersymbol WUFF = Hundegebell Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 417 (Hausendorf i.d.Bd.), so ist damit mit dessen Durchschreiten der Fortgang der Handlung projiziert und damit der Übergang in einen ausschließlich von Menschen unter funktionalen Aspekten geschaffenen Raum. Nach der Pause (Z. 201) ist eine neue Männerstimme zu hören (Z. 204, 207, 210), deren Stimmqualität ebenso klar und kraftvoll ist wie die des Beschreibers und wie dessen Stimme in dieser Qualität mit denen der Filmfiguren kontrastiert: 203 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ 204 VO: [november neunzehnhundertzweiundvierzig. 205 FGE: [Marschschritte, Gebell 206 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ 207 VO: (0.2) führerhauptquartier wolfsschanze, 208 FGE: Marschschritte, Gebell 209 FM2: ¯ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 210 VO: (.) rastenburg (.) ostpreußen. ] 211 FGE: Marschschritte, Gebell ] 212 FM2: [ ¯ ¯ ¯ ¯ ] 213 [(2.7) ] 214 FGE: [Marschschritte, Gebell ] 215 FM2: [ ¯ Musik wird leiser ¯ ¯ 216 ADE: [die frauen kommen in einen kleinen 217 FGE: [Knacken 218 FM2: ¯ Musik wird leiser ¯ ] 219 ADE: kahlen raum. ] 220 FGE: Knacken ] Die Äußerung november neunzehnhundertzweiundvierzig (0.2) führerhauptquartier wolfsschanze, (.) rastenburg (.) ostpreußen ist durch kurze Pausen segmentiert, sodass die folgenden Informationseinheiten jeweils einen eigenen Stellenwert bekommen: ‘November 1942’ (Zeitangabe), ‘Führerhauptquartier Wolfsschanze’ (Ortsangabe), ‘Rastenburg’ (Ortsangabe) und ‘Ostpreußen’ (Ortsangabe). Filmspezifisch analysiert fungieren solche Passagen im Film als Interpunktion (Monaco 2009), die verdeutlichen, wo und wann sich die Handlung ereignet. Im Hörfilm sind solche Angaben im Voice-Over hörbar, das in der Regel von einer anderen Person als von dem/ der Beschreiber/ in realisiert wird. Die Angaben lokalisieren die Handlung nun in einer spezifischen Zeit und in einem spezifischen Raum, von denen die folgenden Bezugspunkte durch unterschiedliche auditive Ressourcen bereits aktiviert sind: Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 418 - führerhauptquartier/ nationalsozialistin (Monolog), ss-soldaten/ ss-leute (Audiodeskription) sind Hinweise für eine bestimmte (Kriegs-)Zeit, die dann in der filmischen Erzählung „bestätigt“ werden: 1942/ führerhauptquartier (Voice-Over). - uniformmäntel / an einigen stellen liegt schnee (Audiodeskription) implizieren eine bestimmte Wetterlage, die das Voice-Over mit der Jahreszeitangabe november spezifiziert. Das Voice-Over haben wir in der folgenden Abbildung mit dem überblendeten, transparenten Rechteck visualisiert: Abb. 17 Nach dem Hinweis ostpreußen folgt eine deutlich längere Sprechpause (Z. 213), währenddessen die Musik mit sich verlangsamendem Tempo in den Vordergrund tritt und das Geraschel aufhört. Unsere Analyse endet bei der Beschreibung die frauen kommen in einen kleinen kahlen raum (Z. 216, 219), die einen Übergang vom Wald-Raum in den Innenraum des Bunkers schafft und damit die Projektionseinlösung realisiert, auf die der usuelle Benutzbarkeitshinweis des Eingangs bereits hindeutete. 5. Fazit: Multimodale Hörbarmachung von Szenenraum im Hörfilm Die Analyse hat gezeigt, wie verschiedene auditive Modalitäten als Ressourcen zur Konstitution des filmischen Szenenraumes im Hörfilm eingesetzt werden. Die Rekonstruktion der schrittweisen Konstitution des Szenenraums Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 419 wurde am Ende eines jeden Analyseschrittes in abstrakter Form in den Abbildungen nachgezeichnet. Dies geschah mit dem Ziel zu illustrieren, wie die auditiven Ressourcen als Angebot fungieren und ein Potenzial für die individuelle Imagination zur Verfügung stellen. Aus dem Zusammenspiel von strukturbezogenem Angebot und individueller Realisierung und Präzisierung entwickelt sich in vergleichbarer Weise wie bei der Exposition von Romeo und Julia „für den Rezipienten ein zunehmend ausgestalteter imaginärer Raum“ (Schmitt/ Deppermann 2010, S. 233). Im Folgenden wollen wir die wesentlichsten akustischen Mittel der Konstitution unseres imaginären Raumes zusammenfassend darstellen. 5.1 Ausdrucksmittel und Zusammenspiel auditiver Raumkonstituenten Im analysierten Hörfilmausschnitt gibt es unterschiedliche Typen auditiver Ressourcen - Musik, verbaler und stimmlicher Ausdruck der Sprache sowie Geräusche - die in systematischer Weise bei der Konstitution und Ausgestaltung von Raum eingesetzt und miteinander verknüpft werden. In diesem Abschnitt werden wir zuerst die verschiedenen Ressourcen im Einzelnen beschreiben und dann die relevanten Punkte ihres Zusammenwirkens erörtern. Bestimmte Eigenschaften des Tons wie etwa unterschiedliche Stufen von Lautstärken und Stimmqualitäten sind in der Lage, räumliche Tiefe, ja sogar Dreidimensionalität zu produzieren, indem sie Nähe-Distanz-Relationen verdeutlichen. Dies geschieht dadurch, dass leisere Tonquellen Entfernung symbolisieren, lautere hingegen Nähe. Darüber hinaus gibt es unterschiedlich betonte Relationen zwischen den verschiedenen Ressourcen. In unserem Ausschnitt steht die verbale Ausdrucksebene der Audiodeskription wegen ihrer klaren und kontrastiven Stimmqualität und Lautstärke zumeist im Vordergrund. Während der Pausen in der Audiodeskription treten hingegen die anderen auditiven Modalitäten deutlicher hervor. Die auditive Erzählung kann sequenziell und schichtweise aufgebaut sein, sodass Geräusche, Beschreibung, Gespräch und Musik nacheinander (z.B. Beschreibung gefolgt vom Dialog) und übereinander (z.B. Musik und Geräusche im Hintergrund des Gesprächs) vorkommen. 