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Kontinuität und Wandel der Philologien

2012
978-3-8233-7700-9
Gunter Narr Verlag 
Johanna Wolf

Die vorliegende Studie untersucht die zentralen gegenstands-, methoden- und institutionsbezogenen Konzepte, die der Ausbildung der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert zugrunde liegen. Analysiert wird ein Korpus von programmatischen Schriften der frühen "Romanisten", in denen über die Identität des eigenen Fachs , wissenschaftliche Ansprüche und die Abgrenzung zu anderen Disziplinen sowie über die Ziele romanischer Forschung und Lehre verhandelt wird. Diese Schriften sind Gegenstand einer diskursanalytisch akzentuierten Textarchäologie, die die Intertextualität des (neu)philologischen Diskurses, die Mechanismen diskursiver Inklusion und Exklusion sowie relevante ideengeschichtliche Entwicklungen aufdecken soll. Ziel der Studie ist es, die fundamentale Spannung zwischen dem neuen szientistischen Wissenschaftsverständnis und dem kulturphilosophisch und ethisch fundierten Philologiekonzept aufzuzeigen, die die Herausbildung des Faches bestimmt.

ROMANICA MONACENSIA Kontinuität und Wandel der Philologien Textarchäologische Studien zur Entstehung der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert von Johanna Wolf Kontinuität und Wandel der Philologien ROMANICA MONACENSIA herausgegeben von Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn, Wolf-Dieter Stempel und Rainer Warning Band 80 · 2012 Johanna Wolf Kontinuität und Wandel der Philologien Textarchäologische Studien zur Entstehung der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Printed in Germany ISSN 0178-1294 ISBN 978-3-8233-6700-0 Meinen Eltern - für ihre immerwährende Förderung Meinen Kindern Nikolaus, Max und ? - für das Setzen der richtigen Prioritäten Meinem Mann Florian - on a fait toutes les guerres… Keine Wissenschaft, so a- oder antihistorisch sie sich geriert, kann ihren historischen Implikationen entrinnen. (Reinhart Koselleck, Wozu Historie, [1971] 2010: 35) Die Objektivierung des objektivierenden Subjekts läßt sich nicht umgehen: Nur indem es die historischen Bedingungen seines eigenen Schaffens analysiert (und nicht durch eine wie immer geartete Form transzendentaler Reflexion) vermag das wissenschaftliche Subjekt seine Strukturen und Neigungen ebenso theoretisch zu meistern wie die Determinanten, deren Produkt sie sind, und sich zugleich das konkrete Mittel an die Hand zu geben, seine Fähigkeiten zur Objektivierung noch zu steigern. Eine solche Sozioanalyse allein, die der narzißtischen Eitelkeit weder etwas schuldet noch konzediert, kann den Wissenschaftler dazu befähigen, auf die vertraute Welt jenen distanzierten Blick zu richten, den der Ethnologe - außer in Momenten besonderer Wachsamkeit - spontan auf die Welt richtet […]. (Pierre Bourdieu, Homo academicus, 1992: 10) Inhalt Vorwort und Danksagung .................................................................................11 1 Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens.........................................................................................13 2 Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? Problemfelder einer wissenschaftsgeschichtlichen Textinterpretation .................................................................................23 2.1 Vom ‚Geist‘ der Diskurse: Diskurs, Wissensrahmen und historische Verortung ...........................................................................23 2.2 „Reiche Quellen des edelsten Vergnügens“: Textuniversum und Verfahren .......................................................................................29 2.2.1 „Radikal historische Betrachtung“ von Textkorpora .......................29 2.2.2 Die Texte ................................................................................................30 3 „Die Verwandlung der Welt“: Epistemische Verschiebungen und Erkenntnisprozesse als Bedingungen der Philologiegenese ...................................................................................35 3.1 Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie: Vorbedingungen und Transformationen ...............36 3.1.1 Der nach Erkenntnis suchende Mensch und das neue Wissenschaftsverständnis ....................................................................39 3.1.2 Entdeckung des historischen Selbstbewusstseins ............................43 3.1.3 Die Entwicklung eines hermeneutisch-philologischen Sprachbegriffes......................................................................................48 3.2 Die Emanzipation der ancilla: (Alt)Philologie als autonome Wissenschaft .......................................................................51 3.2.1 Der discours fondateur der Philologie als autonome wissenschaftliche Disziplin: Friedrich August Wolf (1759-1824) und die Begründung der Altertumswissenschaft ............................51 3.2.2 August Friedrich Boeckh (1785-1867) und die Öffnung der Philologiekonzeption.....................................................................73 3.3 Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie.....................................83 3.3.1 Gottfried Hermann (1772-1848): Die Fokussierung des geschriebenen Wortes ..........................................................................83 Inhalt 8 3.3.2 Der Urtext als Ziel: Philologie als Editionsphilologie ......................92 3.4 (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens ............................103 3.4.1 Philosophie und Philologie ...............................................................105 3.4.2 Der hermeneutische Wandel und seine Konsequenzen ................110 3.4.3 Die Historisierung des Verstehens und die Krise der Philosophie und (Alt)Philologie ................................................................117 4 Natur oder Geist? Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft als „Gegenentwurf“? ...................................................121 4.1 Die Sprache der Bilder: Anatomistische und ästhetische Sprachbetrachtung bei Franz Bopp (1791-1867) und Jakob Grimm (1785-1863) ..........................................................126 4.2 Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft: August Schleicher (1821-1868) und die Glottik ............................................137 4.3 Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? Blicke von außen und Innensichten… .............................................149 4.4 Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist: Doch eine dritte Kultur? Syntheseversuche bei Ludwig Tobler (1827-1895) und Georg Curtius (1820-1885) .........156 4.5 Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften ................................167 4.5.1 Der „Spieß wird umgedreht“: Philologie als Hilfswissenschaft in der Sprachforschung Wilhelm Meyer-Lübkes (1861-1936) ...........................................................................................169 4.5.2 Ein Plädoyer für Individualismus und Non- Konformismus: Hugo Schuchardt (1842-1927) ...............................172 5 Die Diskursformationen der Neuphilologien: Zwischen (Kultur)Pädagogik und Wissenschaft ............................177 5.1 Im Schatten der Altphilologie: Hermeneutischidealistische Neuphilologie ...............................................................184 5.1.1 Alles oder nichts? Philologie als „Weltphilologie“ bei Julius Mützell (1807-1862) ...........................................................187 5.1.2 Die universelle Philologie als System bei Karl Friedrich Elze (1821-1889)..................................................................197 5.1.3 Altphilologie und Neuphilologie im Interesse der Schule: Die semantische Verengung eines gesamtheitlichen Konzepts bei Friedrich Traugott Friedemann (1793-1853)............205 Inhalt 9 5.2 Von der Schule zur Universität: Romanische Philologie zwischen kulturpädagogischer Verantwortung und fachwissenschaftlichem Anspruch ...................................................209 5.2.1 Vereinnahmung durch die Schule ....................................................211 5.2.1.1 Karl Wilhelm Eduard Mager (1810-1858): Philologie als „Seelenschau“ im Dienst der Pädagogik .........................................211 5.2.1.2 Moderne Philologie zwischen Partizipation und autonomer Wissenschaft: Die Suche nach dem „hochzeitlich Kleid“ ...........................................................................231 5.2.2 Die universitäre Perspektive: Neuphilologische Enzyklopädien als didaktische Projekte ..........................................237 5.2.2.1 Die erste Enzyklopädie der Neuphilologien als Anleitung für die Studierenden: Bernhard Schmitz (1819-1881) ....................239 5.2.2.2 Gustav Körting (1845-1913) und das Bündnis der gleichberechtigten Schwestern: Alt- und Neufranzösisch als Einheit in der Romanischen Philologie............................................243 5.2.3 Die Praktiker: Karl August Friedrich Mahn (1802-1877) und Hermann Breymann (1842-1810) als Fortsetzungen der pädagogisch geprägten Diskussion um die Neuphilologien auf Universitätsebene ............................................254 5.3 Der anspruchsvolle Außenseiter: Die modern-integrative Konzeption August Fuchs’ (1818-1847) ...........................................263 5.4 Romanische Philologie als Fachwissenschaft: Einheitsutopien, Methodendiskussion und Aufgabe ..................................275 5.4.1 Die Pionierarbeiten: Vom gelehrten Sammeln zum wissenschaftlichen Klassifizieren bis zur Gründung wissenschaftlicher Kommunikationsplattformen ..........................276 5.4.1.1 August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und die Observations als Wegbereiter....................................................................................278 5.4.1.2 Lorenz Diefenbach (1806-1883) und die beginnende Verwissenschaftlichung .....................................................................281 5.4.1.3 Die ersten neuphilologischen Zeitschriften als Spiegel der konzeptuellen Entwicklungen des Philologiebegriffs ...................289 5.4.2 Friedrich Diez (1794-1876) und die Synthese von hermeneutischer und empirischer Perspektive in der Romanischen Philologie.....................................................................300 5.4.2.1 Friedrich Diez und die Troubadours: zwischen philologischer Kritik und literarischer Ästhetik ......................................305 5.4.2.2 Der strenge Methodiker - Friedrich Diez als Sprachwissenschaftler ....................................................................................318 5.4.3 Karl Bartsch (1832-1888) und die Tradition der Editionsphilologie .............................................................................................325 5.4.4 Gustav Gröber (1844-1911) und der „geteilte Gegenstand“ .........329 Inhalt 10 5.4.4.1 Der Objektbereich: zwischen Allseitigkeit und Begrenzung .........................................................................................332 5.4.4.2 Die (fach)wissenschaftliche Disziplinierung der Philologie .............................................................................................341 5.4.4.3 Sprachwissenschaft und Philologie: eine methodische Abgrenzung? .......................................................................................350 5.4.4.4 Fazit: Resignation und Zäsur ............................................................357 5.4.5 Begegnungen im Text - Philologie als ethische Verstehenswissenschaft im „kleinen Haus“: Die Spaltung der Einheit in selbständige Disziplinen bei Adolf Tobler (1835-1910) .................359 5.4.5.1 Philologie als komplexe Verstehenswissenschaft...........................360 5.4.5.2 Philologische Methode und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ...........................................................................371 6 Der Vorhang zu und alle Fragen offen? - Versuch einer typologischen Kategorisierung und Schlussbetrachtungen .........379 7 Bibliographie .......................................................................................389 Vorwort und Danksagung Die hier vorliegende, leicht gekürzte und überarbeitete Fassung meiner Dissertation entstand im Rahmen eines wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsprojekts zur Entstehung der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert am Institut für Romanistik der Universität Regensburg. Stand die Arbeit zunächst ganz in der Vorstellung des Grimmschen Zellenfleißes, so wurde mir doch recht rasch deutlich, dass ein solches Projekt nicht ohne Unterstützung zu Ende gebracht werden kann. Daher möchte ich mich zuerst bei meiner Doktormutter Maria Selig (Universität Regensburg) bedanken, die sowohl mich als auch die Arbeit mit ihrer Kompetenz, Geduld und kritischen Förderung durch alle Höhen und Tiefen leitete. Sie wusste stets die richtigen Fragen zu stellen und half mir, meine Gedanken zu ordnen und zu einem sinnvollen Ende zu bringen. Ein besonderer Dank gilt auch meiner Zweitgutachterin Angela Schrott (Universität Kassel), deren kundiger Rat und wohlwollende Unterstützung sich während der Entstehung der Arbeit als äußerst wertvoll erwiesen. Zugleich sei an dieser Stelle meinen akademischen Lehrern, die in mir das Interesse für die Romanische Philologie weckten, vor allem Ingrid Neumann- Holzschuh (Universität Regensburg) mein aufrichtigster Dank ausgesprochen. Auch möchte ich mich bei Maria Thurmair (Universität Regensburg) bedanken, die mir im Rahmen des Gleichstellungsprogramms an der Universität Regensburg einen Zuschuss zur Drucklegung der Arbeit bewilligte. Ebenso danke ich Wulf Oesterreicher, der mir die Veröffentlichung in der Reihe Romanica Monacensia beim Gunter Narr Verlag ermöglichte. Für die Aufnahme meiner Schrift ins Verlagsprogramm sowie die freundliche Unterstützung bei allen Fragen während der Erstellung der Druckvorlage möchte ich mich beim Gunter Narr Verlag, besonders bei Kathrin Heyng, Karin Burger und Melanie Wohlfahrt, bedanken. All denjenigen, vor allen den Regensburger und Kasseler Kollegen und Kolleginnen, die mich während der Entstehungszeit der Arbeit begleitet haben, gebührt ebenfalls mein herzlichster Dank. Genannt seien hier nur Daniela Szyska und Dorothea Kadenbach (beide Universität Kassel) für die vielen kleinen und großen Gesten, vor allem während der Endphase. Ebenso Alexander Kalkhoff (Universität Regensburg) für die bereichernden Gespräche, die gemeinsamen Projekte sowie seine stete Ermunterung und Sabine Heinemann (Universität Graz) für ihre geduldige Korrektur meiner syntaktischen Abwege, ihren motivierenden Zuspruch, die unzähligen geteilten Kaffeepausen - beide gehören im Grunde längst zur Familie… Ein großes Dankeschön geht an dieser Stelle auch an Nils Netz (Universität Vorwort und Danksagung 12 Regensburg) für das sorgfältige Korrekturlesen - alle Fehler gehen selbstverständlich zu meinen Lasten. Ohne die liebevolle Begleitung durch meine Familie, die mir zu allen Zeiten den notwendigen Rückhalt bot, hätte diese Arbeit nicht enstehen können. Humorvoll führten sie mich durch alle Widrigkeiten und verhinderten auf diese Weise so manche Verzweiflungstat. Hier alles aufzuzählen, was sie mir an Gutem getan haben - und tun - würde die Seitenzahl leichtsam verdoppeln. Eine besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle „meine alten Männer“: Als Untersuchungsgegenstand von Außenstehenden oft belächelt, lehrten sie mich in ihrer Wahrhaftigkeit und ihrem Engagement für die „Sache“ Demut und verstärkten die Begeisterung für mein Fach auch angesichts schwieriger Umstände. 1 Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens Fachgeschichte, so Jan von Brevern, schärfe das Bewusstsein für die eigene Forschungspraxis - allerdings sei die Funktion fachgeschichtlicher Reflexion als Selbstvergewisserung durch die eigene Positionierung in den Hintergrund geraten (Brevern 2009: 4). Diese Entwicklung stünde in engem Zusammenhang mit der Wende der Wissenschaftsgeschichtsschreibung weg von einer Perspektive, die die Disziplinengeschichte fokussierte, hin zu einer Wissenschaftsgeschichte, die eine Geschichte des Wissens schreibe und sich von der Begrenzung auf das eigene Fach gänzlich gelöst habe (Ebd.). Zu dieser Geschichte des Wissens, die stärker als zuvor nach den Bedingungen von Erkenntnis und Erkenntnispraktiken fragt, kann fachgeschichtliche Forschung durchaus ihren Anteil leisten, indem sie eben diese Strukturen für das eigene Fach untersucht und so einen Baustein im Mosaik des Wissensvorrats liefert. In den Blickpunkt rückten dann Fragen nach Brüchen oder Kontinuitäten in der Tradierung von Objekt, Aufgabe, Erkenntnisziel und Methode - die eigene Disziplin müsste, wie Brigitte Schlieben-Lange bereits 1983 forderte, als eine solche „Geschichte der Kontinuität vs. Geschichte der Brüche“ geschrieben werden (Schlieben-Lange 1983: 465). Fachgeschichte spiegelte auf diese Weise die beiden notwendigen Seiten einer wissenschaftsgeschichtlichen Analyse wider (Schlieben- Lange 1983: 465/ 466). Anhand dieser Überlegungen wird deutlich, dass Fachgeschichte als Teil einer Wissenschaftsgeschichte verstanden werden muss, in deren Skopus die Frage nach den Produktionsbedingungen von Wissen und den Verhandlungen über diese steht. So verstanden ist fachgeschichtliche Forschung integraler Bestandteil derselben, und eben nicht - und hier ist von Brevern doch entschieden zu widersprechen - nur Bestandteil der Wissenschaft und als solcher kein Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte selbst (Brevern: 2009: 4-6). 1 Die Romanische Philologie scheint sich über die eingangs genannte Funktion von Fachgeschichte, Bewusstseinsschärfung für das eigene Tun zu sein, mehr denn je im Klaren zu sein. So verweist Sarah Dessì Schmid (2003: 105) beispielsweise auf ein zunehmendes Interesse der Romanisten 1 Die Notwendigkeit einer klaren Unterscheidung zwischen Wissenschaftsgeschichte und Fachgeschichte sei hier unbestritten. Die These Breverns, dass aber neuere Tendenzen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, als Beispiel führt Brevern hier die Arbeiten Lorraine Dastons an, die Schnittmenge zwischen diesen beiden auflöse und Fachgeschichte somit nicht mehr in der Lage sei, einen Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte zu schreiben, kann in dieser Absolutheit nicht geteilt werden (Brevern 2009: 4-6). Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 14 an ihrer fachwissenschaftlichen Vergangenheit. Dieser Eindruck wird durch zahlreiche Publikationen der letzten Jahre verstärkt, die Frage nach der Identität des eigenen Faches - und somit wohl auch der Wunsch nach einer Selbstvergewisserung in Bezug auf das eigene Handeln - scheint die Romanistik in ihren Bann gezogen zu haben. 2 Die Reflexion über Aufgabe und Gegenstand eines universitären Faches aus historischer Perspektive dient in dieser Form der eigenen Spurensuche oftmals als sinnstiftendes Fundament, auf dem Vorstellungen, Wünsche und Deutungen der Handelnden konstruiert und als einzelne Ereignisse aufeinander gebaut werden, die dann als „Geschichte dieses Faches“ erzählt werden. Reinhart Koselleck weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Geschichte als „Wahrnehmungsgeschichte“ stets pluralistisch gebrochen sei, in sich also immer eine Selektion berge, die als erzählter Ausschnitt des Vergangenen zwar als Wirklichkeit wahrgenommen werden könne, den Rezipienten jedoch der facettenhafte Charakter dieser Splittererzählungen vermittelt werden müsse, damit diese in der Lage seien, die Teil-Ganzes- Beziehung richtig zu verorten (Koselleck [1997] 2010: 17). Wissenschaftsgeschichte aus fachgeschichtlicher Perspektive kann demzufolge also immer nur einen Blick auf das Werden und den Gang wissenschaftlicher Fächer und ihrer Disziplinen anbieten. Eine Annäherung an deren Geschichte in ihrer Vielstimmigkeit ergebe sich dann aus der Komposition dieser Ausschnitte, die darauf zielt, durch möglichst differenzierte Fragestellungen der Forderung nach einer polyperspektivischen Geschichtsschreibung gerecht zu werden. Die Aufgabe des Geschichtsschreibers entpuppt sich hierbei als keine leichte, das Angebot an wählbaren Perspektiven erstreckt sich auch in der Fachgeschichte über biographische, institutionelle bis hin zu epochalen Darstellungsmöglichkeiten, um nur einige Alternativen zu benennen, die jede für sich erneut weitere Fokussierungen erlauben. Die notwendige Auswahl erweist sich umso schwieriger, da universitäre Fächer den „Erzähler“ vor genau dieselbe Problematik stellen, der jeder „Geschichtenerzähler“ begegnen muss: der Differenz zwischen der Dynamik der Geschichte in actu und der ex post erfolgenden, deutenden Reflexion. 3 Vor dieser Folie werden Fachgeschichten gerne als Erklärungen für oft legitimierungsbedürftige Phänomene der Gegenwart gelesen, indem die ex post erzählten Geschehnisse mit der Gegenwart in Bezug gesetzt werden und in die Geschichte so eine teleologische Sinnhaftigkeit gelegt wird, die zur Be- 2 Vgl. hierzu exemplarisch z.B. Hirdt (1993); Hausmann (2000); Gumbrecht (2002); Estelmann/ Krüger/ Müller (2003); Ette (2004); Bähler/ Trachsler 2009; Kalkhoff (2010); Oesterreicher/ Selig (im Druck). 3 Auf diese Differenz weist bereits Humboldt in seinem Aufsatz „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“: Der Geschichtsschreiber habe die nackten Knochen, also die bloßen historischen Daten, mit Fleisch anzureichern, die Daten also in deutender und kritischer Reflexion sprachlich zu vermitteln. Vgl. Humboldt 1821, zur Interpretation des Humboldtschen Geschichtsbegriffs vgl. Koselleck [1997] 2010: 23f.). Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 15 arbeitung, Kategorisierung und zum Verstehen aktueller Phänomene in ihren Traditionslinien führen soll. Dieses Procedere lässt sich insbesondere dann konstatieren, wenn die Gegenwart aufgrund kritischer Situationen ihre Akteure zur Versprachlichung historischer Deutungsmuster zwingt, wobei sich oftmals der Wunsch nach Kontinuität in der eigenen Entstehungsgeschichte als Legitimationsgrundlage für das eigene Handeln herauskristallisiert. 4 Dieser Wunsch nach kontinuierlichen Entwicklungen lässt sich auch in wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten zur Romanischen Philologie antreffen, die sich in dieser Hinsicht jedoch als äußerst widerspenstig erweist: Denn blickt man allein auf das Gegenstandsgebiet der Romanischen Philologie so präsentiert sich dieses als „unmögliches Fach“ mit einer „schwierigen Einheit“, dessen inhaltliche und wissenschaftliche Entwicklung nur äußerst schwer zu bilanzieren ist. 5 Angesichts der immer weiter fortschreitenden Spezialisierung innerhalb des Faches und der in diesem zusammengefassten Disziplinen fällt es schwer, neben dem Kriterium ‚Romanische Sprachen‘ weitere gemeinsame Züge zu finden, die Klarheit über den Begriff der Romanischen Philologie schafften oder diesen gar einheitlich definierten. So zieht man es heutzutage meist vor, von vornherein in Disziplinen zu denken und von romanischer Literatur-, Kultur- oder Sprachwissenschaft zu sprechen, um dann deren Geschichte aus fachgeschichtlicher Perspektive gesondert zu erzählen. An eine solche Differenzierung schließt sich in der Konsequenz eines solchen Vorgehens wiederum oft die Frage an, ob sich diese drei Disziplinen denn überhaupt noch etwas zu sagen oder ob sich ihre wissenschaftlichen Praktiken bereits so weit voneinander abgegrenzt hätten, dass von hermetisch geschlossenen Systemen zu sprechen sei. 6 Um diesem Missstand zu begegnen, ändert Johannes Kramer die Perspektive auf das Fach Romanische Philologie von einer stärker auf die Gegenstandsobjektivierung zielenden hin zu einer die Aufgabenstellung der Romanistik fokussierenden Perspektive und fragt nach den „spezifischen Aufgaben“ der Romanistik (vgl. Kramer 1996). Kramer warnt hier vor einer zu starken Konzentration auf die Weiterentwicklung von Theorien und Modellen und plädiert stattdessen dafür, bereits vorhandene und wissenschaftlich erprobte Theorien auf die romanischen Sprachen anzu- 4 So beispielsweise das Zitieren Wilhelm von Humboldts in aktuellen Bildungsdebatten. 5 Vgl. hierzu den Band Ein >unmögliches Fach<: Bilanz und Perspektiven der Romanistik von Fritz Nies und Reinhold Grimm aus dem Jahr 1988, darin besonders die Beiträge von Wandruszka 1988: 27-39 und Stempel 1988: 41-58. Letzterer trägt den Verweis auf die „schwierige Einheit“ bereits im Titel. 6 Vgl. hierzu den Band Haben Sprach- und Literaturwissenschaften sich noch etwas zu sagen, in dem Frank Rutger Hausmann und Harro Stammerjohann bereits 1998 diese Frage stellen. Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 16 wenden (Kramer 1996: 57f.). 7 Doch auch in dieser Frage gehen die Meinungen auseinander und so fordert Georg Kaiser eine viel stärkere Verknüpfung von theoriebezogener und philologischer Forschung (Kaiser 2005: 4). 8 Beide Angebote verharren jedoch in der disziplinären Differenzierung des Faches ‚Romanische Philologie‘. Romanische Philologie scheint also sowohl in ihrer Gegenstandsbestimmung als auch ihrer Aufgabenstellung keineswegs ein scharf konturiertes Fach darzustellen. Schlieben-Langes Forderung nach einem bilateralen Modell der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, das zwischen Kontinuität und Bruch aufgezogen wird und so Homogenisierungstendenzen entgegenwirkt, scheint für die Romanische Philologie in der Tat mehr als geeignet zu sein, sperrt sie sich doch offenkundig gegen lineare, rein additive Beschreibungen. 9 Ein Fach ohne Identität also? Lässt sich für die Romanistik in der Tat eine identitäre Krise feststellen, wie sie verschiedentlich von der Forschung ausgemacht wird? 10 Vor dieser Folie fällt besonders die Mahnung, die Romanische Philologie solle sich wieder stärker auf ihre gesellschaftliche Verpflichtung wie auch auf ihre diesbezügliche Relevanz besinnen, ins Auge: Hat die Romanistik eine Zukunft? Ja, wenn sie es schafft, deutlicher als bisher zum Wohle des Menschengeschlechts (in der Diktion des 18. Jahrhunderts) wirksam zu sein, in ihrer Wirksamkeit politisch wahrgenommen zu werden und darin auch zu überzeugen - sonst nicht, es sei denn als Orchideenfach. (Schröder 2005: 107) Die Romanische Philologie stehe also aktuell, so die zitierte Außenansicht, vor der Entscheidung, sich entweder ganz in den vielbeschworenen Elfenbeinturm zurückzuziehen oder aber ihre Forschung stärker als bisher vor der Folie ihrer gesellschaftlichen Verantwortung im Sinne einer Bildungswissenschaft wahrzunehmen. 7 „Ganz generell gilt, dass es nicht originäre Aufgabe der Romanistik sein kann, das zu tun, was eigentlich bei anderen Zweigen der Wissenschaft aufgehoben ist. Natürlich ist das an sich eine Banalität, aber besonders während des Theorie-Booms der siebziger und frühen achtziger Jahre beschäftigten sich nicht wenige Romanistinnen und Romanisten lieber mit der Weiterentwicklung von Modellen und Theorien als mit der Anwendung bereits vorhandener Ansätze auf romanische Gegebenheiten.“ (Kramer 1996: 57) 8 „Die Forderung an die ‚romanische Sprachwissenschaft der Zukunft’ muss also lauten, sich endlich der Aufgabe einer Verknüpfung von philologischer und theoriebezogener Forschung, die ‚[a]ußerhalb des deutschen Sprachraums […] bereits zum wissenschaftlichen Standard geworden’ ist, zu widmen und ihr großes Wissen in die internationale Sprachwissenschaft einfließen zu lassen.“ (Kaiser 2005: 4) 9 Vgl. zu dieser Problematik aus institutioneller Sicht besonders Kalkhoff 2010. 10 Vgl. hierzu beispielsweise den 2005 erschienenen Band der Zeitschrift Grenzgänge, der sich in zahlreichen Beiträgen mit genau diesen Fragen nach der Zukunft, und so sie eine habe, welche, der Romanistik beschäftigt. Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 17 Diese Diskussionen um Tradition, Aufgabe und Objektbereich des Faches sind jedoch keineswegs dem so gerne zitierten Zeitgeist geschuldet. Bereits 1972 gingen die Überlegungen Yakov Malkiels in eine ähnliche Richtung, als er die Frage aufwarf, ob die Romanische Philologie seiner Zeit noch Berührungspunkte mit der Romanischen Philologie der Gründerzeit habe: Is it true that Romance Philology meant the same thing in 1820 as in 1970? Or has the name of the discipline - long associated with prestigious academic posts - become a convenient label (not seriously defensible in definitional terms) for tagging certain studies connected by the thinnest of topical threads? Could we today engage in a meaningful conversation with the pioneers of a century and a half ago […] if through some TEMPORAL miracle […] a real-life dialogue with the spokesmen of past generations were at all possible? (Malkiel 1972: 3; Großschreibung wie im Original) Über eine Parallelisierung der Fragestellungen böte sich die Möglichkeit, über die Reflexion des eigenen Faches aus wissenschaftsgeschichtlichem Blickwinkel ein Angebot von möglichen Antworten auf eben diese zu erhalten und gleichzeitig, zumindest für einen bestimmten Zeitabschnitt, einen Teil der Fachgeschichte über einen polyperspektivischen Ansatz zu beleuchten. Folgt man Malkiels Idee, mit den Forschern des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Romanischen Philologie in einen Dialog zu treten, so ist dieser Dialog natürlich nur in Form einer Befragung der programmatischen Äußerungen der „Gründerväter“ über ihr Fach auf eine identitäre Diskussion über Zielsetzungen, Inhalt und Methoden möglich. Die Begegnung mit diesen Forschern in ihren Texten präsentierte sich dann als eine Perspektive der fachgeschichtlichen Erzählung, deren Blick auf der Entwicklung einer eigenen Identität zwischen Kontinuität und Bruch ruhte. Längst ist die Idee eines einheitlichen Philologiebegriffs, der eine Art Gussform für die sich im 19. Jahrhundert konstituierenden Neuphilologien hätte bilden können, zu einer Chimäre geworden und auch die Utopie einer Einheit von sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschung besitzt höchstens noch für die Anfangsphase der Romanischen Philologie Gültigkeit (vgl. Stierle 1979). Eindringlich wird vor monokausalen historischen Erklärungsszenarien gewarnt, die die verschiedenen Spannungsfelder, die die Romanische Philologie von Anbeginn in ihrer Identitätsfindung begleitet haben, außer Acht lassen. 11 Selig 2008 plädiert hier für eine stärkere Berücksichtigung der gegenseitigen Beeinflussung von historisch-vergleichender Sprachwissenschaft und moderner Philologie wie auch eine differenziertere Auslotung der Absetzbewegungen der Modernen Philologien gegenüber der Klassischen Philologie. Damit in Verbindung steht der 11 Vgl. hierzu z.B. Stierle 1979; Nerlich 1996; Hausmann 1998a und b; Selig 2005; 2008. Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 18 Gedanke einer ‚Mehrperspektivierung‘ 12 , über die Wissenschaftsgeschichte Erklärungsmodelle für Wandelphänomene, Dominanzwechsel oder Innovation innerhalb von Wissenschaftssystemen entwirft, das heißt, mehrere Erklärungsfaktoren (z.B. Veränderungen im Bereich Wissen, Institution, Funktion) werden in einem Rahmen miteinander in Beziehung gesetzt. 13 Diese Vorstellung beinhaltet die Annahme einer Existenz wissenschaftlicher Episteme, historisch variable Denkstrukturen, die die Erkenntnis- und Wissensdimension in einem begrenzten Zeitabschnitt, meist fällt dieser mit einer Epoche zusammen, auch für die Entstehung und Entwicklung der Romanischen Philologie bestimmen und über deren Regelung in den wissenschaftlichen Diskursen der jeweiligen Zeitgenossen explizit oder implizit verhandelt wird. Vorliegende Untersuchung greift aus den Entwicklungsszenarien den Aspekt der Bildung verschiedener Diskursformationen um den Begriff der Philologie, ihrer Zielsetzung, ihrer Methoden wie auch ihrer inhaltlichen Organisation auf und versucht über die in den programmatischen Texten sich manifestierenden individuellen Zugänge zur Identität des Faches Romanische Philologie die Heterogenität der Entwürfe, die für die Romanische Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt werden, als notwendige Voraussetzung für aktuelle Reflexionen über das Fach zu beleuchten. Das 19. Jahrhundert, oftmals gezeichnet als das Jahrhundert der Selbstreflexion, der ungeahnten Beschleunigung (Osterhammel 2009; Koselleck 1972; 2010) und als das Jahrhundert, in dem nach Foucault (1969) die Welt begann, sich an den naturgesetzlichen Kausalitäten zu orientieren und damit den Siegeszug der Naturwissenschaften einzuläuten, bildet den Hintergrund für die Genese der Philologien als autonome, moderne Wissenschaften. 14 Es ist auch das Jahrhundert, in dem sich in der Phase des Fin de siècle für die Welt der Wissenschaften die zwei Kulturen, Geistes- und Naturwissenschaften, konsolidieren. Es ist ein Jahrhundert des Ordnens, des Klassifizierens, des genauen Beobachtens, kurz es ist das 19. Jahrhundert, das die Aktualität der Moderne auch in unseren Tagen prägt und - gerade im wissenschaftlichen Feld - immer noch traditionsgebend ist (Osterhammel 2009: 103ff.). Auch Herbert Schnädelbach bestimmt als Symbol des 19. 12 Vgl. hierzu beispielsweise die wissenschaftsgeschichtlichen Analysen zur Entstehung der deutschen Literaturwissenschaft bei Fohrmann/ Voßkamp 1991; 1994. 13 Voßkamp (i.Dr.) nimmt an, dass für tiefgreifende Strukturwandel innerhalb einer Disziplin (hier exemplifiziert für die deutsche Literaturwissenschaft) mindestens zwei der genannten Faktoren gleichzeitig auftreten müssen. Ein Faktor allein reiche nicht aus, um ‚Innovation‘ zu bewirken. 14 In Anlehnung an Koselleck 1972 wird die erste Phase des 19. Jahrhunderts um 1770 begonnen - nach Koselleck ist die sogenannte Sattelzeit zwischen 1770-1830 zum 19. Jahrhundert zu rechnen, da in dieser Phase die Bedingungen für grundlegende Wandelprozesse gelegt wurden (vgl. Koselleck 1972: XVf.). Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 19 Jahrhunderts die Zäsur und verweist so auf die zahlreichen Brüche, die sich in den Verhandlungen der Protagonisten in dieser Epoche um ihre Welt, ihre Geschichte konstatieren lassen (vgl. Schnädelbach 1983). Der Begriff der Philologie entwickelt sich vor diesem Hintergrund des „zersplitterten Augenblicks“, in der das Subjekt in eine „Vielzahl möglicher Positionen und Funktionen“ zerrissen ist (Foucault [1970] 2007: 37). Die Philologen des 19. Jahrhunderts agieren im Dialog mit den Anforderungen, die die Unruhe und die Bewegungen der sie umgebenden Welt an sie stellt. Wählt man als Perspektive die Textbegegnung, um die Geschichte der Philologie, respektive im Besonderen der Romanischen Philologie zu erzählen, so drängt sich das 19. Jahrhundert als zeitlicher Rahmen geradezu auf. Ist es doch die Epoche, in der die Antworten auf die Fragen der heutigen Generation an die Fachgenese zu finden sind, legt man der Textanalyse folgende Fragestellung zugrunde: In welchem Sinne sind also Bewegungen der Philologie nicht nur Bewegungen der Philologie in der Immanenz des Faches, unter der Voraussetzung seiner Autonomie und Homogenität, sondern mehr, nämlich zugleich auch anderes, Funktionen für die Bedürfnisse der Zeit? (Gründer 1979: 326.) Im Fokus stehen daher Texte, in denen sich die von Malkiel anvisierten Pioniere der Romanischen Philologie tatsächlich als Sprachrohr ihres Faches betätigen und über die Konzeption der Philologie als Wissenschaft und Universitätsfach wie aber auch über deren gesellschaftliche Verantwortung und bildungskulturellen Hintergrund verhandeln und so die Reaktionen der Philologie auf die „Bedürfnisse der Zeit“ in den Texten erkennen lassen. 15 Bei der Analyse der Autoren und ihrer Texte liegt die Konzentration auf der Herausarbeitung der Diskussionen um den Begriff und die Konzeption der Philologie, biographische Daten sowie eine Würdigung der einzelnen Personen in ihrer individuellen Forschungsleistung wurden daher größtenteils ausgeblendet. Mit einem solchen Vorgehen ist unweigerlich eine Reduzierung der Komplexität des Werkes der einzelnen Autoren verbunden; diese wurde um einer deutlicheren Spezifizierung willen in Kauf genommen. Die Auswahl der Diskutanten und ihrer Äußerungen soll dabei einen möglichst repräsentativen Querschnitt durch die Stimmenvielfalt derer bilden, die im Laufe des 19. Jahrhunderts über Philologie respektive über Romanische Philologie an diesem kommunikativen Prozess beteiligt waren. Angesichts der Fülle und Schnelllebigkeit dieser „Übergangsepoche“ (Koselleck [1978] 2010) bietet die Arbeit hier nur einen Ausschnitt 15 Dies beinhaltet auch eine Ablehnung des Paradigmenbegriffs zur Beschreibung wissenschaftsgeschichtlicher Diskontinuitäten und Wandelphänomene: „Bewegungen von Wissenschaft, das sind Wissenschaftsgeschichten, als Funktionsverschiebungen zu begreifen, ist dem Konzept von Thomas Kuhn […] gegenüberzustellen.“ (Gründer 1979: 326; FN 4) Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 20 aus dieser Stimmenvielfalt und berücksichtigt dabei auch Forscher, deren Namen weniger „glamourös“ in der Riege der ersten Romanisten wirken (Naguschewski 2005: 68). In einem methodischen Kapitel werden die Auswahl der Texte und die Herangehensweise an diese näher erläutert, zudem werden einige Begrifflichkeiten definiert und kritisch hinterfragt. Dabei wird in Anlehnung an Lebsanft 1997, Schlieben-Lange 1996; 2000; Oesterreicher 2005 und Messling 2008 die These aufgestellt, dass über einen textarchäologischen Zugriff auf die Texte, der Elemente der Diskursanalyse wie auch der traditionellen Textauslegung verbindet, eine Freilegung der epistemischen Schichten als „hermeneutische Modellierung“ (Messling 2008: 29/ 30) wie auch ein Erkennen überzeitlich wirkender Wissensrahmen („makrohistorische Modellierungen“) zu erreicht wird (Ebd.) und so fundamentale Spannungsfelder in der textuell-diskursiven Sedimentierung sichtbar werden, innerhalb derer sich die Romanische Philologie als Fach herausbildet. Brüche, Zäsuren wie auch Kontinuitätslinien können so „archäologisch“ rekonstruiert werden und in die wissenschaftsgeschichtliche Darstellung einfließen (Küpper 2002: 448). Mit dem dritten Kapitel beginnt die Analyse der verschiedenen Konzeptionen von Philologie, indem zunächst die Vorbedingungen für das Entstehen neuphilologischer Diskurse dargestellt werden, wobei, neben soziohistorischen und kultur- und sprachphilosophischen Begründungen, vor allem die Emanzipation der Philologie von ihrem hilfswissenschaftlichen Charakter und die Genese einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin ‚Philologie‘ in Gestalt der Altphilologie in den Blick genommen wird. Im vierten Kapitel wird sodann der Bezugsrahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft umrissen, der ebenfalls auf die kommunikativen Prozesse, in denen die Philologen über Aufgabe und Gegenstand ihrer Disziplin verhandelten, Einfluss nahm. Dabei wird der Fokus auf die Auseinandersetzung der Sprachwissenschaft mit dem naturgesetzlichen Kausalitätsdenken der Naturwissenschaften gelegt. Formationen wie die Sprach- und Völkerpsychologie, die sich ebenfalls im 19. Jahrhundert um Heymann Steinthal, William Dwight Whitney und Wilhelm Wundt bildeten, werden nicht berücksichtigt, da diese bis zum Ende des 19. Jahrhunderts eine marginale Position im Feld der Sprachwissenschaften inne hatten und somit nur vereinzelt auf die Philologieentwürfe der Romanisten wirkten (Arens ²1969: 277-300). Kapitel fünf, der Hauptteil der Arbeit, widmet sich der Analyse der unterschiedlichen Richtungen, die die Auseinandersetzung um den Begriff der Neuphilologie im Laufe des 19. Jahrhunderts eingeschlagen hatte. Insbesondere wird sich der Skopus der Analyse hier auf den Begriff der Romanischen Philologie und die in ihm wirkenden Wissensrahmen in ihrer Gebrochene Geschichte: Textbegegnungen als Perspektive des Erzählens 21 Dynamik richten. Dabei stellte sich das Problem, dass die Protagonisten in der Regel nicht nur einem, sondern zumeist mehreren konzeptionellen Feldern angehören. Die Zuordnung wurde dann gemäß der Dominanz der jeweiligen Perspektive vorgenommen. Überwiegt beispielsweise der kulturpädagogische Aspekt neben der fachwissenschaftlichen Perspektivierung, so wird der Protagonist innerhalb des Erstgenannten verortet. Als ein „positives“ Ergebnis der Analysen wird die am Ende des 19. Jahrhunderts zu konstatierende Zersplitterung in eine Vielzahl von Philologiekonzeptionen verstanden. Daher endet der hier skizzierte Weg der Romanischen Philologie hinsichtlich des Wandels und der Kontinuitäten im Begriff der Philologie mit dem Zeitraum um 1890. Den letzten Teil der Arbeit bildet der Versuch, die einzelnen Konzeptionen im Rückgriff auf das von Ursula Bähler entwickelte Modell zur Typologisierung philologischer Konzeptionen zu kategorisieren (Bähler 2004: 277-288). Vor dem Hintergrund der Entwicklung der einzelnen Spannungsfelder soll dabei der Gang der Romanischen Philologie nachgezeichnet und der Frage nachgegangen werden, in welchem Maß die polyseme Struktur des Begriffs der Philologie, so wie er für diese Arbeit angenommen wurde, Affinitäten zu der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzenden Spaltung in Geistes- und Naturwissenschaften aufweist. Dabei wird die Hypothese aufgestellt, dass sowohl die Vorstellung einer Universalphilologie als auch einer Philologie, die sich als umfassende Kulturgeschichte von Textdenkmälern versteht, angesichts eines ausdifferenzierten Fächerkanons obsolet werden. Zusätzlich wird die Überlegung eingebracht, ob die im 19. Jahrhundert vornehmlich im Begriff der Philologie verankerten Diskussionen, die darauf zielten, sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung in voneinander getrennte Disziplinen zu fassen, durch diese zunehmende Differenzierung vollständig in den Spaltungsprozess zwischen Natur- und Geisteswissenschaften verlagert wurden und nur mehr über sprachtheoretische Reflexionen abgebildet werden. 2 Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? Problemfelder einer wissenschaftsgeschichtlichen Textinterpretation 2.1 Vom ‚Geist‘ der Diskurse: 1 Diskurs, Wissensrahmen und historische Verortung Mehrfach plädiert Brigitte Schlieben-Lange 2 für die Verwendung des Diskursbegriffes in der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung sowie für dessen konzeptionell-methodische Integration in die historiographischen Analysen, um bestimmte Tradierungen, textuelle Kontinuitäten, aber auch Zäsuren und Brüche, die Auseinandersetzungen um Begrifflichkeiten kennzeichnen, zu beschreiben und die es erlauben, den - zumindest für die Geisteswissenschaften - kontrovers diskutierten Paradigmenbegriff 3 zu umgehen. Schlieben-Lange nimmt dabei eine Form von Wissenschaftsgeschichtsschreibung in den Blick, die der Diskursdefinition nach Foucault nahesteht und über eine Untersuchung der in den Quellendokumenten wirkenden Diskurse darauf abzielt, Transformationen innerhalb des gesellschaftlichen Wissens sichtbar zu machen (Schlieben-Lange 1996). 4 Die Verwendung des Diskursbegriffes wird für die Wissenschaftsgeschichte teilweise kritisch gesehen, da dieser in zahlreichen Kontexten verwendet 1 Vgl. zur Materialität von Geist und Sinn in Diskursen Sarasin 2003: 37ff. 2 Vgl. hierzu insbesondere Schlieben-Lange 1983; 1996. Vgl. kritisch zu dieser Form der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung vor allem im Hinblick auf den Diskursbegriff Lebsanft 1997: 6/ 7, der, im Rückgriff auf Erich Auerbach, für eine stärkere Rückbesinnung auf philologische und hermeneutische Verfahren plädiert. Damit verweist Lebsanft auf pointierte Weise auf ein Spannungsfeld, das der Philologie von Anbeginn an immanent zu sein scheint und somit auf eine Kontinuitätslinie innerhalb ihrer identitären Entwicklung hindeutet: die Verbindung des Anspruches auf empirisch gesicherter Methode einerseits und dem Anspruch des partizipativen Verstehens über Alteritätserfahrung (Hineinfühlen) andererseits. Über den diskursanalytischen Zugriff interpretiert, evoziert Lebsanft hier, indem er implizit auf eine intra muros geführte Debatte verweist und sich in diesem Wissensrahmen klar positioniert, eine diskursive Praxis im thematischen Feld ‚Philologie als Wissenschaft‘, die die Überzeitlichkeit wie auch die Funktionsweise der diskursiven Praktiken verdeutlicht (vgl. Lebsanft 1997: 7). 3 Vgl. zu einer Kritik hinsichtlich der Verwendung des Paradigmenbegriffs in der Sprachwissenschaftsgeschichtsschreibung Oesterreicher 1977; Roggenbuck 2005. 4 Über Diskurse als Regelungsmechanismus bei der Verschiebung bzw. Neubewertung von in gesellschaftlichen Teilsystemen vorhandenen Objektebenen vgl. die Arbeiten von Foucault 1966; 1969; 1970. Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? 24 werde, seine Kontur dabei jedoch zumeist unscharf bleibe und er sich daher zwar als „schillernd“, für wissenschaftliche Aussagen inhaltlich aber als zu wenig greifbar erweise (Lebsanft 2005: 26). Dennoch soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Diskursbegriff in Relation zu Text und Textanalyse gebracht werden, indem in Anschluss an Busse 2007 und 2008 Diskursanalyse als eine Methode zur Erfassung von Veränderungen innerhalb der Strukturierung von gesellschaftlichem Wissen verstanden wird. 5 Diskursanalyse wird auf diese Weise mit einem traditionellen philologischen Zugriff auf die Texte verbunden, um so die Mechanismen innerhalb der Textdekodierung (Sinnkonstruktion aus der Rezipientenperspektive) wie auch hermeneutische Modellierungen sichtbar zu machen (Sinnkonstruktion aus der Emittentenperspektive). 6 Busse definiert den Diskurs als „Formationssystem von Wissenssegmenten“ (Busse 2008: 77), die ihrerseits die Produktionsbedingungen von Äußerungen regeln. So verstanden fungieren Diskurse tatsächlich als Zwischenebene zwischen Text und Denken (Busse 2008: 77) - linguistisch perspektiviert sind sie dann als Regelsystem zu bestimmen, das die kommunikativen Prozesse zwischen sprachlichen Zeichen (Begriff, Text…) und Gesellschaft (Rezipient) steuert und die im Rahmen von Diskursformationen 7 greifbar werden. Als thematisch gefasste Regelungsmechanismen zwischen sprachlicher Ebene und kognitiver Interpretation transportieren sie intertextuelle wie auch kontextuelle Bezüge. 8 Erfassbar werden diese Steuerungsprozesse innerhalb einer semantischen Dimension, die sich mit der Diskursanalyse verbinden lässt: Der Vorstellung, verstehensrelevantes Wissen sei in Form sogenannter Wissensrahmen konstituiert und strukturiert. 9 Der kommunikative Prozess in Bezug auf Verstehen fokussiert dann 5 Busse 2007 unterstreicht besonders die Bedeutung der Diskursanalyse für die Analyse von Kontextualisierungsverfahren, die ihrerseits zu „einer Aufhellung dessen, was man die Architekturen des Wissens nennt“ beitragen (Busse 2007: 103). Diese Dimension ist für historiographische Analysen von besonderem Interesse, da sich in ihr komplexe Vorgänge erfassen lassen. 6 Vgl. hierzu Oesterreicher 2005. Eine gelungene Verbindung der beiden Ansätze bietet Messling 2008. 7 Nach Bublitz ²2006: 258 werden Diskursformationen gefasst als die Menge der Diskurse, die gleichen oder ähnlichen Regeln folgen. 8 Gardt 2007: 29 nennt im Hinblick auf die Verwendung des Diskursbegriffes vier Komponenten, an die der Diskursbegriff meist rückgekoppelt werden kann und die für die Funktionsweise Wissensrahmen - Diskurs eine wichtige Rolle spielen: (intertextuelle) Vernetzung, sprachliches Handeln, Diskurs als Ausdruck des Denkens einer Gesellschaft, Diskurs als Stimuli für gesellschaftliche Veränderungen. Diese Aspekte seien prototypische Kennzeichen des Diskurses, der so auf wissenssoziologischer wie auch auf linguistischer Ebene analysiert werden und so die epistemischen Strukturen und Mentalitäten einer Gesellschaft in Texten vergegenwärtigen kann (Gardt 2007: 29; 34-37). 9 Mit Dietrich Busse können Wissensrahmen definiert werden als Strukturgefüge, „[…] in dem einzelne für das Verstehen eines Wortes oder in einem Satz ausgedrückten Vom ‚Geist‘ der Diskurse 25 demzufolge die Verbindung zwischen sprachlichem Zeichen und Wissensrahmen (Busse 2008: 82). Sprache wird so zur Möglichkeit, epistemisches Wissen in der gesellschaftlichen Kommunikation zu strukturieren, das heißt zu verändern oder auch zu stabilisieren. Als verbindendes Element zwischen der Ebene des sprachlichen Ausdrucks und der kognitiven Interpretationsleistung durch den Rezipienten gewinnen die diskursiven Mechanismen an Bedeutung: Ihre kommunikative Leistung besteht darin, dass sie aufgrund ihres Bekanntheitsgrades genau diese Interpretationsleistung steuern und dafür sorgen, dass mit der Nennung eines bestimmten Begriffes innerhalb der Texte auch genau die Wissensrahmen in der Kognition geöffnet werden, auf die es dem Verfasser ankommt, um sein Vorhaben zu legitimieren. Darüber hinaus verortet er sich gleichzeitig innerhalb bestimmter Wissensstrukturen, die zu seiner Zeit Gültigkeit besitzen und die sich einer bestimmten Diskursformation zuordnen lassen. Über die Beziehung zwischen Diskurs und Wissensrahmen wird also die Aktivierung der relevanten Wissenselemente ermöglicht, die eine Zuordnung und Situierung der Aussagen innerhalb der Verhandlungen über bestimmte Themenfelder in der Wissensgemeinschaft ererlauben. Ebenfalls erkennbar werden Neustrukturierungen der Wissenselemente innerhalb der Wissensrahmen, indem zentrale Begriffe semantisch neu aufgeladen werden. In diesem Zusammenhang kann man von sogenannten Klassifikatoren sprechen, über deren Wiederholung oder Veränderung bei der Gestaltung bestimmter sprachlicher Muster auf der kognitiven Ebene Kategorisierungen vorgenommen werden können (Schlieben-Lange 2000: 48). 10 Sie zeigen sich in den Versprachlichungsstrategien, über die das Zusammenspiel von Diskurs und Wissensrahmen analysiert werden kann. Die Verbindung von Diskurs und Wissensrahmen über Versprachlichungsstrategien gewinnt für historiographisch-linguistische Analysen einen besonderen Reiz, zielt doch die Analyse kognitiver Wissensrahmen genau auf die Erfassung der „semantischen Schubkraft“ (Koselleck 2006: 160), die sich in der Wiederholung sprachlicher Strukturen zeigt. In der Verweiskraft auf außersprachliche Wissensbestände können der Bruch mit tradierten Konnotatszuweisungen über die Aktivierung bestimmter se- Prädikation notwendige Wissensaktivierungen zu einer sich nach Inhaltsaspekten ergebenden mehr oder wenigen stabilen Ganzheit zusammenkommen. […] Wissensrahmen sind im Gebrauch und Verstehen sprachlicher Zeichen an so elementarer Stelle und Funktion wirksam, daß sprachliche Verständigung und damit die Ausdrückbarkeit von Wissen ohne sie nicht denkbar ist.“ (Busse 2005: 46/ 47). 10 Dieses Konzept der Klassifikatoren ist über die ihm immanente Dynamik eng mit dem wissenssoziologischen Konzept des Diskurses verbunden, in dialektischer Weise bedingt die Veränderung der Klassifikatoren eine Aktualisierung der Diskurse und vice versa, die sich dann in den über sie aufgerufenen Wissensrahmen analysieren lässt (Schlieben-Lange 2000: 49/ 50). Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? 26 mantischer Felder oder deren bewusste Fortführung - und damit die Bewegungen in den epistemischen Schichten - sichtbar und damit eine Zuordnung innerhalb bestimmter Diskursformationen möglich gemacht werden. Der diskursanalytische Zugriff auf die Quellen antwortet so auf die Forderungen der Historiker, über eine rein faktenbezogene Lektüre derselben hinauszugehen und stärker die Produktionsbedingen und semantischen Implikationen in den Blick zu nehmen und das Untersuchungsmaterial stattdessen darauf zu befragen, „was sie verschweigen oder stilisieren, um auf Bewegungen zu schließen, die sich nur indirekt aus dem Quellentext ermitteln lassen.“ (Koselleck [1976] 2010: 90). In den Verhandlungen um ein bestimmtes Thema - hier der Begriff und das Konzept der Philologie im Lauf des 19. Jahrhunderts - kommen die Wissensrahmen auf unterschiedliche Weise zum Einsatz. Sie verändern sich vor dem Hintergrund zeitgenössischer Entwicklungen. Dabei kommt es zu Überlagerungsprozessen von tradierten Wissensrahmen - jenen, die ihre Gültigkeit behalten - und neu konstruierten Wissensrahmen. Um diese kommunikativen Schichten aufzudecken, werden die Texte archäologisch gelesen. Es gilt eben diese verschiedenen Schichten aufzudecken, um ihre Komposition und ihre Argumentationen annähernd nachvollziehbar zu machen. Ähnlich der Arbeit eines Archäologen lassen sich verschiedene diskursive Stränge aufzeigen, die mit Problembeziehungsweise Themenfeldern gleichgesetzt werden können, die zur jeweiligen Entstehungszeit des Textes eine wichtige Rolle gespielt haben und bei der Aktivierung der Wissensrahmen zum Einsatz kommen. Ziel ist es, Einblicke in das Denken der Autoren hinsichtlich bestimmter Fragestellungen zu erhalten, wenngleich dies aufgrund der zugänglichen Äußerungen der Autoren nur bedingt möglich ist. Damit verbunden ist auch eine gewisse Selektion, das heißt, die Textanalysen beschränken sich auf Stellungnahmen zu kontextbedingten Phänomenen, ein Beispiel wäre hier die Frage nach den gültigen Wissenschaftskriterien. Für die Entwicklung der Philologien als modernautonome Wissenschaften wäre hier beispielsweise an den Wandel des Verstehens- und Erkenntnisbegriffs, die Entdeckung der Historizität, die Neukonzeptionierung des Wissenschaftsbegriffes, die Empirisierung der Geisteswissenschaften und die damit verbundene methodische Diskussion zu denken. Dies alles sind Themen innerhalb der Verhandlungen um die Konzeption der Philologie im 19. Jahrhundert, die sich als Schichten in den Texten überlagern. Dabei darf man sich diese Schichten nicht als durch Trennung voneinander definierte Sedimente vorstellen, sie gehen ineinander über, vermischen sich, bilden neue Schichten. Hier zeigt sich erneut die Dialektik zwischen Wissensrahmen und Diskurs: Beiden machen in ihrer Brückenbeziehung zwischen Text und Rezipient die Brüche in den epistemischen Schichten des gesellschaftlichen Wissens sichtbar. Wird die Regelhaftigkeit dieser kommunikativ-dialogischen Prozesse rekonstruiert, kris- Vom ‚Geist‘ der Diskurse 27 tallisieren sich kulturelle Formationen und Praktiken zwar als historische Zeit-Räume in ihren epistemologischen Strukturen heraus, bleiben dabei aber als historisch singuläre Ereignisse offen. Das archäologische Verfahren konfrontiert die Diskurse so mit dem historischen Ort ihres Auftretens, der durch Wissensstrukturen des Kontextes bestimmt wird (Bublitz 6 2006: 230). Texte werden in diesem Verfahren zu Wissensorten, die Abschnitte der „sedimentierten Diskursgeschichte“ (Küpper 2002: 448) abbilden und in deren Analysen sodann die Komplexität der sozio-historischen Prozesse aufschimmert. Um die Funktionsweise der hier vorgestellten und miteinander verbundenen Konzepte zu verdeutlichen, soll der textarchäologische Zugriff auf die Texte an einem Beispiel kurz exemplifiziert werden: Wenn August Schleicher die Trennung zwischen Philologen und Linguisten 1850 folgendermaßen beschreibt, Der Philolog gleicht dem Landmanne, der mit ein paar Rossen ein fruchtbares und reiches Feld bestellt; ihm genügt, wenn er practisch mit seinen Rossen gut umzugehen weiss […]. Der Linguist dagegen gleicht dem Zoologen, der einer ganz andern Kenntnis der Species equus caballus bedarf, als der Landmann. (Schleicher 1850: 5) dann tut er dies nicht aus einer polemischen Laune heraus. Über die Begriffe ,Landmann‘ und ,Zoologe‘ schreibt er sich in mehrere Diskursformationen innerhalb der Verhandlungen um das Konzept ,Philologie‘ ein, die die textarchäologischen Sedimente für die Interpretation des Zitats bilden: Die Wissenschaftsgemeinde diskutiert um die Jahrhundertmitte einerseits heftig die Gegenüberstellung von Experten und gelehrtem Liebhaber (Dilettant), andererseits bereits die Hierarchisierung der wissenschaftlichen Disziplinen Sprachwissenschaft und Philologie. 11 Ebenso ist die Wertung der Philologie als Wissenschaft, Kunst oder reinem Handwerk ein virulentes Thema, das auf die Etablierungsphase der (Alt)Philologie als Wissenschaft Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts zu datieren ist. Der Vergleich des Philologen mit einem Landmann evoziert die Diskursstränge, auf denen die Wissensrahmen um diesen Vergleich angesiedelt sind: Bei Schleicher ist der Linguist als Experte klar im Vorteil, der Philologe erscheint als ein reiner Handwerker. Damit verknüpft ist die Diskursformation um die Wertung der Philologie: Hier werden eindeutig Wissensrahmen aktiviert, die diese als Handwerk, als techné, gegenüber der als Wissenschaft zu definierenden Linguistik ausweisen. Verfolgt man diese Diskursformation in ihre Entstehungszeit zurück, so werden die ver- 11 Hierzu ist natürlich anzumerken, dass nicht alle Protagonisten der Verhandlung um den Begriff und das Konzept ,Philologie‘ von einer Trennung zwischen beiden Disziplinen ausgehen und noch oft eine Einheit von sprachwissenschaftlicher und philologischer Forschung unter der Bezeichnung ,Philologie‘ angenommen wird. Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? 28 schiedenen Konzeptionen von ,Wissenschaft‘ sichtbar, um die es hier implizit geht: Ein Begriff von Wissenschaft, der noch die Philosophie und ihre Methoden (Verbindung von Empirie und Spekulation) als Leitkategorie vor Augen hat sowie ein Wissenschaftsbegriff, der sich bereits an Kriterien der positiven Naturwissenschaften (reine Empirisierung) orientiert. Das Dominanzverhältnis zwischen beiden ist durch den wertenden Vergleich für den Rezipienten erkennbar geregelt. Aber auch die Gegenseite kommt als weiteres Sediment in diesem Vergleich zu Wort und verdeutlicht das dialogische Verhältnis zwischen den Diskursformationen: Der an diesen Diskussionen beteiligte Leser weiß die Anspielung genau zu verorten. Schleicher nimmt Bezug auf eine andere Gegenüberstellung von Philologen und Linguist, die das Verhältnis und damit die Dominanz zwischen philosophisch beeinflusstem und naturwissenschaftlich orientiertem Wissenschaftsbegriff genau umdreht: Verglichen mit dem Linguisten, Historiker u.s.w. ist der Philolog ungefähr, was der Blumist gegenüber dem Botaniker ist. Den Botaniker interessiert jedes Gewächs, weil es ein Gewächs ist, der Blumist, immer nicht mit dem gewöhnlichen Küchengärtner zu verwechseln, der Alles Unkraut nennt, was man nicht essen kann, will nur das in seinem Garten sehen, was Aug’ und Herz erfreut. (Mager 1844: 7/ 8) Durch die intertextuelle Vernetzung des eigenen Textes mit der Abhandlung Magers kann Schleicher die eigene Konzeption positiv konnotieren und die bei Mager aktivierten Diskursformationen als „falsch“ abqualifizieren. Allein in diesem unscheinbar wirkenden Vergleich wird demnach die sedimentartige Schichtung der Diskursformationen deutlich. Den Zeitgenossen Schleichers, die an den erwähnten Diskussionen beteiligt waren, reichten die Klassifikatoren ,Landmann‘ versus ,Zoologe‘ aus, damit die entsprechenden Wissensrahmen zur Verortung des Textes innerhalb der von Schleicher anvisierten Diskursformation und deren Bewertung als „richtig“ führten. Sie veränderten die von Mager eingeführten Klassifikatoren ,Blumist‘ versus ,Botaniker‘ dahingehend, dass das Wertungsverhältnis zwischen Philologie und Linguistik umgedreht wurde und die Philologie sich erneut dem Vorwurf, reines Handwerk zu sein, stellen musste. Textuniversum und Verfahren 29 2.2 „Reiche Quellen des edelsten Vergnügens“ 12 : Textuniversum und Verfahren 2.2.1 „Radikal historische Betrachtung“ von Textkorpora 13 Wulf Oesterreicher beschreibt auf der Ebene der ‚Textualität‘ in Bezug auf historiographischen Analysen mehrere Problemfelder, die sich vor allem im Hinblick auf Einzeltexte ergeben: Zum einen birgt die Auswahl der Texte, die mit der Erstellung eines Korpus verbunden ist, bereits eine Reduktion in sich und kann so das Ergebnis der Interpretation in eine bestimmte Richtung lenken. Zum anderen wird über das Systematisieren der gegebenen Informationen, die in sich ja schon selegiert sind, eine virtuelle Textkohärenz erzeugt, die so nicht existent ist (Oesterreicher 2005: 32). Damit wird die Gefahr, die Texte als Steinbruch zu benutzen und auf diese Weise das Quellenmaterial vorausweisend zu interpretieren ab dem Moment, in dem der Einzeltext gänzlich aus seinem zugehörigen Textuniversum herausgelöst wird, besonders hoch, noch dazu wenn über einen historiographischen Zugriff auf eben diesen versucht werden soll, den Gang der Geschichte aus einer bestimmten Perspektive heraus zu rekonstruieren. Schließlich ist deren „Ausgang“ bekannt und dieses Wissen könnte dazu verführen, bereits bei der Zusammenstellung des Quellenmaterials Glättungen vorzunehmen oder Widersprüche zu überdecken (Oesterreicher 2005). Die von Oesterreicher geforderte „radikale historische Betrachtung“ (Oesterreicher 2005: 33) zielt einerseits auf die Wahl der Texte, andererseits thematisiert sie bereits den Umgang mit diesen: Brüche, Widersprüche, Inkohärenzen, Nebendiskurse sollen sichtbar gemacht werden, um eben den Gang der Geschichte auch in der Radikalität ihrer „Umwege“ zu erzählen. 14 Die Wahl der einzelnen Texte zeichnet in dieser Hinsicht verantwortlich für die Sichtbarmachung derjenigen Aspekte, die ein heterogenes Bild von, aus der heutigen Perspektive üblicherweise linear wahrgenommenen, Phänomenen zeichnen. Oesterreicher 2005: 7 spricht in diesem Zusammenhang von der invertierten Teleologie, die zu einer Rekonstruktion der Texte als Teile der „mainroad to the present“ (Brown 1996: 264) führt. 15 Eine ergebnisorien- 12 Schiller 1789: 105. 13 Vgl. zum Begriff der „radikalen historischen Betrachtung“ Oesterreicher 2005: 33. 14 Vgl. zu einer Interpretation der „radikalen historischen Betrachtung“ als Form einer „geläuterten Hermeneutik“ besonders Messling 2008: 32/ 33. Messling 2008 wendet diese Methode der „materialen Hermeneutik“ auf historiographische Analysen der Schriften Humboldts zum Schrift- und Orientalismusdiskurs an, um diese aus der historischen Reflexion in die Gegenwart zu transferieren (Messling 2008: 32). 15 Brown beklagt in seiner Rezension, die Vorgehensweise bei der Zusammenstellung des historiographischen Materials sei historisch ungenügend erfolgt, da die Texte eben teleologisch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Realität gedeutet wur- Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? 30 tierte historiographische Deutung kann - hier sei an Kosellecks Absage an die nahezu zwanghafte Tendenz, „Sinn“ in die Geschichte hineinzulesen erinnert (Koselleck [1997] 2010) - nur zu einem homogenisierenden Erklärungsrahmen führen: Die mit derartig ereignis- und resultatfixierten Optionen gegebenen teleologischen Hintergrundannahmen führen auf einer abstrakten Zeitlinie zu makrohistorischen Modellierungen, in denen die beschriebenen komplizierten Prozesse und konkurrierenden Gestaltungen ignoriert, ihre komplexen Determinationsverhältnisse und Voraussetzungsstrukturen verwischt,die Wünsche, Hoffnungen und Phantasien der Akteure, ihre tastenden Versuche und auch ihre Fehleinschätzungen überspielt, Umwege und Abbrüche sowie die durchaus gegebene territorial und zeitlich beschränkte Geltungs- und Wirkmacht ihrer Spracharbeit ausgeblendet werden. (Oesterrreicher 2005: 8). Der für die Korpusanalyse gewählte Ansatz, der die Texte als Zugangsmöglichkeit für die, die kommunikativen Prozesse der Akteure steuernden Diskurse begreift, stellt sich der Herausforderung, teleologische Interpretationen zu vermeiden, indem er prozessorientiert nach den Mechanismen innerhalb der Kommunikation (Beziehung Diskurs - Wissensrahmen - Versprachlichung) fragt und eine zielorientierte Form der Analyse gänzlich ausblendet. Die Analysen verstehen sich so als Angebot einer möglichen Interpretation, in die weitere Lesarten integriert werden können, die sich aber nicht als Lösung identitärer Verhandlungen versteht. 2.2.2 Die Texte Definiert man Diskurse als ,Ausdruck bzw. Teil einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis, die bereits eine bestimmte Menge von möglichen Texten definiert, die die gleiche Praxis ausdrücken bzw. als Repräsentanten der gleichen Praxis akzeptiert werden können.’ (Maas 1984: 18; Kursivierung wie im Original), so wird deutlich, dass sich das zu untersuchende Textuniversum durch die Wahl der innerhalb der betrachteten Kommunikationsgemeinschaft verhandelten Themen konstituiert. Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspek- den. Dies führe dazu, dass der wissenschaftsgeschichtliche Entwicklungsprozess in zu verkürzter Weise dargestellt werde und so zu falschen Gewichtungen von historischen Ereignissen in der Gegenwart führe: „Because the papers are mostly by active researchers, not science historians, the tendency is to interpret the writings in relation to present-day trends. However, to interpret the past in light of what the present holds dear is to misconceive the present, which could be a footnote in a future history, as an arbiter of historical worth. The value of history is not a reconstruction of the main road to the present but the wealth of possibility that lies fallow in byways that scientific progress has left unexplored.” (Brown 1996: 264) Textuniversum und Verfahren 31 tive bilden die kommunikativen Prozesse um den Begriff der Philologie eine Art Knotenpunkt, von dem ausgehend mehrere Diskurse und Diskursformationen auszumachen sind. In diese werden weitere Themenfelder partiell integriert, wie beispielsweise das Verhandeln über Kriterien der Wissenschaftlichkeit vor dem Spannungsfeld Naturversus Geisteswissenschaften 16 oder die Diskussion über gesellschaftliche Verantwortung von Wissenschaft versus geschlossene Expertenkultur. Das Ziel eines diskursanalytischen Zugriffs auf ein solchermaßen konstituiertes Textuniversum ist es, die Wirkungsweise zwischen kognitiven Wissensrahmen und Diskursen zu erklären, also zu überprüfen wie bestimmte Wissensrahmen diskursiv aufgerufen werden und über welches Inventar an Versprachlichungsstrategien, Konnotationszuweisungen, Aufbau von Klassifikatoren, (Kollektiv)Symbolen, Argumentationsmustern, Metaphern etc., diese Aktivierung erfolgt. So können die Inhalte der kommunikativen Prozesse in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Thema erfasst und die dialogische Vernetzung dieser Inhalte über Wissensrahmen und Diskurse untereinander verdeutlicht werden (Gardt 2007; Busse 2005; 2008). Jäger verweist in diesem Zusammenhang auf den „Parolencharakter“ bestimmter Argumente, die dann in Folge nahezu listenartig aufgerufen werden und so einen Diskursstrang generieren, der eben diese Argumente unablässig wiederholt (Jäger 6 2006: 103/ 104). Eine historisch orientierte Analyse, so Jäger, könne aus diesem Diskursstrang nur synchrone Schnitte vornehmen, um über deren Untersuchung Aufschluss über Veränderungen und Kontinuitäten der Diskursverläufe zu erhalten (Ebd.). Geht es also vordergründig darum, Funktionsverschiebungen zu erkennen und innerhalb des Wissensvorrats einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu verorten, so ist der qualitative Aspekt bei der Textauswahl von größerer Relevanz als der quantitative, was erlaubt, die Selektion metonymisch in eine Pars-pro-toto- Relation zu setzen und die einzelnen Texte quasi symbolhaft als wirkmächtige „Parolen“, das heißt, die das Wissen einer Gesellschaft konstituierenden und bedingenden Diskurse, zu lesen. So wurden für das Untersuchungskorpus Texte zusammengestellt, an die, textsortenspezifisch, auf der Inhaltsebene eine bestimmte Anforderung gestellt wurde: Um dem Begriff, der Konzeption wie auch dem Inhalt der Philologie innerhalb ihres identitären Prozesses im 19. Jahrhundert auf die Spur zu kommen und den Einfluss der genannten Spannungsfelder auf diesen Prozess messbar zu machen, wurden gezielt Texte gewählt, die ei- 16 Beide Begriffe werden hier anachronistisch verwendet. Die Etikettierungen ‚Naturwissenschaft‘ bzw. ‚Geisteswissenschaft‘ als Fachtermini entstehen in dieser kategorisierenden Verwendung erst Ende des 19. Jahrhunderts. Sie werden hier aus pragmatischen Gründen stellvertretend für die einzelnen Fächer verwendet, die gewöhnlich unter ihnen jeweils subsumiert werden. Im Steinbruch des Textes oder der Text als Schlussstein? 32 ner Textsorte „programmatische Schrift“ entsprechen. 17 Dadurch dünnte sich das Feld hauptsächlich auf Vorwörter, Antrittsvorlesungen, Reden, kleinere Abhandlungen und einzelne Briefe 18 aus, in denen die Protagonisten Stellung zur Diskussion um den Philologiebegriff nahmen. Über dieses Korpus wurde versucht, einen Teil des identitären Netzwerkes zu rekonstruieren, das die konnektive Struktur 19 der Protagonisten bildete und in dem sie über ihr eigenes Fach verhandelten. In dieser Hinsicht versteht sich die Arbeit einerseits als ein Mosaikstein in der Geschichte der Romanischen Philologie, andererseits als Einladung zur Reflexion über die sprachlich-historische Verankerung wissenschaftlichen Handelns. Es sei, angesichts der Zusammenstellung eines Textuniversums, das eben solche „parolenartige“ Texte in sich vereint, darauf hingewiesen, dass die vorliegende Studie aus linguistischer Sicht einen diskursdeduktiven Ansatz gewählt hat. 20 Im Zentrum steht so anstatt der quantitativen Analyse (Wirkmächtigkeit über Frequenz) die Suche nach einer intertextuellen Vernetzung dieser Formationen, da dieser Ansatz mit der wissenssoziologischen Definition des Diskursbegriffes, wie sie für diese Arbeit gewählt wurde, stärker in Verbindung steht und die Dialogizität zwischen den Texten als Kommunikationsakte fokussiert. Die Gefahr einer „analytischen Präfiguration“ (Warnke 2007: 18) soll über die Analyse von Texten, die zwar keine starke Rezeption erfahren haben, aber in denen bestimmte diskursive Verfahren identifizierbar sind, die Brüche oder Widersprüche in einer bestimmten Diskursformation um den Begriff der Philologie deutlich machen und so dazu beitragen, die Entstehung der Wissenschaft ‚Philologie‘ als heterogenes, komplexes Phänomen sowie die Polysemie im Begriff 17 Dabei wurde kein formaler Kriterienkatalog erstellt. Der Begriff ,Textsorte’ wird in der weiten Definition von Brinker aufgefasst, der es erlaubt Texte mit ähnlichen sprachlichen Mustern zu einer Textsorte zusammenzufassen (Brinker 7 2010: 120-126). 18 Briefe wurden insoweit integriert, als davon auszugehen war, dass sie den kommunikativ Handelnden bereits zugänglich waren - dies bezieht sich insbesondere auf die Briefe Humboldts oder Grimms, wie auch auf die Briefe Diezens, die ja noch von zeitgenössischen Forschern ediert wurden. 19 Betrachtet man die kulturelle Struktur einer Gesellschaft innerhalb einer bestimmten Epoche als konnektive Struktur im Sinne Jan Assmans als das, was die Gesellschaft über das Moment des Erkennens und Einordnens verbindet und die so als „symbolische Sinnwelt“ für alle Mitglieder der Gesellschaft erfahr- und erwartbar ist, so erlaubt dies, die Wiederholbarkeit von Elementen, die als zu einer „gemeinsamen Kultur“ zugehörig identifizierbar sind, ebenfalls als Diskurse zu lesen, die über ein archäologisches Verfahren der Textlektüre zu den historischen Praktiken zählen und ebenfalls eine Rolle bei der Aktivierung und Konstituierung von Wissensrahmen spielen können. Zur Vorstellung der konnektiven Struktur einer Kommunikationsgemeinschaft siehe Assmann 6 2007: 16-18. 20 Zur Unterscheidung diskursdeduktiver versus diskursinduktiver Verfahren vgl. Warnke 2007: 18. Textuniversum und Verfahren 33 der Philologie selbst nachvollziehbar zu machen, zumindest abgeschwächt werden. 3 „Die Verwandlung der Welt“: 1 Epistemische Verschiebungen und Erkenntnisprozesse als Bedingungen der Philologiegenese Ein salientes Identitätsmerkmal des 19. Jahrhunderts sei eine gesteigerte Selbstreflexion, die darauf ziele, die Bedingungen des eigenen Seins in der Gegenwart historisch zu interpretieren und so auf Kontinuitäten und Erklärungsmodelle zu stoßen, die die umgebende Welt verstehbar machen sollen (Osterhammel 2009: 1279). Vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Sedimentierung dieses ambiguen Jahrhunderts fällt den Historikern bereits eine eindeutige Periodisierung schwer. 2 Osterhammel entscheidet sich bei der zeitlichen Charakterisierung des 19. Jahrhundert für eine Unterteilung in mehrere Phasen: Die erste Periode setzt er analog zu der von Koselleck beschriebenen Epoche der „Sattelzeit“ von 1770-1830 an (Koselleck 1972: XV), wobei Osterhammel betont, dass im Hinblick auf das 19. Jahrhundert eine „temporale Schnittmenge zwischen einem ‚lang‘ nach vorne erstreckten 18. Jahrhundert und einem ebenso ‚lang‘ in die Vergangenheit gezogenen 19. Jahrhundert“ zu wählen sei, um für die Interpretation der diesen Zeitraum kennzeichnenden Wandelprozesse einen sinnvoll gesetzten Bezugsrahmen zu erhalten (Osterhammel 2009: 102/ 103). An diese erste Periode der Sattelzeit schließe eine mittlere Periode an, in der sich die, für den europäischen Raum, charakteristischen Kulturerscheinungen des 19. Jahrhunderts manifestieren und konsolidieren: Beispiele hierfür wären der Wandel zu einer Kommunikationsgesellschaft, Industrialisierung, Zeitalter der Entdeckungen, Urbanisierung oder Imperialismus und beginnender Kolonialismus, um nur einige Faktoren zu nennen. Auf diese mittlere Periode folge dann ab den 1880er Jahren die Zeit des Fin de siècle, die Osterhammel als d i e Jahrhundertwende schlechthin bezeichnet und während der ein „Ruck“ durch die Welt gehe (Osterhammel 2009: 103). Alle Perioden seien aber gekennzeichnet von eben dieser intensiven Selbstreflexion, mit der die Zeitgenossen die Geschehnisse wahrnehmen und analysieren. Das 19. Jahrhundert entpuppt sich als die Zeit der Rekonstruktion des eigenen Seins und Werdens; es ist die Zeit, in der Historie in Museen, Archiven, Texteditionen gesammelt, gepflegt und geordnet wird (Oster- 1 Jürgen Osterhammel schreibt unter diesem Titel eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, in der er die verschiedenen Facetten der Epoche und ihre Wirkung in der Moderne nachzeichnet (vgl. Osterhammel 2009). 2 Vgl. hierzu beispielsweise Koselleck 1972 sowie Lepenies 1976. Letzterer verweist dabei vor allem auf den Einfluss des deutschen Idealismus, der für den deutschen Wissenschaftsraum die in anderen europäischen Wissenschaftskulturen einsetzende „Vernaturwissenschaftlichung“ stark verzögert habe (Lepenies 1976: 16). „Die Verwandlung der Welt“ 36 hammel 2009: 82). Wissen wird strukturiert, sinnhaft gedeutet als eine Verbindung zur Vergangenheit - die Dominanz des „bewahrenden Historismus“ (Ebd.) wird zum potenzmächtigen Symbol der Geschichtlichkeit des Menschen. Gleichzeitig birgt sie aber auch die Gefahr, durch das Bemühen um die Herstellung von Sinn durch ein teleologisches Deuten der Geschichte, den Blick für Brüche und Zäsuren zu versperren. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Forderung Rankes nach einer „allgemeinen Weltgeschichte“, deren Unmöglichkeit er selbst im gleichen Atemzug erkennt und daher sein Postulat dahingehend relativiert, indem er die Bedeutung der „Einzelforschung“ als Teil der Universalgeschichte heraushebt, zu der diese einen wichtigen und lebendigen Beitrag zu leisten habe (Ranke [1869] 1975: 463). Damit öffnet er Tür und Tor für die Entstehung einer differenzierten Welt historischer Einzelwissenschaften (meist deckungsgleich mit universitären Einzelfächern), deren Ziel es ist, zu einer Universalgeschichte der Menschheit über ihre Einzelforschung in Form von gesicherter, wissenschaftlicher Erkenntnis beizutragen. In diesem Sog aus Neugier, Entdeckerlust und wissenschaftlichem Anspruch entstehen die Philologien neben der Geschichtswissenschaft als wichtige Lieferanten eben dieser Erkenntnis aufgrund derer die Geschichte des menschlichen Wissens in seiner Dynamik geschrieben werden soll. Diese „Verwandlung der Welt“ bildet die Voraussetzung für die Begründung einer autonomen Wissenschaft ‚Philologie‘, so dass im Folgenden zunächst die wichtigsten Wandelprozesse und epistemischen Verschiebungen in der Epoche der Sattelzeit dargestellt werden sollen, die als Erklärungsmodell für die Entstehung einer Wissenschaft ‚Philologie‘ dienen können. 3.1 Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie: Vorbedingungen und Transformationen Robert S. Leventhal datiert eine Neukonzeptualisierung der Philologie als Kunst der Textauslegung auf die 1770er Jahre (Leventhal 1986: 247; auch Schnädelbach 1983 3 ). Der Philologie gelingt es in dieser Zeit, sich aus ihrer 3 Vgl. hierzu den Begriff der „Schnädelbachschen Klammer“, diese erstreckt sich allerdings von 1770-1830, wohingegen der Zeitabschnitt bei Leventhal, vermutlich aufgrund seiner ausdrücklichen Beschränkung auf den altphilologischen Diskurs, bereits 1810 endet, als eine Etablierung der Altphilologie als autonome Wissenschaft durch Friedrich August Wolf (1810 erfolgt dessen Berufung nach Berlin) angenommen werden kann. Leventhal begründet seine Zeitwahl demnach philologisch und definiert Wolf so als eine Art Scharnier zwischen alter und neuer wissenschaftlicher Konzeption. Schnädelbach argumentiert bei der Zeiteinteilung hingegen philosophisch mit dem „Zusammenbruch des Idealismus“, der auf den Tod Hegels 1831 folgte. Das 19. Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 37 dienenden Funktion einer Hilfswissenschaft der Theologie und Rechtskunde zu lösen und eine autonome wissenschaftliche Disziplin zu werden. Als institutionelle Orte dieser Transformation nennt Leventhal sowohl einen geographischen Ort, das Göttinger Seminar, als auch einen literarischen: Die programmatischen Schriften der Forscher dieser Zeit, die in dieser Form ihr neues Selbstverständnis zu Papier und damit vor die Öffentlichkeit bringen (vgl. Leventhal 1986). 4 Den pragmatischen Hintergrund für diese Transformation der traditionellen Philologie hin zu einer modernen wissenschaftlichen Disziplin bilden mehrere Faktoren: Zum einen die immer lauter werdende Kritik am starren scholastischen Universitätsbetrieb, der letztlich nur auf eine Anhäufung gelehrten Wissens abzielt, aber eine moralisch-ästhetische Konstante vermissen lässt, zum anderen die Entdeckung der Antike als idealische Kultur, die es zu adaptieren gilt (Horstmann 1978a: 53). Die neue Konzeption von Philologie, wie sie innerhalb des Göttinger Kreises um Johann Matthias Gesner (1691-1761) und vor allem Christian Gottlob Heyne (1729- 1812) entsteht, versucht diese Momente auszumerzen. Sie versteht sich nicht mehr länger als ancilla theologiae 5 , sie will auch keine inhalts- und sachenleere Formal-Philologie und reine Aufbereiterin antiker Texte mehr sein. So ist die Entwicklung der Klassischen Philologie ab Mitte des 18. Jahrhunderts von einem immer stärkeren Streben nach Unabhängigkeit gekennzeichnet (Horstmann 1978b: 30). Maßgebliche Schritte in diese Richtung vollziehen sich im bereits erwähnten Göttinger seminarium philologicae unter der Leitung Christian Gottlieb Heynes. Heyne setzt der von ihm kritisierten „geist- und sachenleeren“ Philologie, die eine reine „Service-Funktion“ 6 (Horstmann 1978b: Jahrhundert beginnt damit als kulturelle Epoche erst ab den 1830er Jahren als „Zeitalter der Wissenschaft, der historischen Bildung, des Realismus und ‚Illusionsverlustes‘ […]“. (Schnädelbach 1983: 15; vgl. zu den Epochengrenzen: Leventhal 1986; Schnädelbach 1983, v.a. 15f. und 25-48) 4 Eine wichtige Rolle für die Etablierung dieser Diskursformation ‚Neukonzeptualisierung der Philologie‘ spielt mit Sicherheit der veränderte publizistische Markt der Zeit. Bereits in der Aufklärung begann das Zeitschriftenwesen zu boomen und wurde nun endgültig zu einer öffentlichen Plattform für wissenschaftlichen Austausch. Die bürgerliche Gesellschaft hatte den Leser sozusagen als Ansprechpartner für ihre Ideen entdeckt. Dass sich auf diese Weise ein Diskurs kreieren lässt, der relativ rasch soziohistorische Geltung und Einfluss erlangt und somit im Foucaultschen Sinne auch „Macht“ erhält, versteht sich von selbst. Vgl. zum publizistischen Markt z.B. Alt 1996: 45-48. 5 Siehe zur Abkehr von der Theologie v.a. Friedrich August Wolfs Konzeption der Altertumskunde im folgenden Teilkapitel. 6 Dass die Philologie bis dato tatsächlich eine rein zuarbeitende Funktion gegenüber den anderen Wissenschaften erfüllt hatte, zeigt sich recht deutlich an der Überschrift für das im ersten Band der Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart von Conrad Bursian enthaltene Kapitel (Drittes Buch) über die Entwicklung der Klassischen Philologie während des 17. Jahrhunderts bis zu „Die Verwandlung der Welt“ 38 31) gegenüber den anderen Wissenschaften erfüllt, eine Konzeption von Philologie entgegen, die auf ein inhaltliches Verständnis der Texte und des in ihnen enthaltenen Bildungspotentials zielt (vgl. Horstmann 1978b: 31; Vöhler 2002: 41 u. 49). 7 Gleichzeitig erweitert er das Arbeitsprogramm der Philologie: Neben dem Studium der antiken Literatur soll das Studium der Klassischen Philologie auch Geschichte, Mythologie, Philosophie, Religion, Ethnologie, Geographie, Natur und Kunst der Antike beinhalten (vgl. Vöhler 2002: 50f.). Über diese Fokussierung des Bildungspotentials der antiken Kulturen bedeutet Philologie in dieser neuen Konzeption […] not simply the critical reconstruction of texts but the comprehensive activity of seeking to understand historical cultures through textual analysis and interpretation. (Leventhal 1986: 245) Die entscheidende Transformation innerhalb des traditionellen Konzepts ‚Philologie‘ ist also deren Wandlung von einer rein rekonstruierenden zu einer erkenntnisvermittelnden Tätigkeit, einer autonomen Verstehenswissenschaft. Diese Neukonzeptualisierung mit ihrer Fokussierung der Erkenntnis und deren Vermittlung wird von da an integraler Bestandteil des Selbstverständnisses der philologischen Disziplinen sein. Vorbereitet wurde diese Wendung im Wesentlichen durch mehrere Entwicklungen, die das Geistesleben des späten 18. Jahrhunderts in Deutschland maßgeblich prägten: Das Entstehen eines historischen Selbstbewusstseins 8 , ein „neuer“ Sprachbegriff, der dem Geschichtsbewusstsein und dem Bildungsideal der deutschen Romantik Rechnung trägt sowie eine bildungsgeschichtliche Notwendigkeit: Ohne ihre Autonomisierung und die Integrierung einer moralisch-ästhetisch bildenden Komponente wäre die Philologie in ihrem traditionellen Verständnis zu einer reinen Hilfsdisziplin ohne wissenschaftlichen Anspruch verkommen. Damit in Verbindung steht ein neuer Anspruch gegenüber den Wissenschaften und einer neu legitimierten Suche nach Erkenntnis. Wissen und Wissenschaft erfahren im 19. Jahrhundert Friedrich August Wolf: „Die Philologie als Dienerin anderer Wissenschaften und in ihrer allmählichen Entwickelung zur Selbständigkeit“. Signifikant ist auch, dass Bursian bei seiner Schilderung der Klassischen Philologie im Deutschland des 18. Jahrhunderts Wolf ausnimmt und diesen dann an den Anfang der Philologie als Altertumswissenschaft stellt, August Boeckh wird dann zusammen mit Gottfried Hermann als Fortsetzer dieser Entwicklung behandelt (Bursian 1883: 260, 357, 517, 665; vgl. hierzu auch Horstmann 1978b: 30). 7 Kopp/ Wegmann verweisen zwar darauf, dass die Kritik und der Reputationsverlust der Philologie nicht erst Phänomene des 18. Jahrhunderts sind, von einer richtigen Krise der Disziplin aber wohl tatsächlich erst ab den 1750er Jahren zu sprechen sei und ab diesem Zeitpunkt auch eine gezielte Suche nach Abhilfe erkennbar werde. (Kopp/ Wegmann 1987: 127). 8 Gauger nennt diese Entwicklung als Grundbedingung für das Entstehen eines historisch-philologischen Studiums (Gauger 1981: 25) Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 39 eine Neubewertung, ins Zentrum der Diskussion um Wissenschaftlichkeit rücken Objektivität, methodische Stringenz, gesicherte Empirie und die Überprüfbarkeit der gewonnenen Erkenntnis. Auf dieses neue Verständnis muss die Philologie reagieren, will sie nicht wie die Philosophie ab den 1830er Jahren dem Vorwurf begegnen müssen, ihre Erkenntnisse beruhten auf bloßer Spekulation und seien aufgrund ihrer Unkontrollierbarkeit zu subjektiv. 9 Nicht zuletzt ist das neue Selbstverständnis der Philologie in Verbindung mit der Schaffung institutioneller Bedingungen in Form der Gründung reformierter Universitäten zu sehen. 10 Diese Punkte sollen im Einzelnen hinsichtlich ihrer Bedeutung für den (alt)philologischen Diskurs knapp umrissen und die Entwicklungen hinsichtlich des Wissenschafts-, Sprach- und Geschichtsdenken holzschnittartig dargestellt werden, da sich hier bereits deutliche Hinweise auf die Klassifikatoren herauskristallisieren, die bei der Zuordnung der einzelnen Diskurselemente zu einer Diskursformation und damit der gezielten Evozierung bestimmter Wissensrahmen eine wichtige Rolle spielen. 3.1.1 Der nach Erkenntnis suchende Mensch und das neue Wissenschaftsverständnis Wissenschaft ist die vollkommenste Erkenntniß. Diese ist das Produkt von dem vollkommensten Gebrauche des ganzen Erkenntnißvermögens überhaupt, und in so ferne man die Form der Erkenntniß in Betracht zieht, des Denkvermögens. (Schmid 1794: 348) Das 19. Jahrhundert wird allgemein als das Jahrhundert der Wissenschaften, vor allem als das Jahrhundert der Naturwissenschaften bezeichnet, die Zeit um 1800 wird dabei gern als Wendepunkt zwischen alter und neuer Wissenschaft gesehen, eine Entwicklung, die man vor allem den theoretischen Überlegungen Immanuel Kants (1724-1804) zuschreibt. Kant geht davon aus, dass die Grundbedingung jeglicher Erkenntnis die Vernunft sei, in seiner Schrift Streit der Fakultäten plädierte er eindringlich für die Ablösung der absoluten Instanz Gott durch die absolute Instanz Vernunft (vgl. Kant 1798). Die damit verbundene Aufwertung der Philosophie schlägt sich in einem Aufstieg der philosophischen Fakultät und einem gesteigerten Selbstbewusstsein nieder, Philosophie entwickelt sich unter diesen Vorzeichen zur Vorzeigewissenschaft (Baumgarten 1997: 13). Wissen und 9 Die Philosophie als Wissenschaft, deren Aufgabe eine spekulative und systematisierende Deutung der Welt war, geriet nach Hegels Tod 1831 in eine Krise, von der sie sich nur äußerst schwer erholte. Mit am nachhaltigsten wirkt auf die Etablierung der Romanischen Philologie in der Folgezeit der Verlust der Führungsrolle der Philosophie als Leitbild für Wissenschaftlichkeit (Schnädelbach 1983: 88/ 89). 10 Auf diese institutionelle Seite wird im Folgenden nicht weiter eingegangen, vgl. dazu beispielsweise Baumgarten 1997; Kalkhoff 2010. „Die Verwandlung der Welt“ 40 Erkenntnis war in der Kantschen Wissenschaftskonzeption apriorisch gedacht: Durch Reflexion gelangt der Mensch aufgrund seiner Vernunft zu einer wahren Erkenntnis, die auf der Anschauung erfahrungsbezogener Seinskategorien beruht. 11 Menschliche Vernunft war imstande dieses Erkenntnisziel zu erreichen, weil sie bei Kant noch einer stabilen Konstante entsprach, der Mensch als Subjekt, das seine Welt gestaltet, kann das erkennen, was er geschaffen hat. Sein Wissenschaftsverständnis hat Kant vor allem in seiner 1787 erschienenen Schrift Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften dargelegt, in der er begründet, wie eine Wissenschaft als Metaphysik möglich ist. Im Zentrum von Kants Überlegungen steht, wie bereits angedeutet, die Vernunft. Über die Vernunft, so die Überzeugung Kants, könne der Mensch mittels einer gesicherten Methode zu Erkenntnissen gelangen, die Wahrheitserkenntnis gleichkomme. 12 Daraus ergeben sich mehrere Implikationen für die Definition von Wissenschaft: Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodictisch ist; Erkenntniß, die blos empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. (Kant 1787: V) Wissen erweist sich nicht mehr als Anhäufung gesicherter und tradierter Wissensbestände. 13 Kant fordert für jegliche Erkenntnis einen Wahrheitsgehalt (Diemer 1968: 27/ 28). Dies führt wiederum zu einem Primat der Philosophie im Kreis der Wissenschaften, den einzelnen Disziplinen wurde eine Philosophie beigeordnet. Diesem Prinzip liegt die Idee zugrunde, dass Wahrheit ein Merkmal jeglicher philosophischer Erkenntnis ist - eine These, die von Hegel dahingehend radikalisiert wurde, dass der Gegenstand der Philosophie Wahrheit sei. 14 Bei der Analyse der Philologiekonzeptionen, die sich auf diese Prämisse berufen, wird daher stets eine Verbindung von empirischer und philosophischer Methode im Zentrum der methodischen Diskussion stehen. Denn, und dies ist innerhalb der Kantschen Wissenschaftskonzeption essentiell, wissenschaftliche Erkenntnis als wahre Erkenntnis ist nicht dadurch gekennzeichnet, dass sie in irgendeiner Form 11 In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass das Ding an sich auch in der Philosophie Kants nicht in seiner Tatsächlichkeit erkannt werden kann, sondern nur das Abbild der Dinge in der Erfahrung. Der Verstand kann sich den Dingen also nur annähern. Die maximale Annäherung an Erkenntnis kann Kant zufolge nur erreicht werden, wenn die ontologische Kluft zwischen dem subjektiv durch Emotionen getrübten Blick des Individuums und der Objektivität der Welt an sich erkannt und über die Konzentration auf die ratio als Leitkategorie im Erkenntnisprozess ausgehebelt wird (vgl. hierzu z.B. Wille 2009). 12 Zum Wissenschaftsbegriff Kants und dessen Einfluss auf die moderne Wissenschaftskonzeption vgl. z.B. Berger 2006: 220ff.; Boboc 2001; Diemer 1968: 1-62. 13 Implizit ist hier die Auseinandersetzung der Philologie mit dem Spannungsfeld ‚Aggregat vs. System‘ erkennbar. 14 Vgl. zu Hegels Wahrheitsbegriff Schnädelbach 1999. Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 41 über rein empirische Methoden messbar, sondern, dass sie über vernunftmäßige Einsicht nachvollziehbar ist. Als wissenschaftliche Disziplin, die diese Anforderung Kants am vollkommensten erfüllen kann, erweist sich die Mathematik: Ich behaupte aber, dass in jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist. Denn nach dem Vorhergehenden erfordert eigentliche Wissenschaft, vornehmlich der Natur, einen reinen Theil, der dem empirischen zum Grunde liegt, und der auf Erkenntniß der Dinge a priori beruht. Nun heißt etwas a priori erkennen, es aus seiner bloßen Möglichkeit erkennen. (Kant 1787: VIII/ IX) Eine weitere Implikation der Kantschen Wissenschaftskonzeption ist für die Auffassung von Wissenschaft um 1800 ebenfalls bestimmend. Betrachtet man Wissenschaft im Kantschen Sinne als eine Gesamtheit von Wahrheiten, so ist es notwendig, die einzelnen Elemente miteinander zu verbinden. Hier führt Kant den Begriff des S y s t e m s ein, der grundlegend in seiner Theorie ist. Nur ein System, in dem sich die einzelnen Disziplinen über das Postulat des Wahrheitsanspruches zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, lässt sich nach Kant als Wissenschaft definieren. Dieses System der Wissenschaften in seiner Gesamtheit ist idealiter in einer Enzyklopädie beschreibbar - das Zeitalter der großen Enzyklopädien war zwar bereits mit Francis Bacon (1561-1626) angebrochen, im 18. Jahrhundert aber erlebte die Enzyklopädie als Möglichkeit, in einem Kompendium das gesamte gesicherte Wissen der Menschheit niederzuschreiben, einen erneuten Höhepunkt. Der Systembegriff wird für die Wissenschaft in Deutschland bis in die 1830er Jahre teilweise konstituierend bleiben, die Unendlichkeit wissenschaftlichen Forschens hatte ja bereits Wilhelm von Humboldt klar erkannt. Verhandelt wird dabei die Frage, ob diese Unendlichkeit einen Bezugsrahmen in Form der Annäherung an einen idealen Endzustand, wie er beispielsweise durch Nachahmung der antiken Gesellschaft erreicht werden sollte (Kant, Wolf, in Ansätzen auch Humboldt), erhalten könne oder ob dieses Ideal vielmehr in eine offene Dynamik des stetigen Fortschrittes zu überführen sei. Letztere Annahme bildet die Voraussetzung, warum sich auch in der philologischen Konzeption Boeckhs dieser Gedanke des nie endenden Forschens wiederfinden lässt, im Gegensatz zu Wolf allerdings, überführt in einen offenen Wissensraum. 15 Gerade in den Philologien wird sich das Bestreben ‚Wahrheit‘ zu finden, noch eine ganze Weile halten, be- 15 „Dies vorausgeschickt sieht man leicht, dass bei der inneren Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten alles darauf beruht, das Princip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie zu suchen.“ (Humboldt [1809/ 1810] 1964: Bd. IV, 257) „Die Verwandlung der Welt“ 42 vor auch hier die Konzeption der Wissenschaft als „Handlungs- und Interaktionssystem“ (Schnädelbach 1983: 117) dominant wird. In Kants Wissenschaftskonzeption zeigt sich bereits der Einfluss des Empirismus: Kant lässt sich eine Scharnierfunktion zwischen altem und neuem Wissenschaftsverständnis zuschreiben. Eine rein intuitive Gewähr der menschlichen Erkenntnisse lehnt er ab, um Erkenntnis als wahr bezeichnen zu können, muss zu einer rein apriorischen Anschauung die Methode als Gewährsmann treten. Kant verbindet auf Vernunft basierende Einsicht und empirische Forschungsmethode. Der Mensch als fragendes und forschendes Subjekt rückt im Licht der Kantschen Überlegungen in den Blickpunkt. 16 Der Mensch als Vernunftwesen ist somit in der Lage, die geschichtliche Welt als seine Wirklichkeit erkennen zu können. Als ein Sinnbild des neuen Wissenschaftlers wird allgemein Goethes Faustfigur, vor allem in der Gegenüberstellung mit Wagner, seinem Adlatus, gesehen. In den beiden Figuren treffen alte und neue Wissenschaft aufeinander: Während Wagner 17 sich mit dem Deklamieren und der Lektüre der Alten zufriedengibt, will Faust erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Ein Erkennen dieses innersten Zusammenhangs erlaube eine Teilhabe am göttlich Ewigen, so suggeriert es das Faustische Streben nach Erkenntnis. Im Faust deutet sich bereits eine Überwindung der Spaltung zwischen Vernunft und Seele an, die romantisch-idealistische Idee, diese ursprüngliche Einheit wiederherstellen zu können, ist der Faustfigur immanent. 18 Faust will nicht nur mit dem Verstand erkennen, sondern auch mit der Seele: 16 Dieses neue Menschenbild ist durchaus auch kritisch zu hinterfragen „So betrachtet, ist es nach Foucault ein epistemischer Paradigmenwechsel, wenn zu Ende des 18. Jahrhunderts durch Kant die Auffassung vom Menschen sich dahingehend radikal wandelt, daß der Mensch als transzendentales Subjekt nun selbst zur Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis wird. Ist Erkenntnis zudem dabei eingeschränkt auf den endlich empirischen Menschen, so wird, wie Foucault es nennt, der Mensch nun zur ,empirisch-transzendentale[n] Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was jede Erkenntnis möglich macht.‘ (Foucault 1993b: 384) So unterscheidet das seit Kant übliche vernunftmetaphysische Denken, etwa auch bei Fichte oder Hegel, zwischen absolutem Ich respektive absolutem Geist und dem empirischen Subjekt.“ (Gander 1998: 203) 17 Der, angesichts der negativen Einstellung Goethes gegenüber den Philologen, wohl den Prototyp eines solchen verkörpert. 18 So schreibt Schiller am 23. Juni 1797 an Goethe: „Die Duplizität der menschlichen Natur und das verunglückte Bestreben, das Göttliche und Physische im Menschen zu vereinigen, verliert man nicht aus den Augen […]. Kurz, die Anforderungen an den ‚Faust‘ sind zugleich philosophisch und poetisch, und Sie mögen sich wenden, wie Sie wollen, so wird Ihnen die Natur des Gegenstands eine philosophische Behandlung auflegen, und die Einbildungskraft wird sich zum Dienst einer Vernunftidee bequemen müssen.“ (zit. nach: Goethe 1986: 428) Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 43 Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nicht erjagen, wenn es nicht aus der Seele dringt […]. (Faust, I, 534/ 535) So lassen sich an Faust nicht nur Kantische Züge erkennen, der Faustcharakter steht bereits zwischen Kantischem Vernunft- und Hegelschem Geschichtswesen. Ging Kant noch davon aus, dass der Mensch als Konstante an der Geschichte aktiv mitwirkt, so findet sich bei Faust bereits die Skepsis gegenüber diesem anthropozentrierten Weltbild. Faust geht von der Existenz eines Weltgeistes aus, sein Ziel ist es, über immerwährende Forschung einen Anteil an diesem göttlich Absoluten zu erlangen, er strebt nach diesem Moment der unendlichen Erkenntnis. In der Romantik war die Vernunft allein zu einer zu unsicheren Konstante für die menschliche Erkenntnis geworden, war doch auch sie der Historisierung unterworfen. Die Entdeckung des Menschen als ein den geschichtlichen Zufällen, Konditionen und Kontexten unterworfenes Subjekt, das in den Verlauf der Historie eben nicht aktiv-kreativ einzugreifen imstande war, hatte auch eine Historisierung der Vernunft zur Folge, die die Philosophie als Idealmodell wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns in eine tiefe Krise stürzen sollte (vgl. Schnädelbach 1983). 3.1.2 Entdeckung des historischen Selbstbewusstseins Die Entdeckung der Geschichtlichkeit des Menschen implizierte, dass eine Sinnsuche über das Werden und Sein des Menschen stets im Hinblick auf seine geschichtliche Entwicklung stattzufinden habe. Die ganze Schöpfung lebt jetzt von einander: das Rad der Geschöpfe läuft umher, ohne daß es hinzuthue: es zerstört und bauet in den genetischen Schranken, in die es der erste schaffende Zeitraum gesetzt hat. Die Natur ist gleichsam durch die Gewalt des Schöpfers vollendete Kunst worden und die Macht der Elemente in einen Kreislauf bestimmter Organisationen gebunden, aus dem sie nicht weichen kann, weil der bildende Geist sich allem einverleibt hat, dem er sich einverleiben konnte. Daß nun aber ein solches Kunstwerk nicht ewig bestehen könne, daß der Kreislauf, der einen Anfang gehabt hat, nothwendig auch ein Ende haben müsse, ist Natur der Sache. Die schöne Schöpfung arbeitet sich zum Chaos wie sie aus einem Chaos sich herausarbeitete: ihre Formen nützen sich ab: jeder Organismus vereint sich und altert. Auch der große Organismus der Erde muß also sein Grab finden, aus dem er, wenn seine Zeit kommt, zu einer neuen Gestalt emporsteigt. (Herder 1786: 393/ 394) In diesem Zitat aus Herders Geschichte der Menschenbildung zeigt sich klar die Veränderung im Geschichtsdenken Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts. Geschichte wird nun konzipiert als ein kontinuierlicher Kreislauf, ein dynamischer Prozess, der Bedingungen und Kontexte des menschlichen Seins stetig verändert und damit auch den Menschen selbst. „Die Verwandlung der Welt“ 44 Erkennbar ist auch der Vergleich der Geschichte mit einem Organismus, der die Phasen Geburt, Aufblühen und Niedergang erlebt, diese organischen Gesetzmäßigkeiten wiederholen sich ständig. 19 Geschichte ist in dieser Auffassung nicht auf ein Ziel, auf das Erreichen eines vollkommenen Zustands ausgerichtet, sondern bildet eine Art Spurrinne für den Menschen, in der dieser sein Gewordensein im Rückgriff auf seine Geschichtlichkeit zu erkennen vermag. Dieses Geschichtsdenken beeinflusste um die Jahrhundertwende die Bildungskonzeption und die Wissenschaft. 20 Bildung wurde durch geschichtliches Forschen möglich, das großangelegte Projekt „Bildung durch Wissenschaft“ sollte zu einer Aufklärung über die Menschheitsgeschichte in ihrem Sein und Werden führen: Die Geschichte ist das Bewußtwerden und das Bewußtsein der Menschheit über sich selbst. Die Epochen der Geschichte sind nicht die Lebensalter dieses Ich der Menschheit, — es altert nicht, es bleibt auch nicht was es war oder ist —; Stadien der Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Gotterkenntnis […]. Die Geschichte ist das Wissen von sich, ihre Selbstgewissheit. (Droysen (1868): § 88, § 91) Dieses Zitat aus den Grundlagen der Historik von Johann Gustav Droysen (1808-1884) trifft den Nerv der Zeit. Bildung fällt im 19. Jahrhundert mit historischer Bildung zusammen. Geschichte wird nun gedacht als eine Möglichkeit, die Entwicklung der Menschheit in einen sinnhaften Zusammenhang zu bringen. Der Geschichtsschreibung fiel dabei die Rolle zu, im Gegensatz zur früheren bloßen Aneinanderreihung chronologischer Daten, die Ereignisse strukturhaft zu verbinden und so zu einer Bildungsgeschichte zu werden. 21 Diese Entwicklung ist vor dem Hintergrund der Theorie der Volksgeister von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) zu sehen. Hegel begreift Geschichte als den Prozess der Bewusstwerdung des Menschen in seiner Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit lässt sich definieren als das Produkt der vom Menschen geschaffenen Kulturgemeinschaft, deren Sitten und Gebräuche sich in Form einer Sprache der Gesellschaft äußern. Diese Sprache, die bei Hegel sämtliche kulturellen Leistungen einer Gesellschaft um- 19 Zum Geschichtsdenken Herders vgl. z.B. Löchte 2005; v.a. 13-17. 20 Selig 2010 verweist in diesem Zusammenhang auf den historischen Gesetzesbegriff, der von den Forschern auf die Geschichte gelegt werde, um Kontinuitäten sichtbar zu machen. Dieser sei mit dem naturgeschichtlichen Gesetzesbegriff eng verbunden, beide gehen dann auch in den naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff ein, der besonders im Hinblick auf die Sprachwissenschaft Bedeutung erlangen wird (vgl. Selig 2010 [im Manuskript]. 21 Als Erzählerin der Menschheitsgeschichte und Deuterin der dieser innewohnenden Strukturen und Gesetzmäßigkeiten wurde die Geschichte respektive die Geschichtswissenschaft auch von Philologie und Sprachwissenschaft rezipiert. Vgl. zu deren gegenseitiger Beeinflussung wie auch der methodischen Zusammenhänge unter Einbeziehung sozialgeschichtlicher Faktoren v.a. Lebsanft 2003. Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 45 fasst, ist der sogenannte Volksgeist, der dem Prinzip der historischen Entwicklung bei Hegel zugrunde liegt. Die Volksgeister verbinden sich im Lauf der Geschichte zu einer Kette, deren einzelne Glieder als Elemente des Weltgeistes bestehen bleiben, selbst wenn der einzelne Volksgeist bereits untergegangen ist. 22 Hegels Geschichtsbild ist ein Bild des unaufhörlichen Werdens, das die Teleologie, die dem Kantschen Geschichtsbild als ein Zustreben auf den idealen Zustand der Menschheit noch inhärent ist 23 , aus dem geschichtlichen Denken herausnimmt. 24 Die Spuren, die der Volksgeist hinterlässt, lassen sich vom Historiker lesen, seine Besonderheit ist in seinen kulturellen Hinterlassenschaften zu finden und kann aus der zeitlichen Distanz heraus von den Menschen verstanden werden. Auch wenn in Hegels Philosophie keine explizite Sprachtheorie entworfen wird, so ist doch die Verbindung zu der Vorstellung der Historizität von Sprache deutlich. Die Sprache als eine Spur des Volksgeistes kann als Kulturzeugnis gelesen werden und trägt so zu einem besseren Verstehen des menschlichen Werdens bei. Der Grundgedanke, dass das „Gewordene eine Geschichte“ hat, wird in Hegels Geschichtsverständnis expliziert, aus dieser Grundvoraussetzung der Historizität des Menschen entwickeln sich die in den Historismus führenden geschichtswissenschaftlichen Tendenzen Anfang des 19. Jahrhunderts. Der Historiker begibt sich auf eine Sinnsuche, seine Arbeit fokussiert nun ein Verstehen des Anderen aus der Distanz heraus. Dementsprechend 22 „Der Volksgeist ist zugleich wesentlich ein besonderer, zugleich nichts als der absolute allgemeine Geist, - denn der ist Einer. Der Weltgeist ist der Geist der Welt, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert; die Menschen verhalten sich zu diesem als Einzelne zu dem Ganzen, das ihre Substanz ist. Und dieser Weltgeist ist gemäß dem göttlichen Geiste, welcher der absolute Geist ist. Insofern Gott allgegenwärtig ist, ist er bei jedem Menschen, erscheint im Bewußtsein eines jeden; und dies ist der Weltgeist. Der besondere Geist eines besonderen Volkes kann untergehen; aber er ist ein Glied in der Kette des Ganges des Weltgeistes, und dieser allgemeine Geist kann nicht untergehen. […] Die Besonderheit des Volksgeistes besteht in der Art und Weise seines Bewußtseins, das er sich über den Menschen macht.“ (Hegel 1994: 60/ 61) 23 In diesem Zusammenhang ist auf die jeweilige Konzeption des Fortschrittbegriffes bei Kant und Hegel hinzuweisen. Während die Kategorie Fortschritt bei Kant dadurch gekennzeichnet ist, dass der Mensch als vernunftbegabter Weltbürger aus der Geschichte lernt und so in der Lage ist, sich selbst die ideale Verfassung zu geben, strebt der Mensch bei Hegel nach der absoluten Freiheit. Fortschritt ist bei Kant demnach politisch gefasst. Diese politische Konnotation wird bei Hegel durch eine intellektuell-abstrakte ersetzt: Das Konzept Fortschritt wird von der Vorstellung der Perfektabilität, die bei Kant noch vorhanden ist, befreit und stattdessen an die (prozessual-dialektische) Entwicklung des Weltgeistes gebunden. Vgl. zu diesem grundlegenden Wandel im Fortschrittskonzept z.B. Rosen 2010: 218-239, v.a. 220-222. 24 Vgl. z.B. zu Hegels Geschichtsbild: Cesana 1988: 197ff.; Russel ²2009: 746ff.; Baberowski 2005: 31-62; Schnädelbach 1983: v.a. 49-55. „Die Verwandlung der Welt“ 46 ist es nun auch Aufgabe der Geschichtsschreibung, diesen Zusammenhang herzustellen. So fordert Wilhelm von Humboldt: Mit der nackten Absonderung des wirklich Geschehenen ist aber noch kaum das Gerippe der Begebenheit gewonnen. Was man durch sie erhält, ist die notwendige Grundlage der Geschichte, der Stoff zu derselben, aber nicht die Geschichte selbst. Dabei stehen bleiben, hieße die eigentliche, innere, in dem ursachlichen Zusammenhang gegründete Wahrheit einer äußeren, buchstäblichen, scheinbaren aufopfern, gewissen Irrtum wählen, um noch ungewisser Gefahr des Irrtums zu entgehen. Die Wahrheit alles Geschehenen beruht auf dem Hinzukommen jenes oben erwähnten unsichtbaren Teils jeder Tatsache, und diesen muss der Geschichtsschreiber hinzufügen. Von dieser Seite ist er selbsttätig und sogar schöpferisch […] Auf verschiedene Weise, aber ebenso wohl als der Dichter, muß er das zerstreut Gesammelte in sich zu einem Ganzen verarbeiten. (Humboldt [1821] 1919: 8/ 9) Es gilt die innere und die äußere Seite der Geschichte als einen sinnvollen Prozess darzustellen, diese narrative Form der Geschichtsschreibung zielt auf etwas ganz anderes als die Universalgeschichte, die die geschichtlichen Ereignisse unverbunden und lose, ohne das verbindende Element eines nexus rerum, aneinanderreihte. Das neue „Projekt Geschichte“ will einen Beitrag zur Identitätsfindung leisten (Fohrmann 1989: 32/ 33). Dabei kristallisiert sich rasch heraus, dass die Hegelsche Vorstellung des allumfassenden Weltgeistes, den man als komplementär zur romantischen Vorstellung einer Universalpoesie denken kann, und in dem sich jegliche Differenz aufzulösen vermag, in eine nach Nationalitäten gegliederte Geschichtsschreibung zersplittert, die sich auch auf die Bereiche der Sprach- und Literaturforschung ausweitete. 25 Für die Philologien war im Zusammenhang mit dieser neuen Auffassung der Geschichtsschreibung vor allem eine Entwicklung von Bedeutung, die zunächst hauptsächlich über die Ideen Johann Gottfried Herders (1744-1803) Eingang in die theoretischen Überlegungen fand. Herder schreibt der Sprache bei der historischen Sinnsuche eine zentrale Rolle zu. Herder, wie eingangs bereits gesagt wurde, begreift Geschichte und Geschichtsforschung als einen wichtigen Beitrag zur Erziehung des Menschengeschlechts, den zu leisten sie imstande ist, wenn sie einen Sinnzusammenhang zwischen den geschichtlichen Ereignissen und damit eine Tiefenperspektive in der Geschichtsbetrachtung erreicht, die dann als Ge- 25 Hier sei noch einmal auf Ranke verwiesen, der diese Zersplitterung der Geschichte als großes Ganzes in ihre einzelnen Teile mit der Unmöglichkeit der Universalforschung rechtfertigte. In ähnlicher Weise nimmt auch Droysen Einschnitte in die res gestae vor, indem er unterschiedliche Annäherungen an das Objekt ‚Geschichte‘ erläutert. Vgl. in diesem Zusammenhang zu Droysen vor allem im Hinblick auf dessen Einfluss auf die Sprachgeschichtsschreibung auch Lebsanft 2003, hier 283f. Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 47 schichte der Menschheit einen Beitrag zur Erziehung derselben leisten könne: Hier also liegt das Prinzipium zur Geschichte der Menschheit, ohne welches es keine solche Geschichte gäbe. Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äußern Gegenständen, so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, daß wir beinah ohne Instinkt geboren, nur durch lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektabilität als die Korruptabilität unseres Geschlechts hierauf beruht, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, d.i. eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede. Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts, eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebt… (Herder [1784/ 1785] 2005: 169; Kursivierung wie im Original) Bei Herder findet sich die Verbindung von Geschichte und Erziehung, die über das Medium der Sprache möglich gemacht wird. 26 Geschichte wird über die im Zitat genannten Schlagworte ‚Ganzes‘, ‚Kette‘, ‚Tradition‘ definiert als Universalgeschichte, es gilt die Menschheitsgeschichte als Totalitätshorizont zu entwerfen, in dem die einzelnen Elemente in ihrer Reihung Sinn verliehen bekommen. Das Mittel, diesen aus den Gliedern der historischen Kette herauszulesen, ist dabei die Sprache. Herder denkt Sprache und Geschichte zusammen, die Sprache wird zum Schauplatz der Geschichte, über sie lasse sich, so Herder, der Geist und Charakter einer Nation erfassen: Der schönste Versuch über die Geschichte und mannigfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes und Herzens wäre also eine philosophische Vergleichung der Sprachen: denn in jede derselben ist der Verstand eines Volkes und sein Charakter geprägt. (Herder [1784/ 1785] 2005: 176; Kursivierung wie im Original) Was Herder hier andeutet, ist die Konzeption einer vergleichenden Anthropologie, wie sie gute zehn Jahre später Wilhelm von Humboldt vorlegen wird. 27 Die Verbindung von Philosophie, Geschichts- und Sprachforschung ist ein Projekt, das dem Bildungs- und Erziehungsideal Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts geschuldet ist. Herder geht davon aus, dass der Mensch in der Lage ist über das Bewusstsein seiner Geschichtlichkeit immer tiefere Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte zu erlangen. Historische Forschung der gesamten kulturellen Lebenswelt des Menschen 26 Vgl. zu Herders Verbindung von Sprache und Geschichte z.B. Fohrmann 1989: 19-34; zu Herders Sprachphilosophie z.B. Heise 1998: 13-39; Lau 1999: 112-146. 27 Vgl. zu dieser Parallele zwischen Humboldt und Herder auch Trabant 1990: 50-52. „Die Verwandlung der Welt“ 48 war das Desiderat der Gesellschaft und gleichzeitig der Anspruch an die Wissenschaft. Der Philologie bot sich hier eine Möglichkeit, die Textwissenschaft aus ihrer rein materiellen Legitimation, das heißt, der einer bloßen Bereitstellung der Texte als Quellenmaterial, zu befreien und ihr eine Legitimationsbasis zu verschaffen, die auf der Beteiligung der Philologie an einer neuen, sinnhaften Geschichtsschreibung der Menschheit beruhte. Über die Vorstellung, Sprache lasse den Menschen in seine Vergangenheit blicken und an dieser zusätzlich verstehend partizipieren, erfuhr die Sprache als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung eine Aufwertung, die in der Konsequenz dieser epistemischen Verschiebung in der Wissensstruktur, die den Sprachbegriff für die vor dieser Folie kommunikativ Handelnden definierte, zu einem veränderten Philologiebegriff führte, indem Philologie nicht mehr nur zum Hilfsmedium, sondern zur vermittelnden Instanz selbst zwischen dieser, in der Sprache verborgenen Vergangenheit und der nach Erkenntnis suchenden Gegenwart wurde. Kanonische Texte wurden von Seite der Philologie nicht mehr nur als deskriptives Mittel zu einer Höhenkammgeschichtsschreibung bereitgestellt, sondern Philologie wirkte aktiv mit an der Tradierung von Werten und Normen als Bestandteil des Erziehungsauftrags gegenüber der Menschheit. Diese Anforderung an die Philologie bewirkte einen intradisziplinären Wandel von einer aufklärerischen Philologie im Sinne Wolfs, der über die hermeneutische Bearbeitung des Gegenstandes einen Beitrag zur Antikisierung der Gesellschaft im Namen des humanistischen Bildungsideals - das Erreichen des als ideal vorgestellten Zustands der Gesellschaft - leisten wollte, zu einer romantischen Universalphilologie im Sinne Boeckhs, die der Philologie eine tiefergehende ethische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft einschrieb, um dieser eine Partizipation an der Einsicht in die gesamte Menschheitsgeschichte zu ermöglichen. 3.1.3 Die Entwicklung eines hermeneutisch-philologischen Sprachbegriffes Das zentrale Moment der Neukonzeptualisierung der Philologie als Erkenntnis vermittelnde Instanz geht in seiner Tragweite für die Entstehung der Philologie als wissenschaftliche Disziplin zu großen Teilen auf eine Entwicklung innerhalb der Sprachtheorie zurück, die mit der aufklärerischen Sprachtheorie, wie sie vor allem in der französischen Aufklärung entwickelt wurde, brach. 28 Die Kritik am Sprachbegriff der französischen 28 Die traditionelle Sprachtheorie der französischen Aufklärung war vornehmlich der Auffassung, dass Sprache das Denken abbilde. Mit seiner Sprachursprungstheorie distanziert sich Herder von dieser Annahme und überträgt stattdessen den naturphilosophischen Begriff des Organischen auf die Sprachtheorie: In der Sprache lasse sich weit mehr erkennen als nur die Wiedergabe des Gedankens und die Gesetzmäßigkeiten, die den menschlichen Geist leiten. Vielmehr könne in der Sprache die Eigenheit Kurzer Überblick über die Emergenz einer „neuen“ Konzeption von Philologie 49 Aufklärung konzentrierte sich hauptsächlich auf die Annahme, Sprache habe eine rein repräsentative Funktion. 29 Aufgabe der Sprache war es, ein Inventar an Begriffen zur Bezeichnung der Dinge bereitzustellen. Ihre Rolle war reduziert auf ein reines Instrumentarium, um Erkenntnis zu beschreiben. Die Idee, sprachliche Äußerungen seien von vornherein mit distinktiven Merkmalen und Strukturen ausgestattet, die die Natur einer Sprache prägen und somit auch die Äußerungen in dieser Sprache, ist getragen von den naturphilosophischen, romantischen, idealistischen und neuhumanistischen Strömungen in Deutschland ab den 1770er Jahren. 30 Aus der Vorstellung, in Einzelsprachen manifestiere sich ein bestimmter Volksgeist, speist sich die Idee, den Texten wohne mehr bei als nur „positives Wissen“. Sprache wird betrachtet als konstitutives Element der Kommunikation und Ausbildung künstlerischer und v.a. wissenschaftlicher Theorien: Nicht als Werkzeug der Literatur allein muß man die Sprache ansehen, sondern als Behältniß und Inbegriff; ja gar als eine Form, nach welcher sich die Wissenschaften gestalten. […] Sie ist noch mehr als dies: die Form der Wissenschaften, nicht bloß in welcher, sondern auch nach welcher sich die Gedanken gestalten. (Herder [1768] 1984: 31; 79.) Diese Abwendung von einem rationalistischen hin zu einem romantischidealistischen Sprachbegriff erlaubt es, das alte Konzept der Philologie als rein textrekonstruierende Instanz aufzuheben und um eine moralischästhetische Komponente zu erweitern. Erlaubt doch das philologische Studium der antiken Quellen vor dem Hintergrund dieses romantischidealistischen Sprachbegriffs eine Rekonstruktion und vor allem ein Erkennen der Kultur und des Geistes der antiken Völker, die eine formende Macht auf das erkennende Subjekt ausüben und es somit zu bilden vermögen. Jede Nation hat ein eignes Vorrathshaus solcher zu Zeichen gewordenen Gedanken, dies ist ihre Nationalsprache: ein Vorrath, zu dem sie Jahrhunderte zugetragen, der Zu- und Abnahmen, wie das Mondlicht, erlitten, der mehr Revolutionen und Veränderungen erlebt hat, als ein Königsschatz unter ungleichartigen Nachfolgern: ein Vorrath, der freilich oft durch Raub und Beute Nachbarn bereichert, aber, so wie er ist, doch eigentlich der Nation zugehört, die ihn hat, und allein nutzen kann - der Gedankenschatz ei- des Geistes rekonstruiert und erkannt werden. Dies erlaube das Erkennen der Geschichte eines Volkes aufgrund seiner sprachlichen Hinterlassenschaft. (vgl. Herder 1772; 1784/ 1785) 29 Vgl. hierzu beispielsweise die Sprachtheorie Condillacs. Zur Kritik Herders an Condillac vgl. Herder 1772: 12/ 13. Hintergrund für die, vor allem Herder zuzuschreibende Kritik am rationalistischen Sprachbegriff bildete die Preisfrage der Königlichen Akademie der Wissenschaften von 1760, ob die Sprache Einfluss auf das Denken habe. 30 Vgl. hierzu z.B. Fiesel 1973; Schnädelbach 1983; Gardt 1999. „Die Verwandlung der Welt“ 50 nes ganzen Volks. Schriftsteller der Nation! wie könnt ihr ihn nutzen? und ein Philolog der Nation, was könnte er nicht in ihm zeigen, durch ihn erklären? (Herder 1772: 95) Der Philologe hat im Herderschen Denken die Rolle, die in der Sprache verborgenen Gedanken der Gesellschaft zugänglich zu machen. Hier findet sich der Ansatz zu einer menschenbildenden Theorie, wie sie für die Altphilologie erst durch Wolf und dann durch Boeckh maßgeblich weiterentwickelt wurden. Der Philologie oblag es nun, die „Texte selbst sprechen [zu] lassen“ (Fohrmann 1989: 38). Damit verbunden ist auch eine Neubewertung der Texte als Quellenmaterial. Der Text wurde in diesem Zusammenhang als Ort der Philosophie entdeckt. Es ging der Philologie nun nicht mehr nur darum, die Texte über einen rein sprachlich-mechanischen Zugriff (techné) wieder für andere Wissenschaften les- und nutzbar zu machen. Die zentrale Aufgabe der Philologie war es geworden, die Texte hermeneutisch zu interpretieren und damit auch in ihrem historischen Wert zu rekonstruieren, was eine kreative Tätigkeit des erkennenden Subjekts mitvoraussetzte (ars). 31 Über die Vorstellung, mit Hilfe der Texte könnten Aussagen über die Menschheitsgeschichte getroffen werden, erhielten diese eine neue Funktion. Der Gewinn historischen Wissens erfolgte aus der Distanz heraus, Verstehen wandelte sich zu einer Alteritätserfahrung, was in einer hermeneutischen Wende mündete: statt Rekonstruktion war nun Konstruktion gefordert (Schneider 1999: 246). Dies implizierte einen neuen Verstehensbegriff und ein neues Methodenverständnis. 32 Die ideengeschichtlichen Entwicklungen in Deutschland zwischen 1770 und 1830 bilden die Grundvoraussetzungen für die Transformation der philologischen Disziplin, die es dann erlaubt, zu einem argumentatorischen Modell für die Neuphilologien zu werden. Das Entstehen eines historischen Selbstbewusstseins, die Konzeption eines hermeneutisch-philologischen Sprachbegriffes 33 und die damit erfolgende Abkehr von einer rationalistisch-humanistischen Konzeption der Philologie bilden die Grundsteinlegung für das Entstehen eines historisch-philologischen Studiums in Deutschland. 31 Vgl. hierzu z.B. Schneider 1999: 231-248. 32 Auf Verstehensbegriff und hermeneutische Methode wird in Kapitel 3.4 besonders eingegangen. 33 Vgl. zur Entstehung des philologisch-hermeneutischen Sprachbegriffs Leventhal 1986; Kalkhoff/ Wolf 2010: 75/ 76. Die Emanzipation der ancilla 51 3.2 Die Emanzipation der ancilla: (Alt)Philologie als autonome Wissenschaft Bevor der Prozess der Genese der Neuphilologien im Spiegel ihrer programmatischen Schriften und der daran festzumachenden Diskursformationen beleuchtet werden soll, ist es zunächst nötig, einen Blick auf die Vorbedingungen dieser Diskursformationen zu werfen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gilt die Klassische Philologie als die moderne Wissenschaft überhaupt (vgl. Stierle 1979), sie drängt sich den Neuphilologien als Modell geradezu auf. So ist es nicht verwunderlich, wenn ein großer Teil der Klassifikatoren, die es im Verlauf der Textanalysen erlauben werden, Kategorisierungen vorzunehmen, aus den altphilologischen Konzeptionen 34 stammen. Da sich die Struktur einer wissenschaftlichen Disziplin zwischen den Polen Forschungsprogramm, Gegenstand der Forschung, Methode und Zielsetzung aufspannt, scheint es sinnvoll, diese vier Eckpfeiler für die Konstruktion ‚Altphilologie’ als wissenschaftliche Disziplin herauszuarbeiten und dabei den Fokus auf die für die identitäre Struktur wesentlichen Klassifikatoren zu richten. 3.2.1 Der discours fondateur der Philologie als autonome wissenschaftliche Disziplin: Friedrich August Wolf (1759- 1824) und die Begründung der Altertumswissenschaft 35 In seiner berühmten Würdigung 36 feiert Barthold Georg Niebuhr (1776- 1831) Friedrich August Wolf und dessen Verdienst um die Altphilologie folgendermaßen: 34 Die Begriffe Altphilologie, Altertumskunde, Altertumswissenschaft, Klassische Philologie etc. werden hier gleichbedeutend verwendet. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden die verschiedenen Bezeichnungen immer unklarer voneinander geschieden und schließlich synonym verwendet. Klassische Philologie und Altertumswissenschaft bezeichnen zu Beginn durchaus unterschiedliche Forschungsprogramme, deren Grenzen im Verlauf des 19. Jahrhunderts - wohl auch aufgrund der immer unreflektierteren Verwendung der unterschiedlichen Bezeichnungen - zunehmend verschwimmen. Klassische Philologie sowie Altphilologie dienen hier als eine Art Arbeitstitel für den heterogenen Komplex der einzelnen Schulen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Namen ‚Philologie‘ verbergen. Vgl. hierzu z.B. Horstmann 1978a: 51 sowie v.a. Horstmann 1978b: 28. 35 Selbstverständlich ist Friedrich August Wolf nicht der Einzige, der maßgeblich an der Behebung der „Krise der Philologie“ beteiligt ist. Dennoch sind seine Darstellung der Alterthumswissenschaft als auch seine Encyklopädie wohl doch als die Werke zu betrachten, die die nachfolgenden Aktualisierungen innerhalb der Diskursformation ‚Philologie‘ am stärksten provoziert haben - so ist Wolfs Darstellung die einzige, mit der sich August Boeckh intensiver auseinandersetzt. Vgl. zu weiteren einflussreichen Schriften z.B. Stierle 1979; Eto 2003. 36 In nahezu jeder Abhandlung über Friedrich August Wolf ist dieses Zitat als Legitimationsformel für die Wolfsche Bedeutung bei der Entwicklung der Klassischen Philo- „Die Verwandlung der Welt“ 52 Möge Wolfs Andenken von historischer und Anekdotenbestimmtheit befreit, und er dann, nach dem Bild seiner Meisterwerke, als Heros und Eponymos für das Geschlecht deutscher Philologen von der Nachwelt gefeiert werden. (Niebuhr in: Rheinisches Museum 1827: I; 1, 257) Die Bedeutung Friedrich August Wolfs für die Etablierung der Klassischen Philologie als autonome Einzelwissenschaft, bei Wolf unter dem Etikett der Altertumswissenschaft, ist in der Forschung allgemein anerkannt. 37 Die 1831 erschienene Enzyklopädie, die auf den Vorlesungen Wolfs zur Altertumswissenschaft beruht, welche er seit 1788 an seinem Seminar hielt, dokumentiert diesen Schritt von der Hilfswissenschaft zur autonomen universitären Disziplin. In ihr, wie auch teilweise bereits schon in der 1807 veröffentlichten Darstellung der Alterthumskunde, vollzieht Wolf argumentatorisch diesen Verwissenschaftlichungsprozess und erweitert so die Diskursformation ‚Klassische Philologie‘ um entscheidende Elemente, die die Klassische Philologie als wissenschaftliche Disziplin legitimieren und die in der Folgezeit den Neuphilologien als Grundlage für die eigene Legitimation dienen werden. Diese Versprachlichung der Kategorien, die es letztendlich erlauben, Philologie als eine etablierte und moderne Wissenschaft einzustufen, machen die Wolfsche Enzyklopädie zu einem discours fondateur, in dem Wolf sein Forschungsunternehmen Altertumswissenschaft programmatisch begründet. An diesem discours und den in ihm sich konstituierenden und wirkenden Diskurssträngen werden sich die Modernen Philologien zu großen Teilen abarbeiten, um ihrem Fach eine eigene identitäre Struktur zu verleihen. Daher sollen die Argumentationslinien dieses, für die Legitimation und Identitätsfindung der Neuphilologien wichtigen Textes etwas ausführlicher untersucht werden. 38 logie zur autonomen Einzelwissenschaft zu finden. Zwar wird die darin anklingende Bedeutung der Rolle Wolfs bei diesem Etablierungsprozess in der Regel relativiert, zurück bleibt aber doch stets die an diese Formel gebundene Installation Wolfs als Begründer der neuen Wissenschaft ‚Philologie‘. Vgl. hierzu z.B. Fuhrmann 1959; Horstmann 1978a, b sowie Flashar 1979. 37 Meist wird Wolf sogar als Initiator des neuen Konzepts der ‚Philologie‘ absolut gesetzt, vgl. hierzu z.B. Bursian 1883; Hültenschmidt 1985; Wach 1966. Differenziertere Blicke weisen allerdings auf die Vorbereitung dieser Neukonzeption durch Wolfs Lehrer Christian Gottlob Heyne hin, ohne jedoch die Bedeutung Wolfs, die neue wissenschaftliche Disziplin als Erster in einem System gefasst zu haben, zu schmälern. Vgl. hierzu z.B. Horstmann 1978b; Leventhal 1986; Vöhler 2002. 38 Natürlich war Wolfs Enzyklopädie nicht das einzige Werk, das die Verwissenschaftlichung der Philologie beeinflusste. Allerdings war er der erste, der Philologie vom Gegenstand ‚Text‘ ablöste und die gesamte kulturelle Leistung einer Nation als Forschungsgegenstand einer Institution Altphilologie in den Blick fasste. Noch bei Friedrich Ast findet sich 1808 eine reine Anbindung der Philologie an normative Texte (vgl. Stierle 1979: 267/ 268). Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber die Tatsache, dass Asts Grundriß bereits eine neue Konzeption von Hermeneutik beinhaltet, die sich von der juristischen oder theologischen Hermeneutik entfernt hatte und bei Ast Die Emanzipation der ancilla 53 Wolf legte seiner „Verwissenschaftlichung“ der Altertumskunde das Kantische Postulat nach Systematizität zugrunde, an dem es der Klassischen Philologie bis dahin fehlte. Den ersten Versuch dazu unternahm er bereits 1807 in seiner Darstellung der Alterthumskunde: Diese Betrachtungen [über den aktuellen Stand der Altertumskunde innerhalb der Wissenschaften; J.W.] veranlassen den Wunsch nach einer gedrängten Uebersicht dessen, was die sogenannten philologischen Studien nach ihrem Gehalt und Wesen seyn können und seyn sollen […]. (Wolf 1807: 14). Der Begriff des Systems erhält im Laufe des 18. Jahrhunderts eine essentielle Bedeutung für die Konzeption des modernen Wissenschaftsbegriffs, entscheidendes Kriterium für eine Wissenschaft ist nicht mehr ihr „Gehalt“, sondern ihre Form (Diemer 1968: 23ff.). 39 Klar erkennbar ist in Wolfs Neukonzeption der Altphilologie als Wissenschaft der Leitsatz Kants, nach dem Eine jede Lehre, wenn sie ein System, d.i. ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis, sein soll, heißt Wissenschaft […] Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewißheit apodiktisch ist; Erkenntnis, die bloß empirische Gewißheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich so genanntes Wissen. Dasjenige Ganze der Erkenntnis, was systematisch ist, kann schon darum Wissenschaft heißen, und, wenn die Verknüpfung der Erkenntnis in diesem System ein Zusammenhang von Gründen und Folgen ist, so gar rationale Wissenschaft. Wenn aber diese Gründe oder Prinzipien in ihr, wie z.B. in der Chemie, doch zuletzt bloß empirisch sind, und die Gesetze, aus denen die gegebene Facta durch die Vernunft erklärt werden, bloß Erfahrungsgesetze sind, so führen sie kein Bewußtsein ihrer Notwendigkeit bei sich (sind nicht apodiktisch-gewiß) und alsdenn verdient das Ganze in strengem Sinne nicht den Namen einer Wissenschaft, und Chymie sollte daher eher systematische Kunst, als Wissenschaft heißen. (Kant 1787: V). Zwei Klassifikatoren für ‚Wissenschaftlichkeit‘ treten hier deutlich hervor: das nach Prinzipien geordnete Ganze und das System. 40 Beide finden sich der Grammatik und Kritik funktional zugeordnet wird. Diese dreifunktionale Methode der Philologie impliziert einen „unauflöslichen Sachzusammenhang von Sprach- und Literaturwissenschaften“, der für das Selbstverständnis der Sprachwissenschaft eine wichtige Rolle spielen wird (Stierle 1979: 265). 39 „Mehr und mehr entwickelt sich eine feste innere Struktur; dies gilt vor allem, insofern Wissenschaft mehr und mehr als ein Gesamt von Ideen bzw. Sätzen verstanden wird. Der Ordnungsbegriff der zunächst im 16. und 17. Jahrhundert in pädagogischer Hinsicht verwendet wird, der des Systems - im Deutschen spricht man vom „Inbegriff“, wobei dieser aber nicht so streng „systematisch“ gefaßt ist -, wird nun zur inneren Wissenschaftsstruktur.“ (Diemer 1968: 30) 40 Vgl. hierzu Teilkapitel 3.1.1. „Die Verwandlung der Welt“ 54 sowohl bereits in Wolfs Darstellung der Alterthumskunde als auch in der Encyklopädie wieder, der implizite Verweis auf Kant als anerkannte Autorität ist klar und so lässt sich über diesen der zeitgenössische Hintergrund aufbauen, den Wolf zur Legitimation der Klassischen Philologie als Wissenschaft im Sinne der etablierten Wissenschaften, wie z.B. der Naturwissenschaft, benötigt. Aufgerufen wird die Gültigkeit des Systembegriffs als von Kant gesetzte Norm. Die Evozierung einer solchen Norm dient der Vernetzung der Wissensstrukturen innerhalb der konnektiven Struktur der Kommunikationsgemeinschaft. Wolfs Vorhaben und Ziel kann so von den Rezipienten verankert werden, gleichzeitig bietet es die Möglichkeit, die eigene Konzeption über eine Wiederaufnahme der von ihm gesetzten Diskurse, entweder bejahend oder negierend, zu situieren. Dieses Ziel Wolfs lautet, aus der Hilfswissenschaft Philologie eine „wohlgeordnete philosophisch-historische Wissenschaft“ zu machen, in der die gesamte Kenntnis des Altertums in einem organischen Ganzen vereinigt ist (Horstmann 1978a: 53). 41 Um das Wirken der von Wolf benutzten sprachlichen Klassifikatoren, die eine Kategorisierung der Alterthumskunde als eine solche Wissenschaft erlauben, nachvollziehen zu können, werden größere Textabschnitte zitiert und analysiert, anhand derer die semantischen Funktionen der Klassifikatoren verdeutlich werden können: Was merkwürdig ist, und woraus man sehen kann, dass unser Fach in Hinsicht auf encyclopädische Einsicht zurückgesetzt ist, so dass kaum zu begreifen ist, wie Gesner dies thun konnte, ist, dass von Ideen über Verbindung der Kenntnisse, die man Philologie nennen könnte, nichts da ist. 41 Wolf folgt in der Enzyklopädie auch der zeitgenössischen Unterscheidung von subjektiver und objektiver Wissenschaft. Alterthumswissenschaft ist in seiner Konzeption eine objektive Wissenschaft, Spezialisierung ist in ihr bereits angelegt, er legt keinen Wert mehr darauf, dass das Ganze von einem Einzelnen erfasst werden kann, im Vordergrund steht statt der Gelehrsamkeit einzelner die Gesamtheit der Erkenntnis. Auch ist die Wissenschaftlichkeit der Methode (Hermeneutik und Kritik) bei Wolf an bestimmte Regeln gekoppelt, hier stellt sich die Frage nach der Etablierung eines wissenschaftlichen Standards für die Wissenschaft Philologie, schließlich verlangt Wolf für die Ergebnisse, die über Hermeneutik und Kritik gewonnen werden „intersubjektive Überprüfbarkeit anhand historischer Belege“. (Horstmann 1978: 55) Vgl. zu Wolfs Wissenschaftsbegriff Fuhrmann 1959; Horstmann 1978a; 1978b sowie Vöhler 2002. Zum Wissenschaftsbegriff Ende des 18. Jahrhunderts/ Anfang 19. Jahrhundert vgl. Diemer 1968, v.a. 15-32; zum Wissenschaftsbegriff der Moderne vgl. Schwarz 1999, besonders 30ff. Zur zeitgenössischen Unterscheidung von subjektiver und objektiver Wissenschaft vgl. z.B. Eschenburg 1792: „Wissenschaft ist also, subjektivisch genommen, eine klare und deutliche, zugleich aber auch vollständige Kenntniß zusammenhangender Wahrheiten und Einsicht in ihren Zusammenhang. Objektivisch versteht man darunter die Summe oder den Inbegriff der Wahrheiten selbst, in so fern sie mit einander verknüpft, in einander gegründet, und Gegenstände historischer oder philosophischer Erkenntniß sind.“ (Eschenburg 1792: 4) Die Emanzipation der ancilla 55 Seitdem hat man nichts gethan, sie encyclopädisch zu bearbeiten. (Wolf 1839: 4; Hervorhebungen J.W.) Wolf verweist hier auf das Fehlen einer enzyklopädischen Zusammenfassung der Altertumskunde. Die Enzyklopädie gilt als Grundlage jeder Wissenschaft. 42 In ihr sind die Bestandteile der Disziplin systematisch nach bestimmten Kriterien zusammengefasst. Dieser Mangel soll nun behoben und somit das wichtigste Kriterium für ‚Wissenschaftlichkeit‘ nach den Maßstäben Ende des 18. Jahrhunderts erfüllt werden. Gleichzeitig finden wir hier auch eine explizite Legitimationsformel: Wolf erwähnt Gesner, seinen Göttinger Lehrer. Damit evoziert Wolf gezielt die Dialektik des Lehrer- Schüler Verhältnisses, die ihm eine Art geschützten Raum für eine Erweiterung der Diskurse in der von Gesner und Heyne etablierten Diskursformation ‚Philologie‘ bietet. Fast noch wichtiger ist aber, dass er durch diese Namensnennung die Umdeutung des Philologiekonzeptes, die bereits bei Gesner zu finden ist und die wichtige Veränderungen impliziert, wie beispielsweise eine neue Vorstellung von Universität und Studium, eine neue Idee von Gelehrsamkeit, einen veränderten Sprachbegriff und eine klare Vorstellung von einer autonomen Disziplin, überhaupt als Diskursformation aufbaut und strukturiert, in die sich Wolf nun eingliedern kann. Allerdings benutzt er hier die Legitimationsformel größtenteils als Dekonstruktionsmittel: Es gilt, die tradierten Wissenselemente in den Wissensrahmen um den Begriff ,Philologie‘ durch neue zu besetzen und so die über bestimmte Diskurse aufgerufenen Konnotationsebenen zu verändern. Die Verbindung zur konnektiven Struktur der Diskursformation ‚Altphilologie‘ hat er erreicht, die unmissverständliche Kritik an seinem Lehrer aber wird zur Erweiterung dieser Formation um ein wichtiges Element benutzt: zur endgültigen Autonomisierung der Altertumskunde braucht es eine Enzyklopädie, die „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“ - ein wissenschaftliches System also - verspricht. Dies kann man sehen in Buhle's Grundriss und in Heerens Geschichte des Studiums der classischen Litteratur, Göttingen 1797, wo er sagt, dass dieses Studium seiner innern Beschaffenheit nach nicht ein Ganzes formiren könne, auch nicht eine systematische Anordnung seiner Theile leide, so dass es scheint, als ob diese Kenntnisse entweder Einleitungskenntnisse zu andern oder Anhängsel seyen. Ueber philologische Encyclopädie haben wir nichts, weil es stets schien, als könnten die Kenntnisse, die man humaniora oder Philologie nennt, nicht in ein Ganzes vereinigt werden, was daher kam, dass man blos von der Sprachkunde ausging. (Wolf 1839: 4; Hervorhebungen J.W.) 42 Zur Rolle der Enzyklopädie als Grundlage und Methode für das Studium, in der die Studenten eine Anleitung für ihre Studien finden vgl. z.B. Eto 2003: 65/ 66. „Die Verwandlung der Welt“ 56 Wolf sichert sich bei seiner Erweiterung der bereits bestehenden Diskursformation weiter ab. Erneut findet sich eine anerkannte Autorität - Heeren -, die über das Zitieren als Kollektivsymbol dekonstruiert wird, um eine Öffnung der Diskursformation für ein neues Element zu ermöglichen. Heeren hat eben gerade nicht erkannt, dass die Philologie das Potential zu einer Wissenschaft hat, im Gegenteil, er schadet ihrer Autonomisierung und Etablierung im Kreis der modernen Wissenschaften. Diese Einstellung seiner Zeitgenossen hatte Wolf bereits 1807 in seiner Darstellung der Altertumskunde scharf gerügt und den Vertretern seines Faches damit eine Teilschuld am schlechten Stand der Philologie zugewiesen. 43 Auch inhaltlich ist eine klare Abgrenzung des neuen Philologiekonzeptes erkennbar: sie ist nicht bloß Sprachkunde, sondern umfasst wesentlich mehr - umso nötiger ist die enzyklopädische Bearbeitung des Gebietes. Die bisher oft erfolgte Gleichsetzung der Philologie mit Sprachkunde hat dies verhindert, doch mit diesem Vorurteil und Missstand soll nun aufgeräumt werden: Auch hat es den Anschein, als ob der Mangel an philologischen Encyclopädieen darin seinen Grund habe, dass die humaniora in so viele Theile der Gelehrsamkeit eingreifen und mit ihnen in Verbindung stehen, weil aus ihnen so viele Vorkenntnisse zum Studium derselben hergenommen werden müssen, dass es scheint, man könne sie nicht absondern. Allein dies kann seyn, dass auf diese Weise die verschiedenen andern Wissenschaften mit den philologischen in Verbindung stehen; allein es stehen auch mit jenen andere Wissenschaften auf andere Weise in Verbindung, die für sich ein Ganzes ausmachen. Hier sieht man, zeigt sich die Nothwendigkeit, von einem Fache, wie dieses, eine allgemeine Uebersicht zu erhalten, wodurch man lernt, was die Haupttendenz einer solchen Wissenschaft sey, wie die Theile derselben unter einander zusammenhängen und sich wechselseitig auf einander beziehen. (Wolf 1839: 4; Hervorhebungen J.W.) Dass eine Enzyklopädie vonnöten ist, hat Wolf klargemacht. Aber der Anspruch der Philologie auf Wissenschaftlichkeit und Autonomie muss noch herausgestellt werden. Er greift die alte Vorstellung der Philologie als Hilfswissenschaft für andere Wissenschaften auf und demontiert ihn. Verbindungen zwischen Philologie und anderen Wissenschaften leugnet er nicht ab, aber es gibt diese Verbindungen auch zwischen einer ganzen Reihe anderer Wissenschaften, die bereits als autonom gelten. 44 Philologie er- 43 „Den schlimmsten Dienst aber erweisen einer Wissenschaft oft ihre eigenen Bekenner, indem sie bald ihren Werth und Einfluß auf andere Arten der Bildung zu allgemein darstellen, bald selbst in Verlegenheit gerathen, wenn sie über den Inbegriff [d.i. das System; J.W.] ihrer Bemühungen und deren Zwecke sich deutlich erklären sollen“. (Wolf 1807: 13). 44 Ob hier ein indirekter Verweis auf das Prinzip der Kommunizierbarkeit zwischen wissenschaftlichen Systemen als notwendige Voraussetzung für deren Existenz im Die Emanzipation der ancilla 57 weist sich somit keinesfalls als ancilla, sondern ist den anderen Wissenschaften durchaus ebenbürtig. Die negative Konnotation der Hilfswissenschaft, die der Begriff ‚Philologie‘ bisher beinhaltete, wird abgebaut und eine neue Denotatsebene im Wissensrahmen aufgebaut. Über den Vergleich mit den anderen Wissenschaften gelingt Wolf eine positive Umwertung der Tatsache, dass philologische Ergebnisse zur Erzeugung weiterer Erkenntnisse auch innerhalb anderer Wissenschaften genutzt werden können. Die Beziehung zwischen Ausdrucksseite und Inhaltsseite wird sozusagen semantisch neu „aufgeladen“, das heißt Wolf verändert und aktualisiert die Denotatsebene, wodurch auch eine neue Kontextualisierung des Klassifikators ‚Philologie‘, nämlich als autonome, etablierte, systematische Wissenschaft, möglich wird. Damit vernetzt er den aus den Kantschen Schriften stammenden Diskursstrang um Wissenschaft und System interdisziplinär mit dem Wissensrahmen ‚Wissenschaft‘ der Philologie, den er argumentativ geöffnet hat. In einer solchen Uebersicht werden die engen Vorstellungen, die aus dem Jugendunterrichte herkommen, ausgeschlossen. Denn besonders in diesem Fache herrscht die Idee, das, was man auf Schulen treibe, wäre diese Wissenschaft. Aber das ist so verschieden, als Theologie und Katechismuslehre. Das eigentlich gelehrte Fach ist ein grösseres, als man sich vorstellt nach den jugendlichen Uebungen, obgleich auch diese nothwendig sind, um es als ein Fach der Gelehrsamkeit zu tractiren. (Wolf 1839: 4; Hervorhebungen J.W.) Die Frage nach Autonomie und Systematizität als Kriterien für Wissenschaftlichkeit sind demnach zunächst einmal abgehandelt. Als weiteren Legitimationsgrund für Philologie als Wissenschaft benötigt Wolf noch die Erfüllung eines institutionellen Kriteriums. Der Ort, an dem Wissenschaft stattfindet, ist die Universität. Daher muss er sich gegenüber dem Schulfach abgrenzen. Wieder wird die Komplexität der Disziplin ins Spiel gebracht, um den Wert ihres Gegenstandes zu sichern. Altertumskunde ist mehr als nur das Erlernen der klassischen Sprachen und das Übersetzen der Klassiker. Ein Studium der Klassischen Philologie geht über die gelehrte Beschäftigung mit den alten Sprachen hinaus. Das Gymnasium kann hier nur einen Teilausschnitt bieten, für eine tiefergehende Erfassung des Gegenstands muss ein Universitätsstudium veranschlagt werden. Nur kommt alles auf den Zweck an. Hat jemand den Zweck, sich ihm zu widmen, so ist ihm diese Encyclopädie wichtig als Leitfaden. Für den, der nicht Hauptsache daraus macht, sondern Bekanntschaft mit alten grossen Sinne Luhmanns zu lesen ist, mag dahingestellt sein. Deutlich ist aber, dass Wolf die Möglichkeit des Austausches von Erkenntnis zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen bereits als Vorteil und damit als eine positive Eigenschaft von wissenschaftlichen Systemen wertet. Zu sozialen Systemen siehe Luhmann 1984. „Die Verwandlung der Welt“ 58 Schriftstellern machen will was einer thun kann, ohne Anspruch auf einen Litterator zu machen, wird das encyclopädische Studium eine Anleitung seyn, diese Sache historisch zu kennen und über sie zu urtheilen, und es ist nothwendig zu wissen, an welche Hauptbücher man sich in jedem Theile halten muss, um sich soviel Belehrung zu verschaffen, als zur gelehrten Bildung nöthig ist. In dieser Hinsicht können diese Kenntnisse kein Aggregat philologischer Wissenschaften seyn, sondern müssen als ein Ganzes für sich betrachtet werden. Hier kömmts darauf an, die Hauptnotionen über das Ganze und seine Theile zu geben und dies ist noch wichtiger, als wenn man in einer kurzen Zeit jede Wissenschaft für sich durchgehen wollte. (Wolf 1839: 4/ 5; Hervorhebungen J.W.) In diesem Abschnitt lässt sich eine neue Dimension innerhalb der Legitimation der Altertumskunde als Wissenschaft erkennen. Neben den Diskursen aus den Wissensrahmen um die Begriffe Autonomie, System und Institution wird nun auch das Kriterium ‚Zweck‘ herangezogen, um die Egalität der Disziplin zu bereits etablierten wissenschaftlichen Disziplinen herauszustreichen. Noch einmal macht Wolf deutlich, dass die Philologie ihre Rolle als Hilfswissenschaft verloren hat, ihre Erkenntnisse sind eben nicht mehr reines Aggregat für andere, sondern erfüllen selbst den Zweck eines Studiums. Deutlich wird das Problem des „Aggregats“ angesprochen: Gelang es einer Wissenschaft nicht, ihre Inhalte und Erkenntnisse in Form eines Systems zu präsentieren, das heißt, über logische Verknüpfungen zwischen den Erkenntnissen wurde ein geordnetes Ganzes erreicht, so verharrte die Disziplin im Zustand eines Aggregats, das als loser Verbund verschiedener Inhalte den Kriterien einer modernen Wissenschaft in keiner Weise entsprach. Dieser Gegensatz zwischen Aggregat und Wissenschaft wird über das Nennen des Begriffs ‚Aggregat‘ als Konzept im enzyklopädischen Wissen aktiviert. Damit verbunden ist die Konsequenz für die Philologie, die Wolf hier anspricht: Gelingt es ihr nicht, sich in diesen Systembegriff einzupassen, also ein geordnetes Ganzes zu bilden, so bliebe sie Aggregat und habe keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Wolf macht von Anfang an klar, dass seine Enzyklopädie ein neues Kapitel innerhalb der Diskursformation ‚Philologie‘ aufschlägt. Er betont ihre Gleichstellung innerhalb der etablierten Wissenschaft, indem er die bekannten Klassifikatoren für Wissenschaftlichkeit seiner Zeit ins Spiel bringt: Autonomie, System, Bindung an die Institution Universität und der höhere Wert der Studien. Über diese Klassifikatoren ist es nun möglich, die Philologie auf der kognitiven Ebene endgültig als wissenschaftliche Disziplin im Sinne der Kantischen Definition zu betrachten. Vergegenwärtigt man sich aber noch einmal der Wolfschen Definition der Wissenschaft „Alterthumskunde“, erkennt man rasch, dass zu deren vollständigen Etablierung noch ein paar Lücken zu schließen sind: Die Emanzipation der ancilla 59 Alterthumskunde, — dies der natürliche Name — als Wissenschaft betrachtet, ist der Inbegriff historischer und philosophischer Kenntnisse, durch welche wir die Nationen der alten Welt oder des Alterthums in allen möglichen Absichten durch die uns von ihnen übrig gebliebenen Werke 45 kennen lernen können. (Wolf 1839: 13; Kursivierung wie im Original) Die Synthese der Klassifikatoren ‚historisch‘ und ‚philosophisch‘ ist als Erwiderung auf die Anforderungen seiner Zeit zu lesen: Historisch und philosophisch sind die Pole, zwischen denen die Folie aufgespannt wird, vor der sich Wissenschaft abspielt und die sie in ihrem Anspruch auf Erkenntnisvermittlung legitimiert. Indem Wolf beide in der Philologie zusammenführt, legitimiert er diese ihrerseits als Wissenschaft. Nun muss aber auch noch die Selektion der griechischen und römischen Kultur gerechtfertigt sowie der Wert des Sprachstudiums hervorgehoben werden. Interessant ist, dass Wolf das selektive Moment der Philologie in seinem „Erstversuch“ der Systematisierung und Verwissenschaftlichung der Altphilologie, in der Darstellung der Alterthumswissenschaft von 1807, über eine explizite Legitimationsformel laufen lässt. Er widmet sein Werk Johann Wolfgang von Goethe, dem prototypischen Vertreter eines ideal gebildeten Bürgers. Das signifiant /  / evoziert auf der Assoziationsebene die gewünschten positiven Konnotationen. Diese fügen sich innerhalb eines Wissensrahmens zusammen, der so im mentalen Lexikon durch die Nennung eines „Schlagwortes“ abgerufen werden kann. Damit kann Wolf an die Kollektivsymbolik der idealisierten griechischen Kultur seiner Zeit anknüpfen und sein Ziel ganz klar in der neuhumanistischen Tradition verankern. 46 Den Zeitgenossen, an die sich die Darstellung richtet, dürften die Schriften Humboldts, Winckelmanns und auch Lessings zum Vorbildcharakter der Antike für eine deutsche Nationenbildung bekannt sein, das heißt, das einzelsprachliche Zeichen ist Bestandteil des Weltwissens der Kommunikationspartner, an die Wolf sich richtet. Erneut gliedert sich Wolf so über einen sprachlichen Klassifikator in die konnektive Struktur seiner Zeit ein. Auf eine solche Widmung verzichtet er allerdings in 45 Es ist an dieser Stelle nicht zu klären, ob Wolf den Begriff der „alten Überreste“ im Sinne Droysens verwendet, der hinsichtlich der Quellen folgende Unterscheidung trifft: „Historisches Material ist theils, was aus jener Gegenwart, deren Verständniss wir suchen, noch unmittelbar übrig ist (Ueberreste), theils, was davon in die Vorstellungen der Menschen übergegangen und zum Zweck der Erinnerung überliefert ist (Quellen), theils eine Verbindung beider Formen (Denkmaler).“ (Droysen 1868: §22) Wahrscheinlicher ist, dass sich Wolf auf das Humboldtsche Bildfeld des „Skeletts“ bezieht - dies wäre ja auch einer der Bildspender, die von Droysen herangezogen werden. Droysen hat aber die Enzyklopädie Wolfs mit Sicherheit gekannt, hier fände sich eine mögliche Verbindungslinie bei der Verwendung der Begrifflichkeiten. 46 Zur Rolle Goethes bei der Entstehung der Darstellung und als Vorbild eines durch die intensive Beschäftigung mit der Antike gebildeten Bürgers vgl. z.B. Fuhrmann 1959: 201. „Die Verwandlung der Welt“ 60 seiner Enzyklopädie. Hier läuft die Legitimation des selektiven Moments, ein wesentlicher Bestandteil der Philologie bei Wolf, anders. Zum einen führt Wolf das Argument der Originalität an. Ganz in der Tradition seiner Zeit 47 stehend, hält Wolf die Sprachen für die Bildung am geeignetsten, die möglichst wenig fremde Einflüsse durch andere Sprachen und Kulturen aufweisen, da sie den Geist dieser Kultur unverfälscht weitergeben: Unter den aufgeklärten Völkern aber ist ein Unterschied. Wir müssen mehr sehen auf die originalen d. h. solche, die selbst ihre Cultur geschaffen, als auf die, welche sie von andern angenommen haben. Ein dergleichen Volk waren die Griechen. Viele secula hindurch hatten sie die gemeine bürgerliche Cultur, ehe sie sich nach und nach zur gelehrten Ausbildung fortarbeiteten. Hätten sie letztere durch ein asiatisches Volk erlangt, so würden wir sie früher bei ihnen antreffen. Wenn eine Nation hierin original ist und Cultur sich selbst schafft, so ist in der Sprache eine solche Bedeutsamkeit, dass man vermittelst derselben im eigenen Denken leichter und glücklicher fortschreiten lernt. Und so finden wir die Sprache der Griechen. Bei ihr erscheint nichts Entlehntes, obgleich die ersten Stämme auswärtige waren. Aber die Fortbildung ist so homogen, dass man sieht, sie ist das Werk eines sich selbst bildenden Volkes. Die Bedeutsamkeit liegt darin, dass man von den sinnlichen zu intellektuellen Ideen fortgeschritten ist, dass die Derivation klar und auffallend ist, nicht wie in den Sprachen, die sich durch fremde bereichert, wo man den Grund der Sprache in fremden suchen muss. Im Griechischen sehen wir, wie sich die Bedeutungen der Worte selbst entwickeln. Ferner wirkt die Originalität, dass die Cultur ein treuer Abdruck ihres Geistes und Charakters wird. Die Werke der Beredtsamkeit und Poesie zeigen sich als einheimisch und keine Ideen, die ausländisch wären, wie die neuere Litteratur ist. Daher kann man in keinem neuern Stylisten fortkommen, ohne etwas vom Alterthume zu wissen. So haben die Griechen die schönen Formen aufgegriffen, ohne etwas Fremdes hinzuzunehmen. Daher tragen ihre Werke das Gepräge ihres Geistes. (Wolf 1839: 32) Über die Beschäftigung mit der Sprache können Charakter und Kultur der Antike in das eigene Selbst inkorporiert werden und den Menschen so zu einem intellektuellen Individuum veredeln. 48 Dabei weist Wolf dem Griechischen einen Sonderstatus aufgrund seiner Originalität zu, der ein Studi- 47 Verwiesen sei an dieser Stelle an die Mischsprachendebatte bei August Pott oder auch Wilhelm von Humboldt. Pott spricht sich in dieser Debatte deutlich für den höheren Wert derjenigen Sprachen aus, die im Laufe ihrer Entwicklung nur wenig an Superstrateinflüssen erfahren haben (vgl. Pott 1840: 41ff.). 48 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass die Fremderfahrung fester Bestandteil des eigenen Selbst wird. Gemeint ist hier nicht nur eine auf Reflexion und Nachfühlen basierende Erfahrung, die das Wissen des Individuums zwar vergrößert, aber nicht Teil der Persönlichkeitsstruktur wird. Dies ist ein grundlegender Unterschied zu den Konzeptionen der Neuphilologien wie sie beispielsweise bei Adolf Tobler 1890 anzutreffen sein werden. Die Emanzipation der ancilla 61 um derselben besonders lohnenswert erscheinen lässt, da die griechische Sprache sehr rein und damit vorbildhaft für die Entwicklung des Geistes sei. Wolf zeigt sich hier noch dem Gedanken der Klassik verhaftet, über eine verstehende Nachahmung 49 der idealen Kultur der Griechen könne ein solch idealer Zustand auch für andere Gesellschaften erreicht werden. Die Vorrangstellung des Griechischen wird aber nicht nur über den Topos der Reinheit und Unverfälschtheit - und damit über den besonderen moralischen Wert 50 - legitimiert, sondern zusätzlich über weitere Faktoren abgesichert. Außerdem wird hier noch einmal der Bildungsgedanke genauestens dargelegt: Die Griechen als ein sich selbst bildendes Volk gelangen über die Kontinuität in ihrer Entwicklung - und dies ist mit Fortschritt im Denken gleichzusetzen - zum höchsten Stand einer Kultur. Kontinuität bedeutet hier homogene Entwicklung auch in Bezug auf die Sprache: Da die griechische Sprache kaum fremde Elemente aufgenommen habe, sei sie besonders ästhetisch und damit ein geeigneter Bildungsgegenstand. Ferner zieht Wolf nämlich den zeitlichen Abstand zur griechischen Kultur heran, um deren Belang für die Neuzeit besonders zu betonen: Je weiter sie entfernt sind, desto mehr Eigenthümliches müssen sie haben, desto mehr Seiten der menschlichen Natur lernen wir kennen, so wie der mehr Menschenkenntniss erlangt, der mit fremden Menschen und Nationen, als der mit eigenen Landsleuten sich beschäftigt. Die Beschäftigung mit einem alten Volke, das sehr entfernt ist, muss auch mehr Ausbeute geben. (Wolf 1839: 35) Damit ebnet Wolf bereits die Bahn für die Zerschlagung des Nützlichkeitsarguments, das die philanthropische Bildungskonzeption beinhaltet, die den Vertretern der klassischen Sprachen, deren Wertlosigkeit in Bezug auf den praktischen Nutzen, den Sprachbeherrschung haben sollte, zum Vorwurf macht. Erneut stellt Wolf den sittlichen Bildungswert, den die klassischen Sprachen für das einzelne Individuum und damit letztendlich für die ganze Gesellschaft haben, über pragmatische und utilitaristische Zwecke. Die ideologische Unterfütterung der Philologie als ein Verstehens- und Verbesserungsangebot an eine bestimmte Gesellschaft ist klar erkennbar. 49 Gemeint ist damit nicht nur ein unreflektiertes Epigonentum, sondern ein durch Einsicht geleitetes Nachempfinden der griechischen Kultur. 50 Diesen moralischen Wert der griechischen Kultur betont Wolf im Folgenden besonders: „In Rücksicht auf moralische Grösse sind auch die Griechen ausgezeichnet. Sie verschwindet im Zeitalter Philipps von Macedonien. Wenn bis dahin grosse Charaktere vorzüglicher Menschen sich bildeten in Rücksicht auf den Geist, so lässt sich denken, dass sie moralische Güte besessen, und man kann wahrscheinlich annehmen, dass die edelsten auch in Hinsicht auf Tugend und moralische Vollkommenheit eine hohe Stufe einnehmen. Die Beschäftigung mit solchen Charakteren muss Erhabenheit der Denkungsart, und, was das Wichtigste ist zu allen Zeiten, Verachtung alles Gemeinen, — diese Empfindung muss ein solches Studium früh einpflanzen. Daher hält auch der Engländer classische und liberale Erziehung für einerlei.“ (Wolf 1839: 35) „Die Verwandlung der Welt“ 62 Philologie bietet mehr als Darstellung und Anhäufung von Wissen, sie lädt den Menschen ein, an Erkenntnis zu partizipieren und damit zu einem veredelten Individuum zu werden. Dieses hoch gesteckte Ziel wird im Verlauf der Legitimation der alten Sprachen als Forschungsgegenstand immer deutlicher. Wolf muss den Nützlichkeitsgedanken als Anforderung an ein Sprachstudium endgültig entkräften. Er argumentiert dabei mit der immensen Bildungskraft für Verstand, Seele und Moral, die der Antike innewohnt: Bei den Griechen wohnte das Schönheitsgefühl im Herzen, nicht so bei den Neuern. Es ist nichts nothwendiger, als dass diese Muster, als eine zweite Natur aufgestellt, bilden. Subjectivisch ist die Beschäftigung mit ihnen zur Bildung der Fähigkeiten nothwendig, und zwar grade derer, die dadurch allein ihre Cultur erlangen. Wir wollen den Verstand nicht allein ausbilden, denn sonst werden wir einseitig; wir müssen auch auf Einbildungskraft und das feine Gefühl des Edlen und Schönen sehen. Die beständige Beschäftigung mit schönen Werken flösst uns ähnliche Empfindungen ein ohne Hinsicht auf die Sachen, die wir treiben; es drücken sich die Formen in die Seele und diese erzeugen Wirkungen, die sonst nicht auf andere Art können erzeugt werden. (Wolf 1839: 40) Philologie in dieser Form ist verstanden als Angebot der Partizipation an den Erkenntnisprozessen der Vergangenheit. Durch dieses Nachfühlen und Nacherleben idealer Zustände kann der Philologe seine Forschungsergebnisse als Partizipationsangebot an die Gesellschaft formulieren und so Möglichkeiten der Identifikation vermitteln. Die kritische Distanz, aus der heraus der Philologe an den antiken Erkenntnisprozessen partizipiert, sowie die Methode sichern dabei die Wissenschaftlichkeit seiner Ergebnisse. Philologie wird hier zu einer partizipativen Verstehenswissenschaft, die sich im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Anspruch (kritische Distanz, Methode, Reflexion) und Empathie (Identifikation, Partizipation) bewegt. Bei Wolf konzentriert sich diese noch ganz auf die Antike, sehr stark im Vordergrund steht der Bildungsgedanke - der Bürger soll zu einem „idealen Griechen“ erzogen werden. Gut erkennbar ist hier aber auch die Anspielung auf die Unterscheidung Schillers in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von 1789 zwischen dem Brotgelehrten, der nur auf den praktischen Nutzen seiner Studien sieht, und dem philosophischen Gelehrten, dessen Studien einem höheren Zweck dienen: Anders ist der Studierplan, den sich der Brotgelehrte, anders derjenige, den der philosophische Kopf sich vorzeichnet. Jener, dem es bei seinem Fleiß einzig und allein darum zu tun ist, die Bedingungen zu erfüllen, unter denen er zu einem Amte fähig und der Vorteile desselben teilhaftig werden kann, der nur darum die Kräfte seines Geistes in Bewegung setzt, um dadurch seinen sinnlichen Zustand zu verbessern und eine kleinliche Die Emanzipation der ancilla 63 Ruhmsucht zu befriedigen, ein solcher wird beim Eintritt in seine akademische Laufbahn keine wichtigere Angelegenheit haben, als die Wissenschaften, die er Brotstudien nennt, von allen übrigen, die den Geist nur als Geist vergnügen, auf das sorgfältigste abzusondern. […] Je weniger seine Kenntnisse durch sich selbst ihn belohnen, desto größere Vergeltung heischt er von außen; für das Verdienst der Handarbeiter und das Verdienst der Geister hat er nur einen Maßstab, die Mühe. Darum hört man niemand über Undank mehr klagen, als den Brotgelehrten; nicht bei seinen Gedankenschätzen sucht er seinen Lohn, seinen Lohn erwartet er von fremder Anerkennung, von Ehrenstellen, von Versorgung. Schlägt ihm dieses fehl, wer ist unglücklicher als der Brotgelehrte? Er hat umsonst gelebt, gewacht, gearbeitet; er hat umsonst nach Wahrheit geforscht, wenn sich Wahrheit für ihn nicht in Gold, in Zeitungslob, in Fürstengunst verwandelt. […] Beklagenswerter Mensch, der mit dem edelsten aller Werkzeuge, mit Wissenschaft und Kunst, nichts Höheres will und ausrichtet, als der Taglöhner mit dem schlechtesten! der im Reiche der vollkommensten Freiheit eine Sklavenseele mit sich herumträgt! […]. (Schiller 1789: 107-109) Angespielt wird hier auf eine Form von Philologie, die vor allem von Goethe scharf kritisiert wurde, da sie Philologie als reine techné, als Handwerk, verstand. Philologie in dieser Form kann keine Wissenschaft sein, es fehlt ihr in dieser Form an der ethischen Verpflichtung auf Erziehung der Bürger. Ähnlich verhält es sich bei Schiller bei demjenigen, für den Geschichte und vor allem das Studium derselben nur aus sturem Auswendiglernen der Schlachten und Jahreszahlen besteht - dieser erhält in der Tat nur das „Skelett“ (Humboldt [1821] 1919: 8/ 9) ohne das den Geist nährende Fleisch und betreibe Philologie nur zum Selbstzweck, aber nicht einer höheren Verpflichtung, der Bildung, wegen. 51 Wie ganz anders verhält sich der philosophische Kopf! Ebenso sorgfältig, als der Brotgelehrte seine Wissenschaft von allen übrigen absondert, bestrebt sich jener, ihr Gebiet zu erweitern, und ihren Bund mit den übrigen wiederherzustellen herzustellen, sage ich, denn nur der abstrahierende Verstand hat jene Grenzen gemacht, hat jene Wissenschaften voneinander geschieden. Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist. Frühe hat er sich überzeugt, daß im Gebiete des Verstandes, wie in der Sinnenwelt, alles ineinandergreife, und sein reger Trieb nach Übereinstimmung kann sich mit Bruchstücken nicht begnügen. Alle seine Bestrebungen sind auf Vollendung seines Wissens gerichtet; seine edle Ungeduld kann nicht ruhen, bis alle seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, 51 Zugrunde liegt auch hier die Veränderung im Geschichtsdenken. Geschichte wird nun befragt auf ihre Möglichkeit, einen sinnhaften Beitrag zur Entwicklung der Menschheitsgeschichte zu leisten. „Die Verwandlung der Welt“ 64 und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick überschauet. Neue Entdeckungen im Kreise seiner Tätigkeit, die den Brotgelehrten niederschlagen, entzücken den philosophischen Geist. Vielleicht füllen sie eine Lücke, die das werdende Ganze seiner Begriffe noch verunstaltet hatte, oder setzen den letzten noch fehlenden Stein an sein Ideengebäude, der es vollendet. Sollten sie es aber auch zertrümmern, sollte eine neue Gedankenreihe, eine neue Naturerscheinung, ein neuentdecktes Gesetz in der Körperwelt, den ganzen Bau seiner Wissenschaft umstürzen: so hat er die Wahrheit immer mehr geliebt als sein System; und gerne wird er die alte mangelhafte Form mit einer neuern und schönern vertauschen. (Schiller 1789: 110/ 111) Einige Klassifikatoren, die in der Wolfschen Konzeption der Philologie als Wissenschaft eine Rolle spielen, finden sich auch hier wieder: der Begriff des Systems, die Ganzheitlichkeit der Betrachtungsweise, die Bildungskraft des Gegenstandes für die ganze Gesellschaft sowie die Bindung an einen höheren Erkenntniszweck. Die Argumentationslinie bei Schiller verläuft analog zu Wolf: Die herkömmliche Vorstellung des Geschichtsstudiums wird dekonstruiert, um neue Elemente einzubauen und die Diskursformation zu erweitern. Zentral ist bei Schiller dabei das Mittel des Vergleichs zwischen dem „traditionell“ Studierenden und dem „neuen“ Studierenden. Es ist davon auszugehen, dass dieser Text ein Teil der symbolischen Sinnwelt der Kommunikationsgemeinschaft ist, an die Wolf sich wendet. Über die Intertextualität der Argumentation - Wolf setzt hier auf Wiederholung der bei Schiller wirkenden Diskurse - und dem damit verbundenen Wiedererkennungswert kann Wolf die Legitimationsstufe seiner Philologiekonzeption erneut erhöhen. Denn genau diesen Vergleich zwischen bloßer Anhäufung gelehrten Wissens und dem Drang unerlässlich nach einer ganzheitlichen Wahrheit zu forschen, benutzt Schiller, um das Studium der Universalgeschichte zu legitimieren - über die gezielte Implikation der bekannten Schillerschen Rede kann Wolf sein eigenes Legitimationsvorhaben innerhalb der konnektiven Struktur seiner Zeit und der Diskursformation um den Zweck und das Ziel akademischer Studien, die eben gerade nicht nur pragmatischen Zwecken dienen sollen, verankern. Doch Wolf bleibt bei diesem Schritt nicht stehen. Er sichert die Verwissenschaftlichung der Philologie noch weiter ab. Er zieht eine scharfe Trennlinie zur philanthropischen Bildung 52 , die in Wolfs Augen zu stark an utilitaristischen Bildungsidealen ausgerichtet ist: Er geht von einseitigen, seltsamen Gesichtspunkten aus. Dieser Aufsatz ist ein Stück von Sophistik und ist noch nicht widerlegt. Trapp‘s Schrift ist sehr scharfsinnig; nur kennt er das Alterthum gar nicht. Durch das Ganze geht folgender Gedanke: Weil dieses Studium zu schwer ist, kann es nicht zum 52 Vgl. zu Wolfs ablehnender Haltung gegenüber den Philanthropen bereits Bursian 1883: 519. Die Emanzipation der ancilla 65 Grunde der Bildung der Jugend gelegt werden. Er meint, dass Alles sollte in Uebersetzungen gelesen und nur das gelernt werden, was gemeinnützig ist. Gemeinnützigkeit soll der Maassstab des Verdienstes werden. Um diesen Gesichtspunkt drehet sich das Ganze. Allerdings müssen aus dem Jugendunterrichte die alten Sprachen entfernt werden, denn diese braucht der Handwerksmann nicht zu kennen. Dafür könnte man ihm die deutsche Grammatik in Regeln und Styl beibringen. Dadurch wird Nationalbildung bezweckt. (Wolf 1839: 45) Das von den Philanthropen anvisierte Ziel der „Gemeinnützigkeit“ ist Wolf zu wenig, Altertumskunde bietet dem Schüler und vor allem dem Studenten noch weit mehr als eine Bildung, die ihm im Berufsleben nützlich ist. Es genüge bei weitem nicht, lediglich eine fremde Sprache als Kommunikationsmedium zu beherrschen. Erneut greift Wolf zum Mittel der Dekonstruktion, um seiner Konzeption von Philologie und vor allem deren Bildungsfähigkeit mehr Gewicht zu verleihen: Man hat den tollen Wunsch gethan, die Vielheit der Sprachen möchte nicht da seyn, die einen zwingt, mehrere Sprachen zu lernen und dass doch alle Völker der Erde nur eine Sprache reden möchten. Diese Idee hat man mit sophistischen Gründen ausstaffirt. Man findet derlei Ideen besonders in den Büchern von Pädagogen, am meisten in Trapp‘s Pädagogik gegen Ende. Der Wunsch, dass wir nur eine Sprache haben möchten, ist einer der unüberlegtesten, weil er eine Unmöglichkeit involvirt und weil, wenn es möglich wäre, dies äusserst schädlich für die Entwickelung und Ausbildung der Seelenkräfte seyn würde. Was die Unmöglichkeit betrifft, so ist er kein andrer, als wenn man eine Universalmonarchie wünschen wollte. (Wolf 1839: 48) Diese doch eher polemische Spitze gegen die philanthropische Pädagogik bezweckt zweierlei. Zum einen werden mögliche positive Konnotationen, die ein utilitaristisches Bildungsideal beinhalten könnte, über den Vergleich mit deutlich negativ besetzten Begriffen, hier die „Universalmonarchie“, gezielt dekonstruiert, indem sie ridikularisiert werden. Diese Dekonstruktion erlaubt Wolf aber zum anderen die Öffnung einer neuen thematischen Argumentation, die er in die von ihm anvisierte Diskursformation ‚Altphilologie‘ integrieren will: den Wert und Zweck der Beschäftigung mit den alten Sprachen. Auch hier zieht Wolf eine mehrdimensionale Perspektivik heran, um die Erkenntnisse, die über ein wissenschaftliches philologisches Studium erworben werden, positiv zu bewerten. Er benutzt den Sprachbegriff seiner Zeit, welcher impliziert, dass Sprache sowohl der Abdruck einer Kultur als auch das Abbild der Denkfähigkeit eines Volkes ist: Wir sprechen aber von Zeichen, welche nicht blos Vorstellungen bezeichnen, sondern auch Empfindungen. Das Sprechen geht mit der Denkfähigkeit immer gleichen Schritt. Wer Fertigkeit im Denken hat, hat auch Fertig- „Die Verwandlung der Welt“ 66 keit im Ausdruck. Durch die Kenntniss der Sprache lernt man die charakteristischen Vorstellungen eines Volkes kennen. Daher ist die Sprache einer Nation der Maassstab ihrer Cultur, so wie auch einzelner Personen. (Wolf 1839: 49) Wolf vermengt hier die Herdersche Idee, Sprache transportiere den Geist einer Nation, beziehungsweise einer Kultur, mit der aus der französischen Aufklärung bereits bekannten Idee, Sprache bilde das Denken ab. Diese doppelte Argumentation erlaubt ihm, auch das Studium der alten Sprachen mit einem doppelten Wert auszustatten: Die Sprachen enthalten einen Vorrath von allgemeinen Begriffen, welche die Geistesfähigkeit des Menschen in verschiedenen Klimaten erworben und in Umlauf gebracht hat. Zugleich aber enthält jede Sprache die Formen, unter welchen die Völker ihre Begriffe bildeten, und insofern verschafft uns das Studium der Sprachen das wichtigste Hülfsmittel zur Auflösung, Zusammensetzung und Vervollkommnung unserer eigenen Ideen. […] Nicht blos die Ansichten, sondern auch die Form, unter welcher eine Nation ihre Begriffe sich bildet, liegt in der Sprache jeder Nation, und somit wird uns das Vergleichen mehrerer Sprachen den grössten Dienst leisten im genauen und richtigen Denken. (Wolf 1839: 56/ 57) Damit hat er das philanthropische Bildungsideal des „nützlichen Sprachenlernens“ vollends entkräftet und präsentiert eine moderne Konzeption der philologischen Bildung, deren Ziel die Bildung einer Nation ist, also ganz klar einen ideologischen Zweck verfolgt. Und so holt er zum letzten argumentativen Schlag gegen die Philanthropen aus, um den höheren Wert seines Bildungsideals endgültig abzusichern: Um wie vielmehr sollten uns die Sprachen nicht wichtig seyn, da diese grade die vorzüglichsten Produkte des menschlichen Geistes sind, die Abweichung und Uebereinstimmung der menschlichen Natur wird dadurch vorzüglich kennen gelernt. Um sich von dem Werthe des Studiums mehrerer Sprachen zu überzeugen, so bedenke man, dass wir durch dasselbe in den Stand gesetzt werden, unsere Begriffe zu verdeutlichen und unsern Ideenkreis zu erweitern; denn mit jeder Sprache bekommt man eine Reihe neuer Ideen. Menschen, die nur eine Sprache kennen, sind in Entwickelung einzelner Begriffe oft erstaunlich beschränkt. Daher taugen Uebersetzungen nicht; denn durch sie bekommt man nicht die neuen Ideen. […] Wenn vom Werthe einer Sprache an sich die Rede ist, so kommt es darauf an zu wissen, welchen Culturzustand und welche Denkkraft die Nation hatte. Die Vortheile nun, die man aus dem Sprachenstudium ziehen kann, sind theils unmittelbare d.h. solche, die aus der Kenntniss der Sprache an und für sich bestehen, theils mittelbare, in welcher Rücksicht sie als Instrumente betrachtet werden, durch welche wir uns eine Menge von Kenntnissen erwerben können. (Wolf 1839: 59/ 60). Die Emanzipation der ancilla 67 Der Mensch bildet sich also selbsttätig durch sein Studium des Altertums, wobei er aber nicht nur empirisches Wissen anhäuft, sondern sich zu einem wertvollen Individuum innerhalb der Gesellschaft vervollkommnet (Horstmann 1978a: 56/ 57). Wolf hat erreicht, was zur Sicherung des philologischen Bildungsideals notwendig ist. Die konkurrierende Bildungskonzeption der Philanthropen ist demontiert und seine eigene Konzeption geht aus dieser schrittweisen Dekonstruktion der „alten“ Wissensrahmen ganz klar als Siegerin hervor. 53 Damit hat Wolf sein Ziel im Grunde bereits erreicht: er hat die Wissenschaftlichkeit seiner Konzeption ‚Philologie‘ als akademische Disziplin hinreichend legitimiert. Das Wertvolle des Gegenstandes für die (Aus)bildung zum Individuum, die ganzheitliche Bildungskraft des Studiums sowie Systematizität und Autonomie der Disziplin lassen die Philologie als etablierte Wissenschaft erscheinen. Zentral ist innerhalb der Wolfschen Legitimation der Klassischen Altertumswissenschaft die Koppelung der Selbsttätigkeit als wissenschaftliches Forscherkriterium an die pädagogische Zielsetzung ihrer Forschung: Altertumswissenschaft wird zum Medium sittlicher Bildung, die Veredelung und Vervollkommnung des Individuums durch die Beschäftigung mit den als ideal anzusehenden Kulturen der Antike anstrebt. Sie vereint somit in sich die beiden Komponenten der Wissenschaft und der Pädagogik. 54 Ganz klar hat sie sich damit einem Bildungsauftrag verschrieben, der ein Verstehensangebot an die Gesellschaft bildet und so auf gesellschaftliche Partizipation angelegt ist. 55 Dieses Verstehensangebot und die Ausrichtung der Philologie als Partizipationsmöglichkeit der Gesellschaft zeigen sich vor allem in der Diskus- 53 Wolf grenzte sich nicht nur gegenüber den Philanthropen ab, er distanzierte sich ebenfalls vom Bildungsideal des Humanismus und dessen Erziehungs- und Ausbildungskonzept. Erika Hültenschmidt verwendet für diese dezidierte Abgrenzung von dem pragmatisch-bürgerlichen Schulhumanismus, der in den Gymnasien und auch in den Seminaren vorherrschte, die sprechende Metapher des „Spielers“ und des „Gegenspielers“, um die Radikalität der Wolfschen Neukonzeption von Bildung durch Philologie zu verdeutlichen (Hültenschmidt 2003: 58). 54 Der institutionelle Aspekt wird hier nicht weiter beleuchtet. Natürlich spielte auch die Installation der Philologie als eigenständiges seminarium philologicum, das fortan als Ort, wo Lehre, Forschung und Lernen als Bestandteile universitärer Ausbildung - zum Zweck der Lehrerbildung, die nun dank Wolf endgültig von der Theologie abgekoppelt war - verwirklicht werden konnten, eine zentrale Rolle bei der Verwissenschaftlichung und vor allem Etablierung der Altphilologie. Wichtig ist in diesem Aufstiegsprozess der Philologie als akademische Disziplin die Tatsache, dass die philologischen Seminare auch dazu dienten, akademischen Nachwuchs heranzuziehen (vgl. hierzu beispielsweise Horstmann 1978a: 58). 55 Vgl. zu diesem zentralen Kriterium der Einheit von Forschung und pädagogischem Auftrag z.B. Bursian 1883: 519ff.; Horstmann 1978a und b; Flashar 1979; Stierle 1979; zum Bildungsauftrag der Philologien allgemein auch Szondi 1970. „Die Verwandlung der Welt“ 68 sion um die Forschungsmethode der Altertumswissenschaft als universitäre Disziplin. Hier findet sich bei Wolf das klassische Organon: Daher mache ich drei Doctrinen zur Grundlage des Ganzen. Dies sind: a) die gelehrte oder gründliche Sprachlehre oder Grammatik, und zwar die der Griechen und die der Lateiner, b) die Hermeneutik, c) die philologische Kritik. (Wolf 1839: 22/ 23) Diese methodische Dreiteilung zieht sich als methodisches Gerüst durch die philologische Forschung, die drei Bestandteile greifen ineinander und sind aufeinander angewiesen. Dennoch richtet Wolf innerhalb der methodischen Trias besondere Aufmerksamkeit auf die Hermeneutik. Bereits in der Darstellung hatte er das Fehlen einer allgemeinen Theorie der Hermeneutik beklagt (vgl. Wolf 1807: 37). 56 Sie bildet das Kernstück der Rekonstruktions- und Interpretationsarbeit: 57 Die philologische Hermeneutik nemlich lehrt die Regeln, die auf richtige Erklärung des Schriftstellers gehen oder die Grundsätze, wie die Gedanken des Schriftstellers, wie er sie hatte und in welcher Verbindung, aus seinen Worten zu entwickeln und wie sie auf gelehrte Weise, d. h. nach Gründen zu beweisen sind. Ehe man nicht die Sprachregeln kennt, kann man nicht an diese Kunst denken. Jenen aber liegt die Kritik zum Grunde; ohne sie ist 56 Eine allgemeine Theorie der Hermeneutik findet sich erst bei Schleiermacher, der diese wie auch Friedrich Ast und Friedrich August Wolf als eine Kunst definiert (Schleiermacher [1829] 1977: 80). Dies wirft die Frage auf, ob Hermeneutik überhaupt zum Instrumentarium wissenschaftlicher Methoden, durch das Natur- und Geisteswissenschaften als Wissenschaften methodologisch qualifiziert sind, zu rechnen ist. Vgl. zu dieser Problematik beispielsweise Wiehl 1979. Allerdings betont Schleiermacher, wie auch Wolf, dass im Vordergrund der Hermeneutik die Verwendung von Methoden stehen müsse: „Die hermeneutischen Regeln müssen mehr Methode sein, wie Schwierigkeiten zuvorkommen, als Observationen, um solche aufzulösen.“ (Schleiermacher [1829] 1977: 84) Zum Hermeneutikbegriff Schleiermachers vgl. Gadamer 1972: 172-185. Im Zentrum von Gadamers Erläuterungen zur Hermeneutik Schleiermachers findet sich die bekannte Formel „es gelte, einen Schriftsteller besser zu verstehen; als er sich selbst verstanden habe“. (Gadamer 1972: 180) Hier zeigt sich deutlich die intensive Auseinandersetzung Schleiermachers mit dem Hermeneutikbegriff der zeitgenössischen Philologie Asts und Wolfs, die den Verstehensprozess noch ganz an den Autor binden. Eine Ablösung vom Werkautor hin zum Objekt findet sich erst bei August Boeckh (Flashar 1979: 22f.). Trotzdem findet sich das Theorem des „Besserverstehens“ auch bei Boeckh weiterhin als konstitutives Element der Hermeneutik (Boeckh 1877: 87). Wichtig ist, dass auch die universale Hermeneutik Schleiermachers den Prozess des „nachträglichen“ Erkennens und Reproduzierens als Verstehensangebot fokussiert. 57 „Diskussionen über Methodik der Forschung, Möglichkeitsbedingungen, Objektivität und ihre Grenzen, sind bei Wolf und auch später demzufolge Diskussionen über Hermeneutik und Kritik.“ (Horstmann 1978b: 37) Die Emanzipation der ancilla 69 keine gelehrte Grammatik möglich; darum muss sie die Basis seyn. (Wolf 1839: 25) Deutlich erkennbar ist der Autor als Gegenstand des Verstehensprozesses. Seine Gedanken gilt es nachzuempfinden und der Nachwelt wieder zugänglich zu machen. 58 Im Vordergrund der Überlegungen steht das erkennende Subjekt, dessen Gedanken der Philologe für die Nachwelt wieder erfahrbar machen muss. Dabei muss er selbst ganz in den Hintergrund treten, wie Wolf es in seiner Darstellung der Alterthumswissenschaft beschreibt: Denn um das Leben und Wesen einer vorzüglich organisierten und vielseitig gebildeten Nation mit Wahrheit zu ergreifen […] dazu müssen wir unsere Kräfte und Fähigkeiten zu vereinter Thätigkeit aufbieten; um eine als unendlich erscheinende Menge fremder Formen in uns aufzunehmen, dazu wird es nothwendig, unsere eigenen nach Möglichkeit zu vertilgen und gleichsam aus dem ganzen Wesen herauszugehen. (Wolf 1807: 130) Zwei Implikationen lassen sich in diesem Zitat hinsichtlich der Hermeneutik als Methode der philologischen Textexegese festmachen: zum einen die Koppelung an das erkennende Subjekt und zum anderen die Tatsache, dass philologische Hermeneutik stets an einen pädagogischen Zweck gebunden ist. Wolf steht also im Spannungsfeld zwischen objektiver Forschungserkenntnis, also einer reinen Faktensuche, und einem subjektiven Verständnis von Forschung, das Forschung an sich als Bildungsakt begreift und im Forschungsprozess die Möglichkeit sieht, wesensgleich mit dem erkennenden Subjekt zu werden, und so dessen Erkenntnisse vermitteln zu können, worüber sich die Philologie wieder über ihren Bildungsanspruch legitimiert (Horstmann 1978b: 37). 59 Objektivität und Subjektivität bilden zwei einander bedingende Pole innerhalb der philologischen Forschung. Wolf spricht in der Darstellung von der „kritischen Divination“, über die der Forscher zum „höchsten Grad der Wahrheit“ gelangen kann (Wolf 1807: 40). Wolf unterscheidet bereits hier zwei Arten der philologischen Kritik, die den Verstehensprozess prägen: die niedere beurkundende und 58 Schleiermacher definiert Hermeneutik als die Kunst, Missverständnisse zu vermeiden: „Die laxere Praxis in der Kunst geht davon aus, daß sich das Verstehen von selbst ergibt und drückt das Ziel negativ aus: Mißverstand soll vermieden werden“. (Schleiermacher [1829] 1977: 92; Kursivierung wie im Original) In dieser Explizitheit findet sich die Aufgabe der Verstehenskunst aber erst in seiner Hermeneutik, in der Verständnisschwierigkeiten als integrales Moment der Auslegung begriffen werden. Diese Problematik sieht Wolf noch nicht, er fokussiert ganz die Aufgabe der Hermeneutik, ursprünglich Gemeintes wieder verständlich zu machen (Gadamer 1972: 173). Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung Schleiermachers mit der Hermeneutik Asts und Wolfs die beiden Vorlesungen Schleiermachers von 1829, vgl. Schleiermacher [1829] 1977: 309-347. 59 Vgl. hierzu v.a. Szondi 1970: 12, 15. Szondi begreift diese subjektive Erkenntnis als Kontrollinstanz der philologischen Forschung ohne die sie letztendlich nicht existenzfähig wäre. „Die Verwandlung der Welt“ 70 die höhere divinatorische Kritik. Arbeiten beide Arten der Kritik zusammen, so könne die philologische Forschung zu Ergebnissen gelangen, die denen der exakten Wissenschaften gleichkommen (Wolf 1807: 40). 60 Erkennbar ist hier erneut der Einfluss Kants auf die Philologiekonzeption Wolfs: Gefordert wird die Ausbildung einer kritischen Urteilskraft, um möglichst wahrheitsnahe Ergebnisse zu erzielen: Wie verfährt man in einzelnen Fällen, um die Fehler in den Handschriften zu verbessern? Es muss sich hier Alles auf gelehrtes Raisonnement gründen. Wie ist es mit der critica conjecturalis? Sie ist eine Art Divination. Um sie recht auszuüben, muss sich jemand eine Lage der Seele verschaffen, die nur weniger Menschen Sache seyn kann: Kälte und Wärme zusammen, ruhige Beobachtung und warme Phantasie, beständige Behutsamkeit, dass man nicht eine falsche Lesart für eine wahre halte. Die Behutsamkeit muss hier so gut seyn, wie bei der Weltklugheit. Das Ganze giebt ein gewisses Talent, das immer den rechten Fleck trifft. So bekommt einer eine Scharfsichtigkeit des Aechten und Wahren, die man in der Kritik εύστοχία nennt. So wenig aber jemand in der Welt ohne viele Menschenkenntniss einen Blick über noch unbekannte Dinge erwirkt, eben so wenig kann der criticus alle mit Scharfsinn ausreichen. Er muss alle möglichen Hülfsmittel durchprüfen und nur dann erst seine Vermuthungen machen, wenn die Hülfsmittel nicht hinreichen. Er muss sich von allen Vorurtheilen frei machen, besonders von den Vorurtheilen der Autorität. (Wolf 1839: 324) Entscheidend für eine erfolgreiche philologische Karriere ist die Fähigkeit der Forscherpersönlichkeit, eben diese kritische Urteilskraft auszubilden. Hier reicht es nicht aus, nur sein Handwerk zu beherrschen: Das Conjecturiren kann oft auf den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit getrieben werden; es ist keine Träumerei und kein Spiel. Die Grade der Wahrscheinlichkeit sind verschieden. Der sich damit abgiebt, muss die Vorkenntnisse haben, also Alles, was die Hermeneutik auflegt, und folgende Eigenschaften des Gemüths: die kälteste, ruhigste Prüfung aller der 60 Diese Verbindung von Objektivität und Subjektivität findet sich auch bei Schleiermacher, in einer der Wolfschen Formel sehr ähnlichen Formulierung: „Die Kunst kann ihre Regeln nur aus einer positiven Formel entwickeln und diese ist das ‚geschichtliche und divinatorische (profetische) objektive und subjektive Nachkonstruieren der gegebenen Rede‘.“ (Schleiermacher [1829] 1977: 93; Kursivierung wie im Original) Subjektivität erscheint in der philologischen Methode der Hermeneutik als notwendige Voraussetzung zur Ergebnissicherung. Ohne sie kann ein Verstehen des bereits Erkannten, das ja eben gerade an ein erkennendes Subjekt gebunden ist, nicht erfolgen. Somit wäre Subjektivität in Bezug auf Philologie nicht als Hindernis für Wissenschaftlichkeit, sondern als notwendige Bedingung für diese zu definieren, da die Zielsetzung der Philologie eine grundsätzlich andere als die der sogenannten exakten Wissenschaften ist. Es geht nicht um Darstellung, sondern um Vermittlung von Wissen, eine ideologische Komponente in Form eines Verbesserungsauftrages des Menschen durch Bildung, ist wesentlicher Bestandteil der Philologie. Die Emanzipation der ancilla 71 Möglichkeiten, die bei einer Stelle eintreten könnten, und dabei ein Feuer, das darauf lossteuert, was das Wahrscheinlichste ist, eine Menge gelehrter Kenntnisse, Lectüre in Schriftstellern der nemlichen und der verschiedenen Art, eine heitere reine Seele. Beim Lesen und beim Ausgehen auf das, was fehlerhaft ist, ist Suspicion nöthig, und dann wieder eine Unbefangenheit, mit der man sich dem Argwohn widersetzt; denn sonst findet man in jeder Zeile einen Fehler, oder man liest mit Angst. Es gehört eine Temperatur der Seele dazu, wo natürliche Anlagen zum Grunde liegen müssen. Die Seelenkräfte müssen einander dirigiren und einschränken. […] Viele Dinge sind Sachen des Gefühls, und hierin kommen viele Kenner überein. (Wolf 1839: 325/ 326) Der Philologe zeichnet sich also neben der methodischen Versiertheit durch Phantasie, Gefühl, Genie, Divination und Scharfsinn aus. Über diese unabdingbaren Eigenschaften bleibt die philologische Arbeit an Subjektivität gebunden (Horstmann 1978b: 38). Wolf definiert Philologie als eine Art Seelenschau fremder Kulturen und Gedanken - eine Konzeption, die die Neuphilologie aufgreifen wird. Philologie bei Wolf bedeutet […] die Gedanken eines Andern aus ihren Zeichen zu verstehen und zu erklären. Man versteht Jemanden, der uns Zeichen giebt, dann, wenn diese Zeichen in uns dieselben Gedanken und Vorstellungen und Empfindungen, und eben in der Ordnung und Verbindung hervorbringen, wie sie der Urheber selbst in der Seele gegenwärtig hatte […]. (Wolf 1839: 272). Über seine Enzyklopädie hat Wolf sein Ziel endgültig erreicht. Die Philologie erscheint als ebenbürtige, autonome wissenschaftliche Disziplin neben den bereits etablierten Wissenschaften. Er hat die Vorarbeiten Gesners und Heynes genutzt und Philologie zu einem Forschungsunternehmen deklariert, das sich vor allem über den ihm inhärenten Bildungsanspruch legitimiert. Was Wolf in seiner Darstellung teilweise bereits angedeutet hatte, führt er in der Enzyklopädie zu Ende. Damit legt er in diesem discours fondateur die Kategorien zur Bewertung der Philologie fest. Als Klassifikatoren lassen sich für die Wolfsche Konzeption der Philologie folgende festhalten: - Erkennen (Koppelung des Erkenntnisprozesses an das erkennende Subjekt, Voraussetzung einer gebildeten Kultur) - Partizipieren (das wissenschaftliche System ist auf Partizipation der Gesellschaft ausgerichtet) - Verstehen (es geht um Angebote an die Gesellschaft, nicht nur um empirisches Faktensammeln und die Darstellung von Wissen) - Methodisches Organon Grammatik, Hermeneutik und Kritik, das in sich die beiden Dimensionen Objektivität und Subjektivität als zwei sich gegenseitig bedingende Pole vereint - Bildungsanspruch (die zentrale Aufgabe der Erziehung des Menschen vor dem Hintergrund der kulturellen Leistungen der Völker, die sich „Die Verwandlung der Welt“ 72 um humanitäre Idee verdient gemacht haben, ist fest an die philologische Konzeption gekoppelt) - Selektion. 61 Um diese Klassifikatoren konstituieren sich die Wissensrahmen, in denen dann die von Wolf vorgenommenen Funktionsverschiebungen im Begriffsfeld der Philologie als verbindende Elemente zwischen Sprache und Kognition wirken und so die relevanten Diskursstränge innerhalb dieses Feldes ausbilden. Formelhafte Verwendungen, Metaphern und Argumentationen werden in der Folgezeit in den verschiedene Philologiekonzeptionen immer wieder aufgegriffen und teilweise neustrukturiert werden. In seiner Zusammenfassung der Aufgabe der Altertumskunde, wie Wolf sie in seiner Darstellung vorwegnimmt, finden sich alle diese Klassifikatoren bereits zum ersten Mal veranschaulicht: Es ist aber dieses Ziel kein anderes als d i e K e n n t n i ß d e r a l t e r t h ü m l i c h e n M e n s c h h e i t s e l b s t , w e l c h e K e n n t n i ß a u s d e r d u r c h d a s S t u d i u m d e r a l t e n U e b e r r e s t e b e d i n g t e n B e o b a c h t u n g e i n e r o r g a n i s c h e n t w i c k e l t e n b e d e u t u n g s v o l l e n N a t i o n a l - B i l d u n g h e r v o r g e h t . Kein niedrigerer Standpunkt als dieser kann allgemeine und wissenschaftliche Forschungen begründen; und ihm sind theils andere untergeordnet, theils der gewöhnliche, der sich auf die K e n n t n i ß d e r s c h ö n e n u n d c l a s s s i s c h e n W e r k e d e r v o n d e n A l t e n b e a r b e i t e t e n G a t t u n g e n bezieht, als welcher bei den sogenannten Humaniora zum Grunde liegt. Zu dieser Bestimmung kann auch in der That nur eine ausgewählte Zahl schriftlicher und anderer Werke dienen; […]. (Wolf 1807: 124/ 125; Sperrung und Kursivierung wie im Original) Über diese programmatische Zielformulierung für die Altertumswissenschaft hatte Wolf die Erweiterung der Diskursformation ‚Philologie als Wissenschaft‘ bestens vorbereitet. In der Enzyklopädie führte er dann diese Kategorien argumentatorisch aus, um so die für eine Verwissenschaftlichung und Autonomisierung der Philologie notwendigen Elemente endgültig in den traditionellen Diskurs einzugliedern. Über diese Versprachlichung seines Forschungsprogramms erneuert Wolf die Designate der lexikalischen Zeichen, derer er sich bedient endgültig so, dass die mit ihnen einhergehende Kontextualisierung der Philologie innerhalb der symbolischen Sinnwelt der konnektiven Struktur seiner Zeit, und vor allem seiner Kommunikationsgesellschaft, die bisherige Kategorisierung der Philologie neudefiniert und die mit ihr verbundene Diskursformation aktualisiert. Philologie als wissenschaftliche Disziplin hat ein „neues Gesicht“ erhalten. Umso bereitwilliger griffen die Vertreter der Modernen Philologien auf 61 Wolf bleibt ganz auf die antiken Kulturen fixiert, die „Neuern“ haben noch nicht die ausreichende moralische Größe erreicht. Die Emanzipation der ancilla 73 diese argumentativen Muster zurück, da die Kontextualisierung bereits vorhanden war und nun sehr viel leichter aktualisiert werden konnte. Ihnen fehlte in der Wolfschen Konzeption im Grunde nur der Anknüpfungspunkt für einen Bildungsanspruch der neueren Sprachen und Literaturen. Diesen lieferte ihnen August Boeckh mit seiner Öffnung der Philologie. 3.2.2 August Friedrich Boeckh (1785-1867) 62 und die Öffnung der Philologiekonzeption Die Philologie darf zunächst nicht als Alterthumsstudium aufgefasst werden. Es wird weiter unten auf historische Weise gezeigt werden, dass das Wort φιλολογία selbst in dem Sinne der Gelehrten, die dasselbe gestempelt haben, geschweige denn in der gewöhnlichen griechischen Ansicht nie diese Bedeutung gehabt hat, und dass dieselbe ihm nur zufällig geliehen worden ist… Wie also diese Ansicht nicht in der Bedeutung des Wortes gegründet ist, so umfasst sie auch keineswegs alle Bestrebungen, die factisch zur Philologie gehören. Denn ist es nicht empirisch klar, dass jeder, welcher sich z.B. mit der italienischen oder englischen Literatur beschäftigt, oder mit der Literatur und Sprache irgend eines andern Volkes, um jetzt nur von Sprache und Literatur zur reden, ein philologisches Bestreben hat? Was die Philologen am Antiken thun, das thun alle diese am Modernen, z.B. an Dante, Shakespear oder irgend einem Gegenstande aus dem Mittelalter. Da alle Kritik und Auslegung factisch philologisch ist, und in diesen das formale Thun des Philologen, wie sich späterhin zeigen wird, ganz aufgeht, so kann die Philologie nicht auf das Alterthumsstudium beschränkt sein, weil jene Funktionen auch alles Moderne berühren. (Boeckh 1877: 5/ 6) Dieser Ausschnitt aus Boeckhs Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, die er als Vorlesungen zwischen 1809 und 1865 an der Berliner Universität hielt, zeigt bereits den wohl offenkundigsten Unterschied zwischen der Boeckhschen und der Wolfschen Philologiekonzeption: Boeckh spricht dem philologischen Studium der Quellen der Moderne den gleichen Wert zu wie dem Studium der antiken Quellen. 63 Diese Er- 62 Zur Namensschreibung vgl. z.B. Horstmann 1992: 15. Die gebildete Form Boeckh geht auf lateinisches Boeckhius zurück, während die ursprüngliche Form Böckh lautete - wie sie beispielsweise auch im Vorwort von Ernst Bratuschek zur Encyklopädie zu finden ist. Da die Forschungsliteratur zu August Boeckh mehrheitlich auf die gebildete Form zurückgreift, wird diese auch im Folgenden so verwendet. 63 Eine Abkehr vom Altertum lässt sich bereits bei Schlegel erkennen. So schreibt er in seinem Entwurf zur Philologie: IV 124: „[Ich bin nun gar nicht mehr klassisch gestimmt. […]].“ Und in einem Brief an Körner heißt es: „Ich bin sehr fleißig gewesen, habe mich aber fast nur mit den Neuern beschäftigt. Ich treibe es mit großem Eifer und bin sehr in unklassischen oder antiklassischen Schriftstellern vergraben. Ich war auf dem besten Wege von der Welt mich im Studium des Antiken zu petrifizieren. Doch ich hoffe, es war Zeit genug, um die Biegsamkeit des Geistes zu retten.“ (Brief „Die Verwandlung der Welt“ 74 weiterung der Wolfschen Konzeption und die damit einhergehende Aktualisierung der Diskursformation ‚Philologie‘, die sich maßgeblich an Wolf orientiert 64 , muss Boeckh jedoch in seinem Werk legitimieren. Ein Hauptanliegen Boeckhs ist die Betonung der Wissenschaftlichkeit der Philologie. Dies ist auch der Hauptvorwurf, den er der Wolfschen Altertumswissenschaft gegenüber macht: Da dieser „die Organa der Forschung mit dem materiellen Theil vermischt“ (Boeckh 1877: 43), reduziere sich seine ganze Beschreibung auf ein bloßes „Begriffswesen“ (Boeckh 1877: 43), das mit einer wissenschaftlichen Disziplin nicht viel zu tun habe. Wolf betone die einzelnen Punkte der Wissenschaft nicht in der vom Gegenstand geforderten objektiven Weise, sondern überlasse die Betonung des einen oder anderen Punktes dem Zufallsprinzip. Boeckh unternimmt hier eine komplette Dekonstruktion der Wolfschen Konzeption: 65 Fasst man unsere Kritik zusammen, so begreift man nicht, wie der berühmteste Philologe so etwas schreiben konnte, und wie man es gar noch bewundern kann. (Boeckh 1877: 43) Für eine wissenschaftliche Beschreibung der Philologie fordert er eine objektivere Herangehensweise: Die wesentlichen Punkte, aufgefunden durch einen streng wissenschaftlichen Gang, muss man hervorheben und so darstellen, dass stets die Einheit des Allgemeinen mit dem Besondern und das Leben des Besondern in dem Allgemeinen klar werde. Nur so kann die Wissenschaft organisiert werden, an Christian Gottlieb Körner, zit. nach Eichner 1981: 534). Eine konzeptionelle Öffnung der Philologie hinsichtlich des Gegenstandsbereiches findet sich implizit auch bei Mützell 1835; vgl. hierzu Kapitel 5.1.1. 64 Dass Boeckh sich vor allem an der Wolfschen Konzeption der Philologie als Altertumswissenschaft abarbeitet, wird in seiner Encyklopädie deutlich, als er auf die bereits erschienenen Versuche philologischer Enzyklopädien eingeht: „Ich betrachte zunächst Charakter und Plan der bisher angestellten systematischen Versuche. Zuerst und hauptsächlich kommt Fr. Aug. Wolf in Betracht, dessen Auffassung für die Entwickelung der Philologie massgebend geworden ist. Wir beschäftigen uns nicht mit den Schülern, deren Leistungen zum Theil sehr gering sind, sondern gehen nur auf den Meister selbst zurück.“ (Boeckh 1877: 39) Mit Wolf setzt sich Boeckh in sehr kritischer Weise auf insgesamt fünf Seiten auseinander, wobei zu erwähnen ist, dass Boeckh hier auf die Darstellung rekurriert. Für die Bearbeitung der Philologie durch Ast, Bernhardy und Matthiä reichen ihm dann nur noch zwei Seiten (vgl. Boeckh 1877: 39-45). Auch dies stärkt erneut die Position der Wolfschen Konzeption als discours fondateur der Diskursformation ‚Philologie‘. 65 Immer wieder betont Boeckh allerdings, dass es ihm um eine rein inhaltliche Kritik der Konzeption gehe: „Indem ich nnn [sic! ] diese beurtheile, beurtheile ich nicht ihn, sondern die herrschende Ansicht; denn dass dies die herrschende Ansicht ist, zeigt die Bewunderung, womit man jenen Ueberblick hingenommen hat […].“ (Boeckh 1877: 40) Wolf selbst hebt er als einen „Virtuosen in der philologischen Kunst und geistreichen Mann“ hervor (Boeckh 1877: 44). Die Emanzipation der ancilla 75 was also durch die W o l f ’ s c h e Darstellung nicht geschieht. (Boeckh 1877: 43/ 44; Sperrung wie im Original) Diese Betonung der Wissenschaftlichkeit und die Fokussierung auf die Untersuchung der philologischen Forschungsmethode sowie die Einforderung strenger wissenschaftlicher Objektivität ziehen sich wie ein roter Faden durch Boeckhs Encyklopädie (Horstmann 1978b: 40/ 41; Vogt 1998: 17). Würden diese Forderungen nach Methode und Objektivität von Seiten des philologischen Forschers eingehalten werden, so ließen sich einige „Verirrungen“ vermeiden, die Boeckh in der Enzyklopädie beklagt: Uebrigens liegt darin auch nicht einmal etwas Bezeichnendes oder Unterscheidendes [nämlich in der Gleichsetzung der Philologie mit dem Humanitätsstudium; J.W.]; denn es ist eine Anmassung der Philologen, dass ihr Studium ausschließlich zur Humanität bilde. Dies muss alle Wissenschaft, wenn sie wahrhaft betrieben wird […]. Aus allen solchen Bezeichnungen […] erkennt man nicht, was Philologie ist oder sein sollte, sondern nur wie gross bei den Philologen der Mangel des Nachdenkens über ihr eigenes Studium ist. (Boeckh 1877: 9) Um genau dies zu vermeiden müssen Methode und Enzyklopädie, die bei Boeckh zwei verschiedene Dinge betreffen 66 , verbunden werden, um Einseitigkeit und die von ihm streng gerügte Selbstüberschätzung zu vermeiden. Erst dann kann Philologie wissenschaftlich betrieben werden, da dann Einblick in die Gesamtheit trotz der Fokussierung des Einzelnen gewonnen werden kann und eben keine disparate Forschung ohne Rückbindung an den wissenschaftlichen Zusammenhang stattfindet: Viele treiben die Philologie ohne Bewusstsein; kämen sie zum Bewusstsein dessen, was sie treiben, so würden sie, wenn sie gute Köpfe sind, das Studium wegwerfen, weil sie keine Basis und keinen Zusammenhang […] finden würden. Die Philologie muss sich wissenschaftlich gestalten, damit Alles von einer Idee durchdrungen sei; sonst kann sie nicht lange Befriedigung gewähren. Ich selbst bin oft irre geworden, bis ich eine höhere Ansicht gefunden habe. Wenn man auf Grund eingehender specieller Forschungen das Bewusstsein von dem Zusammenhange des Ganzen gewinnt, so wird das volle Verständnis der encyklopädischen Uebersicht die Blüthe des philologischen Studiums sein. (Boeckh 1877: 48) Klar formuliert findet sich hier auch das Boeckhsche Credo, der Forscher habe seine Einzelforschung in den Dienst der gesamten Forschung zu stellen und dürfe sich nicht selbstvergessen in den Elfenbeinturm zurückzie- 66 Vgl. zur Boeckhschen Unterscheidung von Methode und Enzyklopädie z.B. Horstmann 1992: 143-149. Die Enzyklopädie hat bei Boeckh einen „rein theoretischen wissenschaftlichen Zweck, die Methode einen andern, nämlich die Unterweisung, wie man sich die Theorie zu erwerben habe.“ (Boeckh 1877: 45/ 46) „Die Verwandlung der Welt“ 76 hen, sondern müsse sich seiner Verantwortung als Wissenschaftler vor der Öffentlichkeit stellen (Vogt 1998: 10). Zu der von Boeckh angestrebten Wissenschaftlichkeit gehört auch eine Aktualisierung des selektiven Moments der Philologie, das sich bei Wolf und auch Ast noch ganz auf die Beschränkung der Antike als Forschungsgegenstand bezogen hatte. 67 Boeckhs Öffnung der Philologiekonzeption in Richtung der Moderne wurde bereits angesprochen. Obwohl Boeckh damit den Legitimationsweg für die Philologien der neueren Sprachen und Literaturen geebnet hatte, behält er selbst den Fokus auf die Antike bei. Diese Fokussierung findet sich bei Boeckh in einer scheinbar doppelten Begründung: 68 Zum einen greift er auf das Argument der zeitlichen Entfernung zurück, das bereits bei Wolf zu finden ist: Ebenso sehen wir nun, warum sie [die Philologie; J.W.] selbst dem Begriff nach einseitig auf das Alterthum beschränkt worden ist. Es geschah dies, weil die neuere Zeit erst noch im Produciren begriffen ist und also ein Abschluss überhaupt nicht so fest gemacht werden kann, auch eine Betrachtung derselben sich nicht so sehr als nothwendig aufdrängt, indem sie unmittelbar vorliegt. Das Alterthum dagegen ist entfernter, entfremdeter, unverständlicher und fragmentarischer und bedarf daher der Reconstruction in höherem Grade. (Boeckh 1877: 12) Zum anderen aber stellt auch Boeckh die Bildungskraft, die der Antike innewohnt, als das Wesensmerkmal heraus, das ein Studium der antiken Quellen vor allen anderen als besonders wertvoll qualifiziert. Entscheidend aber ist, dass er dadurch die Moderne nicht entwertet, sondern, dass allein wieder das Kriterium der Objektivität, das Forschung erst zu einer wissenschaftlichen Forschung macht, ausschlaggebend ist für seine Selektion: Die Erkenntniss des Alterthums in seinem Umfange kann also allein der Zweck dieser Philologie sein, und dies ist gewiss nichts Gemeines; denn es ist ja Erkenntniss des Edelsten, was der menschliche Geist in Jahrtausenden hervorgebracht hat und gewährt eine tiefe und grosse Einsicht in das Wesen der göttlichen und menschlichen Dinge, wenngleich im Einzelnen die neue- 67 Nach Horstmann 1992: 73/ 74 finden sich bei Boeckh zwei Philologiebegriffe: der traditionelle Begriff der Philologie, wie er von Wolf vertreten wurde und ein neuer, allgemeinerer Philologiebegriff, der sich auf andere Gegenstandsbereiche als die griechisch-römische Antike, und hier vor allem auf die Textquellen, ausweiten lässt. Die Dekonstruktion, die Boeckh am Wolfschen Konzept vornimmt, verweist allerdings darauf, dass Boeckh nur einen Begriff der Philologie vor Augen hatte, den es durchzusetzen gilt: Philologie als ganzheitliche Verstehenswissenschaft der menschlichen Entwicklung. 68 Beide Argumentationsstränge sind eng aneinander gekoppelt und bedingen sich gegenseitig: der zeitliche Abstand ermöglicht die objektive Betrachtungsweise, die objektive Betrachtungsweise aber macht ihrerseits die Forschung und ihre Ergebnisse erst wissenschaftlich und somit als Bildungsgut nutzbar. Die Emanzipation der ancilla 77 re Zeit es viel weiter gebracht hat; man lernt hier das ganze Getriebe des menschlichen Erkennens und der menschlichen Verhältnisse begreifen und orientirt sich über die wesentlichen Interessen der Menschheit auf einem Gebiete, wo alle Leidenschaft schweigt, weil es weit hinter der Gegenwart liegt, und wo also ein unbefangenes Urtheil möglich ist. (Boeckh 1877: 25) Boeckh widerspricht sich nur scheinbar. Seine Einschränkung macht die Öffnung des Philologiekonzepts nicht rückgängig, sondern stärkt noch einmal die Legitimation der Wissenschaft ‚Philologie‘. Eine objektive Betrachtungsweise erfordert nach Boeckh einen gewissen zeitlichen Abstand, der für die Moderne schlichtweg noch nicht gegeben ist. Dies erklärt die Beschränkung auf die Antike, schließt die Moderne aber nicht grundsätzlich aus. Lediglich die Gesamtheit ihrer Erkenntnisse kann nicht in dem Umfang wie die Erkenntnisse der Antike Gegenstand einer objektiven wissenschaftlichen Forschung und somit bildungsfähig sein, da der Forscher selbst noch Teil dieser Epoche ist. 69 Boeckh benutzt vordergründig also dieselben Inhalte bei der Begründung seiner Fokussierung der Antike wie sie im discours fondateur von Wolf zu finden waren: zeitlicher Abstand und Bildungsfähigkeit. Scheinbar decken sich beide Argumentationslinien. Bei genauerem Hinblicken entpuppt sich Boeckhs Argumentation jedoch für diese Selektion als eine grundsätzlich andere als die Wolfs. Spricht dieser der Moderne die Bildungskraft ab und bindet sich an das Humboldtsche Dictum, die Griechen seien nicht bloß ein nützlich historisch zu kennendes Volk für die deutsche Nation, sondern ein Ideal (Humboldt 1961 [1806]: 65), so entscheidet bei Boeckh allein die Abgeschlossenheit der Epoche über den Vorbildcharakter der Antike als Forschungsgegenstand 70 , da dieser garantiert, die Gesamtheit 69 Horstmann 1978b: 43 verweist hier nur auf das Argument der zeitlichen Entfernung. Die Abgeschlossenheit der Epoche sowie Boeckhs Forderung, nach der der Forschungsgegenstand in seiner Gesamtheit vorliegen solle, lässt er außen vor. Seine Perspektive stützt sich allerdings auf die Tatsache, dass Boeckh eine Begründung für den Vorzug des Altertums benötigt. Grundsätzlich schließt Boeckhs Konzeption Philologie nämlich nur da aus, wo kein „gebildetes Volk“ vorhanden ist (Boeckh 1877: 11). Sie beinhaltet also eine universell anwendbare philologische Theorie. Vgl. hierzu auch Horstmann 1992: 93-99; Horstmann 1998. 70 Vgl. hierzu noch einmal das Wolfsche Plädoyer für die Antike als alleinigen Forschungsgegenstand der Philologie: „Bei den Griechen wohnte das Schönheitsgefühl im Herzen, nicht so bei den Neuern. Es ist nichts nothwendiger, als dass diese Muster, als eine zweite Natur aufgestellt, bilden. Subjectivisch ist die Beschäftigung mit ihnen zur Bildung der Fähigkeiten nothwendig, und zwar grade derer, die dadurch allein ihre Cultur erlangen. Wir wollen den Verstand nicht allein ausbilden, denn sonst werden wir einseitig; wir müssen auch auf Einbildungskraft und das feine Gefühl des Edlen und Schönen sehen. Die beständige Beschäftigung mit schönen Werken flösst uns ähnliche Empfindungen ein ohne Hinsicht auf die Sachen, die wir treiben; es drücken sich die Formen in die Seele und diese erzeugen Wirkungen, die sonst nicht auf andere Art können erzeugt werden.“ (Wolf 1839: 40) „Die Verwandlung der Welt“ 78 der kulturellen Leistungen dieses Volkes philologisch zu bearbeiten und nutzbar zu machen, was vermutlich auch dem klassisch-romantischen Idealbild der Totalität und Einheit der geschichtlichen Welt geschuldet ist. Boeckhs Ziel ist es, die Antike in der Totalität ihrer kulturellen Leistungen, die sowohl den privaten als auch den öffentlichen Bereich des Lebens beinhalten, philologisch zu erforschen, das heißt forschend zu verstehen. 71 Es geht Boeckh demnach darum innerhalb einer ganzheitlichen Philologie differenzieren und ordnen zu können, das heißt um eine Universalierung, nicht um eine Hierarchisierung des Forschungsgegenstandes. Dieser elementare Unterschied in der Begründung der Selektion wird für die Legitimation der Modernen Philologien eine essentielle Rolle spielen. Denn die Boeckhsche Öffnung der Philologiekonzeption hin zur Neuzeit, in der nur mehr der zeitliche Faktor für eine Konzentration auf die Antike spricht, entkräftet die Absolutheit, mit der die modernen Kulturen bis dato aus der philologischen Forschung so gut wie ausgeschlossen waren, und erlaubt, das philologische Forschungsfeld zu erweitern (Horstmann 1992: 98). Innerhalb seiner Konzeption einer Universalphilologie kann nun in verschiedene Philologien unterschieden werden. Diese Differenzierung innerhalb einer Philologie bei Boeckh ist einerseits getragen von seinem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Andererseits wird hier auch ein Kultur- und Geschichtsbegriff deutlich, der auf das philosophische Prinzip des Volkserkennens in seiner kulturellen Gesamtheit verweist. Dieser Grundgedanke, der der Philologiekonzeption Boeckhs immanent ist, zeigt seine Verflechtung mit der Philosophie des Idealismus, wie ihn vor allem Hegel repräsentiert. Boeckhs Aufhebung der Beschränkung der Philologie auf das Altertum lässt sich mit dem Hegelschen Dictum „Alles ist Werden“, einer Vorstellung von Geschichte, die die Entwicklung der Menschheit als eine permanent dynamische begreift, in Einklang bringen, womit jegliche Differenz aufgelöst wird. 72 Das Wesen der Philolo- 71 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine Gegenstandsbestimmung der Philologie, die nicht nur Textquellen in sich fasst, bereits einige Zeit vor Wolf und Boeckh zur Sprache kommt - und zwar in Vicos Szienzia Nuova: „Dieser Grundsatz bezeichnet in seinem zweiten Teile als Philologen alle Grammatiker, Geschichtsschreiber, Kritiker, die sich mit der Erkenntnis der Sprachen und der Taten der Völker befassen, und zwar sowohl derjenigen im Innern, wie der Sitten und Gesetze, als auch der auswärtigen, wie der Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse, Reisen, Handelsbeziehungen.“ (Vico 1992: Opus IV-I, §139) 72 Vgl. zur Rezeption Hegels durch Boeckh Wach 1966: 174/ 175; 189ff. Boeckh selbst bezog sich in seiner Enzyklopädie lieber auf Schelling, dem er in Fragen nach dem Verhältnis von Philologe und Künstler sowie in der Auffassung der Gesamtentwicklung der Geschichte zustimmt (Wach 1966: 173). Boeckhs Verhältnis zu Hegel hingegen lässt sich als gespannt beschreiben. So schreibt Boeckh an Niebuhr und Meier: „Hegel hat soviel gute Seiten, dass ich mich gern ihm nähern möchte, und ich habe es auch mehrere Male aus Überzeugung getan und in Lagen unterstützt, wo er der Chicane preisgegeben war, die er sich freilich durch sein widerhaariges Benehmen selbst Die Emanzipation der ancilla 79 gie kann so nur als Ganzes in seiner Entwicklung gefasst werden. Spezialisierung und damit letztendlich eine Einteilung in Alt- und Neuphilologie wird vor diesem Hintergrund überflüssig. 73 Differenzierung wird hier nicht identitätsstiftend, sondern lediglich als eine Möglichkeit des Ordnens verstanden. Erst eine objektive Perspektive auf den Forschungsgegenstand erlaubt, die beiden Hauptanliegen der Philologie, Erkennen und Rekonstruieren, als wissenschaftliche Disziplin zu bearbeiten. 74 In diesem Zusammenhang muss auf die Bedeutung des Erkenntnisbegriffs bei Boeckh hingewiesen werden: Erkennen bei Boeckh bedeutet ein Verstehen der Texte durch das nachvollziehende philologein, das eben mehr bedeutet als ein kritisches Analysieren, wie Thomas Steinfeld hervorhebt: Erkennen, so wie August Boeckh dieses Wort gebraucht, heißt vor allem eines: anerkennen, nicht urteilen […], nicht analytisch behandeln, ja nicht einmal nach poetischen oder gar handwerklichen Kriterien werten. Dieses Erkennen des Erkannten trägt also im Wesentlichen einen historischen Charakter, denn es ist ihm darum zu tun, im Freilegen der Bedingungen und Möglichkeiten von literarischen Werken ihrer jeweiligen Idee teilhaftig zu werden. Das philologische Erkennen setzt also die literarischen Werke in Verhältnisse und das heißt auch: Es will sie nicht für sich sprechen lassen, sondern aus anderem verstehen, aus Sachverhalten und Ereignissen, die nicht sie selbst sind. (Steinfeld 2009: 224) 75 Auch ist hier eine leichte Verschiebung der Akzentuierung der Klassifikatoren der Philologie zu beobachten. War das Erkennen bereits ein zentraler Klassifikator bei Wolf, so ist die starke Betonung auf die Rekonstruktion zugezogen hatte. […] Seit Jahren habe ich mit Hegel in einer ziemlich erklärten Spannung gestanden; sein ganzes Bestreben, seine unerträgliche Parteimacherei, und vorzüglich die höchst verkehrte Begünstigung seiner Anhänger von oben herab und selbst die unangenehme Art seines persönlichen Wesens haben mich beständig von ihm abgestoßen und auch er war mir abgeneigt.“ (Boeckh in einem Brief an Niebuhr vom 24. Oktober 1826, zit. nach: Boeckh, W. 2007: 23) 73 In dieser Schärfe wird Philologie als eine ganzheitliche Konzeption, die sämtliche Kulturen beinhaltet, bei Boeckhs Zeitgenossen Julius Mützell und später bei seinem Schüler Karl Elze zu finden sein. 74 So lautet auch Boeckhs bekannte Formel: „Hiernach scheint die eigentliche Aufgabe der Philologie das E r k e n n e n vom menschlichen Geist P r o d u c i r t e n , d.h. des E r k a n n t e n zu sein.“ (Boeckh 1877: 10; Sperrung wie im Original) 75 Steinfeld verweist in diesem Zusammenhang auf die Funktion des „Zeigens“ der philologischen Arbeit, die er als komplementär zur Funktion des „Behauptens“ sieht. Diese Verbindung von Behaupten und Zeigen innerhalb der Philologie mache sie zu einer Wissenschaft der elementaren Aufklärung und begründe so ihren Anteil an einem ethisch-ästhetischen Bildungsauftrag gegenüber der Gesellschaft (Steinfeld 2009: 224/ 225). „Die Verwandlung der Welt“ 80 dieses Erkannten durch den Philologen bei Boeckh neu. 76 Er begreift die Reproduktion des Erkannten als einen kreativ-produktiven Vorgang: In Wahrheit hat die Philologie einen höheren Zweck; er liegt in der Construction des ganzen Erkennens und seiner Theile und dem Erkennen der Ideen, die in demselben ausgeprägt sind. Hier ist mehr Production in der Reproduction als in mancher Philosophie, welche rein zu produciren vermeint; auch in der Philologie ist das productive Vermögen eben die Hauptsache, ohne dasselbe kann man nichts wahrhaft reproduciren, und dass die Reproduction ein grosser Fortschritt und wahre Vermehrung des wissenschaftlichen Capitals ist, zeigt schon die Erfahrung. Das Erkannte wiedererkennen, rein darstellen, die Verfälschung der Zeiten, den Missverstand wegräumen, was nicht als Ganzes erscheint, zu einem Ganzen vereinigen, das Alles ist wohl nicht ein actum agere, sondern etwas höchst Wesentliches, ohne welches bald alle Wissenschaft ihr Ende erreichen würde. In jeder Wissenschaft muss sogar philologisches Talent sein; wo dasselbe ausgeht, da tritt Ignoranz ein; es ist die Quelle des Verstehens, welches keine so leichte Sache ist. (Boeckh 1877: 14/ 15; Kursivierung wie im Original) Boeckh verweist erneut auf die objektive Herangehensweise und Wiedergabe der Forschungsergebnisse. Interessant ist die Reminiszenz an Boeckhs Lehrer Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), die sich in diesem Zitat bei der Bestimmung der Aufgabe der Philologie, sie solle „den Missverstand wegräumen“, zeigt. Klar erkennbar ist hier die methodische Gebundenheit der Philologie an die Hermeneutik, wie sie eben in der Schleiermacherschen Definition - hier subsummiert Schleiermacher allerdings rein die Hermeneutik unter dieser Definition - zu finden ist. 77 Hermeneutik und Kritik bilden, neben der Grammatik 78 , auch bei Boeckh den methodischen Zugang bei der Erforschung der Quellen. 76 Nach Boeckh muss der Philologe sich nicht nur in den Autor hineinfühlen, sondern ihn besser verstehen als er sich selbst. Hier geht Boeckh, was die Identifikationsleistung des erkennenden Subjekts mit seinem Forschungsgegenstand betrifft, im Vergleich zu Wolf einen ganzen Schritt weiter (vgl. Wolf 1839: 272; Boeckh 1877: 87). 77 Die Intertextualität zwischen der Vorlesung Schleiermachers über Hermeneutik und Boeckhs Enzyklopädie ist sicherlich zeitbedingt. Zusätzlich zeichnete sich die Beziehung beider durch ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Dennoch impliziert auch dieser Verweis wieder das Anliegen Boeckhs, die Philologie als streng objektive Wissenschaft zu etablieren. Denn erst Schleiermacher begründete die Hermeneutik als eine textinterpretatorische Theorie des Verstehens (zum Beitrag Boeckhs zu einer philologischen Verstehenstheorie, die sich dem Problem des erkennenden Subjekts stellt, vgl. Horstmann 1992). 78 Im Zentrum der Forschung stehen nach wie vor die über Sprache übermittelten Quellen. Allerdings betont Boeckh wiederholt, dass Philologie kein reines Sprachstudium sei. Auch die Grammatik spielt bei ihm eine sehr untergeordnete Rolle: „Es könnte daher angemessen erscheinen, die Philologie für identisch mit dem Sprachstudium zu erklären und zwar nicht beschränkt auf die alten Sprachen […] sondern allgemein für die Sprachen als Polyglottie, wie ich es nennen möchte. […] Wiewohl es etwas Die Emanzipation der ancilla 81 Der Textverweis auf Schleiermacher deutet auf einen weiteren Klassifikator der ‚Philologie‘ hin. Zwar betont Boeckh stets die Objektivität der wissenschaftlichen Forschung, aber er meint damit nicht eine rein empirisch-positivistische Wissenschaft. In der idealistischen Tradition stehend, koppelt Boeckh, wie auch Wolf, empirische Forschung an Spekulation, das heißt, die methodisch gesicherte Erkenntnis der realen Naturerscheinungen an ein ideales Wissen. 79 Doch hat sich die Bedeutung der Spekulation für die wissenschaftlich-philologische Forschung verschoben. Horstmann interpretiert die aus der Philosophie stammende Spekulation in der Boeckhschen Definition als bloße Hypothesenbildung (Horstmann 1992: 128), wodurch die philologische Forschungs-methode einen neuen Status erhält. Dient die Spekulation tatsächlich nur einer reinen Hypothesenbildung, die anschließend über strenge methodische philologische Forschung überprüft werden muss, so werden Begriffe wie „Gefühl“, „Intuition“ und „Spekulation“ semantisch neu aufgeladen und aktualisiert. Sie verweisen dann in Richtung der von Max Weber geforderten Intuition, die am Beginn einer jeden Forschung stehen müsse und die es dann über eine streng wissenschaftliche Methode zu überprüfen gilt (vgl. Weber 1919). 80 Die Boeckhsche Definition der Spekulation als wissenschaftliche Methode und ihre Reduzierung auf eine Forschungsidee, die mittels philologischer Forschung überprüfbar ist, ließe sich möglicherweise als eine Vorwegnahme der Cassirerschen Theorie lesen, dass naturwissenschaftliche Deduktion und geisteswissenschaftliche Induktion sich eben nicht ausschließen, sondern gerade ergänzen. 81 Dies impliziert dann auch die geforderte Kontrollierbarkeit Grosses ist, dem geheimen Gang des menschlichen Geistes durch unzählige Völker auch in der Bildung der Sprachen nachzuspüren; wiewohl ferner in dem Begriffe der Sprachwissenschaft ein wirklich Unterscheidendes liegt, indem dieselbe als besondere Wissenschaft aufgestellt werden muss - wenngleich die Sprache durch den Gedanken bedingt ist, und also auch dieser vom Sprachforscher gekannt sein muss, so dass er sich nicht bloss auf dem Gebiete der Sprache halten kann -: so ist es doch wieder factisch falsch […]. Wir nehmen übrigens der Grammatik nicht ihren Werth, nur behaupten wir, dass die Philologie sich nicht bloss mit diesem in gewisser Beziehung nur formalen, sehr oft eine Leerheit an Gedanken zurücklassenden Studium beschäftige, sondern ihr Zweck und Begriff höher liege - dass sie eine Bildung gebe, die den Geist nicht bloss mit grammatischen Ideen, sondern mit jeder Art von Ideen erfüllen müsse, was allein der thatsächlichen Bedeutung der philologischen Studien entspricht.“ (Boeckh 1877: 7) 79 Vgl. hierzu besonders Horstmann 1992: 29-55; v.a. 36-42. 80 Auch Vogt 1998: 9 deutet darauf hin, dass das Boeckhsche Werk teilweise die Webersche Konzeption von Wissenschaft vorwegnimmt. 81 Vgl. Cassirer 1923: 29; auch Oexle 1998: 144-146. Vgl. dazu Boeckh 1877: 56: „Dadurch allein wird aber dieser Theil noch nicht wissenschaftlich, sondern erst dadurch, dass diese Einzelheiten alle unter einer Enheit [sic! ] begriffen sind. Es muss ein Gemeinsames gefunden werden, in welchem alles Besondere enthalten ist. Es ist dies dasjenige, was die Philosophen das Princip eines Volkes oder Zeitalters nennen, der innerste Kern seines Gesammtwesens; […] Die Einzelheiten sollen nicht aus diesem „Die Verwandlung der Welt“ 82 der philologischen Forschung, die nach wie vor an ein erkennendes Subjekt gebunden ist und die somit Verstehensangebote an die Gesellschaft liefert, die nicht nur einem subjektiv-kreativen Interpretationsprozess geschuldet, sondern Erkenntnisprodukte einer objektiven, wissenschaftlichen Forschung sind. Boeckh führt diese Reduzierung aber nicht in einem deprivativen Sinne durch, sondern verändert das Primat der Intuition als Methode und setzt an dessen Stelle die historisch-empirische Forschung. Insofern lässt sich die Umkehrung des Verhältnisses zwischen philologischer und philosophischer Forschung nur bedingt als Vorwegnahme der Weberschen Intuition als Hypothesenbildung lesen. Betrachtet man den Stand der Klassischen Philologie als wissenschaftliche Disziplin in der Zeit nach den Boeckhschen Veränderungen der Konzeption ‚Philologie‘, so sieht man sich einer Disziplin gegenüber, deren Forschungsgegenstand sich vordergründig zwar nicht verändert hat, aber dessen Wahl nun doch eher zufällig erscheint (Kopp/ Wegmann 1987: 125). Die Zielsetzung jedoch bleibt unangetastet: es geht weiterhin um das Erfassen einer Epoche, größtenteils über ihre normativen Texte. Dabei zeigt sich, dass die Vorstellung, der Interpretator verstünde die Werke teilweise besser als der Autor und betreibe daher die Rekonstruktion des Erkannten als einen kreativen Prozess, eine Konstante bleibt. Noch deutlicher als bei Wolf tritt die Forderung nach einer objektiv-wissenschaftlichen Methode auf - hier zeigt sich bei Boeckh ein intensiver Einfluss seines Lehrers Schleiermacher. Boeckhs methodische Reflexion zielt auf eine Theorie des Verstehens, wie sie Schleiermacher in seiner Hermeneutik vorschlägt. So ergeben sich bei Boeckh nicht unwesentliche Verschiebungen der durch den discours fondateur seines Lehrers Friedrich August Wolf vorgegebenen Klassifikatoren innerhalb der Wissensrahmen um den Begriff der Philologie. Zunächst betrifft dies die Selektion des Gegenstandes: Über dessen inhaltliche Neubegründung schließt die Selektion die Moderne nicht mehr grundsätzlich aus, was die Legitimation des Forschungsgegenstandes der Neuphilologien erleichtert. Doch noch eine weitere Konsequenz ergibt sich aus der Boeckhschen Konzeption: Hatte Wolf den Auftrag der Philologie vor allem in einem Ausbildungsauftrag zur Idealisierung und Vervollkommnung der Gesellschaft gesehen, so wird dieser Grundsatz bei Boeckh zu einer Ethik formuliert werden, die über eine pädagogische Legitimationsbasis in diesem Sinne - Boeckh hat nicht mehr die Vorstellung eines Idealzustandes vor Augen - hinausgeht. Der Begriff ,Phi- P r i n z i p deducirt werden, was bei historischen Dingen nicht möglich ist, aber sie sollen hervorgehen aus einer allgemeinen Anschauung, und diese muss sich wieder in jedem einzelnen Theile bewähren; sie ist die Seele des Leibes, durchdringt den irdischen Stoff als die zusammenhaltende ordnende Ursache, wie die Griechen die Seele mit Recht nennen: durch diese Beseelung wird die Wissenschaft eben o r g a n i s c h .“ (Sperrung wie im Original) Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 83 lologie‘ muss bereits Anfang des 19. Jahrhunderts als ein polysemer gelesen werden: Zum einen findet sich ein Sediment 82 , das epistemisch über die in den Wissensrahmen um die Begriffsfelder ‚Kulturpädagogik‘ und ‚Bildung‘ wirkenden Diskurse bestimmbar ist und über das noch eine deutliche Verbindung zu den Gedanken der Aufklärung und der Klassik hergestellt werden kann (Wolf), zum anderen lässt sich aber eine weitere Schicht aus den Texten herauslesen, die ein sehr viel weiter gefasstes Philologiekonzept vorstellt, das letztlich der romantisch-idealistischen Idee der Ganzheitlichkeit verpflichtet ist und das auf diese Weise seine Anbindung an die Wert- und Normenbildung der Gesellschaft sowie seine Verpflichtung dieser gegenüber behält (Boeckh). 3.3 Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 3.3.1 Gottfried Hermann (1772-1848): Die Fokussierung des geschriebenen Wortes August Boeckh und seine Konzeption der Universalphilologie, die in ihrem Anspruch auf eine ganzheitliche Erfassung der Menschheitsgeschichte für die gesamte Bandbreite an kulturellen Zeugnissen sowohl der Antike als auch der Moderne Raum bot, traf nicht nur auf Zustimmung. Ein hohes Maß an Bekanntheit erlangte der zum Teil auf sehr polemische Weise geführte Streit zwischen August Boeckh, dem Vertreter der „Sachphilologie“ und Gottfried Hermann, dem Vertreter der „Wortphilologie“ (Vogt 1979: 103). 83 Vordergründig stellt sich der Streit zwischen beiden Philologen als ein Methodenstreit dar, auf einer tieferliegenden Ebene berührte die Auseinandersetzung aber den Begriff der Philologie und deren Selbstverständnis (Vogt 1979: 104, 111). Gegenüber standen sich in der Tat zwei unterschiedliche Konzeptionen von Philologie, in denen jeweils verschiedene epistemische Verschiebungen, beispielsweise im Sprachbegriff wirksam wurden: Hermann vertrat mit seiner Wortphilologie eine strenge, formale Fokussierung der kritisch-grammatischen Textedition, während die Sachphilologie, als deren Exponent Boeckh gilt, sich zwar ebenfalls über die Textinhalte, aber eben auch unter Einbeziehung aller historisch-antiqua- 82 Diese dominant pädagogische Konzeption der Philologie wird vor allem in den neusprachlichen Philologien sehr stark vertreten, aber auch diskutiert werden. So greift beispielsweise Karl Mager den pädagogischen Ansatz auf und vertritt diesen - im Grunde verkürzten - Ansatz für die modernen Sprachen und Literaturen im Hinblick auf die Lehrerausbildung. Friedrich Traugott Friedemann wird sich für dieses Konzept im Gymnasialunterricht einsetzen. Allerdings ruft diese Verkürzung auch stets Kritiker wie beispielsweise Adolf Tobler auf den Plan, deren Konzeption stärker in der Tradition Boeckhs zu sehen ist. 83 Vgl. zum Verlauf dieses Streits besonders Lehmann 1964: 37ff. „Die Verwandlung der Welt“ 84 rischen 84 Denkmäler dem Altertum mittels einer ganzheitlichen Hermeneutik als einer Theorie des Verstehens von Wissen zu nähern versuchte (Mangold 2004: 91). 85 Stein des Anstoßes war die Tatsache, dass Boeckh die Sprache als eine „Sache“ unter anderen betrachtete, die der Philologe zu analysieren habe, wollte er das Wesen eines Volkes erkennen (Vogt 1979: 114/ 115). Seine Theorie zielte darauf ab, […] dass die Philologie in Bezug auf ein bestimmtes Volk in einem verhältnissmäßig abgeschlossenem Zeitalter die geschichtlich wissenschaftliche Erkenntnis der gesammten Thätigkeit, des ganzen Lebens und Wirkens des Volkes ist. Dies Leben und Wirken, natürlich auch mit dem, was dadurch erzeugt ist, ist die von der Philologie zu betrachtende Sache. […] Dass die Sprache, als Form des Gedankens, zu dem Gebiete gehöre, welches ich hier kurz Wissen genannt habe, kann leicht gezeigt werden; folglich gehört auch sie mit zur Sache, welche Philologie zu betrachten hat. […] In wiefern aber die Äusserungen der Thätigkeit eines alterthümlichen Volkes grossentheils in Sprachdenkmälern überliefert sind, die auch die nicht sprachlichen That- 84 Vogt 1979: 116 verweist zu Recht darauf, dass der Unterschied zwischen grammatisch-kritischer Forschung und historisch-antiquarischer Forschung nur an der Oberfläche den Unterschied zwischen Wort- und Sachphilologie beschreibt. Der eigentliche Grund für die Verschiedenheit sei, so Vogt, in einem gänzlich unterschiedlichen Verständnis von Sprache zu finden, das auf einer tieferen Ebene angesiedelt sei (Vogt 1979: 116). 85 Vogt 1979: 104-114 macht für diesen Unterschied in den jeweiligen Philologiekonzeptionen vor allem die philologisch-hermeneutische Sozialisierung der beiden Kontrahenten verantwortlich. So sei Hermann viel stärker von der juristischen Hermeneutik de Savignys sowie von der Philosophie Kants beeinflusst gewesen, was sich auch in seiner Konzentration auf die formalen kritisch-grammatischen Aspekte der Textarbeit niederschlägt (Vogt 1979: 104-107). Boeckh sei hingegen ganz Schüler Schleiermachers gewesen, dessen Hermeneutik sich das Ziel gesetzt hat, dem Menschen eine Teilhabe am „höchsten Wissen“ zu vermitteln, und die sich als eine Methode begreift, ein Verstehen von Wissen zu übermitteln (Wiehl 1979: 48). In Schleiermachers Hermeneutik wird, wie auch bei Boeckh, die Verbindung von Empirie und Spekulation notwendige Bedingung für die Universalierung der Erkenntnis. Schleiermacher beschreibt dieses Verhältnis mit den Kategorien der grammatischen und der psychologischen Interpretation. Verbunden werden diese beiden Pole über die Reflexion (Wiehl 1979: 59-61). Auf diese Weise gelangt Schleiermacher zu einer Theorie des Verstehens, die in sich die „Spannung zwischen philosophischer Hermeneutik und hermeneutischer Philologie“ voraussetzt (Wiehl 1979: 60). Dieser Anteil der Philologie an der Philosophie zeigte sich in der Analyse der Boeckhschen Philologiekonzeption ebenfalls als integrales Element. Gebunden ist dieses Spannungsfeld an die Dynamik und die Unendlichkeit des Forschungsfeldes, der unaufhörlichen Generierung von menschlichen Äußerungen und damit menschlichem Wissen, ebenso wie an die Vorstellung der Geschichtlichkeit des Menschen - ein Kriterium, das den Boeckhschen Sprachbegriff in einem anderen Maß prägte als dies bei Hermann der Fall war, dessen Sprachauffassung in weiten Teilen noch einem rationalen Sprachbegriff verhaftet war. Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 85 sachen und Gedanken, welche der Philolog wieder erkennen soll, enthalten, wird die Sprache der Philologie zugleich Mittel zum Wiedererkennen fast aller übrigen Erzeugnisse des Alterthums, und die Philologie muss aus den Sprachdenkmälern, ohne beim Verstehen der Sprache selbst stehen zu bleiben, das ganze Gebiet der Thatsache und des Gedankens darstellen, allerdings, was den Betrieb der Einzelnen betrifft mit der möglichsten von Hermann empfohlenen Theilung der Arbeit […]. (Boeckh [1826] 1872: 264/ 265) Boeckhs Konzeption der Philologie und die Rolle der Sprache innerhalb der philologischen Forschung wird in dieser Passage noch einmal deutlich. Es geht der Philologie bei Boeckh um mehr als die reine Herstellung eines Textes, der in seiner sprachlichen Form möglichst nahe an das Original heranreicht. Die essentielle Rolle, die die Sprache als Schlüssel zu den Wissenswelten vergangener Kulturen spielt, stellt Boeckh dabei gar nicht in Frage. In dieser Hinsicht gibt er Hermann sogar Recht, verweist aber gleichzeitig darauf, dass Sprache die Beziehung Gedanke und Wort nicht in einer eins-zu-eins-Relation abbildet 86 , sondern sich in ihr Wissen und Sinn transportieren lässt, der nicht ausschließlich im Zeichenkörper gefasst ist. Boeckh schreibt der Sprache hier eine soziale Komponente ein: Sie ist Kommunikationsmittel und damit auch abhängig von sozialen Faktoren. Sprache bei Boeckh ist bereits sehr vielschichtig angelegt, das Kriterium der ihr innewohnenden Historizität kann sich in ihr voll entfalten. Sprache besitzt eine eigene Geschichtlichkeit, geschichtliche Entwicklungen lassen sich in ihr nachvollziehen. Damit hat sie gleichzeitig Anteil an der Geschichtlichkeit des Menschen. Impliziert ist hier bereits die Vorstellung eines essentiell-universellen Kriteriums der Historizität von Sprache. Dieses Kriterium führt in Boeckhs Sprachauffassung und damit auch in seiner Konzeption der Philologie weit über ein „Verstehen der Sprache selbst“ hinaus, was Hermann als Ziel der philologischen Forschung gesetzt hatte. In diesem Punkt distanziert sich Boeckh denn auch von Hermanns Forderung, der Sprachbeherrschung die größte Bedeutung in der Philologie zuzuweisen (Vogt 1979: 115). Damit geht Philologie über die Rekonstruktion des originalen Wortlautes und die Textpflege hinaus und wird vielmehr zu einer Rekonstruktion der Autorenintention. Philologische Forschung will über das Medium Sprache das Wissen einer Kultur möglichst in seiner Gesamtheit erkennen, um sich so dem vollkommenen Verstehen anzunähern. Eben diese Annäherung erlaubte, die Sprache als Spiegel der Erkenntnis aufzufassen; in der Sprache, so Boeckhs Überzeugung, spiegele sich das gesamte Wissen der Welt (Boeckh 1877: 725). Dieser Ganzheitlichkeitsanspruch und die Bereitstellung einer Sinnkohärenz im menschlichen Sein 86 Gemeint ist hier die Überzeugung, die grammatischen Regeln einer Sprache bildeten die Denkweise eines Volkes ab. Wer also eine fremde Sprache grammatikalisch perfekt beherrsche, gelange so zur Einsicht über die Denkstrukturen des fremden Volkes, die sich in den Sprachregeln spiegelten. „Die Verwandlung der Welt“ 86 und Werden bilden das Ziel und die Aufgabe, die Boeckh der Philologie zuschreibt: Möchte doch auch den batavischen Gelehrten der Sinn für dieses Verständnis aufgehen; möchten sie doch dieses Buch, ob es gleich nur in deutscher Sprache verfaßt ist, recht verstehen lernen, um zur Kenntnis des Einzelnen, die wir jetzt mit ihnen gemein haben, von uns auf das Ganze zu überkommen; damit sie nicht länger wähnten, daß die Abenddämmerung ihrer alten Erudition der letzte Traum der Philologie wäre. (Boeckh über die Platon- Übersetzung Schleiermachers; zit. nach Lehmann 1964: 42) Deutlich wird hier, dass Boeckh mit einer Wissenschaft ‚Philologie‘ nicht mehr Gelehrsamkeit identifiziert. Wissenschaftliche philologische Forschung zielt nicht mehr auf die Bereitstellung von Wissensbeständen ab, sondern darauf, zu erkennen, wie Wissen sich vollzieht - es geht um die Erkenntnis, ein tiefergehendes Verstehen von Wissen, an dem der Forscher partizipiert und das er so rekonstruieren kann, um es in (historische) Relation zum Menschen in seinem aktuellen Zustand zu setzen. 87 Erkennbar ist hier der Einfluss Humboldts, Sprache als ein Individuum zu betrachten, über dessen Entwicklung die freie Selbsttätigkeit des Geistes und damit auch der Gang der Geschichte verstehbar seien (Schlieben- Lange/ Weydt 1988: 11). Boeckh vertritt einen hermeneutisch-idealistischen Sprachbegriff, der von der Vorstellung getragen wird, über die Analyse und Erforschung der Sprache lassen sich Wissen und Sinn, die in der Geschichte verborgen sind, erfassen und vor allem auch verstehen. Sprache wird so zum essentiellen Schlüsselmedium innerhalb der Philologie als einer Wissenschaft des Verstehens von Wissen. Boeckh antwortete mit seiner Abhandlung über „Logisten und Euthynen der Athener“ (1826) auf einen scharfen Angriff Hermanns, der in seiner Schrift Ueber Herrn Professor Boeckhs Behandlung der griechischen Inschriften (1826) seinen Standpunkt in der Methodendebatte zementiert hatte. Hermann kommt darin zu dem Urteil: Man hat, so viel ich weiß, zu Göttingen, durch Wolfs unbillige Ausfälle gegen Heyne veranlaßt, einen Unterschied zwischen Philologen, die sich mit den Sachen beschäftigen, und solchen, die man Grammatiker und Metriker 87 Lehmann 1964: 53/ 54 macht zwar deutlich, dass Boeckh im Gegensatz zu Hermann eine historische Komponente in seine Philologiekonzeption integriert, analysiert aber nicht die Ursachen für diese Veränderung im diskursiven Rahmen ‚Philologie‘. Auch Vogt 1979: 116 deutet nur an, dass der unterschiedliche Stellenwert der Sprache bei Hermann und Boeckh auf unterschiedliche philosophische Beeinflussungen zurückgehen könnte. Auf die Möglichkeit, in beiden Konzeptionen den Übergang von einem noch der rationalen Philosophie Kants verhafteten Sprachbegriff zu einem idealistisch-hermeneutischen Sprachbegriff zu sehen und den Methodenstreit zwischen Hermann und Boeckh somit als Manifestation einer Zäsur zu deuten, gehen beide nicht ein. Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 87 nennt, zu machen angefangen, und die erstern haben sich gedünkt eine Stufe höher zu stehen, und auf die andern mit einiger Vornehmheit herabsehen zu dürfen. Es liegt aber dieser Unterscheidung theils eine Verwechselung zweier sehr verschiedener Begriffe, theils das Bestreben eine mangelhafte Kenntniß zu verstecken zum Grunde. Sachen und Sprache können nur da unterschieden werden, wo man unter Sprache die Muttersprache versteht. Denn hier tritt die Sprache, als das völlig bekannte Zeichen, durch welches die Sachen erkannt werden, gänzlich ihnen gegenüber; es ist bloß Mittel, und braucht nicht Gegenstand der Erkenntniß zu seyn. Wären die Sprachen des Alterthums uns in dem Grade bekannt, wie unsre Muttersprache, und wären die schriftlichen Denkmäler desselben unverfälscht auf uns gekommen, so würde das auch mit ihnen der Fall seyn. (Hermann 1826: 3) Hier zeigt sich deutlich der Kantsche Einfluss auf Hermann, das sprachliche Zeichen erhält seinen Inhalt nur über das Abbilden der Gedanken, also über eine Annäherung an das wahre Wesen der Dinge in diesem Abbildungsprozess und hat darüber hinaus keinen inhaltlichen Wert an sich, transportiert folglich auch keinen Sinn. Die Sprache bildet dementsprechend lediglich die Verstandestätigkeit eines Volkes ab - sofern schriftlich fixierte Zeugnisse vorliegen. Dieß ist aber nicht so, sondern, wenn wir auch das Alterthum erst durch das kennen lernen, was seine Schriftsteller berichten, so sind doch seine Sprachen selbst ein Theil dieses Alterthums, und können nur erst wieder mittelst unsrer Muttersprache uns bekannt werden. Folglich beruht jene Unterscheidung auf der Verwechselung zweier dem Worte Sprache beygelegter Bedeutungen. Die alten Sprachen gehören aber nicht nur überhaupt, wie alle im Gegensatze gegen sie so genannten Sachen, zu den Sachen des Alterthums, sondern sie sind von allen gerade die wichtigste und vorzüglichste Sache. Schon an sich ist die Sprache eines Volkes das, was als das lebendige Bild seines Geistes am meisten sein Wesen charakterisirt; noch wichtiger wird sie dadurch, daß durch sie erst alles übrige, was einem Volke eigen ist, begriffen und verstanden werden kann; und wenn vollends ein solches Volk Schriften aufzuweisen hat, die wegen ihres Inhalts höchst wichtig, und wegen ihrer Form für alle Zeiten musterhaft sind, dann ist doch wohl seine Sprache von allem, was wir von ihm haben, das wesentlichste. (Hermann 1826: 3/ 4) Hermann stellt die Beherrschung der Sprache - die der Philologe am besten wie seine Muttersprache beherrschen solle - in den Fokus seiner Philologie (Vogt 1979: 115/ 116). Nur auf diese Weise könne man zur Erkenntnis der Sachen gelangen, indem man die Gesetzmäßigkeiten der Sprache nachvollziehbar mache. Das Losungswort heißt bei Hermann „Sprachgelehrsamkeit“. Indem die alten Sprachen erlernt werden, nähert sich der Altertumsforscher dem Geist eines Volkes an. Begreift er die Regelhaftigkeiten der Sprache, erschließen sich ihm auch die geistigen Vorgänge im „Die Verwandlung der Welt“ 88 Denken der antiken Völker. Gelangt der Philologe zur perfekten Beherrschung der Sprache, so könne er auch das vergangene Volk in seiner Ganzheit, in seinem Denken begreifen. Hermann sah in der Konzeption Boeckhs, die als Aufgabe der Philologie das Erkennen des Erkannten als ein letztlich stets unvollständiges Projekt des Verstehens der gesamten Wissensleistungen des menschlichen Geistes formulierte, einen Angriff auf die Form der Philologie, die sich der Rekonstruktion des Textes verschrieben hatte, um in der möglichst originalgetreuen Abbildung der Sprache eine ebenso nahezu originale Abbildung der Gedanken des Autors zu erhalten. Hermann suchte in der Sprache nach Gesetzmäßigkeiten, die die Gesetzmäßigkeiten des Denkens der antiken Autoren abbilden. Hat sich dem Forscher erschlossen, nach welchen Regeln der menschliche Geist Äußerungen produziert, so erschließt sich ihm auch ihr Inhalt. Daher ist die Sprache die einzige Sache, mit der es die Philologie zu tun hat. Diese kritisch-grammatisch zu erforschen ist ihre Aufgabe, um so dem Inhalt der schriftlichen Zeugnisse der Antike auf die Spur zu kommen: Aber gesetzt auch, die Sachkenntniß umfaßte alles, was man Sachen zu nennen beliebt, so bleibt sie doch noch Einseitigkeit, so lange sie gerade das, was den Schlüssel zu jedem ihrer Theile enthält, die Sprachkenntniß vernachläßigt, oder gar mit geringschätzigen Augen betrachtet. Die wahren Philologen dagegen, wohl wissend, daß man im Fluge zwar schnell zu einer Höhe gelangen könne, wo man in der Vogelperspective sehr viele sübersieht [sic! ], aber nichts recht unterscheiden kann, gehen einen andern Weg, und, indem sie die Geisteswerke der Alten für das vornehmste und wichtigste halten, sehen sie die Sprache als die schwer zu ersteigenden Propyläen zu dem gesammten Alterthume an. Daher sie, an Schwierigkeiten gewöhnt, und eben deßwegen bescheidner, auch die Sachkenntniß in Ehren halten, aber beides nur als Mittel zu dem Zwecke betrachten, den das klassische Alterthum schon durch diese seine Benennung ankündigt, als Quelle mancher Wissenschaft, und als Muster der Bildung und des Geschmacks zu dienen. Da dieser Zweck nur dadurch erreichbar ist, daß man die Schriften der Alten richtig versteht, dieß aber ohne Sprach- und Sachkenntniß nicht möglich ist, so belächeln sie eben sowohl den, welcher die eine, als den, der die andere gering achtet; die Sprache aber halten sie für das erste und unerläßlichste, weil durch sie erst das andere alles verstanden wird. (Hermann 1826: 8/ 9) Hermann fürchtete, eine als Sachphilologie verstandene Philologie könne sich nicht mehr in der Weise auf den Gegenstand konzentrieren, wie es dieser vom Forscher verlangte und einem Verlust der Gründlichkeit und somit dem Verlust auf Wahrheitsanspruch die Tür öffnen. Die Abwendung von einer reinen Konzentration auf die Sprache zöge es unweigerlich nach sich, dass nicht mehr nur auf die Primärquellen, sondern auch auf Sekun- Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 89 därliteratur zurückgegriffen werde, was in Hermanns Augen eine Entfernung vom Original und damit auch eine Entfernung von der historischen Wahrheit bedeutet. Zusätzlich sieht Hermann in der von den Sachphilologen vertretenen Sprachauffassung die Gefahr, die antike Welt könne ihre Vormachtstellung verlieren: Ja wenn die Sachkenntniß das eigentliche Wesen des Philologen ausmachte, so könnte jemand ein ziemlicher Philolog werden auch ohne Griechisch und Lateinisch zu verstehen, da die meisten das Alterthum betreffenden Sachen sehr ausführlich in Deutschen, Englischen, Französischen, Italienischen Schriften behandelt worden sind. Auch würde die Frage entstehen, da doch die heutigen Sachphilologen nicht die Kenntniß aller Sachen in sich zu vereinigen für gut finden, welche Sachen denn eigentlich die rechten seien. Dieß könnte leicht zu einem bedenklichen Streite unter den Sachphilologen selbst führen, indem jeder die von ihm getriebenen Sachen für die vorzüglichsten und nothwendigsten ausgeben dürfte. (Hermann 1826: 9) Die Linearität der Forschung, wie sie Hermann in der Reduktion auf den Gegenstand Sprache begreift, würde durch die Disparatheit eines Objektbereichs zerstört, der die Sprache nur als ein Teil in einer viele Teile umfassenden Philologie betrachtet. Implizit liest sich dieses Argument Hermanns wie eine Gegenüberstellung einer Konzeption von Philologie als universeller Kulturphilologie und einer auf das geschriebene Wort konzentrierten Textphilologie. Letztere erhält bei Hermann einen klaren Vorzug, denn eine Beschränkung des Objektbereichs philologischer Forschung auf das Wort würde gegenüber dem Gegenstandsbereich mit offenen Rändern, wie ihn die Sachphilologen veranschlagten, zu einer tieferen Erfassung des Altertums führen: Wenn dagegen in der Sprachkenntniß die Hauptsache der Philologie gesetzt wird, so hat man mindestens dazu weit mehr Recht, erstens, weil die Erlernung der Sprachen von allem das schwierigste ist; zweitens, weil eine genaue Kenntniß der alten Sprachen schon ohnehin mannigfaltige Sachkenntnisse voraussetzt, ohne welche sie gar nicht möglich ist, da fast jeder Schriftsteller deren andere erfordert; drittens endlich, weil die Sprache offenbar der Mittelpunct ist, von dem alle unsre Alterthumskunde, weniges ausgenommen, ursprünglich ausgeht. Wer daher den Sprachkenner Philologen nennt, der thut es nach dem Grundsatze a potiori fit denominatio. (Hermann 1826: 9/ 10) Spezialisierung ist in Hermanns Augen wünschenswert, da das Altertum eine so große Fülle an Wissen bereithalte, dass es der Arbeit vieler bedürfe, um dieses vollständig zu erfassen: Wenn übrigens einzelne Philologen ihr Hauptaugenmerk auf einen gewissen Kreis von Sachen richten, den sie in ein helleres Licht zu sehen suchen, so kann das nicht anders als lobenswerth seyn, da der Umfang der Al- „Die Verwandlung der Welt“ 90 terthumskunde so groß ist, daß er von keinem einzelnen vollständig umfaßt werden kann. (Hermann 1826: 10) Spezialisierung dürfe aber keine Hierarchisierung der Forschungsbereiche bedeuten, vielmehr müsse gegenseitiger Respekt die wissenschaftliche Arbeit auszeichnen: Nur dürfen sie in der Vorliebe für ihr Studium nicht so weit gehen, daß sie es für das höchste und wichtigste halten, was der Philolog betreiben kann, und die Meinung hegen, als verdiene derjenige gar nicht den Namen eines Philologen, der diese Theile des Alterthums nicht ebenfalls zu seinem Hauptstudium macht. Erst dadurch kommt ja die Wissenschaft überhaupt weiter, daß mehrere sich in die Arbeit theilen und jeder von dem, was die andern zu Tage gefördert haben, den Gewinn zieht, den er für sein Fach nöthig hat, keiner aber das verachtet, was, wenn auch nicht unmittelbar zu seinem Kreise gehörig, doch zur Bearbeitung desselben unentbehrlich ist. (Hermann 1826: 10). In seiner kritischen Würdigung hebt Friedrich Ritschl als einen bedenkenswerten Gesichtspunkt im Hermannschen Lebenswerk den Einfluss Kants auf Hermanns philologische Überzeugung hervor (Ribbeck 1879: 67). Dieser Einfluss ist auch in Hermanns Sprachbegriff spürbar. Als ein Problem in der Sprachauffassung Kants und damit den Grund für die „Verhaltenheit der Kantischen Philosophie gegenüber der Sprache“ (Simon 1969: 194) erkennt Josef Simon die Vorstellung, die Beziehung zwischen Begriff und Realität sei eine rein kontemplative Relation (Simon 1969: 194). Sprache bildet den Geist in seinem äußeren Begriff ab, Vorstellung und Realität sind somit voneinander isoliert, der Begriff bildet nur die Anschauung ab. Damit sind Sprachkategorien zwar in der Lage apriorische Strukturen der menschlichen Sprache im Sinne von Kategorien des Verstandes abzubilden, sie transportieren aber nicht Individualität im Sinne von an bestimmte Kulturen gebundenem historischem Wissen. Crelier sieht in dieser Auffassung der Sprache bei Kant die Anfänge einer transzendentalen Sprachkonzeption, die sich aber erst bei Schleiermacher, Hegel oder Humboldt vollziehe (Crelier 2010: 146/ 147). Hermann folgt dieser Überzeugung Kants, Sprache bilde die Grundlagen und Gesetzmäßigkeiten des Denkens, der menschlichen Vernunft ab. Darüber hinaus aber sah er in der Erforschung der Sprache nur mehr wenig Potential für die Erkenntnis und damit die Möglichkeit einer kreativen Reproduktion vergangener menschlicher Kulturen - wie es der Boeckhsche Ansatz vorsah. Nur was in der Rekonstruktion der Worte als „Inhalt des vollen Gedankens“ (Vogt 1979: 116) wieder für die Nachwelt zugänglich gemacht wird, kann zum Erkennen der Sachen führen (Köchly 1874: 57). 88 88 Vgl. zu Hermanns rationalistisch geprägtem Sprachbegriff ebenfalls Köchly 1874: 13- 16. Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 91 Das Kriterium der Historizität des Menschen, das über die Sprachauffassung Herders Eingang in die Reflexionen über die Aufgabe der philologischen Forschung gefunden hatte, zeigt sich bei Hermann nur in Ansätzen, wohingegen die Definition der Aufgabe der Philologie bei Boeckh diesen Gedanken voll entfaltet. In den Philologiekonzeptionen Gottfried Hermanns und August Boeckhs stehen sich demnach zwei Sprachbegriffe gegenüber, die Wortphilologie begreift im Wort noch die Einheit von Gedanke und Wort, der Gedanke kann erst fassbar gemacht werden, wenn er ausgesprochen ist (Köchly 1874: 13). Boeckhs Sachphilologie versteht Sprache demgegenüber bereits als Abdruck des Seelenlebens eines Volkes, wie Herder über die Integration der Dimension der Historizität als essentiell-universelles Kriterium der menschlichen Sprache in seinem Sprachbegriff proklamiert hatte. In der Sprache lasse sich der Charakter und die Geschichte eines Volkes erkennen - der idealistisch-hermeneutische Sprachbegriff geht in dieser Möglichkeit der Erkenntnis der Entwicklung menschlichen Wissens, welches in der Sprache verborgen liege, weit über den rationalistischen Denkansatz hinaus. So zeichnet der Gegensatz zwischen Hermann und Boeckh tatsächlich weniger das Bild eines Methodenstreits, denn das Bild eines Ablösungsprozesses des rationalen Sprachdenkens durch eine stärker von den Ideen der Romantik geprägte Sprachvorstellung. Dementsprechend scheint sich auch eine Fokusverschiebung innerhalb des Objektbereichs der Philologie zu ergeben: Geht es der Wortphilologie vorrangig um die Rekonstruktion der schriftlichen Denkmäler, so richtet sich das Augenmerk der Sachphilologie stärker auf das Erkenntnispotential, das in einer Reproduktion der gesamten Kulturleistungen des menschlichen Wissens liegt. Beide Theorien finden sich in den unterschiedlichen Konzeptionen der Neuphilologien wieder 89 , auch hier bietet sich eine Vielzahl unterschiedlicher neuphilologischer Forschungsprogramme, die die unterschiedlichen Diskurse aufnehmen, neu strukturieren und in die eigene Konzeption eingliedern. Beispiele hierfür liefern die Diskurse, die die Wissensrahmen um das Primat der Methode strukturell gliedern sowie diejenigen, die sich um die Frage nach gesellschaftlicher Relevanz spinnen wie auch die Diskurse um den Begriff des ethischen Mehrwerts. Eine eindeutige Reminiszenz an die Auseinandersetzung zwischen Sach- und Wortphilologie scheint in dem Ausspruch Jakob Grimms enthalten zu sein, als er in seiner Rede auf Karl Lachmann (1793-1851) genau die- 89 Vgl. hierzu auch Mangold 2004, die für die Orientalistik eine Rezeption und Orientierung an der Wortphilologie Hermanns annimmt. Die Konzentration auf die sprachlichen Fragen der Textausgabe und das Ziel einer größtmöglichen Annäherung an das Original blendeten Fragen nach der Historizität der Sprache sowie eine Einordnung der in einer Sprache erkennbaren historischen Bezüge in die Gesamtheit der Menschheitsgeschichte aus (Mangold 2004: 92/ 93). „Die Verwandlung der Welt“ 92 se Unterscheidung wieder aufnimmt, um sich gegenüber dem Kollegen abzugrenzen: Man kann alle philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche theilen, welche die worte um der sachen, oder die sachen um der worte willen treiben. Lachmann gehört unverkennbar zu den letzteren und ich übersehe nicht die großen Vortheile seines Standpunkts, wenn ich umgedreht mich lieber zu den ersteren halte. (Grimm 1991 [1851]: 150) Die Auseinandersetzung zwischen der Lachmann-Schule und ihren Kontrahenten, als deren gemäßigte Vertreter beispielsweise Franz Pfeiffer oder Karl Bartsch zu nennen wären, wird sich zwar weniger in einer unterschiedlichen Sprachauffassung spiegeln, dennoch gibt auch sie Hinweise auf die Aufgaben und Ziele der philologischen Forschung, wie sie im Laufe des 19. Jahrhunderts formuliert wurden. Daher soll ein kurzer Blick auf die Entstehung der Deutschen Philologie den Katalog der Bedingungen für die Genese der Romanischen Philologie abrunden und über eine weitere Perspektive des Philologiebegriffs Aufschluss geben: über die Philologie als Editionsphilologie, wie sie Karl Lachmann vertreten hatte. 3.3.2 Der Urtext als Ziel: Philologie als Editionsphilologie La philologie est l’ensemble des activités qui s’occupent méthodiquement du langage de l’homme, et de ses œuvres d’art composée dans le langage. Comme c’est une science très ancienne, et qu’on peut s’occuper du langage de beaucoup de façons différentes, le mot philologie a un sens très large, et comprend des activités fort différentes. Une de ses plus anciennes formes, la forme pour ainsi dire classique, et qui jusqu’à ce jour est regardée par beaucoup d’érudits comme la plus noble et la plus authentique, c’est l’édition critique des textes. (Auerbach 1949: 9) In dem Sinne, in dem Erich Auerbach für das signifiant ‚Philologie‘ einen polysemen Inhalt annimmt, konstatiert auch Ulrich Hunger für die Germanistik in ihrer Anfangsphase eine pluridimensionale Entstehungssituation, die sich in der Mehrschichtigkeit der Bedeutungen des Wortes Philologie spiegelt. Dementsprechend konstituiert sich die Germanistik nicht linear als eine einheitliche Wissenschaft, sondern ist in ihren Ursprüngen angelegt als eine aus vielfältigen, miteinander durchaus konkurrierenden Philologiekonzeptionen sich speisende Disziplin (Hunger 1987: 43-57). Die altphilologischen Strömungen, die bereits dargestellt wurden, beeinflussen die Deutsche Philologie als eine an kulturgeschichtlichen wie auch kulturpolitischen Fragestellungen interessierte Disziplin (Kolk 1989: 53) sowie als Erziehungsprojekt mit kulturhistorischem Anspruch (Hunger 1987: 55). Hier tritt sie vor allem in die Fußstapfen der Universalphilologie Boeckhs. Es erfolgen Verengungen des Gegenstandsbereichs hin zu einer Nationalphilologie, die sich stärker im Dienst kulturpolitischer Fragestellungen Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 93 bewegt und versucht, das Bewusstsein für die eigene Identität über die Beschäftigung mit den altdeutschen Texten zu fördern (Hunger 1987: 50). Als eine vierte und letzte Dimension innerhalb des Geneseprozesses der Deutschen Philologie sieht Hunger das „philologisch-textkritische Konzept“, das sich innerhalb der Germanistik letztlich unter den rivalisierenden Wissenschaftskonzepten durchsetzte (Hunger 1987: 59). 90 Betrachtet man Aussagen bezüglich der Gründerväter der Germanistik, Jakob Grimm und Karl Lachmann, so fällt zumindest eine Zweiteilung hinsichtlich der für das Fach geleisteten Verdienste ins Auge. So beschreibt Karl Müllenhoff 1980 [1854]: 301 die jeweilige Symbolkraft der beiden als eine bipolare: Wenn Grimms ganzes Wesen der Strenge der Methode widerstrebt und nur die Fülle der Erscheinung zu ergreifen trachtet, so brachte Lachmann uns die Schärfe der Kritik und die Strenge der Schule, und lehrte uns durch Scheidung unsere Gegenstände rein und das Einzelne genau an seiner Stelle erkennen. (Müllenhoff 1980 [1854]: 301) In einer ähnlichen Weise verteilt stellt sich das Verhältnis Grimm - Lachmann bei Wilhelm Scherer dar: Er war ein Genie der Kritik [Karl Lachmann; J.W.], wie Jakob Grimm ein Genie der Kombination. Erst Jakob Grimm und Lachmann in ihrem Zusammenwirken haben es möglich gemacht, daß sich eine Schule der altdeutschen Philologie, eine Tradition des Verfahrens bilden konnte. (Scherer 1920: 78) Erneut kristallisieren sich die beiden Pole Methodenstrenge sowie intuitives Nachfühlen heraus, die im Laufe des 19. Jahrhunderts das Spannungsfeld bilden, innerhalb dessen sich die Neuphilologien konstituieren, - hier gebunden an die Personalunion Lachmann - Grimm. 91 Jakob Grimm gilt als Gallionsfigur einer nationalphilologischen Germanistik, die ihre For- 90 Vgl. zur Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft v.a. Gardt 1999; zu einzelnen herausragenden Forscherpersönlichkeiten besonders König/ Müller/ Röcke 2000. Zur Entstehung der Literaturwissenschaft vgl. z.B. Fohrmann 1989, zur Rolle der Gebrüder Grimm bei der Disziplingenese Lelke 2005. Eine eher popularwissenschaftliche Darstellung der Brüder Grimm und ihres Schaffens findet sich in Grass 2010. 91 Kolk 1989: 60 verweist in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Entwicklung der Philologie über Forscherbiographien, das heißt die Geschichte einer Disziplin wird über eine metonymische Perspektivierung erzählt: herausragende Forscherpersönlichkeiten bilden in einer pars-pro-toto-Relation das Gerüst der Fachgeschichte. Im Fall Jakob Grimms und Karl Lachmanns, so Kolk, sei der philologische Ethos in der Persönlichkeit des Forschers aufgegangen, Forscher und Objektbereich assimilieren sich zu einer symbiotischen Form und stehen somit symbolisch für Identität und Ethik des Faches, der Wissenschaft, die sie vertreten (Kolk 1989: 61/ 62). Vgl. hierzu auch Danneberg 2007b: 108, der darauf verweist, dass die Einhaltung der moralischen Werte und Normen durch den Forscher ein philologisches Ethos symbolisiere, das den Wert der Forschung mitlegitimiert. „Die Verwandlung der Welt“ 94 schungsergebnisse als ein Angebot an die Gesellschaft versteht, die eigene Identität zu ergründen und zu festigen und somit als Wissenschaft ihren Sitz im Leben zu rechtfertigen und einem Rückzug in den Elfenbeinturm eine klare Absage zu erteilen (Hunger 1987: 55). 92 Der Editionsphilologie, als deren Exponent Lachmann gilt, geht es nicht mehr um diese gesellschaftliche Relevanz. Die Herstellung des Urtextes legitimiert vielmehr den Ausschluss einer gesellschaftlichen Rechtfertigung vor deren Folie wissenschaftliche Forschung erfolgen muss. 93 Der Prüfstein für das Ergebnis der philologischen Arbeit ist allein die Methode, deren akribische Anwendung für die Qualität der Arbeit bürgt. Im Gegensatz zur Altphilologie Wolfs und Boeckhs ging es Lachmann nicht mehr um das Nachfühlen dessen, was der Autor quasi „bewusstlos“ präsupponiert (Boeckh 1877: 87), sondern um das Aufspüren der Regeln, die den Autor in seiner Tätigkeit leiteten. Das Erkennen der Autorabsicht erfolgte über die Anwendung strenger, empirischer Regeln, die die Editionsphilologie in die Nähe zu den Naturwissenschaften rückte (Hunger 1987: 62). Erkenntnis entsteht bei Lachmann aus der Normierung der Texte, die diese durch die Reinigung von „unart“ und „willkür“ durch historisch-vergleichende Methode dem Original so weit wie möglich wieder annäherten und so die Gedanken des Autors als Regeln auf objektive Weise nachvollziehbar machten. Durch die Anwendung der komparativen Methode ergibt sich das „philologische verständniß“, das Lachmann als Leitprinzip diente (Hunger 1987: 60/ 61). Es ist die Methode, die die Philologie von jeglichem subjektiven Empfinden befreit und somit den Text in seiner ursprünglichen Absicht wiederherstellen kann. Auf den ersten Blick scheint Lachmann in seiner Konzeption nicht weit von der Aufgabe der Philologie, wie sie beispielsweise Wolf formulierte, abzuweichen: ich kann es, dem rohen kindischen stolzen gegenüber, das einfach wahre und unschuldige nennen, oder auch, wenn ich den rechten ausdruck brau- 92 Wyss 1979: 282 zieht ein ähnliches Fazit aus seinem Vergleich Grimms mit Lachmann: Im Gegensatz zur „domestizierten Philologie“ Lachmannscher Provenienz gehe es Grimm eben nicht um die Herstellung „ästhetischer Totalitäten“, sondern um die Möglichkeit, die Philologie als Angebot zur Partizipation und Verstehenswissenschaft zu definieren. 93 In Folge des sogenannten Nibelungenstreites, dessen Ausgangspunkt die Frage war, ob das Werk der Nibelungensage als individuelle oder kollektive Schöpfung anzusehen sei, wurden natürlich auch methodische Debatten geführt. Dabei spaltete sich die Germanistik in zwei Lager, die ‚Lachmannianer‘ oder Berliner Gruppe, die sich in der Tradition des Meisters sahen und einen Alleinanspruch auf dessen Erbe erhoben und die Leipziger Gruppe, die weniger fundamentalistisch an Fragen der Editionspraxis herantrat. Natürlich lag auch das Interesse der Leipziger Gruppe in einer möglichst großen Annäherung an den Urtext - verhandelt wurde in erster Linie die ethische Verpflichtung der Philologie hinsichtlich ihres Verstehensangebots gegenüber der Gesellschaft. In Frage stand also vielmehr die gesellschaftliche Relevanz des philologischen Ethos (vgl. hierzu Kolk 1991; 1993). Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 95 chen soll, das philologische verständniß, das mit folgsamer Hingebung die gedanken absichten und empfindungen des dichters, wie sie in ihm waren und wie sie den zeitgenossen erscheinen musten, rein und voll zu widerholen sucht, alles schöne freudig mit genießend, das unvollkommne oder häßliche, wo es nicht überwiegt, mehr entschuldigend und erklärend als aus den ansichten anderer zeit oder gar eines einzelnen bitter tadelnd. (Lachmann ²1843: III) Auffällig ist aber bereits, dass Lachmann nicht mehr von einem „Besserverstehen” ausgeht, der Text muss von allen Präsuppositionen gereinigt werden, die die „Nachdichter“ dem Autor quasi in den Mund gelegt haben, diese sind zu tadeln und auszumerzen. Einen eigenen historischen Wert erkennt Lachmann ihnen nicht zu. Philologische Arbeit wird bei Lachmann als mühsame Tätigkeit beschrieben, die zwar vordergründig auf Ermöglichung von Partizipation abzuzielen scheint: zu einem verständniß dieser art ist freilich niemand zu führen, der nicht besondere anlagen und mancherlei kenntnisse mit bringt, vor allem aber unbefangenheit und den guten willen sich zeit zu nehmen und die poesie auf sich nach des dichters absicht unterhaltend oder bewegend einwürken zu lassen: denn auch die gewaltigste fesselt nur den empfänglichen, und sein urtheil befreit nur wer sich willig ergeben hat. wiewohl ein urtheil, ein unumstößliches kunsturtheil, maßt die philologie sich nicht an, weil sie auf dem historischen boden bleibt: aber die ganze dichterische und menschliche gestalt des dichters mit seiner gesamten Umgebung sich in allen zügen genau vorzustellen ist die vollendung des wahren verstehens, ist das ziel der philologischen auffassung. wie lebendig der würdige ausleger der vorliegenden erzählung diese erkenntniß der ganzen person des dichters als seine aufgabe erkannt habe, zeigen die einfachen aber gedankenvollen worte die er mir als seinen einzigen beitrag zu dieser vorrede mitgetheilt hat. (Lachmann ²1843: III/ IV) Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber, dass Lachmann die Vergangenheit für den „deutschen gelehrten“ (Lachmann ²1843: V) vergegenwärtigen will und sich daher in erster Linie an den Spezialisten wendet, der die Methodizität eher zu würdigen weiß als ein Mitglied der gebildeten Gesellschaftsschicht. Der Wissenschaftler forscht für das eigene Fach, er generiert Erkenntnis für das System: die nachwelt […] wird, weil sie unsre dürftigkeit nicht begreift, unsern fleiß und unsre geistige anstrengung nicht genug ehren: dafür haben wir die herzliche lust des ersten erwerbes voraus gehabt. (Lachmann ²1843: V) Die Gefahr, dass philologische Forschung zum Selbstzweck werde, ist bei Lachmann angelegt - und führte unter anderem durchaus auch zu dem „Die Verwandlung der Welt“ 96 Vorwurf, dass Lachmann die Tür zum Einzug in den Elfenbeinturm für die Germanistik geöffnet habe (Seitz 2000: 51). 94 Das Erkennen des methodischen Zugangs zum Werk löste die Erkenntnissuche nach ethischen Werten ab (Hunger 1987: 61). Lachmann ging dabei mit einer Methodik vor, die, wie bereits erwähnt, durchaus an die historisch-vergleichende Methode der Sprachwissenschaft erinnert und somit Nähe zur positivistischen Methode der Naturwissenschaften gewinnt: Über die Erstellung einer Textgenealogie, zusammengefasst in einem sogenannten Stemma (Stammbaum) wurden die Texte quasi in ihren Verwandtschaftsverhältnissen darstellbar. Über diese objektiv kontrollierte Methode ließ sich der Archetypus gewinnen, der dem Urtext am nächsten kam. 95 Die Wiederherstellung des Originaltextes steht im Vordergrund der Lachmannschen Philologie, wie er im Vorwort seiner Iwein Ausgabe beschreibt: Die worte des dichters habe ich so genau und ursprünglich zu geben gesucht als es mir möglich schien; so daß ein etwas vorbereiteter leser nur lesen darf was gedruckt steht, um den eindruck rein zu empfangen. mögen noch etliche kleine flecken sein, das gesamte bild wird sich hell und sicher zeigen. (Lachmann ²1843: V/ VI) Der Hinweis auf den „vorbereiteten Leser“ weist auf die Etablierung eines Expertentums hin, das die Entwicklung der Philologie zu einem geschlossenen wissenschaftlichen System andeutet. Dies impliziert allerdings auch, dass gesellschaftliche Fragestellungen sowie das Verständnis der Philologie als ein Partizipationsangebot ausgeblendet werden (Janota 1980: 5/ 6). Dies war auch der Grund, warum nach dem Tode Lachmanns ein heftiger Streit um die Funktion des Kommentars entbrannte, dessen Höhepunkt wohl in der Bemerkung Ernst Martins zu sehen ist: Lieber gar keine Anmerkungen, als solche (wie wir ihnen heutzutage gar oft begegnen), die das Selbstverständliche erklären und das Dunkle ruhig bei Seite lassen. (Ernst Martin 1866, zit. nach Kolk 1993: 31) Verhandelt wurden in der Auseinandersetzung zwischen Berlin und Leipzig Fragen nach der Legitimität von Popularisierungsintentionen so- 94 Seitz 2000: 51ff. verweist darauf, dass es mit das Verdienst der vermittelnden Position Karl Bartschs gewesen sei, dass dieser Rückzug der Editionsphilologie in den Elfenbeinturm unterblieb. Vgl. dazu auch Kapitel 5.4.3. 95 Die Schritte der Lachmann-Methode erfolgen, verkürzt beschrieben, über die Herstellung eines Stemmas (Textstammbaum), recensio (Rekonstruktion des Archetypus) und emendatio (Verbesserung der fehlerhaften Stellen). Vgl. zu Lachmanns Methode v.a. Timpanaro ²1971, besonders 70ff. Hunger spricht im Zusammenhang mit diesem methodischen Vorgehen Lachmanns dezidiert von einem „mechanischen” Vorgehen. Das für die Philologie Wolfs und Boeckhs charakteristische Spannungsfeld zwischen den Polen kritischer Reflexion und Einfühlung wurde in dieser positivistisch ausgerichteten Editionsphilologie ausgeblendet (Hunger 1987: 61). Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 97 wie der Verpflichtung der philologischen Forschung auf gesellschaftliche Relevanz. Die Methode als Kriterium wissenschaftlichen Arbeitens stand dabei im Grunde nicht zur Debatte (Kolk 1993: 30/ 31; Janota 1980: 35). Kontrovers diskutiert wurde vielmehr das Spannungsfeld zwischen kritischer Reflexion, Methode und der emotionalen Identifizierung mit dem Forschungsgegenstand. Damit in Verbindung standen auch kulturhistorische, ethische und ästhetische Implikationen, wie sie eine Philologie als Bildungsprojekt, beispielsweise in der Konzeption Wolfs enthielt, aber auch der Aspekt, die philologische Forschung als Weg zur Erkenntnis des menschlichen Wissens wie der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu begreifen, wie ihn Boeckh oder später Elze in ihren Forschungsprogrammen vorgeschlagen hatten. Auch ein nationalphilologisches Geschichtsprojekt, wie es die philologische Konzeption Jakob Grimms beinhaltete, setzte eine Anbindung der Philologie an die Gesellschaft voraus. Diese Implikationen wurden angesichts einer positivistischen Editionsphilologie obsolet. Der Gegenstand an dem diese Debatten vordergründig aufgehängt wurden, war die Frage nach dem Stellenwert des Textes. War der einzelne Text nur als ein Teil einer positiven Textgeschichte aufzufassen, deren Nachverfolgung zum Urtext und damit zum einzig „wahren“ Text führte, der einen eigenen historischen Wert besaß oder muss jede einzelne Überlieferung in ihrem historischen Eigenwert als Element eines kollektiven Schaffensprozesses betrachtet werden, der Aufklärung über geschichtliche Prozesse geben kann, wie es eine formalisierte Textgeschichte, gefasst in ein Baumstemma, nicht mehr vermag, sondern dafür einen zuverlässigen Zeitzeugen der Individualität eines Autors liefert (Janota 1980: 34/ 35). Wyss beschreibt dieses Dilemma zwischen der Entscheidung für einen offenen Textbegriff und der Entscheidung für die Rekonstruktion einer einzelnen Autorenindividualität mit den Begriffen der „wilden“ und der „domestizierten“ Philologie, die er den Forscherpersönlichkeiten Grimm beziehungsweise Lachmann im Rückgriff auf die bereits erwähnte metonymische Funktionsweise der beiden Symbolfiguren zuordnet: Der Hunger der wilden Philologie nach Positivitäten ist unstillbar; die domestizierte Philologie […] schränkt sich auf die Herstellung ästhetischer Totalitäten ein, die von vornherein von der Wirklichkeit des Lebens abgeschnitten sind. Sie präsentieren sich unmittelbar zum Leser - wie Rankes Epochen zu Gott. Beides sind Totalitäten, Tableaux, in denen die Dynamik der Geschichte zur Ruhe gekommen ist. Lachmann ließ sich von numerischen Regelmäßigkeiten faszinieren, die den Aufbau der Texte bestimmen könnten […] und griff in die Überlieferung ein, wenn diese mit dem Er- „Die Verwandlung der Welt“ 98 kannten nicht übereinzustimmen schien. 96 Grimm hatte dafür nur blankes Unverständnis übrig. (Wyss 1979: 282) Einen Mittelweg zwischen diesen beiden Positionen beschritt Franz Pfeiffer, indem er einerseits vor der Gefahr warnte, philologische Textkritik nicht zum reinen Selbstzweck werden zu lassen, andererseits aber auch darauf verwies, dass der Fachdiskurs, das heißt die wissenschaftliche Diskussion über schwierige inhaltliche Belange wie auch Fragen, die den methodischen Zugang betrafen, innerhalb des Expertenkreises (intra muros) zu führen sei (Janota 1980: 45). Dies führte erneut auf die Frage nach der angemessenen Form der Edition zurück: Durfte der Textkommentar aus didaktischen Gründen und zur Sicherung des Textverständnisses durch ein breiteres Publikum in einer Weise bereinigt werden, die das harte Ringen der Fachwissenschaftler um schwierige Stellen letztlich verschwieg? 97 Pfeiffer plädierte für eine Trennung in einen von Experten geführten wissenschaftlich-philologischen und einen populärwissenschaftlich-philologischen Diskurs, der die Philologie weiterhin auf ihre ethische Dimension der Partizipation verpflichtete und ihr gleichzeitig gesellschaftliche Relevanz sicherte. Diese Aufspaltung verdeutlichte er im „Prospect“ des ersten Bandes der von ihm gegründeten Zeitschrift Germania. Zunächst nimmt Pfeiffer Stellung zum Nibelungenstreit, indem er eindringlich vor einer Zersplitterung der Fachwissenschaftler warnt, da diese in seinen Augen dem Wahrheitsanspruch und dem philologischen Ethos nur abträglich sein könne. Um in der Außenperspektive als autonome moderne wissenschaftliche Disziplin wahrgenommen zu werden, muss die Germanistik auch Geschlossenheit demonstrieren, innerhalb derer es möglich ist, anhand wissenschaftlicher Kriterien wie der Anwendung einer kontrollierbaren Methode, objektiv und ohne persönliche Invektiven über Ergebnisse und Ansichten zu verhandeln. Diese kommunikative Plattform soll eine Fachzeitschrift bieten: Ob eine Zeitschrift, wie wir sie beabsichtigen, ein Bedürfniss ist? Wer genauer mit dem heutigen Stand der deutschen Philologie vertraut ist, wird diess nicht in Abrede stellen. Wir sind von Achtung durchdrungen vor allen den Männern, welche unsere Wissenschaft geschaffen und gefördert haben; aber es ist nicht zu läugnen, dass auf dem Gebiete der deutschen Philologie, wie auf keinem andern Felde der Gelehrsamkeit, die Herrschaft der Autorität, das Ansehen der Schule eine Höhe erreicht hat, die nicht mehr fördernd, sondern hemmend wirkt, und mit freier Forschung und 96 Implizit wirft Wyss Lachmann hier vor, der Versuchung der invertierten Teleologie erlegen zu sein. 97 Vgl. zu Pfeiffers Ansichten über eine „didaktische“ Textausgabe Janota 1980: 44-46. Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 99 rücksichtslosem Bekenntniss der Wahrheit unverträglich ist. (Pfeiffer 1856: II) 98 Pfeiffer verweist hier klar auf das Vorhandensein eines geschlossenen Systems Wissenschaft, in dem Erkenntnis ausschließlich für den Gebrauch in der Expertenkultur generiert wird. Hier findet der Diskurs intra muros statt, der Prozess der Erkenntnisgenerierung erinnert an die Konzeption des Systems bei Luhmann: Als Modell auf eine wissenschaftliche Disziplin übertragen, spräche Pfeiffer hier von Wissenschaft als einem autopoietischen System. Wir glauben daher der Wissenschaft einen Dienst zu erweisen, indem wir jeder Ansicht, die mit Liebe, Fleiss und Kenntniss gewonnen und vorgetragen ist, Aufnahme versprechen. Wir bilden keine Schule und auf unserer Fahne steht keine Schulmeinung 99 , sondern wir wollen die Wahrheit erforschen. (Pfeiffer 1856: II) Pfeiffer verpflichtet den Wissenschaftler auf das akademische Ethos der Wahrheit und der Freiheit in der Forschung. Dieses akademische Ethos wird im Folgenden noch präzisiert: Wir erwarten von unsern Mitarbeitern, dass sie ohne Empfindlichkeit Ansichten, die nicht die ihrigen sind, sich aussprechen lassen, indem auch wir unsererseits für die Ergebnisse unserer Forschung nichts verlangen als Prüfung. Es ist dieselbe aufrichtige Liebe der Wahrheit, die uns einerseits allen Mitforschenden gegenüber verträglich macht, und uns andererseits allen Autoritäten gegenüber den Muth der Unabhängigkeit und Selbständigkeit verleiht. (Pfeiffer 1856: III) Zu guter Letzt wird noch die Methodenstrenge beschworen: Aber diese Unabhängigkeit wird uns nicht bewegen, der Oberflächlichkeit das Thor zu öffnen, und jene Verträglichkeit wird uns nicht hindern, unsere Ansichten mit aller Schärfe, Strenge und Entschiedenheit durchzuführen. (Pfeiffer 1856: II/ III) Bis zu diesem Abschnitt wendet sich Pfeiffer an den Expertenkreis, hier geht es um wissenschaftliche Belange, die über gelehrte, fachwissenschaftliche Diskussionen geklärt werden müssen und die Öffentlichkeit nicht tangieren. Dies betrifft Fragen der Methode, der wissenschaftlichen Redlichkeit wie auch des akademischen Ethos, kurz den Weg, den der Philologe geht, um gesicherte Erkenntnis zu erhalten und sich dabei gleichzeitig 98 Das Original weist für den Prospectus keine Seitenangabe auf, für die Zitierweise wurde daher in römischen Ziffern beginnend bei I gezählt. 99 Hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Hugo Schuchardts Ansichten über die Bildung akademischer Schulen: Als Ort der Homogenisierung von Denkstrukturen war der Begriff der ‚Schulbildung‘ sowohl Pfeiffer als auch Schuchardt mehr als suspekt. „Die Verwandlung der Welt“ 100 der Autorität zu versichern, die ihm erlaubt, sein Wissen öffentlich zu machen. Demgegenüber steht die Disziplin aber auch in der Pflicht, ihre Erkenntnisse vor der Folie der Gesellschaft auszubreiten - und zwar in einer Form, die Partizipation ermöglicht: Unser Alterthum, unsere Sprache und unsere Litteratur sind Gegenstände, die unserer liebevollen Hingabe, unseres Eifers und Fleisses werth sind. Wenn die Begeisterung, womit diese Studien aufgenommen und betrieben wurden, bei Vielen nachgelassen hat, so ist nicht der Gegenstand an dieser Erkältung Schuld, sondern gewiss nichts anderes als jener hinreichend bezeichnete Geist und Ton der Behandlung, der nicht nur die Theilnahme auf die kleine Zahl der Mitforschenden beschränken musste, sondern auch geeignet war, den Kreis der Mitforschenden selbst eher zu verengen als zu erweitern. (Pfeiffer 1856: VIII) Forschung spielt sich vor dem Hintergrund der Gesellschaft ab, philologische Forschung darf nicht Exklusivität bedeuten. Pfeiffer wendet sich hier strikt gegen eine Form der Extremphilologisierung, wie sie Janota 1980: 46 hinsichtlich der Editionsphilologie Lachmanns und Haupts beschreibt und die Forschung nur noch für einen kleinen Kreis betreibt. Pfeiffer sieht darin die vielzitierte Gefahr des Elfenbeinturms, in den Philologie als ethische Verstehenswissenschaft eben nicht geraten darf. Dieses Plädoyer für eine Beibehaltung des Bewusstseins der gesellschaftlichen Relevanz des eigenen Forschens zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk: Die innere Wärme, die Lust und Freude des Herzens, die aus diesen ersten, vielfach noch unvollkommenen Versuchen, die Geisteserzeugnisse der Vorzeit der Gegenwart wiederum nahe zu legen, so deutlich hervorbricht, wirkte anregend, ja begeisternd und ist heute noch geeignet, jeden Empfänglichen aufs wohlthuendste zu berühren: ein edler Eifer und Wettstreit beseelte und verband die Lehrenden und Lernenden, deren Kreis sich zusehends erweiterte, und es ist nicht zu ermessen, wie ermuthigend und fördernd diese lebendige, immer mehr sich steigernde Theilnahme auf die Arbeiten jener Männer gewirkt, die das deutsche Volk aus der Fremde wieder in die Heimat führten, es sich selbst kennen und an sich glauben lehrten, und wie mächtig sie zum raschen Aufschwunge der Wissenschaft beigetragen hat, die vor andern die deutsche genannt werden darf. (Pfeiffer 1856: VIII) Pfeiffer nutzt hier eine Stilisierung der Anfänge der Germanistik, dargestellt wird sie als einheitliches Projekt einer Nationalgeschichtsschreibung 100 , um den jetzigen Zustand, in dem die Forschung zum Selbstzweck zu verkommen scheint, scharf zu kritisieren: 100 So einheitlich und frei von Kontroversen war die Entstehungsphase der Deutschen Philologie nicht. Es sei an dieser Stelle an den Kampf gegen den Dilettantismus erinnert, den beispielsweise Hunger 1987: 50-59 eindrücklich beschreibt. Zudem war die Die Anderen: Wort- und Editionsphilologie 101 Bis gegen die dreißiger Jahre hielt unter den deutschen Sprachforschern diese löbliche Sitte an, obwohl die erklärenden Bei- und Zugaben immer spärlicher und mit schlecht verhehltem Widerwillen dargeboten wurden. Von nun an blieben diese ganz weg und es begann jene Reihe glänzender kritischer Ausgaben, die in die Abwesenheit aller und jeder Erklärungen ihren Stolz setzen und dafür in einem Schwall ungenießbarer Lesarten ein seliges Genügen finden. Die Folgen dieser neuen Weise, die man, im Gegensatz zu jener frühern sogenannten dilettantischen, die wissenschaftliche, die methodische zu nennen liebt, liegen zu Tage. Man darf sagen, daß gegenwärtig kaum Jemand mehr ein altdeutsches Buch kauft und liest, als wer muß, d.h. wer durch seinen Beruf dazu veranlasst oder genöthigt ist: ein winziges Häuflein von Lehrern und Schülern. Dahin ist es, dank dem in Deutschland immer noch in Flor stehenden schulmeisterlichen Klüngel und Dünkel, nach so vielverheißenden Anfängen, mit der deutschen Alterthumswissenschaft gekommen. (Pfeiffer 1856: IX) Wissenschaftliche Methodenstreitigkeiten, der Verlust des Bezugs zu soziohistorischen und kulturellen Fragen sowie der Verlust des Einmischungspotentials, der mit ersterem verbunden ist, prägen das Bild der Germanistik. Wissenschaft muss vor der Gesellschaft ablaufen und mit den sozialen Bedingungen, die diese jeweils prägen in eine Wechselbeziehung treten. Pfeiffer sieht sich in der Pflicht, auf die Aufgabe der Philologie hinzuweisen: Gelingt es, was wir zuversichtlich hoffen, unsern vereinten Bemühungen, die vielfach herrschende Scheu vor den fremden und ungewohnten Lauten der alten Sprache zu überwinden, die Liebe zu den Dichtungen der Vorzeit, die nur schlummernde, nicht erstorbene, im Herzen unseres Volkes neu zu beleben und einem größern Kreise als bisher diese Quellen echter lauterer Poesie dauernd zu erschließen, so glauben wir etwas Großes gethan zu haben, Etwas, das der strengen Wissenschaft, die stets nur Sache Weniger sein kann, nichts vergeben, sondern ihr hundertfach zu Gute kommen wird. Gehoben und getragen von der allgemeinen Gunst, gestärkt durch den Zufluß frischer junger Kräfte, wird sie vor dem jetzt ihr drohenden Stillstand, d. h. Rückschritt, bewahrt und neuen Zielen und neuen Siegen entgegengeführt werden. (Pfeiffer 1856: X) Philologie darf nicht zum Selbstzweck werden, sonst sei ihr Fortkommen gefährdet, da sie dann nicht nur die Anbindung an die Gesellschaft verlöre, sondern auch ein Nachwuchsproblem zu Regression führen könne. Eine Lösung des drohenden Problems sieht Pfeiffer in didaktisierten Ausgaben, die das Interesse für den Gegenstand philologischer Forschung wecken Ausbildung einer national-patriotischen Gesinnung als ein Ziel der Germanistik in der Gründungsphase bereits in den Hintergrund gerückt - als Erinnerungskultur diente es Pfeiffer in seinem Vorwort aber zur Legitimation seines Ansatzes (Janota 1980: 45). „Die Verwandlung der Welt“ 102 und somit die Aufmerksamkeit eines größeren (gebildeten) Publikums auf die Arbeit des Faches ziehen könnten: Da unsere Sammlung sich zum Ziele gesetzt hat, die Theilnahme der Gebildeten für die mittelhochdeutsche Literatur zu gewinnen, genauere Kenntniss der alten Sprache aber nur bei den Wenigsten vorausgesetzt werden kann, so musste vor Allem auf jene weit überwiegende Zahl von Lesern Rücksicht genommen werden, die vom Altdeutschen gar nichts verstehen. Dem gemäß habe ich meine Ausgabe eingerichtet, so praktisch und dem Verständnisse diensam, als mir nur möglich war, und dabei alles sorgfältig zu vermeiden gesucht, was an die dem Laien unverständliche Geheimsprache der Schule erinnern könnte. (Pfeiffer 1856: XI) Janota schreibt diesem Ansatz Weitsicht zu. Gesellschaftliches Bewusstsein arbeitet in beide Richtungen: Einerseits bietet Forschung so ein Partizipationsangebot an wissenschaftlicher Erkenntnis, andererseits kann über den Aspekt der Relevanz in der Gesellschaft Akzeptanz für das eigene Tun - zumindest in der anvisierten Schicht - gewonnen werden (Janota 1980: 45/ 46). Blickt man auf die kommunikativen Prozesse der Altphilologie zurück und wirft man einen prospektiven Blick auf den Gang der Genese der Romanischen Philologie so zeigen sich deutliche Parallelen zwischen den einzelnen Fächern. Angesichts der hier analysierten Entwicklungen weist die Deutsche Philologie Mitte des 19. Jahrhunderts keine einheitliche Konzeption ‚Philologie‘ auf - gleichermaßen verhält es sich für die Altphilologie wie auch später für die Romanische Philologie. Klar zeigt sich auch der Unterschied der Germanistik zu letzterer: Die Romanische Philologie kann nicht auf die Legitimationsgrundlage zurückgreifen, einen Beitrag zur Nationalgeschichte Deutschlands zu liefern (und damit implizit zur Gründung der Nation überhaupt beizusteuern). Deutlich werden aber auch hier die Spannungsfelder innerhalb derer die Identitätsfindung der (Neu)philologien verläuft. Positivistisch-formalisierte Forschung steht der ethischen Verpflichtung auf Partizipation gegenüber. Die ethischen Implikationen im Begriff der Philologie, die vor allem auf die Bedingungen der Philologiekonzeptionen Wolfs und Boeckhs wie auf den Einfluss der philosophischen Hermeneutik zurückzuführen sind und die die Philologie als eine partizipative Verstehenswissenschaft mitbedingen, sollen im Folgenden noch einmal unter dem Aspekt beleuchtet werden, inwieweit sie von epistemologischen Rissen im Laufe des 19. Jahrhunderts verschüttet beziehungsweise deformiert wurden. In einem erneuten Rückgriff auf die Altphilologie werden die Konzeptionen der Philologie besonders in der Perspektive eines sich wandelnden Verstehensbegriffs vor der Folie der Hermeneutikdiskussion beleuchtet. Auch wird die vielbeschworene Krise der Philosophie dahingehend zu befragen sein, ob sie tatsächlich Anteil an einem zunehmenden Einfluss des Positivismus auf (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 103 die Philologien hatte, die sich in Folge dieser Krise stärker an den Naturwissenschaften und deren Methoden orientierten. 3.4 (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf die Autonomisierung und Verwissenschaftlichung der Philologie Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts sagen, dass ihre identifikatorische wie auch ihre legitimatorische démarche von mehreren theoretischen Feldern gekennzeichnet ist: Einem neuen Verständnis von Wissenschaft, der Entdeckung der Geschichtlichkeit des Menschen und das damit verbundene Menschenbild eines sich permanent Verändernden, der Rückbesinnung auf die Einheit des Subjekts sowie einer Vorstellung von Sprache, über die man über das Kriterium der Historizität die Geschichte selbst zu begreifen in der Lage ist. All dies führte zu einem strukturellen Wandel in der Forschungstheorie über Verstehen und Erkennen, sozusagen der „Paradedisziplin“ der Philologie. Konzeptionell wurde auf die Autonomisierung der Philologie bereits eingegangen und auch die Anknüpfungsmöglichkeit für die Neuphilologien über den Philologiebegriff bei Boeckh aufgezeigt. Es ist für die nachfolgende Analyse der verschiedenen epistemischen Schichten in den Diskursformationen, die sich in den programmatischen Schriften der Neuphilologien manifestieren, jedoch nötig, inhaltlich noch einmal genauer auf die theoretischen Überlegungen hinsichtlich einer Methode des geregelten Verstehens einzugehen, um die nachfolgenden Philologiekonzeptionen hinsichtlich ihrer Verflechtung mit den Spannungsfeldern, innerhalb derer die Altphilologie sich bewegte, abzufragen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Frage nach dem, im Zuge der Historisierung der menschlichen Vernunft 101 , neuen Verstehensbegriff und der daraus resultierenden Neuordnung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Philologie in der postidealistischen Zeit. Dabei wirken v.a. verschiedene epistemische Verschiebungen innerhalb der Konzeption von Wissenschaft und deren Bedeutung für die Gesellschaft als „semantische Schubkraft“ (Koselleck 2006: 160) auf den Verstehensbegriff, der sich in Folge zusehends veränderte. Zunächst fand ein Bedeutungswandel ‚Verstehen’ statt, der den Verstehensprozess nicht mehr auf der Grundlage der Seinsgleichheit von Verstehendem und Gegenstand situierte (Wolf als Scharnier). 101 Wenz 2009 beschreibt den Prozess der Historisierung als einschneidendes Moment im traditionellen Rollenverständnis der Philosophie, in deren Folge die Philosophie im Zeitalter des Postidealismus in eine Krise gerät, aus der sie sich erst ab den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts über die Erkenntnistheorie und den Rekurs auf Kant zu „rehabilitieren“ versuchte. Eine spätere Reaktion der Philosophie auf diese Krise lässt sich bei Edmund Husserl (1859-1938) und dessen Schüler Martin Heidegger (1889- 1976) erkennen (vgl. Wenz 2009; Schnädelbach 1983: 128-136). „Die Verwandlung der Welt“ 104 Über die Entdeckung der Historizität des Menschen vollzog sich vor allem innerhalb des romantischen Idealismus ein weiterer Wandel im Verstehensbegriff, der Verstehensprozess wurde nunmehr als Alteritätserfahrung gefasst. Über die Möglichkeit des Erkennens des Anderen aus einer kritischen Distanz heraus, der Verstehende war ja selbst Fremder und hatte doch Anteil am Forschungsgegenstand, wurde es der Philologie ermöglicht, eine ästhetisch-ethische Komponente in ihre Konzeption zu integrieren, aufgrund derer sie als komplementäre, notwendige Ergänzungswissenschaft zur Philosophie aufzufassen war (Boeckh). Sie stellte der Philosophie die Erkenntnis der „realen“ geschichtlichen Welt zur Verfügung, über die diese dann in normierender Weise reflektieren konnte. Grundlage für diesen Prozess war dabei die Vorstellung, Erkenntnis und Wissen ließen sich nicht mehr nur aus einer ontologischen Vorstellung der Welt generieren, sondern auch über eine wissenschaftliche Methode sichern. 102 Das Spannungsfeld zwischen einer theoretischen und einer ethischen Objektdimension ließ sich über die Hierarchisierung von empirischer und spekulativer Forschungsmethode innerhalb der Philologie in der Weise auflösen, dass der rein ontologischen Grundlage der Erkenntnistheorie die kritischempirische Methode zur Seite gestellt wurde. 103 In der Konsequenz dieses Wandels wurde die Philologie in ihrer Konzeption zu einer Wissenschaft, die sich zwischen den Polen Empirie und Spekulation bewegte, wobei spätestens ab August Boeckh von einem hierarchischen Verhältnis - die Empirie übernimmt dabei die dominierende Position - zwischen beiden Polen auszugehen ist. Durch die in der Zeit des Postidealismus erfolgende Historisierung, die auch den Verstehensbegriff betraf und die darauf einsetzende Empirisierung und Historisierung der Wissenschaften, geriet in der Folgezeit diese ästhetisch-ethische Dimension immer mehr in den Hintergrund der konzeptionellen Überlegungen. Teilweise mündeten diese im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einen rein positivistischen Szientismus, der die Gefahr in sich barg, die Philologien als „Verstehenswissenschaften“ letztlich zu einer leeren Hülle zu verwandeln. 102 Erich Auerbach bezeichnet das 19. Jahrhundert als den Höhepunkt der verstehenden Philologie, da es die philologische Aufgabe gewesen sei, dem Menschen dazu zu verhelfen, „den Anderen in sich selbst“ zu erkennen und so sich selbst „den Menschen, in der Geschichte.“ (Auerbach: 1967: 241) 103 Vgl. hierzu Hartmann 5 1965: 207-217. Hartmann geht davon aus, dass der Ursprung dieses Wandels von einer rein ontologischen Grundlage der Erkenntnistheorie zu einer materialistischen Grundlage spätestens bei Kant einsetzt und dann in der postidealistischen Phase ihren Höhepunkt findet (Hartmann 5 1965: 2/ 3; 215). (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 105 3.4.1 Philosophie und Philologie Philologie in der Konzeption seit Friedrich Ast, Friedrich Wolf und August Boeckh ist als Verstehenswissenschaft zu definieren. Verstehen 104 steht im Zentrum ihrer methodischen Überlegungen, der Stellenwert, der der Hermeneutik als Kunst des Verstehens eingeräumt wird, ist immens. Verstehen wurde endgültig nicht mehr als reine Angelegenheit der Philosophie verstanden, sondern entwickelte sich zu einem Problem, das alle Wissenschaften, die sich mit den verschiedenen Ausdrucksformen des menschlichen Geistes beschäftigten, betraf. Dabei erkannte man zunächst die Sprache als wichtigste Ausdrucksform des Menschen. 105 Joachim Wach beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: Empirisch ist die Sprache nur in einer Mannigfaltigkeit von Sprachen gegeben, der eine Vielheit von Schriften entspricht. Das unmittelbare Einanderverstehen der Menschen, mittels des Wortes, scheint dadurch unermeßlich erschwert. Es bedarf einer bedeutenden geistigen Leistung, die von jedem einzelnen wiederholt werden muß, sich das Verständnis einer fremden Zunge zu erobern. Eine mächtige Wissenschaft ist darüber entstanden, die Philologie, die sich eine theoretische Spitze in der Sprachwissenschaft und in der Philosophie geschaffen hat. […] Im eminenten Sinn wurde das Verstehen zur Aufgabe dieser Wissenschaft. In ihr hat der Gedanke eines geregelten Verstehens Gestalt gewonnen. (Wach 1966: 4/ 5) Dies erinnert an den Beginn der Herauslösung der Philologie aus ihrer dienenden Funktion und die Installation einer modernen Wissenschaft ‚Philologie‘ durch Wolf. Theoretisch bleibt sie in ihren Anfängen jedoch weiterhin in Teilen der Philosophie verpflichtet, sie kann sich in ihrer Methodik nicht von ihr lösen. 106 Hier stößt man unweigerlich auf ein Spannungsfeld, das das Verhältnis von Philologie und Philosophie schon seit der Antike zu prägen scheint. Die Philosophie als die dominierende, modellhafte Wissenschaft und die Philologie als ihre ancilla, die keinen eigenständigen wissenschaftlichen Wert besaß. Philosophie ist im Hellenismus als ars vitae definiert, sie ist in der Lage, dem Menschen die richtige Anleitung zum Leben zu geben. Philologie 104 Verstehen wird hier als Sinnverstehen oder hermeneutisches Verstehen begriffen. Genau um dieses Verstehen geht es den Hermeneutikern um die Jahrhundertwende vom 18. zum 19. Jahrhundert (siehe hierzu Schnädelbach 1983: 140/ 141). 105 Es sei an die Beschränkung der philologischen Forschung auf literarische Quellen bei Friedrich Ast erinnert. 106 So definiert Wolf die Philologie noch als eine „aus historischen und philosophischen Elementen zusammengesetzte Mischform von Wissenschaft“ (Horstmann 1992: 115). Erst bei Boeckh kann sich die Philologie als gleichrangig neben der Philosophie und der Geschichtswissenschaft etablieren. Boeckhs Konzeption der Philologie ist in dieser Hinsicht als eine Forderung der gegenseitigen Durchdringung von Philosophie und Philologie zu lesen (vgl. hierzu z.B. Wach 1966: 188ff; Horstmann 1992: 115-139). „Die Verwandlung der Welt“ 106 spielt dabei eine eher nebensächliche Rolle als Lieferant der Quellen des Bildungsguts, da sie nur wenig an praktischer Lebenshilfe sowie Erkenntnis über den Zusammenhang und das System der Welt zu bieten hat, sondern in erster Linie dafür zuständig ist, den Zugang zu den Lebenshilfen - in Form von Texten vorliegend - zu ermöglichen (Erler 1993: 281/ 282). Die schwierige Vermittlung zwischen Philosophie und Philologie ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der Verpflichtung auf kanonische Texte und der Methode der Lektüre dieser Texte. Gnosis, die der Philosophie eigene Form der Erkenntnis der Wahrheit soll mit der anagnosis, der der Philologie eigenen Form der Wiedererkenntnis, hier das Wissen des Gewussten, verbunden werden (Seebohm 2004: 56ff.). Es geht hier nicht nur um eine Sicherung des bloßen Textverständnisses, also eine reine Reproduktion der schriftlichen Quellen, sondern um die Tradierung von Werten und Normen, die mit dem jeweiligen historisch-kulturellen Kontext der Entstehung des Textes verbunden sind. Der Philologe muss in der Lage sein, einen Text im Sinne des Autors zu rekonstruieren, das heißt, den Sinn des Textes für den Leser wieder verständlich zu machen (Erler 1993: 283). 107 Die hermeneutische Auslegung erhält so den für sie typischen Charakter des „zeigenden Verstehen[s]“ (Steinfeld 2009: 224), über das die Werte und Normen einer Gesellschaft innerhalb eines bestimmten historischen Rahmens - hier wird das Deuten ein historisierendes - übermittelt. Führt man den Gedanken Steinfelds weiter, so lässt sich Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft definieren, die sich einerseits auszeichnet durch die Beteiligung des Philologen am Forschungsgegenstand wie auch andererseits der Einbeziehung der gesellschaftlichen Wissensstrukturen, vor denen philologische Forschung stattfindet. Dieses partizipative Element ist dabei demnach als ein zweidimensionales zu verstehen: der Forscher rekonstruiert und deutet gleichzeitig, hier befindet er sich auf der Ebene der Philologie als Wissenschaftssystem. Durch die hermeneutische Auslegung gelangt er aber zu Kenntnissen über die Geschichte der Menschheit, die es gilt der Gesellschaft, und eben nicht nur einem Expertenkreis, zugänglich zu machen. Damit verpflichtet er sich auf einen Forschungsbegriff, der sich als ein Partizipationsangebot, in Form einer möglichst objektiven Annäherung an historische Wahrheit, an die Gesellschaft definieren lässt. Dadurch ergibt sich für die Philologie eine Möglichkeit zur Mitwirkung an der Norm- und Wertbildung der Gesellschaft, das heißt sie erhält tatsächlich einen Anteil an der ars vitae und wird somit als partizipative Verstehenswissenschaft zur philologia philosopha, die zwischen philosophischem Anspruch 107 Bei dieser Art der Auslegung war der Autor oberste Instanz. Es galt das darzustellen, was der Autor gemeint hatte, die mens auctoris stand im Fokus der Interpretation, der Auslegende war dieser Meinung unterworfen. Dieses Verhältnis zwischen Autor und Interpretator kehrte sich erst ab der romantischen Hermeneutik um (vgl. hierzu Jung 2001: 44-54). (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 107 auf gnosis und philologischem Anspruch auf anagnosis vermittelt und die aus kritischer Distanz Erkenntnisse über das Werden der Menschheit sowie eine mögliche Übertragbarkeit dieser Erfahrungen des Anderen auf die aktuelle Situation übermittelt. Die Rekonstruktion der Bedingungen wie auch der ontologischen Grundlage des kulturellen und sozialen Funktionsgefüges einer Gesellschaft und die Vermittlung dieser Erkenntnis an die Gesellschaft wären dann die zentralen Aufgaben der Philologie. Dies führt zu einem grundlegenden Theorem der Hermeneutik: Das Prinzip des „Sich Hineinfühlens“ in den Autor, das sich durch einen Rückbezug auf die Antike möglicherweise erklären lässt: das anagogische Lesen der Texte 108 , das die Auslegung dadurch legitimiert, indem sich der Deutende auf den Autor beruft und seine Auslegung dadurch rechtfertigt, dass er die ursprüngliche Autorenintention wiedergibt. Diese Figur des „Sich Hineinversetzens“ findet sich sowohl bei Ast und Wolf als auch bei Boeckh, der ja sogar fordert, der Philologe müsse den Autor besser verstehen als er selbst. 109 Dieses hermeneutische Theorem wird allerdings im Zuge der Konstituierung der Philologie als autonome Wissenschaft erweitert. Zum Prinzip des „Sich Hineinfühlens“ tritt die gleichzeitig erfolgende kritische Reflexion, die die historische Distanz wie die Anwendung einer wissenschaftlichen Methode ermöglichen. Empathie und Reflexion werden synthetisiert und bilden somit die beiden Komponenten eines partizipativen Verstehensbegriffs. Dem erkennenden Subjekt obliegt es, in der Rolle des Philologen Sinn zu stiften: Der Schriftsteller componirt nach den Gesetzen der Grammatik und Stilistik, aber meist nur bewusstlos. Der Erklärer dagegen kann nicht vollständig erklären ohne sich jener Gesetze bewusst zu werden; denn der Verstehende reflectirt ja; der Autor producirt, er reflectirt nur über sein Werk, wenn er selbst wieder gleichsam als Ausleger über demselben steht. Hieraus folgt, dass der Ausleger den Autor nicht nur eben so gut, sondern besser verstehen muss als er sich selbst. Denn der Ausleger muss sich das, was der Autor bewusstlos geschaffen hat, zu klarem Bewusstsein bringen, und hierbei werden sich ihm alsdann auch manche Dinge eröffnen, manche Aussichten aufschliessen, welche dem Autor selbst fremd gewesen sind. (Boeckh 1877: 87) 110 108 Vgl. zur Begriffserläuterung des anagogischen Lesens Erler 1993: 300. 109 Diese Auffassung des „Besserverstehens“ findet sich ebenfalls bei Friedrich Schlegel und Schleiermacher. Sie kann in diesem Zusammenhang als ein kontinuierliches Theorem der Werkbzw. Autorinterpretation der romantischen Hermeneutik betrachtet werden (vgl. Kurz 2004: 50-54). 110 Zum Vergleich die entsprechende Stelle bei Wolf: „[…] die Gedanken eines Andern aus ihren Zeichen zu verstehen und zu erklären. Man versteht Jemanden, der uns Zeichen giebt, dann, wenn diese Zeichen in uns dieselben Gedanken und Vorstellun- „Die Verwandlung der Welt“ 108 Einer Theorie des Verstehens kommt in diesem Zusammenhang, einem letztlich normativen - es geht ja darum ethische Werte für die nachfolgenden Gesellschaften zu tradieren - Auslegen kultureller Zeugnisse, eine zentrale Bedeutung zu (Erler 1993: 287). 111 Blickt man noch einmal auf die Forderung des „Besserverstehens“, so wird der strukturelle Wandel des Verstehensbegriffs deutlich. Die romantische Hermeneutik dreht die in der Aufklärung vorherrschende Beziehung zwischen Autor und Interpretator um. 112 Verstehen wird begriffen als eine Reproduktion des Schaffensprozesses, der Interpretator wird durch die Abkehr von der interpretatio authentica in eine dem Autor übergeordnete Position gebracht, da er in der Lage sei, die, dem Autor möglicherweise unbewussten Redeabsichten zu erkennen und so kulturelle Praktiken und Denkweisen einer Gesellschaft innerhalb einer Epoche nachvollziehbar zu machen (Kurz 2004: 36/ 37). Jung beschreibt den Wandel in der Konzeption des Textverstehens des romantischen Idealismus als „Philologisierung der Hermeneutik“ (Jung 2001: 58). Der Philologe hat sich auf die Seelenvorgänge des Autors zu konzentrieren, um so zur intentio operis zu gelangen (Kurz 2004: 53). Trotz der Ermächtigung des Interpretators - oder vielleicht gerade deswegen - bleibt die Autorintention das bestimmende Regulativ der Auslegung. Besserverstehen als hermeneutisches Ziel einer Verstehenstheorie impliziert eine ethische Verantwortung des Forschers gegenüber seinem Gegenstand: Überblickt man die Aussagen der romantischen Hermeneutik zum Verhältnis von Autor und Werk, dann muss eigentlich erstaunen, wie strikt sie an der Intention des Autors als regulative Idee der Interpretation festhält. Die Theorie der Interpretation geht hier über in eine Ethik der Interpretation, der es um die Anerkennung des anderen als eines anderen geht. (Kurz 2004: 54) 113 gen und Empfindungen, und eben in der Ordnung und Verbindung hervorbringen, wie sie der Urheber selbst in der Seele gegenwärtig hatte […].“ (Wolf 1839: 272) 111 Erler ermittelt diesen Zusammenhang für die philosophische Schule, die sich um die Lehren Epikurs herausbildete. Er nimmt für die Weiterführung der epikureischen Denkschule eine philosophische Philologie an, die auf die Schule der Platoniker verweist, da die Schüler Epikurs sich bei der Auslegung seiner Schriften an der alexandrinischen Philologie orientierten, was wiederum auf den späteren Philosophen Plotin verweist (Erler 1993: 283). 112 Vgl. hierzu beispielsweise Jung 2001: 44-70; Kurz 2004: 31-54. 113 Hier findet sich eine Allusion auf die moderne Auffassung von Verstehen, die Verstehen als Erkenntnis des „Anderen durch anderes“ begreift. Diese Auffassung wird bei Hans Jonas der älteren, humanistisch-ontologischen Auffassung des Verstehens gegenübergestellt, die davon ausging, dass es eine „Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches“ gebe (Jonas 1970: 6/ 7). Im Zentrum der beiden Verstehensauffassungen steht jeweils ein verschieden gedachtes Menschenbild: Einmal der Mensch als Konstante und einmal der Mensch als ein sich unablässig veränderndes. Damit verbunden ist der Verlust der Ratio als zentrales Kriterium des Erkennens, da auch sie der Dynamik der Zeit unterworfen ist. Es bleibt die Geschichte und der stetige Rückbe- (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 109 Hier ist der eigentliche Wandel in der hermeneutischen Konzeption der Romantik zu sehen. Der Philologe sucht in der Erforschung seines Gegenstands die Alteritätserfahrung, deren Erkenntnis einen Beitrag zur Herstellung einer Sinnkohärenz leistet, die die Geschichte der Menschheit als eine Folge von Verstehensprozessen definiert und die sich aus diesem Erkennen des anderen in seiner Totalität ergibt. Dieser Anspruch findet seinen Ausdruck in der Boeckhschen Formel des „Erkennen des Erkannten“, der Erkennende ist sich aber während des Verstehensprozesses bewusst, dass er als ein anderer Anderes begreift (Jonas 1970: 6). Damit ist er in der Lage, die Entwicklung von Denkweisen und kulturellen Implikationen aus der kritischen Distanz nachzuvollziehen, da er ja sozusagen als Fremder auf das Geschehen blickt und so zu einem „Zeigenden“ wird- dies kann allerdings nur geschehen, wenn Philologie als eine Wissenschaft definiert wird, deren Aufgabenbereich nicht nur von der Gesellschaft losgelöste Editionsphilologie, die sich mit ihren Texteditionen an ein reines Fachpublikum richtet, beinhaltet, sondern die in ihrem Aufgabenbereich eben auch als Kulturwissenschaft verstanden werden kann und die dafür zuständig ist, neben der Sicherung der Quellen, die Entwicklung von Denkweisen, sozialer Strukturen, historischer Verflechtungen und kultureller Praktiken bestimmter Gesellschaften sichtbar zu machen. Philologie wird vor diesem Hintergrund zum notwendigen Komplement der Philosophie, wie es bei Schlegel und Boeckh gedacht wird: In der Philologie kann die Deutung der historischen Begebenheiten in Bezug zur Entwicklung der Menschheitsgeschichte gesetzt und damit Erkenntnis aus historischer, kultureller wie auch philosophischer Perspektive gewonnen werden. 114 Philologie wird so verstanden als cognitio historica et philosopha (Boeckh [1822] 1858: 105), als zug auf diese, wie er durch eine kontinuierliche historisierende Interpretation der Vorgänge - wie sie im Boeckhschen Prinzip der unendlichen Approximation, der Aufgabe der Philologie, - konzipiert ist. So kann die Philologie zu einer Selbstreflexion werden, deren Erkenntnisse als Verstehensangebote gegenüber der Gesellschaft zu deuten sind. Es ist hier nicht das Ziel, verschiedene Verstehensauffassungen einander gegenüberzustellen und zu werten. Wichtig ist im Zusammenhang mit der Analyse der Philologiebegriffe im 19. Jahrhundert allerdings die Tatsache, dass sich aus einem Wandel der Bedeutung von Verstehen, zunächst eine ethische Verknüpfung der Philologie mit Geschichte und Philosophie ergibt, die zumindest für die Konzeption der (Alt)Philologie um die Jahrhundertmitte bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts richtungsweisend war. Infolge des Historisierungsprozesses in der nachidealistischen Zeit verlor diese jedoch stark an Einfluss. 114 Dieser Aspekt wird bei Jung verkürzt dargestellt, Boeckhs Hermeneutikbegriff entspricht innerhalb seiner Philologiekonzeption keinesfalls einer „Engführung der Hermeneutik“ (Jung 2001: 68). Boeckh versucht im Gegenteil durch seine komplexe Konstruktion einer Verstehensformel, die sich in einer wissenschaftlichen Methodenlehre zur Hermeneutik präsentiert und die sich auf mehr erstreckt als Text und Altertum, dem Verlust der „spekulativen Dimension“ entgegenzuwirken, die mit der Empirisierung und Historisierung von Wissen und damit letztendlich auch von Verstehen verbunden sind (vgl. Horstmann 1992: 138/ 139; Seebohm 2004: 55-61). „Die Verwandlung der Welt“ 110 deren Aufgabe Erkenntnissicherung der realen Welt sowie Verstehensangebote des menschlichen Werdens in seiner Gesamtheit zu sehen sind. 115 3.4.2 Der hermeneutische Wandel und seine Konsequenzen Die Verflechtung der Philologie mit der Philosophie ist essentieller Bestandteil des philologischen Systems, das im Zuge des romantischen Idealismus entsteht. 116 Sie ist auch notwendige Bedingung für den Wandel im hermeneutischen Verständnis. Doch, wie bereits angedeutet, ist diese Verbindung keine absolut Neue. So findet sich ein Vermittlungsversuch zwischen den beiden Disziplinen beispielsweise bereits bei Vico 117 , der in seiner Scienzia Nuova Philosophie und Philologie im Sinne einer Verstehenslehre zu koppeln versucht 118 , da der Mensch auf diese Weise Einblick in die geistige Struktur der von ihm geschaffenen Dinge erhalten könne (Na 2002: 140-142). 119 Wenn diese Vermittlung gelingt, so können nach Vico die Prinzipien der Ideen und der Sprache erkannt werden. 120 Bei Vico verschmelzen Philologie und Philoso- 115 „It has to be kept in mind that was Boeckh offers here is a specific way of mediation between philology and philosophy. The mediating term is philology as history in the broader sense.” (Seebohm 2004: 57) 116 Die Konzeption einer philosophischen Philologie findet sich auch bei Friedrich Creuzer, in dieser Hinsicht ein Vorläufer Boeckhs: „So vereinigt die Philologie, ihrem Wesen nach, das Bedingte der Empirie mit dem unbedingten idealen Strebens, und in den Eigenschaften, die sie von ihren Pflegern fordert, historischen Fleiß, poetischen Sinn und philosophischen Geist.“ (Creuzer 1807: 21) 117 Die Verbindungslinie mit Vico drängt sich für das idealistisch-hermeneutische Forschungsprogramm der Philologie geradezu auf. Bereits Auerbach weist nach, dass der Geschichtsbegriff Herders in einer Traditionslinie zu Vico stünde (Auerbach 1967a: 226/ 227). Auerbach geht sogar soweit, dass er Vicos Scienzia Nuova als erstes Werk der „verstehenden Philologie“ betrachtet (Auerbach 1967b: 241). 118 So beklagt Vico: „Die Philosophie betrachtet die Vernunft, aus der die Wissenschaft des Wahren hervorgeht; die Philologie beobachtet die Autorität des menschlichen Willens, aus der das Bewußtsein des Gewissen hervorgeht. […] Eben dieser Grundsatz beweist auch, daß jeweils auf halbem Weg stehengeblieben sind sowohl die Philosophen, die ihre Vernunftschlüsse nicht mit der Autorität der Philologen beglaubigen, als auch die Philologen, die sich nicht darum kümmerten, die Autorität ihrer Zeugnisse durch die Vernunft der Philosophen zu bewähren. Hätten sie dies getan, wären sie dem Staat nützlicher gewesen und wären uns in dem Erdenkreis dieser Wissenschaft zuvorgekommen.“ (Vico 1992: §138; §140) 119 Grundlage der philologischen Forschung bei Vico ist die ars critica, die er als eine metaphysische kritische Kunst begreift und über die eine Synthese von Philologie und Philosophie möglich ist (Erny 1997: 24). 120 Vgl. zu Vicos Synthese von Philologie und Philosophie z.B. Erny 1997: 23-47; Na 2002: 138ff. Es ist hier nicht der Ort ausführlich auf Vicos Begründung und die Konsequenzen seiner „Neuen Wissenschaft“ einzugehen. Wichtig ist hier ihr Stellenwert als möglicher Vorläufer des idealistischen Geschichtsbewusstseins, das sich in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Entwürfen der Philologie spiegelt. Natürlich liegt Vicos Denken ein völlig anderer Geschichts- und Sprachbe- (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 111 phie ineinander und der Philologie bleibt es vorbehalten, der Philosophie die materielle Grundlage zu liefern, die diese dann richtig auszudeuten hat (Erny 1997: 32). 121 Wichtig ist hierbei, dass Vico Philologie und Philosophie in ein dialektisches Verhältnis bringt: Philosophie braucht die Ergänzung durch die Wirklichkeit und umgekehrt braucht die geschichtliche Welt, um sich zu verstehen, die Philosophie. Hier findet sich eine weitere Grundlage für eine philosophische Philologie, denn das Zusammendenken von Philologie und Philosophie, bei Vico in der ars critica verwirklicht, erlaubt eine Erkenntnis der Geschichte und des Menschens, indem Besonderes, Einzelnes in Zusammenhang mit dem Allgemeinen gebracht wird (Erny 1997: 23; 190/ 191). Eine Abhängigkeit der philologischen Konzeptionen Anfang des 19. Jahrhunderts von Vico lassen sich nicht belegen (Horstmann 1992: 242). Parallelen zum Denken Vicos sind aber - zumindest bei Boeckh - in der Ausweitung des Forschungsgegenstandes erkennbar sowie in der Proklamation der Philologie als eine der Philosophie absolut ebenbürtigen theoretischen Wissenschaft (Horstmann 1992: 240/ 241). Auch die wechselseitige Beziehung zwischen Philosophie und Philologie, wie sie sich bei Vico findet, taucht bei Boeckh wieder auf: Damit ist die Differenz zwischen Philosophie und Philologie nicht eingeebnet; nur lässt sie sich nicht mehr als klare Abgrenzung zwischen „produktiver“ Spekulation und „reproduktiver“ historisch-philologischer Empirie fassen. Zwar ist und bleibt Philosophie - um das Beispiel der Ethik aufzugreifen - letztlich an den allgemeinen Prinzipien und Normen menschlichen Handelns und nicht an den historischen Phänomenen in ihrer Besonderheit interessiert; doch ohne sich auf eben diese konkreten geschichtlichen Gegebenheiten wirklich einzulassen, kann sie - so jedenfalls die Auffassung Boeckhs - diese Aufgabe der Erkenntnis des Allgemeinen gar nicht erfüllen. (Horstmann 1992: 137/ 138) Philosophie bedarf also auch bei Boeckh der „realen“ geschichtlichen Welt, die die Philologie imstande ist, ihr darzulegen und zu untersuchen. Philologie als Wissenschaft des „Verstehens“ wirkt somit an der Fortsetzung griff zugrunde wie sie später bei Wolf oder Boeckh zu finden sein werden. So geht Vico davon aus, dass der Mensch in der Lage ist, seine Geschichte selbst zu gestalten, Philologie erscheint dann als Möglichkeit, diese Taten zu dokumentieren (Erny 1997: 45). 