5.1.1 Musik Die nichtdiegetische Hintergrundmusik ist eins der deutlichsten Verknüpfungsmerkmale sowohl zwischen der Einführung und dem Szenenraum insgesamt als auch zwischen dessen verschiedenen Positionen und interaktions- Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 420 räumlichen Konstellationen. Im analysierten Ausschnitt sind zwei Arten von Musik hörbar: Die eine ist dem Jingle und der Einleitung assoziiert, die andere ist Bestandteil des Filmgeschehens, dem sie Stimmung verleiht bzw. verstärkt. In beiden Fällen erweckt die Musik Spannung und Erwartungen. Sie kann im Film eine Stimmung schaffen, die Rezipienten in eine innerliche, erfahrungs- und erlebnisbasierte Welt führt, und somit die Interpretation der diegetischen Erzählung beeinflussen, z.B. durch Hervorrufung bestimmter Emotionen der Handlung oder den Figuren gegenüber (vgl. Cohen 2001). Die schon im Vorspann einsetzende Hintergrundmusik ist bis Ende des Ausschnitts hörbar. Wenn die Erzählung in Gang kommt, ändert sich die Harmonie und sie schreitet schneller voran. Gleichzeitig beginnt die Melodie sich zu entwickeln und aktiver zu werden. Der Eindruck von Bewegung wird zunehmend größer, was mit der Handlungsintensität einhergeht. Auf ähnliche Weise entspricht die Verdichtung der Orchestrierung im Ausschnitt dem nach und nach spezifizierter ausgestalteten und ausdifferenzierten Szenenraum. Schließlich schafft die Musik Kontinuität und Kohärenz, indem sie einzelne Teile des Films verbindet, wie hier den Monolog und die darauf folgende Erzählung. Durch die Musik wird deutlich, welche Rolle der Monolog hat: Eine ältere Frau erinnert sich an Ereignisse in ihrer Vergangenheit, die daraufhin erzählt werden. Die Musik führt also in die diegetische Handlung ein. 5.1.2 Geräusche Realistische, Handlungen evozierende Geräusche (u.a. Geraschel, Knacken und Hundegebell) machen den Szenenraum hörbar und lebendig. Dennoch bleiben Geräusche ohne sprachliche Beschreibung oft unspezifisch. Auch Geräusche können Kontinuität in der Handlung schaffen (in unserem Material z.B. das Geraschel) und dadurch die verbale Beschreibung stützen und präzisieren, oder sie können eine Einzelaktivität (z.B. das Stolpern), die zuvor bereits beschrieben worden ist, „vollzugsbezogen“ verdeutlichen. Neben ihrem projektiven oder retrospektiven Handlungsbezug mit verdeutlichendem Charakter können Geräusche, ebenso wie Musik, auch symbolische Bedeutungen tragen (z.B. symbolisiert das Hundegebell Angst oder Bedrohung). 5.1.3 Sprechstimmliche Ausdrucksebene Einen wichtigen Effekt auf die Rezeption haben unterschiedliche Sprechstimmen und Stimmqualitäten, die verschiedene Sprecher identifizieren. Im analysierten Ausschnitt lassen sich durch Stimme eine Reihe von Sprechern und Quellen erkennen: die im diegetischen Handlungsgeschehen agierenden Per- Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 421 sonen, den Beschreiber sowie das Voice-Over. Zur Unterscheidung der verschiedenen Stimmen dient auch die Intonation: Die Beschreibung und das Voice-Over sind in einer Leseintonation gesprochen, während die Sprechweise der Filmfiguren auf Interaktion im Szenenraum verweisen. Insgesamt sind die Stimmen des Beschreibers und des Voice-Over deutlich klarer (und lauter) als die der Filmfiguren. Dies bringt den Rezipienten die Informationen der Audiodeskription und der filmischen Interpunktion näher. Zusammen mit syntaktischen Mitteln (beispielsweise Topikalisierung und Wortstellung) erzeugt die stimmliche Qualität eine Informationsstruktur, die der Betonung, der Fokussierung und der Einbettung der Informationen dient. In diesem Rahmen konnten wir jedoch nicht genauer darauf eingehen, welche Wirkungen etwa die Prosodie der Stimme des Beschreibers bei den Rezipienten hervorruft. Stimmen als Repräsentanten von Personen sind nicht nur in verbalen Äußerungen hörbar, sondern auch Atmung und andere körperbezogene Ausdrücke (Ächzen, Stöhnen etc.) können Personen räumlich positionieren und in ihrem Verhalten markieren (z.B. der Atemzug der Brünetten). Die Sprechstimme kann ähnlich wie Geräusche realistische und symbolische Implikationen haben. Sie kann den Gefühlszustand der Sprecher/ innen widerspiegeln (z.B. Angst oder Erschrecken beim Stolpern der Brünetten) und eine entsprechende Wirkung auf Rezipienten haben. Zu den stimmlichen Ressourcen gehört auch die Temporalität: Sprechtempo und -dynamik sowie Sprechpausen (Schmitt 2004), die keine „stillen Stellen“ sind, sondern Platz lassen, damit etwas anderes gehört werden kann. Das Ausbleiben verbaler Äußerungen führt zum Hervortreten und zur Betonung anderer Ressourcen, wobei beispielsweise ein relevantes Geräusch hervorgehoben werden kann. Andererseits dienen Pausen der Segmentierung von Informationen. Diese Mittel beeinflussen die Rezeption der Äußerungen, aber da sie in unserem Fall keine direkten Auswirkungen auf die Konstitution des Szenenraums hatten, haben wir sie in der Analyse nicht eingehend untersucht. 5.1.4 Verbale Ausdrucksebene: Syntax und Raumvokabular Die Modalität der gesprochenen Sprache hat zugleich eine stimmlich-realistische und eine sprachlich-symbolische Dimension bei der Raumkonstitution. Da wir die stimmlich-realistische Seite schon weiter oben besprochen haben, werden wir im Folgenden die analysierten sprachlich-symbolischen Mittel zusammenfassen. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 422 Die Syntax dient in der Raumkonstitution vor allem als Mittel der Informationsstrukturierung und damit der Steuerung der Aufmerksamkeit des Zuhörers (vgl. Kluckhohn 2005). So bilden kurze Eröffnungen in Form von Nominalphrasen in der Audiodeskription sowie im Voice-Over kontextuelle Bezüge für die danach folgende Erzählung. Was das Raumvokabular betrifft, verweisen Nomen auf Figuren, Gegenstände und Orte. Adverbien und Präpositionen bzw. Präpositionalphrasen geben hingegen an, ob es sich um einen spezifischen Standort, einen Weg (Pfad) oder eine Relation handelt (vgl. u.a. Berthele 2006, Schubert 2009). So etablieren die Lexeme wald, schranke und eingang eines bunkers einen spezifischen Ort für mehr oder weniger erwartbare Handlungen. Präpositionen drücken die Relation der Figuren zu diesen Orten aus (z.B. an einer schranke) und bezeichnen sie mit Bewegungsverben als Pfad: durch einen wald geführt; nähern sich dem bewachten eingang eines bunkers; kommen in einen kleinen kahlen raum. Adverbien und Präpositionen bringen Figuren in eine bestimmte Konstellation zueinander: hintereinander hasten die fünf frauen zwischen den soldaten hindurch; die brünette eilt vorneweg. Raumbezogene Ausdrücke kommen sowohl in der Beschreibung als auch im Dialog vor: die damen sind hier oder können passieren. 5.1.5 Kategorien und Bewegungskonzepte Bei der Beschreibung werden Gegenstände, Personen und Handlungen in verschiedenem Grad spezifiziert. So ist etwa zunächst generell von frauen die Rede, ehe spezifizierend eine junge brünette hervorgehoben wird. Eine vergleichbare Struktur liegt dem Verhältnis von werden ... geführt zu hasten/ eilen zugrunde. Was hier spezifiziert wird, ist das Ausmaß der Selbstbestimmtheit im Verhalten der Figuren. Je spezifischer das Konzept, desto prominenter sind bestimmte Eigenschaften: 13 bei hasten wird die Bewegungsart spezifiziert (vgl. mit gehen), bei junge brünette das Alter und die Haarfarbe (vgl. mit frau). Elemente und Personen des Szenenraums können - soweit sie Mitglieder einer Gruppe sind - singularisiert und dadurch in einen besonderen Fokus gestellt werden. Damit wird auch der Szenenraum immer spezifischer (z.B. frauen → eine junge brünette → die brünette und nacht → wald → schranke → schlagbaum). Verbalisierungen sind Anreize zur Aktivierung gespeicherten Wissens über Situationen und Handlungszusammenhänge und lösen Assoziationen hinsichtlich physischer Elemente sowie sozialer Handlungen und Ereignisse aus (z.B. bei schranke über Bestandteile und Interaktionsraum). Sie stellen somit 13 Das Verb hasten scheint eine stärkere Assoziation von innerem Gemütszustand als eilen (vgl. die Einträge im Duden 2011 für hasten und eilen) hervorzurufen. Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 423 mehr Informationen als nur das explizit Gesagte zur Verfügung. Neben den konkreten, sich im Szenenraum befindenden Elementen erwecken Verbalisierungen zusammen mit Musik und Geräuschen Assoziationen und Hypothesen über Sachverhalte und Handlung. Solche Wirkungen gehen von der filmischen Erzählung generell aus, in der zwar konkrete und oft realistische Repräsentationen vorkommen, die aber genauso stark mit Angeboten für Assoziationen und Hypothesen aufgeladen sind (vgl. u.a. Bordwell 1985, Monaco 2009). Als Beispiel hierfür dient die Eröffnung des Szenenraumes, bei der die Beschreibung es ist nacht. (0,7) frauen werden von ss-soldaten durch einen wald geführt zusammen mit der spannungserzeugenden Hintergrundmusik eine Hypothese über die Frauen als Opfer nahelegt, die sich aber im weiteren Verlauf auflöst. Solche Eigenschaften führen dazu, dass unterschiedliche Interpretationen des Hörfilms möglich sind - genauso wie bei einem audiovisuellen Film. 5.1.6 Zusammenspiel der hörbaren Ressourcen Neben den ressourcenspezifischen Verfahren haben wir das Zusammenspiel der hörbaren Ausdrucksmittel analysiert. Dabei haben wir uns im Besonderen gefragt, wie Raum kohärent gestaltet wird, denn die Kohärenzpräsumption ist unabdingbar für die Herstellung von Einheitlichkeit und Zusammenhörigkeit zwischen den verschiedenen Sequenzen (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010, S. 233). In unserem Material zeigt sich Kohärenzherstellung als ein vielseitiges Verfahren. Bestandteile dieses Verfahrens sind die kontinuierliche Hintergrundmusik, die andauernden, Sequenzen überdauernden Geräusche und die Mittel der Herstellung sprachlicher Kohäsion (z.B. Rekurrenz wie frauen → die fünf frauen → die frauen; Anküpfung verschiedener Bestandteile innerhalb eines Schemas wie eine schranke → der schlagbaum; Konnektoren wie und). Es werden auch lautliche und sprachliche Bezugselemente miteinander verknüpft (z.B. SCHLAG → stolpert). Die Geräusche können auf physische und psychologische Sachverhalte hindeuten, die dann beispielsweise in der Audiodeskription zur Sprache gebracht werden: In unserem Ausschnitt wird die Wahrnehmung der physischen Umgebung, die u.a. als wald verbalisiert wird, durch das Geraschel, Hundegebell und Rufen der Soldaten verstärkt und gleichzeitig spezifiziert, denn der Wald wird quasi „militärisch aufgeladen“. 