121 Vico definiert Philologie folgendermaßen: „<<Philologia>>quid? - Eius partes duae: historia verborum et historia rerum. [1] Est enim philologia sermonis studium et cura quae circa verba versatur eorumque tradit historiam, dum eorum origines et progressus enarrat, et sic per linguae aetates dispensat, ut eorundem teneat proprietates, translationes et usus. Sed, cum rerum ideae quibusque verbis appictae sint, ad philologiam in primis spectat tenere rerum historiam.“ (Vico 1721: 4) Philologie vermittelt demzufolge die Inhalte der Sprache und der Dinge, sie ist aber gleichzeitig ganz auf das Erkennen der Welt, als eine vom Mensch geschaffene Realität, gerichtet. „Die Verwandlung der Welt“ 112 von Normen mit und wird, wie bereits ausgeführt wurde, so zu einem notwendigen Komplement der als ars vitae verstandenen Philosophie: Philologie und Philosophie bedingen sich wechselseitig; denn man kann das Erkannte nicht erkennen ohne überhaupt zu erkennen, und man kann auch nicht zu einer Erkenntnis schlechthin gelangen ohne, was Andere erkannt haben, zu kennen. (Boeckh 1877: 17) Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch die sowohl bei Friedrich Schlegel als auch bei August Boeckh auftretende Verflechtung des Philologen, des Künstlers 122 und des Philosophen in der Person des philologischen Forschers. Schlegels Projekt war ja auch in der Tat die Idee, eine Philosophie der Philologie zu realisieren: 123 Ich denke Ihnen nächstens den Begriff der Philologie schicken zu können. Ich denke damit eine ziemlich lange Reihe von philosophischen Aufsätzen zu eröffnen, die zusammen eine vollständige P h i l o s o p h i e d e r P h i l o l o g i e bilden werden […]. (Schlegel an Niethammer vom August 1797, zit. nach: Körner 1928: 2; Sperrung wie im Original) Klar erkennbar sind in dem Schlegelschen Entwurf die beiden Spannungsbögen, die für die Etablierung der Philologie als autonome Wissenschaft zunächst charakteristisch sind: die Durchdringung von Philosophie und Philologie sowie die Verbindung von Wissenschaft und Kunst. Warum aber diese mehrdeutige Beschreibung des Forscherprofils? Allerdings sind die Philologie und die Philosophie schon ihrem vielumfassenden Namen nach zunächst einander nebengeordnet und dadurch sogleich geschieden und entgegengesetzt, wie bereits Plotin und seine Schüler ausgesprochen haben: aber dessen ungeachtet sind thatsächlich beide meist befreundet geblieben, und weit davon entfernt, daß jener Gegensatz ein unauflöslicher sei, wage ich zu behaupten, daß beide, auf dem Gebiet des Geistes und abgesehen von der hier nicht in Betracht kommenden Naturphilosophie, von einem entgegengesetzten Ausgangspunkt zu demselben Ergebnis führen […], wenn die Philologie, wie sie meines Erachtens soll, vom Einzelnen und durch dasselbe sich zur Idee und über eine rohe Polyhistorie erhebt, und die Philosophie, nicht in bloße Abstractionen verloren, mit der Idee das Einzelne durchdringt. (Boeckh 1850: 192) Auf dem dialektischen Verhältnis zwischen Philologie und Philosophie ist in Boeckhs Verständnis der Philologie als Wissenschaft die Verbindung 122 Boeckh beruft sich hier auf Schelling, wenn dieser sagt, der Philologe „stehe mit dem Künstler und dem Philosophen auf den höchsten Stufen, oder vielmehr durchdringen sich beide in ihm. Seine Sache ist die historische Construction der Werke der Kunst und Wissenschaft, deren Geschichte er in lebendiger Anschauung zu begreifen und darzustellen hat“. (Schelling [1802/ 03] 1990: 76) 123 Geblieben ist von Schlegels Vorhaben allerdings nur ein Fragment mit dem Titel „Philologie“. Vgl. Körner 1928: 4. (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 113 von philosophischer Spekulation 124 und philologisch-empirischer Forschung essentiell. 125 Diese Dialektik spiegelt sich in der Herangehensweise der Philologie an ihren Forschungsgegenstand: Sie [ die Philologie; J.W.) construirt historisch, nicht aus dem Begriffe; aber ihr letztes Endziel ist doch, das der Begriff im Geschichtlichen erscheine; sie kann die Gesammtheit der Erkenntnisse eines Volkes nicht reproduciren ohne philosophische Thätigkeit in der Production; sie löst sich also in die Philosophie auf, ja es scheint im Geschichtlichen der Begriff überhaupt nicht erkannt werden zu können, wenn man nicht von vornherein die Richtung auf ihn genommen hat. (Boeckh 1877: 17) Die Bedingtheit zwischen philologischer und philosophischer Forschung steht im Zentrum der methodischen Überlegungen einer als Wissenschaft konzipierten Philologie, lässt sich doch so der Aggregatsvorwurf gegenüber der Philologie, so Boeckh, entkräften (Boeckh 1877: 20). Dies führt noch einmal zu einer Analyse der hermeneutischen Forschungsmethode als einer Verbindung der Wissenschaft mit Kunst 126 und Philosophie. Bei Schlegel, stärker noch bei Boeckh ist eine Synthese von Hermeneutik als Kunst des Verstehens und wissenschaftlich gesicherter Methode angedacht. 127 Hermeneutik bei Boeckh entpuppt sich als eine mehrdimensionale 124 Zur Methode der philosophischen Forschung als Koppelung von Induktion und Einsicht (Intuition und Spekulation) vgl. Wenisch 1976: 33-38. Wenisch postuliert für die Philosophie allerdings eine Vorrangstellung der Intuition, ein Verhältnis, das Boeckh für die Philologie umgekehrt definiert hat. 125 Es scheint im Zusammenhang mit diesem Dualismus wichtig, noch einmal auf die Verschiebung des Gewichts der philosophisch-spekulativen Forschungsmethode innerhalb der Philologiekonzeption Boeckhs hinzuweisen: Philologische Forschung, d.i. bei Boeckh empirisch-historische Forschung hat klar das Primat über die Spekulation. Grundsätzlich ist diese aber gleichberechtigt und sogar notwendig, wenn das Ziel der Philologie „eigenes Denken“ und „Erkenntniss von Ideen“ sein soll (Boeckh 1877: 20). Hier hat sie ihren Platz und Boeckh kann mittels der philosophischen Spekulation eine ethische Dimension in sein Philologiekonzept integrieren (vgl. Horstmann 1992: 135-138; Rodi 1979, v.a. 76-79 und in der Diskussion 348-354; auch Strohschneider- Kohrs 1979). 126 Horstmann 1992 weist darauf hin, dass der Begriff ‚Kunst‘ in der Romantik nicht mehr nur als techné im ursprünglichen Sinn verstanden werden darf, sondern als „höchste Form der Offenbarung des Göttlich-Schöpferischen im Menschen“ (Horstmann 1992: 156). Daher kann die höchste Form der Auslegung, der bei Boeckh die ästhetische bzw. generische Interpretation entspricht, das Verstehen eines Volkes über seinen Stil zur Vollendung führen (Boeckh 1877: 258/ 259). Bezieht sich Boeckh jedoch auf die philologische Kunst der Auslegung, so ist hier durchaus die traditionelle Bedeutung der techné zu verstehen (Horstmann 1992: 158). 127 Vgl. entsprechende Stellen bei Schlegel: - III 61: Das Ganze ist also eine Kunst und keine Wissenschaft. (III 68) - III 171: […] Nur wo die Poesie Kunst, die Grammatik und Historie Wissenschaften sind, kann die φλ[Philologie] eine wahre Kunst seyn. „Die Verwandlung der Welt“ 114 Methode der Interpretation. 128 Er unterscheidet zwischen einer grammatischen, einer historischen, einer individuellen und einer ästhetischen bzw. generischen Interpretation. 129 Grammatische und historische Interpretation zielen dabei auf ein „Verstehen aus den objectiven Bedingungen des Mitgetheilten“ (Boeckh 1877: 83), hierunter sind zum einen der Wortsinn an sich sowie zum anderen der Äußerungskontext in seiner historischen Realität zu begreifen. Das „Verstehen aus den subjectiven Bedingungen des Mitgetheilten“, d.i. das Subjekt an sich sowie die Intention (Zweck und Richtung), die sich aus dem Subjekt ergeben (Boeckh 1877: 83). Diese vier Dimensionen des Hermeneutikmodells dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden, sondern ausschließlich in ihrer wechselseitigen Beziehung. Wie diese Teile zusammenwirken sollen, erklärt Boeckh folgendermaßen: Das E r k e n n e n jedes Volkes als Inbegriff alles geistigen Wirkens desselben prägt sich in seiner gesammten äusseren, d.h. durch leibliche Organe vermittelten Thätigkeit aus und ist nun ebenso wie ein einzelnes Werk historisch, individuell und generisch und auf seiner höchsten Stufe grammatisch auszulegen. Hierbei wird die grammatische Auslegung die Grundlage bilden müssen, da sie das Erkennen des Volkes in Bezug auf äussere reale Bedingungen zu erklären hat […], wodurch demselben kritisch seine Stellung in der Geschichte der Menschheit angewiesen ist. […] Die wirkenden Kräfte im öffentlichen Leben sind aber I n d i v i d u e n und die i n d i v i d u e l l e Seite des Volkserkennens hat ihren Ausdruck im P r i v a t l e b e n , worin sich innerhalb der großen sittlichen Gemeinschaft das rein Menschliche individuell entwickelt. Alle leitenden Ideen […] objectivieren sich dann in der K u n s t , welche daher der Gegenstand der ä s t h e t i - - III 231: Nur dadurch daß die φλ[Philologie] W ISSENSCHAFT wird, kann sie sich als K UNST erhalten. […] - IV 129: Die Klassik geht durch alle Vermögen und Bestandtheile │ und Seiten des menschl.[ichen] Geistes durch. Sie ist eine eigne spezifisch versch.[iedne] Bildungsart, die Kunst werden, und also Wissenschaft seyn können muß. - Sie ist freyl[ich] nur ein Theil der Historie. (Schlegel 1797; zit. nach Eichner 1981: 35-81; Hervorhebungen wie im Original) Vgl. entsprechende Stellen bei Boeckh: - Die Philologie macht Anspruch darauf, Wissenschaft zu sein; zugleich aber ist sie eine Kunst (Boeckh 1877: 25) - Bei dem ächten hermeneutischen Künstler wird diese Theorie selbst in das Gefühl aufgenommen und es entsteht so der richtige Takt, der vor spitzfindigen Deuteleien bewahrt. (Boeckh 1877: 87) - […] in der Kunst ist Wissenschaft und in der Wissenschaft Kunst; kurz überall kann das Einzelne nur im Zusammenhang des Ganzen begriffen werden. (Boeckh 1877: 258) 128 Zum Hermeneutikbegriff Boeckhs vgl. besonders Horstmann 1992: 143-185. 129 Demgegenüber steht folglich auch ein mehrdimensionales Modell der Kritik, hier unterscheidet Boeckh grammatische und historische Kritik sowie Individual- und Gattungskritik. (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 115 s c h e n , d . h . g e n e r i s c h e n Auslegung des Volkserkennens ist. Zugleich aber wird auch die Form, durch welche der Geist alle diese Erkenntnisse schafft, der λόγος, objectivirt in der Sprache. (Boeckh 1877: 257/ 258; Sperrung wie im Original) 130 Der Philologe als „hermeneutischer Künstler“ habe dieses Zirkelprinzip so zu verinnerlichen, dass er das richtige Gefühl bei der Auslegung entwickeln könne (Boeckh 1877: 87). Das Gefühl spielt bei Boeckh eine nicht unwesentliche Rolle: Das Gefühl kann als Phantasie an die Stelle des Verstandes treten und der Deutende so zu einem vollständigen Verstehen gelangen. Boeckh setzt für den Philologen demnach eine angeborene Fähigkeit voraus: „Interpres non fit sed nascitur.“ (Boeckh 1877: 87; Kursivierung wie im Original). Ist Boeckhs Methode also doch ein rein subjektives Auslegungsmodell? Hier kommt erneut der Verstehensbegriff des romantischen Idealismus ins Spiel. Boeckh begreift Verstehen als die Fähigkeit, die Denkweise eines anderen zu begreifen, sprich, ihn teilweise sogar besser, in seiner Andersheit zu verstehen. Damit beschreibt er letztlich nur das philologische Theorem des ‚Sich Hineinversetzens‘, das als historisch-philologisches Prinzip per se gelten kann (Horstmann 1992: 160). Talent und Gefühl, beides verstandesmäßige Voraussetzungen für den philologischen Forscher, lassen sich so in sein Hermeneutikmodell als eine wissenschaftlich geregelte Methode integrieren. Boeckh lehnt Intuition als wissenschaftliches Prinzip nicht ab, er inkorporiert es aber in eine Methode, die wissenschaftlich überprüfbar ist. Es geht hier nicht um ein psychologisches „Nachfühlen fremder Seelenzustände“ (Dilthey 1900: 1) 131 , sondern um Intuition als „integrierenden Bestandteil eines komplexeren, nicht auf die Festigung der eigenen Überzeugung, sondern auf das Hervorbringen allgemeinen Konsenses und allseits akzeptabler Resultate abzielenden philologischen Erkenntnisprozesses […]“ (Horstmann 1992: 172). Vor dem Hintergrund des Boeckhschen Dualismus von Philosophie und Philologie und der von ihm stets eingeforderten philologischen Überprüfung der auf Intuition gewonnenen Einsichten, kann Intuition, in einer der historisch-empirischen Forschung im Bereich der Philologie untergeordneten Verfahrensweise des Erkenntnisgewinns, eine integrale Komponente der wissenschaftlichen Methode bilden, womit die scheinbaren Widersprüche zwischen Kunst, Philosophie und Philologie aufgelöst werden können. Ausgeblendet wurde bisher eine weitere wissenschaftliche Konzeption, die dezidiert eine Vermittlung zwischen philosophisch-spekulativer und empirischer Forschung anstrebte und in deren Mittelpunkt ebenfalls das Objekt 130 Sprache ist bei Boeckh „Anfang und Ende“ der philologischen Forschung, sie ist die höchste Form der Ausprägung des Volksbewusstseins (vgl. Boeckh 1877: 258). 131 Vgl. zu einer Kritik an Boeckhs Vermittlungsversuch Seebohm 2004: 61-69. „Die Verwandlung der Welt“ 116 ,Sprache‘ stand. Gemeint ist Wilhelm von Humboldts Konzeption einer vergleichenden Anthropologie. Über sie fand das Themenfeld ‚Empirie vs. Spekulation‘ Eingang in die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft und wurde dort in nahezu paralleler Weise wie in der Philologie für diese diskutiert: Ihre Eigenthümlichkeit besteht daher darin, dass sie einen empirischen Stoff auf eine speculative Weise, einen historischen Gegenstand philosophisch, die wirkliche Beschaffenheit des Menschen mit Hinsicht auf seine mögliche Entwicklung behandelt. (Humboldt 1960: 390) Zunächst bezieht sich dieser Plan einer vergleichenden Anthropologie auf die Gesamtheit der kulturellen Leistungen der Menschen, reduziert sich dann aber um 1800 auf die Sprachen als Untersuchungsgegenstand, um den Charakter der Menschen zu erforschen (Trabant 1990: 55). Hier zeigt sich Humboldt als Vordenker Boeckhs, denn er fordert eine Vermählung von Philologie und Sprachwissenschaft, die darüber hinaus auch noch notwendigerweise auf eine hermeneutische, schöpferische Tätigkeit des Forschers hinausläuft. (Trabant 1990: 59; Kursivierung wie im Original) Dies ist eine Konzeption von Philologie, wie sie bei August Boeckh, zwar versetzt mit romantisch-idealistischen Elementen, vorliegt. Sowohl Humboldts Entwurf einer anthropologischen Sprachwissenschaft, die über die Integration historisch-anthropologischer wie auch kultureller Forschungsgegenstände im Grunde eigentlich eine umfassende Kulturwissenschaft ist 132 , als auch Boeckhs Plan einer Universalphilologie, die sich im gleichen Maße als Erkenntnisangebot über das menschliche Werden in seiner Ganzheit versteht, lassen sich eben nicht als Reduktion des Begriffs der Philologie lesen, der sich auf eine rein positivistische, mechanische Wissenschaft beschränkt, in deren Zentrum die Wiederherstellung eines Textes in seinem Urzustand steht. Sie ist vielmehr ein Angebot an die historischvergleichende Sprachwissenschaft, ihr Forschungsvorhaben als philosophisch begründete Verstehenswissenschaft zu definieren und so den Spannungsbogen zwischen Empathie und Objektivitätsanspruch zu lösen. 133 Letztlich scheint zumindest für die Sprachwissenschaft dieses Angebot zu scheitern. Diese nämlich 132 Vgl. zu Humboldts anthropologischer Sprachwissenschaft z.B. Meschonnic 1982: 47; Trabant 1990: 55/ 56; Bösch 2006: 92/ 93; Messling 2008: 20/ 21. 133 So fällt nicht nur Humboldt aus dem Foucaultschen Paradigma des epistemischen Bruchs um 1800 heraus. Noch bis in die vierziger Jahre, wie für die Neuphilologien im Folgekapitel gezeigt werden wird, zeigen sich in den philologischen Konzeptionen diese diskursiven Stränge. Zur Stellung der Sprachreflexion Humboldts innerhalb des Foucaultschen Paradigmas vgl. z.B. Behler 1989. (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 117 wird zunehmend einen ganz anderen, nämlich den bewußt antiphilosophischen naturwissenschaftlichen Weg abseits von Philologie und Literatur gehen. (Trabant 1990: 59) Die Philologie wird bei dem Versuch, sich den Anforderungen eines neuen Wissenschaftsbegriffs zu stellen, der sich an naturwissenschaftlicher Forschung orientiert, in eine Krise geraten, aus der sie letztlich nicht ohne verstörende Kompromisse herausfinden wird. 3.4.3 Die Historisierung des Verstehens und die Krise der Philosophie und (Alt)Philologie Hermeneutik ist spätestens seit Schleiermacher 134 zu definieren als eine Lehre des Verstehens, die über das bloße Auslegen hinausgeht. August Boeckh verbindet hier die philosophisch-spekulative Dimension mit der empirisch-wissenschaftlichen (Horstmann 1992: 116). Im Zuge des Historismus werden die Bedingungen des menschlichen Verstehens nun ebenfalls geschichtlich. Verstehen, und damit auch geschichtliches Verstehen 135 , sind historisch vermittelt: In diesem Fundamentalsatz vollendet sich der Historismus, um zugleich sein Grundproblem zu offenbaren. Es besteht in der Einsicht, dass unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins nicht nur dessen Gegenstände, sondern zuletzt dieses selbst als eine relativ-relativistische Größe ohne dauerhaften Bestand erscheinen muss. (Wenz 2009: 17) Auch Herbert Schnädelbach beschreibt das Entstehen des hermeneutischen Problems in seiner modernen Fassung ab den 1830er Jahren als Problem der „Historisierung des Verstehens“ (Schnädelbach 1983: 141). 136 Es ist an dieser Stelle noch einmal auf den epistemischen Wandel in der Auffassung des Verstehens zurückzukommen. Noch bei Kant findet sich die Vorstellung, das Verstehen erstrecke sich nur auf das, was vom Menschen gemacht worden sei. 137 Dies gilt sich auch für die Geschichte. Grundlage für ein Verstehen der historischen Quellen bildet dabei die Annahme einer 134 Zu den Vorbedingungen der Schleiermachschen Hermeneutik vgl. z.B. Jung 2001; Kurz 2004. 135 Jonas 1970 beschreibt geschichtliches Verstehen als Sonderform des Verstehens, bei der es vor allem um einen qualitativen Unterschied geht: „Gegenwärtiges Verstehen hat die Hilfe von Rede und Gegenrede; historisches Verstehen hat nur die einseitige Rede der Vergangenheit.“ (Jonas 1970: 18) 136 Ähnlich beschreibt Harald Nehr die Zeit um 1800 als eine „Phase der Krisis“, die sich hauptsächlich um den „Nexus des Verstehens“ bilde. Er geht davon aus, dass diese Krise das Verständnis sowie die Problemfelder um den Begriff des ,Verstehens‘ bis heute beeinflussen (Nehr 2004: 10). 137 „Wir verstehen aber nichts recht als das, was wir zugleich machen können, wenn uns der Stoff dazu gegeben würde.“ (Kant Reflexionen Nr. 395 zit. nach Eisler 1930: http: / / www.textlog.de/ 33219.html, 24.01.2011) „Die Verwandlung der Welt“ 118 „allgemeinen ahistorischen Menschenvernunft“ (Schnädelbach 1983: 141). Diese allgemeine Menschenvernunft ist nicht von der Geschichte betroffen und kann somit als Basis für ein allgemeines Verstehen fungieren. Das Geschichtsbewusstsein der Romantik ist jedoch ein grundlegend anderes: Existenz ist hier bestimmt durch die Umstände und Zufälle der jeweiligen historischen Situation, das bedeutet, auch das Verhältnis von Geschichte und Vernunft ist als ein Abhängigkeitsverhältnis zu denken. Vernunft und Verstehen werden einem Prozess der Historisierung unterzogen, der das Verstehensproblem zu einem Überbrückungsproblem zwischen dem im Jetzt Deutenden und dem anderen, den es in seiner Fremdheit zu verstehen gilt, verwandelt (Schnädelbach 1983: 141). Als Folge dieses Prozesses verliert die Philosophie ihre Vormachtstellung und es entsteht Raum für andere wissenschaftliche Disziplinen diesen Platz zu übernehmen. Hier sieht zum einen die Philologie ihre Chance neben der Geschichtswissenschaft, zum anderen sind es die Naturwissenschaften, die immer mehr an Geltung gewinnen. Dainat 1993 beschreibt diesen Prozess der Beeinflussung durch die Naturwissenschaften anhand der Problematik, die sich aus dem Erstarken der Objektivitätsforderung und der angenommenen Basis des Tatsächlichen als Forschungsfolie für die Philologien ergibt. Die Altphilologie verliert ihre Rolle als Lieferant der legitimatorischen Argumentationsstrategien, gleichzeitig wird über den Erfolg der Linguistik wissenschaftlicher Konkurrenzdruck aufgebaut (Dainat 1993: 68). Als zunehmend schwierig erweist sich die theoretische Integration der philologischen Einzelforschungen: Probleme bieten hier nicht zuletzt die zunehmende Spezialisierung und die mangelnde Systematisierung der Fragestellungen - die Naturwissenschaften bieten hier bereits ein ganz anderes Bild und so kann Hermann Helmholtz 1862 in seiner Akademierede den immensen Fortschritt und Erfolg in den Naturwissenschaften mit der Entwicklung von immer präziseren Methoden und Fragestellungen begründen. Die Philologien der neueren Sprachen, die Literatur- und Sprachwissenschaft unter ihrem Dach vereinen, müssen demgegenüber nicht nur mit dem Vorwurf kämpfen, spekulativ und zu stark auf Intuition ausgerichtet zu sein. Gleichzeitig ist die immer deutlicher sichtbar werdende Auflösung der bisher angenommenen Einheit von sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschung in der Philologie ein weiterer Grund für ein zunehmend dringlicher werdendes Plädoyer, zwischen zwei verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, Philologie als Text- und Editionswissenschaft und Linguistik, zu differenzieren (Dainat 1993: 75). Hieraus ergibt sich ein Spannungsfeld, in das vor allem die Neuphilologien geraten werden: Wissenschaftlichkeit wird gemessen an naturwissenschaftlichen Kriterien. Als Konsequenz dieser Entwicklung geraten Philosophie und Philologie in den Sog des Szientismus, dessen Auswirkungen auf die Konzeptionen der Philologie in der postidealistischen Zeit ein De- (Alt)Philologie als Wissenschaft des Verstehens 119 siderat in der Forschung darstellt (vgl. Wenz 2009: im Manuskript; Schnädelbach 1983: 118/ 119). Der Einfluss des Historismus ermöglichte den Philologien also einerseits ihre Vorrangstellung, andererseits begann mit der „Historisierung des Verstehens“, und damit der Historisierung der Philologien ein Prozess, der sich mit Maria Selig als semantische Entleerung der Philologien beschreiben lässt (Selig 2005: 305). Dabei liegt die Vermutung nahe, dass der Begriff Philologie nur noch als Bezugsrahmen für die in ihr zusammengefassten Disziplinen Sprach- und Literaturwissenschaft dienen wird. Dies sind die Bedingungen auf die die Neuphilologien bei ihrer Entstehung treffen, wenn sie sich an der Klassischen Philologie als Leitdisziplin orientieren. Die methodische Diskussion dreht sich um das hermeneutische Grundproblem des (Fremd)Verstehens, für das intuitive oder divinatorische Techniken herangezogen werden. Die Neuphilologien stehen, verkürzt gesagt, vor der Entscheidung, sich mit einer Wissenschaft, die in ihrer Forschungsmethode ein philosophischspekulatives Moment integriert, zu identifizieren oder ein Wissenschaftsmodell zu wählen, das sich am empirischen Modell der aufstrebenden Naturwissenschaften orientiert. Bevor jedoch diese Entscheidungsfindung beleuchtet wird, soll der Einfluss der Naturwissenschaften anhand der Entwicklung der sprachwissenschaftlichen Auseinandersetzung hinsichtlich ihres Sprachbegriffs, ihrer Forschungsmethoden und ihres Selbstverständnisses dargestellt werden. Ziel ist es, auf diese Weise die Vielfalt der Spannungsfelder herauszuarbeiten, zwischen denen sich die Neuphilologien - besonders die Romanische Philologie - befinden, wenn es gilt, die eigene wissenschaftliche Identität zu verhandeln. 4 Natur oder Geist? Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft als „Gegenentwurf“? Natur oder Geist? Anfang des 19. Jahrhunderts entsteht die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft als eine Disziplin, die eine, von den Philologien grundsätzlich andere Auffassung von Sprache und Sprachforschung vertritt. Die Entdeckung des Sanskrit gilt gemeinhin als Geburtsstunde der historischvergleichenden Sprachwissenschaft, die vor allem in Deutschland einen raschen Durchbruch mit den Arbeiten Wilhelm von Humboldts, Friedrich Schlegels und Franz Bopps erlebte, um nur einige der prominenten Vertreter der neuen Disziplin zu nennen (vgl. Arens 1969: 155-159). 1 Arens weist darauf hin, dass sich von Beginn an zwei Strömungen innerhalb dieser neuen Disziplin manifestieren: die eine ist mit den sprachphilosophischen Ideen Wilhelm von Humboldts verknüpft und bietet einen Anknüpfungspunkt für das Konzept der Universalphilologie eines August Boeckh, da Humboldt über eine rein materielle Sprachbetrachtung hinausgeht (Arens 1969: 170). Humboldt begreift Sprache wie seine Zeitgenossen als Organismus, doch in seiner Sprachphilosophie zeigt sich der Gedanke, dass über die Sprache durchaus eine Begegnung mit dem individuellen Wesen eines Volkes, einer Kultur und der Geschichte möglich ist: Sprachstudium konzentriert sich daher weder ausschließlich auf die innere Natur einer Sprache, ihren Bau, noch rückt es allein die Texte in den Mittelpunkt seiner Forschung. Beides gehört zusammen, die materielle Seite der Laute, der Grammatik und der „Wörter“, aber auch das Studium der Schrift und der in der jeweiligen Sprache verfassten Texte (Trabant 1990: 194). 2 Empirisch-linguistische Forschung nimmt in den Arbeiten Wilhelm 1 So schreibt Franz Bopp in der Vorrede seiner Vergleichenden Grammatik: „In der Behandlung unserer europäischen Sprachen mußte in der That eine neue Epoche eintreten durch die Entdeckung eines neuen sprachlichen Welttheils, nämlich des Sanskrit, von dem es sich erwiesen hat, daß es in seiner grammatischen Einrichtung in der innigsten Beziehung zum Griechischen, Lateinischen, Germanischen etc. steht, so daß es erst dem Begreifen des grammatischen Verbandes der beiden klassisch genannten Sprachen unter sich, wie auch des Verhältnisses derselben zum Germanischen, Litauischen, Slavischen eine feste Grundlage gegeben hat. Wer hätte vor einem halben Jahrhundert es sich träumen lassen, daß uns aus dem fernsten Orient eine Sprache würde zugeführt werden, die das Griechische in allen seinen ihm als Eigenthum zugetrauten Form-Vollkommenheiten begleitet, zuweilen überbietet, und überall dazu geeignet ist, den im Griechischen bestehenden Dialekten-Kampf zu schlichten, indem sie uns sagt, wo ein jeder derselben das Ächteste, Älteste aufbewahrt.“ (Bopp ²1857: III/ IV) 2 Beneš 1958: 125 beschreibt das Zusammenspiel zwischen den beiden Polen „Stoff“ und „Form“ in der Sprache als „Produkt des Zusammenwirkens einer geistigen schöpferischen Kraft und eines passiven Stoffes […]; sie ist weder rein materieller Natur oder Geist? 122 von Humboldts einen wichtigen Stellenwert ein, sie bildet das Fundament auf dem dann die ästhetisch-philosophisch-historische Forschung erfolgen kann. Diese Doppelung findet sich auch in der Humboldtschen Auffassung von Sprache. Humboldt setzt dem Organismus immer auch den Charakter einer Sprache entgegen, beide zusammen ermöglichen einen Einblick in die Individualität einer Nation, ja sogar in die einzelnen Individuen einer Sprachgemeinschaft: Man muss also, um die Verflechtung des Geistes in die Sprache genauer zu verfolgen, dennoch den grammatischen und lexicalischen Bau der letzteren gleichsam als den festen und äusseren von dem inneren Charakter unterscheiden, der wie eine Seele in ihr wohnt und die Wirkung hervorbringt, mit welcher uns jede Sprache, so wie wir nur anfangen, ihrer mächtig zu werden, eigenthümlich ergreift. Es ist damit auf keine Weise gemeint, dass diese Wirkung dem äusseren Baue fremd sey. Das individuelle Leben der Sprache erstreckt sich durch alle Fibern derselben und durchdringt alle Elemente des Lautes. Es soll nur darauf aufmerksam gemacht werden, dass jenes Reich der Formen nicht das einzige Gebiet ist, das der Sprachforscher zu bearbeiten hat, und dass er wenigstens nicht verkennen muss, dass es noch etwas Höheres und Ursprünglicheres in der Sprache giebt, von dem er, wo das Erkennen nicht ausreicht, doch das Ahnden in sich tragen muss. (Humboldt [1827-1829] 2003: 411) Organismus einerseits, Abdruck des Seelenlebens andererseits. In Humboldts Sprachphilosophie ist eine Spannung angelegt, die, sollte es der Sprachforschung gelingen, sie zu halten, wohl tatsächlich zu der von Humboldt angedachten ganzheitlichen Kulturwissenschaft führen könnte, in die sowohl linguistische Beschreibung als auch philologisch-hermeneutische Sprachbetrachtung wie auch anthropologische Forschung integriert gewesen wären. 3 Humboldt löste mit diesem Konzept einer umfassenden Kulturwissenschaft die Trennlinie zwischen Sprachforschung, die am materiellen Gegenstand Sprache interessiert war, und philosophisch-philologischer Sprachforschung, die sich auf die Bildungskraft und das ethische Potential der Sprache konzentrierte, auf. Doch es ist nicht das Bild des Seelenabdrucks der Individuen, der nach Humboldt in den Charakter einer Sprache eingeschrieben ist, sondern das Bild des Organismus und das Bild der anatomischen Zergliederung, das die Entwicklung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft in noch rein geistiger Natur, sondern etwas Drittes, das Anteil hat an der Materie der Welt wie an der Kraft des Geistes.“ Sprache als energeia ist gebunden an den Menschen und die Tätigkeit seines Geistes, sie lässt sich nicht aus den sozialen, historischen und kulturellen Feldern, innerhalb derer sich der Mensch bewegt, herauslösen. Die Einschreibung einer philosophischen Komponente in die Sprachforschung scheint für das Verständnis der Sprache als „Gewordenes“ bei Humboldt zentral. 3 Vgl. hierzu Trabant 1990: 50-59; Bösch 2006: 92/ 93; Messling 2008: 54-58. Natur oder Geist? 123 Deutschland bestimmen sollte. Sprache wird nicht als Mittel zur Erforschung des Geistes eines bestimmten Volkes betrachtet, sondern rein um ihrer selbst willen analysiert (Trabant 2006: 245). In diesem Zusammenhang ist es die Methode des Vergleichs, der die Sprachwissenschaft als autonome Wissenschaft legitimiert und sie so in die Nähe der vergleichenden Naturgeschichte rückt, mit deren Tradition, Selbstverständnis und vor allem Methodenbegriff die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft sich identifizieren kann. Friedrich Schlegel, der in Paris zu den Hörern der Leçons d’anatomie comparée von Georges Cuvier (1789-1832) gehört hatte 4 , erhob diese neue Methode zum Standard der historisch-vergleichenden Sprachbetrachtung: Jener entscheidende Punkt aber, der hier alles aufhellen wird, ist die innre Struktur der Sprachen oder die vergleichende Grammatik, welche uns ganz neue Aufschlüsse über die Genealogie der Sprachen auf ähnliche Weise geben wird, wie die vergleichende Anatomie über die höhere Naturgeschichte Licht verbreitet hat. (Schlegel 1808: 28) Deutlich wird hier, dass als Vergleichspunkte innerhalb der Naturwissenschaften vor allem die vergleichende Anatomie wie auch die Naturgeschichte gesetzt werden. Der auf Vergleichung beruhende Erkenntnisprozess zielt darauf ab, die Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Sprache aufzudecken, nach denen sich diese entwickelt. 5 Sprache sollte auf diese Weise wissenschaftlich-historisch betrachtet werden, was Schlegel als eine durchaus schwierige Aufgabe der Sprachwissenschaft betrachtete (vgl. Schlegel 1808). Lösbar erschien diese allerdings über die strikte Anwendung einer naturwissenschaftlichen Methode, mittels derer die innere Natur der Sprachen erkannt werden sollte. 6 4 Zum Einfluss Cuviers auf die deutschen Sprachwissenschaftler Anfang des 19. Jahrhunderts vgl. z.B. Schmitter 1993; Lehmann 1999. 5 Vgl. hierzu auch Grimm 1819: 12: „Wird man sparsamer und fester die verhältnisse der einzelnen sprachen ergründen und stufenweise zu allgemeineren vergleichungen fortschreiten; so ist zu erwarten, dasz bei der groszen menge unsern forschungen offener materialien einmal entdeckungen zu stande gebracht werden können, neben denen an sicherheit, neuheit und reiz etwa nur die der vergleichenden anatomie in der naturgeschichte steht.“ 6 Die vergleichende Methode, ursprünglich aus der Zoologie stammend, avancierte rasch zur führenden wissenschaftlichen Methode der Naturwissenschaften und galt als Garant für moderne Wissenschaftlichkeit: „D'autres poursuivirent une pensée qu'ils regardaient comme une idée mère, dont ils avaient eu le premier apperçu, celle de l'unité de plan et de l'analogie de composition. Mais nous leur observerons que le créateur de la méthode naturelle en zoologie, de cette méthode qui s'efforce de grouper les êtres d'après le plus grand nombre de leurs ressemblances, d'après l'ensemble de leurs rapports, avait aussitôt reconnu l'unité de plan dans les principaux groupes du règne animal. Le principe était donc introduit dans la science, et même établi sur des bases solides.“ (Cuvier ²1835: Xii) Bähler geht davon aus, dass der Einfluss der vergleichenden Methode der Naturwissenschaften mit dazu führte, dass in Frank- Natur oder Geist? 124 Wilhelm von Humboldt erkannte allerdings die Gefahr der Reduktion der sprachwissenschaftlichen Forschungsarbeiten auf reine Systemanalysen und warnte eindringlich davor, die philosophisch-anthropologische Komponente aus der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft herauszukürzen, um diese nicht zu einer bloß deskriptiven Wissenschaft zu machen: Das vergleichende Sprachstudium, die genaue Ergründung der Mannigfaltigkeit, in welcher zahllose Völker dieselbe in sie, als Menschen, gelegte Aufgabe der Sprachbildung lösen, verliert alles höhere Interesse, wenn sie sich nicht an den Punkt anschließt, in welchem die Sprache mit der Gestaltung der n a t i o n e l l e n G e i s t e s k r a f t zusammenhängt. (Humboldt 1836: 1; Sperrung wie im Original) Deutlich wird hier erneut der Verweis auf das Primat des Ganzen vor den einzelnen Teilen. Wichtig ist, dass die einzelnen Teile stets im Bezug zu diesem Ganzen betrachtet werden: Aber auch die Einsicht in das eigentliche Wesen einer Nation und in den inneren Zusammenhang einer einzelnen Sprache, so wie in das Verhältniß derselben zu den Sprachforderungen überhaupt, hängt ganz und gar von der Betrachtung der gesammten Geisteseigenthümlichkeit ab. Denn nur durch diese, wie die Natur sie gegeben und die Lage darauf eingewirkt hat, schließt sich der Charakter der Nation zusammen, auf dem allein, was sie an Thaten, Einrichtungen und Gedanken hervorbringt, beruht und in dem ihre sich wieder auf die Individuen fortvererbende Kraft und Würde liegt. (Humboldt 1836: 1/ 2) Entwickelt wird hier der Gedanke der Historizität der Sprache. Deutlich wird, dass der ‚Organismus‘ Sprache bis in die „feinsten Fibern“ mit der Geschichte verwachsen ist. Sprache muss immer in ihrer Doppeltheit analysiert werden, das heißt, sowohl um ihrer selbst willen als auch in ihrer Eigenschaft als soziale, an den Menschen gebundene Kommunikationsform. Natur und Geist sind in ihr untrennbar verknüpft: Die Sprache auf der andren Seite ist das Organ des inneren Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntniß und zur Äußerung ge- reich - konträr zur deutschen Entwicklung - der Philologiebegriff zu einem Synonym für die historisch-vergleichende Methode avancierte (vgl. Bähler i. Dr.; Bähler 2004: 286-288; 299ff). Vgl. hierzu auch Bréal 1878: 8-10, der von einer gegenseitigen Durchdringung von Philologie und historisch-vergleichender Sprachwissenschaft spricht. Gleichzeitig verweist er auf die unterschiedlichen Genesebedingungen der Philologie in Deutschland und Frankreich (vgl. Bréal 1878: 9). Die nahezu synonyme Verwendung der Begriffe „philologie“ und „linguistique comparative“ im franzöischen Verständnis zeigen sich auch in Bréals Übersetzung der Boppschen Grammatik, in der er den Begründer der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, Franz Bopp, als „créateur de la philologie comparative“ bezeichnet (Bréal 1866: V; Hervorhebung J.W.). Natur oder Geist? 125 langt. Sie schlägt daher alle feinste Fibern ihrer Wurzeln in die nationelle Geisteskraft; und je angemessener diese auf sie zurückwirkt, desto gesetzmäßiger und reicher ist ihre Entwicklung. Da sie in ihrer zusammenhängenden Verwebung nur eine Wirkung des nationellen Sprachsinns ist, so lassen sich gerade die Fragen, welche die Bildung der Sprachen in ihrem innersten Leben betreffen, und woraus zugleich ihre wichtigsten Verschiedenheiten entspringen, gar nicht gründlich beantworten, wenn man nicht bis zu diesem Standpunkte hinaufsteigt. Man kann allerdings dort nicht Stoff für das, seiner Natur nach, nur historisch zu behandelnde vergleichende Sprachstudium suchen, man kann aber nur da die Einsicht in den ursprünglichen Zusammenhang der Thatsachen und die Durchschauung der Sprache, als eines innerlich zusammenhängenden Organismus, gewinnen, was alsdann wieder die richtige Würdigung des Einzelnen befördert. (Humboldt 1836: 2) Angelegt sind hier einige der essentiellen Universalien, die Coseriu für die Beschreibung der Ebenen der Sprache und ihren Funktionen heranzog: Semantizität, Alterität, Kreativität und Historizität. 7 Vor allem das Kriterium der Historizität sollte in Folge die verschiedenen Angebote an philologischen und sprachwissenschaftlichen Konzeptionen beeinflussen. 7 Vgl. zu den essentiellen Kriterien Coseriu 1988a: 233-262; 1988b: 263-267, vgl. zu Humboldts Beitrag zur historischen wie beschreibenden Sprachwissenschaft Coseriu 1988c: 1; 4-6, zum Kreativitätsbegriff bei Humboldt vgl. Bossong 1979: 8/ 9, zur Historizität von Sprache vgl. z.B. Oesterreicher 2001. Natur oder Geist? 126 4.1 Die Sprache der Bilder: Anatomistische und ästhetische Sprachbetrachtung bei Franz Bopp (1791- 1867) und Jakob Grimm (1785-1863) 8 Als ein strenger Verfechter der vergleichenden Methode kann Franz Bopp (1791-1867) gelten, in dessen Werk die konsequente Durchführung dieser neuen Methode der Sprachbetrachtung eine programmatische Abhandlung oder Stellungnahme als Entwurf eines wissenschaftlichen Systems ersetzt. 9 Bopp hat bereits eine naturwissenschaftlich geprägte Sicht auf Sprache, in seiner Auffassung gleicht die Gesamtheit aller Sprachen einem Skelett, dessen Aufbau sich durch den Vergleich und das Zueinanderbringen der einzelnen Teile aufschlüsseln lässt. Dabei erhält die Sprachbetrachtung einen neuen Stellenwert: Da in diesem Buch die Sprachen, worüber es sich verbreitet, ihrer selbst willen, d.h. als Gegenstand und nicht als Mittel der Erkenntniß behandelt werden, und mehr eine Physik oder Physiologie derselben zu geben versucht wird, als eine Anleitung sie praktisch zu handhaben: so konnten manche Einzelnheiten, die zur Characteristik des Ganzen nichts Wesentliches beigetragen, ausgelassen, und dadurch für die Erörterung des Wichtigeren, tiefer in das Sprach-Leben Eingreifenden mehr Raum gewonnen werden; und hierdurch, wie durch eine strenge, alles zueinander Gehörige und sich wechselseitig Aufklärende, unter Einen Gesichtspunkt bringende Methode, ist es mir, wie ich mir schmeichle, gelungen, auf verhältnismäßig engem Raum die Haupt-Ereignisse vieler reichbegabter Sprachen oder großartiger 8 Zwar schreibt Brigit Beneš in ihrer Untersuchung über Jakob Grimm, er sei der Indogermanistik ablehnend gegenübergestanden (Beneš 1958: 128). Dem ist jedoch in dieser Absolutheit so nicht ganz zu folgen. So äußert Grimm über die Sanskritforschung, sie sei der „schluszstein der ganzen Untersuchungen überhaupt“ (Grimm [1819] 1980: 111/ 112). Ähnlich fordert er in der Vorrede zu seinem Wörterbuch, die vergleichende Methode als Forschungsmethode ein: „für die älteste Geschichte kann, da, wo uns alle andern quellen versiegen oder erhaltne überbleibsel in unauflösbarer unsicherheit lassen, nichts mehr austragen als sorgsame erforschung der verwandtschaft oder abweichungen jeder sprache und mundart bis in ihre feinsten adern oder fasern.“ (Grimm [1848] 1980: 122) Grimm zeigte durchaus Interesse an der historischvergleichenden Sprachforschung sowie eine Wertschätzung für deren Ergebnisse auf dem Gebiet der Sanskritsprachen, seine Motivation zur Forschung liegt aber eher in seiner mythisierenden Auffassung von Geschichte und Volk, ihm ging es darum einen Beitrag zur Geschichtsschreibung der „deutschen Nation“ zu leisten, der Wunsch nach einer Einigung des Volkes scheint bei Grimm eine starke treibende Kraft gewesen zu sein (Janota 1980: 24f.). Zusätzlich findet sich in Grimms Sprachauffassung die Vorstellung, die deutsche Sprache sei durch Bildung verderbt, daraus lässt sich der Rückbezug zum Altdeutschen und zum Mittelalter erklären. Hier hoffte Grimm, die unverdorbene „Urvolkssprache“ zu finden. 9 Vgl. hierzu z.B. vgl. Lehmann 1991: 283; Blauth-Henke/ Wolf 2011. Die Sprache der Bilder 127 Dialekte einer untergegangenen Stamm-Sprache zu einem Ganzen zu vereinigen. (Bopp ²1857: XI/ XII (Vorrede zur ersten Auflage)) Bopps Metaphorik verweist deutlich darauf, dass Sprache als Forschungsgegenstand in seinen Arbeiten analog zu einem naturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand zu betrachten ist. 10 Das Zitat aus Bopps Vergleichender Grammatik enthält aber noch weitere Implikationen: Sprache wird, wie bereits gesagt, nicht mehr als Mittel der Erkenntnis betrachtet, außerdem fällt aus der vergleichenden Sprachforschung der schulpädagogische Aspekt des praktischen Sprachenlernens gänzlich heraus. Vergleichende Grammatik dient demnach weder einem ethischen noch einem (schul)pädagogischen Zweck, sondern allein der Befriedigung eines wissenschaftlichen Forschungsinteresses. Auch dies ist ein neuer Gedanke in der Beschäftigung mit Sprache im deutschen Sprachraum. Forschungsergebnisse werden nun auf ihre Verwendbarkeit für nachfolgende Forschungsinteressen geprüft, nicht mehr auf die ihnen innewohnende Möglichkeit einer Partizipation der Gesellschaft. Hierin lässt sich eine Tendenz zu einem evolutiven Wissenschaftsverständnis erkennen, dass in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft in Deutschland von Beginn an die Tätigkeit der Sprachwissenschaftler zu bestimmen scheint. 11 Mit dem Bild der Sprache als Organismus war der Zweck der wissenschaftlichen Grammatikschreibung neu bestimmt: 10 Vgl. z.B. folgende Stellen bei Bopp ²1857 (Vorrede zur ersten Auflage): - „Ich beabsichtige in diesem Buche eine vergleichende, alles Verwandte zusammenfassende Beschreibung des Organismus der auf dem Titel genannten Sprachen, eine Erforschung ihrer physischen und mechanischen Gesetze und des Ursprungs der die grammatischen Verhältnisse bezeichnenden Formen.“ (III) - „[…] zum Theil aber auch so versteckt, so tief in die geheimsten Gänge des Sprachorganismus eingreifend“ (IV) - „[…] so klar ist, daß, wenn es früher eine streng systematische Sprachvergleichung und Sprach- Anatomie gegeben hätte […]“ Zu den Organismus Metaphern im Werk Franz Bopps vgl. besonders Morpurgo Davies 1987. 11 Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Bopp sich selbst ein historisch-philosophisches Interesse unterstellte: Er hatte nicht nur „das Verlangen, den Sinn für die innere Natur der Sprache durch Bekanntschaft mit den ältesten Sprachen der Welt zu üben und zu schärfen“ (Windischmann in Bopp 1816: II), sondern war entschlossen, „,das Sprachstudium‘ (nach eigenen Worten) ‚als ein historisches und philosophisches zu behandeln und sich nicht damit zu begnügen, daß er verstehe, was in der oder jener Sprache geschrieben ist.‘“ (Windischmann in Bopp 1816: IX). Beispielsweise war Bopp auch durchaus philologisch tätig, so gab er indische Dichtungen heraus, deren ästhetischen und philologischen Wert er sich allerdings von August Schlegel und Friedrich Rückert bestätigen ließ, vgl. dazu Bopp 1838: V-XII. Auch Delbrück bestätigte Bopp ein weit umfassendes sprachwissenschaftliches Interesse: „Bopps wissenschaftliches Interesse ging von Anfang an nicht sowohl auf das aus, was wir jetzt im engeren Sinne vergleichende Grammatik nennen, sondern auf Sprachwissenschaft im weitesten Verstande des Wortes.“ (Delbrück 1919: 62) Natur oder Geist? 128 Die Sprachen sind nämlich als organische Naturkörper anzusehen, die nach bestimmten Gesetzen sich bilden, ein inneres Lebensprinzip in sich tragend sich entwickeln, und nach und nach absterben, indem sie, sich selber nicht mehr begreifend, die ursprünglich bedeutsamen, aber nach und nach zu einer mehr äußerlichen Masse gewordenen Glieder oder Formen ablegen, oder verstümmeln, oder mißbrauchen, d.h. zu Zwecken verwenden, wozu sie ihrem Ursprünge nach nicht geeignet waren. […]. (Bopp 1836: 1) Bereits in diesem kurzen Absatz zeigt sich, dass die von Bopp verwendeten Metaphern sich zu einem Diskursstrang verdichten, der die Übertragung der vergleichenden Methode aus der Anatomie in die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft vorbereitet. Evoziert wird das Bild der unabhängig vom Menschen wirkenden Naturgesetze, nach denen sich Naturorganismen entwickeln. Das Aufrufen dieses Wissensrahmens ist nötig, betrachtet man das Ziel, das Bopp für eine vergleichende Grammatik formuliert: Eine Grammatik in höherem, wissenschaftlichem Sinne soll eine Geschichte und Naturbeschreibung der Sprache sein; sie soll, so weit es möglich ist, geschichtlich den Weg ausmitteln, wodurch sie zu ihrer Höhe emporgestiegen oder zu ihrer Dürftigkeit herabgesunken ist; besonders aber naturhistorisch die Gesetze verfolgen, nach welchen ihre Entwickelung oder Zerrüttung oder die Wiedergeburt aus früherer Zerstörung vor sich gegangen. (Bopp 1836: 2) Die Grammatik wird auf die Entdeckung und Verwendung des Gesetzesbegriffes eingeschworenen, Ziel ist es, die Gesetze „naturhistorisch zu verfolgen“. Die Vorstellung von Gesetz, darauf sei hier noch einmal hingewiesen, besteht bei Bopp aus einer doppelten Dimension: Geschichte und Natur. 12 Aus dieser doppelten Dimension speist sich auch die Doppeltheit der Aufgabe der Sprachforschung, die Bopp im Folgenden weiter ausführt: Grammatik hat aber keinen selbstständigen und rein wissenschaftlichen Werth, wenn sie sich blos zur Aufgabe macht, den Weg zu bahnen zu einer vollkommenen Einsicht in den Sinn der Schriftsteller, die in der behandelten Sprache geschrieben haben, und wenn sie blos zu diesem Zwecke alle gewöhnliche und seltene Formen, die sich auffinden lassen, zusammenstellt und ordnet; obwohl auch auf diese Weise viel Schätzbares geleistet, viel Scharfsinn und Gelehrsamkeit entwickelt werden kann. Wir müssen jedoch ganz vorzüglich für das Sprachstudium einen Satz geltend machen, den Göthe in seinen Wanderjahren ausgesprochen hat: "Was nüzt, ist nur ein 12 Darauf weist bereits Schneider 2001: 176 hin: Die Vorstellung von Regelmäßigkeiten in historischen Entwicklungen sowie die Vorstellung, Sprache sei ein lebendiger Organismus erleichtern den Transfer des naturwissenschaftlichen Denkmodells, das Naturgesetze zur Herstellung von Kausalitäten nutzt, in die Sprachwissenschaft. Die Sprache der Bilder 129 Theil des Bedeutenden. Um einen Gegenstand ganz zu besitzen, zu beherrschen, muß man ihn um sein selbst studiren“. (Bopp 1836: 3) Es ist deutlich erkennbar, dass sich die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit diesem Programm weit von dem Plan einer vergleichenden Anthropologie (Humboldt), dem Konzept einer geschichtlich-kulturellen Erkenntnisleistung über Sprachstudien (Herder) oder demjenigen einer Syntheseleistung zwischen Spekulation und Empirie über die Philologie (Boeckh), die als Konzeption alle eine ethisch-ästhetische Dimension in ihre Forschungsprogramme integrierten, entfernt hatte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Goethe, der uns bereits als Gewährsmann bei Wolf begegnete, bei Bopp in einem dem Wolfschen Anliegen nahezu diametral entgegengesetzten Sprachforschungsprogramm als Legitimationsfigur für die Konzeption einer naturwissenschaftlichen Betrachtung von Sprache dient. In der Tat: „Linguistik und Philologie stehen schon im ersten Buch der neuen Sprachwissenschaft [Über das Conjugationssystem 1816; J.W.] fremd nebeneinander“ wie Jürgen Trabant (2006: 246) es treffend beschreibt. Der Text ist aus dem Fokus der naturwissenschaftlich ausgerichteten Sprachforschung verschwunden, an seine Stelle ist die naturgesetzliche Beschreibung der Entwicklung der Sprache getreten. Dies bedeutet aber nicht, dass eine andere Form der Sprachbetrachtung, der es auf den individuellen Charakter der Sprachen und der in ihnen sich manifestierenden Geschichtlichkeit und ihren Geist ankommt, verschwunden wäre. Bopp erläutert die Abgrenzung zwischen den, seiner Meinung nach, drei verschiedenen Motivationen Sprachstudien zu betreiben: Man fürchte nicht, dass die praktische Gründlichkeit in der utraque lingua, worauf es dem Philologen am meisten ankommt, durch Verbreitung über zu viele Sprachen beeinträchtigt werde; denn das Vielartige verschwindet, wenn es als einartig erkannt und dargestellt, und das falsche Licht, welches ihm die Farbe des Vielartigen auftrug, beseitigt ist. Ein anderes ist es auch eine Sprache lernen, ein anderes sie lehren, d.h. ihren Organismus und Mechanismus zu beschreiben (Bopp ² 1857: VII; Kursivierung wie im Original (Vorrede zur ersten Auflage)) Hier zeigt sich bereits ein sich anbahnender Dominanzwechsel zwischen den beiden Diskursen über Sprache und Sprachbetrachtung. Sprache lehren, und das bedeutet bei Bopp als universitäre Disziplin, heißt nun, vergleichend-historische Sprachwissenschaft zu unterrichten. Bopps Hauptinteresse galt in erster Linie der vergleichenden Grammatik und der Erforschung der Sprache um ihrer selbst, wie er 1829 gegenüber seinem Lehrer Windischmann erklärt: Mir ist von Allem, was Indien anbelangt, die Sprache das wichtigste, und nur in Zergliederung ihres Organismus, in Untersuchungen über ihr Verhältniß zu den verwandten Dialekten und ihre Bedeutung in der allgemei- Natur oder Geist? 130 nen Sprachenwelt trete ich mit wahrer Lust und innigem Vertrauen als Schriftsteller auf. (Bopp in einem Brief vom 21. November 1829, zit. nach: Windisch [1917] 1992: 68) Seine Konzeption der Sprachforschung ließ aber trotz der Fokussierung auf die naturwissenschaftlichere Betrachtung der Sprache Raum für philologisch-philosophische Überlegungen. Man täte Bopp Unrecht, sähe man in ihm nur den strengen Verfechter der historisch-vergleichenden Methode und es wäre falsch, reduzierte man sein wissenschaftliches Anliegen ausschließlich auf die Beschreibung einer Sprache. Neben der vollständigen Erfassung und Typologisierung der Sprachen galt Bopps Interesse stets auch der Erklärung der sprachlichen Phänomene: [..] so wahr ist es jedoch, daß nur durch eine gründliche, philosophische Vergleichung aller der verwandten Sprachen, die von gemeinschaftlicher Mutter geboren wurden, und mit Berücksichtigung selbst anderer Idiome von verschiedenem Stamme, zu einer wissenschaftlichen Spracheinsicht gelangt werden könne; so wahr ist es auch, daß wir in Betreff der altindischen Sprache bey dem Resultate der Grammatiker der Eingeborenen nicht stehen bleiben müssen, daß wir weiter dringen werden, wenn wir den Geist der Sprachen zu fassen wissen, deren mechanische Erlernung einen Theil unserer frühesten Bildung ausmacht. (Bopp 1816: 56/ 57) Sicherlich ist Peter Schmitter zuzustimmen, dass es sich bei Bopps Forschungsprogramm um eine Reduktion des romantischen Sprachforschungsansatzes handelt (Schmitter 1993: 98). Es ist ihm aber nicht ganz zu folgen, wenn er Bopps Sprachkonzeption als gänzlich vom Menschen losgelöst begreift (Ebd.). Zwar betrachtet Bopp die Sprache als Organismus, der sich wie ein biologisch eigenständiges Wesen verhält und die drei Wachstumsphasen Erblühen, Erwachsenenzeitalter und Absterben durchlebt, aber er sieht die Entwicklung einer Sprache gerade in Bezug auf ihre Eigenheiten, das Besondere, nach wie vor an den Menschen gebunden. Bopp trennt bereits zwischen der naturwissenschaftlichen, positiv orientierten Sprachforschung, die in der Tat das Historische zum Empirischen wandelt und deren Interesse das Allgemeine, die zugrundeliegenden Gesetze im Blick hat und einer philosophisch-historischen Sprachforschung, deren Aufgabe es ist, hinter die Mechanismen zu schauen. Denn dies ist die Definition der philosophischen Sprachforschung bei Bopp, in der er ganz mit Humboldt übereinstimmt. Es reicht nicht aus, eine Sprache in ihrem mechanisch-biologischen Entwicklungsgang um ihrer selbst willen darzustellen - dies ist zwar Aufgabe der Grammatik, mehr zu leisten ist diese aber nicht imstande, sie kann nicht erklären, was hinter den gesetzmäßigen Strukturen steht. 13 Dass Sprache kulturelle Einsichten vermitteln und ge- 13 Vgl. zur der oft einseitigen Einordnung Bopps die Kritik bei Sternemann 1984: v.a. 152/ 153. Sternemann weist daraufhin, dass eine historische Untersuchung auf eine Die Sprache der Bilder 131 schichtliche Informationen über die Völker transportieren kann und so einen Beitrag zur Schreibung der Menschheitsgeschichte leistet, zeigt sich in Bopps philologischen Arbeiten, die von der Forschung meist vernachlässigt werden. Hier geht Bopp davon aus, dass die Menschen über ihre Sprache ihrer Geschichte Individualität verleihen, die die nachfolgenden Generationen über ihr Werden aufklären können: Auch die classische Sprache der Indier hat dem merkwürdigen Ereignißs der allgemeinen Erdüberschwemmung, aus welcher Manus sich rettete, ein unverkennbares Siegel aufgedrückt, aber nicht übertreibend, wie die Erzählung, sondern in der wahren Gränze sich haltend, und nicht Götter und Asuren sondern nur die Menschen als Abkömmlinge Manus bezeichnend. (Bopp 1828: VII) 14 Sprache dient hier durchaus noch als ein Mittel die geistige Verfasstheit eines Volkes abzubilden und bietet so die Möglichkeit, den Charakter eines Volkes auszudrücken und zu vermitteln. Bopp bindet Sprache und ihre Entwicklung an menschliche Tätigkeit, an historisch-kulturelle Umstände, trotz aller Nähe zur vergleichenden Anatomie ist der Geist noch nicht verschwunden, es findet sich durchaus noch eine Anbindung zur Philosophie in der Sprachforschung. So schreibt Bopp in einem Brief an Wilhelm von Humboldt über die Grenzen der historisch-vergleichenden Sprachforschung: Wo die eigentliche Erforschung der Sprache (das Streben nach Begreifen) anfängt, die doch auch wichtig für das Historische ist, haben wir [in] den Grammatiken, die das rein Positive geben, keinen Haltpunkt mehr. (Bopp in einem Brief an Wilhelm von Humboldt von 1829, zitiert nach Lefman 1897: 69). Bopp hält die Sprachwissenschaft offen für eine Anbindung an philologische Forschung, sein Sprachdenken begreift Sprache als Komplex von Natur und Geist, zwei Pole, die sich gegenseitig bedingen und die zwar gesondert voneinander erforscht werden können, jedoch nicht voneinander trennbar sind. Sprachwissenschaft präsentiert sich bei Bopp als eine überwiegend an der naturwissenschaftlichen Methode orientierte Disziplin, de- Analyse des Materials an sich abzielt, während eine philosophische Analyse die Deutung der diesem Material zugrundeliegenden Strukturen beinhaltet. (Sternemann 1984: 148) 14 Erkennbar wird an dieser Stelle der Einfluss Humboldts, der den Zusammenhang von Sprache und dem individuellen Charakter einer Nation beziehungsweise eines Volkes herausgestellt hat: „Die Geisteseigenthümlichkeit und die Sprachgestaltung eines Volkes stehen in solcher Innigkeit der Verschmelzung in einander, dass, wenn die eine gegeben wäre, die andere müsste vollständig aus ihr abgeleitet werden können. […] Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker; ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache; man kann sich beide nie identisch genug denken.“ (Humboldt 1836: 42) Natur oder Geist? 132 ren Forschungsgegenstand aber an den Menschen gebunden bleibt. Nachdrücklich fordert Patrizia Bologna, Bopps Terminologie nicht als vorschnellen Beweis für eine rein naturwissenschaftliche Sicht auf Sprache gelten zu lassen und konstatiert für Bopps Arbeiten ebenfalls eine Trennung zwischen historisch-positiver und historisch-philosophischer Sprachforschung (Bologna 1992). In Bopps Werk spiegle sich der Prozess der Spaltung der Sprachforschung in eine empirische und eine philosophische: Il passaggio da un interesse genericamente filosofico per il poliglottismo ad un’indagine scientifica autonoma implica il costituirsi di un metodo comparativo e tassonomico (la «Zergliederung» boppiana), che si manifesta nell’analisi empirica degli organismi linguistici, nel caso di Bopp nell’analisi dei sistemi di coniugazione dapprima (Conjugationssystem) ed anche di declinazione a partire dall’Analytical Comparism del ’20. Questo tipo di analisi segna l’avvio del processo di separazione tra empirismo e speculazione filosofica nello studio del linguaggio, che risulterà chiaro verso la metà del secolo (Bologna 1992: 33) In Bopps Werk zeigen sich noch beide Richtungen, was die Diversität seiner Arbeiten, vornehmlich erscheint er als Linguist, aber eben auch als philologischer Texteditor 15 , belegt. Verantwortlich für diese „Zweiheit“ in Bopps Sprachdenken ist seine Geschichtsvorstellung, die Geschichte einer Sprache setzt sich bei Bopp zusammen aus Natur- und Kulturgeschichte. Er kann diese Verbindung nicht kappen und so lässt sich den Arbeiten Bopps die Funktion eines Startpunkts der Spaltung der ganzheitlichen Auffassung der Sprachforschung, wie sie Wilhelm von Humboldt vertreten hat, zuschreiben. Doch noch bleibt die Organismusmetapher Metapher, ihre Aufhebung wird sich erst bei August Schleicher finden. 16 Auch bei Jakob Grimm 17 finden sich klare Indizien für eine Trennung zwischen beiden Disziplinen, genau wie Bopp nimmt er ebenfalls keine 15 Allerdings richtet sich Bopps vornehmliches Interesse bei der Edition der Sanskritdichtungen wohl darauf, das Studium und den Bekanntheitsgrad des Sanskrit in Deutschland voranzutreiben. 16 Vgl. hierzu z.B. auch Donatella di Cesare: „La morte delle metafore che, da Bopp fino a Schleicher, caratterizza lo sviluppo del comparatismo, se conduce ovviamente ad una precisazione della terminologia, rivela nondimento una oggettualizzazione del linguaggio; concepite come ‚nient’altro che‘ organismi, autonomi dai soggetti parlanti, le lingue si dimostreranno analizzabili in base a leggi di causa e effetto simili a quelle delle scienze dela vita.“ (di Cesare 1991: XXV). In einem ähnlichen Sinn bezeichnet auch Bréal Schleicher als den ersten, der eine explizite Trennung zwischen Philologie und Sprachwissenschaft aufgemacht habe, indem er die erste der historischen Beschäftigung mit dem Geist, der letzteren eine naturwissenschaftliche Analyse der Sprache als Naturprodukt zugeschrieben habe. Bréal selbst kritisiert Schleicher allerdings in diesem Punkt (Bréal 1878: 2) 17 Vgl. zu Jakob Grimm als Sprachwissenschaftler v.a. Herrlich 1998; Gardt 1999: 252- 278. Zur programmatischen Bedeutung Grimms v.a. Haß-Zumkehr 1997. Die Sprache der Bilder 133 Wertung zwischen Philologie und Linguistik vor. Schien bei Bopp die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft dem wissenschaftlichen Anspruch eher Genüge zu leisten als die Philologie, so stehen bei Grimm beide Disziplinen gleichberechtigt gegenüber. Am folgenden Textausschnitt kann in plakativer Weise gezeigt werden, wie die Wissensrahmen um die zu verhandelnden Begriffe, konkret geht es bei Grimm um den Gegenstand Sprache und die beiden Disziplinen Philologie und Linguistik, konstruiert und strukturiert werden, indem semantische Verfahren wie Konzeptübertragung (Metapher) oder das Aufrufen von Bildfeldern auf sprachlicher Ebene wirksam werden. Grimm überträgt Konzepte aus der vergleichenden Anatomie (Sehnen, Leib, Knochen) auf den Gegenstand Sprache, der so zu einem Naturgegenstand wird. Aber nicht nur die Naturseite wird evoziert, Grimm erreicht über die Personifizierung des Gegenstandes Sprache (Atemzug, Gestalt, Gebärde) auch eine Verankerung des Gegenstands auf der Geistseite. Durch das gezielte Aufrufen bekannter Klassifikatoren aus Anatomie und Philologie, auch der Geschichtswissenschaft, wird erreicht, dass sich die Begriffsfelder ‚Sprache als Naturobjekt‘ und ‚Sprache als Objekt des Geistes‘ mit Konnotationen und Assoziationen füllen, die auf der konnektiven Struktur der Kommunikationsgemeinschaft verankert und sodann gedeutet werden können. So werden die linguistischen Verfahren (Metapher, frame, script, Personifizierung) übertragen auf die Ebene der Diskurse: 18 Sie können jetzt als Regelinventar den Wissensvorrat strukturieren und so bestehende Normen und Konzeptionen verändern. Auf diese Weise erhalten bestimmte Begriffe in der Tat ‚Schlagwortcharakter‘ und können so als komplexer Eintrag im mentalen Lexikon der Rezipienten aufgerufen werden. Es gibt zwei arten des sprachstudiums, die wol in mir zum zwiespalt gekommen sind. Der einen ist die sprache für den zweck, sich der literatur des alterthums zu bemächtigen […]. Das ziel des philologen scheint errungen, wenn er nach und nach der sprache völlig einwohnt, und durch lange unausgesetzte übung des sinnlichen und geistigen anschauens sich ihre gestalt und gebärde so aneignet, daß er sie fast wie seine angeborne handhaben und nunmehr zur herausgabe und sichtung der überlieferten […] denkmäler auf mannigfache weise verwenden kann. […] ihre richtung wird vorzugsweise nach der syntax gehen, deren zarteres gewebe die blüten und 18 Bisweilen werden diese beiden Ebenen nicht sauber getrennt: So sei in diesem Zusammenhang noch einmal betont, dass es sich bei den semantischen Verfahren um linguistische Verfahren auf der rein sprachlichen Ebene der Tiefenstruktur des Textes handelt, blickt man jedoch auf die Ebene der Diskurse, so wirken diese auf der Textoberfläche im Prozess des Textverstehens (Kohärenzetablierung und Textsinn). Vgl. hierzu besonders Maingueneau 1996: 51ff.; 2002; Maingueneau/ Cosutta 1995; auch Jung 2006. Natur oder Geist? 134 früchte des bodens erkennen lassen, aus welcher die seele der sprache vernehmlich hervorbricht. […] (Grimm ³1840: XIIf.) Philologie wird hier beschrieben als kontemplative Wissenschaft. Sie erhält ihre Bedeutung, indem sie in der Lage ist, Quellen historisch zu lesen, in ihrem Mittelpunkt steht der Text. Über die Begriffsfelder ‚Sinne‘ und ‚Gefühl‘ wird hier auf die Diskurse der Altphilologie verwiesen, die in den bereits mehrfach erwähnten Wissensrahmen um die Konzepte des ‚Hineinfühlens‘ wie auch des ‚Wirken des Geistes‘ in den Konzeptionen der Philologien wirksam waren. Indem Grimm die bekannten Diskurse und Wis- Wissensrahmen in ihrer Dialektik evoziert, verortet er seine Konzeption der Philologie als Seelenschau innerhalb der konnektiven Struktur seiner Zeit. Im zweiten Abschnitt des Zitats findet sich dann ganz klar der Diskursstrang, der über die Metaphorik der Anatomie in die Sprachwissenschaft gefunden hat und der Sprache in ihrer Eigenschaft als System in den Fokus rückt: Minder um lebendige äußerung und gesammteindruck zu thun ist es der andern behandlungsart, die wir dafür in das innere und sich die sprache zum unmittelbaren zweck machen sehn. Es ist recht daß die sprache schon um ihrer selbst willen getrieben und ein gesetz aufgesucht werde, nicht das oben an ihr erscheine, sondern inwendig in ihr walte. Man könnte diese sprachforschung im gegensatz zu jener behaglich anschauenden die zergliedernde nennen, weil nicht sowol der natürlichen freien bewegung aller gelenke oder dem leisen athemzug der sprache gelauscht, als vielmehr in ihren leib eingeschnitten wird, dessen knochen und sehnen zu ernsterer besichtigung einladen. (Grimm ³1840: XIIf.) 19 Die von Grimm in diesem kurzen Abschnitt verwendete Metaphorik macht deutlich, wie sich die beiden in diesem Textausschnitt wirkenden Diskursformationen voneinander abgrenzen - und zeigt letztlich auf der Interpretationsebene klar auf, dass es sich bei Grimm hinsichtlich der Philologie und der Linguistik um zwei verschiedene Disziplinen handelt, die im Grunde nur über ihr Forschungsobjekt, sprachliche Quellen in unterschiedlicher Verfasstheit, verbunden sind. Der Philologie als „behaglich anschauende[m] Sprachstudium“ geht es um die „Seele“ der Sprache, es gilt ihren Geist über eine intensive Lektüre und Interpretation der Texte zu erhaschen, der Forschungsgegenstand konzentriert sich vornehmlich auf Syntax, Stil und Text, da sich in ihnen die menschliche Seele entäußere. Gut erkennbar ist das Postulat nach einem Einfühlen des Forschers in sein For- 19 Die unterschiedlichen Ausrichtungen innerhalb des Sprachstudiums gemäß dem Forschungsziel unterscheidet Grimm bereits in der ersten Auflage: „[…] so kann das grammatische Studium kein anderes, als ein streng wissenschaftliches und zwar der verschiedenen Richtung nach, entweder ein philosophisches, critisches oder historisches sein.“ (Grimm [1819] 1980: 109) Die Sprache der Bilder 135 schungsobjekt, Hermeneutik als Methode des Philologen und das damit verbundene „Besser verstehen“ stehen im Zentrum der Forschungsarbeit. Sprachforschung entspricht hier einer Sprachbetrachtung, die in der Lage ist durch Einsicht und historisch-empirisches Arbeiten die Vergangenheit, die Texte, zur Gegenwart sprechen zu lassen. 20 Aus den Grimmschen Bildern lassen sich Anspielungen auf die Sprachphilosophie Humboldts und Herders, aber auch auf den Philologiebegriff Boeckhs herauslesen. Sprache hat eine Seele, sie atmet, sie erzählt, sie ist eine lebendige Verbindung zur Geschichte der Menschheit. Hier findet sich der hermeneutisch-idealistische Sprachbegriff, über den Sprachforschung als (philosophische) Philologie einen Beitrag zur Erziehung der Gesellschaft leisten kann. Dieses Bild bestätigt Grimm in seiner Geschichte der deutschen Sprache: 21 Es gibt ein lebendigeres zeugnis über die völker als knochen, waffen und gräber, und das sind ihre sprachen. Sprache ist der volle athem menschlicher seele, wo sie erschallt oder in denkmälern geborgen ist, schwindet alle unsicherheit über die verhältnisse des volks, das sie redete, zu seinen nachbarn. (Grimm ³1868: 4). Offenkundig wird auch die Verknüpfung der beiden Arten der Sprachforschung, Philologie und Sprachwissenschaft. Über sorgfältige historischvergleichende, anatomistische Forschung wird der Philologie ihr Forschungsmaterial selbst in schwierigen Fällen zugänglich: für die älteste geschichte kann da, wo uns alle andern quellen versiegen oder erhaltne überbleibsel in unauflösbarer unsicherheit lassen, nichts mehr austragen als sorgsame erforschung der verwandtschaft oder abweichung jeder sprache und mundart bis in ihre feinsten adern oder fasern. (Grimm ³1868: 4) Die Aufgabe der Philologie wird klar gefasst: sie bleibt partizipative Verstehenswissenschaft, da es ihr Ziel ist, dem Menschen über seine Geschichtlichkeit Aufklärung zu geben. Grimm zeigt sich hier ganz dem romantisch-idealistischen Forschungsprogramm verpflichtet, wenn er das philologische Ziel ideologisch über das der Sprachwissenschaft stellt: 20 Es sei an dieser Stelle auf Grimms Geschichtsverständnis verwiesen, dass ein grundsätzlich anderes als bei Humboldt oder Schlegel ist. Grimm versteht den geschichtlichen Fortschritt im negativen Sinn als Entfremdung des Menschen von seiner ursprünglichen Einheit mit der sinnlichen Welt. Über den Rückgriff auf Volkstraditionen und Mythen versucht Grimm diese Einheit wiederherzustellen. Hier steht Grimm in Verbindung zu Herders romantischer Auffassung der Volksseele (vgl. hierzu z.B. Beneš 1958: 70-80; Janota 1980: 24ff.). 21 Es sei dies das liebste Buch Jakob Grimms gewesen, so Wyss 1988: 62. Grimm habe sich jeglichen Historisierungstendenzen entzogen, da es ihm stets um eine Hermeneutik der Natur ging. In seiner Sprachgeschichte zeichnet er denn auch die Sprache als Möglichkeit, in der die Geschichte ihren Frieden mit der Natur findet (Wyss 1988: 59/ 60; 62). Natur oder Geist? 136 Sprachforschung der ich anhänge und von der ich ausgehe, hat mich doch nie in der weise befriedigen können, daß ich nicht immer gern von den Wörtern zu den sachen gelangt wäre; ich wollte nicht bloß häuser bauen sondern auch darin wohnen, mir kam es versuchenswerth vor, ob nicht der geschichte unsers volks das bett von der sprache her stärker aufgeschüttelt werden könnte, und wie bei etymologien manchmal laienkenntnis fruchtet, umgekehrt auch die geschichte aus dem unschuldigeren standpunct der sprache gewinn entnehmen sollte. (Grimm 3 1868: XI) Die Sprachwissenschaft vermag das Haus zu bauen - erneut trifft man auf eine Metaphorik, die die Sprachwissenschaft in einen handwerklichen Kontext einbindet -, die Philologie füllt es mit Leben. Dies ist ihr Ziel als historische Disziplin über die sich Einblicke in die Volksseele gewinnen lassen. Ganz anders ist das Ziel der „zergliedernden“ Sprachforschung. Ihre Forschungsmethode ist zu vergleichen mit der Arbeit eines forensischen Anthropologen. In ihrem Metapherninventar finden sich dementsprechend der „leib“, „knochen“ und „sehnen“. 22 Hier wird nicht gelauscht und betrachtet, sondern seziert, verglichen, es gilt Gesetze über ihren inneren Aufbau, die diesen bedingen und ihre Entwicklung erklären, zu erstellen und zu Kausalitäten zu verbinden. Diese Sprachbetrachtung ist nicht auf das Besondere oder Individuelle aus, das wäre ja aus der „natürlichen freien Bewegung“ zu entnehmen, das sich in einer Sprache manifestiert, ihr geht es um die Feststellung des Allgemeinen, der Untersuchung des rein Materiellen. Ihre Schlussfolgerungen beruhen auf Induktion und Empirie. Das Bildmaterial zeigt eine offensichtliche Tendenz, Sprachwissenschaft als naturwissenschaftlich orientierte Beschäftigung mit Sprache einzuordnen, die Philologie dagegen als ethisch-philosophische Wissenschaft zu definieren. Natur oder Geist - das scheint die Frage. Endgültig lässt sich diese Frage mit Sicherheit auch heute noch nicht beantworten. Grimm zumindest versucht den Brückenschlag und seine Aussage darf als ein Beleg gelten, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft Sprache nicht ausschließlich als einen „riesige[n], in quasi naturgesetzlicher Transformation befindliche[n] Klangkörper“ (Trabant 2006: 251) gedacht hat. Ihr Forschungsziel war lediglich ein anderes: An Stelle von Aufklärung über das Werden der Menschheit suchte sie Er- 22 Das Bildinventar wird erst bei den Junggrammatikern zu einem stärker von der Mechanik beeinflussten Inventar werden. Bopp, Grimm und Schleicher bleiben hier noch ganz im Umfeld von Anatomie und Biologie, die Bildspender sind auf Körperlichkeit bezogen. Vgl. dagegen das Bildinventar der Junggrammatiker, die über den „sprechmechanismus“, die „faktoren, die beim sprechen thätig sind“, die „fortbewegung und umbildung des sprachstoffes“ oder „die richtung einer lautbewegung“ das menschliche Sprechen als maschinellen, mechanischen Vorgang kennzeichnen (Osthoff/ Brugmann 1878, III; XIII). Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 137 klärung über das Werden der Sprache, nach Gesetzmäßigkeiten, die Sprachveränderung zu erklären vermochten und geriet dabei immer mehr über die Orientierung an der vergleichenden Anatomie wie der vergleichenden Naturgeschichte in die Spurrinne der Naturwissenschaften. Der Wunsch zu diesen zu gehören war teilweise sehr stark ausgeprägt und nahm bisweilen polemische Formen an. 4.2 Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft: August Schleicher (1821-1868) und die Glottik Die Grammatik bildet einen teil der sprachwißenschaft oder glottik. Diese selbst ist ein teil der naturgeschichte des menschen. Ire methode ist im wesentlichen die der naturwissenschaften überhaupt; sie besteht in genauer beobachtung des objectes und in schlüßen, die auf die beobachtung gebaut sind. (Schleicher ²1866: 1) August Schleicher bestimmt die Sprachwissenschaft in seinem Compendium der vergleichenden Sprachwissenschaft als einen Teil der Naturgeschichte der Menschheit. Schleicher hat dabei einen Evolutionsbegriff vor Augen, der sich stark an Darwins Begriff der Evolution orientiert. 23 Sprache entwickelt sich dementsprechend bei Schleicher analog zu einem, den Naturgesetzen unterworfenen Mechanismus. Schleichers Sprachbegriff und vor allen Dingen seine Vorstellung von der Entwicklung einer Sprache sind damit weit entfernt von der Vorstellung Humboldts, Sprache sei grundsätzlich als Abdruck der Tätigkeit des menschlichen Geistes zu begreifen, die sich in Abhängigkeit von historisch-kulturellen Faktoren entwickelt. Dieser gänzlich anders verstandene Evolutionsbegriff lag auch den Arbeiten Friedrich Schlegels oder Jakob Grimms zugrunde. Bei Schleicher ist dagegen ein deutlicher Bruch mit diesem Entwicklungsdenken zu sehen. Schleicher wertete das Bild des Organismus um in eine biologische Konstante, die er so vom Menschen zu lösen vermag. 24 Damit hob er aber letztlich die Similaritätsrelation, auf der die Organismusmetapher beruhte, auf und machte den bildhaften Vergleich zur Wirklichkeit. Der Kippeffekt zwischen den beiden distinkten Konzeptbereichen ,Sprache‘ und ,Lebender Körper‘ fand nicht mehr statt. Sprache war zum Organ geworden (Beneš 23 Vgl. zur Rolle des Darwinismus in der Philologie und dem Evolutionsverständnis Humboldts Messling 2009 [im Manuskript]. 24 Jäger spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „darwinistischen Reduktion“ des Organismussowie des Entwicklungsbegriffs. Über diese Reduktion erfolge die Auflösung der Metapher bei einer gleichzeitigen Verkürzung des Historizitätsproblems in der Sprache (Jäger 1975: 104). Vgl. zur Aufhebung der Metaphorik in der Verwendung des Organismusbegriffs v.a. Morpurgo Davies 1987. Natur oder Geist? 138 1958: 129; Trabant 2006: 252). 25 Die Konsequenz dieser Lösung war ein unüberwindbarer Graben, der sich nun zwischen Philologie und Sprachwissenschaft auftat: Schwerwiegend war vor allem die Loslösung der Sprache vom ‚Geist der Völker‘ und von der geschichtlichen Wirklichkeit, die Schleicher dadurch vollzog, dass er die Sprache zum autonomen Organismus erklärte. Seine sämtlichen Forschungen […] beziehen sich ausschließlich auf den lautlichen, morphologischen und syntaktischen Aspekt der Sprache. (Beneš 1958: 122/ 123) In einer materialistisch-positivistischen Konzeption der Sprachwissenschaft, wie sie Schleicher vorschwebte, war für hermeneutisch-idealistische Ideen kein Platz mehr und damit auch kein Anknüpfungspunkt mehr für sprachphilosophische oder philologische Fragen. Beneš weist Schleicher daher die Funktion eines Wendepunkts zu, bei dem er sich einerseits als „Totengräber“ der romantisch-idealistischen Sprachwissenschaft, andererseits als Begründer einer materialistisch positivistischen Sprachwissen- 25 Vgl. die berühmt gewordene Beschreibung des Schleicherschen Baumdiagramms: „Was unser Bild besagt, läßt sich mit Worten etwa folgender Maaßen ausdrücken. In einer früheren Lebensperiode des Menschengeschlechtes gab es eine Sprache, die wir aus den aus ihr hervorgegangenen indogermanisch genannten Sprachen ziemlich genau erschließen können, die indogermanische Ursprache. Nachdem sie von einer Reihe von Generationen gesprochen ward, während dem wahrscheinlich das sie redende Volk sich mehrte und ausbreitete, nahm sie auf verschiedenen Theilen ihres Gebietes ganz allmählich einen verschiedenen Charakter an, so daß endlich zwei Sprachen aus ihr hervorgingen. Möglicher Weise können es auch mehrere Sprachen gewesen sein, von denen aber nur zwei am Leben blieben und sich weiter entwickelten; dasselbe gilt auch von allen späteren Theilungen. Jede dieser beiden Sprachen unterlag dem Differenzierungsprozesse noch zu wiederholten Malen. Der eine Zweig, den wir nach dem, was später aus ihm ward, den slawodeutschen nennen wollen, theilte sich abermals durch allmähliche Differenzierung (durch die fortgesetzte Neigung zur Divergenz des Charakters, wie es bei Darwin heißt) in deutsch und slawolettisch, von denen das erstere die Stammmutter aller deutschen (germanischen) Sprachen und ihrer Mundarten, das letztere die der slawischen und litauischen (baltischen, lettischen) ward. Die andere Sprache, die sich durch Differenzierung aus der indogermanischen Ursprache heraus entwickelt hatte, das ariograecoitalokeltische - man verzeihe mir diese langathmige Bezeichnung - theilte sich später ebenfalls in zwei Sprachen, von denen die eine, die graecoitalokeltische, die Mutter der griechischen, albanischen und der Sprache ward, aus welcher später keltisch und italisch hervorgiengen und die wir deshalb die italokeltische nennen, die andere aber, die arische Sprache, die nah verwandten Stammmütter der indischen und der eranischen (persischen) Sprachfamilie erzeugte. Weitere Übersetzung des Bildes in Worte ist wohl überflüssig.“ (Schleicher [1863] 1977: 92-93) Vgl. auch den Abschnitt III in Schleichers Compendium über das Leben der Sprache (Schleicher ²1866: 4-9). Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 139 schaft erweise (Beneš 1958: 124; 130). 26 Es ist sicherlich mit das Verdienst Schleichers, dass Sprache nun als synchroner Untersuchungsgegenstand legitimiert war. 27 Die Radikalität des Schleicherschen Organismusdenken wird bei den Junggrammatikern fortgeführt werden, allerdings nicht mehr unter naturalistisch-biologistischen Vorzeichen, sondern eingeschrieben in ein positivistisch-mechanistisches Denken, das der Physik näher steht als der Biologie (Beneš 1958: 123). Verkürzt wäre es aber, zu behaupten, Schleicher habe die kulturell-geschichtliche Dimension komplett aus dem Sprachbegriff und damit der Sprachforschung gelöst. Dies trifft nur teilweise zu, nämlich für die naturwissenschaftliche Erforschung der Sprache, die Schleicher interessierte. Um den Preis der Messbarkeit der Ergebnisse, den der evolutionäre, fortschrittliche Wissenschaftsbegriff einforderte, löste er die Sprache als rein materiellen Gegenstand von jeglicher geistigmenschlichen Implikation. Schleicher hatte aber die historische Erforschung der Sprache stets im Blick, nur ordnete er ihr einen anderen Sprachbegriff, eine andere Methode und eine andere wissenschaftliche 26 Beneš weist dabei die schrittweise Überführung des Hegelschen Fortschritts- und Geschichtsdenkens in ein rein materialistisches Denken bei Schleicher nach. Geschichts- und sprachphilosophische Aspekte entfallen bei Schleicher. Sein Ziel war die Überführung des Sprachbegriffs in das Darwinsche Evolutionsmodell und die Zuordnung der Linguistik zu den Naturwissenschaften (Beneš 1958: 92-95). Messling konnte allerdings zeigen, dass Schleichers Sprachauffassung sich nur teilweise dem Darwinschen Evolutionsprinzip annähern kann und vielmehr der Ideologie einer Hegemonialstellung Europas verhaftet ist. Schleichers Sprachdenken offenbart eine Verwurzelung der Naturgesetzlichkeit im Eurozentrismus und dem damit verbundenen Anspruch, die Vormacht Europas zu legitimieren und zu zementieren (Messling 2009 [im Manuskript]). In dieser Hinsicht kann Schleicher der Vorwurf des Rassismus gemacht werden (Messling 2009 [im Manuskript]). Darwins Theorie dagegen ist kein teleologisches Konzept, seine Vorstellung der Arten beruht auf den Prinzipien der Entwicklung durch Beliebigkeit und Diskontinuitäten, er sieht die Entwicklung einer Art stets in Verbindung mit den zufälligen Bedingungen, die ihr Lebensraum ihr auferlegt. Es ist letztlich eine Frage der Anpassung, ob das Leben damit zurechtkommt. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Darwin in einer seiner späteren Schriften, die Schleicher nicht mehr erlebt hat, die Entwicklung der Sprachen als durchaus von historisch-kulturellen Faktoren mitbestimmt betrachtete: „Diesen wichtigen Ursachen des Überlebens gewisser Wörter läßt sich auch noch die bloße Neuheit und Mode hinzufügen; denn der Geist des Menschen hat eine starke Vorliebe für unbedeutende Veränderung in allen Dingen. Das Überleben oder die Beibehaltung gewisser bevorzugter Wörter im Kampf ums Dasein ist natürliche Zuchtwahl.“(Darwin 2009: 113) 27 Bopps Konzeption der Sprachforschung orientierte sich an der naturwissenschaftlichen Methode, blieb aber in ihrem Beobachtungsstandpunkt stets diachron: „Vom historischen Wege glaube ich mich in meiner Gramm. nicht zu entfernen […] Unter historischer Sprachforschung ist doch wohl diejenige zu verstehen, die eine Sprache durch alle ihre Zustände soweit hinaus als möglich verfolgt, und auch die Seiten- Linien, d.h. die stammverwandten Dialekte stets im Auge [hat], […].“ (Bopp in einem Brief an Wilhelm von Humboldt 1829, zitiert nach Lefman 1897: 69) Natur oder Geist? 140 Disziplin zu. So zeigt sich in Schleichers Frühwerk Zur vergleichenden Sprachengeschichte, dass Schleicher nicht von Anfang an kategorisch von zwei verschiedenen Sprachbegriffen ausging, von denen ihn letzten Endes nur der positivistisch-materielle interessierte: Wie sollte auch die Sprache, die durch so enge Bande mit dem Geiste des Menschen verknüpft ist, einen anderen Weg gehen als dieser und dem Gange der Organismen der Natur folgen, bei welchen dasselbe Leben wieder da Platz greift, wo es eben geendet hat, um den unzählige Male sich in seiner Identität wiederholenden Lauf von Entstehung zu Vernichtung von Neuem durchzumachen. (Schleicher 1848: 2) Erkennbar wird hier, dass im Frühwerk Schleichers die Aufhebung der Organismusmetapher noch nicht zur Gänze vollzogen ist. Hier findet sich noch die Anbindung an das Organismuskonzept Wilhelm von Humboldts, in dessen Zentrum die doppelte Struktur der Sprache, sie ist gebunden an menschliches Wirken und gleichzeitig Natur, steht: Eine Generation von Pflanzen oder Thieren gleicht der anderen, der Vogel baut sein Nest heute zu Tage ebenso geschickt, aber auch nicht im mindesten kunstfertiger, als vor Jahrhunderten, nur der Mensch geht zu immer neuen Gestaltungen seines Wesens über und zwar hauptsächlich in geistiger Beziehung. Die Kunstfertigkeit der Thiere hat keine Geschichte, wohl aber die menschliche Kunst, ebenso verhält es sich mit den bedeutungsvollen Lauten, die man auch bei den Thieren gewissermassen Sprache nennen könnte. Die Nachtigall äussert ihre Gefühle noch jetzt durch dieselben Töne wie in der Vorzeit, ganz anders verhält es sich mit der Sprache beim Menschen. Die Sprache ist speciell menschlich, geistig, sie bietet daher in ihrem Verlaufe die grössten Analogien mit der Geschichte, in beiden zeigt sich ein stetiges Fortschreiten zu neuen Phasen. (Schleicher 1848: 2) Auch wird deutlich, dass Schleicher hier auf einen historischen Gesetzesbegriff hinweist, der im Werden der Menschen wirkt und dem daher auch ihre Produktionen, gemeint ist die menschliche Sprache als dynamisches, historischen Wandelprozessen unterworfenes Konstrukt, unterworfen sind. Ueberall nun, wo sich Gesetze zeigen, wie z. B. in allem geschichtlichen Werden, d. h. wo eine bewusste oder unbewusste Vernunft, wo etwas der menschlichen Vernunft Homogenes auftritt, da kann dieses von Letzterer gefasst und in Worten ausgesprochen werden. Das ist es eben, was die Geschichte zur Geschichte macht […]. (Schleicher 1848: 2) Dies lässt sich nahezu als ein Versuch werten, die beiden Sprachbegriffe noch einmal zu synthetisieren, indem Schleicher davon ausgeht, dass dem geschichtlichen Werden Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen, nach denen es sich gestaltet. Sehr deutlich ist hier die Analogie zu Hegels Geschichtsbegriff, der Geschichte als Entwicklung begreift, in der die Verschiedenheit Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 141 von Endlichkeit und Unendlichkeit in ihrer gegenseitigen dialektischen Beziehung aufgehoben ist. Vernunft, Historizität, System und Geschichte bilden in Hegels Geschichtsbegriff eine Einheit. Wenn Schleicher nun ein subjektives Verstehen von Sprache in eine dialektische Beziehung zu einem rein objektiv-materialistischen Erfassen von Sprache setzt, folgt er der gedanklichen Figur Hegels, in der sich diese beiden Pole des Verstehens stets voraussetzen und bedingen (Messling 2009 [im Manuskript]). Schleicher radikalisiert diese Vorstellung in seinen späteren Werken, indem er die beiden Sprachforschungen voneinander trennt - und zwar in eine naturalistische und eine kulturgeschichtliche Disziplin. Die hermeneutische Herangehensweise an Sprache interessierte ihn nicht mehr. Schleicher war bei einem rein materiellen, positivistischen Sprachbegriff angelangt, der auch dem philosophischen Geist seiner Zeit entsprach (Beneš 1958: 94). Der „neue“ Geist in der Wissenschaftsauffassung forderte naturwissenschaftliche Kriterien, die für die Messbarkeit der Ergebnisse garantieren konnten. Empirie, Positivismus, Zergliederung, Bildung allgemeiner Gesetze und strenge Objektivität der Methode waren die Schlagworte, die auch die Sprachforschung erfassten und die im Werk von August Schleicher deutlich zu Tage treten. Ließ sich in der Sprachforschung zunächst eine Philologisierung beobachten 28 , so hielt nun mit dem Erstarken der Naturwissenschaften eine zunehmende „Vernaturwissenschaftlichung“ Einzug in die Sprachforschung, die den Graben zwischen sprachwissenschaftlicher und philologischer Forschung vertiefte. Dieser Bruch lässt sich vor allem an dem veränderten Wissenschaftsbegriff sowie einer neu geführten Methodendiskussion festmachen. An Stelle der systematischen Einheit und des inneren Zusammenhangs zwischen den Disziplinen trat jetzt vermehrt der Ruf nach disziplinären Differenzierungs- und Spezialisierungsprozessen. Die Aufspaltung der wissenschaftlichen Disziplinen in Natur- und Geisteswissenschaften scheint nun nicht mehr aufzuhalten zu sein. 29 Der „alte“ Geist wurde sozusagen ausgelagert und der Natur der Vorrang gewährt. Damit verbunden war auch eine neue Anforderung an Wissen und Erkenntnis. Wissen galt als gesichert, wenn es aposteriorisch, das heißt, im 28 Dainat 1983 erklärt diese Philologisierung mit dem Vorbildcharakter der (Alt)philologie, die qua ihres Status die wissenschaftliche Führungsrolle Ende des 18./ Anfang des 19. Jahrhunderts einnahm (Dainat 1983: 70). 29 Versuche einer ähnlichen Differenzierung weist Erhard Scheibe 1988 bereits für das 17. Jahrhundert nach. Scheibe macht die Differenzierung, die in seinen Augen notwendig für ein gegenseitiges Bedingen der beiden wissenschaftlichen Felder ist, am Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur auf. Beide bilden in Antike Gegenstand des Nachdenkens: In der Antike wird der Gegensatz zwischen beiden in der theoretischen Annahme eines einheitlichen Weltbildes überwunden, dieses wird jedoch vom Menschen dominiert (Scheibe 1988: 68). Die Annahme einer Konstanten, des Menschen, wurde jedoch mit der Entdeckung der Historizität des Menschen obsolet und das Spannungsfeld brach erneut auf. Natur oder Geist? 142 Gegensatz zum apriorischen Wissen, durch Erfahrung und nachprüfbare, empirische Verfahren gewonnen wurde und nicht mehr nur durch die Vorstellung eines idealen Wissens, das als intuitive Grundlage im Denken verankert ist und über das sich Erkenntnis apriorisch generieren lässt. Vorzeigewissenschaften waren nicht mehr die Philosophie oder Philologie, zum Vorbild der neuen Wissenschaftlichkeit waren die Naturwissenschaften geworden: Bei den Naturforschern kann man einsehen lernen, daß für die Wissenschaft nur die sichere, streng objective Beobachtung festgestellte Thatsache und der auf diese gebaute richtige Schluß Geltung hat; eine Erkenntniß, die manchem meiner Collegen von Nutzen wäre. Subjectives Deuteln, haltloses Etymologisieren, vage Vermuthungen ins Blaue hinein, kurz alles, wodurch die sprachlichen Studien ihrer wissenschaftlichen Strenge beraubt und in den Augen einsichtiger Leute herabgesetzt, ja sogar lächerlich gemacht werden, wird demjenigen gründlich verleidet, der sich auf den oben angedeuteten Standpunkt nüchterner Beobachtung zu stellen gelernt hat. (Schleicher [1863] 1977: 87) Nachdem Schleicher die Geschichtswissenschaften - und damit auch die Philologie - polemisch ins Reich des Subjektiven geschickt hat, vollzieht er endgültig den Wandel von einem historischen Gesetzesbegriff hin zu einem mechanisch wirkenden Naturgesetz: 30 Nur die genaue Beobachtung der Organismen und ihrer Lebensgesetze, nur die völlige Hingabe an das wissenschaftliche Object soll die Grundlage auch unserer Disciplin bilden; […]. (Schleicher 1977 [1863]: 87) Mit diesem „Abschied“ von der romantisch-idealistischen Sprachauffassung, vom Geistigen in der Sprache und vor allem vom Menschen trennte Schleicher nun auch endgültig die Disziplinen Philologie und Sprachwissenschaft voneinander, er nahm sogar die Sprachphilosophie aus dem Gegenstandsbereich der Sprachforschung heraus. Ließen sich bei Bopp und auch bei Grimm lediglich Tendenzen in Richtung einer solchen Trennung aufgrund der verschiedenen Zielsetzung der beiden Disziplinen erkennen, so ging Schleicher diesen Weg zu Ende. Sprachwissenschaft war zu einer Naturwissenschaft geworden, mit einer Wissenschaft vom Menschen hatte sie nichts mehr zu tun. 31 30 Damit schafft Schleicher die notwendige Zäsur, so dass die Junggrammatiker in Folge Sprache tatsächlich als mechanisches Konstrukt beschreiben konnten, das für den Beobachter aufgrund der Regelmäßigkeit wie auch der Ausnahmslosigkeit der Gesetze nahezu durchsichtig und messbar wird. 31 Schleicher selbst sah sich in der Tradition Bopps, auf den er sich in der Sprachengeschichte explizit beruft, um sein Vorhaben, die Sprachwissenschaft in den Rang einer Naturwissenschaft zu heben, zu legitimieren: „Der systematische Theil der Sprachforschung im Gegensatze zum historischen hat — irre ich nicht, so sagt diess Bopp irgendwo — eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den Naturwissenschaften. Diess Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 143 Nur da, wo eine Litteratur vorliegt, findet die Philologie Stoff; die Sprache ist ihr das Organon, dessen sie sich bedient um das geistige Leben des betreffenden Volkes zu erfassen; dem Linguisten hingegen kann die Sprache eines Volkes von dem höchsten Interesse sein, das von der Schreibkunst keine Ahnung hat […]. Der Philolog hat es mit der Geschichte zu thun, die eben da anhebt, wo der freie menschliche Wille sich Dasein giebt, das Object der Linguistik dagegen ist die Sprache, deren Beschaffenheit eben so sehr ausserhalb der Willensbestimmung des Einzelnen liegt, als es z.B. der Nachtigall unmöglich ist ihr Lied mit der Lerche zu vertauschen. Das aber, woran der freie Wille des Menschen so wenig in organischer Weise etwas zu verändern mag, als an seiner leiblichen Beschaffenheit, gehört nicht in das Gebiet des freien Geistes, sondern in jenes der Natur. (Schleicher 1850: 2) Diese Aussage verdeutlicht, worum es Schleicher geht: Sprache wird allein von den Gesetzen der Natur bestimmt, sie unterliegt keinen weiteren Einflüssen. Daher ist es auch möglich über ihre Entwicklung durch Anwendung einer naturwissenschaftlichen Methode, die Darwin als Schlussfolgerung durch Beobachtung, also Induktion, bestimmt, sichere Aussagen zu treffen. Dies ist für die Philologie als historische Wissenschaft nicht möglich: Die Ergebnisse der Linguistik sind daher im Allgemeinen sicherer, als die der historischen Wissenschaften, weil ihr der subjective Willkühr nicht so erschwerend in den Weg tritt als jener. (Schleicher 1850: 3) Dementsprechend nimmt Schleicher auch eine Aufgabenverteilung vor: Sprachwissenschaft, bei Schleicher Glottik, kümmert sich ausschließlich um die „Form“, um die materielle Seite der Sprache, die sich vor allem über die Lautebene untersuchen lässt. Philologie hingegen kann nur das analysieren, wo Sprache denn doch als menschliche Tätigkeit auftritt, die Syntax erhält zwar noch eine Zwischenstellung, Bedeutung, Stil 32 und Textwissenschaft fallen aber ganz in den Objektbereich der Philologie: Das nämlich in der Sprache, was aus dem natürlichen Wesen des Menschen seinen Ursprung nimmt und dem Einflusse des Willens völlig entzogen ist, ist die Formenlehre, sie fällt ganz der Linguistik anheim; die schon mehr vom Denken und Wollen des Einzelnen abhängige Syntax neigt mehr auf stellt sich namentlich bei der Eintheilung der Sprachen in Klassen heraus.“ (Schleicher 1848: 27/ 28) 32 Stil wird bei Schleicher verstanden als individualistische Ausprägung des menschlichen Geistes - damit kann er nur in das Forschungsgebiet der Philologie fallen, hat diese es doch mit dem „Besonderen“ zu tun. Die Vorstellung, im Stil entäußere sich das „Besondere“ (Geist, Ästhetik, Intellekt, Geschichtlichkeit) ist im 19. Jahrhundert prägend für den Stilbegriff. Natur oder Geist? 144 die Seite der Philologie. Letzterer gehört ganz an der Stil […]. (Schleicher 1850: 3/ 4) Schleichers Konzeption der Sprache als etwas vom Menschen losgelöstes, der kulturellen und soziohistorischen Dynamik gänzlich Entzogenes birgt hier einen Widerspruch in sich. 33 Unweigerlich stellt sich die Frage, wie die Syntax, der Satzbau, nicht als Tätigkeit des Menschen, als energeia im Humboldtschen Sinn verstanden werden kann. Die scharfe Trennung zwischen naturwissenschaftlicher Glottik als den Teil der Sprachforschung, der Sprache an sich als etwas dem menschlichen Willen Entzogenes erforscht und geschichtswissenschaftlicher Philologie, die Sprachforschung betreibt, um die Spuren der menschlichen Geistestätigkeit aufzuspüren, funktioniert nicht für diesen Bereich. Schleicher rückt daher die Formenlehre ganz in den Fokus seiner Sprachkonzeption, um diesen Widerspruch zu überdecken, was nicht ohne Folgen für die Syntaxforschung des 19. Jahrhunderts blieb. 34 In der schwierigen Zuordnung der Syntax liegt das Problem der Abgrenzung zwischen den beiden Disziplinen verborgen. Schleicher hätte sich hier die Möglichkeit geboten, ein Verbindungsglied zwischen beiden zu definieren und die gegenseitige Bedingtheit zwischen Geist und Natur in Form von Sprachwissenschaft und Philologie darzustellen. Die Unmöglichkeit, die Syntax als klar zu einem der beiden Kulturen zugehörigen Forschungsgegenstand zu definieren, spiegelt, dass sich Sprache und damit auch die Sprachwissenschaft als komplexe, pluridimensionale wissenschaftliche Disziplin einer eindeutigen Klassifizierung entziehen und Sprachwissenschaft so als eine nach beiden Seiten geöffnete Disziplin gedacht werden muss. 35 33 Schleichers Auffassung der Syntax als Ausdruck der menschlichen Geisteskraft verweist hier voraus auf die psychologische Sprachforschung bei Heymann Steinthal, der sich entschieden gegen diese Auffassung wandte und Syntax ähnlich wie die Laut- und Formenlehre als durchaus dem menschlichen Willen entzogenes Element der Sprachforschung definierte. 34 Graffi macht die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft mit ihrer Konzentration auf die formale Seite der Sprache, die sich über Gesetzmäßigkeiten erklären zu lassen schien, verantwortlich für den Mangel an Interesse an syntaktischen Studien. Einen Höhepunkt dieser Entwicklung sieht er mit der diffusen Definition der Syntax bei Schleicher erreicht. Erst mit der psychologischen Konzeption der Sprachwissenschaft bei Steinthal werde dieser Bereich der Sprachforschung wieder aufgewertet: „Schleicher’s work, therefore, marks the point of least interest in syntax in the 19th century linguistics. This lack of interest was plainly connected to his conception of language as a ‚natural organism‘, ‚external to man‘. This view of language was harshly contested by Heymann Steinthal, who strongly maintained a psychologistic view: this had as one of its consequences a renewal of attention in syntax.” (Graffi 2001: 21- 31; hier 31) 35 Zur Schwierigkeit der Klassifizierung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft in Bezug auf die Sprachwissenschaft vgl. auch Oesterreicher 1979; v.a. 37-46. Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 145 Schleicher stellt 1850 Philologie und Naturwissenschaft als zwei grundverschiedene Disziplinen gegenüber. Die eine nimmt Sprache als historischen Gegenstand wahr, ihr Sprachbegriff ist an den Menschen und die Prämisse, in die Sprachentwicklung fließe die Tätigkeit des menschlichen Geistes ein, gebunden, ihre Methode führt in Schleichers Augen aufgrund der Integration der Intuition zu unsicheren Ergebnissen. Die andere koppelt den Sprachbegriff vom Menschen ab, macht Sprache zu einem autonomen Organismus und ordnet Sprachwissenschaft den Naturwissenschaften zu. Philologie und Sprachwissenschaft haben sich sowohl in der Methodik, in der Zielsetzung als auch in der Vorstellung ihres Gegenstands voneinander entfernt. Es zeigt sich bei Schleichers Gegenüberstellung der naturwissenschaftlichen und der philologischen Erforschung von ‚Sprache‘ deutlich, dass beide Disziplinen längst einen ihrer Zielsetzung entsprechenden Sprachbegriff verwenden. Schleichers Anliegen ist es, über seinen Organismus-Sprachbegriff die Sprache als Entität beschreibbar zu machen, daher reduziert er den Sprachbegriff auf ein neutrales Objekt, das synchrone Einblicke in seinen Ist-Zustand erlaubt. 36 Schleichers sprachwissenschaftliche Theorie fasst Sprache als einen rein materiellen Gegenstand, mit seiner Theorie möchte er sich in eine monistische Philosophie eingeschrieben wissen, die nach seiner Meinung die Neuzeit prägen wird (Messling 2009 [im Manuskript]). Schleicher hat erkannt, dass der Gang der wissenschaftlichen Thätigkeit ein anderer geworden ist, als er früher war. Während man einst zuerst das System fertig machte und dann das Object darauf hin bearbeitete es ins System zu bringen, verfährt man jetzt umgekehrt. Vor allem versenkt man sich in das genaueste Einzelstudium des Objectes, ohne an einen systematischen Aufbau des Ganzen zu denken. Man erträgt mit grösster Gemütsruhe den Mangel eines dem Stande unserer scharfen und genauen Einzelforschung entsprechenden philosophischen Systems in der Überzeugung, daß vor der Hand ein solches noch nicht geschaffen werden könne, vielmehr mit dem Versuche der Herstellung desselben gewartet werden müsse, bis dermaleinst eine genügende Fülle zuverlässiger Beobachtungen und sicherer Erkenntnisse aus allen Sphären des menschlichen Wissens vorliegt. (Schleicher 1977 [1863]: 89) Schleicher legt seiner Forschungsarbeit einen Wissenschaftsbegriff zugrunde, der mit der Vorstellung eines systematischen Ganzen, das von einem inneren Zusammenhang gehalten wird, nichts mehr gemein hat. Er ist längst bei einem dynamischen Wissenschaftsbegriff angekommen, der ein Handlungsregulativ anbietet und vom Fortschrittsdenken der Naturwissenschaften geprägt ist. Dies zeigt sich auch deutlich in Schleichers Vorstellung, ein philosophisches System - hier verwendet er überraschenderweise 36 Zu Schleichers Beitrag zur synchronen Sprachbeschreibung sowie zur Slavistik und Indogermanistik vgl. Beneš 1958. Natur oder Geist? 146 noch den alten Systembegriff - könne aufgrund von Induktion erstellt werden. Seine monistische Sichtweise, die die Materie in den Geist integriert, steht im Gegensatz zum Dualismus Denken eines Kant oder Fichte. Schleicher folgt hier ganz dem philosophischen Denken Hegels, der das Kantsche und Fichtesche System kritisierte und durch seine Dialektik aufzulösen versuchte. Damit entfernt sich Schleicher endgültig von Humboldts Dualismus zwischen Stoff und Form (Messling 2009 [im Manuskript]). Hatte zwischen diesen beiden bei Humboldt noch eine gegenseitige Beeinflussung bestanden, so kappt Schleicher diese Brücke und kann so den Stoff, also die Sprache als Material für sich, rein deskriptiv und empirisch analysieren. 37 Auf diese Weise überführt Schleicher den Humboldtschen Sprachbegriff in einen reinen Materialismus. 38 Ohne die Vorstellung einer inneren Form, in der sich der Geist einer Nation erkennen ließ, war Sprache bei Schleicher tatsächlich zu einem Naturorganismus geworden, der sich analog zu anderen Naturorganismen, die, ohne vom Willen des Menschen bestimmbar zu sein, entstunden, nach bestimmten Gesetzen wuchsen und sich entwickelten und wiederum altern und sterben; auch ihnen ist eine Reihe von Erscheinungen eigen, die man unter dem Namen „Leben“ zu verstehen pflegt. (Schleicher [1863] 1977: 88) entwickelt. Die Philologie als historische Disziplin trennt Schleicher kategorisch von der Glottik ab (Schleicher [1863] 1977: 88, Fußnote 3). 37 Wie weit sich Schleicher mit seinem Organismusbegriff vom Denken Humboldts entfernt hat, zeigt ein Auszug aus einem Brief Humboldts an Karl Ferdinand Becker, in dem Humboldt sich dezidiert gegen einen naturalistisch-biologischen Organismusbegriff ausspricht: „[…] daß ich die Sprache nicht in eben dem Sinne und auf eben die Weise aus dem menschlichen Organismus herleite, ja daß es mir selbst bedenklich scheint, dies zu tun. Der Anstoß, den ich dabei finde, ist ein doppelter. Das Erste und Hauptsächliche in der Sprache bleibt immer das Geistige, wenn ich auch […] gewiß die Wichtigkeit des Materiellen […] nicht verkenne. Darin liegt ein Unterschied zwischen der Sprache und allem andern, was sonst die Physiologie umfaßt, daß die Sprache in eine andere Gattung hinübergezogen wird. Jenes Geistige wird auch nicht […] durch das Logische erschöpft. Die Einbildungskraft, theils symbolisirend, theils sonst bildend, ist vorzüglich in der Sprache beschäftigt. Daher herrscht in der Sprache die Freiheit […] auf eine andere Weise als in irgend einem Theile des übrigen Organismus. Da auch jede Generation ihre Sprache an eine frühere […] anbaut, so kommt dadurch ein wahres Äußeres, wirklich außerdem eigenen Organismus Liegendes hinzu. Überhaupt […] ist die Sprache […] ein Werk des ganzen Menschengeschlechtes. Sie ist auch im Organismus dieses Ganzen gegründet[…]. Gesellschaft ist die nothwendige Bedingung der sonst sich nicht bildenden Sprache[…]. Ich verkenne nun nicht, daß der Organismus des Einzelnen darum immer in der Sprachentstehung das wichtigste der bedingenden Elemente bleibt, aber […] man muß den Begriff viel weiter aufnehmen, als ihn die Physiologie allein zu geben vermag.“ (Brief Humboldts an Karl Ferdinand Becker vom 20. Mai 1827; zitiert nach Jäger 1975: 114, FN 811) 38 Genauso verfährt Schleicher mit den Hegelschen Axiomen der Geschichtsphilosophie in Bezug auf das Wachstum der Sprachen (vgl. hierzu Beneš 1958: 92-94). Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft 147 Trotzdem Schleicher für seine Forschungen die historisch-vergleichende Methode und den Sprachbegriff „von allen aprioristischen Fesseln und Werturteilen [befreite]“ (Beneš 1958: 121), war er sich der Tatsache stets bewusst, dass es noch andere Arten der Sprachforschung gab: Von der Sprachwissenschaft oder Glottik […] zu scheiden ist vor allem die S p r a c h p h i l o s o p h i e , die Lehre von der Idee der Sprache, eben so wie von den Naturwissenschaften die Naturphilosophie. Die Sprachwissenschaft hat es unmittelbar mit der Sprache selbst zu thun; das Object der Sprachwissenschaft ist also ein concretes, reelles, nämlich die bestimmten, gegebenen Sprachen, das der Sprachphilosophie ein abstractes, ideelles. […] Die P h i l o l o g i e ist eine historische Disciplin. Ihre Aufabe ist die Erfassung des geistigen Lebens bedeutender Völker oder Völkergruppen und die Darstellung desselben, die Vermittlung desselben an uns. Nur wo ein geistiges Völkerleben, eine Geschichte, vor allem wo eine Litteratur vorliegt, da kann die Philologie ihre Thätigkeit entfalten. […] Die Sprachwissenschaft dagegen ist keine historische, sondern eine naturhistorische Disciplin. Ihr Object ist nicht das geistige Völkerleben […], sondern die Sprache allein; nicht die freie Geistesthätigkeit […], d.h. das Object der Glottik ist ein Naturorganismus. (Schleicher 1860: 118/ 119; Sperrung wie im Original) Schleicher vollzieht den Bruch zwischen Sprachwissenschaft und Philologie und macht ihre Verschiedenheit offenkundig. Schleicher ist in dieser Filiation Bopp und Grimm zuzuordnen. Vor allem in Analogie zu Grimm, wie später auch beispielsweise Georg Curtius oder Karl Mager, thematisiert er den Brückenschlag zwischen den beiden „arten des Sprachstudiums“. Schleicher zeichnet die Trennung zwischen den beiden radikaler, zwar bedürfen beide Disziplinen einander, sind aber doch klar voneinander zu scheiden: Beide Disziplinen stehen sich also keineswegs feindlich gegenüber, wie so manche Philologen zu glauben scheinen, weil sie sich über das Wesen der Glottik nicht hinreichend unterrichtet haben; vielmehr bedarf jede von beiden der hilfreichen Hand der anderen. (Schleicher 1860: 120) Was Schleicher allerdings ausschließt, und hier entfernt er sich von Grimm, Mager und Curtius, das ist die Möglichkeit, dass ein Sprachforscher beide Arten der Forschung in sich vereinen könne. 39 Beiden Disziplinen der Sprachforschung entspricht auch jeweils ein eigenes Forscherprofil: Zunächst recht polemisch ordnet Schleicher dem Philologen 1850 das Bild des Landmannes zu, der Sprachwissenschaftler entspricht dem etwas schmei- 39 „[…] in beiden Disciplinen aber productiv zu sein, dürfte das Mass menschlicher Kraft schon deshalb überschreiten, weil beide Wissenschaften ganz verschiedene Methoden, ja völlig divergirende Geistesrichtungen voraussetzen.“ (Schleicher 1860: 4) Natur oder Geist? 148 chelhafteren Zoologen. 40 In diesem Bildvergleich wird erneut die Zuordnung der Sprachwissenschaft oder Glottik zur Naturwissenschaft deutlich: Der Philolog gleicht dem Landmanne, der mit ein paar Rossen ein fruchtbares und reiches Feld bestellt; ihm genügt, wenn er practisch mit seinen Rossen gut umzugehen weiss […]. Der Linguist dagegen gleicht dem Zoologen, der einer ganz andern Kenntnis der Species equus caballus bedarf, als der Landmann. (Schleicher 1850: 5) Dieser Vergleich 41 scheint die Philologie klar als Handwerk auszuweisen und nicht unbedingt als wissenschaftliche Disziplin wie es im Gegensatz dazu der Vergleich der Sprachwissenschaft mit der Zoologie nahelegt. 42 Ein praktisches Beherrschen seines Handwerks zeichnet den Philologen aus und stempelt die philologische Wissenschaft zur reinen techné - ein Handwerk eben, keine wissenschaftliche Methode. Hier zeigt sich der alte Vorwurf gegenüber der Philologie, wie er bereits bei Goethe und Hegel zu finden war und gegen den sich bereits Wolf und Boeckh zu wehren hatten. Schleicher benutzt diese Erinnerung an die „alte“ Philologie, um die neue und fortschrittlichere, da naturwissenschaftliche, Disziplin der Sprachwissenschaft zu legitimieren. Im Gegensatz zur Philologie denkt die Sprachwissenschaft bereits in neuen wissenschaftlichen Kategorien. Intuition, Dualismus, ganzheitliches System, Geistestätigkeit, Wahrheit, Bildung und Erziehung des Menschengeschlechts - all dies ist ihr fremd. Sie hat sich in 40 Das von Schleicher verwendete Bild dürfte eine Anspielung auf den zu seiner Zeit populären Vergleich zwischen Philologen und Linguisten von Karl Mager enthalten. Mager vergleicht Philologen und Linguist mit Blumist und Botaniker, in seinem Vergleich kommt der Philologe allerdings etwas besser weg: sein Arbeiten ist nicht weniger wissenschaftlich, allein die Selektion seines Gegenstandes macht den Unterschied aus. Vgl. dazu das Kapitel 5.2.1.1. Wie populär dieser Vergleich gewesen sein muss, zeigt, dass das Magersche Bild sowohl von Keller als auch von Elze namentlich zitiert wird. 41 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Grimm in seiner Grammatik den Sprachwissenschaftler als denjenigen beschreibt, der den Acker bestellt - die handwerkliche Tätigkeit trifft bei Grimm auch auf den historisch-vergleichenden Sprachforscher zu. 42 Ein wenig freundlicher wird der Vergleich in Schleichers Deutscher Sprache 1860: „Der Glottiker ist Naturforscher, er verhält sich zu den Sprachen wie z.B. der Botaniker zu den Pflanzen. […] Der Philolog aber gleicht dem Gärtner. Dieser cultivirt nur bestimmte Pflanzen von hervorragender Bedeutung für den Menschen, für ihn ist der praktische Wert, die Schönheit der Form, der Färbung, des Duftes u.s.f. von höchster Bedeutung.“ (Schleicher 1860: 120) Auffallend ist jedoch beide Male, dass der Berufsstand des Philologen stets mit einem Berufsstand verglichen wird, der weder höhere Bildung noch ein Studium voraussetzt. Auch in diesem Bereich schneidet der Philologe deutlich schlechter ab als der Sprachwissenschaftler. Ebenfalls gleichbleibend ist in Schleichers Vergleichen allerdings die Präsupposition, Philologie sei mehr ein Handwerk denn Wissenschaft… Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? 149 der Schleicherschen Fassung tatsächlich von allen philosophischphilologischen Momenten befreit. Dennoch lässt sich auch von August Schleicher kein einseitiges Bild zeichnen. Zwar ist es richtig, dass er der sprachwissenschaftlichen Forschung als naturgeschichtlicher Forschung Priorität einräumt und durch die von ihm gewählten Metaphern und Vergleiche die Sprachwissenschaft als „wissenschaftlichere“ Disziplin gegenüber der subjektiven und methodisch handwerklicheren Philologie etabliert. Aber trotzdem war sich Schleicher stets bewusst, dass der philologischen Forschung ein Mehrwert innezuwohnen schien, den er bei seiner empirisch-positivistischen Sprachauffassung vermisste. So schreibt Schleicher im Vorwort der Deutschen Sprache: Ist es aber, daß mein Buch bei dem Leserkreise, für welchen es bestimmt ist, dem Gefühle der Werthschätzung und Heilighaltung unserer Muttersprache dadurch größere Berechtigung verleihen kann, daß es der deutschen Sprache Wesen erkennen und genießen lehrt, ist die vorliegende Schrift so gethan, daß sie zur Klärung des deutschen Volkksbewustseins und zur Kräftigung des deutschen Nationalgefühles ein wenn auch geringes Scherflein beiträgt, so wird durch sie ein Zweck erreicht, der unvergleichlich hoch über dem der wissenschaftlichen Belehrung steht. (Schleicher 1860: V/ VI) 4.3 Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? Blicke von außen und Innensichten… Was bei Franz Bopp bereits angelegt war, manifestiert sich endgültig in den programmatischen Schriften August Schleichers. Die historischvergleichende Sprachwissenschaft und die Philologie stehen als zwei sich letztlich fremde Disziplinen nebeneinander. Offenkundig geworden war die Tatsache, dass die vielbeschworene Einheit der Philologie nicht mehr existierte. Die Reduzierung des Forschungsgegenstands auf morphologische und lautliche Phänomene, die streng empirische Methode und das Forschungsziel der Sprachwissenschaft, die Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, nach denen sich Sprache entwickelt, hatten die Linguistik von der Philologie entfernt. Christmann stellt in diesem Zusammenhang die berechtigte Frage, warum gerade die Naturwissenschaft zum Vorbild für die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft geworden sei (Christmann 1993: 24). Christmanns Antwort begründet sich auf der Tatsache, dass auch die Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert historisch geworden sei und sich die naturwissenschaftliche Forschung von der „alten Naturgeschichte“ zu einer historischen Betrachtung der Natur gewandelt habe (Christmann 1993: 24). Dies ist sicherlich ein wichtiger Faktor, zusätzlich zum gewachsenen Prestige der Naturwissenschaften. Doch noch ein weiterer Faktor Natur oder Geist? 150 sollte nicht außer Acht gelassen werden. Es wurde bereits gesagt, dass die Philosophie in Deutschland nach 1830 in eine tiefe Krise geriet und vor allem die philosophische Anschauung des romantischen Idealismus mit Skepsis betrachtet wurde. 43 Spekulation und Intuition wurden zu negativ konnotierten Größen, die aus einer objektiven wissenschaftlichen Forschung heraus zu halten waren. Beobachtung und Schlussfolgerung aufgrund von Induktion waren an ihre Stelle getreten. Mit der Entdeckung der Lautgesetze und der Betonung der Erforschung der materiellen Seite der Sprache bot sich der Sprachwissenschaft eine Möglichkeit, sich in diese neue Wissenschaftsauffassung einzugliedern. Die Erforschung des Allgemeinen vor dem Besonderen, die Kontrollier- und Messbarkeit des durch Beobachtung gewonnenen aposteriorischen Wissens erlauben es der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft sich als objektive Wissenschaft gegenüber der als subjektiv konnotierten Philologie zu emanzipieren. Aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Methode konnte sie zu den empirischpositivistischen Wissenschaften, wie beispielsweise Anatomie, Zoologie oder Botanik gezählt werden. Es war die Genauigkeit dieser Methode, die den Naturwissenschaften zu ihrem Aufstieg verhalf und die Ablösung der spekulativen Philosophie als ideale Wissenschaft zur Folge hatte. Eine weitere Konsequenz dieses Prozesses war die bis heute gültige, wenn auch nicht unumstrittene, Differenzierung der Disziplinen in Natur- und Geisteswissenschaften. 44 Hermann Helmholtz (1821-1894 ) schildert diese Ent- 43 Vgl. zur Reduktion des romantischen Sprachforschungsprogramms z.B. Schmitter 1993. 44 Hermann Helmholtz hält diese Differenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen für notwendig, da beide sich gegenseitig bedingen und über diese Ergänzung eine fruchtbare Forschung möglich wird: „So haben in dieser Beziehung die Wissenschaften einen gemeinsamen Zweck, den Geist herrschend zu machen über die Welt. Während die Geisteswissenschaften direct daran arbeiten, den Inhalt des geistigen Lebens reicher und interessanter zu machen, das Reine vom Unreinen zu sondern, so streben die Naturwissenschaften indirect nach demselben Ziele, indem sie den Menschen von den auf ihn eindrängenden Nothwendigkeiten der Aussenwelt mehr und mehr zu befreien suchen. Jeder einzelne Forscher arbeitet in seinem Theile, er wählt sich diejenigen Aufgaben, denen er vermöge seiner geistigen Anlage und seiner Bildung am meisten gewachsen ist. Jeder einzelne muss aber wissen, dass er nur im Zusammenhange mit den andern das grosse Werk weiter zu fördern im Stande ist, und dass er desshalb auch verpflichtet ist, die Ergebnisse seiner Arbeit den übrigen möglichst vollständig zugänglich zu machen. Dabei wird er Unterstützung finden bei den Andern und wird ihnen wieder seine Unterstützung leihen können.” (Helmholtz 1862: 27) Für Helmholtz ist die Welt unterteilbar in einen Objektbereich Natur und einen Objektbereich Geist. Wilhelm Windelband dagegen hält diese Unterscheidung Anfang des 20. Jahrhunderts für wenig glücklich: „Für die Einteilung dieser auf die Erkenntnis des Wirklichen gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Scheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich.“ (Windelband 1904: 9) In ähnlicher Weise äußert sich auch Wilhelm Dilthey über diese Differenzierung: „Ich schließe mich an den Sprachgebrauch Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? 151 wicklung in einer seiner Universitätsreden und macht dabei vor allem die Philosophie Hegels für diese Differenzierung verantwortlich. Die Identitätsphilosophie war kühner. Sie ging von der Hypothese aus, dass auch die wirkliche Welt, die Natur und das Menschenleben das Resultat des Denkens eines schöpferischen Geistes sei, welcher Geist seinem Wesen nach als dem menschlichen gleichartig betrachtet wurde. Sonach schien der menschliche Geist es unternehmen zu können, auch ohne durch äussere Erfahrungen dabei geleitet zu sein, die Gedanken des Schöpfers nachzudenken und durch eigene innere Thätigkeit dieselben wiederzufinden. In diesem Sinne ging nun die Identitätsphilosophie darauf aus, die wesentlichen Resultate der übrigen Wissenschaften a priori zu construiren. Es mochte dieses Geschäft mehr oder weniger gut gelingen in Bezug auf Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst, Geschichte, kurz in allen den Wissenschaften, deren Gegenstand sich wesentlich aus psychologischer Grundlage entwickelt, und die daher unter dem Namen G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n passend zusammengefasst werden. Staat, Kirche, Kunst, Sprache sind dazu da, um gewisse geistige Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. (Helmholtz 1862: 7, Sperrung wie im Original) Die Wissenschaften aber, deren Forschungsgegenstand sich nicht an den menschlichen Geist binden lässt, wollten der Hegelschen Naturphilosophie nicht folgen, da ihnen die philosophische Methode zu unsicher und ungenau schien. Es kam zu einer erbitterten Polemik zwischen beiden Polen, die Helmholtz treffend beschreibt: Die Naturforscher wurden von den Philosophen der Borniertheit geziehen, die letzteren von den ersteren der Sinnlosigkeit. Die Naturforscher fingen nun an ein gewisses Gewicht darauf zu legen, dass ihre Arbeiten ganz frei von allen philosophischen Einflüssen gehalten seien, und es kam bald dahin, dass viele von ihnen, und zwar selbst Männer von hervorragender Bedeutung, alle Philosophie nicht nur als unnütz, sondern selbst als schädliche Träumerei verdammten. (Helmholtz 1862: 8) Die Entdeckung der Lautgesetze, die Übernahme einer naturwissenschaftlichen Forschungsmethode und die damit verbundene Vorstellung der Messbarkeit von Sprache fielen damit in eine Zeit, in der die Forderung nach neuen „sichereren“ Methoden und nach einer Abkehr von apriorisch gewonnenen Erkenntnissen und Urteilen virulent war. Diese Diskussion wurde Anfang der 1860er Jahre bereits in abgeschwächter Form geführt, man glaubte die Lösung in einer Unterscheidung der Disziplinen und in den von ihnen verwendeten Methoden gefunden zu haben. Auch in die- derjenigen Denker an, welche diese andere Hälfte des globus intellectualis als Geisteswissenschaft bezeichnen. […] Alsdann erscheint sie, verglichen mit all den anderen unangemessenen Bezeichnungen, zwischen denen die Wahl ist, als die mindest unangemessen.“(Dilthey [1883] 1922: 5) Natur oder Geist? 152 sem Textausschnitt wird das Wirken der strukturierenden Diskurse besonders gut deutlich. Helmholtz ordnet über das Evozieren bestimmter Konzepte der konnektiven Struktur der Kommunikationsgemeinschaft, in der er agiert, den Disziplinen Eigenschaften zu, die sie voneinander abgrenzen. Konstruiert werden dabei die diskursstrukturierenden Wissensrahmen, die sodann über bestimmte Schlagworte in der Kognition der Zeitgenossen wirksam werden. So finden sich auf der Seite der Naturwissenschaft die bekannten Schlagworte: Ueberblicken wir nun die Reihe der Wissenschaften mit Beziehung auf die Art, wie sie ihre Resultate zu ziehen haben, so tritt uns ein durchgehender Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften entgegen. Die Naturwissenschaften sind meist im Stande, ihre Inductionen bis zu scharf ausgesprochenen allgemeinen Regeln und Gesetzen durchzuführen […]. (Helmholtz 1862: 16) Naturwissenschaften zeichnen sich durch Methodenstrenge, der Herleitung allgemeiner Gesetze über das Verfahren der Induktion aus - ihre Ergebnisse können „scharf“ formuliert werden, das heißt sie sind in ihrer Gültigkeit mess- und kontrollierbar. Die andere Art der Wissenschaften, die Geisteswissenschaften dagegen haben es überwiegend mit Urtheilen nach psychologischem Tactgefühl zu thun. (Helmholtz 1862: 16) Evoziert wird der Diskurs um das Begriffsfeld des ,Hineinfühlens‘, mit den Geisteswissenschaften wird eine emotionale Ebene verbunden. Helmholtz erklärt dies: Die philologischen Wissenschaften, insofern sie sich mit Erklärung und Verbesserung der uns überlieferten Texte, mit Litteratur- und Kunstgeschichte beschäftigen, müssen den Sinn, den der Schriftsteller auszudrücken, die Nebenbeziehungen, welche er durch seine Worte anzudeuten beabsichtigte, herauszufühlen suchen; sie müssen zu dem Ende von einer richtigen Anschauung sowohl der Individualität des Schriftstellers als des Genius der Sprache, in der er schrieb, auszugehen wissen. Alles dies sind Fälle künstlerischer, nicht eigentlich logischer Induktion. (Helmholtz 1862: 16) Es sind die bereits bekannten Diskursstränge, die durch die von Helmholtz aufgegriffenen Argumentationen in den Wissensrahmen um das Konzept, ,Geistesversus Naturwissenschaften‘ wirken: Das Hineinfühlen, die Methode, die in Nähe der Kunst anzusiedeln ist, die Suche nach Sinn im hermeneutischen Deuten der Quellen - dies sind die Klassifikatoren, die die Symbolwelt und die Konnotationen auf der konnektiven Struktur hinsichtlich der Wissenschaft ,Philologie’ durch die an ihnen festzumachenden Diskurse regeln und strukturieren. Bei Helmholtz scheinen diese bereits in einer Weise konsolidiert zu sein, die eine Spaltung der wissenschaftlichen Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? 153 Welt in Geistes- und Naturwissenschaften rechtfertigt - in dieser Form werden sie bis weit ins 20. Jahrhundert weiterhin wirksam werden, wenn auch in modifizierter Weise. 45 Im Zentrum des Textausschnitts steht als Scheidekriterium die wissenschaftliche Methode. So ist der Unterschied, nach Helmholtz, nicht ausschließlich am Gegenstand, sondern vor allem an der Methode festzumachen. Der philologischen Methode wird, wie bereits erwähnt, erneut der Kunstbegriff zugeordnet, strenge Gesetze aufzudecken, ist nicht ihr Forschungsziel. Der Gesetzesbegriff spielt in der Sprachforschung auch bei Helmholtz allein eine Rolle in der Grammatik, die denn auch mit der Methode der logischen Induktion arbeitet. Sprachforschung ist also auch in der Außenwahrnehmung eine in sich gespaltene Disziplin: philologische Textwissenschaft einerseits, in die sie sich philosophische Methodenansätze, die die Dinge durch „instinctive Anschauung“ erfassen und naturwissenschaftlich forschende Grammatik andererseits, die positive Gesetze erstellen kann - dies kann über künstlerische Induktion nicht erreicht werden (Helmholtz 1862: 15/ 16). Das Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften lässt sich demzufolge spiegeln in der Gegenüberstellung zwischen Sprachwissenschaft und Philologie. Das Bild der zwei Kulturen in der wissenschaftlichen Forschung 46 lässt sich so in die Sprachforschung übertragen, allerdings noch ohne die gegenseitige Ignoranz zwischen beiden, die Jürgen Mittelstraß scharf kritisiert (Mittelstraß 1989: 10). 47 In den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zeigt die Diskussion über die Stellung der Sprachwissenschaft letztlich, dass die Unterscheidung zwar als Klassifizierungskriterium herangezogen werden kann, aber nicht als endgültig anzusehen ist. So liest sich Helmholtz Rede auch als Aufruf zur Interdisziplinarität und Plädoyer für die Bildung breiter Netzwerke, um einen möglichst großen gesellschaftlichen Nutzen aus der Forschung ziehen 45 Vgl. hierzu beispielsweise die Aufarbeitung der Auseinandersetzung zwischen Geistes und Naturwissenschaften bei Scheibe 1988; Mittelstraß 1989 oder Oexle 1998, die genau diese Argumentationsstränge diskursiv verarbeiten. 46 Das Bild der zwei Kulturen geht zurück auf Percy Snow (Snow 1959). Bereits Christmann 1993: 30 überträgt dieses Bild auf die Sprachwissenschaft. Eine parallele Debatte um den Streit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften findet zeitlich etwas später (1880er/ 1890er) in Frankreich zwischen Louis Pasteur, Joseph Bertrand und Ernest Renan, teilweise auch Gaston Paris statt (vgl. Bähler 2004: 246-254 zur Rolle Gaston Paris, allgemein vgl. Bähler i.Dr.). 47 Mittelstraß fordert von den Geisteswissenschaften mehr gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, es reiche nicht aus, nur Sensibilisierungs-, Bewahrungs- und Orientierungsgeschichten erzählen zu können, die Geisteswissenschaften müssten auch wieder selbst deuten, konstruieren, argumentieren. Ihre eigentliche Kraft liege im Nach- und im Vorausdenken (Mittelstraß 1989: 13-15). Diese Forderung verweist auf das universalphilologische Projekt August Boeckhs, der mit der Weiterentwicklung des Wolfschen Modells und seiner neukonzipierten Hermeneutik genau diesen Beitrag zur Gesellschaftserziehung leisten wollte. Natur oder Geist? 154 zu können. Die Pluridimensionalität der Sprachforschung erlaubt zwar vielleicht keine eindeutige Zuordnung, ermöglicht aber dafür die grundsätzliche Offenheit der Disziplin sowohl in naturwissenschaftlicher als auch in geisteswissenschaftlicher Perspektive. Helmholtz Rede lässt allerdings ebenso erkennen, dass die Radikalität, mit der August Schleicher die Linguistik zu den Naturwissenschaften zählte, nur von kurzer Dauer war. Obgleich eine naturwissenschaftliche Orientierung der sprachwissenschaftlichen Forschung nicht von der Hand zu weisen ist, entschied man sich bald, die Sprachwissenschaft wieder als geisteswissenschaftliche Disziplin zu kategorisieren, nicht ohne jedoch hervorzuheben, dass sie eine Schwellendisziplin sei: An diesem Punkte kann eingesehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieser beiden Klassen von Wissenschaften voneinander ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den beiden Übergangsstellen, welche von dem Studium der Natur zu dem Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt, und an den andern Punkten, an welchen derselbe von dem Geistigen Einwirkung empfängt […] vermischen sich überall Erkenntnisse beider Klassen. Die Erkenntnisse der Naturwissenschaften vermischen sich mit denen der Geisteswissenschaften. (Dilthey [1883] 1922: 18) Dies ist eine Kategorisierung der Sprachwissenschaft als eine Wissenschaft des Übergangs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie sich im 19. Jahrhundert, gerade in Abgrenzung zur Philologie, des Öfteren findet. Da Sprache an den menschlichen Geist gebunden ist, gehört sie zu den Geisteswissenschaften, da in ihr Forschungsgebiet aber auch physische Vorgänge, z.B. bei der Lauterzeugung, fallen, bleibt eine, vor allen Dingen methodische, Nähe zur Naturwissenschaft: Die mit der Sprache sich beschäftigenden […] Wissenschaften gehören, weil die Sprache eine Schöpfung und Leistung des Geistes und die lautliche Versinnlichung des Denkens ist, zu den Geisteswissenschaften, jedoch hängt die Sprachwissenschaft insofern mit der Naturwissenschaft zusammen, als die Sprachlaute physisch erzeugt und in ihrer Entwickelung zum Theil durch physische Gesetze bedingt werden. (Körting 1884: I, 26) Wie schwer eine eindeutige Zuordnung der Sprachwissenschaft zu einem der beiden Bereiche ihren Vertretern noch um die Jahrhundertwende gefallen ist, zeigen auch die Ausführungen Georg von der Gabelentz’, der sich zwar sicher ist hinsichtlich des Status der Sprachwissenschaft als autonomer Wissenschaft, Eine Wissenschaft ist berechtigt als eine besondere innerhalb der übrigen aufzutreten, wenn ihr Gegenstand ihr allein eigen ist. Diesem Erfordernisse genügt die Linguistik vollkommen: weder macht sie andren Wissenschaften Zwei Arten des Sprachstudiums - zwei Kulturen? 155 ihre Gebiete streitig, noch braucht sie vor etwaigen Annexionsgelüsten ihrer Nachbarinnen sonderlich auf der Hut zu sein. Darum darf sie aber nicht minder innig mit diesen verkehren, hier entlehnend, dort ausleihend. (Gabelentz ²1901: 13) aber über die Berührungspunkte der Sprachwissenschaft mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen deren vielschichtiges Wesen aufzeigt. So gehört die Linguistik zur Anthropologie: Die Sprache ist Gemeingut des Menschen; nur als solche, d.h. nur die menschliche Sprache ist Gegenstand der Linguistik. Mithin ist diese letztere ein Bestandtheil der Wissenschaften vom Menschen, also der A n t h r o p o l o g i e im weiteren Sinne des Wortes. (Gabelentz ²1901: 13; Sperrung wie im Original) Da die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft die Sprachen primär auf ihre Verwandtschaft hin untersucht, zeigt sich eine Öffnung der Sprachwissenschaft hin zur Ethnographie: Jede Sprache ist Eigenthum eines Volkes, und wo wir von verwandten Sprachen reden, da reden wir nothwendigerweise von sprachverwandten Völkern. Somit berührt sich die Sprachwissenschaft mit der E t h n o g r a p h i e […]. (Gabelentz ²1901: 14; Sperrung wie im Original) Untersucht sie aber Einzelsprachen, so zielen ihre Forschungen auf die Erkenntnis der Geschichte der Kulturen und Völker ab und [s]omit ist sie ein Stück Volksgeschichte, und die Linguistik, sofern sie die Einzelsprachen und ihre Schicksale zum Gegenstande hat, eine h i s t o r i s c h e Wissenschaft. (Gabelentz ²1901: 14; Sperrung wie im Original) Doch Gabelentz verschweigt auch nicht eine gewisse Affinität zur Naturwissenschaft: Handelt es sich um die Fähigkeit des Menschen zur Hervorbringung der Sprachlaute, so ist dies Aufgabe der Lautphysiologie, die ein Zweig der Naturwissenschaft ist. Handelt es sich um das Vermögen des Menschen, seine Gedanken zu gliedern, so ist die Untersuchung psychologisch. Handelt es sich um Aufgaben, welche der Sprache gestellt werden als einem Ausdrucke der Begriffs- und Gedankenverbindungen, so liefern Logik und Metaphysik die Antwort; und damit liegen die wichtigsten Bestandtheile des Sprachvermögens in der Philosophie. (Gabelentz ²1901: 14) Die Vielseitigkeit der Sprachwissenschaft und ihre zahlreichen Anbindungsmöglichkeiten, sowie ihre Mittelstellung zwischen Natur und Geist verweist auf eine ähnlich prekäre Stellung der wissenschaftlichen Disziplin, wie sie Lepenies ²2006: IX für die Soziologie konstatiert. 48 Möglicher- 48 In eine ähnliche Richtung weist Oesterreicher 1979: 15: „In der sprachwissenschaftlichen Forschung ist der Dualismus von geisteswissenschaftlichen Traditionen ver- Natur oder Geist? 156 weise liegt aber genau in dieser prekären Situation auch das Potential einer Wissenschaft, die sich mit Sprache in all ihren Facetten und Funktionen auseinandersetzt und versucht zwischen Geist und Natur zu vermitteln. 49 Zwei Vermittlungsversuche sollen im Folgenden analysiert werden: Zum einen die philosophische Annäherung Ludwig Toblers, zum anderen der Versuch Georg Curtius, der eine Vermittlung stärker über eine Synthese philologischer Forschungsziele mit sprachwissenschaftlichen sucht. 4.4 Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist: Doch eine dritte Kultur? Syntheseversuche bei Ludwig Tobler (1827-1895) und Georg Curtius (1820- 1885) Ludwig Tobler 50 , Schweizer Germanist und Sprachphilosoph, äußert sich 1865 genau zu dieser Diskussion. Nachdem Tobler eine Zuordnung der Sprachwissenschaft zur Naturwissenschaft kategorisch ablehnt, da diese zu derselben „gar kein Verhältnis“ zu haben scheint (Tobler 1865: 193), kommt er sogleich auf den Kernpunkt seiner Überlegung: Das Verhältnis zwischen Sprachwissenschaft und Philologie sei ein so schwieriges und umstrittenes, da es die „tiefste Frage aller Wissenschaft berührt, nämlich das Verhältniß des Geistes zur Natur überhaupt“ (Tobler 1865: 194). Tobler vertritt die Konzeption der Universalphilologie in der Tradition August Boeckhs, den er neben Friedrich Wolf als Gewährsmann für die Legitimation seiner Philologiekonzeption zitiert (Tobler 1865: 194). 51 Anlass pflichteten Ansätzen und den am naturwissenschaftlichen Methodenideal orientierten Richtungen keineswegs - wie man verschiedentlich glauben machen will - verschwunden. Von der linguistischen Theoriediskussion nicht ausreichend beachtet, führt diese Tatsache gleichsam unterirdisch zu wissenschaftstheoretischen Konfusionen und zu Widersprüchen, die die Forschung belasten.“ Die Definition der Linguistik als eine dritte Kultur zwischen den beiden Wissenschaftsgebieten scheint vor diesem Hintergrund ein plausibles Lösungsangebot zu sein. 49 Eine Philosophie, der es gelingt, in der Tat zwischen den Polen Geist und empirischem Anspruch in der Sprachforschung zu vermitteln, bietet Cassirer mit seiner Konzeption der Sprache als einer symbolische Form. Indem Cassirer den Geist funktional auffasst, kann die Trennung in Natur- und Geisteswissenschaften überwunden und eine Einheit hergestellt werden (Dessì Schmid 2005: 111/ 112). Vgl. zur Sprachtheorie Cassirers sowie zur Wiederherstellung der Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften, bei der die Stellung der Linguistik einen symbolischen Wert erhält, Dessì Schmid 2005: 107-114; 121-133; 142-154. 50 Ludwig Tobler war der ältere Bruder des Schweizer Romanisten Adolf Tobler. Ähnlich wie dieser vertritt auch er eine Differenzierung zwischen Sprachwissenschaft und Philologie aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung und Methoden. 51 Tobler grenzt sich an dieser Stelle auch von Hermann und der Wortphilologie ab, die ihm zu sehr auf literarische Quellen beschränkt ist und somit die Entäußerungen des menschlichen Geistes, die es zu erforschen gilt, zu stark beschneidet. Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist 157 zur Kritik bieten Tobler die „einseitigen Vertreter“ seines Faches (Tobler 1865: 195), die zu sehr auf die Klassische Philologie konzentriert sind und fordert, es müsse das Factum anerkannt werden, daß Philologie ein Theil der ‚allgemeinen‘ Geschichte geworden ist, nämlich die Besonderung derselben in die Geschichte aller derjenigen Völker, deren Cultur in literarischen Denkmälern fortlebt. (Tobler 1865: 195) Aufgerufen werden zum einen die Forderung einer Gleichberechtigung von klassischer und moderner Philologie unter dem Verweis, beide gruppierten sich unter einem großen Komplex ‚Philologie‘, zum anderen findet sich die Voraussetzung, die gegeben sein muss, damit philologische Forschung auf ein Volk angewendet werden kann: Bildungskultur, hier gleichzusetzen mit Schriftkultur, muss vorhanden sein, damit nicht nur ein φιλοcoφείν stattfinden kann, sondern auch ein φιλολογείν. 52 Hauptgegenstand der philologischen Forschung ist die Sprache, daher beschränken sich literarische Denkmäler nicht nur auf kanonisierte Texte, sondern sind auszuweiten auf sprachliche Zeugnisse in jeglicher Form (Tobler 1865: 195). Seine Konzeption der Sprachwissenschaft ist, neben Heymann Steinthal, eine der wenigen, die sich nicht nur auf die Humboldtsche Konzeption von Sprachwissenschaft beruft, sondern dieser auch tatsächlich folgt. 53 Sprache wird bei Tobler dezidiert rückgekoppelt an eine von der Geschichte und der menschlichen Geistestätigkeit mitbeeinflusste Größe. Er distanziert sich in diesem Punkt an mehreren Stellen von Schleicher, stimmt ihm jedoch zu, dass Sprache zu einem Teil auch außerhalb der freien Willensbestimmung eines einzelnen liege, gebunden ist sie aber in ihrer Wesenheit stets an die kulturhistorische Gesamtheit eines Volkes (Tobler 1865: 200/ 201). Sprache kann, so Tobler, nur auf menschlicher Grundlage entstehen, da der Mensch als geistiges Wesen die Möglichkeit und das Bewusstsein besitzt, sein Inneres mitteilen zu wollen und dies auch tun zu können. Tobler spricht dabei den Naturvölkern, die bei Schleicher als geschichtslos definiert waren, durchaus einen freien Willen im Sinne dieses Bewusstseins zu. Sprache, Geschichte und Menschheit werden so wieder in ein Span- 52 Vgl. zu dieser Forderung Boeckh 1877: 11/ 12; auch Elze 1845: 45. 53 Vgl. zur Fortführung der Tradition Humboldts in der sprachwissenschaftlichen Forschung z.B. Delbrück: „Man verbeugt sich in der Vorrede vor dem grossen Meister und verfährt im übrigen nach alter Weise.“ (Delbrück 1893: 46) Ähnlich formuliert Mueller-Vollmer im Vorwort seines Humboldt Nachlassverzeichnis hinsichtlich der Separation zwischen Humboldts Anthropologie und der Praxis der historischvergleichenden Sprachwissenschaft: „Wenn sich Franz Bopp und August Pott in ihren Arbeiten gelegentlich pietätvoll auf Humboldt berufen, so wird dadurch der tiefe Riss, der zwischen der humboldtschen sprachwissenschaftlichen Konzeption und Forschungspraxis und Ideologie der dominierenden Indogermanistik des 19. Jahrhunderts besteht, höchstens rhetorisch verschleiert und überdeckt.“ (Mueller- Vollmer 1993: 6) Vgl. hierzu auch Trabant 1988: 499. Natur oder Geist? 158 nungsverhältnis gestellt, dass sowohl bewusstem Eingreifen als auch Zufällen unterworfen ist. Geschichte entsteht nach Tobler vor allem aus den Reaktionen der Menschen auf diese Umstände und könne daher keinesfalls „mechanisch“ genannt werden (Tobler 1865: 201). So ergibt sich bei Tobler ein dynamischer Sprachbegriff, in dem sich Natur und Geist verbinden und der über diese beiden Parameter an die Sprachgemeinschaft gebunden ist: […] die Sprachform aber (denn nur von ihr, nicht von der Meisterschaft des S t y l e s ist hier überall die Rede) war und bleibt zu allen Zeiten ein Gemeingut, an dessen Umgestaltung a l l e Individuen in ihrem täglichen Verkehr gleichmäßiger und unmerklicher sich betheiligen. Auch daß der individuelle Genius in seiner Sphäre mehr von lichten Stunden des Bewußtseins unterbrochen und unterstützt arbeite als das Volk in der Sprache, soll zugegeben werden: aber in all dem sehen wir doch nur Unterschiede des Grades, keine grundverschiedene Qualität der Erscheinungen, kein Recht, die einen mehr als die andern dem Einzelwillen, und d a r u m der Geschichte zu vindiciren. (Tobler 1865: 202; Sperrung wie im Original) In dieser Bindung an das Volk unterscheide sich die Geschichte der Sprache von der Geschichte der Kunst, der Religion oder des Staates, so Tobler. Dennoch kann sie nicht mit einem rein biologischen Organismus gleichgesetzt werden. Denn, so Tobler, die von Schleicher angesetzten drei Wachstumsphasen 54 einer Sprache sind in dieser Form für die Entwicklung einer Sprache nicht annehmbar, da er den in diesen drei Phasen postulierten Verfall als notwendig und positiv deutet. Hier greift er die Gegenüberstellung von Geschichte und Sprache erneut kritisch auf und erläutert noch einmal, dass diese Trennung für den Sprachbegriff und damit auch für die Sprachforschung nicht greifen kann. Sprache ist nicht nur über ihre „äußere Form“ und ihre „materielle Vollständigkeit“ definiert, sie geht über diese rein formale Kategorie hinaus: Aber im Interesse der Sprachwissenschaft selbst darf eben nicht z u g e g e b e n werden, daß eine Sprache „fertig sei, wenn ein ursprüngliches System volksthümlicher Anschauungen in einem entsprechenden System von Lautformen seinen specifischen Ausdruck gefunden habe, und daß es zum Begriff der Sprache gehöre, jenen Lautkörper unverändert zu erhalten, alles Weitere aber bloßer „Verfall“ sei. So rein ästhetisch darf die Sprache nicht betrachtet werden, daß ihr geistiger Werth nothwendig in der Form ausgegossen ruhen müsse. Denn gerade wenn die Sprache N a t u r p r o d u c t ist, fällt sie nicht unter den Maßstab eines Kunstwerkes, sondern höchstens eines Naturschönen, […]. In der That ist die Sprache ihrem Wesen nach 54 Diese Einteilung der Sprachenentwicklung in drei Wachstumsphasen (Kindes-, Erwachsenen- und Greisenalter) hat eine lange Tradition, sie findet sich im deutschsprachigen Raum beispielsweise bei Herder, Humboldt und auch bei Hegel. Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist 159 nicht ästhetisch, sondern practisch; sie entspringt einem unwiderstehlichen Drang des Geistes, an einem organischen Bilde seiner selbst sich weiter zu entwickeln […]. (Tobler 1865: 204/ 205). In dieser Konzeption von Sprache kann der von Schleicher angenommene Verfall positiv als Fortschritt umgedeutet werden. Sprache befindet sich, wie die Geschichte, in einer kontinuierlichen Dynamik. Es geht bei diesen Veränderungen nur um Veränderungen der äußeren Form, diese können zwar unter einem ästhetischen Gesichtspunkt betrachtet werden, wichtiger sei es aber, die „practische Zweckmäßigkeit und Fügsamkeit des Sprachbaus für die höhere Entwicklung des Geistes“ zu erforschen (Tobler 1865: 206). Hier begibt sich Tobler in die Tradition Humboldts und hier sieht er einen Anknüpfungspunkt an die Naturwissenschaft, den er über die psychologische Sprachbetrachtung erreichen will. Tobler greift dann ein letztes Mal die These Schleichers und Müllers auf, die Sprachwissenschaft gehöre rein zu den Naturwissenschaften, um diese nun endgültig zu widerlegen. Beide befänden sich im Irrtum, weil sie den Begriff der Natur nicht fein genug unterschieden und seine verschiedenen Bedeutungen missachtet hätten, denn Natur meine nicht nur „den Inbegriff der unorganischen und der organischen Wesen mit Ausschluß des menschlichen Geistes“ (Tobler 1865: 208), sondern auch das „Wesen irgend eines Dinges“ (Ebd.). So habe Natur eine naturwissenschaftliche und eine philosophische Bedeutung gleichermaßen, was erlaube, die Sprache als aus der Natur stammend zu bezeichnen, nämlich aus der Natur des Geistes. Sie ist aus ihrem Wesen heraus immer an den Menschen und an Geschichtlichkeit gebunden. 55 Tobler leistet die Aufhebung der Spaltung zwischen Natur und Geist über das Abrufen der Diskurse, die in den Textausschnitten Grimms und vor allem Schleichers dazu dienten, eine klare Trennung zwischen der Philologie als historischer und der Linguistik als naturwissenschaftlicher Disziplin zu vollziehen, indem das Forschungsobjekt ‚Sprache‘ in eine kultur- 55 „Denn der Mensch gehört zwar als organisches Wesen mit seinem Leibe der Natur, im ersten Sinn des Wortes, an; aber schon seine Sprachorgane tragen zugleich den Stempel des G e i s t e s , der sich derselben zur Entwicklung seiner Vernunft bedienen soll. Darum gehört die Sprache bereits zum Wesen des Geistes oder zu seiner „Natur“, im zweiten Sinn des Wortes; sie ist aber selbst schon der Anfang und zugleich die älteste, unmittelbare Urkunde der menschlichen G e s c h i c h t e . Von einer N a t u r g e s c h i c h t e des Geistes kann geredet werden, insofern als es (was Schleicher und Müller sich und ihren Lesern nicht klar gemacht haben, obwohl es längst anerkannt ist) zur „Natur“ des Geistes gehört, nicht bloß, daß er eine „Geschichte überhaupt“, d.h. fortschreitende Veränderung habe, sondern daß er aus einem N a t u r z u s t a n d s e i n e r s e l b s t , als dem Anfang seiner Geschichte, erst in das Gebiet der im engern Sinne so genannten, positiven und politischen, Geschichte übergehe.“ (Tobler 1865: 209; Sperrungen wie im Original) Natur oder Geist? 160 historische und eine naturgeschichtliche Seite aufgespaltet wurde. Beide Dimensionen werden von Tobler wieder in den Gegenstand als untrennbar miteinander verknüpfte Seiten hineingelegt - die Vorstellung Cassirers Natur gehe in einer funktionell gefassten Geistvorstellung auf, scheint hier bereits antizipiert zu sein. Die Untrennbarkeit zwischen Geist und Natur belegt Tobler über das Argument, der Mensch sei an Sprache gebunden, die Sprache ihrerseits ist der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit unterworfen: Beide stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander - Natur- und Geistesgeschichte sind so ineinander auf untrennbare Weise verwoben. Tobler führt dies hinsichtlich der Dynamik, die dem Gegenstand ‚Sprache‘ innewohnt noch weiter aus: Aus der N a t u r also stammt die Sprache, aber aus der Natur des G e i s t e s , welcher in seinem Naturzustande n i c h t v e r h a r r t und auch die Sprache auf die Bahn des Fortschritts mit sich reißt. Darum muß die Sprachwissenschaft nicht den Naturwissenschaften, sondern den geschichtlichen angehören. (Tobler 1865: 209; Sperrungen wie im Original) Tobler holt den Geist in die Sprache zurück, verbindet ihn mit Natur und Geschichte und weist der Sprachwissenschaft so einen Platz unter den historischen Wissenschaften zu. Als historische wissenschaftliche Disziplin gilt es nun aber die Sprachwissenschaft gegenüber der Philologie abzugrenzen. Tobler tut dies unter Berufung auf Georg Curtius, der sich um eine Vermittlung zwischen den beiden Disziplinen bemühte. So sei eine doppelte Behandlung der Sprache nötig, um das Ganze wissenschaftlich erkennen und fördern zu können. Sprache müsse sowohl unter dem Gesichtspunkt der Stammverwandtschaft - dies sei dann die Aufgabe der Sprachwissenschaft - als auch unter dem nationalen Blickwinkel - das wäre das Arbeitsgebiet der Philologie - betrachtet werden. So könnten Natur und Kultur einer Sprache zusammengebracht und ihre ganze Geschichte erkannt werden (Tobler 1865: 210/ 211). Auch Tobler unterscheidet in eine „nationale und Culturseite der Sprache“ und einer „Naturseite, das Trans und Antinationale nach unserem Sprachgebrauch“ 56 , wobei er wieder betont, dass es keinen Verfall, sondern nur „innere Steigerung“ in einer Sprachentwicklung geben könne, wofür er die Überführung der alten Dialekte in Hoch- und Schriftsprachen anführt (Tobler 1865: 211/ 212). Sprachwissenschaft als historische Disziplin habe, so Tobler, in seiner Definition und hinsichtlich seines Sprachbegriffs weitreichende Möglichkeiten: zum einen könne sie, und hier geht er ganz mit Curtius konform, zwischen klassischer Philologie und neuerer Sprachforschung vermitteln und so positiv in die Schule und damit in die Bildung hineinwirken. Zum anderen spricht er ihr die Aufgabe zu, als Bindeglied zwischen Naturwis- 56 Hier bezieht er sich auf Georg Curtius Einteilung der Arbeitsgebiete des Sprachforschers und des Philologen, vgl. Curtius [1862] 1977: 80. Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist 161 senschaft und Philologie zu fungieren, sie müsse „schließlich also auch diese letztere [die Philologie; J.W.] mit der Naturwissenschaft und dem Zeitgeiste versöhnen helfen.“ (Tobler 1865: 214). Tobler definiert Sprachwissenschaft ähnlich wie Helmholtz als eine nach beiden Seiten offene Disziplin, der eine Vermittlungsfunktion zwischen Natur und Geist zukommt. Nur wenige Jahre zuvor hatte sich Georg Curtius (1820-1885) in ähnlicher Weise für eine Zusammenarbeit zwischen Sprachwissenschaft und Philologie ausgesprochen: Eine jede Sprache ist ihrer Grundlage nach etwas T r a n s n a t i o n a l e s und deshalb von dem Standpunkte des Philologen allein nicht völlig zu Begreifendes. (Curtius [1862] 1977: 71) Curtius bestimmt die Sprachwissenschaft als die Disziplin, die ob ihrer genauen und wissenschaftlichen Methode der Philologie an die Seite treten solle, um Sprache als Ganzes erforschen zu können. 57 Äußerst positiv bewertet Curtius die Entwicklung der allgemeinen Sprachwissenschaft, die diese seit Beginn des 19. Jahrhunderts durchlaufen hat. Hier zeigt er sich in der Tradition Humboldts wie auch Boeckhs 58 , denn in seiner Konzeption der Sprachforschung finden sich philosophische Spekulation und empirische Forschung als sich ergänzende Forschungsmethoden: 59 Die allgemeine Sprachwissenschaft war durch eine äußerliche und rein logische Betrachtungsweise in Verwirrung und mangelhafte Verkehrtheit gerathen, als sie nicht sowohl durch philosophische Speculation und empirische Erforschung eines unendlich vermehrten Materials und Zusammenfassen der auf diesem Wege gewonnenen einzelnen Ergebnisse zu einer neuen Totalanschauung in unserem Jahrhundert eine völlig neue Wendung nahm. (Curtius [1862] 1977: 71) Curtius beschreibt als Aufgabe der Philologie die Erforschung des Zusammenhangs der geistigen Tätigkeiten eines Volkes, hier liegt eine eindeutig nationale Beschränkung des Forschungsgegenstandes vor (Curtius [1862] 1977: 70). Die philologisch zu untersuchenden Einheiten ordnet er dann jeweils einer höheren Einheit zu, der philologischen Untersuchung von Sprache und Literatur käme als übergeordnete Einheit dann die allgemeine Sprachwissenschaft zu (Ebd.). Beide müssen sich notwendigerweise wechselnd ergänzen. Diese gegenseitige Bedingtheit ergibt sich aus dem 57 Nur wenige Monate zuvor hatte Curtius schon einmal in einer Vortragsreihe zum Universitätsjubiläum auf die Wichtigkeit der vergleichenden Methode für die Wissenschaften, die sich mit Sprache beschäftigen, hingewiesen (Curtius 1862: 30/ 31). 58 August Boeckh war der Lehrer Curtius. 59 Als weiteren wichtigen Grund für diese Wende in der Sprachwissenschaft nennt Curtius auch die Entdeckung des Sanskrit, die für neue Erkenntnismöglichkeiten gesorgt hatte. Natur oder Geist? 162 Sprachbegriff, den Curtius seinen Überlegungen zugrunde legt. Curtius geht von einer Kultur- und einer Naturseite der Sprache aus, wobei gilt: Das Gebiet des allgemeinen Sprachforschers ist die N a t u r s e i t e , die des philologischen, so zu sagen, die C u l t u r s e i t e der Sprache. Weil aber eine jede Sprache ein gewordenes Ganzes bildet, ist die eine Seite von der anderen unmöglich ganz zu trennen. Der philologische Sprachforscher läuft Gefahr, die Anfänge und ersten Grundlagen der Sprache zu verkennen, der allgemeine die spätere Entwicklung und feinere Ausbildung zu unterschätzen. (Curtius [1862] 1977: 80; Sperrung wie im Original) Curtius verwandelt die von Schleicher postulierte radikale Trennung zwischen den beiden Disziplinen in eine Kultur des Übergangs, in der Grenzgänge nicht nur möglich, sondern auch nötig sind. Besonders im Bereich der Methode wünscht sich Curtius diese Grenzüberschreitungen, seine Konzeption von Wissenschaft entspricht ganz dem dynamischen Evolutionsdenken seiner Zeit, in dem Wissenschaft als Handlungssystem gedacht wird, über das Fortschritt als kontrollier-, falsifizier- und messbare Größe definiert wird (Curtius [1862] 1977: 72). Vor diesem Hintergrund bedarf die Philologie einer Methode, die sich als sichere und objektive wissenschaftliche Methode bereits bewiesen hat: Die Möglichkeit des bloßen Rathens und Tastens in sprachlichen Fragen ist durch die sprachwissenschaftliche Methode in unsrer Zeit wenigstens sehr vermindert. (Curtius [1862] 1977: 73) Für den Philologen ist es daher unabdingbar, sich diese Methode anzueignen, um sowohl den Weg, auf dem sprachwissenschaftliche Erkenntnis gewonnen wird, als auch den Wert dieser Erkenntnis nachvollziehen zu können. Nur so werde der Philologe befähigt, seinen Forschungsgegenstand gänzlich zu durchdringen, indem er seiner philologischen Methode die der allgemeinen Sprachwissenschaft zur Seite stellt: Die Sprache hängt überdies mit dem ganzen Geistesleben eines Volkes so innig zusammen, sie umschließt bis zu dem Grade die Denkformen und den Denkgehalt desselben, daß die feineren und höheren Fragen nur von dem gestellt werden können, der in diesem Geistesleben heimisch ist. Andrerseits können sie nicht recht gestellt werden ohne einige Einsicht in die Mittel und Verfahren des Sprachforschers. (Curtius [1862] 1977: 78) Doch trotz dieser eindringlichen Forderung nach einer Übernahme der sprachwissenschaftlichen Methode, findet sich in Curtius methodischen Überlegungen auch eine Reminiszenz an August Boeckh, indem er die sprachwissenschaftliche Methode mit der philologischen verbunden wissen will: Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist 163 Auch zur Analyse der Sprachformen, mehr noch zur Auffindung der Etymologie gehört die eigenste Kunst des Philologen, Kritik, gehört philologisches Sprachgefühl und genaue Sprachkenntniß. (Curtius [1862] 1977: 80) Curtius spielt hier an auf die Forderung Boeckhs, der Philologe benötige neben der Beherrschung seines Handwerks auch die nötige Portion Talent, eine Forderung, die sich bereits auch bei Wolf fand. Implizit wird hier ebenfalls angedeutet, dass die philologische Forschungsmethode Nähe zur Kunst besitzt. Zwar nennt Curtius nur die Kritik als des Philologen „eigenste Kunst“, aber neben der Kritik dürfte er wohl auch die Hermeneutik im Hinterkopf gehabt haben. Damit verweist er auf ein Spannungsfeld, das der Philologie seit ihrer Konzeption als Verstehenswissenschaft innewohnt. Der Einzug der sprachwissenschaftlichen Methode, die ja durch ihre Nähe zu den naturwissenschaftlichen Methoden zu einem Symbol für genaues, kontrollierbares und vor allem objektives Forschen geworden war, in die Philologie war eines der Hauptanliegen Curtius. 60 Auf diese Weise sollte der Philologie jene wissenschaftliche Dimension verliehen werden, die den neuen Kriterien zur Bestimmung einer modernen Wissenschaft entsprach und der Verdacht der Subjektivität ausgeräumt werden. Objektive Gewissheit der Forschungsergebnisse ist das Ziel, auf das Curtius mit seiner Synthese der sprachwissenschaftlichen und der philologischen Methode zusteuert. 61 60 Beispielsweise hielt Curtius im Jahre 1868 eine Vorlesung über „Elemente der vergleichenden Sprachwissenschaft zur Einleitung in das Studium des Griechischen und Lateinischen“, die dann ab 1870 zu einer Vorlesung „Elemente der vergleichenden Sprachwissenschaft, mit besonderer Rücksicht auf die Ziele und Aufgaben der classischen Philologie“ umbenannt wurde, die er in Folge bis zum Jahr 1885 regelmäßig abhielt. 61 Bereits einige Jahre zuvor hatte er ein exakteres Vorgehen in der philologischen Forschung gefordert: „Man pflegt es als einen wesentlichen Vorzug der sogenannten exacten Wissenschaften zu betrachten, daß sie mit Ausschluß einer tief greifenden Meinungsverschiedenheit und eines erheblichen Spielraums für Ansichten und Neigungen des einzelnen dem Ziele aller Wissenschaft, der Erkenntnis der Wahrheit, festeren und geraderen Schrittes entgegen giengen, als die philosophisch-historischen. Bis zu einem gewissen Grade wird das einzuräumen, wird zuzugestehen sein, daß das größere Schwanken und die Meinungsverschiedenheit auf letzterer Seite mit Notwendigkeit in den Objecten dieser Wissenschaften liegt, die mehr als jene auf das Gefühl des forschenden einwirken und dadurch ein von subjectiven Stimmungen und Neigungen ganz unabhängiges Denken und Forschen in manchen Fällen außerordentlich schwierig machen. Der forschende wird vielleicht in der vielseitigen Anregung, welche ihm der Stoff gewährt, Ersatz finden für die geringere Entschiedenheit, mit der er seine Beweise führen kann. Aber das Streben auch jener zweiten Gruppe von Wissenschaften muß offenbar dahin gehen, exacter zu werden und zu allgemeiner anerkannten Ergebnissen zu gelangen. Und dieß Streben ist in der That vorhanden. Wir sehen, um uns hier auf das philologisch-historische Gebiet zu beschränken, offenbar nach allen Richtungen hin Bemühungen zur objectiven Gewissheit zu gelangen. Methodische Erforschung der urkundlichen Überlieferung, genaue Natur oder Geist? 164 Erreicht werden sollte eine bessere methodische Unterfütterung der philologischen Forschungen, um deren Ergebnisse als gesichert und damit anerkennenswert der Forschergemeinschaft für weitere Bearbeitung zur Verfügung zu stellen. Vor Augen stand ihm wohl eine klare einheitlich definierte philologische Forschungsmethode, die, orientiert am Vorbild der exakten (Natur)Wissenschaften, als Bindeglied zwischen den einzelnen Forschern fungieren konnte. In dem Bemühen, eine solche Methode zu etablieren und auch durchzusetzen, verweist Curtius des Öfteren auf den Modellcharakter der Naturwissenschaften. Doch trotz aller Orientierung an deren methodischer Genauigkeit, warnt Curtius vor einer Definition der Sprachwissenschaft als Naturwissenschaft, da Sprache als menschliches Phänomen nicht gänzlich durch Formeln und feste Regeln zu fassen sei: In einer verfehlten Nachahmung der Naturwissenschaften hat man für die Sprachforschung ausschliesslich in den Lautverhältnissen eine feste Regel zu gewinnen und deren Ausnahmslosigkeit zu erhärten versucht. So fest es steht, dass die Lautverhältnisse stets der natürliche Ausgangspunkt für jede Einzelfrage sein müssen, so wenig kommt man auf diesem Gebiet mit unverbrüchlichen Formeln aus. Mass und Ordnung durchdringt das ganze Wesen der Sprache. Die Erforschung der Sprache gehört zu den geschichtlichen Geisteswissenschaften und bei diesen ist vielfach nicht ohne ein vorsichtig tastendes Verfahren auszukommen. (Curtius 1885: 154/ 155) Curtius Haltung in Bezug auf die Frage, was nun in der Sprache wirke, Natur oder Geist, tritt am deutlichsten in seiner Auseinandersetzung mit den Junggrammatikern zu Tage. In seiner Schrift Zur Kritik der neuesten Sprachforschung setzt sich Curtius intensiv mit den Postulaten der Junggrammatiker auseinander. Positiv wird dabei hervorgehoben, dass der Begriff des „Lautgesetzes“ nunmehr in einer weniger an die Terminologie der Naturwissenschaften angepassten Form vorliege, sondern, wie Ludwig Tobler und Hermann Paul konstatierten, lediglich einen Terminus zur Beschreibung historischer Gleichmäßigkeiten darstelle. 62 Curtius, wie auch Ludwig Tobler, definiert Sprache als etwas historisch Gewordenes, das quasi als eine Art Bindeglied zwischen Natur und Geschichte steht (Tobler 1877: 52; Curtius 1885: 12). Dieser Sprachbegriff beinhaltet eine Verbindung zum Benützung aller auch der entlegensten Quellen, statistisch genaue Darstellung und historische Untersuchung der Spracherscheinungen sind auf eben dieß Ziel hingerichtet. Aber freilich sind diese Bemühungen noch keineswegs durchgedrungen, und ihnen zum Trotz ist in Bezug auf einzelne Fragen die Meinungsverschiedenheit so groß, wie sie noch nie war, so groß, daß mancher draußenstehende, wenn er von diesen Gegensätzen Kenntnis nimmt, entweder an der Lösbarkeit dieser Fragen oder an der Fähigkeit unserer Zeitgenoßen zu ihrer Lösung zweifeln möchte.“ (Curtius 1854: 1/ 2) 62 Vgl. zur zeitgenössischen Diskussion des Begriffs „Lautgesetz“ in der vergleichenden Sprachwissenschaft z.B. Tobler 1877; Paul 1880: 55ff. Sprachwissenschaft als Disziplin zwischen Natur und Geist 165 Sprachbegriff der romantisch idealistischen Philologiekonzeption sowie zur Sprachwissenschaftskonzeption Humboldts: Die Seele und auch die Identität eines Volkes offenbarten sich in deren Sprache. 63 Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, warum der Begriff ‚psychologisch‘ in der Definition durch die Junggrammatiker in Curtius Sprachbegriff auf Kritik stoßen muss. Curtius kreidet Vertretern der „neueren Methode“ (Curtius 1885: 46) an, sie hätten den Begriff des ‚Seelischen‘, den er mit ‚psychologisch‘ gleichsetzt, auf sprachliche Ausnahmeerscheinungen, vornehmlich die Analogiebildungen, verkürzt. Dies sei so aber nicht richtig, im Gegenteil, in der Sprache herrschten zwei Triebe, ein konservativer und ein ausgleichender Trieb, wobei letzterer der sekundäre Trieb sei. Beide aber gehörten zu den seelischen Vorgängen, die die Sprache beeinflussten (Curtius 1885: 42-47). Die Sprache diene somit in ihrer konservatorischen Funktion ebenfalls als Gedächtnisspeicher über den sich die Geschichtlichkeit einer Sprachgemeinschaft transportieren ließe (Curtius 1885: 45). Curtius vertritt hier einen Sprachbegriff der eine individualisierende geschichtsphilosophische Perspektive impliziert. Dies erklärt auch die wichtige Stellung der Hermeneutik in seiner methodischen Konzeption. Curtius fragt weiter dezidiert nach dem „Warum“, sein Forschungsansatz ist weiterhin ein textphilologischer, der Philologie als eine Verstehenswissenschaft im Boeckhschen Sinne definiert. Methodisch folgt er dem positivistischen Forschungsansatz der - vor allem junggrammatisch geprägten - Sprachwissenschaft, der auf durch Beobachtung gewonnene empirische Daten abzielt und den Curtius aufgrund seiner Kontrollierbarkeit der Philologie empfiehlt, damit auch diese das Kriterium der Wissenschaftlichkeit erfüllt. Georg Curtius kann als ein Scharnier zwischen Philologie und Sprachwissenschaft gelten, sein Versuch, beide Disziplinen über die Methode zu verbinden, scheiterte allerdings. 64 Zu weit war die Umformung der Linguistik zu einer positiven Wissenschaft bereits gediehen, als dass das Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz von Wissen - Relevanz im Sinne von Bildungsfähigkeit des Individuums - die neuen Anforderungen an Wissen 63 So erklärt Curtius die Silbenreduktion von griechisch ια und ιο zu ι und lat. iu zu i unter Ausschluss eines Lautgesetzes folgendermaßen: „Zu keiner Zeit war es bei Griechen oder Römern ein Lautgesetz diese Silben zu verengen. Wir haben es vielmehr mit einer bequemeren Aussprache zu thun, die neben der vollen Form üblich, aber nie nothwendig wurde. Dass diese Erscheinung gerade in den Eigennamen des täglichen Lebens am weitesten sich verbreitete, ist für jeden begreiflich, der die Erscheinungen der Sprache mit der Sitte in Beziehung setzt und überhaupt aus der Seele des sprechenden Menschen, nicht aus einer blinden Naturgewalt zu begreifen sucht.“ (Curtius 1885: 32) 64 Zu Recht verweist Arens darauf, dass zwar die von Curtius verwendete Terminologie ihn in die Nähe der vergleichenden Sprachwissenschaft rückt, die Bedeutung der Termini aber jeweils eine andere ist (Arens 1969: 270). Natur oder Geist? 166 „übertrumpfen“ hätte können: Wissen entspricht in der positivistischempirischen Sprachwissenschaft einem Wissen, das sich durch seine Anschlussfähigkeit an wissenschaftliche Erkenntnisse auszeichnet, um neues Wissen generieren zu können: Die junggrammatische und strukturalistische/ kritisch-rationalistische Linguistik stimmen in der Tat darin überein, daß ihr Erkenntnisinteresse auf die Erzeugung prognostischen, d.h. technisch verwertbaren Wissens gerichtet ist. (Jäger 1975: 28) Wissen als positivistisch-empirisch verstandener Begriff lässt sich mit dem philologischen Erkenntnisbegriff der Philologie nur mehr schwer in Einklang bringen. Die Parameter, anhand derer sich die Linguistik als objektive moderne Wissenschaft definiert, decken sich nahezu mit den systemtheoretischen Parametern Luhmanns, der zwar für jedes System ‚Wissenschaft‘ die Anbindungsfähigkeit an die anderen Systeme ‚Wissenschaft‘ einfordert, bei dem aber die Partizipation an die Gesellschaft aus dem Modell der geschlossenen Systeme keine Rolle mehr spielt (Luhmann 1984). Genau diese Anbindung an die Gesellschaft und das durch philologische Arbeit geleistete Angebot der Erkenntnis über die „innere Geschichte der Menschheit“ (Auerbach [1951] (1961): 302) bildet die Rückkoppelung der Philologiekonzeption bei Curtius an die Konzeptionen Humboldts und Boeckhs. Curtius steht also, wie auch Ludwig Tobler zwischen Natur und Geist, er plädiert für eine Wechselwirkung zwischen den beiden wissenschaftlichen Polen des Positivismus und der romantisch-idealistischen Spekulation. Doch der „Umbau“ (Jäger 1975: 149) der Sprachwissenschaft zu einer positivistischen Wissenschaft, deren Leitkultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das naturwissenschaftliche Modell geworden war, war zu massiv. Die Sprachwissenschaft verzichtete auf die hermeneutisch-dialektische Dimension der idealistischen Sprachphilosophie, wie sie Wilhelm von Humboldt oder August Boeckh vertreten hatten, und vertiefte damit den Graben zwischen Philologie und Sprachwissenschaft. 65 Trotz vereinzelter Syntheseversuche scheinen ab der Ära der junggrammatischen Dominanz innerhalb der Sprachwissenschaft Linguistik und Philologie endgültig fremd nebeneinander zu stehen (Trabant 2006: 246). 65 Vgl. hierzu und vor allem auch zur Kritik am methodischen Solipsismus der positivistisch ausgerichteten Sprachwissenschaft Jäger 1975: 20ff. Jäger spricht in diesem Zusammenhang auch von der Wiederentdeckung der historisch-gesellschaftlichen Intention der Humboldtschen Konzeption von Sprachwissenschaft (Jäger 1975: 22). Diese Intention ließe sich in der Boeckhschen Philologiekonzeption spiegeln und hätte in einer Synthese aus beiden vielleicht tatsächlich zu einer „philologischen Philosophie oder philosophischen Philologie“ (Auerbach 1958: 17) im Sinne Erich Auerbachs, der mit dieser Konzeption die Ideen Vicos und auch Boeckhs aufgreift, führen können, dessen Philologiekonzept Hans Ulrich Gumbrecht als philosophisch ambitioniertestes bezeichnet (Gumbrecht 2009: 280). Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften 167 4.5 Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften Die Forderung an die ‚romanische Sprachwissenschaft der Zukunft’ muss also lauten, sich endlich der Aufgabe einer Verknüpfung von philologischer und theoriebezogener Forschung, die ja ‚[a]ußerhalb des deutschen Sprachraums […] bereits zum wissenschaftlichen Standard geworden‘ ist (Schwarze 2003: 99), zu widmen und ihr großes Wissen in die internationale Sprachwissenschaft einfließen zu lassen. (Kaiser 2005: 4). Nach Georg Kaiser ist somit der identitäre Prozess der deutschsprachigen romanistischen Sprachforschung noch keineswegs abgeschlossen, im Gegenteil, er scheint nach wie vor in vollem Gange zu sein und eine wichtige Herausforderung bildet in der aktuellen Diskussion die Verbindung von Tradition und Moderne. 66 Mit dieser Forderung beschreibt Kaiser ein Spannungsfeld, in dem sich die deutschsprachige romanistische Sprachwissenschaft wie die Analyse zeigt, seit ihrer Genese Anfang des 19. Jahrhunderts befindet und das ihre identitäre Konzeption bis heute zu prägen scheint. Dies kann als Folge des tiefgreifenden Umbaus der identitären Struktur der romanischen Sprachforschung infolge des „Umbaus“ durch die Junggrammatiker gesehen werden - möglicherweise fehlt tatsächlich 66 Das „größte Dilemmata“ der deutschsprachigen romanistischen Sprachwissenschaft ist nach Kaiser ihr Verharren in traditionellen Forschungsmethoden und ein weitgehendes Ignorieren der neueren internationalen sprachwissenschaftlichen Forschungsmethoden (Kaiser 2005: 2). Es könne nicht Aufgabe der romanistischen Sprachwissenschaft sein, „vorhandene Modelle und Methoden der allgemeinen Sprachwissenschaft auf die romanischen Sprachen anzuwenden, um zu adäquate(re)n Beschreibungen zu gelangen“ (Kaiser 2005: 4). Aufgabe der Sprachwissenschaft, eben auch der romanistischen, muss vielmehr sein, aktiv an der Gestaltung, Überprüfung und Validität linguistischer Methoden und Modelle mitzuwirken. Gesichert scheint bei Kaiser allerdings die Tatsache, Sprachwissenschaft gehöre in den Kreis der Wissenschaften, auch hier finden sich aktuelle Diskussionen, die der Sprachwissenschaft den Rang einer protoscience zusprechen, da sie ja nicht zu den ‚mathematisierten‘, sondern eher zu den ‚historischen‘ Disziplinen zähle: „Les sciences au sens le plus général de connaissances méthodiques d’objets se distribuent à mon sens selon l’attraction qu’y exercent et le rôle qu’y jouent, à une époque donnée de leur développement, deux pôles fondamentaux radicalement opposés. L’un est représenté par la pure mathématique, sans contenus empiriques; l’autre justement, par une histoire fictivement pure, dont le projet théorique serait de restituer ad integrum les objets concrets qui ont existé réellement. C’est le pole poïétique de la pensée scientifique, dont l’attraction se marquée à différents degrés, et diversement selon les types d’objets, dans toutes les sciences de l’empirie. Attraction qui s’oppose à celle du pole mathématique, selon des formes d’équilibre où la domination de l’un ou de l’autre est plus ou moins décisive, distinguant ainsi des disciplines plus ou moins “mathématisées” et plus ou moins historicisées” (Granger 1992: 181, zit. nach Lazard 1999: 74). Natur oder Geist? 168 ein Positivismusstreit, wie Schlieben-Lange ³1991: 9 für die Linguistik diagnostizierte. 67 Die Sprachforschung bietet Ende des 19. Jahrhunderts keine einheitliche Definition der eigenen Disziplin. Die Konzeptionen schwanken zwischen einer stärker naturwissenschaftlich orientierten Forschung in Anlehnung an die Junggrammatiker, andere wenden sich radikal von dieser Strömung ab. Hermann Paul plädiert angesichts der immer deutlicher werdenden Binnendifferenzierung in der Sprachwissenschaft und der mit ihr verbundenen, teilweise recht polemischen, Auseinandersetzungen innerhalb der Forschergemeinschaft dafür, diese wenigstens teilweise wieder in den Kreis der Kulturwissenschaften zurückzuführen, indem er die Konsequenz, die Schleicher aus der Übertragbarkeit naturwissenschaftlicher Methoden auf die sprachwissenschaftliche Forschung geschlossen hatte, wieder rückgängig machte. Paul lässt eine Nähe zur Naturwissenschaft zwar zu, im Kern gehöre die Sprachwissenschaft aber zu den Kulturwissenschaften: Es gibt keinen Zweig der Kultur, bei dem sich die Bedingungen der Entwicklung mit solcher Exaktheit erkennen lassen als bei der Sprache, und daher keine Kulturwissenschaft, deren Methode zu solchem Grad der Vollkommenheit gebracht werden kann wie die der Sprachwissenschaft. Keine andere hat bisher so weit über die Grenzen der Überlieferung hinausgreifen können, keine andere ist in dem Masse spekulativ und konstruktiv verfahren. Diese Eigentümlichkeit ist es hauptsächlich, wodurch sie als nähere Verwandte der historischen Naturwissenschaften erscheint, was zu der Verkehrtheit verleitet hat sie aus dem Kreise der Kulturwissenschaften ausschliessen zu wollen. Trotz dieser Stellung, welche die Sprachwissenschaft schon seit ihrer Begründung einnahm, gehörte doch viel dazu ihre Methode allmählich bis zu dem Grad der Vollkommenheit auszubilden, dessen sie fähig ist. (Paul [1880] 8 1970: 5f.) Die Expertengesellschaft ist sich alles andere als einig. Als Beleg für die Binnendifferenzierung innerhalb der Sprachwissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts seien zwei Vertreter äußerst unterschiedlicher Positionen innerhalb der romanischen Sprachwissenschaft in ihrem Forschungsprogramm an dieser Stelle holzschnittartig vorgestellt, um die unterschiedli- 67 Möglicherweise liegt ein Grund für diese Diskussion um eine Synthese von Tradition und Moderne in der Tatsache, dass ein Positivismusstreit, wie er beispielsweise offen in der Soziologie ausgetragen wurde, innerhalb der deutschsprachigen romanistischen Sprachwissenschaft nicht oder nur indirekt in der Debatte um ein eher naturwissenschaftlich geprägtes Wissenschaftsideal, wie es z.B. der Generativismus vertreten hat, und einem eher hermeneutisch geprägten Wissenschaftsideal traditioneller philologischer Provenienz stattgefunden hat (Schlieben-Lange 3 1991: 9f.) Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften 169 chen Ausprägungen der Disziplin aufzuzeigen: Wilhelm Meyer-Lübke und Hugo Schuchardt. 68 4.5.1 Der „Spieß wird umgedreht“: Philologie als Hilfswissenschaft in der Sprachforschung Wilhelm Meyer-Lübkes (1861-1936) Peter Wunderli betitelt seine Abhandlung über den Schweizer Sprachforscher Wilhelm Meyer-Lübke folgendermaßen: „Der Sprachwissenschaftler als Philologe“, um gleich im Anschluss daran zu fragen, ob Meyer-Lübke, üblicherweise den Junggrammatikern zugerechnet, tatsächlich auch als Philologe zu bezeichnen sei (Wunderli 2009: 179). 69 Wunderli hält den Begriff der Philologie in der Weise, wie er ihn auf Meyer-Lübke anzuwenden bereit ist, für definitionsbedürftig. Philologie sei in dieser Hinsicht Textphilologie, die sich rein mit dem Edieren von mittelalterlichen Texten beschäftige und somit in den Bereich der Mediävistik falle (Wunderli 2009: 179/ 180). 70 Diese sei zu Zeiten Meyer-Lübkes so dominant gewesen, dass der junge Sprachforscher in einer überzogenen Reaktion auf diese Dominanz möglicherweise zu radikal die paläontologische Perspektive auf Sprache gegen eine stärker biologisch ausgerichtete Betrachtung getauscht habe (Wunderli 2009: 188/ 189). Jud verweist in diesem Zusammenhang allerdings darauf, dass Meyer-Lübkes herausragendste Leistungen eher auf diesem Gebiet der Paläontologie zu finden seien, weniger auf dem Gebiet der biologischen Sprachforschung (Jud 1937: 342). Paläontologie bedeutet, so wie Meyer-Lübke den Begriff prägte, die Parallelerscheinungen zwischen den Sprachen vor allem in ihren älteren Stufen nachzuverfolgen, um so historisch-vergleichend Erklärungsmodelle für gesetzmäßigen Sprachwandel und Aufklärung über Verwandtschaftsverhältnisse zu erhalten (Meyer-Lübke 1911: VIII). In Verbindung mit dem Begriff des paläontologischen Forschens steht auch das große Interesse Meyer-Lübkes an der Indogermanistik, deren Methode er mit Absolutheitsanspruch auf die romanische Sprachforschung zu übertragen suchte (Jud 1937). In dieser Zielsetzung Meyer-Lübkes sieht Wunderli auch den Grund, dass dieser, anstatt dem üblichen Pfad der zeitgenössischen Romanisten zu folgen und 68 Schuchardt selbst würde sich vermutlich vehement gegen eine Vereinnahmung seiner Person durch die romanische Sprachwissenschaft aussprechen. In seiner Vorstellung existierte Sprachforschung als Disziplin, die man zwar auf bestimmte Sprachen anwendete, damit aber noch keine eigene Disziplin begründete. 69 Wunderli 2009: 214 bejaht seine Frage - allerdings eingeschränkt. Meyer-Lübke sei Philologe im „Nebenberuf gewesen“, hauptberuflich, so Wunderli, stelle er sich als Linguist mit einer starken Konzentration auf Fragen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft dar. 70 Wunderli nimmt damit eine notwendige Reduktion des Philologiebegriffes vor, der eine gewisse Homogenität erzeugt. Die Beschränkung auf Editionsphilologie erlaubt es Wunderli hier die Spaltung von Philologie und Sprachwissenschaft besonders deutlich zu machen (vgl. Wunderli 2009). Natur oder Geist? 170 sich über die Herausgabe altfranzösischer Quellen zu profilieren, die Textphilologie vor allem als Hilfswissenschaft für seine „,paläontologische’ und ,biologische’ Sprachbetrachtung“ genutzt habe. In der Fokussierung seines Interesses für die Sprachwissenschaft liegt vermutlich auch der Grund für Curtius Beschreibung Wilhelm Meyer-Lübkes als „großer Grammatiker, aber weder Philolog noch Literaturforscher“ (Curtius 1960: 433). 71 Meyer-Lübke selbst beschreibt seine Forschertätigkeit vor dem Hintergrund inhaltlicher Verschiebungen in der philologischen wie auch der sprachwissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der romanischen Sprachen. Seine Beobachtungen erklären die, vor allem von Wunderli festgestellte, Zweiseitigkeit (Linguistik und Philologie) in seinem Werk. Meyer-Lübke sieht eine langsame Verdrängung der philologischen Textforschung durch die literarische, wofür er in erster Linie das gesteigerte Interesse der Bildungsinstitutionen an neusprachlichen Kenntnissen verantwortlich macht (Meyer-Lübke 1930: 234). Meyer-Lübke stellt eine Tendenz zu einer klareren Trennung zwischen Linguistik und Literaturgeschichte innerhalb der Romanischen Philologie fest, die Philologie selbst gerate mehr und mehr in den Hintergrund, dafür spräche die Berufungspraxis, die mehr und mehr dazu neige, dem Literarhistoriker einen Linguisten zur Seite zu stellen und umgekehrt (Meyer-Lübke 1930: 235). Die wichtigste Ursache für eine Dominanzverschiebung sei aber die Tatsache, dass sich die „Erforschung des Altfranzösischen aus dem Dienstverhältnis zur Philologie“ gelöst habe (Meyer-Lübke 1930: 236) und so ihre „eigenen Ziele“ - nämlich die der historisch-vergleichenden Sprachforschung - erhalten habe (Ebd.). Dies habe zu einem Aufblühen der Dialektologie geführt. Hier drängt sich ein wenig der Verdacht auf, Meyer-Lübkes Editionen dienten in erster Linie der Befriedigung institutioneller Gründe und weniger dem Anspruch, die Philologie mittels einer stringenten methodischen Debatte über semiotische wie hermeneutische Auslegungsverfahren als Textwissenschaft zu etablieren, die mit der Literaturgeschichte hinsichtlich der gesellschaftlichen Relevanz wieder auf Augenhöhe stehe. Darauf verweist auch die Bezeichnung „paläographisch“ als Synonym für philologisches Forschen - letztlich ist diese zu lesen als ein Eingeständnis des Bedeutungsverlustes der Philologie als Vermittlerin von Erkenntnis. Meyer-Lübke ist in erster Linie Sprachwissenschaftler, dies zeigt auch eine Bemerkung über Adolf Tobler, den er als Lehrer zwar schätzt, der ihm aber für seine linguistische Karriere nicht als Vorbild dienen kann: Bei [Adolf] Tobler habe ich sehr viel gelernt; sollte ich mich in nächster Zeit doch wieder mit Philologie, Herausgabe, Interpretation, Kritik von Texten 71 Jud 1937: 340 betont Meyer-Lübkes Interesse sei bereits während des Studiums stärker auf die Indogermanistik gerichtet gewesen als auf philologische Studien. Diese Beobachtung deckt sich mit der üblichen Wahrnehmung und Würdigung Meyer- Lübkes als Linguist. Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften 171 befassen, so wäre es mir der höchste Ruhm als sein Schüler zu erscheinen, aber Linguist ist er nicht. (Jud 1937: 340/ 341; Fn 2) 72 Meyer-Lübkes Sicht auf Sprachwissenschaft, deren Zielsetzung und Methoden zeigt sich recht deutlich in seiner Würdigung der verschiedenen Richtungen, die die Sprachwissenschaft in seinen Augen gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeschlagen habe (Meyer-Lübke 1930: 237). Positiv sieht er die Entwicklungen der Sprachwissenschaft hin zu einer Forschung, die nach dem Ursprung und der Bedeutungsverschiebung innerhalb sprachlicher Zeichen suche und bereits in Nähe einer Begriffsgeschichte anzusiedeln sei. Auf dem Gebiet der romanischen Sprachen zeichne hier besonders die Person Hugo Schuchardts verantwortlich (Ebd.). Äußerst negativ, schon fast polemisch beurteilt Meyer-Lübke hingegen die Strömung der „neoromantischen oder neoidealistischen Sprachforschung“ (Meyer-Lübke 1930: 238). Diese Strömung, die nach Meyer-Lübke bisher, da es ihr an einer kontrollierbaren, objektiven Methode - die historisch-komparative sei von ihren Vertretern ja verworfen worden - mangele, auf dem Gebiet der Sprachwissenschaft nichts Bedeutendes geleistet habe, scheine eher zum Gebiet der literarischen Stilkritik 73 zu gehören, in der sich ein Zusammenhang zwischen Geistes- und Sprachform ermitteln und ideengeschichtlich begründen ließe (Meyer-Lübke 1930: 237/ 238). Sprachwissenschaft bleibt für Meyer-Lübke restringiert auf die Erforschung sprachinterner Zusammenhänge aus diachroner Perspektive und sprachsystematischer Forschung aus synchroner Perspektive. 74 Für diese Konzeption steht auch das Werk Meyer-Lübkes, in dem der junggrammatische Einschlag über die in ihnen zu findenden Diskurse jedoch trotz seiner interessierten Haltung an anderen methodischen Zugängen als der dominante zu bestimmen ist. Das Primat der Lautlehre, das Fokussieren auf physiologische Prozesse sowie das Ziel möglichst regelmäßige Lautregeln aufzustellen sind hierfür als Belege zu lesen (Meyer- Lübke 1890: 1, 2, 4, 26, 28). Die mittelalterlichen Texte dienen ihm hierbei vor allem als Korpora für die paläontologische wie auch biologische Erforschung der alten Sprachstufen in ihrem Verhältnis zu den neueren (Meyer- Lübke 1890: 16), wobei er betont, dass es sich bei diesen um äußerst unsichere Zeitzeugen handle, da die Häufung der Schreib- und Tradierungsfehler ein großes Problem bei der Erstellung von Lautgesetzen darstelle (Meyer-Lübke 1890: VII/ VIII). Für die Lautlehre muss das Hauptaugen- 72 Dieses Zitat zeigt auch, dass sich Meyer-Lübke des Facettenreichtums innerhalb des Philologiebegriffs wohl bewusst war, was erneut darauf hindeutet, dass seine Entscheidung, einen Teilbereich der Philologie über Editionstätigkeit zu bedienen, tatsächlich aus pragmatischen Gründen geschah. 73 Es sei an dieser Stelle nicht unerwähnt, dass Leo Spitzer ein Schüler Meyer-Lübkes war… 74 Vgl. zu dieser Sichtweise auch Militz 1997, Schneider 2001. Natur oder Geist? 172 merk auf die gesprochenen Mundarten gelegt werden, deren Untersuchung zu weitaus sichereren Ergebnissen führe als der Zugang über kulturelle Zeitzeugen - eben die durch die Fülle der Überlieferungsfehler als kritisch zu bewertenden Texte. Doch die Fehlerhaftigkeit der Texte ist nur ein Aspekt, der für die Absolutheit steht, mit der Meyer-Lübke für den Untersuchungsgegenstand ‚gesprochene Sprache‘ plädiert. Zusätzlich verweist er dezidiert auf die untergeordnete Rolle der Bedeutung im Vergleich mit der Ausdrucksseite: Die konstitutiven Elemente des Wortes sind zunächst die Laute: die Lautlehre pflegt daher naturgemäß an die Spitze grammatikalischer Untersuchungen gestellt zu werden. Bei der Entwicklung und Umwandlung der Laute einer Sprache ist die Bedeutung des Wortes fast völlig gleichgültig: es handelt sich dabei vielmehr meist nur um physiologische Prozesse. Immerhin wäre es unrichtig, wenn man seinen Inhalt völlig außer acht ließe bei der Untersuchung der Form: der Inhalt, die Bedeutung kann häufig die regelmäßige äußere Entwicklung stören. (Meyer-Lübke 1890: 1) Das Plädoyer für eine Forschung, die es erlaubt Sprache weitgehend zu formalisieren ist unverkennbar. Über die Gegenstandswie auch die Methodenbestimmung der Sprachwissenschaft bei Meyer-Lübke hat das junggrammatische Paradigma in die romanische Sprachwissenschaft Eingang gefunden, die durch dieses generierten Diskurse setzten sich in den Texten weiter fort - so zeigt es sich beispielsweise für Gustav Gröber als notwendig sich beim Verfassen seines Grundrisses 1888 im Hinblick auf das junggrammatische Sprachwissenschaftsverständnis klar zu positionieren. 4.5.2 Ein Plädoyer für Individualismus und Non-Konformismus: Hugo Schuchardt (1842-1927) In seiner 1925 vorgelegten Abhandlung „Der Individualismus in der Sprachforschung“ stellt Hugo Schuchardt rückblickend zufrieden fest, dass das Feld der sprachwissenschaftlichen Forschung sich vergrößert habe und sich verschiedene Theorien in differenzierter und produktiver Weise gegenüberstünden. Diese Entwicklung trage nicht nur zur Vielfalt der Erkenntnisse, sondern auch zur schärferen Konturierung der Begriffe bei und sei im Rahmen einer Wissenschaft begrüßenswert: Die prinzipiellen Unstimmigkeiten innerhalb der Sprachwissenschaft sind bis heute beständig gewachsen, ich möchte aber nicht sagen: in erschreckender Weise, fast eher in ersprießlicher. Man war ja früher über so manche Probleme unwissenschaftlich oder gedankenlos hinweggestolpert und wenn nun eines nach dem andern ans Licht taucht, so bedeutet schon das einen Fortschritt der Wissenschaft, nicht bloß einen besinnlichen Ruhestand. Es handelt sich nicht sowohl um irrtümliche Auffassungen wie sie der Kleinbetrieb mit sich bringt, als um Spaltungen, die in die letzten Tiefen Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften 173 hinabreichen, nämlich in der Verschiedenheit der Individuen wurzeln. Mit andern Worten, es stehen sich wissenschaftliche Dogmen einander gegenüber, und sollte auch deren Kampf selbst unentschieden bleiben, immerhin würden sich in ihm die Begriffe klären. (Schuchardt 1925: 3) Dieses Zitat belegt, warum Hugo Schuchardt in der Forschung gerne unter der Bezeichnung Individualist, Non-Konformist, ja sogar als „franctireur“ 75 in der Riege der Sprachforscher gehandelt wird. Die Vielseitigkeit im Werk Schuchardts macht eine Zuordnung zu einer bestimmten sprachwissenschaftlichen Schule unmöglich, zumal sich Schuchardt selbst gegen diesen Begriff in seiner zeitgenössischen Verwendung vehement ausgesprochen hatte. Die Bezeichnung ‚Schule‘ dürfe keinesfalls verstanden werden als Etikett der Homogenisierung. Die Vorstellung, eine Zuordnung zu einer bestimmten ‚Schule‘ impliziere, das Denken des Lehrers werde unhinterfragt übernommen und auf die eigene Forschung übertragen, war Schuchardt verhasst (Swiggers 2000: 286/ 287). Wissenschaft konnte für ihn nur in einem stetigen „Aneinanderreiben der geistigen Individuen“ vollzogen werden (Schuchardt ²1928: 408) 76 - die eigene Persönlichkeit komme auch im wissenschaftlichen Tun zum Tragen und sei dort ein unerlässlicher Motor der Produktivität. 77 Schuchardts Vorstellung von wissenschaftlichem Fortschritt als ein ständiges Weiterdenken in der intensiven Diskussion verstand Spezialisierung und Aus- 75 Swiggers wählt diese Bezeichnung in seinem 2000 erschienenen Artikel über Hugo Schuchardt, in dem er vor allem die Vielseitigkeit des Sprachforschers betont. Swiggers bezeichnet den zitierten Artikel Schuchardts als dessen Manifest, in dem Schuchardt sozusagen testamentartig seine Ideen und seine Konzeption von Sprachforschung dargelegt habe. Vgl. hierzu Swiggers 2000: 269ff. In eine ähnliche Richtung geht die Beschreibung Schuchardts bei Arens 1969: 362ff. Vgl. ebenfalls zum Individualismus Schuchardts Spitzer 1930. Auch Elise Richter zeichnet dieses Bild: „Es war Schuchardt nicht gegeben, neben hundert anderen das gleiche Feld zu pflügen.“ (Richter 1928: 237) 76 So wendet sich Schuchardt zwar gegen die Ideen der Junggrammatiker, bewertet die Auseinandersetzung mit diesen aber für das Fortkommen der Sprachwissenschaft als begrüßenswert (vgl. Schuchardt 1885: 38). Deren Fokussierung auf allgemeine Prinzipien und die Ausnahmslosigkeit ihres Gesetzesbegriffs seien ein willkommener Anlass über das Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem nachzudenken (Schuchardt 1885: 38/ 39). Schuchardt würde in einem Gespräch mit Ludwig Jäger wohl dessen Hypothese widersprechen, das junggrammatische Prinzip habe zu einem „Umschwung in der Geschichte der Sprachwissenschaft“ geführt (Schuchardt 1885: 33) und auf die Traditionslinien hinweisen, die sich in der Folge um Ascoli oder ihn selbst in der Sprachwissenschaft gebildet hätten (vgl. Schuchardt 1885: 34). 77 In diesem Sinne sprach Schuchardt sich dezidiert dafür aus, dass dem „kühlen Panzer der Objektivität“ in der Wissenschaft durchaus auch ein „warmer Hauch von Subjektivität“ beigesellt werden dürfe, der den Forscher verständlicher mache. So sei es doch oft die Intuition, die die Gedankengänge des Anderen zugänglich mache und so zu einem Weiterdenken und Schärfen von Theorien beitragen könne (Schuchardt 1925: 7/ 8). Natur oder Geist? 174 differenzierung als notwendige Komponenten der Forschung. Swiggers interpretiert diese Konzeption einserseits als Konsequenz des Sprachbegriffs Schuchardts: jegliche Sprache entwickle sich innerhalb einer bestimmten Sprachgemeinschaft in Abhängigkeit von deren Bedürfnissen und kommunikativen Bedürfnissen (Swiggers 2000: 297). Dies trage unweigerlich zu einer gewissen Regelmäßigkeit in der Sprachverwendung dieser Gruppe bei. 78 Andererseits ist diese Konzeption auch als Folge der mit dieser sozialen Vorstellung von Sprache in Verbindung stehenden Idee zu sehen, Sprache entwickle sich stets als eine Mischform zwischen verschiedenen Varietäten einer Sprache wie aber auch anderen Sprachen (Relation zwischen Erb- und Lehngut). Der Kontakt von Individuen innerhalb einer Gruppe ist als essentielles Element des Schuchardtschen Denkens zu verstehen und durchdringt auf diese Weise nicht nur seine Forschung, sondern auch seine Konzeption von Wissenschaft und Sprachforschung insbesondere. Entschieden äußerte sich Schuchardt auch in der Frage nach der Trennung der Philologie als eigener Disziplin von der Sprachwissenschaft (Schuchardt 1925: 4). Erstere habe in ihrer Begriffsbestimmung an Schärfe verloren und sei zur „Attrape eines Schatzkästleins geworden, das die mannigfachsten und meist angenehme Überraschungen in sich schließt“ (Schuchardt 1925: 4). Allerdings ist in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam zu machen, dass Schuchardt bereits von einem Philologiebegriff ausgeht, der lediglich den Bezugsrahmen für sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung der einzelnen Fächer bildete und selbst wenig Eigenwert lieferte. 79 Gegenüberstehen sich Sprach- und Literaturwissenschaft, die Kulturwissenschaft wird zwar erwähnt, taucht dann aber in der Argumentation überhaupt nicht mehr auf. Bestimmt werden beide als eigenständige Disziplinen, die in ihrer Wechselwirkung zueinander jeweils als Hilfswissenschaft der anderen gefasst werden (Schuchardt 1885: 37). Philologie wird so bei Schuchardt zu einem reinen Etikett, unter dem Sprach- und Literaturwissenschaft verklammert sind. Eine Differenzierung hinsichtlich einer Textphilologie, wie sie in der Konzeption bei Adolf Tobler auftreten wird, oder auch als reine Editionsphilologie, wird nicht in Erwägung gezogen. 80 Schuchardts Abneigung gegen den Begriff der 78 Vgl. Schuchardt 1928: 154f. 79 Auf diesen Umstand macht bereits Stempel 1988: 52 aufmerksam. 80 Diesen Gedanken vermisst man auch in der sonst sehr differenzierten Sichtweise Stempels 1988 auf das Erbe der Romanistik. Erstaunlich ist, dass Stempel sich in keiner Weise über die mögliche Konzeption der Philologie als Text- oder Editionswissenschaft äußert. Möglicherweise liegt diese Verkürzung im Begriff der Philologie mit der Fokussierung auf den Einheitsbegriff begründet - hier ist Stempel zuzustimmen, wenn er hinsichtlich einer angenommenen Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft unter dem Etikett der Philologie von einer semantischen Entleerung des Begriffs ausgeht und diesen in der Tat lediglich als Handlungsrahmen für verschie- Die Zersplitterung der Sprachwissenschaften 175 Philologie in Anwendung auf sprachwissenschaftliche Forschung ist wohl vor allem auch der Tatsache geschuldet, dass Schuchardt den Kanon der neuphilologischen Universitätsfächer vor Augen hat, der die von Schuchardt kritisierte Einheit von Sprach- und Literaturwissenschaft postuliert. Besonders heftig war seine Abneigung gegen die Klassische Philologie, da diese, so Schuchardt, einer wissenschaftlichen Methode entbehre. So beschreibt Elise Richter 1928 in ihrem Nachruf auf Hugo Schuchardt, dieser habe die Klassische Philologie als „Rostfleck“ im wissenschaftlichen System empfunden, da sie keine organische Einheit darstelle (Richter 1928: 240). Hier wird ein Diskursstrang wirksam, der sich bereits in den Konzeptionen Wolfs und Boeckhs in ihrem Legitimationsbemühen um die Philologie als autonome Wissenschaft manifestierte und der dann besonders in den Schriften Schleichers die Abgrenzung zwischen Philologie und Sprachwissenschaft argumentativ strukturierte: das Postulieren einer Methode, die aus den Naturwissenschaften transferiert wird. Im Zitat aus Richters Nachruf wird diese Argumentation noch einmal besonders deutlich. Auch verweist Schuchardt an dieser Stelle implizit darauf, dass die Romanische Philologie, vermutlich über die Beeinflussung durch die Sprachwissenschaft, zumindest Teile einer solchen Methode inkorporiert habe. Eindeutig steht und fällt die Legitimation einer Wissenschaft hier auch mit der Methodendebatte - der Anspruch auf kulturelle und historische Aufklärung wie auch auf gesellschaftliche Relevanz taucht nicht auf: Im ganzen bin ich stolzer darauf, romanischer, als klassischer Philologe zu sein. Die Hauptsache in der Wissenschaft ist Methode, und die Methode ist am meisten ausgebildet in den Naturwissenschaften, so daß ich das Studium dieser unbedingt über das der Klassischen Philologie stelle. Die klassische Philologie überhaupt ist ein Rostfleck in unserem ganzen, wissenschaftlichen System: sie stellt keine organische Einheit dar, sondern ist ein Konglomerat von allen nicht prinzipiell, sondern nur zufällig zusammenhängenden Gegenständen. Prof. Leskien und ich verwahrten uns daher auch neulich gegen die Betitlung ,Philologen‘ bei Tisch, uns ist die Sprache die Hauptsache, die Literatur Nebensache; und als Sprachwissenschaftler gehören wir zu den Naturwissenschaftlern. (Schuchardt 1870; zit nach Richter 1928: 240/ 241) Bekanntermaßen hat sich Schuchardt öffentlich 1885 mit seiner Schrift „Über die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker.“ von dieser Kategorisierung wieder verabschiedet, zu starr und rigoros waren die Prinzipien der Juggrammatiker dem Verfechter des flexiblen Denkens geworden. 81 Schuchardt definierte Sprache als soziales Phänomen, ihn interessierte die dene Forschungsaktivitäten definiert (Stempel 1988: 52ff.). Vgl. zu einer Auseinandersetzung mit Editions- und Textwissenschaft im Begriff der Philologie hingegen beispielsweise Gleßgen/ Lebsanft 1997: 1-14. 81 Richter 1928: 241 datiert diesen Sinneswandel bereits auf das Jahr 1870. Natur oder Geist? 176 Frage nach dem Sprachursprung und den Sprachverwandschaften vor der Folie der Sprachgemeinschaften (Richter 1928: 241/ 242; Swiggers 2000). Dies führte ihn zu einer Bestimmung der romanischen Sprache als Teil einer umfassenden Sprachforschung, die als eine historische Variation von Sprache zu Tage trat: Romanist ist nur ein äußeres Kennzeichen; dem innern Beruf nach ist man Sprachforscher - oder man ist es nicht. Einem Sprachforscher kann es nie fehlen; für eine oder die andere Ecke die ihm versperrt wird, eröffnen sich ihm hundert neue Durchgänge; äußerem oder innerem Drang folgend sattelt er um […], das heißt er wechselt das Pferd, der Sattel bleibt derselbe. (Schuchardt ²1915: 12) Sprachforschung bedeutete für Schuchardt zuerst das Erforschen der Sprache in ihrem Werden, wobei er den Spannungsbogen in der Sprachwissenschaft zwischen den Begriffen S e i n und W e r d e n aufzog, um alle möglichen Facetten der Sprachbetrachtung integrieren zu können (Schuchardt 1885: 6f.). So lässt sich Sprache deskriptiv, synchron, diachron, aus metachronischer Perspektive und genetisch beschreiben, allerdings herrscht hier eine klare Hierarchie: die genetische Sprachbetrachtung wird allen anderen übergeordnet, da diese sich als das Sein im Sinne von einem „unendlich kleine[n] Werden“ dem „ Werden“ unterordnen (Schuchardt 1885: 6). 82 Mit dieser Sprachauffassung, die Sprache als dynamische soziale Größe definiert, verortet Schuchardt die Sprachwissenschaft im wissenschaftlichen Feld als die Disziplin, die zwischen Natur und Geist zu vermitteln habe und damit eine „Doppeltheit“ aufweise (Schuchardt 1925: 6), die sie einer Zuordnung zum Positivismus wie auch dem Idealismus entziehe 83 und ihr Potential unter den anderen Wissenschaften besonders betone. Zersplitterung wird so zur Chance der Sprachwissenschaft ihren Gegenstandsbereich sowohl um seiner selbst willen als auch in seiner Verpflichtung auf die Kulturgeschichte der Gesellschaften zu analysieren und so dessen Erkenntnisraum in seiner Dynamik, Unbegrenztheit und Vielfalt zu beschreiten. Es obliegt in dieser Konzeption dem Sprachforscher sein Forschungsfeld ,Sprache‘ als offenen Raum, seiner Persönlichkeit gemäß, unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden, auf individualistischen Wegen zu beschreiten. 82 Mit dieser Fokussierung auf die energeia reiht sich Schuchardt in die Traditionslinie des Humboldtschen Sprachdenkens ein. Dies belegt beispielsweise Hurch 2009. 83 Schuchardt verweist in diesem Zusammenhang auf die Tendenz seiner Zeit, wissenschaftliche Disziplinen entweder dem einen oder dem anderen Pol zuzuordnen (Schuchardt 1925: 3). 5 Die Diskursformationen der Neuphilologien: Zwischen (Kultur)Pädagogik und Wissenschaft Die Diskursformationen der N euphilologien Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Klassische Philologie nicht nur zum „Leitfach des gymnasialen Unterrichts“ (Kopp/ Wegmann 1987: 128), sondern auch zum Leitbild einer modernen Wissenschaft überhaupt entwickelt (Stierle 1979: 260). 1 So stehen die Neuphilologien bei ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert einer doppelten Herausforderung gegenüber: Sie müssen einerseits zunächst ihren Forschungsgegenstand, die neueren Sprachen und Literaturen, legitimieren und sich andererseits gegenüber der etablierten Konkurrenzdisziplin ‚Klassische Philologie‘ abgrenzen. Auffällig ist, dass dabei die Legitimation des Gegenstandes, nicht zuletzt dank der konzeptionellen Öffnung der Philologie durch August Boeckh, zu großen Teilen über eine Adaption der bereits bekannten und autorisierten Argumentationsmuster läuft. Hier wird der ethische Aspekt der Beschäftigung mit normativen Texten in den Vordergrund gerückt und das immense Bildungspotential, das diesen innewohnt und zur Verbesserung der Individuen beiträgt, betont. Im Zentrum der Überlegungen steht dabei die Vermittlung zwischen Philosophie, Sprache und Historie. Die damit verbundene Wende in der Hermeneutik hat aus der Philologie eine Verstehenswissenschaft gemacht, die Texte nunmehr „konstruiert“, das erkennende Subjekt als Forscherpersönlichkeit hat durch seine Verpflichtung auf die Methode eine gestärkte Position erhalten. Sprache dient als ein Mittel zur Erkenntnis, philologische Forschung versteht sich als ein Partizipationsangebot an die Gesellschaft. Durch die Verpflichtung der Philologie auf den philosophischen Bildungsauftrag konstituieren sich die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit den modernen Sprachen und Literaturen beschäftigen, zunächst noch in der Tradition einer Universalphilologie August Boeckhs, eine ethische Auffassung der Philologie als Verstehenswissenschaft vertrat und eine Mittlerposition zwischen Geschichte und Philosophie einnahm. Es wäre vor dieser Folie erwartbar, dass sich auch die Neuphilologien gänzlich in diesen Kontext einer ethischen Verstehenswissenschaft einschreiben. Doch allein die Tatsache, dass bereits die Unterscheidung zwischen Alt- und Neuphilologie als zwei egalitäre Wissenschaften für erstere teilweise zu einem Stein des Anstoßes wird, die daraus resultierende Konkurrenzsituation zwischen den beiden Philologien zunehmend stärkeren Profilierungsdruck auf die Neuphilologien ausübt und letztlich die Not- 1 Als Kulminationspunkt der Karriere der Philologie nennen Kopp/ Wegmann die Gründung der Berliner Universität 1810 (Kopp/ Wegmann 1987: 128). Die Diskursformationen der Neuphilologien 178 wendigkeit, sich als Moderne Philologien überhaupt legitimieren zu müssen, zeigt, dass Humboldt wohl tatsächlich zu spät kam (Trabant 1990: 59). Die Neuphilologien integrieren sich nur teilweise in das Konzept einer Universalphilologie und gehen getrennte Wege. Zwar gibt es Versuche einer Filiation der Boeckhschen Konzeption, die dem Entwurf der Humboldtschen Vergleichenden Anthropologie inhaltlich am nächsten kam, aber eine Zersplitterung des universellen Konzeptes in einzelne Nationalphilologien scheint unausweichlich. Sie erlebt eine Verengung sowohl im Gegenstandsbereich durch die einzelsprachlich gebundenen Philologien als auch eine Reduktion ihres Bildungsauftrags. Dabei kristallisieren sich zwei großen Linien in den Diskussionen um den Begriff und die Aufgabe der Philologie heraus: Erstens eine kulturpädagogischen Ideen verpflichtete Konzeption, deren Legitimationsverhandlungen sich zunächst aus der Anbindung an schulbezogene Reformideen um die Aufwertung der Realia speisen, ab Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts dann aber zusehends vor dem Hintergrund der Universitätslandschaft und den Bedürfnissen von Studierenden wie Lehrenden ablaufen. Zweitens entsteht eine Diskussion um die Neuphilologie, die getragen wird von deren Anspruch auf Gleichrangigkeit neben den etablierten Wissenschaften. Hier finden sich Kommunikationsprozesse, die sehr viel stärker auf methodische Debatten, die Bildung eines Expertenkreises und die Aufgabe der Bereitstellung wie Kontrolle des Wissensvorrats ausgerichtet sind. Immanent bleibt diesen beiden Richtungen aber als verbindendes Element stets die Idee der Historizität von Sprache, die jeweils als Argumentationsgrundlage vereinnahmt wird, um die eigene Konzeption zu legitimieren. Diese Entwicklungen spiegeln eine doppelte Reduktion des universalphilologischen Ansatzes: Angesichts der fortschreitenden Etablierung der Neuphilologien an den Universitäten stößt dieses Konzept unweigerlich an seine institutionellen und epistemischen Grenzen. Der ausdifferenzierte Fächerkanon sowie die Spezialisierung innerhalb der Disziplinen macht die Vorstellung einer bindenden Kraft im Sinne August Boeckhs obsolet - als Modell für ein Cluster von wissenschaftlichen Disziplinen ist die Boeckhsche Konzeption schlicht ungeeignet. Anders verhält es sich mit den Reduktionen, die die ethischen Elemente dieser Konzeption betreffen. Hier hätte die Philologie durchaus die Chance ergreifen können, sich von den positivistischen Naturwissenschaften abzusetzen und sich auf ihre Verpflichtung zu besinnen, im Sinne einer partizipativen Verstehenswissenschaftzur Bildung der Gesellschaft beizutragen. Diese Reduktionen und Brüche mit der universalphilologischen Tradition zeigen sich bereits sehr früh: In den 1818 erscheinenden Observations sur la langue et la littérature provençales von August Wilhelm Schlegel wird beispielsweise rasch offenkundig, dass der Gedanke an eine Philologie als umfassende Kulturwissenschaft nicht weiterentwickelt werden, sondern in Die Diskursformationen der Neuphilologien 179 eine Landschaft von Nationalphilologien münden wird, die sehr viel kleinteiligere kulturhistorische Projekte beinhalten. Hier spielt einerseits natürlich die Aufwertung des Nationalgedankens eine wichtige Rolle. Getreu dem Herderschen Motto, in Sprache und Dichtung eines Volkes wohne auch sein Charakter und damit seine Bildungsfähigkeit für andere, proklamieren die Neuphilologien für sich, die Kulturen der modernen Völker für alle zugänglich und erfahrbar zu machen. 2 Werner Bahner und Werner Neumann sprechen in diesem Zusammenhang vor allem im Hinblick auf die Germanistik auch von einer oppositionellen Philologie, die die Idee einer Sprachnation unterstütze und sich gezielt gegen den holistischen Entwurf einer Universalphilologie wende. Ziel sei es hier, die Differenz in der Vielfalt aufzuzeigen und so die Eigenheit wie auch den Eigenwert des nationalhistorischen Erbes zu betonen (Bahner/ Neumann 1985: 38-40). Andererseits beeinflussen entscheidende soziopolitische Gründe die identitäre démarche der Neuphilologien: Das Vorbild der sich Anfang des 19. Jahrhunderts konsolidierenden Germanistik, die emphatisch an der Entstehung einer eigenständigen deutschen Nation mitwirken will, hat Auswirkungen auf die neusprachlichen Philologien, die in der Betonung der Bildungskraft der modernen Kulturvölker (v.a. Frankreich, England, teilweise auch Spanien oder die slawischen Länder) ein Pendant zum Bildungsideal der Antike sahen. Dabei erhält das Kriterium der Bildung eines Volkes eine wichtige selektive Aussagekraft. Dessen Schriftkultur und Geschichtlichkeit entscheiden über seine Zugehörigkeit zum neuphilologischen Gegenstandsbereich. Dabei reicht das Spektrum von einem sehr engen Kreis von Kulturvölkern (Deutschland, Frankreich, England) bis zu weiter abgesteckten Programmen, die Kultur am Vorhandensein schriftlicher Quellen festmachen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem die Übertragung der altphilologischen Methode auf die Neuphilologien, die die Wissenschaftlichkeit der Forschung garantieren soll. Zunächst findet sich hier durchaus noch eine Tendenz zu der, vor allem durch August Boeckh entwickelten, Methode, die philosophische Intuition und historisch-empiri-sche Forschung synthetisiert: Aufgrund ihrer Bewahrung des in der hermeneutica generalis geprägten allgemeinen Konzepts der Philologie empfiehlt sich die Klassische Philologie der Zeit schon früh als Vorbild für die Beschäftigung mit den nationalsprachlichen Literaturen. (Danneberg 2007a: 9) Allerdings gibt es auch deutliche Absetzbewegungen, vor allem hinsichtlich des Anteils der philosophischen Spekulation als methodisches Element in der Hermeneutik. Johannes Janota spricht in diesem Zusammenhang in Bezug auf die Germanistik von einer ‚Philologisierung‘ (Janota 1980: 32-42). 