14 So beleben Geräusche die verbale Beschreibung; Sprache dagegen kann Geräusche spezifizieren und identifizieren. Das Charakteristikum, dass Audio- 14 Solche akustische Qualitäten sind im Film jedoch nicht immer realistisch dargestellt: Manchmal hören wir ein Gespräch von nah, wo es in (der filmischen) Wirklichkeit doch eher entfernt ist. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 424 deskription dynamisch mit der auditiven Erzählung des Films verknüpft werden muss, ist in unserem Ausschnitt ebenfalls evident: Der narrative Ablauf der Beschreibung ängstlich sieht sie sich um wird durch die Interjektion ha unterbrochen, aber die steigende Intonation signalisiert Kontinuität, die auch nach dem Atemzug mit und stolpert realisiert wird. 5.2 Dimensionen des Szenenraumes Abschließend wollen wir fragen, welche Dimensionen des Raumes im Ausschnitt hörbar gemacht werden. Die Analyse hat gezeigt, dass der filmische Szenenraum aus verschiedenen Räumlichkeiten besteht (vgl. Schmitt/ Deppermann 2010): - Wald als die physisch-soziale Umgebung, - unterschiedliche Personenkonstellationen als Interaktionsraum und - individuelle Verhaltensräume. Die verschiedenen Raumdimensionen machen sich unterschiedlich hörbar. Einige statische Elemente der physischen Umgebung wie schnee und nacht (in der Form von Beleuchtung) sind im Material geräuschlos und würden ohne Versprachlichung nicht auf sich verweisen können. Der Interaktionsraum und der individuelle Verhaltensraum dagegen enthalten sowohl auditiv wahrnehmbare als auch stille Räumlichkeiten. Bewegungen und körperliche Kommunikation sind manchmal hörbar, z.B. das Gehen der Frauen und der Atemzug der Brünetten. Der sich hebende Schlagbaum ist gleichzeitig Teil der physischen Umgebung als auch des Interaktionsraumes und macht durch ein Geräusch selbst auf sich aufmerksam. Trotz der Hörbarkeit benötigen die oben genannten und viele andere Handlungen eine sprachliche Erklärung, sonst wären sie schwer identifizierbar. Hin und wieder sind körperliche Ausdrucksformen (z.B. Gesichtsausdrücke wie ‘ängstlich’) und andere Formen von Interaktion, wie Bewegungsart (‘eilen’) und Positionierung (‘hintereinander’) nicht hörbar und müssen verbalisiert werden. Obwohl manche nonverbale Hinweise direkt von ihrer Quelle auditiv wahrgenommen werden können, bleiben sie ohne verbale Bezugnahme, die ihre Bedeutung festlegt, eher mehrdeutig. In unserem Material fällt eine sich abwechselnde Statik-Dynamik-Progression der Erzählung auf. Dynamische und statische Phasen geben Rezipienten Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz 425 die Möglichkeit, sich in ihrem eigen imaginären bzw. imaginierten Raum zu orientieren und mit der Entwicklung des Hörfilms im Szenenraum zu wandern, sich zu bewegen und wieder anzuhalten. Die auditiven Ressourcen eines Hörfilms können auf den Szenenraum verschiedene und wechselnde Foki und Perspektiven aufbauen. Demnach kann die Audiodeskription unterschiedliche Ausmaße oder Teilbereiche von Raum verdeutlichen: Manchmal ist die Beschreibung auf Details fokussiert, beispielsweise auf einen Gesichtsausdruck. Ein anderes Mal liegt der Fokus auf komplexen Personenkonstellationen, ihrer Koordinierung oder der Umgebung. Trotz der unterschiedlichen Foki bleibt der Szenenraum in unserem Material auf Grund der Musik, des Hintergrundgeräusches, der Wiederaufnahme der Referenten in der Audiodeskription und der Bezugnahme auf Bestandteile des Wissens der Rezipienten kohärent. Zur Kohärenz trugen im Ganzen auch die Verweise im Monolog auf den imaginären Raum bei, der in der Beschreibung als Szenenraum realisiert wurde. Die Raumkonstitution dieses Hörfilmanfangs wird anfänglich global etabliert und dann schrittweise ausgestaltet, wobei unterschiedliche Interaktionsräume an unterschiedlichen Lokalitäten der natürlich-physikalischen Umgebungen gestaltet werden. Die schrittweise Entwicklung weckt Erwartungen und projiziert bestimmte Fortsetzungen, die sich jedoch auch als falsch erweisen können. Während die physische Umgebung der diegetischen Handlung sowohl explizit als auch implizit dargestellt wird, ist diejenige des einführenden Monologs weder hörbar noch beschrieben. Dies heißt jedoch nicht, dass er keine räumliche Dimension hätte. Die Beschreibung eine weißhaarige frau (.) anfang achtzig macht aber deutlich, dass der Raum irrelevant sein kann. Die beschriebenen Verfahren der Raumkonstitution müssen als allgemeine Angebote zur Aktivierung sedimentierten Wissens verstanden werden. Die Hörbarmachung des Raumes in Kombination mit den individuellen Imaginationsleistungen der Rezipienten ermöglichen es diesen, sich Raum in seinen grundlegenden Strukturen, Ausschnittbildungen und Fokussierungen sowie interaktive Aspekte seiner Aufrechterhaltung und Spezifizierung ‘online’ vorzustellen. Als imaginäres Konstrukt fällt dieser imaginierte Raum nur basisstrukturell mit dem sichtbaren Raum des Filmes zusammen. In seiner für uns nicht sichtbaren Gestalt als Vorstellung der Rezipienten geht er aber sicher hinsichtlich seines Detailreichtums weit über diesen hinaus. Maija Hirvonen / Liisa Tiittula 426 6. Literatur Berthele, Raphael (2006): Ort und Weg. Die sprachliche Raumreferenz in Varietäten des Deutschen, Rätoromanischen und Französischen. Berlin/ New York. Bordwell, David (1985): Narration in the fiction film. London. Cohen, Annabel J. (2001): Music as a source of emotion in film. In: Juslin, Patrik/ Sloboda, John (Hg.): Music and emotion: Theory and research. Oxford, S. 249-272. Deppermann, Arnulf/ Linke, Angelika (Hg.) (2010): Sprache intermedial. Stimme und Schrift, Bild und Ton. Jahrbuch des Instituts für Deutsche Sprache 2009. Berlin/ New York. Dosch, Elmar/ Benecke, Bernd (2004): Wenn aus Bildern Worte werden. Durch Audio-Description zum Hörfilm. 3. Aufl. München. Duden (2011): Deutsches Universalwörterbuch. 7., überarb. u. erw. Aufl. Mannheim u.a. Fix, Ulla (2005): Einleitung. 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In: Brinker, Klaus/ Antos, Gerd/ Heinemann, Wolfgang/ Sager, Sven F.: Text- und Gesprächslinguistik / Linguistics of text and conversation. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung / An international handbook of contemporary research. Bd. 2. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaften / Handbooks of linguistics and communication science 16.2). Berlin/ New York, S. 1279-1292. Filmografie: Der Untergang, Deutschland, 2004, Regie: Oliver Hirschbiegel. Ausführliches Inhaltsverzeichnis der Beiträge Heiko Hausendorf / Lorenza Mondada / Reinhold Schmitt Raum als interaktive Ressource: Eine Explikation.................................... 7 1. Einleitung........................................................................................... 7 2. Raum als interaktive Ressource..................................................... 13 2.1. Raum.als.Ressource.und.Hervorbringung........................................ 13 2.2. Raum.als.Ressource.für.interaktive.Problemlösungen..................... 18 2.3. Multiaspektuelle.Ressourcenqualität.von.Raum............................... 21 2.4. Verfahren.der.Nutzung.räumlicher.Ressourcen................................ 23 3. Die Beiträge des Bandes................................................................. 27 4. Literatur........................................................................................... 32 Reinhold Schmitt Körperlich-räumliche Grundlagen interaktiver Beteiligung am Filmset: Das Konzept ‘Interaktionsensemble’.......................................... 37 1. Einleitung: Interaktive Beteiligung............................................... 37 2. Relevante Bezugspunkte................................................................. 38 2.1. Sprecher-Hörer.in.der.Konversationsanalyse. ................................... 38 2.2. ‘Footing’............................................................................................ 39 2.3. ‘Participant.role’................................................................................ 40 2.4. ‘Audience.diversity’.......................................................................... 40 2.5. ‘Participation’.................................................................................... 42 2.6. Verbale.Abstinenz.als.Form.interaktiver.Beteiligung....................... 43 2.7. Resümee............................................................................................ 44 3. Der Ausschnitt................................................................................. 44 4. Die Fallanalyse................................................................................. 45 4.1. Die.Konzeptvermittlung.................................................................... 48 4.1.1. Segment.1 .............................................................................. 48 4.1.2. Segment.2 .............................................................................. 56 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 430 4.1.3. Segment.3 .............................................................................. 59 4.1.4. Erstes.Analysefazit .................................................................. 62 4.1.5. Zur.dynamisch-sensitiven.Orientierung.des.Vaters ..................... 64 4.1.6. Set-bezogenes.Monitoring.der.Regieassistentin ......................... 70 5. Analysefazit...................................................................................... 75 5.1. Monofokales.Beteiligungsprofil.(Vater)........................................... 76 5.2. Multifokales.Beteiligungsprofil.(Assistentin)................................... 76 5.3. Konstituenten.verbal-abstinenter.Beteiligungsprofile...................... 76 5.3.1. Kontinuität.der.Orientierung.auf.die.Interaktionsdyade .............. 76 5.3.2. Nähe-Distanz-Regulierung ....................................................... 77 5.3.3. Körperausrichtung/ Körperdrehung ........................................... 77 5.3.4. Raumbezug.der.Blickorganisation ............................................ 78 5.3.5. Eigenständigkeit.der.Verhaltensstrukturierung ........................... 78 6. Das Konzept ‘Interaktionsensemble’............................................ 