2 Vgl. hierzu Janota 1980: 24. Die Diskursformationen der Neuphilologien 180 Gemeint ist damit die Übertragung der Lachmannschen Methode der Textkritik, die Textgeschichte „mittels textkritischer Methode bis zu Stammbäumen der Textzeugen formalisier[te]“ (Janota 1980: 35). Editionsphilologie wird hier zu einer mechanischen Rekonstruktion der Quellen, die Kontrollierbarkeit der Methode steht zum ersten Mal im Skopus der Reflexion. Die Dimension, den Text als Teil des kollektiven Gedächtnisses vergangener Zeiten zu interpretieren und so über die Textinterpretation Teilhabe an der Entwicklung der Geschichte der Menschheit zu haben, ging damit verloren. Textedition reduzierte sich auf einen „Dienst am Autor“ (Janota 1980: 35). Treffender wäre es vielleicht hinsichtlich dieser Entwicklung von einer Formalisierung der Philologie zu sprechen. Mit der Wort- und der Sachphilologie standen sich zwei philologische Konzeptionen, zwei methodische Ansätze und damit zwei verschiedene Perspektiven auf den Gegenstandsbereich Sprache gegenüber, was sich deutlich in dem bereits erwähnten Methodenstreit spiegelte: Einmal tritt die Philologie mit einer grammatisch-kritischen Methode auf, die vor allem mit dem Namen Gottfried Hermann verbunden ist, daneben findet sich eine Philologie, die die philosophisch-empirische Methode August Boeckhs proklamiert. Die mehrheitliche Entscheidung der Modernen Philologien für erstere kann als Entscheidung für eine formalisierte Philologie gewertet werden, deren Wissenschaftskriterium allein auf Messbarkeit der Forschung und ihrer Ergebnisse beruht. Diese Entscheidung ist in Verbindung mit dem neuen Wissenschaftsbegriff zu sehen, der endgültig exakte, empirische Forschung an die Stelle der bisher gültigen Vernunft und Intuition setzt. Wissenschaft wandelte sich von der Erzieherin der Gesellschaft zur Erzieherin des akademischen Nachwuchses: Die deutschen Universitäten leisten Ausgezeichnetes in der Ausbildung von Gelehrten, sie versagten aber in ihrer Aufgabe der geistigen Erziehung der Nation. (Curtius 1950: 332) 3 3 Genau diese Aufgabe einer Erziehung der Gesellschaft lag aber den Konzeptionen der Bildung Humboldts, Schillers, Herders und Boeckhs zugrunde. Diese Reduktion des Aufgabenbereichs wird den Philologen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts wirkten, gerne vorgeworfen: So bedauert der Archäologe Ludwig Curtius (1874-1954) ein gutes Jahrhundert später in diesem Zusammenhang das Versagen der Altphilologie, ihre Versteifung auf die Wortphilologie und die damit verpasste Chance, ein Bildungsideal an den Hochschulen zu verwirklichen, das diesem universellen Bildungsanspruch Rechnung hätte tragen können: „Ich will die Schuld nicht verschweigen, die an der hier nur gestreiften Misere der deutschen Mittelschulen die Professoren der klassischen Philologie selber hatten. Als ich einmal mit einem Heidelberger Kollegen der klassischen Philologie den ganzen Komplex der schwierigen sich auf die Ausbildung und Erziehung der Oberlehrer beziehenden Fragen besprach und ausführte, ich könnte mir keine lebendige moderne Lehrerpersönlichkeit denken, die nicht in neuerer Geistesgeschichte und in den modernen Sozialwissenschaften unterrichtet sei, erhielt ich die mich entsetzende Antwort, eine solche Ausdehnung der Die Diskursformationen der Neuphilologien 181 Diese Formalisierung der Neuphilologien ist aber noch einem anderen Spannungsfeld geschuldet. Lässt sich das Spannungsfeld innerhalb der Philologien umreißen mit der unterschiedlichen Zielsetzung, das hauptsächlich auf einem differenten Bildungsverständnis beruht - Ausbildung des akademischen Nachwuchses versus Erziehung der Gesellschaft -, so zeigt sich, dass die methodische Spaltung von anderer Seite herrührt. Eine Abgrenzung der Modernen Philologien gegenüber der Klassischen Philologie erfolgt vor allen Dingen innerhalb der Methodendiskussionen; hier nähern sich die Neuphilologien gerne einer anderen jungen wissenschaftlichen Disziplin an: der Sprachwissenschaft. So laufen in der Legitimations- und Etablierungsphase der Modernen Philologien mehrere Diskursformationen neben- und ineinander, deren unterschiedliche Zielsetzungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts dafür sorgen werden, dass eine Aufspaltung der ursprünglich angenommenen Einheit von sprach- und literaturwissenschaftlicher Forschung in den Philologien endgültig offenkundig wird. Die Tatsache, dass innerhalb der Modernen Philologien nahezu von Beginn ihrer Entstehung an mehrere Diskurse die Polysemie des Begriffes in den Konzeptionen weiterhin manifestieren und so das Erbe der Diskussionen um die Altphilologie als autonome Wissenschaft in den Neuphilologien als epistemische Schichten in der Architektur der programmatischen Texte weiterführen, wird von der Forschungsliteratur meist nur angerissen. 4 Tatsächlich scheinen die Neuphilologien aber von Anfang an in ihrer Identitätsfindung sehr viel stärker von einem mehrdimensionalen diskursiven Hintergrund geprägt zu sein als beispielsweise die Klassische Philologie, die sich ja, verkürzt gesagt, „nur“ an ihrer ancilla- Position und der Übermacht von Philosophie und Theologie abzuarbeiten hatte. So stehen sie - im Vergleich zu dieser - sehr viel stärker in einem Spannungsfeld mit der Linguistik, was rasch dazu führt, dass sie sich auch hinsichtlich der erstarkenden Naturwissenschaften positionieren müssen, denn deren Methoden und Wissenschaftsverständnis beeinflussen die Modernen Philologien ab den 1850er Jahren enorm. Dies bedeutet, dass die Neuphilologien sich nicht nur mit Wissenschaften auseinanderzusetzen hatten, die sich in ihrer Sicht auf die menschliche Entwicklung wie auch ihren kulturhistorischen Vorstellungen nahestanden, sondern auch mit Wissenschaften, die, anders als die historisch-philosophischen Wissenschaften, in naturgesetzlichen Kausalitäten dachten und ihren Gegenstand vom Einfluss menschlichen Handelns lösten. Es zeigte sich, dass besonders die Sprachforschung in diesem Prozess eine Brückenfunktion zwischen den beiden Kulturen einnahm. Ausbildung der jungen Philologen sei ganz unmöglich, er könne nur Leute brauchen, die täglich acht Stunden im philologischen Seminar ihre Wörterbücher wälzten.“ (Curtius 1950: 332) 4 Vgl. z.B. Stierle 1979; Bahner/ Neumann 1985: 340-343. Die Diskursformationen der Neuphilologien 182 In der Folge geraten die Neuphilologien immer stärker in den Sog der Spannungsfelder, die sie seit ihrer Entstehung begleitet haben. Die Frage nach ihrem Verhältnis zu den Naturwissenschaften, aber auch die Frage nach der Stellung der Sprachwissenschaft wird immer dringlicher. Hier sind die Neuphilologien auf sich selbst zurückgeworfen, kommunikative Prozesse, die ihre Egalität innerhalb der Wissenschaften verhandeln, werden mehr und mehr als Expertendebatten intra muros geführt. Wenn es gilt, sich auf akademischer Ebene in der Identität der eigenen Wissenschaftlichkeit zu verteidigen, spielen kulturpädagogische Anliegen sowie die Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber - ursprüngliches Ziel der Philologie war es ja, diese am Verstehens- und Erkenntnisprozess teilhaben zu lassen - keine wesentliche Rolle mehr. Und doch kommt Philologie nicht umhin, als Ausbilderin der Lehrer weiterhin auf schulische Bedürfnisse, zumindest vordergründig, reagieren zu müssen. Blickt man auf die letzte Phase des 19. Jahrhunderts, das mit Jürgen Osterhammel (Osterhammel 2009: 103) als ein stürmisches Fin de siècle definiert wurde, so wird offenkundig, dass die Neuphilologien sich an den Universitäten zwar als wissenschaftliche Fächer konsolidiert haben, dass aber auf der soziohistorischen Ebene der Bildung Rufe nach tiefgreifenden Reformen laut werden: die Gleichstellung der Abschlüsse, eine praktischere Ausbildung im Sprachunterricht - kurz, die Bedürfnisse der Zeit haben sich dergestalt gewandelt, dass das ethische Anliegen der Philologien vor den Forderungen nach mehr Praxisnähe und Pragmatik im Universitätswie Schulalltag als in diesen nicht mehr integrierbar erscheint. In diesem ethischen Anspruch scheinen die Neuphilologien nun ihrerseits in eine ähnliche Krise zu geraten wie einst die Philosophie ab den 1830er Jahren. Ab den 1870/ 80er Jahren wird die Krise der Neuphilologien in einer Reihe von Traktaten der Reformbewegung endgültig manifest, angesichts derer Adolf Tobler resigniert gegenüber seinem Freund Gaston Paris klagt: Le temps ne sont plus, chez nous, à la philologie romane ni autre. […] On ne voit plus à quoi peut servir cette grammaire historique, cette étude de la poésie du moyen-âge, ce rétablissement des textes corrompus, enfin toutes les belles choses qui ont fait les délices de notre jeunesse. Si l’enseignement universitaire parvenait à faire parler et écrire couremment le français aux jeunes gens, on nous dispenserait du reste. […] Mais comment exiger de nous ce qu’aucun enseignement universitaire pourra jamais donner, et comment ne pourrais-je ne pas m’affliger profondément à la vue de cette diminution du sens historique dans le monde qui nous gouverne? (Tobler 1892, zit. nach Bähler 2009: 130) Tobler bringt in diesem kurzen Auszug aus seinem Brief vom 25.Mai 1892 die Merkmale, die diese Krise bestimmen auf den Punkt. Das Anliegen der Philologie ist für die moderne Welt erstens nicht mehr nachvollziehbar, zweitens nicht mehr „chic“ und drittens gerät der Rückbezug auf die Ge- Die Diskursformationen der Neuphilologien 183 schichte immer mehr in die Kritik (Bähler 2009: 131). Es scheint als habe die empirisch-positivistische Konzeption die Oberhand gewonnen. Eine Rückkehr zum ethischen Programm Boeckhs findet sich nur in einzelnen Versuchen, beispielsweise bei Karl Vossler, der sich 1904 dezidiert gegen den „Afterpositivismus“ wendete (Vossler 1904: 98). Die identitären Prozesse der Philologie des 19. Jahrhunderts spiegeln sich deutlich in den aktuell geführten Diskussionen um die Philologie und nehmen die Polysemie im Begriff der Philologie wieder auf. Die dabei zitierten Schlagworte verweisen auf Diskurse, die während der Entstehung der Philologie im 19. Jahrhundert angelegt wurden und bis heute teilweise wirkmächtig sind. Evoziert werden Wissensrahmen um die Begriffsfelder ‚Methodendiskussion‘, ‚Editionspraxis‘, ‚gesellschaftliche Relevanz‘, ‚Bildungsfähigkeit‘ oder ‚ethische Verstehenswissenschaft‘, um nur einige Beispiele zu nennen, die auch in zeitgenössischenn Publikationen zitiert werden. So wird auf den Verlust der „Traditionen Humboldts“ 5 bei einem gleichzeitigen Trend zur Rephilologisierung hingewiesen (vgl. Schwindt 2009: 11f.), alte und neue Philologie stehen sich erneut gegenüber (Gleßgen/ Lebsanft 1997) und auch die Forderung nach einer Textwissenschaft, die in der Schnittmenge von Linguistik, Literatur- und Kulturwissenschaft sowie einer sozialen Semiotik anzusiedeln wäre (Oesterreicher 2009: 90), zeigt deutlich, dass der identitäre Prozess der Philologie noch nicht abgeschlossen ist, ja vielleicht auch nicht abgeschlossen sein kann, wenn man die Möglichkeit einer „philologischen Autoreflexion im Hier und Jetzt“ (Paulus 2009: 48) nicht ausschließen will und die Aufgabe und das Ziel der philologischen Arbeit im Anschluss an Hans-Jörg Rheinberger definiert als ein Mittel, das imstande ist „dem System insgesamt eine neue Gestalt [zu verleihen] und damit auch seine Vergangenheit neu zu lesen“ (Rheinberger 2006: 11), indem es sämtliche Dimensionen der Philologie als Konzept wieder aktiviert. Philologie wäre dann bestimmt als ein diskursiver Raum, in dem die Gesellschaft sich selbst erfahrbar und - und das ist der zentrale Gedanke einer Philologie in dieser Konzeption - verstehbar wird. Im Nachfolgenden wird der Versuch unternommen, in programmatischen Texten verschiedener Autoren die diskursiven Formationen, die den identitären Prozess der Modernen Philologien im Laufe des 19. Jahrhunderts begleitet haben, nachzuzeichnen und so die verschiedenen, durch epistemische Zäsuren voneinander getrennten Sedimente, die die Architektur dieser Texte bilden, sichtbar und den polysemen Begriff der Philologie nachvollziehbarer zu machen. Zunächst wird eine Reihe von Texten, die noch sehr nahe an der altphilologischen Tradition sind, genauer analysiert werden. Daraufhin folgt eine Auseinandersetzung mit Texten, die besonders mit der (kultur)pädagogischen Verengung der Philologie in Zusammenhang stehen und die Wechselwirkung mit schulischen wie universitä- 5 Diesen beklagt Jürgen Trabant in seinem gleichnamigen Buch 1990. Die Diskursformationen der Neuphilologien 184 ren (Aus)Bildungsbedürfnissen reflektieren. Um die Disparatheit der diskursiven Stränge darzulegen, erfolgt dann eine Analyse programmatischer Äußerungen von Autoren, die über die Wissenschaft ‚Philologie‘ verhandeln und deren Konzeptionen sich an den Kreis der Experten wendet. In Bezug auf die Romanische Philologie werden hier die Pionierarbeiten beleuchtet, die dazu beitrugen, dass sich Friedrich Diez und seine Grammatik in relativ kurzer Zeit - ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts - als Gründungsmythos etablierten. Angesichts dieser beiden großen Linien, die eine gewisse Homogenisierung innerhalb der Auseinandersetzungen imaginieren, sollen aber auch, um der Gefahr einer vorgetäuschten Kontinuität innerhalb der beiden großen Diskussionsräume zu entgehen, Außenseiter beachtet werden, die in ihrer Konzeption zwischen fachwissenschaftlichem und didaktischen Anspruch stehen und sich so jeglicher Kategorisierung entziehen. Ziel ist es auch hier, die Vielstimmigkeit der Forschergemeinschaft nachzuzeichnen und so das Spektrum an Vorstellungen, Hoffnungen und Wünschen, die die ersten Romanisten an ihr Fach herantrugen, für die Gegenwart wieder greifbarer zu machen. 5.1 Im Schatten der Altphilologie: Hermeneutischidealistische Neuphilologie So ausgemacht es auch ist, daß die allgemeinen Grundsätze der Critik, wie sie bey den classischen Sprachen in der höchsten Periode ihrer Bildung angewandt werden, bey ihrer Anwendung auf die alte Deutsche Sprache […] gar manche besondere und eigenthümliche Bestimmung erfordern: so wahr bleibt es doch auf der anderen Seite, daß für das gründliche Studium unserer alten vaterländischen Litteratur nichts ersprießlicher seyn kann, als wenn wir uns die genaue critische Sorgfalt zum Muster nehmen, die man mit so vielem Scharfsinn und unermüdet fortgesetztem Fleiße auf die Schriften der Griechen und der Römer verwandt hat. (Benecke 1810: X) Wollten die Neuphilologien als gleichberechtigte Wissenschaften anerkannt werden, so blieb ihnen zunächst nichts anderes übrig, als „in die Fußtapfen der Klassischen Philologie zu treten“ (Bahner/ Neumann 1985: 339). Für die Konstituierung der Neuphilologien spielen im 19. Jahrhundert das Modell der Altphilologie als „Vorzeigewissenschaft“ sowie die vergleichende Sprachforschung eine ganz entscheidende Rolle. 6 Die Orientierung an der Klassischen Philologie schien den aufstrebenden Neuphilologien die Gewähr für eine ähnliche Karriere zu sein, hatte letztere doch nicht nur wissenschaftlich eine selbständige und geachtete Position erreicht, sondern 6 Zur Vorbildfunktion der Altphilologie, auch im Hinblick auf die Lehrerbildung, vgl. z.B. Stierle 1979; Janota 1980: 32ff; Storost 1984: 96ff.; Bahner/ Neumann 1985: 337-343; Christmann 1976; 1985a: 13; 1985b; Kolk 1994: 58f. Im Schatten der Altphilologie 185 auch im gesellschaftlichen Bereich durch die Übernahme der Lehrerbildung für die Gymnasien „beträchtliches soziales Prestige und […] eine privilegierte Stellung“ (Bahner/ Neumann 1985: 339) erreicht. Vor diesem Hintergrund sind Forderungen nach einer „fortdauernden Rücksicht“ der Neuphilologien auf die Altphilologien nicht erstaunlich (Friedemann 1847: 225; 257) und so finden sich in der Legitimationsphase der Neuphilologien immer wieder programmatische Texte, die das Verhältnis der Altphilologie zu den Philologien der neueren Sprachen und Literaturen behandeln. Dabei gibt es neben kritischeren Stimmen (u.a. August Fuchs, Karl Mager) auch durchweg positive Sichtweisen. Es gibt aber auch Rufe, die eine Aufteilung in klassische und Moderne Philologie schlicht ablehnen und eine Philologiekonzeption vertreten, deren Gegenstandsbereich die Gesamtheit der Völker beinhalten soll. In der Frühphase der Neuphilologien fließen demnach mindestens drei konzeptionelle Diskussionen über Philologie ineinander. Zum einen eine, vor allem von der Germanistik beeinflusste Diskussion, die deutliche Worte für eine wissenschaftliche und soziale Gleichstellung der Neuphilologien findet, sie gleichzeitig von der Klassischen Philologie abgrenzt und mehr die Nähe zur vergleichenden Sprachforschung sucht. Neben dieser die Einzelwissenschaften proklamierenden Konzeption einer Nationalphilologie findet sich zum anderen ein Entwurf, der die Neuphilologien zwar toleriert und auch fördert, aber sie in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Bildung der Altphilologie unterordnet, teilweise auch ein wechselseitiges Verhältnis beider fordert, das die Neuphilologien aber meist in der Rolle einer Hilfswissenschaft der etablierten „großen Schwester“, der Altphilologie, sieht. Ein Vertreter dieser Konzeption ist Friedrich Traugott Friedemann, ein Altphilologe, dem die Uneinigkeit des eigenen Faches Sorge bereitet und der in den aufstrebenden Neuphilologien auch die Gefahr sieht, die Zerstrittenheit unter den Altphilologen zu befördern. 7 Und nicht zuletzt entwickelt sich ein Diskursstrang, über den eine Philologie proklamiert wird, in der für viele wissenschaftliche Zweige Platz ist und über den das Konzept einer allgemeinen Wissenschaft entworfen wird, so wie es beispielsweise der komplexe Philologiebegriff August Boeckhs postulierte (vgl. Christmann 1987: 58). 7 Friedemann beschreibt diese Uneinigkeit exemplarisch an der Schwierigkeit, einen einheitlichen Kanon für die Lektüre im Schulunterricht zu erstellen. Dabei betont Friedemann auch stets, dass das Staatsministerium „die ,classische Bildung‘ als ein Haupt-Ingrediens der Aufgabe für die Gymnasien ausdrücklich und namentlich angeführt [hat]“, was eine Forderung nach einem Primat der Anliegen altphilologischer Provenienz vor den neuphilologischen erkennen lässt (vgl. Friedemann 1844: 418). Die Diskursformationen der Neuphilologien 186 Als Vertreter des letzteren treten Julius Mützell 8 und Karl Friedrich Elze in Erscheinung. Mützell, eigentlich Altphilologe, lässt Raum für die modernen Sprachen und Literaturen, die in seiner Konzeption eine wichtige Rolle spielen, da es ihm um die Erfassung der Erscheinungen des menschlichen Geistes in allen sprachlichen Quellen - so auch beispielsweise in der zeitgenössischen mündlichen Rede - geht (Mützell 1835: 33) und erweist sich hier als wichtige Quelle Elzes. 9 In beiden Texten findet sich als Interdiskurs der Verweis auf die Forderung einer Synthese von Philosophie und Philologie, die sich bis zu Schlegel oder Humboldt als Anfangspunkte und dann weiter zu Boeckh nachverfolgen lässt. Dieser wird größtenteils über die Wiederholung von Argumentationsmustern geleistet. Ein weiterer Interdiskurs, der auf Humboldt und Boeckh zurückgeht, lässt sich in der Ausweitung des Gegenstandes sehen - auch dieser beruht hauptsächlich auf dem Evozieren bekannter argumentativer Strukturen aus der Auseinandersetzung der Altphilologie mit den Kriterien moderner Wissenschaftlichkeit. Damit sind bereits zwei diskursive Schichten innerhalb der Texte zu unterscheiden, die im Bereich der methodischen Diskussion und in der Gegenstandsbestimmung ineinander übergehen. Als eine dritte Schicht lässt sich zudem die Diskussion um den Wissenschaftsbegriff identifizieren, der hier noch ganz im Sinne des Kantschen Systemdenkens geführt wird. Auch die Definition der philologischen Erkenntnis als ein In-Beziehung-Setzen von gnosis und anagnosis verweist auf ein romantisch-idealistisches Verständnis. Nicht zuletzt führt dies zu einer Konzeption der Philologie als Verstehenswissenschaft, deren Zielsetzung ein Partizipationsangebot an die Gesellschaft bietet - zumindest was den Text von Karl Elze betrifft. Mit Mützell und Elze wurden zudem zwei sehr unterschiedliche Vertreter des Konzeptes einer universellen Philologie gewählt. Mützells Abhandlung hat in der Nachfolgezeit innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion um das Konzept der Neuphilologien keine großen Wellen geschlagen. 10 8 Julius Mützell (1807-1862), Curtiusforscher und Hymnologe, Lehrer für Latein, Griechisch, Deutsch und Religion. Gründer der Zeitschrift für das Gymnasial-Wesen (1847). Vgl.: Koessler 2008; Eckstein 2005 [1871]: 328; Kühnast 1862: 641-661. 9 Außerdem sei Mützell, laut seines Nekrologs, ein äußerst hartnäckiger Bekämpfer des „beengenden Glauben an die alten Sprachen als ‚universales Bildungsmittel‘“ (Kühnast 1862: 642) gewesen, weswegen er durchaus im Rahmen der entstehenden Neuphilologien behandelt werden kann. 10 In den Kreisen der „Schulmänner“ war Mützell hingegen bekannt und geachtet. Dort wird er auch durchaus zitiert, vgl. z.B. Weinhold [1850] 1980: 317; 319. Er war Mitglied im Gymnasiallehrerverein und war z.B. beteiligt an der Neufassung des Realschulgesetzes von 1859. Zusätzlich diente seine Zeitschrift für das Gymnasial-Wesen als wichtige Plattform für schulische Fragen (vgl. Kühnast 1862). Sie war der Ort, an dem über inhaltliche, organisatorische und politische Fragen, die die schulische Praxis betrafen, diskutiert werden konnte. Im Unterschied dazu beschränkt sich das nur kurze Zeit zuvor gegründete Archiv für die neueren Sprachen und Literaturen von Ludwig Im Schatten der Altphilologie 187 Auf dem wissenschaftlichen Feld zitiert ihn nur Elze, ansonsten ist er kaum mehr zu finden. Nichtsdestotrotz ist sein Text prototypisch für die bekannten, zu seiner Zeit in den kommunikativen Prozessen, in denen über den Begriff der Philologie verhandelt wird, wirkenden Diskurse, über die Mützells Konzeption von den zeitgenössischen Rezipienten auf der konnektiven Struktur verankert und kategorisiert werden konnte. Elzes Konzeption hingegen taucht noch Jahrzehnte später bei Gustav Gröber auf, es stehen sich folglich ein eher als Höhenkammliteratur innerhalb der Diskursformation ‚Philologie‘ einzuordnender Text, der sich dadurch als stabil, möglicherweise sogar als stabilisierend erweist, und ein Text gegenüber, der, aus heutiger Sicht, eine der weniger gehörten Stimmen innerhalb dieser Diskursformation repräsentiert. 5.1.1 Alles oder nichts? Philologie als „Weltphilologie“ bei Julius Mützell (1807-1862) 1835 beklagt der Berliner Gymnasiallehrer Julius Mützell 11 in seiner Abhandlung Andeutungen über das Wesen und die Berechtigung der Philologie als Wissenschaft, die Philologie sei wie kaum eine zweite Disziplin „Gegenstand allgemeiner Anfeindung“ und selbst in den eigenen Reihen sei sie vor Angriffen nicht sicher (Mützell 1835: 2/ 3). 12 Herrig auf eine nahezu rein inhaltlich-didaktische Auseinandersetzung mit schulischen Belangen und verstand sich so eher als ein Ausbildungsorgan für Lehrer der neueren Sprachen. 11 Mützell ist im Zusammenhang mit der Frühphase der Philologie insofern interessant, als sich in seinem Werk vor allem zwei philosophische Anschauungen begegnen: Die Ideen Immanuel Kants und der Idealismus, wie er von Georg Wilhelm Friedrich Hegel repräsentiert wird. Mützell steht romantisch-idealistischem Gedankengut nahe, so verficht er beispielsweise die Spekulation als Methode, die der Empirie an die Seite zu stellen sei und über diese hinaus verweise, versucht aber bestimmte Aspekte der Kantischen Philosophie, beispielsweise die Forderung nach einem System sowie die Begründung der Wissenschaft auf Empirie, mit einzubinden. In seinem Text spiegelt sich die ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts verstärkt auftretende Skepsis gegenüber der reinen Spekulation und der Wunsch, geisteswissenschaftliche Forschung durch empirische Daten auf eine solide, beweis- und nachvollziehbare Basis zu heben. 12 Philologie ist 1835 von einer konkurrenzfähigen Etablierung als autonomer Wissenschaft noch weit entfernt. So beschreibt Kühnast das Klima in den 1830er Jahren folgendermaßen: „Bekanntlich wurde die varia et multiplex doctrina jenes Ateius, die durch Fr. A. Wolf in Deutschland zu einer geschlossenen Erkenntnis des Alterthums geworden war, durch Böckh damals als eine geschichtlich-wissenschaftliche Erkenntnis des Volkslebens nach seiner theoretischen und practischen Seite hin aufgefaßt und gelehrt. Hatte dann auch Bernhardy bereits dem Alterthum auf Grund der Hypothesis, daß es ein nothwendiges Element der Humanität erschöpft habe, seinen Werth für jede fernere Entwicklung der europäischen Gesittung gefordert und damit das Moment der Erkenntniß der Bildung des Alterthums als specifische, von der Geschichte sie [sic! ] abzweigende Seite der römisch-griechischen Philologie hervorge- Die Diskursformationen der Neuphilologien 188 Mützells Anliegen ist es daher, dem Ruf nach einer wissenschaftlichen Legitimation der Philologie Gehör zu verschaffen und sie als selbständige Wissenschaft zu etablieren. Diese Aufgabe ist keine leichte, muss er doch zunächst zwei anerkannte Autoritäten dekonstruieren und deren Äußerungen widerlegen. 13 Da ist auf der einen Seite Friedrich Hegel, der in seiner Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften die Philologie aus dem Kreis der Wissenschaften herausnimmt: Außerdem, daß die philosophische Encyclopädie 1) bloße Aggregate von Kenntnissen - wie z.B. die Philologie zunächst erscheint, ausschließt, so auch ohnehin 2) solche, welche die bloße Willkühr zu ihrem Grunde haben wie z.B. die Heraldik; Wissenschaften dieser Art sind die d u r c h u n d d u r c h p o s i t i v e n . (Hegel 8 1991 [1830]: §16; Sperrung wie im Original) Diesen prominenten Vorwurf kann Mützell nicht gänzlich entkräften. 14 Er beruft sich auf die Einordnung der Anatomie bei Hegel als „Aggregat von hoben, so fehlte es doch noch damals, wo Mützell‘s Buch erschien, nicht an Solchen, die der formalen Seite der Philologie ein mehr oder minder erhebliches Uebergewicht bei der Bestimmung der Aufgabe dieser Wissenschaft vindicirten.“ (Kühnast 1862: 645/ 646) Ateius meint hier Ateius Philologus Praetextus, einen römischen Grammatiker. Nach Sueton war Ateius nicht nur Grammatiker, sondern auch begnadeter Rhetor, ihn zeichnete also alles aus, was einen guten Lehrer ausmachte (Temporini/ Haase/ Vogt 1991: 3839/ 3840). Als ein weiteres Indiz für die schwierige Etablierung der Philologie als gleichberechtigte wissenschaftliche Disziplin lässt sich eine Bemerkung Friedemanns deuten, als er die bloße Tatsache, dass Carl Kirchner in seinem akademischen Propädeutikum von 1842 Philologie und Sprachwissenschaft als wissenschaftliche Unterabteilungen aufgenommen hatte, als einen Angriff auf das Primat der Altphilologie las. Von Neuphilologie war hier noch nicht einmal die Rede (vgl. Friedemann 1847: 269). 13 Vgl. hierzu auch Lehmann 1964: 89, die in Mützells Schrift einen Beleg dafür sieht, dass die Altertumswissenschaft keineswegs als homogenes Ganzes gesehen werden darf, sondern im Gegenteil als „wenig gefestigt“ zu beschreiben ist. 14 Dieser Vorwurf von Seiten Hegels muss für die Philologen ein harter Schlag gewesen sein. So schreibt August Boeckh 1850: „Hat ein großer Philosoph uns die Schmach angethan, die Philologie ein Aggregat zu nennen, so hat er ihr wohl in manchen Beziehungen nicht Unrecht gethan; statt darob zu zürnen, steht es uns besser zu bewirken, daß dieser Aggregatzustand durch wissenschaftliche behandlung aufgehoben werde.“ (Boeckh 1850: 192) Boeckh löst das Problem etwas eleganter als Mützell, er gibt Missstände zu, verweist aber darauf, daß diese über die Wissenschaft zu lösen sind. Boeckh hat Mützell gegenüber natürlich den Vorteil, dass sein Wort als Nachfolger Hegels auf das Rektorat der Berliner Universität ungleich mehr Gewicht hat. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings die Tatsache, dass Boeckh 15 Jahre nach Mützell auf diesen Angriff eingeht. Boeckh wehrt sich wie dieser gegen Angriffe von Dilettanten und Halbgelehrten, die der Philologie ihre Wissenschaftlichkeit absprechen wollen (vgl. Boeckh 1850: 193/ 194). Er muss aber einen weiteren Vorwurf entkräften, auf den Mützell noch nicht zu spechen kommt. Kann Mützell im Gegensatz zu Boeckh den Vergleich mit den Naturwissenschaften noch positiv verwenden, muss Boeckh sich hier distanzieren und von diesem fragwürdig gewordenen Vorbild Im Schatten der Altphilologie 189 Kenntnissen […] welches als solche den Namen einer Wissenschaft mit Unrecht führe“ (Hegel: Phänomenologie: 3/ 4; zit. nach Mützell 1835: 4). 15 Interdiskursiv lässt er damit die Zeitgenossen wissen, dass Hegel hier wohl im Irrtum sein müsse, denn die Anatomie dürfte 1835 bereits zu den aufstrebenden Naturwissenschaften zählen 16 , der keiner mehr den Titel einer legitimierten wissenschaftlichen Disziplin in Abrede stellen würde. 17 Diese Einwendung kann er somit durch die Berufung auf das enzyklopädische Wissen seiner Zeitgenossen entkräften, das er über die gezielte Evozierung bekannter Wissensrahmen abruft. Doch wie sieht es mit den anderen Vorwürfen aus? Auf der anderen Seite findet sich kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, der Philologie nach wie vor als Handwerk abtut und der Philologie reinen Formalismus vorwirft: Mit Philologen und Mathematikern ist kein heiteres Verhältnis zu gewinnen; das Handwerk der ersten ist zu emendieren, der andern zu bestimmen; da nun am Leben so viele Mängel (mendae) sich finden, und ein jeder ein- abgrenzen. Der Philologie wird durch die Naturwissenschaften ihre Vorrangstellung streitig gemacht: „Ebensowenig wird die Philologie jemals von den Naturwissenschaften beeinträchtigt werden können: denn diese liegen auf einem ganz anderen Felde, und es ist undenkbar, daß die Philologie, welche die Geschichte des Geistes zu ihrer Aufgabe hat, durch die Betrachtung der Natur je könne verdrängt werden, da der Geist nie darauf verzichten wird, sich in seinen eigenen früheren Entwicklungen kennen zu lernen.“ (Boeckh 1850: 192/ 193) Sollte es ein Zufall sein, daß im Februar 1850, Boeckh hält seine Rede im September, August Schleichers Die Sprachen Europas in systematischer Übersicht erschienen war, in dem er die Philologien auf äußerst polemische Weise angriff? Boeckhs Bemerkung kann in diesem Zusammenhang durchaus als Indiz für die Krise der Philologien wie auch den wachsenden Rechtfertigungsdruck ihrer Wissenschaftlichkeit gewertet werden, in die diese seit dem Erstarken der empirischen Wissenschaften geraten waren. 15 Der „Aggregatsvorwurf“ ist allerdings kein neuer, bereits Schlegel wies 1797 diesen, allerdings in anderem Zusammenhang, energisch von sich: „Die Philologie ist kein Aggregat von Wissenschaften, sondern ein Ganzes: aber kein logisches, sondern ein technisches.“ (Schlegel 1981 [1797]: III, 60, Kursivierung wie im Original) Auch hier wieder die Betonung der Selbständigkeit und des Selbstzwecks, allerdings bezeichnet Schlegel Philologie nicht als Wissenschaft, sondern als Kunst. Dies erklärt sich in seiner Konzeption einer philosophischen Philologie, deren Methode tatsächlich als Synthese zwischen philosophischer Spekulation und historisch-empirischer Forschung gedacht ist. Auch diese Methodendebatte taucht immer wieder in den Legitimationsschriften der Philologie auf. Selbst Boeckh entkräftet den „Kunstvorwurf“ nur teilweise: „Die Philologie macht Anspruch darauf, Wissenschaft zu sein; zugleich aber ist sie eine Kunst.“ (Boeckh 1877: 25) Diese Debatte ist allerdings stets im Zusammenhang mit dem Begriff des Verstehens zu sehen, der in der Zeit von 1780 bis ca. 1860 grundlegende strukturelle Veränderungen durchläuft. Vgl. hierzu Kapitel 3.4. 16 Nicht umsonst finden sich in den Schriften Bopps und Grimms, die in diese Zeit fallen, ja dezidierte Verweise auf die Vorbildlichkeit der anatomischen Methode, die zur Legitimation der Übertragung dieser in die Sprachwissenschaft dienen. 17 Vgl. z.B. zur Geschichte der Anatomie Becker 2002. Die Diskursformationen der Neuphilologien 190 zelne Tag nach Tag genug an sich selbst zu bestimmen <hat>, so kommt in den Umgang mit ihnen ein gewisses Unleben, welches aller Mitteilung den Tod bringt. (Brief an Carl Friedrich Zelter vom 18.1.1823) Goethes Verhältnis zur Philologie erweist sich als ein durchaus zwiespältiges. Aber Mützell findet auch hierfür die Schuldigen. An den Pranger will er nämlich nicht Goethe stellen, sondern die eigenen Kollegen, die „gewöhnlichen Philologen - wir möchten mit Wolf sagen, die Philologen der Gilde“, die einen so schlechten Eindruck bei Goethe hinterlassen haben, dass sie dadurch alles Positive - Mützell beruft sich hier auf das gute Verhältnis zwischen Goethe und Wolf - überdeckt haben (Mützell 1835: 6). 18 Und hier kommt er zum eigentlichen Punkt: Es ist sein eigener Berufsstand, der ihm Sorge bereitet, denn er muss gestehen, daß viele, die sich des Namens rühmen, allerdings nicht viel anders thun, wie Handwerker 19 , daß sie in mühseliger Arbeit mit beschränktem Sinne nur für das tägliche Brot oder für leeren vergänglichen Ruhm hinleben. (Mützell 1835: 7) Um diesem misslichen Bild des philologischen Berufsstandes zu begegnen, füllt Mützell im Folgenden das Konzept der Philologie mit positiv konnotierten Kollektivsymbolen wie der Schillerschen Antrittsvorlesung und dessen Bild des philosophischen Kopfes, um den Ablösungsprozess zwischen alter und neuer Wissenschaft wie auch den Wandel der Philologie vom rein handwerklichen Sammeln und Restaurieren hin zu einem erklärenden Verstehen, das den modernen Wissenschaften eigen ist, zu verdeutlichen. Zu dieser Symbolik gesellt sich auch das Humboldtsche Bildungsideal, das den Motor der modernen Wissenschaft ,Philologie‘ bildet. Hier wertet Mützell die alte Vorstellung der Philologie dadurch auf, dass er die negativ konnotierten Wissensrahmen um Gegenstand und Erkenntniswert philologischer Forschung durch positive ersetzt. 20 18 Wenn Goethe sich negativ über den Berufsstand der Philologen äußert, so hat er sicherlich das „alte“ Bild des Wissenschaftlers vor Augen, der Wissen lediglich sammelt und eben nicht nach Erklärung und Erkenntnis im Sinn der modernen Wissenschaft sucht. 19 Die negative Konnotation des Handwerks und die damit verbundene Abwertung der Philologie wurde in den Schriften Schleichers bereits gezeigt - genau von diesem Bild will Mützell sich distanzieren. 20 Das Humboldtsche Bildungsideal durchzieht Mützells Werk wie ein roter Faden. So beruft er sich ebenso auf dieses, wenn er über die Bildungsaufgabe der Schulen 1847 schreibt: „[…] dem Leben muß es überlassen bleiben, sie [die Schüler, die nicht auf einer höheren Bildungsanstalt sind; J.W.] auf einen höheren Standpunkt zu leiten, von dem aus sich die ganze Gegenwart vermittelt erscheinen muß durch den historischen Entwickelungsproceß der Vergangenheit: die Schule kann dazu nur Fingerzeige geben. - Die Andern müssen zwar auch lernen, in den gegebenen Verhältnissen der Gegenwart, und zwar in dem ausgesprochenen Sinne, ihre Stätte zu finden, aber sie werden zugleich auf jene Erkenntniß des Zusammenhangs zwischen Vergangen- Im Schatten der Altphilologie 191 Mützell entwirft im Folgenden einen kurzen Abriss der Entwicklung der Philologie zur Wissenschaft, wobei er die Anfänge dieser Entwicklung in die Zeit des italienischen Humanismus datiert (Mützell 1835: 10/ 11). Klarsichtig macht er als Wurzel allen Übels die Gleichsetzung der Begriffe Erudition und Philologie aus: Dieser Gleichsetzung sei es zu verdanken, dass die Philologie zur reinen ancilla der anerkannten Wissenschaften verkam, und erst im 18. Jahrhundert sei es einigen wenigen großen Wissenschaftlern gelungen, sie aus dieser Lage herauszuführen (Mützell 1835: 16). Interessant ist hierbei, dass Mützell, wie es im Deutschland der 1830er Jahre erwartbar wäre, so gut wie gar nicht auf Gesner, Heyne oder Wolf zu sprechen kommt - letzteren erwähnt er zwar an anderer Stelle, aber er behandelt seine Verdienste um die Philologie als Wissenschaft in Deutschland dann nicht weiter, sondern verweist auf holländische und englische Vorbilder: Richard Bentley (1662-1742) und Tiberius Hemsterhuis (1685- 1766). 21 Zwar lässt Mützell den philologischen Funken dann auch nach Deutschland überspringen, aber immer noch fällt kein Wort über das Göttinger Seminar. 22 Mützell wirft den deutschen Vertretern der Philologie vor, keine zufriedenstellende Konzeption der Philologie als autonomer Wissenschaft zu liefern: heit und Gegenwart als ein Moment in dem historischen Entwickelungsgange ihres Volks, in dem alle Bildung zu begreifen haben, damit sie, falls Kraft und Verhältnisse es gestatten, in diesen Entwickelungsgang einst fördernd eingreifen können.“ (Mützell [1847] 1980: 305) Im Gegensatz zu der völlig gleichberechtigten Behandlung der Völker und ihrer Sprachen in seinem Traktat von 1835 unternimmt Mützell 12 Jahre später allerdings eine Hierarchisierung: An oberster Stelle steht nun die Auseinandersetzung mit der Deutschen Philologie, dann nennt er die Klassische Philologie. Andere Sprachen erwähnt er nicht mehr… 21 Als großer Verehrer Bentleys, dem Begründer der modernen philologischen Textkritik, folgt Mützell diesem vor allem in seiner Haltung während der Querelle: Bentley spricht sich, wie im Folgenden Mützell, nicht für eine Bevorzugung der klassischen Quellen aus. Sein Bestreben galt mehr der präzisen wissenschaftlichen Methodik bei der Texterschließung, wobei Bentley, wie später auch Wolf, das angeborene Gefühl des Philologen (divinatio) für unabdinglich zur Texterschließung durch Konjekturieren hielt. Hemsterhuis sei vor allem aufgrund der Schärfe der Methodenanwendung wichtig für die Entwicklung der Philologie hin zu einer Wissenschaft. Der dritte im Bunde, dem es die Philologie verdankt, zu einer „Wissenschaft der höchsten Kritik“ geworden zu sein, ist schließlich David Ruhnken (1723-1798). Vgl. zur Geschichte der englischen Schule der Philologie besonders Mährlein, 2002: 40-42; weiterhin zu Bentley im Allgemeinen: Pfeiffer 1982: 169ff. 22 Dies ist insofern verwunderlich, da Mützell sowohl in Halle als auch in Berlin studiert hat und zwar kurz nach Wolfs Tod, vor allem aber zu Zeiten Boeckhs. Letzterer findet in seiner Abhandlung gar keine Erwähnung, obwohl die Boeckhsche Definition von Philologie seiner eigenen ja doch nahe kommt. Wolf hingegen geht ihm nicht weit genug. Die Diskursformationen der Neuphilologien 192 Der Ansichten von dem, was man unter Philologie zu verstehen habe, sind in den letzten Jahren besonders drei herrschend gewesen, eine linguistische, eine realistische und eine vermittelnde historische, die jedoch mit Ausnahme der letzten weniger direct vertreten als indirect geltend gemacht worden sind. Allein keine derselben entspricht den Anforderungen, die unsre Zeit an eine Wissenschaft zu stellen gelernt hat. (Mützell 1835: 25) Die linguistische Auffassung von Philologie richte sich zu sehr auf die Sprache als ein grammatikalisch fassbares System, ihr Ziel wäre eine Vermittlung der Kenntnis der jeweiligen Sprache, was der Philologie aber keine Berechtigung als Wissenschaft verschaffen würde. Hier geht Mützell eindeutig mit August Boeckh konform. 23 Auch bei der realistischen Auffassung der Philologie, eine Philologie deren Forschungsgegenstand das „öffentliche, häusliche, künstlerische, wissenschaftliche und religiöse Leben“ (Mützell 1835: 26) bildet, kann von einer selbständigen Wissenschaft nicht die Rede sein, da sie mit diesem Forschungsprogramm wieder nur allzu leicht in die Volks- und Kulturgeschichte integriert werden könnte. Mützells Hauptkriterium für Wissenschaftlichkeit ist die Ausschließlichkeit und Selbständigkeit des Forschungsgegenstandes, weshalb er auch die dritte Auffassung von Philologie, nämlich die vermittelnde historische ebenfalls verwerfen muss. Diese ist „etwa identisch mit derjenigen Wissenschaft […], die Wolf unter dem Namen Wissenschaft des Alterthums entworfen, aber sehr einsichtsvoll nicht Philologie genannt hat […]“ (Mützell 1835: 27). Wolfs Konzeption entspricht nach Mützell in Methode und Gegenstand bereits einer wissenschaftlichen Disziplin, ist aber noch zu sehr „Dienerin der Geschichte, Gehülfin beim Geschichtsstudium und vorzügliches Mittel der Geistesbildung“ (Mützell: 1835: 27), aber sie ist eben keine 23 Vgl. hierzu noch einmal die entsprechende Stelle bei Boeckh, dessen Kritik sehr viel differenzierter ausfällt als bei Mützell, zumal er die Kluft zwischen sprachwissenschaftlicher und philologischer Forschung andeutet, deren konzeptionelle Verschiedenheit Mützell gar nicht in den Blick nimmt: „Es könnte daher angemessen erscheinen, die Philologie für identisch mit dem Sprachstudium zu erklären und zwar nicht beschränkt auf die alten Sprachen […] sondern allgemein für die Sprachen als Polyglottie, wie ich es nennen möchte. […] Wiewohl es etwas Grosses ist, dem geheimen Gang des menschlichen Geistes durch unzählige Völker auch in der Bildung der Sprachen nachzuspüren; wiewohl ferner in dem Begriffe der Sprachwissenschaft ein wirklich Unterscheidendes liegt, indem dieselbe als besondere Wissenschaft aufgestellt werden muss - wenngleich die Sprache durch den Gedanken bedingt ist, und also auch dieser vom Sprachforscher gekannt sein muss, so dass er sich nicht bloss auf dem Gebiete der Sprache halten kann -: so ist es doch wieder factisch falsch […]. Wir nehmen übrigens der Grammatik nicht ihren Werth, nur behaupten wir, dass die Philologie sich nicht bloss mit diesem in gewisser Beziehung nur formalen, sehr oft eine Leerheit an Gedanken zurücklassenden Studium beschäftige, sondern ihr Zweck und Begriff höher liege - dass sie eine Bildung gebe, die den Geist nicht bloss mit grammatischen Ideen, sondern mit jeder Art von Ideen erfüllen müsse, was allein der thatsächlichen Bedeutung der philologischen Studien entspricht.“ (Boeckh 1877: 7) Im Schatten der Altphilologie 193 selbständige Wissenschaft. Philologie könne in ihrer Konzeption bei Wolf nun zwar im Hegelschen Sinn als positive Disziplin verstanden werden, verbinde aber eben gerade nicht empirische Forschung und Spekulation. Ohne die Erfüllung dieses essentiellen Kriteriums bleibt sie aufgrund mangelnder Methodizität Hilfswissenschaft oder reine Liebhaberei. 24 An dieser Stelle präsentiert Mützell nun seine Definition der Philologie: [D]ie Philologie ist die Wissenschaft des inhaltsvollen Wortes, sie ist die Wissenschaft der freien Manifestation des menschlichen Geistes durch Rede und Schrift. (Mützell 1835: 28; Sperrung wie im Original) Somit stünden sich quasi Philologie als „Wissenschaft der freien Manifestation des menschlichen Geistes in Rede und Schrift“ und Geschichtswissenschaft als „Wissenschaft der freien menschlichen That“ (Kühnast 1862: 646) gegenüber, wodurch Mützell eine schärfere Abtrennung der beiden wissenschaftlichen Disziplinen sowie die endgültige Herauslösung der Philologie aus ihrer Hilfsfunktion gelingen könnte, die er ja beispielsweise bei Wolf vermisst. Denn durch diese Definition wird die Philologie [n]icht bloß eine selbständige und unabhängige, sondern auch eine in sich abgeschlossene und vermöge der Einheit der Idee in ihrer Unmittelbarkeit vollendete Wissenschaft, deren Wesen zugleich durch den Begriff sich als nothwendig und unabweisbar darstellt, und die demnach sich selbst letzter Zweck sein darf. (Mützell 1835: 29) Hier finden sich nahezu - auf die Stringenz der Methode und die Falsifizierbarkeit der Ergebnisse kommt Mützell noch zu sprechen - all die Klassifikatoren, die zur Charakterisierung einer modernen Wissenschaft herangezogen werden: Abgeschlossenheit des Systems, Selbständigkeit und die Freiheit des Forschungszwecks. Legitimierend wirken in Mützells Text vor allem die evozierten Wissensrahmen um den Begriff der Wissenschaft. Indem Mützell den Gegenstand der philologischen Forschung weder in die Vergangenheit verlegt noch ausschließlich die Antike fokussiert, zeigt er sich auch hier gegensätzlich zu Wolfs Konzeption. 25 Eine Öffnung des Gegenstandsbereiches, wie ihn jedoch Boeckh vorschlägt, indem er die Gesamtheit der kulturellen Leistungen eines Volkes in den Blick nimmt, die- 24 Der Vorwurf der mangelnden Methodizität wird Wolf auch von Seiten Boeckhs gemacht. 25 Trotzdem sich Mützells Beispiele nahezu ausnahmslos auf die Antike beziehen, schließt er weder die „lebenden Sprachen“ noch die „mündliche Rede“ (Mützell 1835: 33) aus. Die Wahl seiner Beispiele begründet er mit der Tatsache, dass für andere Epochen schlicht die Ergebnisse noch fehlten: „Verbinden sich damit die bedeutenden Resultate der Forschungen auf dem Gebiete der Geschichte classischer Studien im Alterthum und im Mittelalter, welche sich noch gewinnen lassen, so wird es möglich sein, den Bereich der Willkühr auf diesem Felde bis zu einem hohen, erstaunenswerten Grade zu beschränken und fast jedem Jahrhundert, fast jedem Zeitalter, sein Eigenthum auf überzeugende Art zuzuweisen.“ (Mützell 1835: 33) Die Diskursformationen der Neuphilologien 194 sen Schritt geht Mützell noch nicht, er ist noch ganz auf die mit dem logos zusammenhängenden kulturellen Leistungen als Gegenstandsbereich konzentriert. 26 Bei der Beschreibung einer wissenschaftlich begründeten philologischen Methode verbindet Mützell, ganz Kind seiner Zeit, die Kantsche Forderung, Erkenntnis aus empirischen Begriffen zu gewinnen und die Hegelsche Vorstellung der Spekulation, die zu einer Erkenntnis des Erkannten und des Gewussten jenseits des „gesunden Menschenverstandes“ führe (Hegel [1801] 1979). 27 Dabei verhalten sich Empirie und Spekulation folgendermaßen zueinander: Hierbei [bei der Erfassung des inneren geistigen Lebens im Formellen des Wortes; J.W.] wird empirisch aufzufassen sein, wie das Formelle der Sprache im Allgemeinen benutzt ist, um jene vorliegenden Resultate des geistigen Lebens darzustellen. Dazu tritt die Speculation, indem sie auseinandersetzt, wie sich das, was durch die Sprache von der geistigen Thätigkeit und ihren Resultaten manifestirt werden kann, zu dem verhalte, was absolut zu manifestiren sei, die endliche Erscheinung zu dem Ewigen und Göttlichen, was in der Tiefe der Brust schlummert. (Mützell 1835: 35) Hier zeigt sich, dass Mützell einen empirisierten Wissenschaftsbegriff, wie er mit der Entstehung des modernen Wissenschaftsmodells um die Jahrhundertwende verbunden ist, noch nicht internalisiert hat. Mützell sucht eine Synthese aus philosophischer und philologischer Forschung. Er be- 26 Hier findet sich eine deutliche Parallele zur Wortphilologie Hermanns, der ja genau diese Konzentration auf die Sprache und das Wort eingefordert hatte. Es ist schwer zu sagen, ob Mützell Boeckh gehört hat oder nicht. Eine zeitliche Überschneidung gibt es sicherlich. Boeckh war ab 1811 Professor in Berlin, wo Mützell unter anderem studierte. Allerdings wurde seine Vorlesung Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften 1877 erst posthum veröffentlicht. Einige Stellen weisen auf eine sehr starke Ähnlichkeit der Gedankengänge hin, so beispielsweise, wenn Boeckh, wie Mützell, die Eigen- und Selbständigkeit der philologischen Forschung betont: „Allerdings ist noch ein Unterschied zwischen der Erkenntniss des Erkannten in der Philologie selbst und derjenigen, welche ausser ihr in jeder besondern Wissenschaft stattfindet, zwar nicht in der Thätigkeit, aber wohl im Zweck. Der Zweck der Philologie ist rein historisch; sie stellt die Erkenntniss des Erkannten objectiv für sich hin. In jenen einzelnen Wissenschaften dagegen und in der Philosophie selbst erkennt man auch das Erkannte, aber um darauf weiter zu bauen, wie wenn der Naturforscher die Forschungen anderer benutzt um neue Resultate zu erhalten, welche er darauf gründet. Das Letztere geht die Philologie nichts an, ihr Resultat ist das Historische selbst an sich.“ (Boeckh 1877: 18) Vgl. zu Boeckhs Lebenslauf Vetter, Walther: NdB II, 366-367; Stark: AdB II, 770-783. 27 Der Begriff der Spekulation ist bei Mützell durchgängig positiv besetzt, über sie kann das Absolute, die Ideen, die hinter dem Menschenverstand stehen, erkannt werden. Aufgrund Kants Kritik der spekulativen Metaphysik war der Begriff der Spekulation zuvor nahezu ausschließlich negativ konnotiert. Vgl. zum Begriff der Spekulation bei Kant und Hegel z.B. Schnädelbach 1999: 18-27. Im Schatten der Altphilologie 195 weist, dass Philologie sich der Spekulation als Methode bedienen muss, um zu einer darstellenden und vollendeten Wissenschaft zu werden (Mützell 1835: 36). Noch einmal verweist Mützell das Wolfsche Konzept, das er wohl als kontrovers zu seiner hegelianischen Vorstellung interpretiert, in seine Schranken. Ebenfalls angedeutet ist hier aber auch die Vorstellung einer Wissenschaft als zusammenhängendes System, das eben nicht auf einem dynamischen Fortschrittsgedanken beruht: 28 Die Wissenschaft an sich ist […] nicht stückweise werdend und Kenntniß vermittelnd. Sie setzt demnach das Können voraus. Sie lehrt nicht den Weg, den man, um zu ihr zu gelangen, einschlagen und zurücklegen muss. Vermittelung der individuellen, nationellen und temporellen Stellung dessen, der zur Wissenschaft hinzutritt oder sich mit derselben beschäftiget, zum Object der Wissenschaft selbst, kann nie Aufgabe der reinen Wissenschaft sein. (Mützell 1835: 36/ 37) Mützell trennt nun genau die Teile von der Philologie, die Wolf in seiner Encycklopädie als integralen Bestandteil aufgenommen hatte: Daher müssen von der Philologie als Wissenschaft als wesentlich für sich bestehend unterschieden werden: 1) die Kunst, die Bildung eines Andern zum Philologen einzuleiten und vorzubereiten 2) die Kunst, sich selbst zum Philologen zu bilden, und 3) die Kunst als Philolog das Studium der Philologie zu betreiben. (Mützell 1835: 37) Mützell erkennt das Problem, das das Angebot der Partizipation der Gesellschaft, das Wolf über sein Bildungspostulat fokussiert, in sich birgt und streicht kurzerhand die Klassifikatoren der Selektion und auch der Ausbildung, das heißt die didaktischen Anteile, aus seiner Konzeption heraus, um Wissenschaftlichkeit in Form eines geschlossenen Systems garantieren zu können. Hier gerät er allerdings in Widerspruch zu sich selbst, denn die von ihm eingeforderte Verbindung von philosophisch-spekulativer und empirisch-historischer Forschung bedeutet gleichzeitig eine ethische Dimension innerhalb seiner Philologiekonzeption. Der Versuch die verschie- 28 Hültenschmidt 2003: 57 bezeichnet Philologie in der Wolfschen Konzeption einer autonomen Wissenschaft als „wichtigste Gegenspielerin der (Hegelschen) Philosophie“. Stellt man das Wolfsche Konzept dem Konzept Mützells gegenüber, lassen sich die unterschiedlichen philosophischen Überzeugungen gut erkennen. Das Primat der Spekulation bei Mützell ist eindeutig der Philosophie Hegels zuzuordnen. Zwar sind Bemühungen Mützells erkennbar, die Empirie mit einzubinden, aber die Hierarchie bleibt nach wie vor bestehen. Ein umgekehrtes Verhältnis der beiden innerhalb der Philologiekonzeptionen wird sich denn schließlich auch erst im Zuge des Neukantianismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts finden, beispielsweise bei Gustav Gröber, der Fachwissenschaft und Empirie besonders betonen wird (vgl. Hültenschmidt 2003: 65/ 66). Die Diskursformationen der Neuphilologien 196 denen Problemfelder in seiner Konzeption zusammenzuführen und aufzulösen, scheitert an genau diesem Bruch, der Mützells Versuch letztlich inkonsistent macht. Übrig bliebe, kürzte Mützell den Klassifikator Bildung und das damit verbundene Partizipationsangebot heraus, eine reine Textwissenschaft, die Wissensbestände bereitstellt und sichert, ohne jedoch eine Vermittlungsfunktion innezuhaben. Mützells Entwurf einer „Weltphilologie“ 29 bildet ein Zeitzeugnis für die Etablierung der Philologie als autonomer Wissenschaft. In seiner kleinen Abhandlung laufen viele Strömungen und Ideen seiner Zeit zusammen, die die Entstehung der Philologie als autonome Wissenschaft ermöglichen und ihre Konzeption bedingen. Im Widerstreit finden sich hier vor allen die Positionen des deutschen Idealismus (Fichte, Schelling und Hegel) auf der einen Seite, auf der anderen Seite noch immer Elemente der Kantschen Denkweise. Mützell kann sich nicht von den philosophischen Folien lösen und deren Einflüsse dergestalt überwinden, so dass er zu einer Definition von Philologie als Wissenschaft gelangt, die allein die rein programmatisch-pragmatischen Kategorien beinhaltet, die zu einer Legitimation und Etablierung der Philologie als rein äußerliche Kriterien vonnöten sind. Anders als Boeckh kann sich Mützell aber nicht so weit von der Hegelschen Philosophie lösen und das Potential, das in der von ihm angestrebten Verstehenswissenschaft liegt, erkennen. 30 Hier fehlen die Boeckhsche Systematizität sowie dessen methodische Diskussion, in der die Art des philologischen Erkennens als ein dialektisches Verhältnis zwischen gnosis und anagnosis thematisiert wird. 31 Doch trotz der argumentatorischen Schwächen spiegelt Mützells Text die epistemischen Risse, die sich in den kommunikativen Prozessen um den Begriff der Philologie bildeten und die es in der Folge zu klären galt - vor allem im Hinblick auf die Kriterien der Wissenschaftlichkeit wie auch der richtigen Methode. Gut erkennbar sind in seiner Abhandlung die enge Verknüpfung der philosophischen Grundanschauungen seiner Epoche, die die Texte ideengeschichtlich verorten, sowie die konzeptionelle Entwicklung der Philologie, wie dies bereits anhand von Texten aus der im Rah- 29 „Es ist ja nicht mehr von einer classischen Philologie die Rede, nicht mehr von einer Philologie, die in den Umkreis weniger Völker beschränkt ist, sondern von einer Philologie der Welt, welche nicht untergehen wird, so lange ein beseeltes Wort dem Munde des Menschen entströmt.“ (Mützell 1835: 38) 30 Dies ist auch die Kritik Elzes gegenüber Mützell, wenn er diesem vorwirft, auf halbem Wege stehengeblieben zu sein (Elze 1845: 12). Elzes Hauptvorwurf zielt allerdings stärker auf die Beschränkung Mützells auf alles Sprachliche ab, hier fordert Elze, zumindest in der Theorie, eine deutlich über die sprachlichen Quellen hinausgehende Gegenstandserweiterung. 31 Diese Gegenüberstellung findet sich sowohl in der Encyklopädie Boeckhs als auch bei Elze, wenn es um die Diskussion einer Verbindung zwischen philosophischer und historisch-empirischer Methode geht. Im Schatten der Altphilologie 197 men der Altphilologie geführten Diskussion gezeigt wurde. Verstehen bei Mützell entspricht dem Verstehensbegriff bei Boeckh, der den geregelten Vorgang des Verstehens als ein Fremdverstehen definierte, das über die Verbindung von Intuition und historisch-empirischer Forschung möglich ist. So bleibt Philologie auf den Anspruch der Partizipationsmöglichkeit an Verstehens- und Erkenntnisprozessen verpflichtet. 5.1.2 Die universelle Philologie als System bei Karl Friedrich Elze (1821-1889) Karl Friedrich Elze (1821-1889) widmet seine 1845 erschienene Schrift Über Philologie als System seinem akademischen Lehrer August Boeckh und bezweckt damit zweierlei. Einerseits legitimiert er sein Vorhaben durch die Nennung eines berühmten Namens, der zur konnektiven Struktur und damit auch zum System der kollektiven Symbole seiner Zeit gehört. Damit schreibt er sich bereits in eine bestimmte Diskursformation innerhalb der Diskussion um das Konzept ‚Philologie‘ ein und erlaubt seinen Lesern eine rasche Kategorisierung derselben. Elze kann, auf diese Weise legitimiert, innerhalb dieser Formation konstruieren, das heißt, er kann diese um bestimmte Elemente erweitern, gegebenenfalls auch reduzieren. Andererseits erlaubt die Verortung innerhalb der Lehrer-Schüler-Dialektik auch, das große Vorbild und dessen Konzeption kritisch zu hinterfragen und Boeckhs Ansichten zu modifizieren, ohne dessen Ruf zu beschädigen. Noch ein weiterer Hinweis auf den Inhalt und die Absicht seiner Schrift ist bereits implizit durch den Titel gegeben. 32 Der Begriff des Systems verweist auf ein Wissenschaftsideal, das eng mit der Kantschen Philosophie verbunden ist. Kant kann hier ebenfalls erneut als Symbol des kollektiven Systems gelten: Die Evozierung des Kantschen Wissenschaftsbegriff dient an dieser Stelle einer reinen Kategorisierung der Wissenschaft ‚Philologie‘ als eine der modernen Wissenschaft zugehörige Disziplin. Mit der Definition macht Elze aber auch auf einen, in seinen Augen bestehenden Missstand der Philologie als wissenschaftlicher Disziplin aufmerksam. Philologie besitzt noch kein System, zumindest kein System in dem Maße, wie das von einer modernen autonomen Wissenschaft eingefordert wird. 33 Elze klagt daher: Noch immer wird man im täglichen Leben auf die Frage: was Philologie sei? Die uralte Antwort hören, sie sei die gelehrte Beschäftigung mit dem klassischen Alterthume; noch immer verlassen sogar die angehenden Philologen in dieser Ansicht befangen die Schule und wie häufig kehren sie 32 Zur Rolle des Titels und der Widmung vgl. auch Christmann 1987: 58; Wolf 2008: 100. Vgl. zur Ausweitung des Gegenstandsbereichs der Philologie bei Elze Christmann 1987: 58; Kalkhoff 2007: 438/ 439. 33 Vgl. zum Wissenschaftsbegriff im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Kapitel 3.1.1. Die Diskursformationen der Neuphilologien 198 selbst von der Universität zurück, ohne wesentlich Bessern belehrt worden zu sein. Ja sogar namhafte Gelehrte und die über diese Sache geschrieben haben stehen auf keinem höhern Standpuncte. […] In allen diesen Schriften und Abhandlungen findet sich keine Ahnung von einem Systeme der Philologie, wol aber eine solche Menge alter überkommener Vorurtheile, schiefer und verkehrter Ansichten, dass es eine wahrhaft herkulische Arbeit wäre, sie alle der Reihe nach widerlegen zu wollen. (Elze 1845: 1ff.) Elze lässt es sich denn nicht nehmen, zur „Ergötzung des Lesers“ (Elze 1845: 3, Fußnote) einige, seiner Ansicht nach verkehrte Definitionen von Philologie aufzuführen. Ihnen gemeinsam ist die Beschränkung auf das Altertum sowie eine Reduzierung der Philologie auf bloße Textrekonstruktion. Eine systematische Behandlung des Sorgenkindes lasse aber alle „Irrthümer […] von selbst zusammenfallen und in ihrem Nichts versinken.“ (Elze 1845: 4) Wie bereits Julius Mützell verfasst Elze seine Abhandlung vor dem Hintergrund diverser Angriffe auf die Wissenschaftlichkeit der Philologie. Wie dieser muss auch er sich mit dem Vorwurf der rein formalistischen Wortklauberei auseinandersetzen und so arbeitet sich auch Elze in seiner Schrift am Gelehrtenvorbild der Deutschen, Goethe, ab. 34 Anders als Mützell nennt Elze diesen jedoch nur implizit über das „Wort des Dichters“ (Elze 1845: 4). Dies ist ein Beleg, wie verankert und präsent das Werk Goethes im enzyklopädischen Wissen der Zeitgenossen Elzes war. Ein Zitat aus dem Faust genügt, um das Symbol identifizierbar zu machen und den entsprechenden Eintrag im mentalen Lexikon aufzurufen, denn laut Goethe muss sich die Philologie noch immer gefallen lassen, als ein „Kehrichtfass und eine Rumpelkammer“ bezeichnet zu werden, die, so Elze, „den Spott und Tadel nicht nur der Philosophen, sondern aller nach wahrer Wissenschaft strebenden Gelehrten“ (Elze 1845: 4/ 5) auf sich zieht. 35 Sehr 34 Elze zitiert Mützell übrigens als einen der wenigen nach „wahrer Wissenschaft strebenden Gelehrten“ (Elze 1845: 5), den er positiv aus den Irrmeinungen hervorhebt, da er die Bestrebung erkennen lässt, aus der Philologie eine „wahre Wissenschaft“ zu machen. So steht bei Elze genau wie bei Mützell der Begriff der autonomen Wissenschaft im Zentrum ihrer Abhandlung. 35 Elze bezieht sich hier auf Goethes Faust, Teil 1, Nacht. Faust wird durch Wagner in seinem metaphysischen Experiment gestört. Das Gespräch zwischen Lehrer und Famulus lässt sich durchaus als eine Kritik an einer reinen Wortphilologie - wie sie sowohl Mützell als auch Elze ablehnen - lesen, in dem Faust das Ziel der Philologen kritisch beleuchtet: „Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit sind uns ein Buch mit sieben Siegeln. Das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln. Da ist’s denn wahrlich oft ein Jammer! Man läuft euch bei dem ersten Blick davon: Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer und höchstens eine Haupt- und Staatsaktion mit trefflichen pragmatischen Maximen, wie sie den Puppen wohl im Munde ziemen.“(Faust I; Nacht: 575-585) Auch im zweiten Teil enthält sich Goethe nicht der Kritik am Tun der Philologen: „Ich seh‘ die Philologen, sie haben dich so wie sich selbst betrogen. Ganz eigen ist’s mit mythologischer Frau, der Dichter Im Schatten der Altphilologie 199 klar wird hier implizit auf den Aggregatsvorwurf angespielt, den die Philologie noch nicht hinter sich gelassen hat. Sie muss weiterhin unter Beweis stellen, dass es sich bei ihr um ein geordnetes System von Wissen und Erkenntnis handelt, das in klarem, logischem Bezug zueinander steht. Elze sieht als ein grundsätzliches Problem die Begrenzungsversuche, die Philologie auf ein Studium der Altertumswissenschaft reduzieren wollen. Er kritisiert scharf die Konzeption Wolfs, der, so Elze, mit seinem Begriff einer Altertumswissenschaft keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit habe (Elze 1845: 5/ 6). Aber auch Bernhardy und Ast finden nicht seine Zustimmung, zu unwissenschaftlich präsentiert sich nach Elze der Grundriss der Enzyklopädie der Philologie Bernhardys, zu einseitig ist Asts Grundriß auf das Altertum konzentriert. Elze selbst stellt sich gleich zu Beginn seines Traktats in eine bestimmte Tradition: Ihm geht es, wie seinem Lehrer August Boeckh 36 , um eine Vermittlung der beiden Erkenntnisformen gnosis und anagnosis, genauer um eine Vermittlung zwischen philosophischer und philologischer Methode. 37 Elze hat die Konsequenz einer Empirisierung der Wissenschaften erkannt, Wissenschaft verlöre ihren Status als System von Erkenntnissen und bestünde als ein reines Handlungssystem weiter. 38 Diese Gefahr sieht Elze jedoch durch die erstarkenden philologischen Methodendiskussionen seiner Zeit, die darauf abzielen, der Philologie einen ethischen Mehrwert zuzuordnen, als nahezu gebannt. 39 Stärker noch als bei Mützell erscheint bei Elze die Methode als Schlüssel, der der Philologie endgültig die Pforte zum Olymp der autonomen, modernen Wissenschaft aufschließen kann: Bestrebungen dieser Art [d.h. die Konzeption einer wissenschaftlichen philologischen Methode; J.W.], welche theilweise der schönste Erfolg gekrönt hat, indem besonders die einzelnen Disciplinen dadurch von dem geistlosen und geisttödtenden Empirismus gesäubert und nach bestimmten Methoden geregelt worden sind. (Elze 1845: 5) Elze versteht Wissenschaft noch als System, als ein perfektes, abgeschlossenes Ganzes. Der „neue“ dynamische Wissenschaftsbegriff, der Wissenschaft als evolutionäre Forschung begreift, ist bei ihm noch nicht zu erken- bringt sie, wie er’s braucht zur Schau […].“ (Faust II; Klassische Walpurgisnacht: 7426-7429) Vgl. zur Kritik Goethes an der Philologie Mützell 1835: 4-7. 36 Der einzige Punkt, in dem Elze nicht mit seinem Lehrer konform geht, ist das Verhältnis von Form zu Inhalt. Setzt Boeckh die Form an oberste Stelle, so dreht Elze das Verhältnis um, da die Form vom Inhalt abhängig ist (Elze 1845: 12). 37 „Wir müssen aber auch gleich von vornherein bemerken, dass auch zu den geschichtlichen Wissenschaften ohne Ausnahme eine apriorische oder so zu sagen gnostische Erkenntniss hinzutreten muss, wenn sie richtig aufgefasst und behandelt werden sollen […].“ (Elze 1845: 16) 38 Vgl. zu dieser Folge der Empirisierung z.B. Diemer 1968; 1978; Schnädelbach 1983. 39 Vgl. die in den Kapiteln 3.2.2. und 3.4. dargestellte Methodendiskussion bei Boeckh und das Projekt der Schlegelschen Philologie der Philosophie. Die Diskursformationen der Neuphilologien 200 nen. Der ‚Systembegriff‘, es sei an den Titel seines Traktats erinnert, ist bei Elze noch konstituierend für sein Wissenschaftsmodell. 40 Er geht auf dieses Spannungsfeld allerdings nicht weiter ein, der Hinweis auf die Integration einer philosophischen Erkenntnismethode muss genügen, denn „eben dadurch wird sie zur Wissenschaft“ (Elze 1845: 16). Elze arbeitet nach wie vor mit einem Wissenschaftsbegriff, in dem die einzelnen Disziplinen in einen Zusammenhang gebracht werden müssen und der aufgrund dieses inneren Zusammenhangs für seine Erkenntnisse Wahrheitsgehalt postulieren kann. Der Fortschrittsgedanke, der dem dynamisch-evolutionären Wissenschaftsbegriff zugrunde liegt, ist für seine Philologiekonzeption noch nicht bestimmend. 41 Dies impliziert eine weitere Folge: Elze muss das Spannungsfeld der Beeinflussung der Philologie durch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft erst gar nicht thematisieren, denn für ihn ist diese schlicht eine Hilfsdisziplin der allumfassenden Philologie: 42 Unserer langen Rede kurzer Sinn ist also der, dass man Unrecht thut, von einer Sprachw i s s e n s c h a f t (Linguistik ist ein ganz unnöthiges Fremdwort) zu reden, sondern dass die Sprachforschung nur ein Theil einer Wissenschaft ist und zwar ein Theil, der weder grössere noch geringere Be- 40 Vgl. zum Verlust des Systembegriffs als konstituierender Klassifikator einer Wissenschaft Diemer 1978: 231; auch Schnädelbach 1983: 114-117. Dieser wird ersetzt durch die Vorstellung von Wissenschaft als einem dynamisch-evolutionären Handlungsraum. 41 Dies ist insofern erstaunlich, da Elze die Ausweitung des Gegenstandsbereichs mit dem Hinweis auf den „ewige[n] Fortschritt der Geschichte, die wol beziehungsweise, aber nie schlechthin still stehen oder gar rückwärts gehen kann, wo bliebe die immer höher emporklingende Entwickelung der Menschheit? “ begründet (Elze 1845: 8). Geschichte wird bei Elze bereits als dynamisch und evolutionär gedacht. An dieser Stelle würde man daher einen Wissenschaftsbegriff erwarten, der diesen evolutionären Fortschrittsgedanken beinhaltet. Elzes Wissenschaftsbegriff ist aber noch ganz dem enzyklopädischen Systemdenken verhaftet. Auch dies ist, ähnlich der instabilen Argumentation bei Mützell, als ein Indiz zu werten, dass der epistemische Bruch in den philologischen Konzeptionen Anfang des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig vollzogen ist. Rudimente der rationalistischen Denkweise sowie Spuren des Hegelschen Idealismus, wie sie sich beispielsweise in der Aufhebung der Differenz zwischen den Disziplinen bei Elze finden, sowie in seinem Geschichtsbild, das er als ein stetig Werdendes begreift, sind in den programmatischen Schriften gut erkennbar. Zu Elzes hegelianischem Geschichtsbild: „Die Chronologie lehrt uns, welchen Platz irgend eine Offenbarung des menschlichen Geistes in der Zeitfolge der übrigen einnimmt, was gewiss von hoher Bedeutung ist, da die Hervorbringung des Menschengeistes eine zusammenhängende Kette von Ursachen und Wirkungen bilden […].“ (Elze 1845: 24) 42 Auch dieses schwierige Verhältnis von Sprachwissenschaft und Philologie wird im 19. Jahrhundert und darüber hinaus diskutiert werden. Es sei in diesem Zusammenhang an Hugo Schuchardt erinnert, der das Zusammenspiel der beiden Disziplinen 1885 als eine Form der wechselnden Dominanz, je nach Betrachtungsebene, definierte (Schuchardt 1885: 37). Im Schatten der Altphilologie 201 rechtigung und Wichtigkeit hat, als alle andern Fächer der Philologie. (Elze 1845: 35/ 36; Sperrung wie im Original) Genauso mühelos wird in diese universelle Konzeption auch die Archäologie integriert, denn der Unterschied im Gegenstand wird durch das gemeinsame Ziel aufgehoben: […] sie [die Archäologen; J.W.] erforschen die alte Kunst, weil sie ein Ausfluss des menschlichen Geistes ist; […] allein die Absicht, aus welcher er [der Philologe; J.W.] die Schriftdenkmäler der alten erforscht, ist eine weit andere, weit höhere, nämlich aus ihnen den menschlichen Geist kennen zu lernen, dessen Ausflüsse sie sind. Und hier ist das geistige Band zwischen den Disciplinen […]. (Elze 1845: 31) Elze geht aber noch einen ganzen Schritt weiter bei der Aufhebung der Differenz zwischen den einzelnen Disziplinen und der Herstellung des von ihm angedachten inneren Zusammenhangs und integriert die Philosophie in seine Konzeption einer universellen Philologie: 43 […] so dass also die Philosophie […] uns als die letzte und höchste Offenbarung des Menschengeistes und ihre geschichtliche Erforschung und Darstellung uns als der Gipfelpunkt der Philologie erscheint. Denn die Philosophie ist eben nichts anderes, als die lediglich um ihrer selbst willen und zwar mit vollstem Bewusstsein geschehende Offenbarung des menschlichen Geistes. (Elze 1845: 36/ 37) Um diese Aufhebung der Differenz zwischen Philologie und Philosophie nachvollziehen zu können, muss die Definition der Philologie bei Elze genauer betrachtet werden: Reine Empirie kann nur in oberflächlicher Deskription und geistlosem Formalismus enden. Wissenschaftliche Erkenntnis beruht bei Elze dagegen auf der Vermittlung von Spekulation und Theorie, eine Verbindung, die er bereits in der Etymologie des Wortes logos und legein sieht (Elze 1845: 18). Aufgrund dieser Verbindung ist Philologie in der Lage, mehr als nur eine Beschreibung der Geschichte zu liefern, sondern vielmehr „die Vernunft in ihrer Thätigkeit, in ihren Äusserungen“ zu erforschen (Elze 1845: 18). Philologie kann also „Culturgeschichte“ im Sinne einer Geschichte des menschlichen Geistes schreiben und so definiert Elze Philologie entsprechend als „diejenige Wissenschaft, welche die gesammten Offenbarungen des menschlichen Geistes zum Gegenstande hat.“ (Elze 1845: 17) Über die Totalität des Gegenstandes ‚Geist‘ wird die oben gezeigte Aufhebung der Differenz zwischen den beiden Disziplinen möglich; ihre eigene Identität wahren beide über eine Trennung zwischen Natur und Geist. Philologie untersucht, wie obige Definition beinhaltet, die geschichtliche Betrachtung über den Geist. Die geschichtliche Betrachtung 43 Damit reiht sich Elze endgültig in die Tradition einer pluridimensionalen Philologie bzw. Anthropologie Humboldts, Schlegels und Boeckhs ein. Die Diskursformationen der Neuphilologien 202 über die Natur obliegt den Naturwissenschaften, zu denen Elze auch die Mathematik rechnet. Die Philosophie betrachtet sowohl Natur als auch Geist (Elze 1845: 37). So kann Elze den Zusammenhang zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen herstellen und das von ihm angestrebte System entwickeln. Philologie bei Elze umfasst, wie auch bei Boeckh, den Gesamtbereich menschlichen Lebens, Privat- und Staatsleben, also innere und äußere Lebensumstände. Hier gerät Elze denn auch ins Trudeln, denn nun nimmt er doch eine Einschränkung in seiner Gegenstandsbestimmung vor, die Gegenwart kann nicht Teil seiner Konzeption sein, der Gegenstand muss ein geschichtlicher sein, da ja die Philologie zu den geschichtlichen Wissenschaften zählt. Erkenntnis kann in Elzes Vorstellung allein aus dem historischen Lesen und Analysieren der Quellen generiert werden (Elze 1845: 45). Er macht, wie sein Lehrer Boeckh, zur Grundvoraussetzung der Philologie das Vorhandensein einer Bildung (Elze 1845: 45). 44 Bildung wiederum macht Elze ganz klar an dem Vorhandensein einer Schriftkultur fest 45 , und damit steht er nicht allein. Das geschriebene Wort, Schrift, steht auch als zentraler Gegenstand im Sprachdenken Wilhelm von Humboldts, dessen Vorstellungen von der Sinnkonstitution über Sprache sowohl Boeckh als auch Elze geprägt haben dürften. 46 Die Tatsache, dass Elze sich 44 Klar zeigt sich hier die Parallele zum Denken seines Lehrers Boeckh: „Das gesprochene oder geschriebene Wort zu erforschen, ist - wie der Name der Philologie besagt - der ursprünglichste philologische Trieb, dessen Allgemeinheit und Nothwendigkeit auch schon daraus klar ist, weil ohne Mittheilung die Wissenschaft überhaupt und selbst das Leben übel berathen wäre, so dass die Philologie in der Tat eine der ersten Bedingungen des Lebens, ein Element ist, welches in der tiefsten Menschennatur und in der Kette der Kultur als ein ursprüngliches aufgefunden wird. Sie beruht auf einem Grundtrieb gebildeter Völker; φιλοcoφείν kann auch das ungebildete Volk, nicht φιλολογείν.“ (Boeckh 1877: 11/ 12) Natürlich spricht Boeckh von „gesprochenem oder geschriebenem Wort“, aber da Philologie in erster Linie an geschichtliche Quellen gebunden ist, fokussiert die Forschung vor allem die geschriebenen Quellen. 45 Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Elze: „Solche Völker freilich, die keine Geschichte haben, wie etwa die Nordamerikaner, oder bei denen sich keine Offenbarungen des Geistes vorfinden, d.h. die noch auf der untersten Stufe der Bildung stehen, haben keine oder doch so gut wie keine Philologie.“ aus dem philologischen Feld ausschließt (Elze 1845: 45). 46 Vgl. zur zentralen Rolle der Schrift bei Humboldt z.B. Messling 2008: 16ff.: „Schrift ist für Humboldt nicht einfach ein medialer Spiegel, Abbild der Sprache, sondern […] eine ‚Äußerlichkeit, die selbst innerhalb der Innerlichkeit des Ausdrucks am Werk ist - auf eine so ursprüngliche Weise am Werk, dass diese Innerlichkeit niemals rein ist‘ (Wellbery 1993: 342). So denkt Humboldt Schrift als - historisch bedingtes und differierendes - formales Prinzip der sprachlichen Sinnkonstitution. Was ihn interessiert ist in diesem Sinne die Leistung der Schrift im Allgemeinen und der historischen Einzelschriften im Besonderen für die Kognition.“ (Messling 2008: 17/ 18) Humboldt bezeichnet die Texte innerhalb einer Untersuchung des Charakters als „Schlussstein“. In ihnen manifestiert sich auf besondere Weise der einem Volk eigene Charakter in seiner historischen, sozialen und kulturellen Form. Allerdings kommen für eine sol- Im Schatten der Altphilologie 203 in diese Tradition einschreibt, bewirkt eine Inkonsistenz in seiner Abhandlung: Elze hatte sich ja klar gegen ein Primat der Sprache ausgesprochen. Hermeneutik und Kritik als Methode, Elze bezeichnet auch sie als „Hülfsdisciplinen“ (Elze 1845: 39), sollen ja ausdrücklich nicht nur auf Schriftdenkmäler angewendet werden. Hier ergibt sich ein unüberbrückbarer Widerspruch zwischen einem Bildungsbegriff, der an Schriftkultur gekoppelt ist, und einer nicht zu hierarchisierenden Gegenstandsbestimmung. Über den Verweis der Geschichtlichkeit als Grundbedingung philologischer Forschung lässt sich dieser Widerspruch auch nicht zur Gänze auflösen. Elzes Gleichsetzung der Geschichte mit Bildung wirkt als Begründung seiner Einschränkung schwach. Seine Kritik an Mager, der den Philologen als Blumisten beschreibt, der sich im Gegensatz zum Botaniker nur an den „edlen Gewächsen“ erfreut, wird vor diesem Hintergrund relativiert. Elze spricht zwar mehr Völkern Bildung zu als Mager dies tut, sein Philologiekonzept bleibt aber nach wie vor an dieses Kriterium gebunden. Elze ist sich im Klaren darüber, dass sein umfassendes Philologiekonzept und der damit verbundene universelle Gegenstandsbereich „in der That von Niemandem umfasst werden“ kann (Elze 1845: 45) und so trifft er eine „willkürliche“ Einteilung der philologischen Abteilungen, die sich dann doch wieder mit der klassischen Fächerverteilung deckt. Dennoch unterscheidet Elze eine klassische, germanische oder indogermanische, semitische, indische, romanische und slavische Abteilung, die er teilweise in sich noch einmal ausdifferenziert (Elze 1845: 44). Allein die Sprachforschung könne, so Elze, über diese Grenzen hinaus vergleichend forschen. Diese Einteilung ist sicherlich als ein Zugeständnis an den universitären Betrieb und die Bemühungen der Neuphilologien zu werten, sich als gleichberechtigt neben der Klassischen Philologie an den Universitäten zu etablieren. Für Elzes Konzeption einer Philologie als eine pluridimensionale Disziplin, die sich zwischen den Polen Geschichte, Anthropologie, Kultur- und Sprachwissenschaft entfaltet, um nur die wichtigsten Eckpfeiler zu nennen, spielt dieses Zugeständnis jedoch eine nur untergeordnete Rolle. Die Analyse des Traktats von Elze zeigt, dass in seiner Konzeption der Philologie als universelle Philologie mehrere Argumentationsfelder und diskursive Stränge aufeinandertreffen. Elze vertritt bereits eine modernere Ansicht von Philologie, was den Gegenstand betrifft. Hier lässt er sich eindeutig dem Boeckhschen Umfeld zuordnen. Auch die methodische Diskus- che Charakteranalyse nur literarische, philosophische oder wissenschaftliche Texte in Betracht, also auch hier ist das Kriterium der Bildung leitend (Trabant 1990: 58; 74/ 75). So muss man diese, aus heutiger Sicht politisch unkorrekte Äußerung Elzes wohl mit den Augen der Zeitgenossen betrachten, was sie im Zeitalter des Historismus und der Humboldtschen Bildungskonzeption nicht mehr ganz so kurios erscheinen lässt. Vgl. hierzu die Kritik Christmanns an Elze; Christmann 1985a: 18. Die Diskursformationen der Neuphilologien 204 sion, soweit vorhanden, entspricht ganz der Tradition des romantischen Idealismus, nämlich der Idee einer Vermittlung zwischen Philosophie und Philologie sowie dem romantischen Fortschrittsgedanken des geschichtlichen Werdens, in dem der Mensch zu betrachten ist. Seine Trennung von Mensch und Natur verweist aber auf den Rationalismus. Wissenschaftstheoretisch ist Elze allerdings nicht auf der „Höhe“ seiner Zeit. Er lehnt Empirismus als „geisttödtend“ ab und bleibt der enzyklopädischen Systemvorstellung Kants, die den Wissenschaftsbegriff auch bei Wolf und Boeckh prägte, verpflichtet. Es zeigte sich in der Analyse, dass die Architektur dieses Textes durchaus vielschichtig ist. Warum dieses Beharren auf einem in den 1840er Jahren bereits als überholt geltenden Wissenschaftsbegriff? Die Antwort ist in der Aufgabe zu suchen, die Elze der Philologie zuschreibt: Indem also die Philologie Buch führt über die gesammte Thätigkeit und Entwickelung des Menschengeistes, indem sie zu dem Ende das ganze Leben eines jeden einzelnen Volkes geschichtlich wieder auferbaut, zeigt sie nicht nur nach welcher Seite und Richtung hin sich der Geist geoffenbart hat, und welche Stelle es demnach in der allgemeinen Entwickelung der Menschheit einnimmt, sondern sie weist auch nach, welche Bahn der menschliche Geist bisher durchlaufen hat, und belehrt uns über den Standpunkt, den wir selbst einnehmen, so wie über den Weg, den wir fortan einzuschlagen haben. (Elze 1845: 46) In dieser Form nimmt Philologie teil an dem, was in der Philosophie als ars vitae bezeichnet wird. Über die Tradierung von Normen und Werten bietet Philologie der Gesellschaft die Möglichkeit der Partizipation, ihre Methode ist eine kreativ-reproduzierende, die sich ihrer ethischen Verantwortung bewusst ist. Mit einer reinen Wiederherstellung des Urtextes aufgrund empirischer Forschung Lachmannscher Provenienz hat Philologie in dieser Form wenig zu tun. 47 Hier integriert Philologie in ihre Aufgabenstellung dezidiert ein Erkenntnisangebot an die Gesellschaft, das ihrer Bildung und damit ihrer Vervollkommnung hin zu einer idealen Gesellschaft dienen soll. Erkenntnis bei Elze ist daher noch keineswegs an empirisches Faktenwissen gebunden, sondern beinhaltet nach wie vor eine Synthese von gno- 47 Vgl. zur Problematik des Stellenwerts der Lachmannschen Methode Janota 1980: 7- 10; 36-38. Lachmann gilt bereits bei Bursian als Begründer der strengen Methode urkundlicher Kritik (Bursian 1883: 789). Man würde Lachmann allerdings nicht genügen, reduzierte man ihn auf einen dogmatischen Wortphilologen, so schließt Lachmann in seine Editionsmethode das intuitive bzw. divinatorische Moment des Verstehens immerhin teilweise noch mit ein (vgl. hierzu Höppner 2007: 33/ 34; zur Methode Lachmanns auch Timpanaro 1971). Im Schatten der Altphilologie 205 sis und anagnosis, die unter Anwendung strenger wissenschaftlicher Methode, Hermeneutik und Kritik, zustande kommt. 48 5.1.3 Altphilologie und Neuphilologie im Interesse der Schule: Die semantische Verengung eines gesamtheitlichen Konzepts bei Friedrich Traugott Friedemann (1793-1853) Im Gegensatz zu der von Elze und Mützell vertretenen universellen Philologiekonzeption, die eben auch die neueren Sprachen und Literaturen einschließt, lässt sich in der Anfangsphase der Neuphilologien eine Diskussion verzeichnen, die gerade nicht für eine Aufhebung der Differenz zwischen den Disziplinen plädiert, sondern die Konkurrenz zwischen antikem und modernem Bildungsgut thematisiert. Diese Auseinandersetzung wird vor allem von Seiten der Klassischen Philologie geführt, gerade die Altphilologen sähen gerne eine nach wie vor untergeordnete Stellung der Neuphilologien, indem sie deren Abhängigkeit von der „älteren“ Schwester betonen: Wie ehedem die hebräische und die neutestamentarische Exegese Namen und Methode ganz von der griechisch-römischen Philologie entnehmen konnte und mußte […]; so hat auch die moderne Philologie ganz an der Hand der antiken sich emporgerichtet und ebenfalls Namen und Methode sachgemäß von ihr entlehnt, wenn auch, wie natürlich, mit mancherlei Modifikationen. (Friedemann 1847: 255/ 256) Als Garanten für die „Philologisierung“ der neueren Sprachen und Literaturen (Janota 1980: 32; 36) nennt Friedrich Traugott Friedemann (1793-1853) denn auch Karl Lachmann und Moritz Haupt, die durch Übernahme der Editionsmethode der Klassischen Philologie für die Editionen deutscher Texte die Neuphilologien, in diesem Fall die Germanistik, auf Augenhöhe mit der Klassischen Philologie gebracht haben. 49 Friedemann tritt dafür ein, dass die Lehrer der neueren Sprachen und Literaturen 48 Elze bleibt dieser Konzeption der Philologie im Übrigen treu: In seinem Grundriss der englischen Philologie definiert er dieselbe erneut als universell und stellt sich dezidiert in die Traditionslinie August Boeckhs. Die Einteilung in Kantone rechtfertigt das weite Feld (Elze ²1889: 8). Zum Einfluss Boeckhs auf das System der englischen Philologie bei Elze vgl. Haenicke 1979: 47-52, Kalkhoff 2007: 443. 49 „[…] die Lachmannsche Konzeption einer Germanistik als Analogon zur klassischen Philologie behielt die Oberhand. […] Diese Vergleichbarkeit in Gegenstand und Methode wird zum Berechtigungsausweis, der dem neuen Fach als philologischer Disziplin (und nicht nur wegen seiner politischen, patriotisch-nationalen Funktion) Einbruch in den mit eifersüchtigen Strenge bewachten Universitätsbereich verschafft.“ (Janota 1980: 36/ 37) Die Diskursformationen der Neuphilologien 206 […] das altklassische Element möglichst in sich aufnehmen oder wenigstens mit ihm sich befreunden und in Bekanntschaft zu erhalten suchen. (Friedemann 1847: 257) 50 Friedemann setzt sich daraufhin kritisch mit den verschiedenen Benennungsversuchen der Klassischen Philologie auseinander. Altertumswissenschaft muss er ablehnen, denn aufgrund der Tatsache, dass jedes Volk ein Altertum habe - Friedemann folgt hier dem bekannten Topos, ein Volk entwickle sich wie der Mensch in drei Stufen, dem Kindes-, dem Erwachsenen- und schließlich dem Greisenalter - verliere diese Bezeichnung jede Differenzierungskraft (Friedemann 1847: 264). Friedemann plädiert daher für eine Differenzierung nach Nationen, wobei er wie Mager oder Elze die Entscheidung, ob ein Volk „philologiewürdig“ sei, an das Kriterium der Bildung koppelt. Eine Einteilung der Philologie in verschiedene, voneinander klar geschiedene Disziplinen hält er für unentbehrlich, denn sonst ginge der Bezug der Neuphilologie zur Klassischen Philologie verloren. Schließlich verdanke die Moderne Philologie der antiken ihre Entstehung, hatte doch die Altphilologie den Boden gereinigt, geebnet und gelockert (Friedemann 1847: 261). 51 Friedemann fordert nachdrücklich eine Gegenüberstellung von moderner und antiker Philologie. Scharf kritisiert er die Konzeptionen, die für eine Aufhebung dieser Differenz eintreten: Doch scheinen die alten Philologen gar nicht geneigt, auf ihr Besitzthum der allgemeinen Benennung Verzicht zu leisten. Denn was in neuerer und neuester Zeit von ihnen erschien, trägt den einfachen Namen Philologie […]. (Friedemann 1847: 165) Namentlich nennt er dabei Elze und Bernhardy, Friedemann distanziert sich ausdrücklich von einem Projekt der Universalphilologie, das in sich viele wissenschaftliche Disziplinen mit dem Ziel einer ganzheitlichen Erkenntnismethode der Geschichte des menschlichen Geistes integriert. Friedemanns Abhandlung zeigt erneut die Disparatheit, mit der sich die programmatischen Texte dem Thema ‚Philologie‘ nähern. Methodisch vertritt Friedemann zunächst eine klare Linie. Die philologische Methode zielt bei Friedemann auf das Wiederherstellen eines unverfälschten Textes (Friedemann 1847: 256). Dies deutet auf eine Konzeption der Philologie als reiner Editionswissenschaft hin. 52 Auch die Einteilung in Disziplinen deutet 50 Das erinnert an die Forderung Karl Magers, jeder Romanist habe seinen Weg über Rom und Athen zu nehmen (vgl. Mager 1844). 51 Friedemann bricht in puncto Institutionalisierung eine Lanze für die junge Disziplin, allerdings vor allem im Hinblick auf deren durch ihre pädagogische Verantwortung begründete Legitimierung, und fordert nachdrücklich die Einrichtung von spezifisch neuphilologischen Lehrstühlen an den Universitäten (Friedemann 1847: 273). 52 Vgl. hierzu ein Zitat aus dem Vorwort zur Edition der Lieder Walthers von der Vogelweide von Karl Lachmann: „Ueber die kritische behandlung der aufgenommenen lieder weiß ich nichts bedeutendes zu sagen, als was man in den anmerkungen fin- Im Schatten der Altphilologie 207 eine Spezialisierung an, wie sie zuvor, allerdings in schärferer Konturierung, bei Adelbert von Keller zu finden ist. Friedemann scheint ganz klar zu sehen, dass die Eintrittskarte in ein Wissenschaftssystem, das sich an den empirisch forschenden Naturwissenschaften orientiert, nur über die Eingrenzung des Gegenstands als einer Form der Spezialisierung, und einer „methodologischen Verengung“, nämlich der Hinwendung zum Kausalitätsdenken der Naturwissenschaften und deren positivistischem Forschungsmodell erhältlich ist. Friedemann diskutiert nicht mehr eine mögliche Verbindung philosophisch-spekulativer und historisch-empirischer Methode, er erhebt eine rein empirisch-positivistische Forschungsmethode zur Norm philologischer Forschung. Friedemann nennt seine Methode zwar nach wie vor Hermeneutik und Kritik, lässt aber das Problemfeld des Verstehens und der Erkenntnis, das dem Begriff der Hermeneutik eigen ist, völlig außer Acht. Er zitiert Karl Magers berühmte Definition der Philologie, ohne ein Wort über die Konsequenzen zu verlieren, die eine Konzeption der Philologie als Seelenschau impliziert (Friedemann 1847: 266). 53 Es ließe sich nun vermuten, dass Friedemann den romantischidealistischen Sprachbegriff bereits überwunden habe, da beruft er sich auf Hegel und dessen Vorstellung, der Volksgeist lasse sich in der Gesamtheit der kulturellen Leistungen eines Volkes erkennen: Die Sprache wird als Naturthat des in dem Menschen wirkenden Gottesgeistes gefaßt, und Philologie als Wissenschaft der in der Sprache sich offenbarenden Vernunft. (Friedemann 1847: 269) Diese Bemerkung ist aber nicht mehr als eine sinnentleerte Wiederholung bekannter Wissensrahmen um den Begriff der Sprache, denn näher geht Friedemann auf den idealistisch-romantischen Sprachbegriff nicht ein. Sie deutet aber durchaus auf die Linearität der Argumentationsformel, die Philologie als „Verstehenswissenschaft“ im Boeckhschen Sinne definiert, hin. 54 Dafür erscheint bei Friedemann verstärkt eine Verpflichtung der Philologie auf pädagogische Fragen. Im Gegensatz zu Elze und Mützell, obgleich letzterer ebenfalls Schulmann war, führt Friedemann die pädagogische Leistungskraft der Philologie als Legitimationsbasis, sowohl für die Antike als auch die Moderne, ins Feld. Hier baut sich der Diskursstrang auf, der phi- den wird. es sollte mich sehr freuen, wenn die gegenwärtige ausgabe für die echt kritische gelten könnte, die Docen schon 1809 […] von der folgezeit hoffte.“ (Lachmann [1827] 1980: 236) 53 Im Folgenden wird zwar auf Karl Magers Philologiekonzept noch näher eingegangen, aus Verständnisgründen sei seine Definition aber bereits hier zitiert: „P h i l o l o g i e a b e r i s t d i e s e s e i n V o l k o d e r e i n e n K r e i s v o n V ö l k e r n i n d e r A l l s e i t i g k e i t i h r e r E x i s t e n z b i s a u f d e n G r u n d i h r e r S e e l e e r f o r s c h t z u h a b e n . “ (Mager 1844: 8; Sperrung wie im Original) 54 Bei Friedemann ist wissenschaftliche Suche auch durchaus noch auf Wahrheitssuche verpflichtet (Friedemann 1847: 271). Die Diskursformationen der Neuphilologien 208 lologische Erkenntnis und deren Bedeutung in ihrer Wechselwirkung mit den Bedürfnissen der Schule thematisiert. War bei Mützell und Elze die Forderung nach einer ethischen Verantwortung der Philologie gegenüber der ganzen Gesellschaft zu verstehen, so erscheint sie hier bereits verkürzt auf die Ausbildung der Jugend und der Lehrer. 55 Philologie als „Lehrerin der Jugend“ habe vor allem den Schülern gegenüber Verantwortung zu übernehmen. Hier fordert Friedemann eine „philologische Schulwissenschaft“, die sich auf das kommentierte Lesen der Klassiker beschränkt (Friedemann 1847: 272). Auch hier solle sich die Neuphilologie an der Klassischen Philologie orientieren, das heißt im Klartext: Grammatik als logische Propädeutik steht im Mittelpunkt des Sprachunterrichts. Friedemann reiht letztendlich eklektisch einen Gemeinplatz an den anderen, ohne diese in irgendeiner Weise zu hinterfragen. Dies zeigt sich auch darin, dass er kurzerhand Textpassagen aus einer Abhandlung Karl Magers von 1840 56 mit der Absicht zitiert, seine Forderung zu untermauern, obwohl diese gerade nicht von einer gehobenen Stellung der Klassischen Philologie gegenüber der Modernen ausgeht und in der eine sehr gegensätzliche Position vertreten wird (Storost 1984: 96). Friedemanns kurzer Text verweist symptomatisch auf die Krise, in die die Neuphilologien bereits von Beginn ihrer Konstituierung an geraten sind. Sie bewegen sich seit ihrer Entstehung in einem Spannungsfeld zwischen natur-und geisteswissenschaftlicher Forschung. Innerhalb dieses Feldes erweisen sich die Naturwissenschaften als dominierend. Damit verbunden sind eine Neubewertung der Methoden, des Gegenstands und der Zielsetzung wissenschaftlicher Forschung, innerhalb derer die Neuphilologien sich positionieren müssen. Für die Deutsche Philologie zeichnet Johannes Janota in diesem Zusammenhang ein düsteres Bild: Entsprechend hoch war der Preis, der für diese bis heute eindrucksvollen Ergebnisse entrichtet wurde: Abwendung von einem zuvor wesentlich weitergespannten historisch-gesellschaftlichen Denken und Einschränkung auf Erkenntnisgegenstände, die sich analog zu den Naturgesetzen kausalgesetzlich fassen ließen - aus ‚sprachlichen Regeln‘ werden jetzt ‚Sprachgesetze‘. Der nahezu fatalistische Determinismus, der zum „Eckstein“ dieser me- 55 Diese Verkürzung der Legitimationsbasis der Philologie von einer ethischen auf eine rein pädagogische Verantwortung ist ebenfalls als Indiz für die „Krise“ der Philologien zu sehen. Lässt sich Philologie auf eine Wissenschaftlichkeit, die sich ausschließlich über die Messbarkeit ihrer Methoden und Ergebnisse definiert, ein, dann verlöre sie über Wegnahme des philosophisch-spekulativen Moments ihre Legitimation als Wissenschaft des partizipativen Verstehens und verwandelte sich letztendlich zu einer, das Quellenmaterial vorbereitenden Hilfsdisziplin. Vor diesem Hintergrund erscheint eine Anbindung an die Schulen und eine Renaissance des Wolfschen Bildungsauftrags als willkommene Lösung, um diesem Schicksal zu entgehen. 56 Es handelt sich um den Text „Die moderne Philologie und die deutschen Schulen“, erstmals veröffentlicht 1840. Von der Schule zur Universität 209 thodologischen Neuorientierung wurde, ließ Geschichte als Inbegriff menschlichen Handelns nurmehr verzerrt in den Blick kommen. (Janota 1980: 7/ 8) Der epistemische Bruch scheint zum Zeitpunkt des Erscheinens von Friedemanns Artikel zumindest schon in der Deutschen Philologie vollzogen zu sein, obwohl auch die Abhandlung Friedemanns noch Rudimente der Geschichtsauffassung und des Erkenntnisideals der romantisch-idealistischen Hermeneutik enthält - allerdings wirkt das Evozieren der mit dieser verbundenen Wissensrahmen und Diskurse bereits wie das bloße Zitieren eines Habitus, um sich allein durch diesen zu legitimieren. Einer Diskussion dieser aufgerufenen Elemente der philologischen Konzeption als Verstehenswissenschaft weicht Friedemann jedoch aus, indem er unter Berufung auf die Ausbildungsfunktion der Altphilologie den Legitimationsdiskurs beider Philologien - der klassischen wie der modernen - auf pädagogische Aspekte verkürzt. Philologie wird „pädagogisiert“ und im Bereich einer formalisierten Wortphilologie angesiedelt. Dadurch aber gibt Friedemann die Fahrrinne für die Modernen Philologien, die sich in seinen Augen ja an der Altphilologie zu orientieren haben, vor: Um ihrer Verantwortung als (Aus)Bildungswissenschaft gerecht zu werden, bedarf es einer Engführung des ethisch-ästhetischen Konzeptes ‚Philologie‘ auf eine Text- und Editionswissenschaft, deren Ergebnisse im Sinne einer Naturwissenschaft mess- und kontrollierbar sind. Im Folgenden wird zu prüfen sein, ob sich eine ähnliche Prognose auch hinsichtlich der Entwicklung der Romanischen Philologie treffen lässt. 5.2 Von der Schule zur Universität: Romanische Philologie zwischen kulturpädagogischer Verantwortung und fachwissenschaftlichem Anspruch Die Herausbildung der Romanischen Philologie 57 als autonome Wissenschaft wie auch als eigenständiges Universitätsfach findet im 19. Jahrhundert vor verschiedenen diskursiven Folien statt: Verhandlungen um die Legitimation des Gegenstands ‚Neuere Sprachen und Literaturen‘ finden zunächst vor den Begründungen statt, die die Reformbewegungen im Um- 57 Es ist im Grunde noch nahezu anachronistisch, in diesem Zusammenhang von einer Romanischen Philologie als Universitätsfach zu sprechen. Bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts handelte es sich in der Regel um Doppellehrstühle, das heißt die Romanische Philologie war entweder mit der Anglistik oder der Germanistik zusammengespannt. Da die Analysen sich aber auf Texte romanischer Philologen beziehen - Ausnahmen bilden Adelbert von Keller oder Bernhard Schmitz - wird aus pragmatischen Gründen auf diese Differenzierung verzichtet. Die Diskursformationen der Neuphilologien 210 kreis der Schule den Neuphilologien liefern. Innerhalb dieser Diskussion finden sich vor allem romanistische Forscher mit didaktisch-ethischem Anspruch wie beispielsweise der „streitlustige“ Karl Mager, der die Romanische Philologie in ihrem Bildungsanspruch letztlich für seine reformerischen Ideen vereinnahmt. Adelbert von Keller wird sich hingegen aus einer sehr viel fachwissenschaftlicheren Perspektive mit den Reformvorschlägen Karl Magers auseinandersetzen: Er gehört dabei eher in eine Traditionslinie, die sich der Verwissenschaftlichung der Philologie und der Etablierung methodischer Standards verschrieben hat und die die modernen Fremdsprachenphilologien als autonome, moderne Wissenschaften im Olymp der bereits als Wissenschaften anerkannten Universitätsfächer legitimieren will. Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Ideen Karl Magers wird er jedoch im Rahmen des wissenschaftlichpädagogischen Diskurses um die Romanische Philologie behandelt und nicht als Vertreter einer auf fachwissenschaftlichen Argumenten beruhenden Legitimierung. Ab den 1860er Jahren beginnen die neuphilologischen Verhandlungen um den Gegenstand und die Aufgabe ihrer Forschung, sich von der schulischen Legitimationsbasis zu lösen. Weiterhin folgen die Forscher aber, zumindest in Teilen, der Tradition einer der Pädagogik verhafteten Philologie, deren dezidiertes Ziel es ist, neben der Etablierung wissenschaftlicher Standards vor allem das Universitätsfach in seiner Bedeutung für die Lehrerbildung und den Unterricht hervorzuheben. Die Auseinandersetzung verlagert sich nun von schulischen Bedürfnissen auf die universitäre Ebene und nimmt Studierende wie Lehrende in den Blick. Hier scheint es ratsam, zwei verschiedene Aspekte zu betrachten: Zum einen erscheinen Enzyklopädien, die sich als Vademecum für Lehrende und Studierende verstehen und als eine Art Ein- und Hinführung in das Fach zu lesen sind. Sie sind eindeutig auf Bedürfnisse der universitätsdidaktischen Perspektive ausgerichtet; als Vertreter wären beispielsweise Bernhard Schmitz, Fritz Neumann oder Gustav Körting zu nennen. Zum anderen finden sich schlichte Bestandsaufnahmen des Faches, die auf noch zu schließende Lücken verweisen, wie Karl Mahn in seiner Abhandlung verdeutlicht (vgl. hierzu z.B. Kalkhoff 2008). Hermann Breymann reflektiert vor dem Hintergrund einer als Universitätsfach bereits legitimierten Romanischen Philologie deren Rolle für die Lehrerbildung wie für die schulische Praxis und versucht dabei, auch die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts immer dringlicher werdende Debatte um die Notwendigkeit eines stärkeren Praxisbezugs im Fremdsprachenunterricht aus universitärem Blickwinkel mit einzubeziehen. Von der Schule zur Universität 211 5.2.1 Vereinnahmung durch die Schule 5.2.1.1 Karl Wilhelm Eduard Mager (1810-1858): Philologie als „Seelenschau“ im Dienst der Pädagogik Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt sich der Schulmann Karl Wilhelm Eduard Mager (1810-1858) als „rüstiger Vorkämpfer moderner Schulbildung“ (Herrig/ Viehoff 1846: 1), dessen Reformvorschläge die Umbrüche und Neuerungen auf dem Gebiet der Philologie teilweise wiederspiegeln. 58 In seinen Abhandlungen zum modernen Fremdsprachenunterricht und zur Modernen Philologie finden sich die verschiedenen Diskursformationen, die sich um die Philologie als einem polysemen Begriff gebildet haben. Gleichzeitig lässt sich das Gedankengut Magers in den ideengeschichtlichen Hintergrund seiner Zeit (Geschichtsphilosophie Herders und Hegels, Sprachtheorie Humboldts, Beckers und Bildungstheorie Herbarts) einordnen. 59 Auch zeigen seine Schriften bereits deutlich wahrnehmbare Spuren der epistemischen Verschiebungen innerhalb des Philologiewie auch des Wissenschaftsbegriffs. Die Einheit der Philologie als Einheit von Sprach- und Textwissenschaft präsentiert sich als fragiles Gebilde: Mager, obgleich auf die Bildungskraft der antiken Sprachen verweisend, legitimiert die Moderne Philologie selbstbewusst als gleichberechtigt neben der Altphilologie. Maria Selig verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Tatsache, dass spätestens ab diesem Zeitpunkt von einer Einheit im Sinne einer Universalphilologie nicht mehr gesprochen werden könne (Selig 2008: 20). Diese sei im Begriff sich in Einzelfächer auszudifferenzieren, so dass höchstens noch eine neuphilologische im Gegensatz zu einer altphilologischen Einheit postuliert werden könne. Verschieden bewertet werden von den Protagonisten vor diesem Hintergrund der auseinanderdriftenden Einheit ,Philologie‘ denn auch die Absetzbewegungen der historischvergleichen-den Sprachwissenschaft. Ließ sich bei Jakob Grimm eine deutliche Trennung der philologischen von der sprachwissenschaftlichen Disziplin feststellen, so kann Karl Mager als Beispiel eines Philologen gelten, der sich des Unterschieds zwar wohl bewusst ist, die Trennung der beiden Disziplinen aber elegant mit dem Verweis auf die notwendige Wechselwirkung zwischen beiden bei einem gleichzeitigen Dominanzverhältnis von Philologie zu Sprachwissenschaft einebnet. Mager veranschaulicht am Beispiel der Romanischen Philologie die Beziehungen Philologie - Schule, 58 Vgl. zu Magers neuphilologischem Konzept: Christmann 1985; Christmann 1987; Selig 2005; 2008; Selig/ Kalkhoff/ Wolf 2006. Zu Magers Biographie und Leistungen als Herausgeber der Pädagogischen Revue und Schulreformer vgl. Langbein 1858a: 81/ 82; 1858b: 309-388. 59 Ein Beleg zur romantischen Überzeugung Magers findet sich bei Weßler 1969: 33; Christmann 1987: 55 wie auch in Magers Schrift Versuch einer Geschichte und Charakteristik der französischen National-Litteratur von 1834. Die Diskursformationen der Neuphilologien 212 Philologie - Wissenschaft sowie Philologie - Sprachwissenschaft, wobei sich sein humaner, ständeübergreifender Bildungsbegriff und seine Orientierung an den Sprachtheorien Humboldts und Beckers nahezu leitmotivisch durch das Quellenmaterial ziehen. Ebenso darf bei der Lektüre der Magerschen Schriften nicht übersehen werden, dass Mager aus der Perspektive eines Bildungstheoretikers schreibt und argumentiert. Sein Hauptanliegen gilt der Aufwertung des neuphilologischen Lehrerstands und der Gleichstellung der Realgymnasien mit den idealen (humanistischen) Gymnasien. Im Fokus stehen somit bei Mager Aussagen zum Bildungsbegriff auf pädagogisch-didaktischer Ebene und den damit verbundenen Implikationen für den Unterricht in den neueren Sprachen. Aus diesem Grund soll die Analyse auch in einem Zweischritt erfolgen, der sich zunächst dem Verhältnis von Philologie zu Schule, modernem Fremdsprachenunterricht und Bildung widmet, um dann in einem zweiten Schritt das Verhältnis Philologie - Wissenschaft, respektive Philologie - Sprachwissenschaft genauer zu beleuchten. 5.2.1.1.1 Philologie im Auftrag der Bildung Die neuere Musik und die neuere Geschichte machen größere Ansprüche an den, der sie verstehen will: er hat die Einheit in der Vielheit, die Identität in der Differenz zu begreifen. Konnte nun der Grieche als solcher ein ganzer Mensch sein - d.h. ein griechischer Mensch -, so findet sich dagegen das moderne Bewusstsein in seiner particulären, nationellen Abgeschlossenheit inkomplet; es will sich erweitern, ausdehnen, seine natürlichen Schranken vernichten, - freilich nur, um sich darauf wieder freiwillig zu begränzen; denn was existieren will, muß sich beschränken. Dies ist der tiefere Grund, der zum Erlernen fremder Sprachen treibt, alter und neuer, man lernt sie aus demselben Grunde, warum man heiratet: indem man seine Seele verliert, gewinnt man sie und erhält sich reicher zurück. (Mager 1838: 259) Karl Mager entwirft in seinen Schriften weniger eine Konzeption von Philologie als einen Vorschlag zu einer grundlegenden - und für damalige Zeiten durchaus modernen 60 - Reform der Lehrer- und Schulbildung. 61 Da- 60 Es wäre allerdings verfehlt, hinsichtlich des Entwurfs des Magerschen Bildungssystems von einem „revolutionären“ oder „utopischen“ Reformvorschlag zu sprechen, wie Weßler 1969: 82 hervorhebt. Mager präsentiert sein ideales Bildungssystem in mehreren Abhandlungen, die erst in ihrer Gesamtheit einen vollständigen Einblick in Magers Ideal gewähren. Dennoch bleiben Fragen offen; so plädiert Mager vordergründig für ein demokratisches, ständeübergreifendes Wissensverständnis (Mager 1838: 262), ordnet die Bildungsgegenstände in ihrer Qualität dann aber doch wieder hierarchisch an: Die Volksschule vermittelt ein deutsches Volks-, das Realschulwesen ein modern-europäisches, das Gymnasialwesen ein Weltbewusstsein (Mager 1843: 4). Vor dem Hintergrund der romantischen Philosophie, die eine Identitätsfindung und die Vollendung des Individuums durch Alteritätserfahrung proklamierte und zu der Von der Schule zur Universität 213 bei legt er eine Konzeption des modernen Fremdsprachenunterrichts vor, in dessen Mittelpunkt sein modern-europäischer Bildungsbegriff steht, der auf die Kulturtrias Deutschland-Frankreich-England gerichtet ist (vgl. Kalkhoff/ Wolf 2010). Die Beschränkung auf diese Kulturtrias, die sich dann im modernen Fremdsprachenunterricht spiegelt, nimmt Mager allerdings nur für das Realschulwesen vor - hier gilt es allerdings, auch die Oberrealschule und das Realgymnasium mit einzurechnen. 62 Im Rahmen dieser Schulformen soll den Schülern auch das modern-europäische Bewusstsein vermittelt werden. Im Bereich des gymnasialen Unterrichts gilt diese Einschränkung nicht; im Gegenteil, die Hinzunahme der antiken Sprachen und damit die Vermittlung der antiken Kultur führen den Schüler zur Erlangung eines Weltbewusstseins (Mager 1843: 4). Ziel der Bildung müsse jedoch, unabhängig von der jeweiligen schulischen Institution, stets die Humanität, die „Bildung des seelischen und geistigen Menschen zur Menschheit und für die Menschheit“ sein (Mager 1843: 1). Als wesentliche Gegenstände dieser humanen Bildung nennt Mager „die Natur, die Menschheit und Gott“ (Mager 1843: 4). Diese drei Gegenstände werden in seiner Bildungstheorie dann entsprechend dem Fächerkanon zugeordnet, wobei die Natur Aufgabe des naturwissenschaftlich-mathematischen Bereiches ist, die Menschheit dem Komplex Psychologie, Logik, Sprache, Ethnographie, Moral, Geschichte und Staat sowie Literatur zufällt und die Kenntnis Gottes der Religionslehre zugeordnet wird. Betrachtet man den Komplex, der die Kenntnis der Menschheit in sich vereint, so wird mit Blick auf zeitgenössische Curricula klar, dass der Sprachunterricht einen nicht unwesentlichen Anteil an der Vermittlung dieser Kenntnis erhält. 63 Die theoretische Behandlung von sprachtheoretischen Fragen bildet somit zusammen mit der Behandlung der Philologie als fari posse ein essentielles sich Mager bekannte, wirkt diese Abstufung doch wieder wie ein Drei-Klassen- System… 61 Vgl. zu Magers Biographie und schulischer Karriere: Weßler 1969, 11-33; zu seiner Bildungstheorie: Flechsig 1962: 112ff.; Kronen 1968; Weßler 1969: 82f.; Althaus 1985: 11-14. 62 Beide Schulformen entstanden als Reaktion auf die Abschottung der Gymnasien gegenüber der Bildungsschicht der realen Berufe, die die Industrialisierung auf den Plan rief, vgl. zum sozialgeschichtlichen Einfluss der Entwicklung von Schulformen und Lehrplänen Herrlitz 1973. Die Gleichstellung der Abschlüsse erfolgte rechtlich jedoch erst relativ spät: In der Schulkonferenz von 1900 im Berliner und durch den Kieler Erlass vom 26.11.1900 wurde man sich darüber einig, Gymnasium, Realgymnasium und Oberrealschule als egalitär in der Erziehung zur allgemeinen Geistesbildung anzusehen (Merz 2002: 300). 63 Die üblichen Lehr- und Unterrichtspläne zeigen ein deutliches Übergewicht des Sprach- und Literaturunterrichts für Realschulen und Gymnasien. Vgl. hierzu z.B. Weßler 1969: 111-115; des Weiteren zum Schulwesen des 19. Jhs.: Paulsen ³1921: Bd 2; Driesch/ Esterhuis 1961: Bd.II; Christ/ Rang 1985: Bd.III; Jeismann/ Lundgren 1987; Herrlitz/ Hopf/ Tietze ²1998. Die Diskursformationen der Neuphilologien 214 Element in Magers Bildungstheorie (Mager 1843: 5). Philologie bei Mager steht ganz im Auftrag der Pädagogik, ihre Aufgabe ist es, die Kenntnis der Menschheit schriftlich und mündlich darzustellen und so nachvollziehbar zu machen (Mager 1843: 5). Diese Verpflichtung der Philologie auf pädagogische Verantwortung ist nicht neu. Unweigerlich stößt man in Magers Abhandlungen zu Bildung, Fremdsprachenunterricht sowie zum Verhältnis Philologie und Schule immer wieder auf die Philologiekonzeptionen Friedrich Wolfs und August Boeckhs, deren Ideen in Magers Schriften durchschimmern. In der bereits zitierten Stelle aus Magers Abhandlung „Über den Unterricht in fremden Sprachen überhaupt“ von 1838 lässt sich nicht nur die Öffnung der Philologie gegenüber anderen Epochen als der Antike wiederfinden, sondern auch das Bild der unendlichen Approximation Boeckhs sowie dessen Vorstellung einer Universalphilologie. 64 Allerdings erfährt die Idee der Unendlichkeit philologischer Forschung bei Mager eine semantische Verkürzung, die er durch die oben ausgeführte pädagogische Perspektivierung des Aufgabenbereichs der Modernen Philologie begründet. Ebenfalls teilweise aufgelöst wird die Vorstellung der Universalphilologie durch die Beschränkung Magers auf die Kulturtrias. Grundlegend für diese Entscheidung ist Magers Unterscheidung zwischen einer zivilisierten und einer kultivierten Gesellschaft, womit er unter Berufung auf Wilhelm von Humboldt diese erste Beschränkung des Forschungsbereichs der Modernen Philologie rechtfertigt. Mager verknüpft in seinem Entwurf philologische Forschung, Kultur und Bildung unter dem Dach der (kultur)pädagogischen Verantwortung untrennbar miteinander. Magers Philologiebegriff ist daher stets im Zusammenhang mit seinem Bildungsbegriff zu sehen, den er im Rückgriff auf die Sprachtheorie Wilhelm von Humboldts sowie der Geschichtsphilosophie Hegels definiert. Nur vor diesem Hintergrund wird seine Theorie des modernen Fremdsprachenunterrichts und der Rolle der Philologie bei der Reform desselben plausibel. Im Zentrum steht der Geist des Menschen, der sich, so Mager, als elastische, anstellige und produzierende Kraft erweisen müsse, um überhaupt bildungsfähig zu sein (Mager 1838: 261). Wenn diese Voraussetzung zur Bildungsfähigkeit gegeben sei, so könne der Mensch Bildung vor allem aus der Sprache ziehen, da sich hier der Volksgeist, Kultur und Seele - die Gegenstandsbereiche, auf die die Bildung abzuzielen habe - manifestierten (Ebd.): Die Sprache ist der erstgeborene Sohn des Geistes, der sich äußernde, sich manifestierende Geist, und darum legt sie auch Zeugnis vom Geiste ab. (Mager 1838: 266) 64 Diese ist bei Mager allerdings qualitativ nur gegenstandsgebunden und nicht disziplinär zu fassen. Mager begreift Philologie als eigene Disziplin neben der Sprachwissenschaft und bindet eben diese nicht mit in den Umfang der Philologie ein. Von der Schule zur Universität 215 Es ist der Humboldtsche Gedanke, Sprache transportiere die Eigentümlichkeiten einer Nation, der hier wieder auftaucht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Mager eine doppelte Zielführung des Sprachunterrichts in den modernen Fremdsprachen geltend macht: 65 Mager setzt Bildung mit der guten und leichten Beherrschung von Sprache, vornehmlich einer Fremdsprache, gleich (Mager 1838: 261). Vordergründig beherrsche der Mensch eine fremde Sprache, gleichzeitig erwerbe er sich in einer zweiten Dimension allerdings eine tiefergehende Bildung: […] im Hintergrunde der Seele liegt, ob auch unklar, der Gedanke dass, indem man sich eine fremde Sprache aneignet, auch eine fremde Bildung erworben wird. (Mager 1838: 260) Das Erlernen einer Fremdsprache hinterlässt einen unauslöschlichen Abdruck in der Seele eines Individuums - Mager greift hier zwei prominente Gedanken seiner Zeit auf. Zum einen die Idee, die sich bereits bei Wolf findet, über das Erlernen einer Sprache lasse sich Kultur und Geschichte einer Nation in einer Weise erfahrbar machen, dass sie Teil der eigenen Identität werde. Zum anderen die romantische Vorstellung, durch Alteritätserfahrungen, hier verborgen im Bild der Seelenschau des Anderen, die das (Fremd)Sprachenlernen ermöglicht 66 , die eigene Seinsgrundlage besser begreifen zu können. Damit verweist Mager implizit auch auf einen weiteren Garanten für seine Bildungstheorie: Genau dieses Element findet sich bei Hegel wieder, den Mager nachweislich bis Ende der 1830er/ Anfang 1840er Jahre rezipierte: 67 Um aber zum Gegenstande [der Erwerb einer fremden Kultur; J.W.] zu werden, muß die Substanz der Natur und des Geistes uns gegenübergetreten sein, sie muß die Gestalt von etwas Fremdartigem erhalten haben. - Unglücklich der, dem seine unmittelbare Welt der Gefühle entfremdet wird; denn dies heißt nichts anderes, als daß die individuellen Bande, die das Gemüt und den Gedanken heilig mit dem Leben befreunden, Glaube Liebe und Vertrauen, ihm zerrissen wird! - Für die Entfremdung, welche Bedingung der theoretischen Bildung ist, fordert diese nicht diesen sittlichen Schmerz, nicht das Leiden des Herzens, sondern den leichteren Schmerz und Anstrengung der Vorstellung, sich mit einem Nicht- Unmittelbaren, einem Fremdartigen, mit etwas der Erinnerung, dem Ge- 65 Es soll hier allerdings nicht verschwiegen werden, dass Mager auch größten Wert auf eine sehr gute Beherrschung der Muttersprache legte. Die ersten acht Jahre ihres Lebens sollten Kinder nur die Muttersprache hören, Ausnahmen will er nur bei Genies wie bei den Gebrüdern Humboldt gelten lassen, da es sonst zu einer Verwirrung des Bewusstseins käme (Mager 1838: 261). 66 Siehe hierzu auch den Vergleich des Sprachenlernens mit einer Heirat im Eingangszitat, ebenso Mager 1838: 260. 67 Vgl. zu Magers Hegelrezeption Weßler 1969: 33-48. Eine Lösung von der Hegelschen Philosophie stellt Weßler vor allem ab 1843 fest (Weßler 1969: 40). Die Diskursformationen der Neuphilologien 216 dächtnisse und dem Denken Angehörigen zu beschäftigen. - Diese Forderung der Trennung aber ist so notwendig, daß sie sich als ein allgemeiner und bekannter Trieb in uns äussert. Das Fremdartige, das Ferne führt das anziehende Interesse mit sich, das uns zur Beschäftigung und Bemühung lockt, und das Begehrenswerte steht im umgekehrten Verhältnisse mit der Nähe, in der es steht und gemein mit uns ist. Die Jugend stellt es sich als ein Glück vor, aus dem Einheimischen wegzukommen und mit Robinson eine ferne Insel zu bewohnen. Es ist eine notwendige Täuschung, das Tiefe zuerst in der Gestalt der Entfernung suchen zu müssen; aber die Tiefe und Kraft, die wir erlangen, kann nur durch die Weite gemessen werden, in die wir von dem Mittelpunkte hinwegflogen, in welchen wir uns zuerst versenkt befanden und dem wir wieder zustreben. Auf diesen Zentrifugaltrieb der Seele gründet sich nun überhaupt die Notwendigkeit, die Scheidung, die sie von ihrem natürlichen Wesen und Zustand sucht, ihr selbst darreichen und eine ferne, fremde Welt in den jungen Geist hineinstellen zu müssen. Die Scheidewand aber, wodurch diese Trennung für die Bildung, wovon hier die Rede ist, bewerkstelligt wird, ist die Welt und Sprache der Alten; aber sie, die uns von uns trennt, enthält zugleich alle Anfangspunkte und Fäden der Rückkehr zu sich selbst, der Befreundung mit ihr und des Wiederfindens seiner selbst, aber seiner nach dem wahrhaften allgemeinen Wesen des Geistes. Diese allgemeine Notwendigkeit, welche die Welt der Vorstellung so sehr als die Sprache als solche umfaßt, wenn wir sie auf die Erlernung der letzteren anwenden, so erhellt von selbst, daß die mechanische Seite davon mehr als bloß ein notwendiges Übel ist. (Hegel 1809: 5/ 6) Auch wenn Hegel seine Argumentation noch allein auf das Studium der antiken Welt richtet („Welt und Sprache der Alten“), so zeigen sich doch deutliche Parallelen in der Argumentation: Alteritätserfahrung als Voraussetzung für die eigene Identitätsfindung, die Koppelung dieses Moments an das Erlernen und die Beschäftigung mit einer fremden Sprache, die über das rein Mechanische hinausgeht. Der Sprache wird dabei das Primat innerhalb dieses Prozesses eingeräumt. Dies erklärt, warum Bildungsfähigkeit bei Mager stark an die Fähigkeit gekoppelt ist, Sprachen zu lernen - eine Voraussetzung, die zusätzlich noch an Wolfs und Boeckhs Talentforderung erinnert. Talent und Genie spielen jedoch bei Mager für die Zielerreichung des Fremdsprachenunterrichts eine untergeordnete Rolle. Sehr viel wichtiger erscheint ihm, dass die Philologie in der Schule keine „akademischen Docenten der Philologie für Philologen“ (Mager 1843: 10) seien, sondern Schullehrer, die neben der Philologie Pädagogik, Philosophie und vor allem auch Psychologie studiert haben sollten (Ebd.). Hier begegnet eine klare Trennung Magers zwischen universitärer und schulischer Aufgabe der Philologie. Beide begründen sich bereits im Bereich der universitären Lehrerbildung. Als Schulmann richtet sich Magers Interesse in erster Linie auf die schulische Aufgabe der Philologie; diese, so Mager, habe keine „gründlichen“ Philologen hervorzubringen, die einen wissenschaftli- Von der Schule zur Universität 217 chen Unterricht geben wollen, sondern „educatorisch“ ausgebildete Philologen, die in der Lage seien, Bildung zu vermitteln (Mager 1843: 10/ 11). Bildung bei Mager bedeutet immer ein Partizipationsangebot an den Schüler, sich Wissen durch die Beschäftigung mit dem Fremden anzueignen, wesentliches Moment dabei ist das Interpretatorische. 68 Wissenschaftliche Philologie ist in Magers Überzeugung nicht mehr in der Lage, Bildung im Sinne einer Partizipationsermöglichung am Gegenstand zu vermitteln, da sie um wesentliche Elemente einer bildenden, folglich pädagogischen Philologie gekürzt und für denjenigen, der außerhalb des Expertenkreises stehe, nicht mehr nachvollziehbar sei. 69 Philologie, die für die Schule nutzbar wäre, kann also im strengen Sinne keine wissenschaftliche Philologie sein. Damit befindet Mager sich allerdings in einem Legitimationsdilemma: Seine Forderung nach gut ausgebildeten Lehrern, die ihr Studium der Philologie an der Universität absolviert haben sollten, kann nur erfüllt werden, wenn Philologie als universitäres Fach den Anforderungen an eine moderne Wissenschaft genügen kann. Bildungsvermittlung und Wissenschaftlichkeit scheinen jedoch unvereinbar zu sein, da strenge Objektivität die von Mager geforderte Partizipation am Gegenstand unmöglich zu machen scheint. Magers Bildungsideal ist zu stark dem erkennenden Moment der Selbsterfahrung in der Beschäftigung mit dem Fremden verhaftet; es geht ihm darum, kulturelle, ethisch-ästhetische Werte zu vermitteln. 70 Um Magers teilweise weitgehenden Verzicht 71 auf die Integration von Elementen, die dezidiert der modernen Auffassung von Wissenschaftlichkeit entstammen, nachvollziehen zu können, ist es erforderlich, seinen Philologiebegriff sowie das Verhältnis von Philologie und Wissenschaft vor dem Hintergrund seiner Bildungstheorie zu analysieren. 72 68 Dies verweist wieder in Richtung des Wolfschen und Boeckhschen Spekulationsbegriffs. 69 Dies erklärt auch die negative Rezeption der Lachmannschen Editionen durch Mager: Das Lachmannsche Prinzip, das Primat des Kommentars und der Fokus auf die Darstellung wissenschaftlicher Diskussion sind seiner Vorstellung der Partizipation am Gegenstand diametral entgegengesetzt. 70 Vgl. hierzu auch Christmann 1987; Selig 2007; Kalkhoff 2007: 436/ 437. Dass Mager bereit ist, den Preis der Wissenschaftlichkeit der universitären Philologie um seines Bildungsideals willen zu zahlen, bleibt allerdings unkommentiert. 71 Dieser Verzicht findet sich vor allem in Mager 1838 und 1843. Mager verstrickt sich dadurch allerdings zum Teil in Widersprüche innerhalb seiner Theorie und Konzeption der Modernen Philologie, die sich vor allem dann manifestieren, wenn er für eine bessere Ausbildung der Lehrer an den Universitäten plädiert. 72 Einen Hinweis auf Magers sekundäres Interesse für (fach)wissenschaftliche Aspekte des Philologiebegriffs und seine subjektive Einstellung zu Fragen auf diesem Gebiet, findet sich auch in Fuchsens Rezension zu Magers Abhandlung Wesen, Einrichtung, Bedeutung des schulmäßigen Studiums der neueren Sprachen und Literaturen und die Mittel ihm aufzuhelfen, wenn Fuchs Magers Polemik und mangelnde Objektivität in wissenschaftlichen Fragen vorsichtig mit einem Hinweis auf die Reizbarkeit des Schulmannes entschuldigt: „[…] aber Hern. Magers Ausdruck dünkt uns doch zu stark und Die Diskursformationen der Neuphilologien 218 5.2.1.1.2 Philologie, Schule und Wissenschaft Selig 2007 bezeichnet Magers Wissenschaftsverständnis als ein „vorwissenschaftliches“ und ordnet seinen Philologiebegriff dem „geistesgeschichtlichen und institutionellen Kontext der ersten Jahrhunderthälfte“ zu (Selig 2007: 31). Als Kontrastfolie 73 dient ihrer Analyse ein Text von Adelbert von Keller, der 1842 unter kritischer Bezugnahme auf die Magersche Philologiedefinition eine sehr viel (fach)wissenschaftlichere Begriffsbestimmung vorlegt (vgl. Keller [1842] 1980), wobei beim Vergleich der beiden Texte ein Faktor außer Acht gelassen wird: Zwar geht es in beiden um Legitimationsfragen der Philologie, aber Keller handelt rein als Universitätsdozent 74 , dem es in erster Linie um die Sicherung der Institutionalisierung seines Faches geht, während Mager als Vertreter eines pädagogischen Bildungsideals argumentiert, dem es allein um die Verbesserung der fremdsprachlichen Unterrichtssituation geht. 75 Die Spannungen zwischen professioneller, wissenschaftlicher Forschung und einer Lehre mit pädagogisch-edukatorischem Anspruch treten im Vergleich der beiden Texte zu Tage. So geht es bei Mager weniger um die Definition der Philologie als Wissenschaft, sondern vielmehr darum, deren Rolle als Partizipationsermöglichung und Bildungsvermittlerin zu sichern. Magers Anliegen ist es, den Unterricht in den modernen Fremdsprachen mit der Zielführung des Erreichens eines rücksichtslos, wie er denn überhaupt in seinem Eifer für das als recht Erkannte oft in zu derber und eines für einheitliche Herzens- und Geistesbildung so begeisterten Lehrers nicht ganz würdiger Sprache streitet und nicht selten unedler Ausdrücke sich bedient, die sich nur durch sein hastiges, von allen Misbräuchen und aller Gedankenlosigkeit tief verletztes und leicht aufgereiztes Wesen entschuldigen, aber nicht rechtfertigen lassen.“ (Fuchs 1844c: 1184) 73 Bereits Christmann 1987 unterzieht die beiden Abhandlungen einer vergleichenden Analyse, sein eher biographisch angelegter Analyseansatz gibt einen ersten Hinweis auf die unterschiedliche Motivierung des Entstehungskontextes der beiden Texte. 74 Adelbert von Keller war soeben zum außerordentlichen Professor an der Universität Tübingen (1841) berufen worden. Er hatte dort die Professur der „neueren Sprachen und Litteraturen“ inne. Diese Form der Doppel- oder Mehrfachprofessuren für neuere Sprachen und Literaturen hielt sich bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts (vgl. hierzu die umfangreiche und sehr aufschlussreiche Synopse bei Kalkhoff 2010: 277- 285 sowie die Aufstellung bei Storost 2001. Besonders beliebt war die Kombination Romanischer und Englischer Philologie. 75 Haenicke 1979: 22 warnt zwar zu Recht vor einer Reduzierung der Texte Magers und Kellers auf eine reine Gegenüberstellung Praktiker - Theoretiker. Dennoch ist es wichtig, hier eine Unterscheidung zwischen dem neusprachlichen Bildungstheoretiker vor dem Hintergrund schulischer Belange (Mager) und dem Vertreter der Interessen einer institutionalisierten Neuphilologie als Universitätsfach (Keller) zu machen. Denn Magers Interessen gelten auf diesem Gebiet nicht nur den neueren Sprachen, eine Auswertung seiner Pädagogischen Revue zeigt, dass er sich, wenn auch nicht in gleichem Maße, ebenso für die Gleichberechtigung der Realia auf dem Gebiet der Natur- und Sozialwissenschaften einsetzte, was seine Argumentation durchaus in Richtung schulpädagogische Praxis beeinflusst (vgl. z.B. Mager 1844; 1845). Von der Schule zur Universität 219 modern-europäischen Bewusstseins für die Realschüler zu legitimieren und damit nicht nur einen Beitrag zur Emanzipation vom Unterricht in den klassischen Sprachen, sondern auch vom elitären Gymnasialwesen zu leisten. Kellers Motivation liegt stärker im Bereich der Absetzbewegung der Wissenschaft ‚Philologie‘ von einer durch gesellschaftliche Relevanz legitimierten ,Bildungsvermittlerin‘. Im Gegensatz zu Keller beruft sich Mager auf das Verhältnis Philologie - Schule nicht aus Gründen der Relevanz, um Lehrstühle und Forschungsmöglichkeiten zu sichern, sondern aus bildungsidealistischen Motiven heraus. Dieser Unterschied in der Teleologie der beiden Texte macht offensichtlich, dass es Mager nicht um ein modernes Wissenschaftsverständnis geht, im Gegenteil, vor allem seine Abhandlung von 1843 macht deutlich, dass er in diesem eher eine Gefahr für die Aufgabe der Philologie, der Gesellschaft Partizipation an Erkenntnisprozessen zu ermöglichen, sieht (vgl. Mager 1843). 76 Wie geht Mager nun also bei seinem Legitimationsversuch der Philologie vor? Die Abhandlung Magers über „Die moderne Philologie und die deutschen Schulen“, erstmals veröffentlicht 1840, widmet sich auch der Frage, inwieweit die Philologie Wissenschaft sei. 77 Zunächst fällt auf, dass Mager, im Gegensatz beispielsweise zu Elze oder Boeckh, eine disziplinäre Trennung von Linguistik und Philologie vornimmt (Mager 1844: 2). Philologie bei Mager wird nicht mehr als Einheit von positiver Sprach- und partizipativer Textwissenschaft beziehungsweise Literaturgeschichte verstanden. Daher stellt Mager auch noch die alles entscheidende Gretchenfrage: Ist die Philologie nun Wissenschaft oder ist sie es nicht? (Mager 1844: 1/ 2). Die Antwort, die er auf diese Frage gibt, ordnet ihn eindeutig in Nähe der Diskursformation um Schlegel ein, da er die Philologie im Grenzbereich zwischen Philosophie und Kunst sowie - und das ist im Gegensatz zu Schlegel ein neues Element, das gleichzeitig auch auf die Boeckhsche Konzeption verweist - den positiven Wissenschaften ansiedelt. Selig 2008 liest hieraus, Mager sei ein „Vertreter einer ‚älteren‘ Definition der Philologie, die eindeutig in den Bereich des ‚Vorwissenschaftlichen‘, geschichtlich und systematisch gesehen, hineinragt“ (Selig 2008: 30/ 31). Diese Aussage ist zunächst dahingehend abzumildern, dass Mager in seiner Konzeption durchaus moderne Wissensrahmen um den Begriff von Wissenschaftlichkeit evoziert, wie beispielsweise der Verweis auf strenge Methodizität. Auch das Ideal des Polyhistors ist vom Philologen zu überwinden und nicht nur nachzuahmen. 78 Erudition und der Erwerb eines enzyklopädi- 76 Dies führt erneut zu den Philologiekonzeptionen Wolf und Boeckhs zurück. Auch Boeckh fasste Philologie als Verstehenswissenschaft, allerdings ohne die pädagogische Engführung des Begriffs auf Schulbildung und fremdsprachlichen Unterricht. 77 Der Text wird zitiert nach einer späteren Veröffentlichung von 1844, die Seitenangaben erfolgen nach den Seitenzahlen des Originals. 78 Selig 2008 bezieht sich auf folgende Aussage Magers: „Wir hätten demnach den Philologen zu betrachten als Polyhistor, als Philosophen, als Künstler, endlich in dem, Die Diskursformationen der Neuphilologien 220 schen Wissens stehen bei Mager nur zur Debatte, wenn es um Kenntnisse auf angrenzenden Wissensgebieten geht. Dies jedoch ist wieder seinem pädagogischen Sendungsbewusstsein geschuldet: Der idealtypische Lehrer steht einem Universalgelehrten nahe, trotzdem ist ihm eindeutig ein Spezialgebiet zuzuordnen. Richtig ist aber sicherlich, dass Magers Definition Elemente der Diskursformationen der ersten Jahrhunderthälfte aufweist. 79 Dies zeigen Legitimationsformeln und kollektive Symbole, die er in seinen Schriften verwendet. So weist sein Sprachbegriff eine intensive Humboldt-Rezeption, aber auch, wie bereits erwähnt, eine starke Anlehnung an die Grimmsche Konzeption auf. 80 Diese Disparatheit der aufgerufenen Wissensrahmen sorgen für ein dichtes Netz intertextueller Verweise, das sich über Magers Text spinnt, beispielsweise auf Texte von Grimm, Humboldt oder auch Schlegel (vgl. Wolf 2008: 104-107). In Magers Versuch, die Wissenschaftlichkeit der Philologie nachzuweisen zeigt sich der Wandel im Wissenschaftsbegriff, der schon mehrfach angesprochen wurde. Die epistemischen was sein eigenstes Geschäft ist.“ (Mager 1844: 9) Er beschreibt daraufhin die Randgebiete, in denen der Philologe eben diese Eigenschaften zu erfüllen hat: Sprach-, Staats- und Kulturwissenschaft sowie Philosophie. Als eigentlicher Fachwissenschaftler tritt er nur auf dem Gebiet der Kritik, der Hermeneutik und der Grammatik auf (Mager 1844: 9-18). Die Rolle, die Mager der Beherrschung der Sprache in schriftlicher Form zuschreibt, scheint eher ein Verweis auf seine Humboldt-Rezeption zu sein, denn ein Beleg für eine vorwissenschaftliche Definition der Philologie, obgleich sein Beharren, Kunst und Wissenschaft für die Philologie als synonymisch behandeln zu können, gleichzeitig in diese Richtung weist (vgl. Mager 1844: 19/ 20, Hervorhebung wie im Original: „Die eigentliche Kunst oder Wissenschaft, das eigentliche Geschäft des Philologen, dem alles bis jetzt Genannte nur als Mittel dient, ist aber ein dreifaches: Kritik, Exegese, Theorie der Dichtkunst und Beredsamkeit. Somit ständen wir denn auf dem eigenen Gebiet des Philologen.“). 79 Dies belegen beispielsweise Zitate aus Wolfs Darstellung der Althertumskunde oder Creuzers Das akademische Studium des Alterthums. Ebenso verweist die positive Hegel- Rezeption, die in Magers Schriften der 40er Jahre zum Tragen kommt, seine Philologiekonzeption in eine Zeit, in der Wechsel der Episteme sowie die naturwissenschaftliche Dominanz noch nicht zur Gänze vollzogen sind. 80 So kommt der Humboldtsche Einfluss in Magers Definition der Sprache als einer Tätigkeit sowie eines Organismus besonders zum Tragen - wobei Mager bereits betont: „[…] auch wenn er [Humboldt; J.W.] sich von Zeit zu Zeit des Wortes Organismus bedient, so hat dieses Wort nur die Geltung einer Metapher.“ (Mager 1844: 55) Auf Jakob Grimm verweist die starke Betonung der Idee, durch die Beschäftigung mit Sprache könne der Philologe die Seele eines Volkes in eben dieser erkennen. Ein weiteres Indiz für den Einfluss Jakob Grimms ist, dass Mager der Trennung zwischen Sprachwissenschaft als einer den positiven (Natur)Wissenschaften nahe stehenden Wissenschaft und der Philologie als einer partizipativen Gesellschaftswissenschaft, wie sie bei Grimm zu beobachten ist, folgt. Mager entleiht sozusagen die entsprechenden Wissensrahmen aus der Grimmschen Diskursformation und modifiziert diese, indem er die Bildungsfähigkeit sowie den selektiven Charakter der Philologie betont. Von der Schule zur Universität 221 Umbrüche Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts zwingen Mager förmlich, zwischen einem idealistisch-romantischen und einem positivistischen Begriff der Philologie Stellung zu beziehen: Philosophie ist nicht mehr automatisch die Vorzeigewissenschaft und damit methodisches Vorbild für die Disziplinen, die sich mit dem „Geist“ beschäftigen. 81 Gerade im Bereich der Modernen Philologien ist der Einfluss einer zunehmend an den naturwissenschaftlichen Forschungskriterien orientierten historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften deutlich spürbar. Mager bedient sich sowohl tradierter Wissensrahmen idealistischer Provenienz als auch der Elemente der neuen Diskursformation um den Wissenschaftsbegriff und manipuliert sie nach seinen Bedürfnissen. Mager kann daher als ein Scharnier zwischen einer philologia philosophae und einer modern-positivistischen Philologie betrachten werden. Den Graben, der zwischen einer positiven (Natur)Wissenschaft und einer Philologie, die sich als partizipative Verstehenswissenschaft versteht, erkennt Mager durchaus und trachtet in seiner Konzeption danach, diesen zu überwinden. Sein Versuch eines Brückenbaus zeigt dabei, dass es auf der einen Seite gilt, die Moderne Philologie als Wissenschaft zu etablieren, die den neuen Ansprüchen Genüge leisten kann, auf der anderen Seite muss ihre Definition als Partizipationsmöglichkeit gewahrt bleiben, damit sie die Schule weiterhin als Bildungsvermittlerin bedienen kann. Gleichzeitig sieht sich Mager 1840 zusätzlich noch vor dem Problem, die Bildungskraft der Modernen Philologie gegenüber der der Klassischen Philologie als egalitär zu legitimieren. Mager wählt zunächst das argumentative Muster, Moderne Philologie über das zu bestimmen, was sie nicht ist und was sie nicht leisten kann (Mager 1844: 3/ 4). 82 Er trennt den Philologen vom Gelehrten, da der Philologe disziplinübergreifend zu forschen hat, der Gelehrte aber, zumindest in der Magerschen Definition, bereits ein spezialisierter Fachwissenschaftler ist, dessen Forschung sich auf eine bestimmte Disziplin konzentriert. Die von ihm aufgemachte Differenzierung weicht er aber zugleich wieder auf, denn jeder echte Gelehrte, so Mager, sei auch Polyhistor, da es unmöglich scheine, nur innerhalb eines streng limitierten Spezialgebiets zu arbeiten, ohne auf 81 Magers Text spiegelt die Krise der Philosophie in den 30er/ 40er Jahren des 19. Jahrhunderts. Mager beklagt das Fehlen des empirischen Elements in der Philosophie - dieses könne aber über ihr philologisches Element ausgeglichen werden. Mager steht hier erneut in der methodischen Tradition Boeckhs, wenn er die Verbindung empirischer und philosophischer Methoden fordert (Mager 1845: 252). Allerdings beharrt Mager auch auf einer stärkeren Verknüpfung zwischen Geschichtswissenschaft und Philosophie, man könne das eine nicht ohne das andere betreiben. Indirekt wirft er den Geschichtswissenschaften dabei vor, die Philosophie aus ihrem Fach entfernt und sich damit in einen „Krüppel“ verwandelt zu haben (Mager 1845: 252). 82 „Was ist denn nun die Philologie, wenn sie weder eine der positiven Wissenschaften, noch Philosophie, noch Kunst, und zugleich alles dieses zusammen und außerdem noch etwas Eigenartiges ist? “ (Mager 1844: 5) Die Diskursformationen der Neuphilologien 222 andere Disziplinen und Fächer überzugreifen. Sobald dies aber geschieht, wandelt sich der Gelehrte in den Polyhistor. Dem Philologen geht es hier nicht anders: Auf seinem „eigensten Eigenthum“ muss er ein spezialisierter Wissenschaftler sein, auf den dieses Gebiet berührenden Wissenschaften darf er als Polyhistor in Erscheinung treten (Mager 1844: 5). Der Philologe wird also nur scheinbar vom „echten Gelehrten“, dem Fachwissenschaftler getrennt. Er bleibt ein Zwitter zwischen Polyhistor und Wissenschaftler, ein Schicksal, das aber letztlich - zumindest in Magers Vorstellung - jeder Gelehrte mit ihm teilt. Im Gegensatz zur Konzeption Adelbert von Kellers (Keller [1842] 1980: 271) 83 taucht Spezialisierung noch nicht als fester Bestandteil im Kriterienkatalog ‚Moderne autonome Wissenschaft‘ auf, bei Mager ist sie lediglich angedeutet. Hier steht Mager zwischen einem Wissenschaftsbegriff, der mit Mechanismen der Institutionalisierung zusammenzuhängen scheint 84 und einem Wissenschaftsbegriff, der mit dem Ideal der Partizipation verbunden ist. Es wurde bereits festgestellt, dass Mager den Bildungsbegriff innerhalb seiner Theorie der Modernen Philologie über den Anspruch moderner Wissenschaftlichkeit stellt. Dies bleibt nur plausibel, solange er sich auf die Legitimation der Modernen Philologie als Unterrichtsfach beschränkt. Diese ließ sich allein über die Bildungsfähigkeit erreichen. Doch Mager geht es darum, Moderne Philologie der Altertumskunde nicht nur im Unterrichtskanon, sondern auch als universitäres Fach gleichzustellen. Hier wird seine Argumentation brüchig; Mager versucht, die verschiedenen Diskursformationen um den Begriff der Philologie zu bündeln. Elemente aus der Wolfschen Konzeption, die ja eine leichte Dominanz der pädagogischen Verantwortung aufwies, die stärker an Methodizität gebundene Konzeption Boeckhs sowie der Einfluss der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die eine deutliche Orientierung an den Naturwissenschaften erkennen lässt, dies alles will Mager in seiner Konzeption vereinen. Dabei erweist sich sein Eingangsvergleich als zutreffend, angesichts des sceleratus Proteus Philologie 85 entgleiten ihm die einzelnen Elemente und so begnügt 83 Auf diesen Text wird unter 5.2.1.2 genauer eingegangen. 84 Gemeint sind hier beispielsweise Forderungen nach Lehrstühlen für romanistische Philologie, eigenen Fachzeitschriften oder auch universitären Forschungsnetzwerken, in denen sich Spezialisierungsprozesse spiegeln (vgl. hierzu beispielsweise Fohrmann 2005; Kalkhoff 2010). 85 Der von Mager verwendete Vergleich der Philologie mit Proteus ist nicht ganz uninteressant. Zgoll 2004 belegt, dass die Verwendung des Proteus-Mythos in lateinischen Texten nicht in Zusammenhang mit Wandel zu sehen sei, sondern meist der Darstellung facettenreicher, vielschichtiger Zusammenhänge diene (Zgoll 2004: 598/ 599). Möglicherweise wählt Mager die Anspielung auf den Horaz-Vers bewusst, um auf die Unmöglichkeit seines Vorhabens, die Philologie endgültig zu definieren, zu verweisen. Vordergründig beschreibt Mager allerdings nur die Schwierigkeit seines Un- Von der Schule zur Universität 223 er sich letztlich mit der Einordnung derselben als Grenzdisziplin zwischen den verschiedenen Wissenschaften. Damit hat er den Graben allerdings nur teilweise überwunden. Es gilt ja nach wie vor, die Moderne Philologie auch gegenüber der klassischen abzugrenzen. Hier verweist Mager auf die Humboldtsche Unterscheidung zwischen zivilisierten und kultivierten Völkern, die bereits in früheren Texten als Legitimationsgrundlage für die Bildungsfähigkeit der modernen Fremdsprachen diente. Letztlich verharrt Mager in der Argumentation der Klassischen Philologie, über die Beschäftigung mit Sprache lasse sich der Charakter und die Kultur einer Nation erkennen, und füllt diese lediglich mit einem neuen Inhalt (Mager 1844: 5/ 6). Mager führt diesen Gedanken der inhaltlichen Verengung des Gegenstands der Modernen Philologie noch weiter aus, indem er noch einmal darauf verweist, dass der Philologe im Gegensatz zum Fachwissenschaftler selegiert. Hier greift denn auch die vorher gemachte Differenzierung zwischen spezialisiertem Fachwissenschaftler und Philologen: Die Verschiedenheit liegt nicht in der Beschränkung auf ein bestimmtes Phänomen innerhalb eines weiten Forschungsfeldes ,Sprache‘, sondern in der Möglichkeit der Selektion des Forschungsgegenstandes an sich. 86 Nachdem die Bahn auf diese Weise geebnet wurde, liefert Mager seine Definition der Philologie: Während die Linguistik nun alle Sprachen der Erde zu erforschen strebt […] fühlt sich der Philologe nur zu solchen Nationen hingezogen, die eine edlere Bildung angestrebt und hervorgebracht haben. […] Verglichen mit dem Linguisten, Historiker u.s.w. ist der Philolog ungefähr, was der Blumist gegenüber dem Botaniker ist. Den Botaniker interessiert jedes Gewächs, weil es ein Gewächs ist, der Blumist, immer nicht mit dem gewöhnlichen Küchengärtner zu verwechseln, der Alles Unkraut nennt, was man ternehmens, aber nicht dessen Unmöglichkeit. Vor der Tatsache, dass er bei der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Philologie eine eindeutige Antwort schuldig bleibt, wirkt sein Vergleich denn doch ein wenig wie ein Hintertürchen. Wie der Proteus bei Horaz oder auch bei Platon stellt sich die Philologie in diesem Bereich als ein Nicht- Fassbares heraus, was im Zusammenhang mit Magers Konzeption vor allem an seinem dynamischen Erkenntnisbegriff sowie seiner Vorstellung einer ständigen Konfrontation mit dem Forschungsgegenstand liegen dürfte. Vgl.: „[…] wir haben es nicht mehr mit dem Producte des Werdens, dem Gewordenen, sondern mit dem Werdenden, ja mit dem Werden selbst zu tun, nicht mehr mit Zuständen, sondern mit Begebenheiten und Thaten.“ (Mager 1844: 15) 86 An was Mager dabei im Rahmen der Philologie vor allem denkt, zeigt sich in einem späteren Text: „Es erscheint zunächst als eine gewiss nur billige Forderung, daß jede Wissenschaft uns in ihrem Namen entweder deutlich sage, oder […] doch andeute, wovon sie ein Wissen ist. Dies ist der Fall bei Jurisprudenz, Politik, Theologie, Naturwissenschaft, Logik, Psychologie, Linguistik, Erdkunde, Völkerkunde, auch bei Mathematik und Philologie, insofern wir […] unter der letzteren die Literaturwissenschaft verstehen.“ (Mager 1845: 244; Hervorhebung J.W.) Die Diskursformationen der Neuphilologien 224 nicht essen kann, will nur das in seinem Garten sehen, was Aug’ und Herz erfreut. (Mager 1844: 7/ 8) Zunächst wird von Mager ganz klar eine Auswahl getroffen. Vorbereitet durch die Berufung auf die Kulturtrias und den von ihm entwickelten Bildungsbegriff kann Mager diese Einschränkung im Gegenstandsbereich vornehmen. Damit verbunden ist Magers Konzeption der Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft (Blauth-Henke/ Wolf 2011: 57-59). Diese setzt bei Mager allerdings eine nahezu intime Bindung zwischen Forscher und Gegenstand voraus: Denn der Philolog durchzieht nicht bloß ein Land, er läßt sich darin nieder, baut sich an bei dem fremden Volke, lebt, ißt und trinkt mit ihm. Dazu aber muß man ein Volk lieben […]. (Mager 1844: 8) Magers Erkenntnisideal richtet sich auf die Alteritätserfahrung durch die Verschmelzung mit dem Forschungsgegenstand, der Philologe ist dabei das erkennende Subjekt. Philologie bei Mager fokussiert daher nicht den Moment des Wissens 87 , sondern die Tätigkeit, die zur Erkenntnis führt: P h i l o l o g i e a b e r i s t d i e s e s e i n V o l k o d e r e i n e n K r e i s v o n V ö l k e r n i n d e r A l l s e i t i g k e i t i h r e r E x i s t e n z b i s a u f d e n G r u n d i h r e r S e e l e e r f o r s c h t z u h a b e n . (Mager 1844: 8; Sperrung wie im Original) Philologie ist demnach gekennzeichnet durch Engagement, Partizipation, das subjektive Moment der Selektion sowie Erkenntnis durch Tätigkeit. Legitimiert werden diese Kategorien durch die Bildungskraft und die damit verbundene pädagogische Verantwortung der Philologie. Hierin steht Mager Wolf näher als Boeckh, denn wie dieser geht er davon aus, dass der Mensch durch die Beschäftigung mit der fremden Sprache einen idealen Bildungszustand erreichen kann. 88 Deutlich wird in Magers Definition zudem der Bezug zu Grimms Trennung der Philologie von der Sprachwissenschaft. Auch Mager nimmt diese Trennung in zwei Forschungsdisziplinen vor. Der Linguist kann sich nicht wie der Philologe nur den „schönen und edlen“ Dingen zuwenden, er hat das gesamte Gebiet zu erforschen. Mager verdeutlicht dies am Beispiel der Romanischen Philologie. Als Linguist muss der Romanist alle romanischen Sprachen kennen, dazu Latein und vor allem Vulgärlatein. Der Romanist als Philologe darf sich auf fünf Sprachen beschränken: Französisch, Italienisch, Provenzalisch, Spanisch und Portugiesisch (Mager 1844: 11). Beide 87 Vgl. hierzu auch Szondi 1970: 13/ 14. 88 Boeckh setzte an die Stelle des Idealzustands seine Theorie der Unendlichkeit des Gegenstands und damit der philologischen Forschung. Der Mensch kann sich diesem Zustand immer nur nähern, erreicht ihn aber nicht. Von der Schule zur Universität 225 Disziplinen sind also durch das Kriterium der Selektion voneinander getrennt, was Mager an anderer Stelle bekräftigt: Was aber die Linguistik in neueren Zeiten zur Wissenschaft gemacht hat, ist dieses, daß sie erstens vergleichend, zweitens historisch geworden ist […] Der Philolog hat sich nun aus dem Kreise der Linguistik nur einen Sector auszuschneiden - bei einem Segment, das nicht zum Zentrum vordringt, darf es nicht bleiben - , im Centriwinkel findet er die Resultate, Principien und Methoden des Linguisten […]. (Mager 1844: 10) Der Philologe bedient sich also der Ergebnisse der Linguistik. Wie auch bei Grimm wird die unterschiedliche Zielsetzung der beiden Disziplinen deutlich, als Mager näher bestimmt, aus welchen Bereichen der historischvergleichenden Sprachforschung die Kenntnisse des Philologen stammen sollten, damit er sie für die Philologie nutzbar machen kann: So ausgerüstet kann der Romanist sein vergleichendes und historisches Studium der fünf romanischen Sprachen lexikologisch, etymologisch, synonymisch und grammatisch beginnen. Vergleichend muß das Studium sein, weil jede romanische Sprache Unbegreiflichkeiten hat, die es nur für den sind, der die Schwestersprachen nicht kennt; historisch, weil die Sprachen so gut ihre Lebensgeschichte haben wie die Individuen und Völker, sogar Sünden und Albernheiten kommen in solchen Geschichten vor, aber auch Heldenthaten und lange schöne Perioden eines tadellosen Benehmens. Mancher Leser lächelt, aber dann ist er weder Linguist noch Philologe. Wer mit den Sprachen umgegangen ist, wem sie ihre Geheimnisse anvertraut haben, der weiß wohl, daß sie leben, so gut wie wir Menschen, nur länger. Die Sprachen haben viel zu erzählen, wohl so viel als die Muse Klio, nur theilen sie sich nicht Jedem mit. (Mager 1844: 13) Der Forschungsgegenstand ,Sprache‘ verbindet zwar beide Disziplinen, deren Erforschung führt aber in verschiedene Richtungen. Erzählt die Sprache dem Linguisten über sich selbst, ihr geschichtliches Werden und ihren Bau, so kann der Philologe durch die Beschäftigung mit ihr Aufklärung über die Geschichtlichkeit ihrer Benutzer erhalten - darauf verweist auch der Vergleich der Sprache mit Klio, der Muse der Geschichtsschreibung. Zusätzlich stützt dieser Vergleich auch die Vorstellung der Einheit von geschichtlichem und sprachlichem Werden als an den Menschen gebundene, ontologische Kategorien, die dessen individuelle Entwicklung, neben seiner universellen Entwicklung über Naturgesetze (Geburt, Erwachsenenalter, Tod), mitbedingen. Indem Mager die Einheit von sprachwissenschaftlicher und philologischer Einheit aufbricht, wie sie Boeckh oder Elze noch angenommen hatten, gleichzeitig aber auf die Wechselwirkung zwischen beiden verweist, verliert die Frage nach einem hierarchischen Verhältnis zwischen den beiden Disziplinen ihre Gültigkeit. Sprachwissenschaft und Moderne Philologie stehen bei Mager gleichbe- Die Diskursformationen der Neuphilologien 226 rechtigt nebeneinander - es sei an dieser Stelle nicht verschwiegen, dass Mager den Erfolg der Linguistik dazu nutzt, der Klassischen Philologie im Vergleich zur modernen einen kleinen Stich zu versetzen und die Wichtigkeit der Interdisziplinarität und Kollaboration zwischen moderner Philologie und Linguistik zu betonen: Die Sprachwissenschaft ist, kann man sagen, erst ein Werk der neueren Zeiten, und nebenbei ein Werk, an dem die classische Philologie höchst unschuldig ist, während dagegen Orientalisten und moderne Philologen, Germanisten und Romanisten, so erfolgreich gearbeitet haben, daß man nicht recht weiß, ob man manchen dieser Gelehrten, W. v. Humboldt, J. Grimm, Fr. Bopp; Raynouard, Silvestre de Sacy u.s.w., den Linguisten oder den Philologen beizählen soll. (Mager 1844: 10) Interessant ist die Auswahl der Gelehrten an dieser Stelle aufgrund der Tatsache, dass Mager sich zum wiederholten Male auf Jakob Grimm beruft, einen anderen bedeutenden zeitgenössischen germanistischen Philologen aber nicht erwähnt. An keiner Stelle, wenn es um Beispiele zeitgenössischer Philologen geht, die sich um die Modernen Philologien verdient gemacht haben, fällt der Name Karl Lachmanns, der Mager aber in jedem Fall bekannt gewesen sein müsste. 89 Auch bei anderen Aufzählungen anerkennenswerter Philologen taucht Lachmann nicht auf, obwohl dessen Name symbolhaft für methodische Neuerung und Verwissenschaftlichung der Editionsphilologie steht. Diese Konzeptionsform von Philologie schließt Mager rigoros aus seiner Begriffsbestimmung aus, sie ist für ihn als Bildungstheoretiker und -reformer nicht die bestimmende. Dies mag tatsächlich zum Teil den vorwissenschaftlichen Elementen seiner Konzeption geschuldet sein. Hierfür spricht die Talentforderung, die auch im Text von 1840 zur Sprache kommt (Mager 1840: 17), sowie die von Mager zitierten Idealtypen eines Philologen, Rückert oder Schlegel (Mager 1844: 4). Beides rückt den Philologen erneut in die Nähe des Künstlers, vor allem wenn es um die Sprachbeherrschung geht: Wenn es nun eben gar zur B i l d u n g gehört, eine und die andere fremde Sprache für wissenschaftliche, geschäftliche oder sociale Zwecke, kurz, für das, was man treibt, benutzen zu können, so ist es hingegen Philologie sie künstlerisch benutzen zu können. (Mager 1844: 18; Sperrung wie im Original) 89 Mager bezieht sich nur einmal auf Lachmanns Lessing-Ausgabe. Lachmann hatte 1840 bereits einige Werke veröffentlicht und sich als Begründer der kritischen Editionsphilologie einen Namen gemacht. So lagen bis 1840 folgende Publikationen vor: Observationes criticae (1815); De choricis systematis tragicorum graecorum (1819); De mensura tragoediarum (1822); Über die ursprüngliche Gestalt des Gedichts der Nibelunge Noth (1816); Über die Leiche der deutschen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts (1829); Über althochdeutsche Betonung und Verskunst (1831); Über das Hildebrandslied (1833); Über Singen undSagen (1833); Über den Eingang des Parzival (1835) (vgl. ADB). Von der Schule zur Universität 227 Mager scheint sich hier zu widersprechen, hatte er doch eingangs erklärt, es genüge, auf dichterischem oder philosophischem Gebiet „Nummer β zu sein“ (Mager 1844: 5). Tatsächlich entschärft Mager diese Forderung einen Satz später: Allerdings wird man vom Philologen kein eminentes Dichter- oder Rednertalent f o r d e r n dürfen, nur ein gewisses Grad dieses Talents, eine Anlage zur Poesie und Beredsamkeit ist absolute Nothwendigkeit für ihn, weil, wie Sokrates bei Platon sagt, die menschliche Natur zu schwach ist, um eine Kunst zu erlangen in Dingen, deren sie ganz unerfahren ist. (Mager 1844: 18; Sperrung wie im Original) Damit wird klar, was es mit dem Begriff des Künstlers bei Mager auf sich hat. Die zahlreichen Verweise Magers und seine große Verehrung für Schlegel lassen vermuten, dass Mager, trotzdem er die ethische Verantwortung der Modernen Philologie nahezu vollständig auf pädagogische Fragestellungen im Bereich der (Schul)Bildung einschränkt - wie Schlegel, und auch Boeckh-, der Philologie immer noch einen Anteil an der ars vitae zuschreibt, sie also zumindest in Teilen noch immer philologia philosopha ist. Künstler und Kunst sind in ihrer Bedeutung demnach genauso nah an den Begriffen Wissenschaftler und Wissenschaft wie Dichter und Poesie. Künstler auf dem Gebiet der Sprachforschung ist der Philologe dann, wenn er seine wissenschaftliche Methode beherrscht und sie auf seinen Gegenstand anzuwenden weiß. Dies wird deutlich, wenn Mager das eigentliche Fachgebiet des Philologen und seine Methode erläutert. Hier findet sich die klassische Dreiteilung Kritik, Hermeneutik und Grammatik, bei Mager taucht letztere unter „Theorie der Dichtkunst und Beredsamkeit“ auf. 90 Damit liefert Mager nichts Neues, die Dreifachbestimmung der philologischen Aufgabengebiete datiert aus ihren Gründerzeiten (Stierle 1979: 266; Selig 2008: 27). Erinnert man sich an Magers Eingangsversprechen zu klären, ob die Philologie nun „Wissenschaft neben andern Wissenschaften, oder vielleicht nur Bildung“ sei, wird spätestens hier die Intention seines Textes klar (Mager 1844: 1). Es geht Mager nicht darum, einen modernen Wissenschaftsbegriff auf die Moderne Philologie zu übertragen, es geht allein darum, diese als gleichberechtigt neben der Klassischen Philologie für den Unterricht in den Schulen zu legitimieren. Denn die Beantwortung der Frage nach ihrer Wissenschaftlichkeit bleibt lediglich angedeutet: Genügen müssen dem Leser Verweise auf den spezialisierten Fachwissenschaftler, 90 Vermutlich wählt Mager diese Bezeichnung, um zu verdeutlichen, dass er seinen Grammatikbegriff inhaltlich einem Rhetorikbegriff gegenüberstellt, der auch die Dichtung mit einschließt. Im 19. Jahrhundert bezog sich die Verwendung des Rhetorikbegriffs oftmals nicht auf poetische Texte, diesem Ausschluss wollte Mager möglicherweise vorbeugen. Hintergrund bildet die allmähliche Auflösung des Zusammenhangs von Dichtung und Rhetorik. Vgl. zum Begriff Rhetorik, Grammatik und Theorie der Beredsamkeit beispielsweise Bouterwek 1812; Lausberg ³1990: v.a. 40ff. Die Diskursformationen der Neuphilologien 228 die Nähe der Modernen Philologie zur Linguistik (im Gegensatz zur Klassischen Philologie) sowie die stringente Methode. Diese Verweise bleiben jedoch im Bereich der Thesenbildung, argumentativ ausgeführt werden sie nicht. Argumente liefert Mager allerdings nur dann, wenn es gilt, die Gleichberechtigung der modernen Sprachen neben den klassischen herauszuarbeiten. Sehr deutlich wird dies, wenn Mager über Hermeneutik oder Exegese spricht. Sehr kurz und wenig innovativ äußert er sich zunächst über die Methode an sich: H e r m e n e u t i k o d e r E x e g e s e ist des Philologen zweites Geschäft [nach der Kritik; J.W.], in der Exegese ist er in seiner eigentlichen Esse, hier muß er zeigen, was er werth ist […]. Sein ganzes Wissen muß dem Interpreten lebhaft vor der Seele stehen, die Wucht dieses Wissens darf den Geist nicht am freiesten und beweglichsten Denken hindern, und muß der Phantasie ihre ganze Frische, Energie und Elasticität lassen, Eigenschaften, ohne welche sie sich nicht in fremden Volksgeist, in den Geist einer fremden Zeit, in das Anonyme und Geheimnisvolle der Individualität des Schriftstellers versetzen kann […]. (Mager 1844: 20; Sperrung wie im Original) Diese Theoreme sind seit Wolf und Boeckh konstituierend für die philologische Methode, wobei Mager dem empirischen Anspruch der Boeckhschen Methode in keiner Weise nachkommt, ja diese nicht einmal diskutiert. Die Beschreibung der Methode, die essentiell für eine Bestimmung der Modernen Philologie als wissenschaftliche Disziplin wäre, nimmt bei Mager wenig mehr als eine halbe Seite ein, die Begründung hingegen, warum auch neuere Werke wert seien, interpretiert zu werden, erstreckt sich auf knapp zwei Seiten. Mager verweist unter Bezug auf Wolf auf Werke der neueren Literatur, die durchaus schon im 19. Jahrhundert zur konnektiven Struktur der Gesellschaft gehörten und damit durchaus die Legitimationskraft von Kollektivsymbolen innehatten: Lessing, Klopstock, Goethe, Schiller, Racine, Dante oder Shakespeare. 91 Mager führt keine Methodendiskussion, worauf eben auch das Fehlen der Diskursformation um Karl Lachmann und die wissenschaftliche Editionsphilologie hindeuten, er argumentiert auf einer inhaltlich didaktisch-pädagogischen Ebene, die er mittels seiner Bildungsparameter konstruiert. Dafür spricht auch seine Bestimmung der Grammatik, die sich bei Mager als didaktisierte Stiltheorie präsentiert (Mager 1844: 23). Hier spricht Mager eindeutig weniger den Universitätsdozenten an als den Lehrer der modernen Sprachen und Literaturen in der Schule. 91 Das Kriterium der fehlenden methodischen Diskussion trifft ebenfalls auf die Kritik als philologische Methode zu. Tatsächlich erscheint hier zum ersten Mal Karl Lachmann unter Nennung seiner Lessing Edition - allerdings im negativen Sinn. Diskutiert wird nicht die Kritik als philologische Methode, sondern das Fehlen kritischer Ausgaben neuerer Autoren (vgl. Mager 1844: 19/ 20). Von der Schule zur Universität 229 Die Aussage, es handle sich bei Magers Text von 1840 um eine „Gründungsurkunde“ der Neuphilologie (vgl. Christmann 1987; Selig 2008) muss folglich dahingehend relativiert werden, dass es sich um einen discours fondateur der Neuphilologie nur unter der pädagogischen Perspektive der Gegenstandlegitimation ‚Moderne Sprachen und Literaturen‘ handelt. Endgültigen Aufschluss über Magers eindimensionale Argumentationslinie gibt der zweite Teil seiner Abhandlung, in dem er das Verhältnis von Schule und Philologie noch einmal genauer beleuchtet (vgl. Mager 1844: 25-80). Mager trennt zunächst sorgfältig universitäre Wissenschaft von Bildung, um dann sogleich auf das eigentliche Dilemma hinzuweisen: […] und wenn die Bürgerschule die beiden alten Sprachen und Litteraturen ausschließt, so gibt sie sich dafür der Hoffnung hin, daß sie, die nicht Gelehrte bilden will, in ihren Angehörigen dennoch eine wesentlich humane, intellectuelle, ethische und ästhetische, europäisch-moderne Bildung durch das Studium neuerer Sprachen und Litteraturen erzeugen könne. Die Bürgerschule, wenn Sie ihren Begriff erfaßt, läßt es nicht gefallen, der Gelehrtenschule als einer Humanitätsschule entgegengesetzt zu werden, denn es ist nur ein Unterschied vorhanden, kein Gegensatz […]. (Mager 1844: 113) Offenkundig ist Magers Hauptanliegen ein schulpädagogisches und kein wissenschaftliches. 92 So erklärt sich auch die Disparatheit der Diskurselemente, die er in seine Argumentation betreffend die Wissenschaft ‚Philologie‘ einbaut. Hier mischen sich Klassifikatoren der Wolfschen Diskursstränge, so zum Beispiel die pädagogische Verantwortung, mit Klassifikatoren des eher durch wissenschaftliche Methodendiskussion geprägten Diskurses von August Boeckh. Elemente der neuphilologischen Diskurse werden hauptsächlich durch Jacob Grimm repräsentiert. Integriert werden sie in die Magersche Konzeption aber nur mit dem Zweck, die Bildungsfähigkeit der modernen Fremdsprachen zu legitimieren, hier wird auch klar, warum Mager die Abgrenzung zur Linguistik und anderen positiven Wissenschaften vornehmen muss. Implizit kann er so die Moderne Philologie auch gegenüber der klassischen abgrenzen, obwohl er deren Argumentationsmuster für seinen Bildungs- und Sprachbegriff übernimmt. So erklärt es sich, warum die Magersche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Philologie und die in ihr wirkenden Diskurse für die Neuphilologie so interessant sind: Sie spiegeln in der Vielheit der zusammenlaufenden Diskursstränge (Wolf, Boeckh, Schlegel, Humboldt, Grimm - um nur die wichtigsten herauszugreifen) die beginnenden Brüche und Zäsuren in der ange- 92 Vgl. hierzu auch Selig 2005. Die Beschränkung auf eine Bestimmung des Philologen auf einen reinen Dilettanten in der Magerschen Theorie geht allerdings etwas zu weit. Nur Dilettant oder auch nur Polyhistor ohne Spezialisierung ist der Philologe nur auf dem Gebiet der Nachbarwissenschaften (Sprach-, Kultur- und Staatswissenschaft sowie Kunst und Philosophie), auf dem Gebiet der Textwissenschaft tritt er als Gelehrter auf - als spezialisierter Fachwissenschaftler (vgl. Mager 1844: 4-5; 18-24). Die Diskursformationen der Neuphilologien 230 nommenen Einheit der Philologie sowie in deren kontinuierlichen Entwicklung wider. Um sich von der Altphilologie abzusetzen, wird der Klassifikator der zwei Disziplinen aus dem Grimmschen Diskurs übernommen, ansonsten verharrt Mager zwischen Wolf und Boeckh, mit einer stärkeren Tendenz in Richtung des pädagogischen Diskursstranges bei Wolf. Die Mühen, die Mager bei der Bestimmung der Philologie als Wissenschaft hat, verweisen in Richtung der Krise der Philosophie. Mager hat vermutlich bereits erkannt, dass die Kriterien für eine moderne autonome Wissenschaft in der Methodendiskussion und der Ergebnissicherung über Kontrollierbarkeit und Objektivität zu suchen sind. Diesen Nachweis kann er für die Moderne Philologie (noch) nicht erbringen. Er weicht der Diskussion unter Verweis auf anerkannte Kollektivsymbole 93 aus, die er als Legitimationsformeln zitiert und löst sich so nur teilweise von den Wissensrahmen und Leitkategorien der ehemaligen Königsdisziplin der Wissenschaften, der Philosophie. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Magers Texte die Schwankungen des identitären Prozesses der Neuphilologie zwischen positiver und partizipativ-idealistischer Wissenschaft deutlich reflektieren. Das Aufbrechen der Einheit von Sprachwissenschaft und moderner Philologie zeigt ein Bewusstsein für den Wandel im Begriff ‚Wissenschaft‘. Die bisher mit diesem Begriff verbundenen Konnotationen, die sich stark aus dem Kontext der Philosophie speisten, verändern sich und nähern sich einem naturwissenschaftlichen Kontext an. Als Konsequenz der Veränderungen auf der Konnotationsebene erfährt auch die Denotatsebene des Begriffs ‚Wissenschaft‘ einen Wandel: Objektivität, Kontrollierbarkeit, Methodizität werden als semantische Inhalte Partizipation, Bildungsfähigkeit etc. ablösen und damit neue Wissensrahmen im Begriff Wissenschaftlichkeit bilden, die dann die kommunikativen Prozesse um diesen diskursiv regeln werden. Magers Texte lassen den Schluss zu, dass dieser Wandel um die Jahrhundertmitte noch nicht ganz abgeschlossen war, die Bestimmung der Philologie als Grenzwissenschaft, die Kompromisslösung bei der Bestimmung des Philologen als Fachwissenschaftler wie auch die mangeln-de Methodendiskussion 94 weisen deutlich in diese Richtung. 93 Dafür sprechen die häufigen Verweise auf Humboldt, Goethe, Rückert, Hegel, Schelling oder Grimm. Diese sind anerkannte Autoritäten, qua ihrer Leistungen auf ihrem Gebiet hat ihr ‚zitiertes‘ Wort Gewicht. 94 Einen Ansatz in Richtung einer Methodendiskussion bietet Mager im zweiten Teil seiner Abhandlung, indem er die wissenschaftliche Methode der didaktischpädagogischen Methode gegenüberstellt. Die wissenschaftliche Methode wird definiert als Zusammenspiel von objektiver und subjektiver Erkenntnis. Seine Bestimmung der Wissenschaft als „denkendes Erkennen“ verweist ihn hier allerdings klar in die Konnotationsebene eines philosophisch geprägten Begriffs ‚Wissenschaft‘ (vgl. Mager 1844: 59f.). Von der Schule zur Universität 231 Die Analysen der Magerschen Texte lassen für die Weiterentwicklung des Begriffs ,Philologie‘ zweierlei vermuten: Zum einen, dass Magers Text von 1840 als Gründungsdiskurs für eine Diskursformation betrachtet werden kann, die die bisherige Diskussion in Richtung pädagogischer Fragestellungen verengt und somit aus dem gesamten Diskursraum ‚Philologie‘ einen Sektor ‚Philologie und Bildungstheorie‘ ausschneidet. Magers Argumentation bleibt hier eindimensional auf Fragen nach gesellschaftlicher Relevanz restringiert. Zum anderen wird deutlich, dass die Wissenschaftlichkeit der Modernen Philologie noch keine Selbstverständlichkeit und die Identitätsfindung der „Neueren“ um die Jahrhundertwende noch in vollem Gange ist - die Moderne Philologie sucht ihren Weg zwischen Verstehens- und Naturwissenschaft. 5.2.1.2 Moderne Philologie zwischen Partizipation und autonomer Wissenschaft: Die Suche nach dem „hochzeitlich Kleid“ Ein Vergleich mit der Antrittsrede Adelbert von Kellers aus dem Jahr 1842 95 , also kurz nach dem Erscheinen der Magerschen Abhandlung, verdeutlicht die Verschiedenheit zwischen der universitär und der bildungstheoretisch geführten Debatte um den Begriff der Neuphilologie und stärkt die Annahme, die Moderne Philologie führe ihren Prozess der Identitätsfindung in mehrdimensionaler Hinsicht. 96 Kellers Textstruktur orientiert sich bereits am neuen Kriterienkatalog für ‚Wissenschaft‘, aber auch er zeigt Ausweichmanöver, wenn es darum geht, diese auf die Philologie anzuwenden. Keller gibt zunächst ganz unumwunden zu, die Moderne Philologie sei im Gegensatz zur klassischen und orientalischen Philologie noch nicht im selben Maße als akademische Disziplin anerkannt: Eine volle Anerkennung ist jedoch dieser neuen akademischen Disziplin noch nicht allenthalben zu Theil geworden, und die moderne Philologie darf sich über diese Geringschätzung kaum beklagen. War es doch ihre eigene Schuld, daß sie kein hochzeitlich Kleid anhatte und somit keine Aufnahme finden konnte in einem Kreiße, zu welchem nur der Stempel echter Wissenschaftlichkeit den Eintritt möglich macht. (Keller [1842] 1980: 264) 95 Strenggenommen müsste Keller eigentlich der universitär-fachwissenschaftlichen Diskussion um die Neuphilologien zugeordnet werden. Doch seine Verweise auf Magers Text sowie der Umstand, dass Mager auf Kellers Rede mit einer Rezension derselben reagiert hat, rechtfertigen die Verortung in der kulturpädagogischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Philologie. 96 Vgl. hierzu auch Christmann 1987; Selig 2008. Christmann macht die Differenzierung in unterschiedliche Diskursformationen um den Begriff der Neuphilologie allerdings nicht auf, was der Tatsache geschuldet ist, dass Christmann sich in seiner Analyse stärker auf Netzwerkbildungen und biographische Hintergründe konzentriert. Die Diskursformationen der Neuphilologien 232 Auffällig ist in Kellers Text, dass die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft nicht als eigene wissenschaftliche Disziplin genannt wird - den Grund hierfür liefert er gleich zu Beginn seiner Rede: Seit einer Reihe von Jahrhunderten ist es die classische Philologie, welche an unsern Universitäten die ganze Sprachwissenschaft repräsentiert oder überwiegend beherrscht. (Keller [1842] 1980: 263/ 64) Differenzierungen, wie sie bei Grimm oder auch Diez zu finden sind, nimmt Keller nicht vor. Er thematisiert auch nicht das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Philologie, wie es bei Elze oder Mager der Fall war. Die „Verknüpfung von Sprach- und Literaturwissenschaft in der universitären Philologie“ wird „fraglos“ angenommen (Selig 2008: 30). Keller wendet sich in seiner Rede eindeutig gegen Magers Definition der Philologie. Zwar ist auch Keller gegen eine Universalphilologie 97 , die Begründung, die er für seine Selektion liefert ist jedoch eine gänzlich andere: So ist neulich folgende Definition aufgestellt worden: Philologie ist dieses, ein Volk oder einen Kreis von Völkern in der Allseitigkeit ihrer Existenz bis auf den Grund ihrer Seele erforscht zu haben. Auf diese Erklärung hin wird dann dem Philologen allen Ernstes zugemuthet, Polyhistor zu sein […]. Ich bin nicht dieser Ansicht. Es ist für jeden, der in unserer Zeit in dem Felde positiven Wissens etwas Erhebliches zu leisten strebt, die unerläßliche Aufgabe, seinen Kreiß sich fest abzugrenzen und sich vor zerstreuender Zersplitterung zu hüten. (Keller [1842] 1980: 271) Wo Mager noch mit dem Argument der Bildungsfähigkeit moderner Sprachen den Gegenstand der Philologie über die Kulturtrias rein pädagogisch begründet, da zieht Keller bereits stärker an die Institution ,Universität‘ gebundene Kriterien heran: die Ausdifferenzierung der Fächer und die damit einhergehende Spezialisierung von Wissen. Die von Mager geforderte Interdisziplinarität hält Keller daher für nicht realisierbar. 98 Auch in einer weiteren Argumentationslinie folgt Keller keineswegs dem von Mager verfolgten Weg: dem Aufbrechen der Einheit von Sprachwissenschaft und Philologie als Textwissenschaft. Keller ordnet die Sprachwissenschaft unter das Dach der Philologie, indem er sich auf die Notwendigkeit einer philosophischen Grammatik beruft. Seine Argumentation in diesem Punkt zeigt die verschiedenen Diskursformationen, die Mitte des 19. Jahrhunderts zusammenlaufen. Zunächst macht Keller seinen Standpunkt hinsichtlich des Sprachbegriffs klar: 97 Zu Kellers wissenschaftlichem Werdegang vgl. Christmann 1987. 98 Auch dies ist als Indiz zu werten, hinter Magers Definition verstecke sich eher das Bildungsideal eines umfassend (aus)gebildeten Abiturienten, nicht das Ideal eines Universitätsprofessors… Von der Schule zur Universität 233 Die wissenschaftliche Behandlung der neuern Sprachen geht nun von der gedoppelten Wahrnehmung aus, daß die Sprache nicht ein bloß für den praktischen Zweck wilkührlich Ersonnenes, sondern etwas Objectives, nach bestimmten Gesetzen sich Entfaltendes ist, daß sonach auch der Grammatiker nicht dazu da ist, der Sprache Gesetze zu geben, sondern ihre immanenten Gesetze zu erforschen und zu begreifen. (Keller [1842] 1980: 267) Intertextuell verweist Keller hier auf den Sprachbegriff der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Die Gesetzeswie auch die Organismusmetapher verweisen auf die Forschungen Rasks, Bopps und vor allem auch Jakob Grimms, den er wenige Zeilen später auch als Gewährsmann anführt. Über die an dieser Stelle zitierten Wissensrahmen wird deutlich, dass Keller Sprache bereits als eigenständiges System begreift. Wissenschaftliche Grammatik wird nicht mehr verstanden als Beschreibung eines präskriptiven Regelapparats, sondern vielmehr als Erforschen der inneren Zusammenhänge eines der Dynamik der Zeit und des Wandels unterworfenen Organismus. Der physiologische wie der historische Aspekt innerhalb der modernen philologischen Forschung liegen Keller besonders am Herzen, er beklagt die einseitige Fokussierung Grimms wie auch Diezens auf die schriftlichen Quellen und fordert eine stärkere Integration der lautlichen Ebene (Keller [1842] 1980: 270). Eine so verstandene Sprachwissenschaft weist Elemente der Diskursformation aus den Texten der empirisch-positivistischen Sprachwissenschaft auf, wie sie ihre Anfänge in der anatomistischen Sprachwissenschaft Bopps nimmt. Doch, und das ist bemerkenswert an Kellers Rede, bleibt er nicht bei der empirischen Sprachforschung stehen, sondern integriert ein Element in seinen Diskurs, das an Humboldts Sprachkonzeption, die Hegelsche Geschichtsphilosophie wie auch an Boeckhs Bestimmung philologischer Forschung erinnert: Denn wenn die Sprache auch nach einer Seite hin auf die Natur gegründet ist, so ist sie doch im Ganzen eine Manifestation des Geistes und das letzte Begreifen der Sprache ist nur auf dem psychologischen Standpunkte möglich. Es bildet sich auf diese Weise eine allgemeine philosophische Grammatik, in welcher nicht allein die einzelnen Theile des Sprachorganismus als Momente des Begriffs der Sprache, sondern auch die besondern Idiome mit ihren Verzweigungen in ihrem nothwendigen Zusammenhang mit dem in der Geschichte sich manifestierenden Volksgeiste erkannt werden. (Keller [1842] 1980: 271) Kellers Sprachbegriff liegt im Grenzbereich zwischen einem empirischpositivistischen und einem hermeneutisch-idealistischen Sprachbegriff 99 , 99 Vgl. zur Integration der hermeneutischen Tradition bei Keller auch Kalkhoff 2007: 438; Selig 2008: 32. Anzumerken ist hierbei allerdings, dass sich Keller im Gegensatz zu der bei Kalkhoff vertretenen Meinung nicht vollständig von der Spekulation als philosophischer Methode abwendet. Keller plädiert zwar nachdrücklich für die Do- Die Diskursformationen der Neuphilologien 234 wobei letzterer noch leicht dominiert. Erkennbar wird, dass der empirische Diskurs der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Einfluss auf die Bestimmung der Modernen Philologie als Wissenschaft nimmt. Methodisch geht die Empirie allerdings eindeutig vor die Spekulation, Keller folgt hier der Auffassung Boeckhs, dass das hierarchische Verhältnis von empirischer Forschung und philosophischer Spekulation zu Gunsten der Empirie definiert werden müsse: Die Dogmatik des Kennens aber muß, wie gerade in Bezug auf die Sprache neuerlich mit Recht eingeschärft worden ist, der Speculation des Erkennens vorausgehen. (Keller [1842] 1980: 270) Die bei Keller nur angedeutete Methodendiskussion verweist auf die Spannung zwischen einem naturwissenschaftlich dominierten Diskurs über den Begriff der autonomen Wissenschaft und dem der Philosophie verpflichteten Diskurs über Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft. 100 In Kellers Konzeption bleibt die Einheit zwischen Sprach-, Textwissenschaft und Literaturgeschichte gewahrt, was ihm die Integration der hermeneutischen Tradition auch im Bereich der Sprachwissenschaft erlaubt. In der Entscheidung zwischen Natur und Geist schlägt das Pendel bei Keller auch im Bereich der Linguistik noch zugunsten des Geistes aus. Die Debatte um den Wissenschaftsbegriff hinterlässt jedoch ihre Spuren, was sich in Kellers Rede beispielsweise in der Definition des Gegenstandsbereichs der Modernen Philologie niederschlägt. Auch hier zeigt sich, dass Keller Neuphilologie als moderne Wissenschaft über andere Parameter als Mager definiert. So findet sich das bereits genannte Moment der Selektion bei Keller, wenn es um die Bestimmung des Forschungsprogramms der Modernen Philologie geht, dieses bezieht minanz der empirischen Forschung, räumt der Spekulation jedoch noch Raum ein (vgl. Keller [1842] 1980: 270; 275). 100 Dass der epistemische Bruch im wissenschaftlichen System in Deutschland in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts noch keineswegs vollzogen war, zeigt in den Diskursen um den Begriff der Philologie die Rolle der Philosophie, die immer noch als Leitdisziplin auftaucht - bei Keller allerdings mit einer bereits eindeutigen Distanzierung von einer rein spekulativen Philosophie Hegelscher Provenienz: „[…] das eigentliche Mark und Leben unserer Universitäten in der Philosophie besteht und in der philosophischen Bildung, welche man bei uns zu dem Studium der eigentlichen Berufswissenschaften mitbringt. Man versteht jedoch hier unter Philosophie nicht eine in Abstractionen sich verschließende Speculation, sondern eine Beschäftigung mit der Philosophie, welche ebenso die verschiedenen Gebiete des vollen concreten Lebens des Geistes in Sprachen Geschichte und Litteratur durchwandert, nach allen Seiten hin einen freien sicheren Blick gewonnen und dadurch sich die Kraft erworben hat, auch die Wirklichkeit und die positiven Studien mit der Idee zu befruchten.“ (Keller [1842] 1980: 275) Von der Schule zur Universität 235 sich aber nicht auf die zu erforschenden Kulturen 101 , sondern auf den Gegenstandsbereich, der zusammen mit der Sprachwissenschaft nach Keller die Moderne Philologie abbildet: die Literatur (Keller [1842] 1980: 271/ 272). Hier sieht er einen klaren Gegensatz zur klassischen und zur orientalischen Philologie. Während diese beiden die Gesamtheit der Schriftdenkmäler als Gegenstand haben, hat sich die Moderne Philologie auf die Werke der schönen Literatur zu beschränken. 102 Erneut greift das Kriterium einer notwendigen Spezialisierung, um das Gebiet der Modernen Philologie abzustecken. Philologie der neueren Sprachen und Literaturen umfasst bei Keller die historisch-vergleichende und philosophische Grammatik sowie die Kritik, Interpretation und die Geschichte der poetischen Sprachdenkmäler (Keller [1842] 1980: 273). Literatur und Sprachwissenschaft berühren sich dabei über das Bindeglied der Poesie: Die Poesie steht aber insofern schon mit der Sprachwissenschaft in genauem Zusammenhang, als die Sprache, als Mittel künstlerischer Darstellung angewandt, in der Poesie ihre höchste Verklärung feiert, wie denn auch den Schlußstein der Grammatik die Metrik bildet. Die moderne Philologie begreift sonach in sich die Kunde der modernen Sprache und der modernen Sprachkunst d.h. der neueren Kunst, sofern sie die Sprache zum Darstellungsmittel wählt. (Keller [1842] 1980: 272) Hinsichtlich der Sprachwissenschaft beschreitet Keller keine neuen Wege: Hier verpflichtet er sich dem Sprachbegriff Humboldts, sein methodischer Ansatz kann in der Nähe der Boeckhschen Methodendiskussion eingeordnet werden. Die Betonung auf den Forschungswert der gesprochenen Sprache und der Dialekte spiegelt, dass Keller inhaltlich bereits Elemente des „moderneren“ sprachwissenschaftlichen Diskurses in seine Philologiekonzeption integriert hat. Die Beschreibung der literarischen Seite der Philologie steht bei Keller dagegen ganz unter dem Stichwort Relevanz (Selig 2008: 25). Dezidiert wehrt sich Keller sowohl gegen Vorurteile gegenüber dem Mittelalter als auch gegen Vorurteile gegenüber neuerer Autoren. Legitimiert wird die moderne Literatur erneut über das Argument der Gleichberechtigung aller bildungsgeschichtlichen Epochen, zu der eben auch die romantisch-moderne europäische Kultur als eine der „Hauptphasen der welthistorischen Entwickelung des Geistes“ gehört (Keller [1842] 101 Es sei aber nicht verschwiegen, dass Keller als „Hauptkreiße“ der modernen Literatur und Sprachforschung die Germanische und die Romanische Philologie ansieht (Keller [1842] 1980: 274). 102 Hier findet sich denn doch eine Parallele zu Magers Selektion: der Philologe erwählt sich nur das, was „Herz und Aug‘ erfreut“ (Mager 1844: 8). Mager bezieht das einerseits auf die Wahl des Landes, andererseits auch auf den Gegenstand. Keller selegiert ähnlich über ein rein ästhetisches Kriterium, wenn er die Fachliteratur (Jura, Medizin, Theologie, Geschichtsschreibung) und Werke der Beredsamkeit ausschließt und so der Tradition einer Universalphilologie im Sinne Boeckhs eine klare Absage erteilt. Die Diskursformationen der Neuphilologien 236 1980: 264) sowie über die nationalgeschichtliche Bedeutung der poetischen Literatur (Keller [1842] 1980: 274). Moderne Philologie in der Konzeption, wie sie bei Keller vorliegt, ist in der Lage, der Nation Aufklärung über ihre Geschichtlichkeit zu geben. 103 Offensichtlich argumentiert Keller in der Legitimationsfrage der Modernen Philologie, im Gegensatz zu Mager, bereits zweigleisig: Es findet sich einerseits eine Argumentationslinie, die auf der wissenschaftlichen Ebene der Methode abläuft, also den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit gewährleistet, andererseits ein Argumentationsstrang, der auf der Inhaltsebene anzusiedeln ist und der über die Gegenstandsbestimmung der modernen Sprachen und Literaturen der Neuphilologie eine gesellschaftliche Relevanz sichert. Am Beispiel der Germanischen und der Romanischen Philologie wird deutlich, inwieweit beide Ebenen verknüpft sind: Eine strenge, wissenschaftliche Methode sichert eine größtmögliche Annäherung an Wahrheit, der Gegenstandsbereich gewährt Aufklärung und Bereitstellung der Faktoren, die der Nation eine Identität verleihen - Keller spricht hier von den Modernen Philologien als „sicher[e] Stützpunkte für unsere Nationalität“ (Keller [1842] 1980: 276). Über die ethischen Implikationen, die sich in dem modernen Begriff der Wissenschaftlichkeit und der Verpflichtung auf gesellschaftliche Relevanz finden, gewinnt die Konzeption der Neuphilologie bei Keller ihr doppeltes Profil. Dieses Profil war bei Mager noch eindimensional angelegt: Mager verfolgte auf der Gegenstandsebene lediglich das Kriterium der gesellschaftlichen Relevanz, das er über die Bildungsfähigkeit des Gegenstands legitimierte. Daher lässt sich hinsichtlich des Magerschen Entwurfs von einer pädagogischen Engführung der neuphilologischen Konzeption sprechen 104 , während sich bei Kel- 103 Die Bestimmung der Philologie über diesen buchstäblichen Sitz im Leben bleibt bis Ende des 19. Jahrhunderts und auch darüber hinaus Tradition. Besonders präsent ist sie aber sowohl im Bereich klassischer als auch moderner Philologie Mitte des 19. Jahrhunderts. Philologie steht hier ganz im Zeichen des Historismus, sie wird bestimmt als eine historische Wissenschaft. Vgl. hierzu die Definition der Philologie bei Heyse, der Philologie als eine historische Wissenschaft fasst, „deren Aufgabe die E r k e n n t n i s d e r g e i s t i g e n Z u s t ä n d e , B e s t r e b u n g e n u n d E r z e u g n i s s e e i n e r N a t i o n o d e r m e h r e r e r v e r w a n d t e r N a t i o n e n i n e i n e r b e s t i m m t e n E p o c h e d e r W e l t g e s c h i c h t e u n t e r d e m G e s i c h t s p u n k t e d e r g e s c h i c h t l i c h e n E n t w i c k e l u n g i s t .“ (Karl Wilhelm Ludwig Heyse 1856: 17/ 18; Sperrung wie im Original) Zum Wandel der Philologie in eine Nationalphilologie vgl. Stierle 1979: 266. 104 Dies spiegelt sich auch in der Rezension Magers zu Kellers Inauguralrede, in der Mager äußert polemisch agiert. Deutlich wird erneut, dass es Mager um Schulbildung geht, nicht darum, Philologie nach universitären Wissenschaftskriterien zu analysieren. So unterstellt Mager Keller hier kurzerhand mangelndes pädagogisches Verständnis, diese Seite sei Herrn Keller wohl gänzlich unbekannt (Mager 1844: 363). Des Weiteren wirft Mager Keller vor, nicht sauber genug zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis zu differenzieren, Anlass gibt ihm die Terminologiediskussion. Mager, als Pädagoge und Didaktiker, plädiert für eine bessere Verständlichkeit der Von der Schule zur Universität 237 ler durch die doppelte Perspektive eine Konzeption findet, die Anknüpfungspunkte in beide Richtungen öffnet: Wissenschafts- und Bildungsdiskurs. Denn auch bei Keller wird die Relevanz der Modernen Philologien durch den Bezug zur Schule gesichert: Es braucht sonach nur anerkannt zu werden, daß dem Studium der neueren Sprachen und Litteratur die Kraft zu dem, was man formale Bildung genannt hat, ebenso innewohnt, wie andern Wissenschaften, welche man unter der Benennung Humaniora zu begreifen pflegt, so können wir der modernen Philologie ihre Stelle unter den übrigen akademischen Disciplinen ohne Weiteres für gesichert erachten. (Keller [1842] 1980: 275) Auf dem Feld der praktischen Relevanz der Modernen Philologie argumentiert Keller, ähnlich wie Mager, mit der Mangelhaftigkeit des Unterrichts in modernen Sprachen und der Notwendigkeit, diesen Mangel über eine Qualitätssicherung der Lehrerbildung zu beheben. Dies könne aber nur durch eine Verbesserung des Status der Neuphilologien an den Universitäten erreicht werden, damit die Forschungsergebnisse der spezialisierten Fachwissenschaften auch in die „weitern Gebiete des Lebens“ vermittelt werden könnten (Keller [1842] 1980: 277). Keller spricht sich klar für eine Gleichberechtigung der modernen neben den klassischen Sprachen auf universitärer wie schulischer Ebene aus. Sollte dies erreicht werden, dann habe die Moderne Philologie ihr „hochzeitlich Kleid“ gefunden und […] wagt es in unsern Tagen […] als wissenschaftliche Grammatik der germanischen und romanischen Sprachen und als Geschichte der Poesie des Mittelalters und der neuern Zeit sich neben die orientalische und classische Philologie als dritte ebenbürtige Schwester hinzustellen. (Keller [1842] 1980: 277) 5.2.2 Die universitäre Perspektive: Neuphilologische Enzyklopädien als didaktische Projekte Im Zuge der voranschreitenden Institutionalisierung der Neuphilologien geraten die Bedürfnisse der Lehrenden wie der Studierenden mehr und Termini, Keller hatte sich im Sinne der Wissenschaftlichkeit gegen Übertragungen der lateinischen Terminologie ins Deutsche verwahrt (Mager 1844: 363/ 364). Kellers Kritik an Magers Philologiebegriff führt dazu, dass Mager diesen noch einmal spezifiziert. Dabei wird deutlich, dass Mager sich nicht aus dem Grenzbereich Kunst - Wissenschaft lösen kann. Philologie bleibt bei ihm ein dreifach zu bestimmender Begriff (Kunst, Wissenschaft, Universitätsbzw. Schulfach), als Wissenschaft sei Philologie aber „die Wissenschaft des Gewussten, das vermittelnde Erkennen im Gegensatz zum unmittelbaren Erkennen des Selbstdenkers.“ (Mager 1844: 364) Erneut wird die Traditionslinie zu Boeckhs Philologiekonzeption sichtbar, der Mager auf der wissenschaftlichen Ebene letztlich nichts Neues hinzufügen kann. Auch beharrt Mager auf seiner Trennung der Linguistik von der Philologie (Mager 1844: 365). Die Diskursformationen der Neuphilologien 238 mehr in den Blick der philologischen Forschergemeinde. Es scheint angebracht, auch für die Studierenden der modernen Fremdsprachen Enzyklopädien nach Vorbild der Klassischen Philologie zu erstellen, um diesen einen Leitfaden für ihr Studium an die Hand zu reichen. Ein solches Projekt bildet die erste neuphilologische Enzyklopädie: Bernhard Schmitz übernimmt dabei unhinterfragt die Vorstellung der Einheit der Neuphilologien, eine Spezialisierung in einzelne Nationalphilologien scheint ihm nur für die Deutsche Philologie angebracht. 105 Diskussionen um den Begriff ,Wissenschaft‘ werden vollständig ausgeblendet, dringlicher scheint die Lösung pragmatischer Anliegen zu sein, wie beispielsweise eine Auflistung der vorhandenen Fachliteratur für die Studierenden. Auch die 1886 erschienene Übersicht Die romanische Philologie. Ein Grundriß von Fritz Neumann bietet außer einer kurzen Darstellung über die Entwicklung des Faches Romanische Philologie als Einzelwissenschaft, in der er vor allem den Gründungsmythos Diez weiter zementiert 106 , nichts wesentlich Neues (vgl. Neumann 1886: 10-15). 107 Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Neumann seinen Grundriß gezielt für das Einzelfach ‚Romanische Philologie‘ verfasst, was auf die abgeschlossene Institutionalisierung derselben als Universitätsfach schließen lässt. Gustav Körting hat demgegenüber einen höheren Anspruch: Seine Enzyklopädie versucht die Anbindung an die Tradition der Philologie als umfassende Kulturwissenschaft wieder herzustellen und gleichzeitig vor allem die neufranzösische Sprach- und Literaturforschung als gleichwertig neben der Beschäftigung mit der älteren Sprachstufe zu etablieren. Körting bleibt hinter diesem Anspruch allerdings zurück: Als dominant erweist sich auch in seinem Werk der kulturpädagogische Anspruch und der leitfadenartige Charakter. 105 Eine These, der Karl Bartsch 1883 vehement widersprechen und stattdessen für eine besonders enge Kooperation der Germanischen mit der Romanischen Philologie plädieren wird (Bartsch 1883: 235). 106 „Ich sagte oben, daß mit Diez erst die Geschichte der romanischen Philologie begönne; ebenso schließt sie mit Diez ab.“ (Neumann 1886: 15) Diez ist als Gründungsvater so übermächtig, dass Neumann tatsächlich darauf verzichtet, neuere Entwicklungen und Forschungswege, die von Diezens Schülern beschritten wurden, zu erwähnen. Auch dies weist darauf hin, dass Neumann sein Werk nicht in erster Linie für die Expertenkultur verfasst, sondern, dass es sich bei diesem um eine reine Bestandsaufnahme und Hilfestellung für Lehrkörper und Studierende handelt. 107 Aus diesem Grund wird der Text Neumanns im Rahmen dieser Arbeit auch nicht analysiert, konzeptionell bietet Neumann keine neuen Impulse. Von der Schule zur Universität 239 5.2.2.1 Die erste Enzyklopädie 108 der Neuphilologien als Anleitung für die Studierenden: Bernhard Schmitz (1819-1881) Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts scheint die Legitimation des Gegenstandes „Neuere Sprachen und Literaturen“ nicht mehr das Dringlichste zu sein. Sehr viel lauter werden stattdessen die Rufe nach einer adäquaten universitären Ausbildung der Studierenden der Neuphilologien, noch immer ist ein Mangel an fachwissenschaftlich ausgebildeten Lehrern zu verzeichnen. In diese Zeit fällt die Enzyklopädie Bernhard Schmitz’, der 1859 beklagt, dass allerorten munter die „Sprachmeisterei“ vertreten werde, man aber weit entfernt sei, die modernen Sprachen wissenschaftlich zu behandeln und zu lehren (Schmitz 1859: III). Als Vorbild zieht Schmitz nun nicht die fest im Sattel sitzende Altphilologie heran, sondern die historischvergleichende Sprachwissenschaft, die „seit den letzten Jahren des zweiten Decenniums, neue, früher nicht geahnte Bahnen eingeschlagen hatte“ (Schmitz 1859: III) und an der man sich zu orientieren habe. Sie sei es schließlich gewesen, deren Ergebnisse dazu geführt hatten, dass man das Studium der neueren Sprachen […] auf eine höhere Stufe erhoben und so, im Gegensatz zu der noch immer reichlich vertretenen Sprachmeisterei, als eigenes wissenschaftliches Fach, als die ‚moderne Philologie‘ proclamiert. (Schmitz 1859: III) Besonders beklagt werden der Mangel an wissenschaftlich konzipierten Lehrwerken sowie das Fehlen der neueren Sprachen als fest im universitären Kanon verankerte Fächer. Die wissenschaftlichen Voraussetzungen seien, so Schmitz, durch die Fortschritte in der Forschung der letzten Jahrzehnte gegeben und einer Verbesserung des wissenschaftlichen Studiums der Neuphilologien - Schmitz, Anglist und Romanist gleichermaßen, spricht in diesem Rahmen vornehmlich von Englisch und Französisch - stünde somit vor allem die pragmatisch-universitäre Situation entgegen (Schmitz 1859: IV). Eine Lücke innerhalb der universitären Ausbildung will Schmitz daher über die Bereitstellung „einer encyklopädischen Darstellung alles dessen schließen, was zum wissenschaftlichen Studium der neueren Sprachen gehört“ (Schmitz 1859: V). Im Gegensatz zu den üblichen Konzeptionen, die die Sprachwissenschaft in die Philologie integrieren (Elze, Keller, Mahn), dreht Schmitz das 108 Im Juli 1858 macht Carl Sachs im Archiv für neuere Sprachen und Literaturen einen Vorschlag für eine Enzyklopädie der Neuphilologien. Eine solche Enzyklopädie sei ein echtes Desiderat, so Sachs (Sachs 1858: 1). Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Sachs’ Artikel befindet sich Schmitz’ Enzyklopädie bereits „unter der Presse“ (Schmitz 1859: VII). Sowohl der Vorschlag Sachsens als auch die Umsetzung bei Schmitz orientieren sich nach Angaben der beiden Autoren an der altphilologischen Enzyklopädie Bernhardys, die Mitte des 19. Jahrhunderts als Standardwerk gilt. Vgl. zur Vorgeschichte der Enzyklopädie des philologischen Studiums der neueren Sprachen von Bernhard Schmitz Haenicke 1979: 28; Schmitz 1859: VII/ VIII. Die Diskursformationen der Neuphilologien 240 Verhältnis um und wählt eine Verhandlungsperspektive für den Begriff der Neuphilologien, die von der Sprachwissenschaft ausgeht (Kalkhoff 2007: 440). 109 So widmet sich der erste Teil seiner Enzyklopädie der „Sprachwissenschaft überhaupt“, unter deren Dach Schmitz alles abhandelt, was in den Bereich der Beschäftigung mit Sprache fällt: Neben Sprachgeschichte und Sprachphilosophie findet sich auch die Literatur. Im zweiten Teil stellt Schmitz eine Art kommentierte Bibliographie der bisher im Bereich der Neuphilologien erschienenen Fachliteratur zusammen, die er unter dem Titel „Litterarische Einleitung in das Studium der neueren Sprachen und Litteratur“ aufführt, getrennt nach einzelnen Sachgebieten. Daran schließt sich noch eine Methodologie des Studiums an (Anleitung zum Selbststudium und zum universitären Studium). Inhaltlich geklärt wird der Begriff der Neuphilologien im ersten Teil. Das weite Feld, das sich hinter dem Begriff ‚Sprachwissenschaft‘ bei Schmitz verbirgt, erklärt sich durch die Definition, die Schmitz für die Sprachwissenschaft vorschlägt: Die Sprachwissenschaft ist ebensowohl Wissenschaft der Sprache, d.h. des allgemeinen Wesens der menschlichen Sprache überhaupt […], als auch Wissenschaft der Sprachen, d.h. einzelner, vieler oder aller Sprachen […]. Der Gegenstand aller sprachwissenschaftlichen Erkenntnis und Kunde ist ein dreifacher: S p r a c h b a u , S p r a c h s c h a t z , S p r a c h g e s c h i c h t e . (Schmitz 1859: 1; Hervorhebung wie im Original) Damit erklärt sich aber noch nicht, warum Schmitz auch die Literaturgeschichte sowie die Behandlung der literarischen Gattungen und Formen unter dem Begriff der Sprachwissenschaft bündelt. Die Erklärung findet sich kurz darauf, nachdem Schmitz die Termini Sprachbau und Sprachschatz näher exemplifiziert, in der Erläuterung zur Sprachgeschichte. Diese nämlich sei „aufs engste mit der Litteraturgeschichte verbunden“ (Schmitz 1859: 3). Die Komplementarität erklärt Schmitz über den Zusammenhang zwischen Sprache, Geschichte und Literatur: Die Sprache als der gesammte Ausdruck des Geistes einer Nation ist nur in und mit der Litteratur, dem gesammten Reichtum der durch Sprache und Schrift darstellbaren Geisteserzeugnisse, zu erfassen. (Schmitz 1859: 3) 109 Möglicherweise erfolgt diese Perspektivierung in Anlehnung an die Encyklopädie von August Matthiä, der unter Philologie die Wissenschaft von der Erklärung und der Berichtigung der Schriften des Altertums (Griechen und Römer) versteht und sowohl die Orientalistik, als das Studium der morgenländischen, als auch die Linguistik, als das Studium der neueren Sprachen, von der Philologie unterscheidet (vgl. Matthiä 1835). Schmitz betont aber, dass er im Gegensatz zu Matthiä in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den neueren Sprachen mehr als den Nutzen des „gewöhnlichen Sprachgebrauchs“ sieht und integriert die philologische Methode in das neusprachliche Studium (Schmitz 1859: 7). Von der Schule zur Universität 241 Über die so bestimmte Dialektik zwischen Schrift/ Literatur - Geist - Geschichte der Nation gelangt Schmitz zu seinem Einheitskonzept der Sprachwissenschaft: Die Sprachwissenschaft ist demnach theils L i n g u i s t i k […], theils P h i l o l o g i e . Während der Linguist, gewöhnlich mehrere, Sprachen oder Sprachfamilien um ihrer selbst willen und nach ihrem gegenseitigen Verhältnis kennen will, beschäftigt sich der Philolog mit mehreren oder auch etwa nur mit Einer Sprache […], um die hauptsächlich in der gesammten Litteratur der Sprache sich darstellenden Culturzustände eines Volkes kennen zu lernen. (Schmitz 1859: 3; Hervorhebungen wie im Original) Diese philologisch definierte Sprachwissenschaft erscheint bei Schmitz als Kulturwissenschaft, die stets sowohl linguistisch als auch philologisch bearbeitet werden muss, um die in den literarischen Denkmälern verborgene Kulturgeschichte eines Volkes erfahrbar zu machen. Eine weiter ausgeführte disziplinäre Abgrenzung, beispielsweise über die Methode, nimmt Schmitz an dieser Stelle nicht vor. Ebenso kurz entschlossen wie in der Definition seines Faches räumt Schmitz mit der Diskussion über die Verbindung von Wissenschaft und Kunst in der Sprache auf. Auch dies erfolgt erneut unter dem Verweis auf die doppelte Dimension in der Gestalt des Sprachforschers: Das die Sprachwissenschaft ausübende und anwendende Individuum ist immer Linguist und Philolog zugleich, jedoch meistens vorwiegend Jenes oder Dieses. Wissen und Können; Forschung und Kenntnisse; -Virtuosität. Sprache ist zugleich Kunst und Wissenschaft (nichtig ist der alte Streit, den die Franzosen immer wieder auffrischen, si la grammaire est un art ou une science). Theorie und Praxis im Individuum ungeschieden; […]. (Schmitz 1859: 3) Schmitz’ Konzeption weist auch eine Parallele zu Fuchs’ integrativer Konzeption auf: Auch er fordert eine umfassende interdisziplinäre Ausbildung. Grundlegende Kenntnisse der allgemeinen Sprachwissenschaft, gute Kompetenz in der deutschen und alten Philologie seien Voraussetzung für ein Studium der neueren Sprachen (vgl. Schmitz 1859: 7-9). Insgesamt bietet Schmitz’ Encyklopädie zwar einen guten Überblick über die bisherigen Forschungen, wirkt in seinen Definitionen aber zu wenig differenziert. Schmitz’ Bemühungen auf dem neusprachlichen Feld gelten weniger einer Begriffsklärung von Linguistik und Philologie - diese gehen bei ihm ja ineinander über und bilden einen Einheitskomplex, den er nicht hinterfragt -, sondern vielmehr der Bereitstellung eines Curriculums für die Studierenden nach Vorbild der Altphilologie. Grundlegend für Schmitz’ Entwurf ist die Koppelung der beiden Bereiche Englische und Romanische Philologie. In der Encyklopädie wird der enge Zusammenhang Die Diskursformationen der Neuphilologien 242 zwischen den beiden Fächern bereits angedeutet 110 , wenige Jahre später bekräftigt Schmitz in einer Studie über Die neuesten Fortschritte der französisch-englischen Philologie 111 noch einmal seine Theorie unter Berufung auf die Parallele zum Zusammenhang der griechisch-römischen Sprache sowie auf das andauernde Adstratverhältnis Englisch-Französisch (Schmitz 1866: III/ IV). Schmitz stellt sich damit gegen die einsetzende Spezialisierung, die eine Spaltung des Komplexes der europäischen Kultur (die Gesamtheit der geistigen Erzeugnisse deutscher, englischer und französischer Kultur) zur Folge hätte und somit in Schmitz’ Augen zu einer unvollständigen Erfassung des Gegenstands führen würde. Diesen Bruch mit dem holistischen Forschungsprogramm der Neuphilologien, die sich dem hermeneutischidealistisch geführten Diskurs verpflichtet fühlten, will Schmitz nicht auf Kosten einzelner Fachwissenschaften in Kauf nehmen. Eindringlich erinnert er, nachdem er seinen Ansatz durch den Verweis auf Wolf legitimiert hat (Schmitz 1866: III) an den ursprünglichen Begriff von Philologie als Sprach- und Kulturwissenschaft, in der die Einheit des Objektbereiches Sprache und Literatur die Gesamtheit der Menschheitsgeschichte spiegelt: Wir erinnern daran, daß das eigentliche Object aller Philologie Sprache und Litteratur ist, Sprache und Litteratur ja nicht als ein Gesammel von Wörtern und Schriftwerken, sondern als das Abbild des gesammten Lebens eines Volkes gefaßt. Und nun behaupten wir unsrerseits, daß Französisch und Englisch sich nicht bloß wie Griechisch und Römisch so verhalten, daß das zweite nicht ohne das erste gründlich studirt werden kann, sondern daß auch seit mehr als hundert Jahren von Englisch auf Französisch eine tief eindringende Rückwirkung besteht, wie von Römisch auf Griechisch nie stattgefunden hat. (Schmitz 1866: IV) Nachdem er so die Bedeutung des Sprachkontakts Englisch-Französisch als Kulturkontakt definiert hat, warnt er vor der Zersplitterung der kulturellen Einheit: Jedenfalls wird also Derjenige, welcher anstatt einer dieser Doppel- Philologien eine einfache aus denselben zu seinem speciellen Berufsfach machen will, die zugehörige Schwester-Philologie als eine seiner nächsten 110 Dies ist vermutlich auch die „ganz andere Tendenz“, die Körting Schmitzens Enzyklopädie ankreidet. Körting selbst tritt überzeugt für die Trennung der Fächer Anglistik und Romanistik ein und nimmt die Enzyklopädie von Schmitz daher als „warnendes Beispiel“ mit „negative[m] Werth.“ (Körting 1884: III) Die Kritik mildert Körting in seiner Encyklopädie dann ein wenig ab, indem er zumindest den didaktischen Teil als gewinnbringend für die Studierenden bezeichnet (Körting 1884: 161). Vgl. zu der Koppelung der Englischen und der Romanischen Philologie bei Schmitz auch Haenicke 1979: 29. 111 In dieser Abhandlung spricht Schmitz übrigens durchgehend von der Philologie der neueren Sprachen. Die sprachwissenschaftliche Perspektivierung aus der Encyklopädie scheint er aufgegeben zu haben. Von der Schule zur Universität 243 Hülfswissenschaften anzuerkennen haben. Das Wünschenswerthe und zu Erstrebende bleibt aber, daß, wie das griechisch-römische Fach längst als ein untheilbares gilt (wenn auch in demselben persönliche Vorneigung für Griechisch oder Römisch unverwehrt und häufig ist), ebenso das französisch-englische als Ein Ganzes zu allgemeiner Anerkennung gelange. (Schmitz 1866: IV) Schmitz’ Äußerungen aus dem Jahre 1866 bekräftigen den Eindruck der ersten neuphilologischen Enzyklopädie. Diese ist noch dem Programm der Hermeneutik der Moderne verschrieben, stark an den pädagogischen Diskurs der Altphilologie bei Wolf angelehnt und dient so mehr der Verbesserung der Studiensituation denn der Definition der Romanischen, respektive Englischen, Philologie als moderne, objektive Wissenschaft. Die Einheit der Philologie wird unreflektiert vorausgesetzt, methodisch verharrt die Enzyklopädie in pädagogisch-didaktischen Fragestellungen. Vor allem die Verweigerung gegenüber der Spezialisierung verhindert eine wissenschaftlich geführte Methodendiskussion, wie sie später beispielsweise bei Gustav Gröber vertreten ist. Als erstes „Handbuch der romanischen und englischen Philologie“ (Haenicke 1979: 29) leistet aber auch sie ihren Beitrag zu den Pionierarbeiten auf dem Gebiet der modernen Sprachen und Literaturen - vor allem auf der Ebene der universitätsdidaktischen Auseinandersetzung um die Bedürfnisse der als Fächer institutionalisierten Neuphilologien. 5.2.2.2 Gustav Körting (1845-1913) und das Bündnis der gleichberechtigten Schwestern: Alt- und Neufranzösisch als Einheit in der Romanischen Philologie 1879 gründet Gustav Körting zusammen mit Eduard Koschwitz die Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Literatur. 112 Der Titel des Fachorgans ist Programm, im „Prospect“ des ersten Bandes konstatiert Körting hinsichtlich des Gegenstandsgebiets der Romanischen Philologie, dass diese seit ihrer wissenschaftlichen Begründung, Körting nennt in diesem Zusammenhang Raynouard und Diez gleichermaßen 113 , eine stetige Erfolgsgeschichte vorzuweisen habe und 112 Ab 1888 lautet der Titel dann Zeitschrift für französische Sprache und Literatur. Vgl. zur Geschichte der ZfSL z.B. Schrott 2003. 113 Im 1884 erscheinenden ersten Band seiner Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie zieht Körting aber eine klare Trennlinie zwischen Raynouard und Diez. Bis zur Übertragung der vergleichenden Methode in die romanische Sprachforschung durch Diez spricht Körting von Dilettantismus und vorwissenschaftlichen Arbeiten, so habe Raynouard zwar wichtige Impulse gegeben, von „philologischer Methode aber kaum mehr als eine dunkle Ahnung“ besessen (Körting 1884: 187), die Wissenschaftlichkeit verdanke die Romanische Philologie daher eindeutig Diez, der „im Besitze einer vorzüglichen Methode“ gewesen sei (Ebd., zur Scheidung vorwis- Die Diskursformationen der Neuphilologien 244 […] sich in germanischen wie in romanischen Landen der eifrigsten und einsichtsvollsten Pflege hervorragender Gelehrter und unermüdlicher Forscher zu erfreuen gehabt, einer Pflege, welche reiche Früchte bereits getragen hat und reichere noch für die Zukunft verheisst. (Körting 1879: I) Die Aussichten, so Körting, seien vielversprechend, doch bei genauerem Hinsehen fällt ein Wermutstropfen ins Auge […] so wird man sich der Nothwendigkeit nicht entziehen können, das weite Gebiet der noch jugendlichen Wissenschaft allseitiger zu bearbeiten, als bisher geschehen ist und geschehen konnte. (Körting 1879: I) Zu einseitig sei die Konzentration auf die Erforschung der altfranzösischen Sprache und Literatur (Körting 1879: I), weswegen Körting dezidiert eine Ausweitung des Gegenstandsbereichs für die Romanische Philologie einfordert, dargestellt am Beispiel des Französischen. Da die Romanische Philologie nun, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, anerkannte Fortschritte gemacht habe und auf diese Weise sozusagen in den Olymp der wissenschaftlichen Disziplinen in den Universitäten sicher aufgestiegen sei, verliere die bisher sinnvolle Beschränkung auf das Mittelalter - da ja durch diese die Grundlagen im methodischen Bereich für die Romanische Philologie bereit gestellt worden seien - ihre Gültigkeit und es scheinen […] manche Anzeichen dafür zu sprechen, ,dass nunmehr die Zeit gekommen sei, die bisher stillschweigend als unüberschreitbar betrachteten Schranken zu erweitern und die Arbeit der Romanischen Philologie auf das ganze ihr rechtmässig zukommende Gebiet, also auch auf die neueren Perioden der Sprach- und Literaturgeschichte auszudehnen. (Körting 1879: II) Körting fürchtet, durch die einseitige Beschäftigung mit der Periode des Altfranzösischen laufe die Philologie der französischen Sprache und Literatur Gefahr, das Französische nur noch wie eine tote Sprache wahrzunehmen und auf diese Weise den Gegenstandsbereich um wichtige Aspekte zu reduzieren, die auch zu einer verzerrten Wahrnehmung der französischen Kultur führen könne (Körting 1879: II). Alt- und neufranzösische Sprache und Literatur müssen in der Philologie zu einer Einheit zusammengefasst werden, denn […] erst aus dem Bündniss der beiden einander gleichberechtigten Schwestern, der alt- und neufranzösischen Philologie, wird als die höhere Einheit beider die (gesammt)-französische Philologie im vollsten und wahrsten Sinne gewonnen. (Körting 1879: II) senschaftlicher von wissenschaftlicher Forschung vgl. Körting 1884: 161-169; 187-189). Als klares Kriterium zeigt sich hier erneut die Anwendung der Methode von vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen. Von der Schule zur Universität 245 Diese Forderung nach einer Einbeziehung der neufranzösischen Sprache und vor allem Literatur hängt mit Körtings Überzeugung zusammen, erst durch die Gesamtschau der kulturellen Zeugnisse der Vergangenheit wie auch der Gegenwart lasse sich die französische Kultur in ihrer historischen Entwicklung von der philologischen Forschung erkennen. Erst dann könne Romanische Philologie auch zu einem tieferen Verständnis des Anderen führen. Damit verbunden sei wiederum ein Beitrag zur Erkenntnis der europäischen Kulturgeschichte, da die französische Literatur auf ideale Weise geeignet sei, historische Bezüge und kulturelle Vernetzungen in der europäischen Literaturgeschichte sichtbar zu machen. 114 Der Neuphilologe Körting wendet den Blick auch nicht mehr fokussierend auf die Antike, deren unhinterfragtes Vorbild für die europäischen Kulturen und der historische Bezug dieser zu den alten Kulturen die Legitimation der modernen Sprachen und Literaturen lange Zeit entscheidend mit geprägt hatte (Diefenbach, Fuchs), sondern spricht selbstbewusst vom spezifischen historischen Eigenwert dieser europäischen Kultur, deren Literaturen „vor Allem auch um ihrer selbst willen“ (Körting 1879: II/ III) Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein müssen. 115 Was bei Mager und Keller noch der Legitimation über die Abgrenzung zur Altphilologie bedurfte, ist bei Körting nicht mehr vonnöten. Die Romanische Philologie als autonome Wissenschaft ist nun in der Lage, eine eigene Diskursformation um ihren Gegenstandsbereich aufzubauen - in die sie selbstverständlich auch traditionelle Elemente der Diskursformationen um den Begriff der Philologie integriert. So ist der Verweis auf die den Texten innewohnende Erkenntnis über geschichtliche Entwicklung der Kulturen kein neues Element. Neu, und natürlich Körtings Programm einer neufranzösischen Philologie geschuldet, ist die Vehemenz, mit der er für eine Erweiterung des literarischen Kanons plädiert, den er über die Höhenkammautoren 114 Dies erinnert an den Anspruch Diez’, dem es in seinen literarphilologischen Arbeiten ebenfalls darum ging, dass Netzwerk der geschichtlichen Bezüge und Verknüpfungen der Völker und Kulturen untereinander sichtbar zu machen. Vgl. hierzu: „Sie hat nicht nur die Culturelemente, Literaturstoffe und -formen fremder Nationen sowol des Alterthums wie der Neuzeit in sich aufgenommen, verarbeitet und selbstständig neugestaltet; sie hat auch, was sie sich erworben und neugebildet, wieder den Literaturen der übrigen europäischen Völker abgegeben und hat dieselben nicht nur wiederholt auf das Intensivste beeinflusst, sondern oft selbst längere Zeit hindurch beherrscht. Das Interesse, welches diese neufranzösische Literatur beansprucht, ist darum kein local beschränktes; es findet vielmehr jedes fremde Culturvolk in ihr einen Theil dessen wieder, was früher oder später ein Stück seines eigenen Wesens war oder wurde; es besitzt demnach auch jedes ein berechtigtes Interesse daran, ein möglichst eingehendes, tiefes Verständniss für die so wirkungsvolle Literatur Frankreichs und die in ihr niedergelegten Culturelemente und Cultursymptome zu gewinnen.