78 6.1. Grundstrukturen................................................................................ 79 6.2. Konstellative.Dynamik.des.Interaktionsensembles.......................... 81 7. Ausblick........................................................................................... 83 8. Literatur........................................................................................... 84 Lorenza Mondada Der Interaktionsraum der politischen Diskussion. Eine Fallstudie zu einer partizipativen Bürgerversammlung.................. 89 1. Einleitung: Interaktionsraum, Teilnahmeorganisation und ‘embodiment’........................................................................... 89 1.1. Evidenz.und.Vernachlässigung.der.Räumlichkeit.. der.Interaktion................................................................................... 89 1.2.. Von.der.Bezugnahme.auf.den.Raum.zum.Raum.. der.Äußerung..................................................................................... 91. 1.3.. Vom.Kontext.zur.materiellen.Umgebung......................................... 93. 1.4.. Der.Interaktionsraum........................................................................ 93 2. Der analysierte Fall: Daten und Hintergrund.............................. 97 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 431 3. Die Auswahl des nächsten Sprechers: Interaktionsraum und Orientierung auf den ‘next speaker’................................... 101 4. Formulierung und Reformulierung des Vorschlags: Interaktionsraum und Autorschaft............................................. 104 5. Die Vergemeinschaftung des Vorschlags: Erweiterungen des Interaktionsraums........................................ 111 6. Vom Wort zum Text: vom Saal zur Tafel.................................... 118 7. Einschub: Verschiedene sequenzielle Positionen und Anschreiborte für einen Alternativvorschlag...................... 123 8. Schlussfolgerungen: Interaktionsraum, situierte Teilnahme und sequenzielle Organisation.................................. 128 9. Danksagung................................................................................... 131 10. Transkriptionskonventionen........................................................ 131 11. Literatur......................................................................................... 132. Heiko Hausendorf Über Tische und Bänke. Eine Fallstudie zur interaktiven Aneignung mobiliarer Benutzbarkeitshinweise an der Universität.......................... 139 1. Raum als Ressource: Mobiliare Benutzbarkeitshinweise im Fokus ........................................................................................ 139 2. Wenn der Seminarraum zum Problem wird - Zur Heuristik des ausgewählten Falles....................................... 144 3. Susch isch s so vorlesigsmäßig: Vom Seminarraum zum Kino........................................................................................ 147 3.1. Wer.interagiert.mit.wem? .Interaktion.im.Übergang....................... 150 3.2. Tische.als.mobiliare.Benutzbarkeitshinweise................................. 162 3.3. irgendwie den Raum so machen dass: .Situierung. und.Rahmung.................................................................................. 169 4. Abschluss: Wann und wie wird über Benutzbarkeitshinweise gesprochen? ................................................................................... 181 5. Literatur......................................................................................... 184 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 432 Wolfgang Kesselheim Gemeinsam im Museum: Materielle Umwelt und interaktive Ordnung.................................................................................. 187 1. Materielle Umwelt und Interaktion............................................. 187 2. Interaktion im Ausstellungsraum................................................ 189 2.1.. ‘Ausstellungskommunikation’........................................................ 189 2.2.. Konversationsanalytische.Anknüpfungspunkte.............................. 192 2.3.. Eine.Hortgruppe.mit.Betreuerin.im.Zoologischen.Museum........... 193 3. Der Museumsraum als interaktive Ressource............................ 194 3.1.. Der.Weg.zur.Vitrine........................................................................ 194 3.2.. Vor.der.Vitrine................................................................................. 203 3.3.. Dinge.in.der.Vitrine......................................................................... 210 3.3.1. Castor.fiber .......................................................................... 211 3.3.2. Sciuridae .............................................................................. 216 3.3.3.. Marmota.marmota ................................................................. 221 4. Schluss............................................................................................ 224 5. Literatur......................................................................................... 228 Karola Pitsch Exponat - Alltagsgegenstand - Turngerät: Zur interaktiven Konstitution von Objekten in einer Museumsausstellung..................... 233 1. Einleitung....................................................................................... 233 2. Hintergrund: Interaktion und Raum.......................................... 234 2.1.. Multimodalität.in.der.Museumsführung......................................... 234 2.2. Interaktionsraum............................................................................. 236 2.3. Interaktive.Beteiligung.................................................................... 238 3. Fallbeispiel: Der Barren als Museumsexponat, Alltagsobjekt und Turngerät........................................................ 239 4. Der Barren als Alltagsobjekt: Beteiligungsstatus und Interaktionsraum.................................................................. 242 4.1. Herstellung.einer.Konfiguration.zur.Betrachtung.. des.Exponats.‘Fahne’...................................................................... 242 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 433 4.2. Heterogenität.in.der.Beteiligungsweise.der.Gruppe....................... 245 4.3. Adressierung.und.Implikationen.für.die.Beteiligungsweise........... 250 4.4. Fazit................................................................................................. 253 5. Der Barren als Exponat: Ko-Orientierung und Herstellung eines musealen Fokus-Objekts................................ 254 5.1. Orientierung.auf.das.Objekt.‘Barren’.............................................. 254 5.2. Topic.‘Barrenstreit’.und.wechselnde.Orientierung......................... 256 5.3. Multifunktionale.Position.und.Einlösen.der.. materiellen.Projektion.während.der.Erläuterung............................ 257 5.4. Herstellen.einer.stabilen.Orientierung............................................ 260 5.5. Fazit................................................................................................. 262 6. Der Barren als Turngerät: Neue Handlungsoptionen in der Peripherie des Interaktionsraums.................................... 262 6.1. Parenthese.und.Eröffnung.von.neuen.Beteiligungsweisen............. 263 6.2. Der.Barren.als.Ressource.für.die.Einnahme.einer.. stabilen.Position.in.der.Peripherie.................................................. 267 6.3. Fazit................................................................................................. 269 7. Zusammenfassung und Implikationen........................................ 270 8. Literatur......................................................................................... 272 Eva-Maria Putzier Der ‘Demonstrationsraum’ als Form der Wahrnehmungsstrukturierung................................................................. 275 1. Einleitung....................................................................................... 275 2. Konzeptuelle Vororientierung...................................................... 277 3. Die Etablierung des Demonstrationsraumes.............................. 279 3.1.. Etablierungsaktivitäten.................................................................... 279 3.1.1.. Projektion.und.Fokussierung .................................................. 280 3.1.2.. Modalitätssynchronisierung ................................................... 283 3.1.3.. Umgehen.des.‘Demonstrationsraumes’ ................................... 285 3.2.. Die.territoriale.Struktur.des.‘Demonstrationsraumes’.................... 287 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 434 4. Die Aufrechterhaltung des ‘Demonstrationsraums’.................. 292 4.1.. Statische.Konstellation.................................................................... 293 4.2.. Dynamische.Konstellationen.......................................................... 294 4.2.1.. Kurzzeitige.Abwesenheit.vom.‘Demonstrationsraum’ .............. 295 4.2.1.1. Fokuskontinuität.durch.Verbalisierung .................................... 295 4.2.1.2.. Fokuskontinuität.durch.verbale.Abstinenz ............................... 297 4.2.2.. Längerfristige.Distanzierung .................................................. 299 4.2.2.1.. Situative.Relevanzrückstufung ............................................... 299 4.2.2.2.. Partielle.Defokussierung.des.‘Demonstrationsraums’ ............... 302 5. Die Auflösung des ‘Demonstrationsraums’................................ 304 6. Die Teilautonomie des Demonstrationsraums............................ 307 7. Zusammenfassung......................................................................... 312 8. Literatur......................................................................................... 313 Birte Asmuß Implikationen technischer Arbeitsgeräte für die Koordination und Ko-Orientierung in einer Arbeitsbesprechung........................................ 317 1. Einleitung....................................................................................... 317 2. Multimodalität und Technologie.................................................. 319 3. Koordination und Ko-Orientierung............................................ 320 4. Daten.............................................................................................. 321 5. Analyse........................................................................................... 325 6. Konklusion und Diskussion.......................................................... 342 7. Literatur......................................................................................... 344 Anja Stukenbrock Empraxis und Displacement: Überblendete Räume in der Koch-Show-Interaktion............................................................................. 347 1. Einleitung: Kochen, Erzählen und das Publikum unterhalten..................................................................................... 347 2. Theoretische Konzepte................................................................. 348 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 435 3. Formatspezifika des Datums........................................................ 350 4. Fallanalyse „Fake-Küche“........................................................... 353 4.1.. Vom.gesuchten.Löffel.zur.gefundenen.Geschichte: .. Der.Einstieg.in.die.Erzählaktivität.................................................. 355 4.2.. Konkurrierende.‘activity.frameworks’.und. multiple.‘involvements’................................................................... 358 4.3.. Komplementäre.Organisation.und.Hierarchisierung.. der.‘activity.frameworks’................................................................ 362 4.4.. Reorganisation.der.‘activity.frameworks’....................................... 365 4.5.. Vergegenwärtigung.und.Intersubjektivierung.des.narrativ.. konstruierten.Vorstellungsraums.im.Wahrnehmungsraum.............. 369 4.6.. Narrative.Ko-Konstruktion.und.imaginäre.Weiterentwicklung.. des.Vorstellungsraums..................................................................... 370 4.7.. Rückkehr.zur.räumlichen.Ausgangskonfiguration.und.. Reetablierung.des.gemeinsamen.‘main.involvement’.................... 372 4.8.. Zur.Überblendung.von.Wahrnehmungsraum.und.. Vorstellungsraum............................................................................ 373 5. Raum als interaktive Ressource zur Herstellung von und Vermittlung zwischen Empraxis und Displacement.................. 375 6. Literatur......................................................................................... 377 Maija Hirvonen / Liisa Tiittula Verfahren der Hörbarmachung von Raum: Analyse einer Hörfilmsequenz.......................................................................................... 381 1. Einleitung....................................................................................... 381 2. Der Hörfilm................................................................................... 382 3. Gegenstand und Ziel..................................................................... 384 4. Analyse des Ausschnitts................................................................ 386 4.1.. Vorspann.und.Einführung............................................................... 387 4.2.. Der.Szenenraum.............................................................................. 392 Ausführliches Inhaltsverzeichnis 436 5. Fazit: Multimodale Hörbarmachung von Szenenraum im Hörfilm..................................................................................... 418 5.1. Ausdrucksmittel.und.Zusammenspiel.auditiver.. Raumkonstituenten.......................................................................... 419 5.1.1. Musik .................................................................................. 419 5.1.2. Geräusche ............................................................................ 420 5.1.3. Sprechstimmliche.Ausdrucksebene ......................................... 420 5.1.4. Verbale.Ausdrucksebene: .Syntax.und.. Raumvokabular ..................................................................... 421 5.1.5. Kategorien.und.Bewegungskonzepte ...................................... 422 5.1.6. Zusammenspiel.der.hörbaren.Ressourcen ................................ 423 5.2. Dimensionen.des.Szenenraumes..................................................... 424 6. Literatur......................................................................................... 426 Der Band führt aus einer multimodalen Perspektive in die Relevanz räumlicher Aspekte für die Interaktion ein. Auf der Grundlage von Videoaufzeichnungen analysiert er multimodale Verfahren, mit denen Interaktionsbeteiligte für jeweils situationsspezifische Zwecke vorhandene räumliche Aspekte nutzen und selbst aktiv räumliche Strukturen herstellen. Präsentiert werden neun empirische Untersuchungen sehr verschiedener Situationstypen: Außendreh am Filmset, Bürgerversammlung, Universität, Museum, Ausstellung, Chemieunterricht, Arbeitsmeeting, Kochsendung und Hörfilm. Die Analysen werden durch eine theoretische Einleitung im etablierten Kontext der raumbezogenen Analyse verortet. Und es wird expliziert, was die Perspektive auf Raum als interaktive Ressource methodisch impliziert. Neben der detaillierten Rekonstruktion konkreter Raumnutzung unter spezifischen situativen Bedingungen werden vor allem zwei Punkt deutlich: Zum einen ist Interaktion immer ein raumbezogenes und raumbasiertes soziales Unterfangen. Sie muss folglich auch systematisch hinsichtlich dieser Qualität analysiert werden. Zum anderen steht die Analyse des Raumes als interaktive Ressource in methodischer und methodologischer Hinsicht noch ganz am Anfang.