“ (Körting 1879: III) 115 Vgl. zur Emanzipation der Nationalphilologien von den Altertumswissenschaften u.a. Stierle 1979: 280ff.; Hausmann 1998a: 7. Die Diskursformationen der Neuphilologien 246 hinaus auch für Autoren „zweiten und dritten Ranges“ öffnen will (Körting 1879: IV). Deren Bedeutung, dies sei nicht verschwiegen, sieht Körting allerdings weniger in ihrem literarischen Wert, denn, und hier kommt erneut seine Überzeugung, nur eine umfassende Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand in seiner Gesamtheit könne verwertbare Ergebnisse liefern, über diese Werke ließen sich auch mögliche geschichtliche Entwicklungen sowohl in der französischen wie auch in der europäischen Kultur besser nachvollziehen (Körting 1879: IV). Was den literarischen Wert der neufranzösischen Autoren und ihrer Werke angeht, so ist eine kompetente Revision der bisher geleisteten „Urtheile“ nötig (Körting 1879: V). Auf dem Feld der französischen Literaturgeschichte sieht er denn auch dringend Bedarf für wissenschaftliche Auslese und Bearbeitung, damit die philologische Forschungsarbeit auch hier einen möglichst hohen Anspruch auf Wahrhaftigkeit gewährleisten könne: Hier ist es dringend nothwendig, ernste Kritik zu üben und ungeblendet von künstlich producirten Erfolgen und der Bewunderung von Seiten der urtheilslosen Menge die bedeutenderen Erscheinungen der gegenwärtigen französischen Literatur auf ihren wahren Werth hin zu prüfen, und so zu einer richtigen Kenntniss und Würdigung der hervorragenden literarischen Erscheinungen wie der Bewegungen der gleichzeitigen Literatur unsres Nachbarvolkes im Allgemeinen beizutragen. (Körting 1879: V) Hier klingt auch ein pädagogischer Anspruch Körtings an: Die Gesellschaft sei nur eingeschränkt in der Lage, über den ästhetischen Wert eines literarischen Werkes zu urteilen und ließe sich zu oft von der Mode leiten. Aufgabe des Philologen sei es, das Erkenntnispotential der Werke richtig und nach wissenschaftlich-methodischen Kriterien zu beurteilen und dieses dann als Angebot an die Gesellschaft zu vermitteln. Philologie bei Körting ist somit auch der Möglichkeit der Partizipation an Erkenntnis verpflichtet. Noch schlimmer als auf dem Gebiet der Literatur sei es um die philologische Erforschung der romanischen Sprache bestellt. 116 Hier zeigt sich denn auch, dass in der Tat nicht mehr die Altphilologien für Konkurrenzdruck sorgen, sondern dass eine andere Disziplin die Vergleichsfolie für die erreichte Höhe des wissenschaftlichen Standards bildet: Trotz der bedeutsamen Leistungen unseres Jahrhunderts für die Grammatik und Syntax der gegenwärtigen französischen Sprache, fehlt es selbst noch an einer den Anforderungen des augenblicklichen Standes der Sprachwissenschaft entsprechenden Darstellung der gegenwärtigen hochfranzösischen Lautverhältnisse, der jetzt gültigen grammatischen und syntaktischen Normen. (Körting 1879: VI) 116 Vgl. Körting 1879: V: „Noch mehr fast, als für den Ausbau der neufranzösischen Literaturgeschichte, muss für die Erforschung der neufranzösischen Sprache geschehen.“ Von der Schule zur Universität 247 Es gilt, mit der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Schritt zu halten, zumindest in dem Bereich der philologischen Sprachforschung. Vor allem für die Bereiche Syntax - und hier verweist Körting auch auf die mangelnde Erforschung der älteren Sprachstufe - und Dialektologie sei noch viel zu tun. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Syntax, diese fällt bereits seit Grimm, auch bei Schleicher, in den Bereich der Philologie. Diese Zuordnung wird durch Körting nochmals bekräftigt. Auf den ersten Blick und angesichts der bisher betrachteten Argumentationslinien liest sich das Vorwort als reines Plädoyer für den wissenschaftlichen Ausbau der Romanischen Philologie. Die folgenden Argumentationsstränge verdeutlichen jedoch, dass Körtings Anliegen in enger Relation zu den universitär-didaktischen Anforderungen steht, die die Institutionalisierung der Romanischen Philologie als Einzelfach mit sich bringt. So sieht Körting pädagogische Fragen betreffend den Unterricht auf den Universitäten und in den Schulen als eng verbunden mit der notwendigen Erweiterung des Gegenstands an und behandelt diese in dem an die Ausbauforderungen anschließenden zweiten Teil des Vorworts. Im Vordergrund stehen dabei curriculare Überlegungen, die Forderung - nach wie vor - eigener Lehrstühle der Romanischen Philologie sowie die Forderung, auch die strenge Koppelung der Studienfächer Englisch-Französisch zugunsten weiterer Verbindungen, z.B. mit Germanistik, Latein, aufzugeben. Auch die Frage nach einer Gleichstellung der modernen Fremdsprachen in schulischen Institutionen (Realschule 117 versus Gymnasium) wird aufgeworfen, die Unzulänglichkeit der Lehrerausbildung vielerorts beklagt (Körting 1879: VI-VIII). Französischunterricht sei ein Bildungsmittel, das - und hier lässt sich eine frühe Reaktion Körtings (Körting 1879: VIII) auf die Bestrebungen der Sprachreformer erkennen - mehr wolle, als nur mechanische Sprachbeherrschung. 118 Körting legt ein zweifaches Ziel als Programm seiner Zeitschrift vor: Pädagogische Fragen das Studium und den Unterricht betreffend soll Raum gegeben sowie vor allem der Ausbau des Neufranzösischen in wissenschaftlicher Hinsicht gefördert werden. Dabei gehe 117 Gemeint ist hier vermutlich die Realschule erster Ordnung sowie das Realgymnasium. In der Encyklopädie geht Körting auf dieses Problem ausführlicher ein, die Studierenden der Romanischen Philologie benötigten sehr gute Lateinkenntnisse, dies gehe aber nur mit einem Abschluss, der inhaltlich dem gymnasialen Abschluss durch das Abitur entspräche. Körting spricht sich daher eindringlich für eine Gleichstellung der Curricula wie der Abschlüsse aus (Körting 1884: 204-207). 118 Diese fällt eindeutig nicht in den Bereich der Philologie als Wissenschaft. Sprachbeherrschung ist eine Fertigkeit und darf „von dem Philologen folglich nicht gefordert werden.“ (Körting 1884: 104) Trotzdem sei es wünschenswert, dass sich der Philologe um möglichst fließende Sprachkompetenz bemühe. Die Diskursformationen der Neuphilologien 248 es nicht um Konkurrenz zu den älteren Sprachstufen 119 , sondern um eine sinnvolle Zusammenführung von Synchronie und Diachronie. Das Zeitschriftenprojekt Körtings und Koschwitz’, das in diesem „Prospect“ umrissen wird, deutet die Philologiekonzeption Körtings an: Philologie ist eine historische Wissenschaft, die sich auf die wissenschaftliche Erforschung kultureller Zeugnisse in sprachlicher Form bezieht. In ihr vereinen sich Sprachforschung, Textwissenschaft, Kultur- und Literaturgeschichte. Sie bietet nicht nur eine praktische Anwendung der Sprachen, sondern dient vielmehr der Vermittlung der über Sprache transportierten geschichtlichen und kulturellen Informationen. Sehr viel genauer bestimmt Körting den Begriff der Philologie in der nur wenige Jahre jüngeren Encyklopädie und Methodologie der romanischen Philologie, die zwei Teilbände (1884-1888) umfasst. 120 Im Gegensatz zu dem kurz darauf erscheinenden Grundriss Gustav Gröbers richtet sich Körtings Enzyklopädie tatsächlich in erster Linie an die Studierenden, sie ist gekennzeichnet von einem didaktischen Bemühen, den Inhalt und Verlauf des Studiums der romanischen Sprachen zu vermitteln. 121 Gleich zu Beginn geht Körting auf den Sprachbegriff ein, die menschliche Sprache bilde das Denken der Menschen ab, sie sei „die sinnliche Veräusserlichung des Denkens“ (Körting 1884: 1). Da sprachliche Kommunikation viele Facetten zeige, die Entwicklung von Sprache in mehreren Dimensionen zu untersuchen sei und auch die Funktionen der Sprache vielfältig seien, müssen mehrere wissenschaftliche Disziplinen zu ihrer Erforschung herangezogen werden (Körting; 1879: 1-23). Die Sprachphilosophie behandelt Fragen nach dem Ursprung der Sprache, der Sprachverschiedenheit, kurz alles, was in den Bereich Sprache und Denken fällt (Körting 1884: 23). Die Sprachwissenschaft arbeitet historisch-vergleichend oder deskriptiv (synchron), um Aufschluss über den Bau der Sprachen und deren Verwandtschaft untereinander zu erhalten. 119 Die Kompetenz in der älteren Sprachstufe sieht Körting als Bedingung für die Beschäftigung mit dem Neufranzösischen an (Körting 1884: 228). 120 Sie war die erste breit angelegte Enzyklopädie der Romanischen Philologie, wurde aber kurz nach ihrem Erscheinen von Gustav Gröbers Grundriss der romanischen Philologie (1888) ersetzt (Elwert 1979: 401). Mit der Enzyklopädie antwortete Körting im Grunde auf seine 1882 gestellte Forderung, endlich ein solches Kompendium für die Studierenden bereitzustellen (vgl. Körting 1882: 59f.). Vgl. zur Rolle Körtings und seiner Enzyklopädie auch Kalkhoff 2007: 442/ 443; Kalkhoff 2010: 238. 121 Hier bietet die Encyklopädie mitunter praktischen Tipps, wie sie auch heute noch in der Studienberatung üblich sind: Die Studierenden sollen darauf achten, den Stundenplan nicht zu überladen, die Universität nicht zu häufig zu wechseln, viel, vor allem neufranzösische Lektüre, aber auch aktuelle Tageszeitungen, zu lesen, die Vorlesungen gründlich vor- und nachzubereiten, ins Ausland zu gehen usw. Zusammengefasst sind diese Ratschläge im Kapitel „Bemerkungen über das akademische Studium der romanischen Philologie“, Körting 1884: 192-243. Von der Schule zur Universität 249 Da die Sprachwissenschaft lediglich mit der Erforschung des Sprachb a u e s , der Sprachf o r m sich beschäftigt, so nimmt sie keine Rücksicht auf den Culturwerth einer einzelnen Sprache noch auf deren ästhetische Gestaltung. Für den Sprachforscher ist j e d e Sprache interessant […]. Der Sprachforscher gleicht dem Botaniker, der die einzelnen Pflanzen nicht nach ihrer Wichtigkeit für die menschliche Cultur, sondern nach der Beschaffenheit ihres Baues classificirt. (Körting 1884: 24; Sperrung wie im Original) Körting bewegt sich hier in bekannten diskursiven Fahrwassern, der Vergleich des Sprachforschers mit dem Botaniker erinnert an Karl Magers Begründung der Trennung von Sprachwissenschaft und Philologie über die Selektion im Gegenstandsbereich, die der Philologe, nicht aber der Sprachwissenschaftler vornehmen darf. Dieser Vergleich erinnert zugleich, wenn auch die Philologie dabei nicht sehr positiv konnotiert war, an August Schleicher und seine Unterscheidung zwischen Zoologe und Landmann. Körting argumentiert hier also auf traditionelle Weise mit dem Gegenstandsbereich: Der Sprachwissenschaftler dürfe nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten selegieren oder hierarchisieren, ihm geht es darum, die Sprache um ihrer selbst willen, als System, zu analysieren. Sein Gegenstandsbereich umfasst die Gesamtheit der sprachlichen Formen ungeachtet ihres ästhetischen Wertes. So erstaunt es nicht, dass sich in Körtings Begriffsdefinition der Philologie starke Parallelen zu Karl Mager ergeben. Philologie im Gegensatz zur Sprachwissenschaft […] fasst die Sprache in ihrer Bedeutsamkeit für die Culturentwickelung, in ihrer Eigenschaft als Organ der Litteratur, in ihrem Zusammenhange mit einer einzelnen Nationalität auf. Wohl strebt auch der Philolog nach Erkenntniss des Baues derjenigen Sprache, mit welcher er sich speciell beschäftigt, aber diese Erkenntniss ist ihm nur das Mittel zur Erkenntniss des geistigen Inhaltes der Sprache und dessen Bedeutung für das ganze geistige Leben des betreffenden Volkes. Die Philologie beschäftigt sich daher mit der Erkenntniss der individuellen Eigenart einer Einzelsprache […], und zwar nur einer solchen, welche einem Culturvolke angehört und eine Litteratur entwickelt hat […]. (Körting 1884: 25) Neben dem Aufrufen der bekannten Wissensrahmen um den Begriff der ‚Individualität einer Kultur‘, die die Philologie über das historische Lesen und hermeneutische Auslegen der Quellen zu leisten hat, evoziert Körting noch einen weiteren bekannten Diskursstrang, der die kommunikativen Prozesse um den Begriff der Philologie von Anbeginn an begleitet hat: Schrift, Literatur und Bildung als Grundbedingungen für die Entwicklung der Menschheit in individuellen kulturellen Leistungen und damit als Grundbedingungen für philologische Forschung überhaupt. Voraussetzung für diese sei, nach Körting, das Vorhandensein einer Literatur, und zwar einer Literatur, die kulturellen Wert besitze. Dies verweist seine Konzeption in die Nähe der von Mager aufgestellten Kulturtrias. Deutlich er- Die Diskursformationen der Neuphilologien 250 kennbar ist auch hier wieder die Selektion, die der Philologe innerhalb des Gegenstandsbereichs vorzunehmen hat. Zusätzlich scheint das Boeckhsche Theorem, Philologie setze Bildung voraus, nun endgültig zu einer Bedingung für dieselbe geworden zu sein und zwar mit der Gleichsetzung, Bildung sei die Fähigkeit einer Nation, Literatur hervorzubringen. Der Philologe ist daher unter den Botanikern keinesfalls universell ausgerichtet, sondern spezialisiert auf eine bestimmte Gattung, eben eine bestimmte Einzelsprache (Körting 1884: 26). Demzufolge liegt die Trennung zwischen Sprachwissenschaft und Philologie nach Körting also in ihrem Gegenstand, der menschlichen Sprache als organisches System einerseits, ihrer an bestimmte Kulturkreise (Bildungsnationen) gebundenen Verwendung andererseits wie auch in der unterschiedlichen Zielsetzung der beiden Disziplinen. 122 Diese Ausführungen wiederholt Körting nahezu wörtlich im Kapitel über den Begriff der Philologie (Körting 1884: 82-91), hier nimmt er allerdings eine Reduktion des Gegenstandsbereichs der Philologie vor und entscheidet sich so gegen eine Universalphilologie wie sie Boeckh für die Alt- und in dessen Nachfolge Elze für die Neuphilologie vorgeschlagen hatte. Körting beschränkt den Untersuchungsbereich auf Sprache und Literatur: Also mindestens in Bezug auf die modernen Culturvölker ist es unstatthaft, den Begriff der Philologie in einem so ausgedehnten Sinne zu fassen, dass das gesammte geistige Leben eines Volkes als das Object der anzustrebenden Erkentniss zu betrachten wäre. (Körting 1884: 84) Gleichzeitig mit dieser Reduktion plädiert Körting erneut, wie bereits 1879, vehement für eine Gleichberechtigung des Neufranzösischen mit dem Altfranzösischen. Körtings Vehemenz in diesem Punkt erklärt sich mit dem ganzheitlichen Anspruch, den er an über philologische Forschung erreichte Erkenntnis stellt - jede Entwicklung soll stets so weit wie möglich in ihrer Ganzheit betrachtet und verstanden werden: Man bedarf des Altfranzösischen zur wissenschaftlichen Erkenntnis des Neufranzösischen, aber auch umgekehrt besteht die gleiche Nothwendig- 122 Vgl. hierzu noch einmal Körting: „Insofern die Philologie Sprache zum Objecte ihrer Forschung und Erkenntniss hat, ist sie eine Sprachwissenschaft, aber sie ist nicht Sprachwissenschaft in dem eigentlichsten und beschränkten Sinne des Wortes. Denn für sie ist die Erforschung und Erkenntniss der Sprache nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck der Erkenntniss geistigen Lebens. Während die Sprachwissenschaft die Sprache in ihrer Allgemeinheit aufzufassen bestrebt ist und folglich Sprache mit Sprache vergleicht, beschäftigt die Philologie sich immer nur mit der Sprache e i n e s Volkes (oder einer Völkergruppe) und betrachtet sie vorzugsweise als das Organ einer Litteratur. Das Erreichen dieses Zieles ist nur möglich bei eindringendster Einzelforschung […] Selbstverständlich hat die Philologie bei Lösung dieser Doppelaufgabe (sprachliche Ausdrucksformen und deren Verwendung als Ausdruck der Gedanken; J.W.) historisch zu verfahren […].“ (Körting 1884: 89; Sperrung wie im Original) Von der Schule zur Universität 251 keit. Gar manches sprachliche und litterarische Gebilde wird erst dann verständlich und klar, wenn man zu beobachten vermag, welche Entwickelung es im Neufranzösischen genommen hat. (Körting 1884: 231) Vor diesem Hintergrund verwundert es denn auch nicht, wenn die Bestimmung der Romanischen Philologie bei Körting lautet: Die Romanische Philologie ist diejenige Wissenschaft, deren Aufgabe und Ziel die Erkenntniss des eigenartigen Lebens der romanischen Völkergruppen ist, soweit dasselbe in der Sprache und Litteratur seinen Ausdruck fand, bzw. noch findet. (Körting 1884: 156) 123 Körting bezeichnet die Romanische Philologie als „Collectivphilologie”, die in sich alle romanischen Einzelsprachen und Literaturen vereine (Körting 1884: 156/ 157). Auch methodisch bietet Körting keine Überraschungen, Philologie bedient sich der historisch-kritischen Methode, geht es um morphologische oder phonologische Analysen, tritt noch die analytische sowie die synthetische Methode hinzu (Körting 1884: 85-87). Körting zeigt sich zudem noch stark beeinflusst von der Debatte ,Kunst und Philologie‘. Hier schließt er sich dem Standpunkt der romantisch-idealistischen Hermeneutik an: Die Philologie berührt sich nicht bloss mit der Kunst, sondern schliesst auch die Kunst in sich ein. Die Zurückführung eines Litteraturwerkes auf seine ursprüngliche Gestalt und sein ursprüngliches Verständniss ist gestaltende Verwirklichung erkannter Ideale und folglich Kunst. Kritik und Exegese sind also Künste, wenn auch nur rückschöpferische (reconstruirende): der Philolog als Kritiker und Exeget reproducirt das vom Verfasser producirte Litteraturwerk; gelingen kann ihm dies freilich nur, wenn er sich in den einst von dem Verfasser eingehaltenen Gedankengang congenial hinein zu versetzen und aus ihm heraus das Entstellte divinatorisch wiederherzustellen vermag […]. (Körting 1884: 104) 123 Der Ausdruck „Erkenntniss des eigenartigen geistigen Lebens“ wird von Gröber ²1904: 188 scharf kritisiert. Diese Forderung könne nur von einer Universalphilologie geleistet werden, gleichzeitig impliziere „eigenartig“ eine Selektion innerhalb des Forschungsbereichs, der eine zu starke Einschränkung desselben bedeute und damit die Wissenschaftlichkeit gefährde. Wissenschaft bedeutet bei Gröber, ähnlich wie bei Diez, stets auch eine allseitige Behandlung des Gegenstands, Spezialisierung kann nur hinsichtlich der einzelnen Sprachen erfolgen, nicht aber innerhalb der Einzelsprache. Dadurch würde die Erkenntnis teleologisch zu sehr verzerrt (vgl. Gröber ²1904: 188). Getragen wird diese Kritik bei Gröber auch von dessen Überzeugung, die Sprachwissenschaft bilde ein integrales Element der Philologie. So wendet sich Gröber auch ausdrücklich gegen Konzeptionen der Philologie, die Sprachforschung ausschließen (vgl. Gröber ²1904: 189/ 190). Im Gegensatz zu Gröber verstand Körting die Romanische Philologie immer zunächst als eine Teilwissenschaft einer größer angelegten Universalphilologie, diese wiederum als eine Teilwissenschaft einer umfassenden Kulturwissenschaft. Die Diskursformationen der Neuphilologien 252 Evoziert werden hier tradierte Wissensrahmen aus der altphilologischen Diskursformation. Die Begriffsfelder ‚Hineinfühlen‘ und ‚Besserverstehen‘ werden von Körting als integrale Bestandteile in seine Philologiekonzeption eingebettet: Über die Schlagworte Empathie und Identifikation versetzt Körting den Begriff der Philologie wieder in das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Methodenstrenge und Spekulation. Dem Vorwurf der Subjektivität, dem eine solche Philologie, die sich explizit für die divinatorische Verfahrensweise ausspricht, unweigerlich begegnen muss, entgeht Körting durch Anwendung eines Tricks: Er differenziert an dieser Stelle Philologie als „Wissenschaft von Sprache und Litteratur“ von der Philologik als „kunstmässige Anwendung dieser Wissenschaft“ und vergleicht deren Verhältnis zueinander mit dem Verhältnis zwischen Methodik und Methodologie (Körting 1884: 104, Fußnote). 124 Dennoch sind der Einfluss der Hermeneutik Schlegels und Schleiermachers sowie der Philologiebegriff aus der Diskursformation der Altphilologie von Wolf und Boeckh deutlich spürbar. Noch weiter geht Körting, indem er klar macht, dass Philologie in dieser, seiner Konzeption nur unvollständig sein kann. Dies begründet sich in seiner Auffassung der Philologie als ein Bestandteil einer umfassenden Kulturwissenschaft, vor deren Hintergrund sich seine Reduktion auf den Gegenstand Sprache und Literatur erklärt und rechtfertigt: Die geistige Eigenart eines Volkes findet ihren Gesammtausdruck in dessen Cultur. Sprache und Litteratur bilden nur eine Seite der Cultur, andere Seiten sind Religion, Recht, Sitte, Kunst etc. Die durch die Philologie gewonnene Erkenntniss von der geistigen Eigenart eines Volkes ist demnach unvollkommen […]. (Körting 1884: 158) Da dies, so Körting, insbesondere für die Romanische Philologie gelte, fordert er von dieser ein interdisziplinäres Arbeiten: 124 Körting fasst die Philologik somit unter die „Hülfswissenschaften“ der Philologie. Deren Rolle ist allerdings essentiell zur Erfassung des Gesamten, denn Körtings Wissenschaftsbegriff ist der einer Universalwissenschaft, die in Form einer Symbiose aus Teil-Ganzes-Beziehungen vorstellbar ist: „In Wahrheit giebt es nur eine Wissenschaft. Die Einzelwissenschaften sind nur verschiedene Theile der einen Wissenschaft. Man unterscheidet so viele Einzelwissenschaften als man Kategorien von Objekten unterscheidet, auf welche das Streben nach Erkenntniss gerichtet ist. […] Nach dem gesagten kann die Philologie gelegentlich der ergänzenden Hülfe jeder andern Einzelwissenschaft bedürfen. […] Indessen die Berührungen der Philologie mit den Naturwissenschaften und ebenso mit der Mathematik sind doch (Ausnahmen des Verhältnisses der Lautlehre zur P h y s i o l o g i e der Sprachorgane) nur mittelbare und gelegentlich eintretende, dagegen besteht zwischen der Philologie und den übrigen Wissenschaften, deren Objekt die Erkenntnis des geistigen Lebens eines Volkes, bzw. einer Völkergruppe ist, ein unmittelbarer und inniger Zusammenhang. (Körting 1884: 95/ 96; Sperrung wie im Original) Von der Schule zur Universität 253 Dieselbe muss sich verbinden mit den verschiedenen Disciplinen der Culturgeschichte, um die Erreichung einer möglichst vollständigen Erkenntniss der geistigen Eigenart der romanischen Völkergruppe anzubahnen. Ueberdies bedarf die Romanische Philologie der Unterstützung von der Culturgeschichte für die materielle Erklärung der Litteraturwerke. (Körting 1884: 158) Implizit angesprochen wird hier das Problem des wissenschaftlichen Forschungsgegenstands. Körting definiert diesen aufgrund seines Verstehensbegriffs, der eine Ganzheit als Seiendes imaginiert, ebenfalls als einen allumfassenden Gegenstand mit offenen Rändern. 125 Diesem Gegenstandsbereich entspräche eine den gesamten Geist eines Volkes umfassende Kulturwissenschaft. Die in diesem Bereich liegenden Erkenntnismöglichkeiten erfordern im methodischen Bereich eine hohe Bandbreite verschiedenster Methoden, wie sie eine einzige wissenschaftliche Disziplin in der Regel nicht in sich vereint. Daher muss der Gegenstandsbereich innerhalb einer spezifischen wissenschaftlichen Disziplin dahingehend begrenzt und definierbar sein, um mit deren Methodeninventar erforscht werden zu können. Das Erkennen des Geistes eines Volkes in Form seiner gesamten Kulturleistungen erfordert daher interdisziplinäres Forschen, um diesem Anspruch allseitiger Erfassung des Gegenstandsbereichs gerecht zu werden. Körting bietet hier letztlich eine Philologiekonzeption als Kulturwissenschaft in Anlehnung an Boeckhs Universalphilologie, angepasst an die Entwicklung der sich immer stärker spezialisierenden und ausdifferenzierenden Wissenschaftskultur. Philologie gehört so als eine Teilwissenschaft, konzentriert auf sprachliche Kulturdenkmäler, zu einer breiter angelegten Kulturwissenschaft, die alle zu den historischen Wissenschaften zählenden Einzelwissenschaften unter ihrem Dach vereinigt. Die Basis dieser Philologiekonzeption bildet das „Projekt Philologie“, das Philologie als kulturhistorische, gesellschaftlich relevante Verstehenswissenschaft definierte, deren Aufgabe es war, den Mensch in seiner historischen Entwicklung auf wis- 125 Erwartbar wäre an dieser Stelle, dass Körting zwei Schritte weiter geht und erstens in Anlehnung an Ludwig Tobler Geist und Natur im Gegenstand Sprache über den Begriff der Historizität wieder vereint. Zweitens fordert seine Vorstellung eines Gegenstands mit offenen Rändern eine Reflexion über den Status der Quellen vor dem Hintergrund von Naturschönheit und ästhetischer Kunstproduktion. In dieser Frage hatte sich bereits Hegel über den Gegenstand der Ästhetik geäußert. Nach Hegel gehen Natur- und Kunstschönheit im Begriff des Geistes ineinander über, folglich wäre eine Begrenzung der Erkenntnisebene, die sich allein auf den Geist und die von ihm geschaffenen Produkte beziehe, nicht sinnvoll (Hegel ²1842: VIII-XIII). Dies impliziert für die Philologie allerdings nicht nur eine Syntheseleistung zwischen Natur- und Kulturseite der Sprache, sondern auch eine Ausweitung des Quellenbereichs: Nicht nur hohe Literatur, sondern auch niedere Literatur muss in diesen aufgenommen werden. Diese Forderung wird in ihrer ganzen Konsequenz allerdings erst bei Adolf Tobler zu finden sein, Körting selbst reflektiert die Tragweite der Öffnung des Gegenstandsbereiches noch nicht. Die Diskursformationen der Neuphilologien 254 senschaftliche Weise erklär- und verstehbar zu machen. Körting schreibt sich über das Aufrufen der bekannten Diskurse aus der Auseinandersetzung mit der Universalphilologie in diese Tradition ein, die universitären Bedingungen jedoch machen ein solches Projekt unmöglich: Die beginnende Konsolidierung der Kategorisierung der Wissenschaften in Geistes- und Naturwissenschaften provozieren die Notwendigkeit einer eindeutigen Identifikation der jeweiligen Fächer, die diese Entscheidung in der Regel über ihren Objektbereich treffen. 126 Zusätzlich stehen die Forderungen der Modernen Philologien im Raum, endlich mit jeweils eigenen Professuren versorgt zu werden - Philologie als eine Universalphilologie im Sinne einer kulturhistorischen Menschheitsgeschichte zu proklamieren, hieße, die (institutionellen) Ordnungen zu unterlaufen. Körting muss daher schon allein aus pragmatischen Gründen hinter seine eigenen Forderungen zurückgehen. Fasst man die programmatischen Aussagen der Enzyklopädie zusammen, so zeichnen sich in Körtings Konzeption der Romanischen Philologie zwei Haupttendenzen ab: zum einen die Öffnung des Gegenstandsbereiches in Richtung des Neufranzösischen als gleichberechtigter Forschungsgegenstand neben der älteren Sprachstufe, zum anderen eine Perspektive auf philologische Forschung, die diese zwar als autonomes System in Bezug auf ihre Methodik und ihren Gegenstand begreift, eine Vollendung ihrer Aufgabe und ihres Ziels aber erst in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit anderen historischen Wissenschaften zum Zweck der Erkenntnis der gesamten Menschheitsgeschichte als eine Kulturgeschichte versteht. Die Perspektive der Gegenstandserweiterung wird langsam Eingang in das Denken der Romanisten - gerade in Bezug auf eine Verbesserung der Lehrerausbildung - finden, hier ist Körting durchaus programmatisch. Die Perspektive der Universalphilologie hingegen wird von ihm aber nicht bis zum Ende gedacht, ihr Potential wird vor dem Hintergrund didaktischer Bedürfnisse und dem Wunsch nach einer Verbindung universitärwissenschaftlicher mit universitär-pädagogischen Ansprüchen verkürzt. 5.2.3 Die Praktiker: Karl August Friedrich Mahn (1802-1877) und Hermann Breymann (1842-1810) als Fortsetzungen der pädagogisch geprägten Diskussion um die Neuphilologien auf Universitätsebene 1863 hält der Gelehrte Karl August Friedrich Mahn in der germanistischromanistischen Sektion der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner einen Vortrag „Über die Entstehung, Bedeutung, Zwecke und Ziele der Romanischen Philologie“, in dem er ein Forschungsprogramm der Romanischen Philologie sowie zahlreiche Vorschläge zur Umsetzung der 126 Vgl. hierzu Helmholtz 1862; Oexle 1998. Von der Schule zur Universität 255 in den Philologien angedachten Verbindung von Forschung und Lehre präsentiert. 127 Mahn beklagt zu Beginn, dass die Romanische Philologie auf den Universitäten noch weit davon entfernt sei, den gleichen Rang wie die ger-manistische Philologie einzunehmen, sondern dort nur „äuszerst schwach vertreten“ und „deren Wichtigkeit und Bedeutung noch nicht allgemein genug begriffen und anerkannt“ sei, obgleich „sie von dem Begründer derselben [Friedrich Diez; J.W.] und einigen seiner Schüler bereits auf eine solche Höhe gehoben ist, dasz sie sich dreist mit ihrer älteren germanischen Schwester messen kann.“ (Mahn 1863: 1) Umso erstaunlicher sei dieser Zustand, da ja durch Diez Abhilfe hinsichtlich des Fehlens einer echten wissenschaftlichen Grammatik der romanischen Sprachen geschaffen worden sei und man nun ja über die Grundlage zu einer historischen Behandlung der Sprachen verfüge (Mahn 1863: 6/ 7). Einen Grund hierfür sieht Mahn in der mangelnden Verbindung von Wissenschaft und dem praktischen Sprachstudium (Mahn 1863: 8). Zweck und Ziel der Romanischen Philologie werden bei Mahn kurz und knapp definiert, als Legitimation dient lediglich der Verweis auf die anderen Philologien: Zweck und Ziel der romanischen Philologie können im Allgemeinen keine anderen sein, als die jeder anderen Philologie, nämlich Erforschen und Erkennen der romanischen Sprachen und Litteraturen. (Mahn 1863: 9) Im Gegensatz zu Mager und Keller muss Mahn weder die gesellschaftliche Relevanz des Gegenstandes noch die wissenschaftliche Art der Behandlung legitimieren. Mahn hat in dieser Hinsicht nicht mehr eine Konzeption von Neuphilologie vorzulegen, um deren Bedeutung als wissenschaftliche Disziplin neben der Altphilologie oder der Sprachwissenschaft zu legitimieren. Diese Elemente fehlen in seiner Abhandlung gänzlich, die Gleichberechtigung der Romanischen Philologie neben der orientalischen und der Klassischen Philologie sieht er als gesetzt. Es geht Mahn daher nicht mehr um eine Bestimmung des Objektbereichs oder der wissenschaftlichen Methode, es geht ihm vielmehr um praktische Vorschläge, wie man den Status der Romanischen Philologie auf den Universitäten voranzutreiben habe. Eine seiner ersten Forderungen zielt auf die Einrichtung von Lehrstühlen der Romanischen Philologie, die Anzahl professionell ausgebildeter Forscher und Dozenten an den Universitäten müsse erhöht werden, […] um von da aus durch ihre Zuhörer und Schüler den in diese Studien gelegten wissenschaftlichen Geist auch in die Schulen und das gröszere Publikum zu tragen, und auf diese Weise einen verbessernden Einflusz auf die dort gebrauchten Lehrbücher und Methoden zu gewinnen. (Mahn 1863: 9) 127 Vgl. zu Mahn Christmann 1986; Kalkhoff 2007: 440/ 441; Kalkhoff 2010: 245/ 246. Die Diskursformationen der Neuphilologien 256 Weiterhin muss das Material in Form von wissenschaftlichen Ausgaben von Wörterbüchern, Texteditionen und Grammatiken leichter und in größerer Anzahl zugänglich gemacht werden. Um die Ausweitung und Spezialisierung der romanischen Forschungsfelder wie auch den kontinuierlichen Fortschritt der Romanischen Philologie garantieren zu können, fordert Mahn die Bildung wissenschaftlicher Netzwerke, einer scientific community, und argumentiert hier in fast schon Luhmannscher Manier: Es versteht sich von selbst, dasz hier, wie überall, eine Theilung der Arbeit zulässig und nöthig ist, und dasz diese und andere Gegenstände von verschiedenen in Monographien behandelt werden können und müssen. Aber die untersuchende und aufklärende Arbeit des einen Forschers wird dann auch einem anderen, der einen anderen Gegenstand oder eine andere romanische oder neuere Sprache gewählt hat, zu gute kommen und seine Arbeit fördern, unterstützen und erleichtern. (Mahn 1863: 16) Mahn argumentiert nicht mehr ideologisch, er argumentiert pragmatischinstitutionell. Die Totalitätshorizonte Wissenschaftlichkeit und gesellschaftliche Relevanz sind bereits abgesteckt. Der Begriff der Romanischen Philologie schwankt nicht mehr im Grenzbereich zwischen einem empirischpositivistischen und einem hermeneutisch-idealistischen Wissenschaftsbegriff, Wissenschaftlichkeit ist nun über die Parameter der positiven Wissenschaften bestimmbar geworden. Sie hat den Kontext der philosophischen Spekulation verlassen, für die Konnotationswie auch die Denotatsebene des Begriffs ‚Wissenschaft‘ scheint der epistemische Wandel und damit die Neukonstituierung von semantischen frames um den Begriff der Wissenschaft, der nun über die in den Texten wirkenden Diskurse geregelt und als Wissensrahmen abgerufen werden kann, vollzogen. Einen weiteren Hinweis für diesen Prozess bildet die Tatsache, dass Mahn nicht mehr auf die großen philosophischen - aber auch (alt)philologischen Köpfe als legitimierende Kollektivsymbole der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts verweist. Hatten sich bei Keller noch implizite Hinweise auf Hegel oder Boeckh gefunden, so zieht Mahn als Legitimationssymbole nur Autoritäten aus den eigenen (neuphilologischen) Reihen heran: Grimm, Diez, Wackernagel, Bartsch oder Tobler. Die Romanische Philologie - wie auch die anderen Neuphilologien - ist selbständig geworden, sie blickt auf etliche Forschungserfolge zurück 128 , sie hat einen Gründermythos 129 generiert und sie 128 Hier nennt Mahn neben Diez’ Wörterbuch und Grammatik auch die zahlreichen kritischen Editionen, die das Lehren wie auch das Studieren der Romanischen Philologie erleichtern und befördern. 129 Vgl. hierzu beispielsweise Körting 1882: 70: „Ein durch die Pietät geforderter Schmuck jedes neuphilologischen Seminarzimmers endlich ist ein Bildniss von Diez, dem Begründer der neuphilologischen Wissenschaft.“ Von der Schule zur Universität 257 fasst immer stetiger Fuß an den Universitäten. 130 Durch diese Entwicklung schlägt der identitäre Prozess der Romanischen Philologie von einer Legitimationsargumentation, angesiedelt im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftlichkeit und ethischen Implikationen, um in einen fachwissenschaftlichen Diskurs, der sehr viel stärker auf Professionalisierung und institutionelle Faktoren ausgelegt ist. Mahns Rede reflektiert diesen Vorgang, die Romanische Philologie hat ihr „hochzeitlich Kleid“ gefunden, jetzt gilt es, ihren Status als akademisches Fach auf ein professionelles Niveau anzuheben. Dies betrifft aber nicht mehr die ideologische Seite der Diskussion um die Konzeption der Romanischen Philologie, sondern die Praxis. Mahn argumentiert folglich als Hochschuldozent 131 , dem es nicht mehr um Anerkennung seines Objektbereiches als forschungswürdig geht, sondern um Anerkennung seines Objektbereiches in Form von Ausstattung. Wie pragmatisch er dabei vorgeht, zeigt seine Abhandlung: Seine Vorschläge enthalten ein vollständiges Curriculum für das Studium der Romanischen Philologie, Forderungen nach Gesellschaften, die die Romanische Philologie über populärwissenschaftliche Vorträge auch dem Laien näherbringen und die in der Lage sind, Kommunikationsplattformen wie Zeitschriften mitzufördern (Mahn 1863: 17). Mahns Vorstellung einer universitären, professionalisierten Disziplin ‚Romanische Philologie‘ deckt sich nahezu mit der Beschreibung der Kriterien, die Stichweh 2006 für die Theoretisierung wissenschaftlicher Systeme nennt. 132 Mahns Rede erlaubt eine Interpretation als Manifest einer Wende im identitären Prozess der Romanischen Philologie wie der Neuphilologien überhaupt. Tatsächlich geht es nun vordergründig nicht mehr um das Definieren der Totalitätshorizonte ‚Romanische Philologie‘, die sich virtuell 130 Vgl. hierzu Christmann 1986: 656/ 657. Nach Christmanns sechsstufigem Modell, das er der Etablierung der Neuphilologien zugrunde legt, befindet sich Mahn an der Schwelle zur fünften Phase, der tatsächlichen Schaffung von Lehrstühlen in Form von Doppelprofessuren. Diese Einordnung deckt sich mit dem in Storost 2001 und Kalkhoff 2010 zusammengestellten statistischen Material. 131 Mahn war an der Berliner Akademie mit zahlreichen Lehrveranstaltungen, z.B. zum Altprovenzalischen, Italienischen, Altfranzösischen etc. vertreten (vgl. Christmann 1986: 663). 132 Stichweh 2006 nennt als Hauptkriterien für die theoretische Bestimmung des Wissenschaftsbegriffs und -systems folgende Parameter: Sachliche Universalität des Objekts der Wissenschaft; gesicherte Methode, deren Ziel das Erreichen einer größtmöglichen Objektivität ist, Wertfreiheit, Existenz einer Expertenkultur in Form einer scientific community, diese ist wie wissenschaftliche Wahrheit unabhängig vom Ort, es bilden sich Netzwerkknoten über die Bildung von Kommunikations- und Korrespondenzgemeinschaften. In diesem Zusammenhang erörtert Stichweh die Frage nach dem Spannungsfeld ‚Forschung und Gesellschaft’, in dem sich Wissenschaft bewegt. Anhand der von ihm festgestellten Untrennbarkeit von Forschung und gesellschaftlicher Folie plädiert er für ein gewisses Maß an Popularität, das Wissenschaft zu ertragen habe, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu verdeutlichen (vgl. Stichweh 2006). Die Diskursformationen der Neuphilologien 258 um die Parameter Wahrheit und gesellschaftliche Relevanz ranken, sondern vielmehr um das konkret sichtbare Besetzen des universitären Raumes ‚Romanische Philologie‘. Mahn etabliert in seiner kurzen Abhandlung zumindest andeutungsweise das Paradigma ‚Romanische Philologie an deutschen Universitäten‘. 133 Romanische Philologie erscheint als akademische Disziplin mit einem fest umrissenen Objektbereich (Sprache und Literatur der romanischen Welt), einer klar bestimmbaren Methode (historischvergleichende Grammatik), einem Gründungsmoment (Diez‘ Grammatik der romanischen Sprachen), einem Netzwerk aus anerkannten Autoritäten (Diez, Tobler, Bartsch etc.) und einem klaren Ziel (Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis und der Lehrerbildung). 134 Mahn betont besonders die notwendige Verbesserung der Lehrerbildung an den Universitäten, sein Ziel ist es, durch ein fundiertes und gründliches Studium neben der Sicherung der Lehrerbildung auch die Sicherung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu garantieren und somit das System ‚Romanische Philologie‘ als moderne Wissenschaft: Es brauchen in Zukunft nur junge befähigte Männer diesen Studien mit Eifer und Fleiß sich zu widmen, und nachher als Docenten an den Universitäten sich zu habilitieren, um ihre Wissenschaft in echt philologischer Weise zu lehren; dann werden wohl auch, wenn sie sich durch ihr Wissen und ihre Geschicklichkeit auszeichnen und sich auf diese Weise Zuhörer zu verschaffen verstehen, die Professuren und Lehrstühle nicht ausbleiben […]. (Mahn 1863: 10) 133 Paradigma wird hier im Sinne Thomas S. Kuhns verstanden (vgl. Kuhn 1976). Ein wissenschaftliches Paradigma betrifft das, was an einer Wissenschaft typisch ist, konkret ihren Objektbereich, ihr Netzwerk, ihre Methode und ihre Funktionsweise innerhalb des wissenschaftlichen Systems. Eine ähnliche Anwendung des Kuhnschen Paradigmenbegriffs findet sich bei Bähler 2004 und 2010 hinsichtlich der Konzeption der philologie romane von Gaston Paris. 134 Das von Mahn für die Romanische Philologie entworfene Forschungsprogramm sollte über die Grenzen Deutschlands hinaus richtungsweisend für die Folgezeit werden (vgl. Christmann 1986: 660; Kalkhoff 2010: 246). Gaston Paris rezipierte die Abhandlung Mahns und bewertet Mahns Entwurf als nachahmenswertes Beispiel: „En mettant sous les yeux des lecteurs français ce discours d’un Allemand à des Allemands, nous n’avons eu d’autre but que d’exciter en eux la émulation, et de leur montrer ce qu’on fait ailleurs pour des études qu’ils devraient presque se réserver exclusivement.“ (Paris 1864: 444) Paris beklagt sodann den Mangel eines Paradigmas ,Philologie romane’ unter den Vorzeichen moderner Wissenschaftlichkeit, um mit einem Hinweis auf die Vorbildlichkeit der deutschsprachigen Romanistik zu schließen: „Tout cela [die Bereitstellung eben dieses professionellen Rahmens; J.W.] n’est pas fait, ni près à se faire. Il est heureux, en attendant, que l’Allemagne fasse notre besogne; son zèle entretient le feu sacré et encourage chez nous les quelques obstinés qui s’adonnent encore à une science que n’encouragent ni les faveurs officielles ni l’attention publique.“ (Paris 1864: 445) Vgl. zu Gaston Paris und der Etablierung der Romanischen Philologie Bähler 2004; zur Verwendung des Begriffs ‚philologie‘ bei Paris besonders Bähler 1995. Von der Schule zur Universität 259 Mahns Argumentation hat die altphilologischen Fahrwasser verlassen und beendet damit auch die Tradition des kontinuierlichen Aufrufens der bekannten Diskursstränge. Fragen nach gesellschaftlicher Partizipation sind bei Mahn bestenfalls zweitrangig. Das System ist in der Lage, sich selbst zu erhalten und kann nun seinerseits Forderungen an die Gesellschaft stellen. Für diese neue Form des Zusammenhangs zwischen Wissenschaft und Gesellschaft spricht auch die Verbindung zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis, wie sie in der Konzeption Mahns gedacht wird. Parallel zu Mager spricht sich Mahn zwar für eine enge Zusammenarbeit zwischen universitärer Forschung und schulischer Realität aus. Doch wo Mager eine klare Trennung zwischen Wissenschaft und Bildung als pädagogischem Ziel zieht und didaktisch-bildungstheoretischen Fragen den Vorrang vor wissenschaftlicher Forschung gibt, dreht Mahn das Verhältnis um. Wissenschaftliche Ergebnisse der Romanischen Philologie müssen die Schulpraxis viel stärker infiltrieren wie beispielsweise die Methode der historisch-vergleichenden Grammatik (Mahn 1863: 8). Aus dem bei Mager noch eindimensional präsentierten „Bedürfnisverhältnis“ ist bei Mahn ein zweiseitiges geworden, bei dem nun die Wissenschaft im Vorteil ist, schließlich obliegt es ihr, ihre Erkenntnisse und ihr Wissen an die Schule weiterzuleiten - der Schule als Ort, an dem ihr Objektbereich aufgrund seiner Bildungskraft Legitimation findet, bedarf sie hingegen nicht mehr. Ein weiteres Indiz für diese Entwicklung findet sich auch in den programmatischen Schriften Hermann Breymanns, der sich zum Verhältnis von Schule, Wissenschaft und Philologie in verschiedenen Texten äußert. 135 1876 hält Breymann vor dem neuphilologischen Verein in München einen Vortrag, in dem er das Verhältnis der Sprachwissenschaft zu den neueren Sprachen thematisiert. Bemerkenswert an Breymanns Abhandlung ist nicht nur die Tatsache, dass er auf sehr umsichtige Weise für eine Übertragung sprachwissenschaftlicher Ergebnisse in die schulische Praxis plädiert (Christmann 1986: 664/ 665), sondern auch, dass er, wie Mager, von zwei getrennten Disziplinen Sprachwissenschaft und Philologie ausgeht. Breymann distanziert sich ausdrücklich von einer Sprachwissenschaft, die ihre Aufmerksamkeit allein der Naturseite der Sprache widmet. 136 Sprachwissenschaft stellt sich die Aufgabe, 135 Vgl. Breymann 1876; 1883; 1885; 1902. Zur Rolle Breymanns innerhalb des Reformdiskurses vgl. v.a. Riedl 2004; auch Christmann 1986. 136 Breymann verwendet hierfür einen rhetorischen Kniff: Zunächst lobt er die „grossartigen Fortschritte“ der Naturwissenschaften und ihre immense Bedeutung für die Menschheit, um diese dann mit einem Verweis auf die Bedeutung der Wissenschaften, die das Wirken und das Wesen des menschlichen Geistes zum Forschungsgegenstand haben, in ihre Schranken zu weisen und so die Gleichrangigkeit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu betonen (Breymann 1876: 5). Die Diskursformationen der Neuphilologien 260 […] nicht die äussere Natur, sondern den Menschen, sein innerstes Wesen, seinen Geist und dessen Äusserungen nach den verschiedensten Richtungen zu erforschen und zu begreifen. (Breymann 1876: 5) Dieser Aufgabe, so konstatiert Breymann, widmen sich zwei sprachwissenschaftliche Traditionen: die Sprachphilosophie als Erforschung des Zusammenhangs zwischen Sprache und menschlichem Denken und die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, deren Aufgabe es ist, „ein richtiges Verständnis des Organismus der menschlichen Rede anzubahnen“ sowie „die schaffende Thätigkeit des menschlichen Geistes bei der Bildung der Sprachen gleichsam zu belauschen“ (Breymann 1876: 7). Mit diesen Aussagen situiert sich Breymann im sprachwissenschaftlichen Feld in der Nähe der Humboldtschen sprachphilosophischen Anthropologie, die ihre Fortsetzung beispielsweise in den Werken Heymann Steinthals oder auch Ludwig Toblers fand, sowie der Filiation innerhalb der historischvergleichenden Sprachwissenschaft, die sich von dem allzu starren Gesetzesbegriff der Junggrammatiker wie auch einer Zuordnung der Linguistik zu den Naturwissenschaften distanzierte (z.B. Georg Curtius oder Hugo Schuchardt). Nachdem er sich so im sprachwissenschaftlichen Feld verortet hat, wendet sich Breymann der Philologie zu. Die Romanische Philologie, auf die er sich neben der Germanischen in erster Linie bezieht, muss er im Grunde Ende der 1870er Jahre nicht mehr legitimieren. Breymann steht am Übergang zur letzten Stufe der Institutionalisierung der Romanischen Philologie (Christmann 1986: 654). Er tut dies dennoch über das Mittel der Intertextualität: Er zitiert aus der vielbeachteten und dem Fachpublikum vermutlich wohlbekannten Rede Mahns (Breymann 1876: 14; vgl. Christmann 1986: 664). Damit bezweckt er zweierlei: Das Zitieren einer anerkannten Autorität genügt als Legitimation und durch das Zuordnen der eigenen Person in eine bestimmte Traditionslinie, hier die Diez-Schule, erhält auch das eigene Wort mehr Gewicht. Breymann füllt den Begriff der Romanischen Philologie, nachdem er ihre gesellschaftliche Relevanz und wissenschaftliche Legitimation bewiesen hat, indem er sich in eine bestimmte Tradition philologischen Selbstverständnisses stellt: Und diese Aufgabe, das Ziel, welches alle Philologie gemeinsam verfolgt, ist keine andere als die: ‚Das Seelenleben der Völker in seiner ganzen Innerlichkeit zu erfassen und den Zusammenhang ihrer Kultur durch alle Zeit zu erhalten.‘ (Breymann 1876: 15) Die über die Schlagworte ‚Seelenleben der Völker‘, ‚Innerlichkeit‘ und ‚Zusammenhang‘ aufgerufenen Wissensrahmen regeln ganz klar die Konzepte, die im mentalen Lexikon der Rezipienten über diesen kurzen Textausschnitt aktiviert werden: Es ist dies zum einen das Programm der Seelenschau, wie es bei Karl Mager begegnete. Damit gleichzeitig verbunden ist zum anderen die Verpflichtung auf einen Sprachbegriff, der immer noch Von der Schule zur Universität 261 Elemente des idealistisch-hermeneutischen Sprachbegriffs enthält, auch die sehr weite Definition des Objektbereichs der Philologie als Gesamtheit der kulturgeschichtlichen Zeugnisse einer Gesellschaft innerhalb einer bestimmten Epoche ist mit diesem Philologiekonzept verknüpft (Breymann 1876: 8). 137 Auf seine Verortung im ideologischen Feld folgt sodann der praktische Teil des Vortrags, Breymann stellt die Leitfrage, um die es ihm geht: Inwieweit, so fragen wir nun weiter, hat denn dieser gewaltige Umschwung der Sprachwissenschaft eine Umgestaltung des Sprachunterrichts auf Schulen herbeigeführt? (Breymann 1876: 16) Breymanns Urteil über die praktische Umsetzung ist vernichtend: Es wird dort in der althergebrachten Weise, noch wie vor 50 und mehr Jahren gelehrt, als ob es Männer wie Bopp, Grimm, Schleicher, Curtius, Diez, Mätzner, Littré u.a. nie gegeben hätte. (Breymann 1876: 16) Im Folgenden macht Breymann Vorschläge, wie für diese Zustände Abhilfe geschaffen werden könne. Inhaltlich erinnern seine Forderungen stark an Mahn (Christmann 1986: 666/ 667). Auch das Argumentationsmuster ist dasselbe: Die unzureichende Situation des Sprachunterrichts an den Schulen wird als Vorwand genommen, um Forderungen für das akademische Fach ‚Romanische Philologie‘ zu stellen. 138 Anders als Mahn stellt Breymann allerdings nicht nur für die universitäre Situation Lösungen bereit, sondern er entwirft auch eine didaktische Methode der Grammatikvermittlung, die den schlechten Zustand des Sprachunterrichts verbessern könne. Das von Mahn gesteckte Forschungsprogramm wird bei Breymann vorausgesetzt, um die Reformvorschläge inhaltlich mit didaktischen Neuerungen, die vor allem auf universitäre und schulische Sprachpraxis abzie- 137 Breymann steht damit eindeutig in Nähe der von August Boeckh verwendeten Diskursformation, über die Boeckh den Objektbereich der Philologie erstmals in dieser Form ausweitete. Ebenfalls in die Nachfolge der Verwendung dieser Diskursformation, zumindest hinsichtlich des Objektbereichs, einzuordnen wären Karl Elze, Karl Mager, Jakob Grimm und - für die Anglistik - auch Wilhelm Viëtor (vgl. Viëtor 1910). 138 Noch sehr viel detailreicher beschreibt Breymann in seinen Wünschen und Hoffnungen betreffend das Studium der neueren Sprachen an Schule und Unterricht die Notwendigkeit von Reformen in der Organisation und Ausstattung der neuphilologischen Fächer (vgl. Breymann 1885: 16-43). Hier legt er nicht nur eine Gliederung des Unterrichts in Vorlesungen, Seminare und Proseminare vor, die einer Gliederung in Grund- und Hauptstudium, wie sie über einen langen Zeitraum für das Lehramtsstudium klassisch war, bereits sehr nahe kommt, sondern betont noch einmal die Verbindung von Wissenschaft und Praxis: „Denn ein rein theoretisch-wissenschaftliches Studium der Sprachen führt den künftigen Lehrer nie und nimmer zu dem, was er außer und neben seiner streng philologischen Bildung vor allem in seinem künftigen Berufe braucht: zu einer sicheren Beherrschung der fremden Sprache in Wort und Schrift […].“ (Breymann 1885: 3) Die Diskursformationen der Neuphilologien 262 len, zu füllen. Die Beziehung Wissenschaft - Schule wird bei Breymann nun eindeutig in ein Dominanzverhältnis verkehrt: die Schule bedarf dringend der Wissenschaft ‚Moderne Philologie‘, um die Qualität ihres Unterrichts zunächst verbessern und dann dauerhaft sichern zu können. Als Fazit dieser Entwicklungen innerhalb der Diskursformationen um den Begriff der Neuphilologie lässt sich zunächst festhalten, dass die aus der Diskussion um Begriff, Umfang und Methode der Klassischen Philologie stammenden Diskursformationen fortgeführt werden: Der stärker auf pädagogische Verantwortung ausgerichtete Diskursstrang, der die Wissensstrukturen in den Texten von Wolf regelte, wird bei Mager wieder aufgenommen und das pädagogische Element verstärkt. Die Konzeption der Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft Boeckhscher Provenienz findet sich als Sediment in nahezu allen Konzeptionen, wenn auch mit teilweise einschneidenden Veränderungen (Keller). Die Auseinandersetzung zwischen Sach-und Wortphilologie spiegelt sich über die Diskurse, die von den Vertretern der Romanischen Philologie in den Texten evoziert werden, nur sehr andeutungsweise (Keller). 139 Daneben zeigt sich im Gegensatz zur Altphilologie, dass der Einfluss der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft auf die geführte Debatte zunimmt. Nicht nur liefert diese die methodische Begründung der Modernen Philologien über die wissenschaftliche Behandlung der Grammatik, was dazu führt, dass in den bisher analysierten Texten im Bereich der Methodendiskussion meist nur der Verweis auf die Nachbardisziplin genügt, sondern sie dient auch als Folie, die Bedeutung der (National)Philologien zu stärken. Selbst in den Diskussionen, die von zwei getrennten Disziplinen (Sprachwissenschaft und Philologie) ausgehen, bleibt die Sprachwissenschaft als Handwerk bei der Beurteilung ihrer Ergebnisse nach der gesellschaftlichen Relevanz der Philologie untergeordnet (Elze, Mager, Breymann). Dies deutet auf eine Fortsetzung des Grimmschen Diskurses hin. Die vor allem über Methodendiskussion laufende wissenschaftliche Konzeption Boeckhs wird in ihrer Gesamtheit nur bei Elze fortgesetzt, Keller deutet eine solche Diskussion zwar an, führt sie aber nicht aus. Bei Mager tritt eine wissenschaftlich geführte Diskussion nicht in Erscheinung, die methodische Anleitung verharrt im pädagogisch-didaktischen Bereich. Mahn und Breymann berufen sich bereits auf die installierte sprachwissenschaftliche Methode - eine Diskussion um die Tradition der Hermeneutik findet sich nicht mehr. Die Texte um 1840 spiegeln die Zäsur, die der epistemische Bruch innerhalb des Begriffs ‚Wissenschaft‘ verursacht hat: Deutlich wird, dass sich Risse in der Leitkategorie Philosophie gebildet haben, die ihrerseits auf das philologische Selbstverständnis zurückwirken. Die Integration philosophischer 139 Sehr viel deutlicher tritt eine Diskussion dieser Kontroverse in der Germanischen Philologie auf vgl. z.B. den Methodenstreit mit den Protagonisten Müllenhof, Lachmann, Grimm, Pfeiffer etc. Der anspruchsvolle Außenseiter 263 Methodenelemente erscheint nicht mehr als unzweifelhafter Bestandteil der philologischen Methode. Die Einheit philologia philosopha wird aufgebrochen und damit Raum für eine Annäherung an die Naturwissenschaften geschaffen. Ab den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts kann man den Diskurs ‚Philologie‘ nicht mehr in klar voneinander trennbare Diskursformationen differenzieren. Ab diesem Zeitpunkt scheint es angebracht, von Sedimenten der einzelnen Diskursstränge zu sprechen, die sich wie archäologische Schichten in den Texten anlagern. Über Metaphorik, Legitimationsformeln, intertextuelle Verweise, die in den Diskursformationen des ausgehenden 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Klassifikatoren dienen, können Spuren dieser Kategorisierungen nachgezeichnet und eine Zuordnung der Autoren um den Begriff ‚Philologie‘ ermöglicht werden. 5.3 Der anspruchsvolle Außenseiter: Die modernintegrative Konzeption August Fuchs’ (1818-1847) Mitte des 19. Jahrhunderts stehen der Philologie alle Wege offen. Zwar ist die Phase gekennzeichnet von Brüchen und Rissen in den tradierten Konzepten, die sich um den Begriff der Philologie gebildet haben, aber die Richtung, die sie für die Forschung auf dem Gebiet der modernen Fremdsprachen einschlagen wird, ist noch keineswegs festgelegt. Universalphilologie oder Einzelwissenschaft, kulturpädagogische Verantwortung oder ethische Partizipation am Erkenntnisprozess - vielfältig sind die Möglichkeiten, die sich ihr in konzeptioneller Sicht bieten. In dieser Phase tritt ein Neuphilologe in Erscheinung, der nahezu prototypisch für das Schwanken der Philologie in diesem weiten Wissensfeld ihrer polysemen Inhalte zu sein scheint und der versucht, möglichst viele dieser Inhalte in seine Konzeption zu integrieren und dort auf logische und nachvollziehbare Weise derart zu synthetisieren, dass seine Konzeption sowohl die Fachwissenschaft als auch den didaktischen Anspruch an das Fach ‚Romanische Philologie‘ bedient. Die Arbeiten Hermann August Theobald Fuchs’, einem Dessauer Philologen und Gymnasiallehrer 140 fallen in die Gründungs- und Legitimationsphase der Modernen Philologien. Die neueren Sprachen und Literaturen streben sowohl auf universitärer wie auf schulischer Ebene nach Gleichberechtigung mit den klassischen Sprachen. Sozialgeschichtlich findet diese Auseinandersetzung vor dem Hintergrund der aufstrebenden Realia statt, die allerdings noch nicht zum Gegenstand höherer Bildung geworden sind. 140 Fuchs verstarb allerdings kurz bevor er sein Amt als Lehrer am Gymnasium in Dessau antrat, das Studium hatte er jedoch bereits beendet. Zur Biographie Fuchsens vgl. Holland 1878; Storost 1984; 1993; 1997. Die Diskursformationen der Neuphilologien 264 Auch eine universitäre Ausbildung der Lehrer, die die Realia unterrichten, zu denen ja die neueren Sprachen und Literaturen zählen, ist noch keineswegs gesichert. So sind die programmatischen Texte der Anfangsphase der Modernen Philologien stets auch als ein Plädoyer für die Installation der neuphilologischen Lehrerbildung auf den Universitäten und der Aufwertung dieses Berufstands zu lesen. 141 Zudem gilt es für deren Vertreter, den Nachweis zu erbringen, die modernen Fremdsprachen und ihre Kulturen seien als Gegenstand von Bildung und Forschung denen der Antike ebenbürtig. Ein Unterfangen, das sich für den Romanisten August Fuchs 142 umso schwieriger gestaltet, gelten die romanischen Sprachen doch als „Zertrümmerungen“ der römischen Sprache (Humboldt 1838: CCCIIff.). 143 Fuchs zielt mit seinen Arbeiten zum einen auf die Dekonstruktion dieser Annahme, zum anderen auf die „Aussöhnung der klassischen Philologen mit den modernen“ (Storost 1984: 102). Gleichzeitig weisen seine Schriften ein hohes Maß an linguistischem Interesse auf: Immer wieder plädiert Fuchs für einen wissenschaftlicheren Umgang mit den romanischen Sprachen als Gegenstand der Forschung wie auch für eine bessere Vermittlung der wissenschaftlichen Ergebnisse und Methoden in die schulische Praxis (Fuchs 1840: 4/ 5). Fuchs Reflexionen über den Begriff ‚Romanische Philologie‘ lassen sich einerseits im Spannungsfeld ‚Altphilologie - Neuphilologien‘, andererseits aber auch im Spannungsfeld ‚Philologie - Sprachwissenschaft‘ verorten. Zudem bilden sie eine Brücke zwischen der innerhalb der kommunikativen Prozesse um kulturpädagogische Fragestellungen wirkmächtigen Diskursformation, die im Umfeld der schulischen Realität zu situieren ist und der stärker auf die Bedürfnisse der Fachwissenschaften 141 Vgl. hierzu beispielsweise die Forderungen eines anonymen Autors in der Pädagogischen Revue 1844: 9/ 10. Darin wird die mangelnde Unterstützung von Seiten der Ministerien für die Realia beklagt und eine Aufwertung derselben gefordert. Ebenfalls wird der Wunsch nach einer Gleichstellungsreform auf dem Gebiet der Bildungseinrichtungen kundgetan (vgl. Anonym 1844: 244/ 245). In eine ähnliche Richtung gehen die Forderungen Franz Fickers und Jakob Grimms, als sie die Einrichtung eigener neuphilologischer Seminare zur besseren Ausbildung der Lehrer verlangen (vgl. Ficker 1846; Grimm 1846). Vgl. zur Bedeutung dieser Folie auch Kopp 1994; Storost 1984. Eine ebenfalls recht deutliche Sprache sprechen die Äußerungen mancher Altphilologen, die den neueren Sprachen kurzerhand das philologische Bildungspotential absprechen (vgl. Matthiä 1835). Die Kluft zwischen Alt-und Neuphilologen spiegelt sich teilweise auch in bissig-polemischen Rezensionen der gegenseitigen Arbeiten wie ein Kommentar Laurenz Lerschs zu Magers Abhandlung Die Philologie und die deutschen Schulen belegt. Lersch wirft Mager Plagiat seiner Arbeit vor und nennt sein Plädoyer für Fortschrittlichkeit der wissenschaftlichen Methoden der Neuphilologien mehrfach einen „faulen Zauber“ (vgl. Lersch 1838). 142 August Fuchs Arbeiten fallen vor allem in den Bereich der Romanischen, aber auch Germanischen Sprachwissenschaft. Seine Forschungen auf dem Gebiet der spanischen Sprache weisen ihn als einen der ersten deutschen Hispanisten aus (Storost 1984: 96). 143 Vgl. hierzu auch Storost 1997: 260/ 261. Der anspruchsvolle Außenseiter 265 einwirkenden Diskursformation. Fuchs bedient sich in seinen Schriften abwechselnd an beiden: Er evoziert Wissensrahmen um den modernen Bildungsbegriff Humboldts und rekurriert so auf Diskurse aus der Diskursformation um den Bildungswert der alten Sprachen. Zusätzlich nutzt er die Diskurse, die sich der Genese der Germanistik als nationaler Wissenschaft zuordnen lassen, indem er beispielsweise darauf verweist, die Geschichte einer Nation sei immer auch die Geschichte ihrer Sprache und damit besitze jede Nationalsprache bereits einen eigenen kulturellen Wert, sei also bildungsfähig. Die Verknüpfung dieser Diskursstränge wie auch der sie begleitenden Wissensrahmen sorgt für eine komplexe Konzeption der Wissenschaft ‚Romanische Philologie‘, da sie die genannten Spannungsfelder stets vor einem doppelten Zugang verhandelt: der Frage nach Autonomie und modernem Wissenschaftsanspruch einerseits, andererseits aber auch nach der kulturpädagogischen Verantwortung der Philologie mit Blick auf die Unterrichtsrealität. August Fuchs kann somit sowohl in der fachwissenschaftlichen als auch in der kulturpädagogischen Diskursformation verortet werden. Da er als Schulmann letzterer sehr nahestand und der Anteil kulturpädagogischer Diskurse seine Schriften durchaus mitbestimmt, bildet er ein Brückenkapitel zu den, in den Fachwissenschaften wirkenden Wissensrahmen und Diskurssträngen. Die Analyse zeigt, dass Fuchs einen integrativen Entwurf für die Philologie vorlegt, der sowohl wissenschaftliche, als auch pädagogisch-ethische Aspekte beleuchtet. Ausgehend von Fuchsens Sprachbegriff sowie seiner Einordnung der romanischen Sprachen als ein den klassischen Sprachen ebenbürtiger Forschungs- und Bildungsgegenstand soll dieser Entwurf im Folgenden umrissen werden. Die geschichtliche Entwikkelung eines ganzen Volkes gleicht der Wanderschaft eines einzelnen Menschen, welcher einem unendlich entfernten Ziele entgegenstrebt. […] Wie nun so die Geschichte der Menschheit im Allgemeinen - Geschichte nennen wir aber eben die grosse Wanderung der Menschheit - in beständigem Fortschreiten begriffen ist, eben so muss natürlich mit dem Ganzen auch jeder einzelne Theil der Geschichte fortschreiten, wenn auch der eine mehr, der andere weniger merkbar. Einer der wichtigsten Theile der Geschichte der geistigen Entwikkelung eines Volkes ist aber ohne Zweifel die Geschichte seiner Sprache. Denn jede Sprache als der verkörperte Ausdrukk der Gedanken hat, wenn sie von einem gebildeten, also in den Bereich der Geschichte gehörenden, Volke gesprochen wird wirklich eine Geschichte, d.h. sie erfährt eine fortwährende Entwikkelung; diese Entwikkelung aber kann, wenn das bisher Gesagte richtig ist, nur ein Fortschreiten und Annähern an Sprachvollkommenheit sein. (Fuchs 1840: IX/ X) In diesem Absatz aus seiner Analyse Über die sogenannten unregelmässigen Zeitwörter in den romanischen Sprachen legt Fuchs bereits sein philologisches Die Diskursformationen der Neuphilologien 266 Forschungsprogramm vor und situiert sich innerhalb des romantisch-idealistischen Kontextes. Fuchs’ Sprachbegriff entstammt dem Humboldtschen Sprachdenken, Sprache sei die äußere Erscheinung des Geistes, der Geist bilde das Innere des Volkes ab und somit seien Sprache und Geist in dialektischer Weise verbunden. Die Erforschung der Sprache könne somit Geist und Charakter eines Volkes bis in die kleinsten Einzelheiten erkennen und erklären (Fuchs 1840: 6; Humboldt 1836: LIIIf.). Als seine Schrift ebenfalls bedingender und sie gleichsam konstituierender Diskurs wird das Boeckhsche Prinzip der unendlichen Approximation implizit genannt, auch dessen Vorstellung einer Universalphilologie als Kulturwissenschaft, in der die Sprache zwar eine äußerst bedeutsame Rolle spielte, aber doch nur als Teil eines umfassenden Kulturbegriffs zu begreifen war, liegt als epistemische Schicht seiner Schrift zugrunde. Es ist 1840 noch keine Selbstverständlichkeit, eine vergleichende Analyse der romanischen Sprachen vorzulegen und diese als ebenbürtig gegenüber den alten Sprachen hinsichtlich ihres Bildungswertes zu bezeichnen. Trotzdem Diezens Grammatik der romanischen Sprachen bereits erschienen war 144 , waren die romanischen Sprachen noch keineswegs zu einem ausgewiesenen Forschungsgegenstand der universitären Praxis geworden und auch die Neuphilologien kämpften noch darum, sich aus dem übermächtigen Schatten der Altphilologie zu lösen (Storost 1984: 96). Daher gilt es für August Fuchs, sein Vorhaben zunächst zu legitimieren. Er tut dies einerseits mit dem Verweis auf Wilhelm von Humboldt, den er auch zitiert, um seinen Sprachbegriff zu rechtfertigen (Fuchs 1840: 6). Andererseits muss er vor allem den Gegenstand seiner Forschung, die romanischen Sprachen, verteidigen. August Fuchs greift hierzu einen bekannten Topos auf: die 144 Diese hatte Fuchs gründlich studiert, den zweiten Band auch rezensiert (vgl. Fuchs 1839; ebenso Storost 1997: 266). In seiner Rezension wirft Fuchs Diez denn auch vor, die Gelegenheit zu einer endgültigen Rehabilitation der romanischen Sprachen gegenüber dem Lateinischen nicht wahrgenommen zu haben: „Hier, scheint es mir, wäre der Ort gewesen, die romanischen Sprachen von dem beherrschenden Vorurteile zu befreien, als seien sie nur Verstümmelungen und Verkrüppelungen des Lateinischen, und darzulegen, daßs sie im Gegentheile vollkommenere und ausgebildetere Sprachen sind, als die Lateinische […].“ (Fuchs 1839: 432) Auch vermisst Fuchs in Diezens Grammatik den Rückbezug zu einer kultur-historischen Implikation innerhalb des Formenwandels. Indem er Diez in dieser Hinsicht scharf kritisiert, erteilt er damit gleichermaßen dem biologistisch-positivistischen Forschungsprogramm der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft eine klare Absage: „Eben so hätte man gewünscht, […], daßs in den einzelnen Fällen nachgewiesen worden wäre, wie die Formen sich nach dem veränderten Geiste und der veränderten Eigenthümlichkeit der Völker nothwendig in demselben Maßse gerade so und nicht anders verändert haben; es wäre also nicht bloßs eine Zergliederung, sondern eine förmliche Naturgeschichte der Sprachen zu geben gewesen, sie wären nicht so getrennt vom Geiste der Völker, sondern mehr als unmittelbarer verkörperter Ausdruck desselben zu betrachten gewesen.“ (Fuchs 1839: 434/ 435) Der anspruchsvolle Außenseiter 267 Vollkommenheit der lateinischen Sprache. Diese habe ja den idealen Endzustand erreicht, sei also auf der höchsten Stufe, die eine Sprache erreichen könne, angelangt (Fuchs 1840: X). Die „Töchtersprachen“, die aus dem Lateinischen hervorgegangen waren, wurden im Vergleich zu diesem mit Begriffen wie „Zertrümmerung“, „Verfall“ oder sogar „Entartung“ belegt (Humboldt 1838: CCCIII/ CCCIV). 145 Dieser allgemein anerkannte Topos wird von Fuchs nun widerlegt. Elegant dekonstruiert er die Vorstellung, die Entstehung der romanischen Sprachen bedeute einen Rückschritt, indem er den romantisch-idealistischen Bildungsbegriff auf die romanischen Sprachen anwendet und das mit diesen verbundene Konzept ‚Rückschritt‘ durch das Konzept ‚Fortschritt‘ ersetzt: […] in der That aber ist das Aufhören der Lateinischen Sprache als Sprache eines Volkes und das Entstehen der Romanischen Sprachen aus der derselben durchaus kein Rükkschritt, sondern ein wesentlicher Fortschritt; denn so lange die Lateinische Sprache allein herrschte, konnten die Völker in den verschiedenen Landschaften sie immer nur als die aufgedrungene Sprache der Sieger, aber nicht als ihr eigenes Eigenthum betrachten; erst als die Sprache sich in verschiedene Zweige auflöste, erhielt jedes Volk ein Eigenthum in seiner Sprache, und die Sprache ist ja der eigenste Schatz eines Volkes. (Fuchs 1840: XII) Fuchsens Argumentation ist hier eine doppelte: Zunächst verweist er auf die Bildungsvielfalt, die mit den romanischen Sprachen verbunden ist, jede romanische Sprache transportiert auch die Kultur und Charakteristik des jeweiligen romanischen Volkes, die sich nur über die Lösung vom Latein ausbilden konnte. 146 Gleichzeitig bindet er den Begriff nationaler Identität an die eigene Sprache. Nur über eine eigene Sprache kann ein Volk demnach Aufklärung über sein Wesen erhalten. Fuchs spielt hier auf bekannte Argumentationsmuster an, die in den Diskursen um den Begriff der Altphilologie wirkten: Der Schatz eines Volkes liegt in seiner Geschichte verborgen. Die Historizität der Sprachen erlaubt den Völkern über den philologischen Zugriff auf diesen Schatz den Zugang zu ihrer eigenen Geschichtlichkeit. Neu ist, dass Fuchs im Folgenden erklärt, die romanischen Sprachen besäßen aufgrund der Tatsache, dass sie quasi die Fortsetzungen des Lateinischen seien, möglicherweise eine „grössere Bildungsfähigkeit“ als dieses (Fuchs 1840: XII). 145 In dem von Humboldt verwendeten Vokabular wird der Einfluss der Naturwissenschaften auf die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft deutlich. Auch die Beschreibung der Verwandtschaftsverhältnisse läuft im Bereich Latein-Romanische Sprachen über biologische Metaphernverwendung. 146 Fuchs hatte gleich eingangs darauf verwiesen, dass das Ziel der menschlichen Geschichte, das Ziel der Völker und der einzelnen Individuen stets nur die Freiheit sein könne. Dieses Bild nimmt er hier wieder auf und verortet sich dadurch erneut in der Hegelschen Philosophie (vgl. Fuchs 1840: IX). Die Diskursformationen der Neuphilologien 268 Bisher wurden die romanischen Sprachen legitimiert über ihre Verwandtschaft mit der lateinischen Sprache, da sie aber als ‚korrumpiertes Latein‘ galten, war ihr Bildungswert deutlich unter dem des Lateinischen oder Griechischen. Diese Ansicht vertrat beispielsweise ein anderer Pionier auf dem Gebiet der Romanischen Philologie, Lorenz Diefenbach: Wollten wir bei den romanischen Sprachen, überhaupt die Qualität der Aehnlichkeit mit der lateinischen als Kriterion für ihre Würde, unter die Schriftsprachen aufgenommen zu werden, annehmen; so würden manche noch halb im Dunkel liegenden Volksdialekte den Vorrang vor den hier aufgeführten Sprachen erhalten […]. (Diefenbach 1831: 21) Diefenbachs Bemühungen gelten daher in seiner Abhandlung Über die jetzigen romanischen Schriftsprachen stärker dem Nachweis eines hohen Verwandtschaftsgrades zwischen den romanischen Sprachen und dem Lateinischen. 147 Fuchs dagegen muss nun eine These entwickeln, mit der sich alle bisherigen Annahmen widerlegen lassen. Dies führt zu seiner Überzeugung, die romanischen Sprachen seien im Grunde nichts anderes als die erwachsene Form der lateinischen Sprache. Damit integriert er in den bestehenden Wissensrahmen um die romanischen Sprachen ein neues Element: den Fortschrittsbegriff von Hegel. Dessen Fortschrittsdenken begreift geschichtliche Dynamik stets als eine Entwicklung hin zum Besseren, das heißt, vererbt eine Kultur ihr Wissen an ihre Nachfolgekultur, so bedeutet 147 Vgl. ausführlicher zu Diefenbach Kapitel 5.4.1.2. der vorliegenden Arbeit. Im Gegensatz zu Fuchs muss Diefenbach allerdings die Philologie als moderne Wissenschaft an sich noch ausführlich begründen. Diefenbach ist gezwungen, sich einerseits gegenüber der Vorstellung von Philologie abzugrenzen, der der Vorwurf Goethes zugrunde liegt, die Philologie sei ein bloßes Lückenfüllen verdorbener Stellen, andererseits auch das Vorurteil auszuräumen, ein Sprachstudium sei ein bloßes Auswendiglernen von Vokabeln: „In neueren und neuesten Zeiten hat sich das Feld des Sprachstudiums und die Zahl seiner Bearbeiter so vergrössert, dass man wol fragen mag: welche Zwekke haben Diese dabei? Der Taglöhner unter ihnen zu geschweigen, fragt es sich und wird oft von den Gegnern des Sprachstudiums gefragt: welches würdige Interesse für Geist und Herz das Auswendiglernen von Vocabeln und Regeln, die hitzigen Streitigkeiten über unwesentliche Varianten der Klassiker etc. haben könnten? Diess trifft indess nur eine noch bedauernswerthere Klasse von Philologen, als die vorhin erwähnte, nämlich die blos mechanisch arbeitenden, deren Augen durch die Letternschwärze so verwöhnt sind, dass sie den Anblikk des blauen Himmels oder eines heitern Menschenantlitzes nicht mehr ertragen können. Abgesehen von dem freudigen Gefühle einer gewissen Freiheit und Gewandtheit des Geistes, das Jeder geniesst, der mit Leichtigkeit seine Gedanken und Gefühle in mehreren Sprachen ausdrükken, den eigenthümlichen Sinn ihrer Schriftsteller aus den Originalen auffassen kann; so findet sich in dem rechten, lebendigen Studium der Sprachen noch gar manches Interesse.“ (Diefenbach 1831: 1) Diefenbach verortet sich sodann in der Boeckhschen Philologiekonzeption der partizipativen Verstehenswissenschaft, er integriert ästhetische (Gefühl), historische, ethische, empirische und anthropologische Elemente in seine Philologiedefinition (vgl. Diefenbach 1831: 1/ 2). Der anspruchsvolle Außenseiter 269 dies keinen Rückschritt, sondern das Erreichen einer höheren Form. 148 Geschichte wird bei Fuchs begriffen als ein ständiges Fortschreiten der geistigen Entwicklung eines Volkes. Da sich nun aber die geistige Entwicklung jeden Volkes in seiner Sprache spiegele, so entwickeln sich auch die Sprachen in einer kontinuierlichen Fortschrittsbewegung Mit dieser Integration des Hegelschen Fortschrittsbegriff in den Wissensrahmen um das Verhältnis ,Latein romanische Sprachen‘ definiert Fuchs das hierarchische Verhältnis neu, so dass die romanischen Sprachen letztlich als die überlegeneren erscheinen. Diese, 1840 nur angedeutete These Fuchs’, die romanischen Sprachen seien die vollkommeneren Fortbildungen des Lateinischen, begegnet in seinen späteren Werken 149 immer wieder und mündete in teilweise polemische Debatten um den Begriff Tochtersprache. 150 Seine These untermauert er stets durch den bereits erwähnten Rückgriff auf den Geschichtsbegriff Hegels wie auch auf das Sprachdenken Wilhelm von Humboldts und evoziert so zwei bekannte Kollektivsymbole als Legitimationsgrundlage für seine Schriften (vgl. Fuchs 1844b: 37). 151 Auf diese Weise integrierte Fuchs die romanischen Sprachen als Forschungs- und auch Bildungsgegenstand in den Kontext der romantischen Vorstellungen über Sprache und Geschichte. Das Zitieren des Humboldtschen Sprachbegriffs, die Beziehungen zwischen Geist, Sprache, Geschichte und nationaler Identität sowie der von Fuchs evozierte Fortschrittsgedanke in der Geschichtlichkeit der Menschheit bilden hierfür die legitimierenden Wissensrahmen. Innerhalb der Diskurse um die ,Legitimation des Gegenstandes‘ argumentiert Fuchs ganz als Wissenschaftler, der das Voranschreiten seiner wissenschaftlichen Disziplin im Blick hat. Nach der Begründung des Gegenstands seiner Forschungen muss Fuchs auch seine Herangehensweise rechtfertigen. Dazu muss sich Fuchs in den bereits erwähnten Spannungsfeldern situieren. Um die Komplexität seines Entwurfs besser nachvollziehen zu können, scheint es sinnvoll, sich noch einmal den Kontext zu vergegenwärtigen, vor dessen Hintergrund 148 Vgl. zum Fortschrittskonzept Rosen 2010: 218-239, v.a. 220-222. 149 Vgl. hierzu v.a. Fuchs 1844b; 1849. 150 „So sind auch die romanischen Sprachen nicht als Töchter aus dem Lateinischen hervorgegangen, sondern sie sind vielmehr ganz naturgemäße Fortsetzungen und Fortbildungen der lateinischen Sprache, sie sind die erwachsene lateinische Sprache.“ (Fuchs 1844b: 36) Vgl. zum Verlauf dieser Debatte zwischen Steinthal und Fuchs Storost 1984: 103. 151 Storost 1984 weist für diese Thesenbildung Fuchs’ den Einfluss Gustave Fallots (1807- 1837) nach. Er zeigt allerdings auch, dass Fuchs, wie später auch Gröber, Fallot nur sehr einseitig rezipiert habe: Fuchs lässt die Fallotsche Annahme, der Sub- und Superstrateinfluss des Keltischen und des Germanischen hätte eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der romanischen Sprachen gespielt, kurzerhand unter den Tisch fallen (Storost 1984: 102). Die Diskursformationen der Neuphilologien 270 Fuchs agiert. Ohne Zweifel kann Fuchs zu den Pionieren der Romanischen Philologie gezählt werden (Storost 2008a: 121). Die Mitte des 19. Jahrhunderts (30er bis 60er Jahre) spiegelt den Lösungsprozess der (Neu)Philologien als moderne Wissenschaften von vorwissenschaftlichen philologischen Konzeptionen. Blickt man noch einmal auf die Sattelzeit zwischen 1770 und 1830 zurück und vergegenwärtigt sich vor diesem Hintergrund die Herausbildung der Philologie als autonome, moderne Wissenschaft, so wird deutlich, vor welcher Folie sich diese Entwicklungsprozesse abspielen: Innerhalb dieser Prozesse kann Friedrich Wolf eine Scharnierfunktion zwischen Resten rationalen, aufklärerischen und dem Beginn des romantisch-idealistischen Sprachdenkens, das, verkürzt gesagt, um die Konzepte der Historizität wie auch der kulturgeschichtlichen Bildung durch Sprache kreist, zugeordnet werden. Dabei ist dem Sprachdenken der romantisch-idealistischen Philologiekonzeptionen immanent, dass über die Beschäftigung mit Sprache der Gesellschaft eine Teilhabe an den Erkenntnisprozessen ermöglicht werden könne. August Boeckh führte die Konzeption der Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft in einem radikalen Projekt der Universalphilologie als einer historischen Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sprachforschung zu Ende. Parallel vollzieht sich ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts ein epistemischer Wechsel: Die Naturwissenschaften lösen die Philosophie als Leitkategorie, Konnotations- und Denotationsspender für den Begriff der Wissenschaft ab. Das neue Selbstverständnis von Wissenschaft als einem positiven, objektiven und auf der Kontrollierbarkeit methodisch gewonnener Fakten beruhendem System spiegelt sich besonders im identitären Prozess der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die sich durch die Integration naturwissenschaftlicher Methoden einerseits (anatomistischer Vergleich, Sektion, Autopsie) sowie der Integration naturwissenschaftlichen Vokabulars und Bildspender in der Nähe der exakten Vorbilder situiert. Dieser Wechsel der Episteme sorgt für Risse im Gebäude der philologischen Identität, die sich ja durch ihre Orientierung an der philosophischen Methode auszeichnet. Dadurch öffnet sich ein Spannungsfeld, das die Diskussion um die Werturteilsfreiheit von Wissenschaft antizipiert. 152 Definiert man Philologie im Sinne Boeckhs als partizipative Verstehenswissenschaft, die durchaus einen Anteil an der ars vitae hat, gerät man unter Rechtfertigungszwang, wenn der Disziplin als Folie für Wissenschaftlichkeit der Begriff einer positiven Wissenschaft in Abgrenzung zu einer normativen Wissenschaft untergelegt wird. Angesichts dieses von epistemischen Rissen durchzogenen Wissensraumes steht Fuchs demnach vor einer Herausforderung in mehrfacher Hinsicht: Er muss die Brücke zur Altphilologie schlagen und gleichzeitig 152 Diese Diskussion wurde maßgeblich von Max Weber beeinflusst, vgl. Weber [1917] 1988; 1919. Der anspruchsvolle Außenseiter 271 das moderne Wissenschaftsverständnis in sein Konzept integrieren. Fuchsens Vorschlag klingt in den Ohren des 21. Jahrhunderts denkbar einfach: Er plädiert für ein interdisziplinäres Zusammenspiel aus Altphilologie, Neuphilologien und Linguistik, wobei alle drei Disziplinen gleichberechtigt sind. 153 Unter Berufung auf seine Theorie, die romanischen Sprachen seien die natürlichen Fortsetzungen des Lateins, führt Fuchs aus: Wer aber die lateinische Sprache in ihrem ganzen Wesen und in ihrem ganzen Lebenslaufe begreifen will, kann der Kenntniß der romanischen Sprachen, welche oft genug zur Erläuterung der lateinischen Sprache dienen, indem sie gleichsam eine Brücke bilden, die aus der Gegenwart in die Vergangenheit zurückführt, so wenig entbehren, wie der Erforscher der griechischen Sprache die neugriechische unbeachtet lassen darf. So wie man das Leben eines Menschen nur dann völlig verstehen kann, wenn man denselben von seiner Geburt an durch alle Verhältnisse des Lebens bis zu seinem Ausgange begleitet, so muß, wer eine Sprache ganz zu begreifen strebt - wer aber kann sich rühmen, dieß erreicht zu haben? - ihrer Entwicklung nachforschen von den frühesten erreichbaren Zeiten bis in die Gegenwart […]. Dieß auf die lateinische Sprache angewendet, ergiebt sich, daß wir ihren Ursprüngen in Asien nachspüren und ihre weitere Entwicklung durch die romanischen Sprachen hindurch verfolgen müssen. (Fuchs 1844b: 51) Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass sowohl der Forscher auf dem Gebiet der lateinischen als auch der Forscher auf dem Gebiet der romanischen Sprachen den jeweiligen Gegenpart zu ihrem primären Forschungsgegenstand sehr gut kennen müssen. Dies setzt Altphilologen mit gesicherter neuphilologischer und Neuphilologen mit gesicherter altphilologischer Ausbildung und Kompetenz voraus (Storost 1984: 106). Fuchs forderte aber nicht nur ein gegenseitiges Durchdringen der Fachgebiete, sondern plädierte auch für eine frühe Form der interdisziplinären Mehrsprachigkeitsdidaktik: So liegt seinem Unterrichtskonzept für die modernen Fremdsprachen eine vergleichende Methode zugrunde, die Fuchs in seinem Lehrbuch der spanischen Sprache von 1837 beschreibt: […] denn wenn man wohl mit Bestimmtheit annehmen darf, daß sich nicht leicht Jemand mit der Spanischen Sprache beschäftigen wird, der sich nicht wenigstens einige Kenntnisse der Lateinischen oder einer ihrer Tochtersprachen vorher erworben hat, so glaube ich versichern zu können, daß er bei einigem Fleiße, und wenn er auf die Ähnlichkeit des Spanischen mit der Sprache, von der er schon einige Kenntnisse hat, beständig aufmerksam gemacht wird, gewiß die Spanische Sprache spielend erlernen wird. Aber nur so kann, nach meiner Meinung wenigstens, einem Schüler die Erlernung einer ihm vorher gänzlich unbekannten Sprache leicht und angenehm 153 Hier findet sich ein Unterschied zu Elzes Konzeption: Die Linguistik bei Elze hat gegenüber der Philologie eine untergeordnete Position. Die Diskursformationen der Neuphilologien 272 gemacht werden, wenn eine, wenn auch nur ganz kurze und in wenigen Umrissen gegebene, Geschichte der Entstehung und Entwikkelung dieser Sprache, und die Erinnerung an die Wichtigkeit und das Belohnende der Erlernung derselben vorausgeschikkt wird; wenn beim Unterrichte selbst immer darauf aufmerksam gemacht wird, nicht bloß, wie die Sprachformen da sind, sondern auch, warum sie so sind, und woher auffallendere Spracherscheinungen zu erklären sind u.s.w., wenn, mit einem Worte, auf Sprachvergleichung, namentlich auch bei den neuern Sprachen, Rükksicht genommen wird. […] Namentlich wird dann auch die Geringschätzung, mit welcher die neuern Sprachen von einem großen Theile der sogenannten Philologen angesehen werden, denen die Lateinische und Griechische Sprache genügt, und denen allerdings die mancherlei Mängel der neuern Sprachen, besonders der Französischen, fühlbarer sind, sich verlieren, und sie werden, wenn sie diese Sprachen in mehr Verbindung mit der Lateinischen setzen, mehr Geschmält daran finden, ihre Bemühungen um Sprachvergleichung und Abstammung u.dgl. reichlich belohnt sehen, und selbst in vielen Fällen die Sprache des weniger gebildeten Theiles des Römischen Volkes vermittelst dieser Sprachen genauer kennen lernen. Dieses Streben nun, die Erlernung der Spanischen Sprache durch Vergleichung mit der Mutter- und den Schwestersprachen angenehm zu machen und zu erleichtern, und manche Spracherscheinungen dadurch zu erklären, war ein Hauptgrundsatz bei der Bearbeitung des vorliegenden Lehrbuches. (Fuchs 1837: 4) Auch hier wird Fuchs’ Idee der interdisziplinären Verknüpfung von Alt- und Neuphilologie wie auch der Wunsch nach einer Gleichberechtigung der modernen Sprachen deutlich. Modern ist sein Ansatz insofern, als Fuchs fordert, die sprachvergleichende Methode in den Sprachunterricht zu übertragen. 154 Das Erlernen des Spanischen über Vergleiche mit dem Latein als Mutter- und den anderen romanischen Sprachen als Tochtersprachen verhelfe den Schülern zu raschen Fortschritten und einer tiefergehenden Verarbeitung der Sprachstrukturen - Fuchs‘ Methode weist hier auf eine kognitive Perspektive im Prozess des Fremdsprachenlernens hin wie er in aktuellen Forschungen zur Mehrsprachigkeitsdidaktik üblich ist (vgl. Meißner 2003; 2010). Auch in späteren Publikationen taucht diese didaktische Überzeugung Fuchs’ auf. So hebt er in der Rezension zu Magers Abhandlung Über Wesen, Einrichtung und pädagogische Bedeutung des schulmäßi- 154 In Fuchsens fortschrittlichem Konzept zeigt sich eine Verbindung zu Karl Magers Vorstellung von modernem Sprachunterricht. Fuchs hatte sich in der von Mager herausgegeben Pädagogischen Revue auch in Bezug auf den Unterricht in der Geschichte des Schrifttums für eine interdisziplinäre Methode ausgesprochen, in der die Entwicklung in den klassischen Sprachen mit der Entwicklung in der germanischen wie auch der französischen Sprache verglichen werden sollte (vgl. Fuchs 1848: 286ff, besonders 286). Hier taucht auch Fuchsens These von der Fortsetzung der lateinischen Sprache in den romanischen Sprachen wieder auf, allerdings bezogen auf den römischen Volksgeist, der in den romanischen Sprachen weiterlebt (vgl. Fuchs 1848: 289). Der anspruchsvolle Außenseiter 273 gen Studiums der neuern Sprachen und Literaturen, und die Mittel, ihm aufzuhelfen erneut hervor, dass nur ein einheitliches Konzept den Sprachunterricht voranbringe: Wo eine einheitliche Bildung erreicht werden soll - und das soll doch wol auf unsern Schulen -, da muß Alles so zu einer Einheit verknüpft werden, daß man keinen Unterrichtsgegenstand losreißen kann, ohne eine Lücke zu machen. […] Man meine nicht, daß die fleißige Beschäftigung mit den neuern Sprachen der gründlichen Erlernung der alten Sprachen oder überhaupt der Gründlichkeit Abbruch thue und oberflächliche Vielwisserei befördere. […] Der Kenntniß der alten Sprachen kann die Beschäftigung mit den neuern nur förderlich sein. […] Sol die Beschäftigung mit den neuern Sprachen wirklich den erwähnten Segen bringen, sollen sie nicht nur die gesammte Geistesrichtung der geistig am höchsten stehenden Völker kennen lernen, sondern als Mittel der allgemeinen Bildung dienen […], so muß freilich der Unterricht in den neuern Sprachen ein ganz anderer werden, als wie er bis jetzt meistentheils ist. (Fuchs 1844c: 1183-1187) Neben diesem einheitlichen Konzept ist auch eine Verbesserung der Situation der Lehrerbildung vonnöten, vor allem aber eben auch eine Reform der Unterrichtsmethode: Der Sprachunterricht soll zunächst geschichtlich sein. […] Die neuern Sprachen müssen ferner v e r g l e i c h e n d gelehrt werden und überhaupt w i s s e n s c h a f t l i c h . Beides hängt mit der geschichtlichen Auffassung und Behandlung einer Sprache so eng zusammen, daß es gar nicht davon getrennt werden kann. Allerdings setzt man jetzt häufig die wissenschaftliche (philosophische) Sprachlehre der geschichtlichen entgegen, und in der That sind die Sprachlehren, wie sie jetzt sind, meistens e n t w e d e r geschichtlich o d e r wissenschaftlich (die Mehrzahl freilich keins von Beiden). Aber die wahre Sprachlehre soll Beides aufs innigste miteinander verschmelzen, so gewiß wie die Geschichte eine Wissenschaft und die Wissenschaft eine Geschichte ist. (Fuchs 1844c: 1188; Hervorhebungen wie im Original) Altphilologie und Neuphilologie sind über die Brücke der geistigen Entwicklung der Völker verbunden (Fuchs 1844c: 1183/ 1184), über die vergleichende Methode wird die geschichtliche Aufarbeitung zu einer historisch-wissenschaftlichen - Widersprüche zwischen Philologie und Linguistik sind über diese Identifikation der Zielsetzung im Geschichtsbewusstsein aufgehoben. Gut erkennbar ist hier auch Fuchs’ Überzeugung, Sprache vermittle geschichtliches Bewusstsein, das dann - in diesem Falle - den Schüler zu einem Individuum reifen lasse. Auch dieser Aspekt stärkt seine Überzeugung für eine vergleichende Methode. Diese basiert vermutlich zudem auf dem Einfluss, den die historisch-komparative Methode der noch jungen Die Diskursformationen der Neuphilologien 274 Disziplin der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft auf Fuchs hatte. Fuchs‘ Anliegen war es, den als objektiv konnotierten methodischen Forschungsrahmen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft in das hermeneutische Modell der Philologien zu integrieren (Storost 1984; 2005). Nur wenn alle Facetten der Sprachforschung synthetisiert würden, könnte ein umfassendes Bild einer Sprache nachgezeichnet werden. So fordert Fuchs vor der Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner 1844, nachdem er betont hatte, es sei schließlich die vergleichende Sprachkunde gewesen, die die Sprachforschung durch ihre Erforschung des Sanskrit in den Stand einer Wissenschaft erhoben und zusätzlich große Gewinne für die lateinische und griechische Sprache erbracht habe: Wie mit der lateinischen, so ist es mit jeder Sprache: jede bedarf, um begriffen zu werden, der Erläuterung durch viele andere Sprachen und keine Klasse von Sprachforschern kann der andern Klasse entbehren. (Fuchs 1844b: 51) Fuchs modern-integrative Konzeption von (Neu)Philologie beruht insgesamt auf drei Grundüberzeugungen: 1. jegliche Sprache transportiere Wissen über die Geschichtlichkeit des Menschen, 2. die romanischen Sprachen seien der lateinischen an Bildungswert ebenbürtig, da sie die vollkommeneren Fortsetzungen desselben abbildeten und 3. der Durchschlagskraft der vergleichenden Methode, die vor allem Alt- und Neuphilologie sowie sprachwissenschaftliche Forschung verbindet. Auf diesen drei Grundüberzeugungen fußt auch Fuchsens Synthese von fachwissenschaftlichem Fortschritts- und Erkenntnisdenken und den didaktischen Ansprüchen, die er an seine Philologiekonzeption heranträgt. Synthese und Integration bilden die Schlagworte, um die sich Fuchsens Überlegungen ranken. Dies führt Fuchs auch zu seinem Plädoyer, die Trennung zwischen Philologie und Linguistik aufzuheben: Die dießjährige Versammlung der Philologen, bei der zuerst abendländische und morgenländische Sprachen besprochen werden, giebt uns die Bürgschaft, daß dieß allgemeiner als bisher anerkannt worden ist [Anspielung auf die Gleichberechtigung der einzelnen Philologien sowie der verschiedenen Forschungsmethoden der Philologie und der Sprachwissenschaft; J.W.], daß in Zukunft die Scheidung zwischen ‚Philologen‘ und ‚Linguisten‘ immer mehr aufhören, und daß ein immer innigerer Verein der deutschen in verschiedenen Richtungen Einem Ziele zustrebender Sprachforscher sich bilden werde. (Fuchs 1844b: 51) Fuchs‘ Modell eines „einheitlichen Philologentyp[s]“ (Storost 1984: 106), der in sich sowohl eine alt- und neusprachliche als auch eine fundierte sprachwissenschaftliche Kompetenz vereinigte, scheint für die 40er Jahre des 19. Jahrhunderts beinahe noch zu modern zu sein. Teile seiner modernintegrativen Konzeption tauchen zwar in stärker pädagogisch ausgerichte- Romanische Philologie als Fachwissenschaft 275 ten Entwürfen der Philologie, z.B. bei Karl Mager oder Eduard Fiedler, auf, insgesamt kann Fuchs jedoch als Beispiel eines abgebrochenen Diskurses gelten. Die mit der Institutionalisierung der Neuphilologien einhergehende, fortschreitende Spezialisierung der einzelnen Philologien machte die Umsetzung eines einheitlichen Philologiekonzepts, wie es Fuchs vorschwebte, unmöglich. 155 Doch auch die identitäre Verfasstheit der beiden Disziplinen, Philologie und Sprachwissenschaft, wie sie sich in ihren jeweiligen Diskursuniversen manifestiert, verweist mehr auf eine virtuell gesetzte, nicht realisierbare Einheit, die eher pragmatischen Legitimationszwecken als der Vorstellung von einem großen gemeinsamen Ziel verhaftet ist. Sprachwissenschaft und Philologie sind in der Realität der wissenschaftlichen Forschung von Beginn an als verschiedene wissenschaftliche Disziplinen zu betrachten, die sich zwar gegenseitig ergänzen, aber doch auch in ihren Strukturen und Zielgebungen voneinander abgrenzbar sind. So können die Thesen August Fuchs gelesen werden als ein Versuch, das doppelte Spannungsfeld, in dem sich die Neuphilologien befinden, über eine identifikatorische Integration der „Konkurrenz“ aufzulösen. Doch der Autodidakt Fuchs ist zu wenig eingebunden in das universitäre Verhandlungsfeld, als dass sein Entwurf Eingang in die konzeptionellen Vorschläge der Folgezeit gefunden hätte, und so bleibt Fuchs in seinem symbiotischen Verbinden von fachwissenschaftlichem Anspruchsdenken und didaktischer Verantwortung ein Außenseiter. 5.4 Romanische Philologie als Fachwissenschaft: Einheitsutopien, Methodendiskussion und Aufgabe Es wurde bereits angedeutet, dass die Romanische Philologie im Rahmen ihrer démarche identitaire den Pfad der pädagogischen Verpflichtung der Philologie bisweilen verlässt. Einen Höhepunkt wird diese Tendenz zweifelsohne bei Gustav Gröber erfahren, der dieses Element aus seiner Konzeption um den Preis eines, als wissenschaftlicher geltenden, da methodisch objektiver arbeitenden Positivismus streichen wird. Es ist dies die Richtung, die die Romanische Philologie als Fachwissenschaft einschlägt und die sich im universitären Umfeld stark auf Methodendiskussionen, die innerhalb eines Expertenkreises geführt werden, konzentriert. Hier sucht die Romanische Philologie eindeutig die Anbindung an die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, deren Methodeninventar wie auch Ergebnisse als empirisch gesichert gelten. Es ist dies auch 155 Zum Zusammenhang zwischen fortschreitender Spezialisierung der Neuphilologien und deren Institutionalisierungsprozess an den Universitäten vgl. Kalkhoff 2010: 241- 251. Die Diskursformationen der Neuphilologien 276 der Moment, in dem, zumindest ab der zweiten Hälfte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts, die Zielsetzung und Gegenstandsbestimmung der Romanischen Philologie eine Engführung erfahren: Das Erkenntnisinteresse richtet sich in diesem Zeitraum mehr und mehr auf ein Erkennen des synchron gegebenen „Tatsächlichen“, denn auf ein „Erkennen des Erkannten“. 156 In diesem Zusammenhang spielen die Vorbedingungen eine nicht zu unterschätzende Rolle, die sich als Wegbereiter einer fachwissenschaftlich definierten Philologie anbieten: Als solche Wegbereiter kommen romanistische Forschungsarbeiten in Betracht, die zwar noch in die Frühgeschichte der Romanischen Philologie fallen - und somit eher in die Ära der vorwissenschaftlichen Periode ( Niederehe/ Schlieben-Lange 1988: 130 ) , methodisch und inhaltlich setzen sich die Nachfolgegenerationen in ihren Texten jedoch mit ihnen auseinander, um die Grenze zwischen Vorwissenschaftlichkeit und Wissenschaftlichkeit zumindest als diskursives Konstrukt ziehen zu können. 157 5.4.1 Die Pionierarbeiten: Vom gelehrten Sammeln zum wissenschaftlichen Klassifizieren bis zur Gründung wissenschaftlicher Kommunikationsplattformen Die institutionsgeschichtliche Perspektive zeigt, dass die Romanische Philologie ab den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts als wissenschaftlich ausgerüstetes Fach an den Universitäten etabliert war (Kalkhoff 2010: 266-268). Einen Wendepunkt in der Geschichte ihrer Verwissenschaftlichung markiert sicherlich das Erscheinen der Diezschen Grammatik (1836; 1838; 1844) 156 Richard Baum findet für diese Wende in der Wesensbestimmung der Romanischen Philologie deutliche Worte: „Mit der Hinwendung zum vergleichenden Studium der Sprachen im Sinne von Humboldt, Rask, Bopp oder Grimm gewann die ,Moderne Philologie‘ zwar eine solide Grundlage, verlor zugleich aber auch ihre ,Literatur‘: Die romanische Philologie ist ihrem Wesen nach Sprachwissenschaft; ihre Begründung findet sie durch die Anwendung der historisch-vergleichenden Methode auf das Studium der romanischen Sprachen.“ (Baum 1993: 125; Kursivierung wie im Original) Vgl. hierzu auch Bahner 1983. Die „Rückkehr“ der Literatur erfolgte zunächst teilweise im Rahmen neo-idealistischer Forschungsprogramme, wie sie z.B. Karl Vossler in seinen Schriften Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft (1904) oder Sprache als Schöpfung und Entwicklung (1905) vorlegte. Deutlicher noch öffnete sich die Tür für die Literatur mit Leo Spitzers stilästhetischen Arbeiten sowie den Forderungen Heinrich Schneegans‘, literaturwissenschaftlichen Forschungen, vor allem in Hinblick auf die moderne Literatur, mehr Raum zu geben (vgl. hierzu besonders Kalkhoff 2010: 250f.). 157 In diesem Zusammenhang weisen Niederehe/ Schlieben-Lange auf die Tücken der Periodisierungen hin: Oftmals dienten diese als Instrument, um virtuelle Grenzen da zu ziehen, wo sich Wissenschaftsgeschichte eigentlich graduell, in kleinen Schritten vollziehe (Niederehe/ Schlieben-Lange 1988: 130f). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 277 über die die Romanisten ihre eigene, schriftlich fixierte Norm einer wissenschaftlichen Methode, in Anlehnung an Jakob Grimms deutsche Grammatik, erhalten. Als Diezens Wegbereiter wird bisweilen dessen Lehrer August Wilhelm Schlegel genannt, dessen Beitrag zur Romanischen Philologie, die Observations sur la langue et la littérature provençales jedoch hinter den Veröffentlichungen Raynouards oder Diez’ zur Erforschung der provenzalischen Sprache und Literatur meist aus dem Blickfeld gerät. Dennoch lässt sich Schlegel als einer der ersten Pioniere der Romanischen Philologie im deutschsprachigen Raum betrachten, ebnet er doch den Weg für eine sichere und wissenschaftliche Methodisierung der Romanischen Philologie. 158 Gleichzeitig mit der Implementierung einer wissenschaftlich-objektiven Methode durch Diez verändert sich der intellektuell-philosophische Diskussionshintergrund: Der diskursive Raum um die Naturwissenschaften, der auf Kontrollierbarkeit, Methode, Beweisbarkeit der Forschung fokussiert, überlagert den ehemaligen Wissensdiskurs, der sich um die Elemente spekulative Philosophie, engagiert-empathische Erkenntnis und Partizipationsbedingungen bewegte. In diesem Zusammenhang werden gerne Kategorisierungen in vorwissenschaftliche und modern-wissenschaftliche Wissensdiskurse vorgenommen. Auch hier sei darauf verwiesen, dass die Grenzen fließend sind und die verschiedenen diskursiven Räume nicht als strenge Dichotomien ohne Überschneidungen existieren. Der modernobjektive Wissensdiskurs mit Konzentration auf Methode und objektivpositivistischer Ergebnissicherung und der hermeneutisch-idealistische Wissensdiskurs weisen Überlappungen auf, die sich vor allem in den Pionierarbeiten der frühen Romanisten des 19. Jahrhunderts aufdecken lassen. So verschreibt sich Lorenz Diefenbach beispielsweise bereits der historischvergleichenden Methode, ordnet die romanischen Sprachen im Vergleich mit dem Lateinischen dann aber doch noch nicht nach linguistischen Kriterien wie phonetische oder morphologische Gesetzmäßigkeiten (Storost 2008: 189-190). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Methodenbegriff oder eine Differenzierung zwischen Philologie und Linguistik findet sich (noch) nicht. Die ersten Zeitschriften, die als Kommunikationsplattformen für die neueren Sprachen und Literaturen gegründet werden, müs- 158 Bis auf einige wenige kleinere Ausflüge auf dem Gebiet der Romanischen Philologie blieben die Observations auch Schlegels einziger Beitrag auf diesem Gebiet, vgl. Narr 1971: XI. Zu erwähnen ist allerdings seine Positionierung hinsichtlich der spanischen Literatur, die Schlegel als eine „eigenständige Literaturregion der Romantik“ einordnete (Fröschle 2002: 482). In ihr habe sich die Tradition des Rittertums auf ideale Weise bewahrt, sie bildete somit ein wichtiges Element innerhalb der Universalpoesie. Auch deren Ursprung verortet August Wilhelm Schlegel zusammen mit seinem Bruder Friedrich in der Romania: In Dantes Divina Commedia sehen die Brüder Schlegel den Ausgangspunkt der Universalpoesie (vgl. Fröschle 2002: 481/ 482). Zur Philologie als Weltliteratur vgl. Auerbach 1967 [1951]. Die Diskursformationen der Neuphilologien 278 sen sich gar, so scheint es, zwischen pädagogischer und wissenschaftlicher Neuphilologie entscheiden. Die „Pionierarbeiten“ im Bereich der Modernen Philologien bieten einen Einblick in die Vielgestaltigkeit der „ersten“ Schritte der Romanischen Philologie auf ihrem Weg zu einer wissenschaftlichen, objektiven Philologie, die nicht nur mit kräftiger werdender Stimme auf ihre Legitimation als moderne Wissenschaft pocht, sondern zudem auch noch als Universitätsfach etabliert werden will. 5.4.1.1 August Wilhelm Schlegel (1767-1845) und die Observations als Wegbereiter 159 Gunter Narr hebt für die Entwicklung der Romanischen Philologie in ihrer Gründungsphase die Bedeutung der Anregungen hervor, die von August Wilhelm Schlegel und seinen 1818 verfassten Observations sur la langue et la littérature provençales für die Erforschung der romanischen Sprachen hervorgegangen seien (Narr: 1971: VIII). Allgemein gilt das Werk als wichtiger Beitrag innerhalb der Anfänge der typologischen Forschung in der Sprachwissen-schaft. 160 Zur Konzeption einer Romanischen Philologie scheinen Schlegels Observations auf den ersten Blick nur sehr wenig beizutragen, so sieht Narr in erster Linie das philologische Verdienst der Abhandlung darin, das Interesse der Romanischen Philologie auf Raynouard zu lenken (Narr 1971: VIII). In der Tat äußert sich Schlegel sehr wohlwollend über die Arbeiten Raynouards zur provenzalischen Minnesangdichtung. Besonderes Lob erhalten dabei dessen methodische Kriterien: La érudition de M. Raynouard est aussi étendue que solide; mais ce qui est bien plus admirable encore, c’est la critique lumineuse, la méthode vraiment philosophique qu’il apporte dans toutes ses recherches. Il n’avance rien sans avoir les preuves à la main; il remonte aux sources, et il les connoît toutes. (Schlegel 1971 [1818]: 4) Schlegels Vorstellung einer wissenschaftlichen Editionsmethode enthält bereits einige Elemente, die einige Jahre später, 1826, von Friedrich Diez als notwendige Bestandteile einer objektiven wissenschaftlichen Methode für philologische Studien postuliert werden. Die möglichst vollständige Sichtung und der Vergleich der verschiedenen Handschriften, die dazu dienen soll, sich dem Originaltext möglichst weit anzunähern, um so Aussagen über die Vergangenheit treffen zu können, die historisch belegbar sind, wird in der Romanischen Editionsphilologie zu einem der Hauptkriterien 159 Vgl. hierzu v.a. Narr 1971, der August Wilhelm Schlegel im Titel seiner Abhandlung bereits als Wegbereiter der Romanischen Philologie bezeichnet. 160 Vgl. zur Rolle Schlegels für die Anfänge der Typologie z.B. Arens ²1969: 186; Eckert 1986: 15/ 16; Bossong 2001. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 279 für den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Editionen avancieren. 161 Schlegel spricht ebenfalls die Berechtigung des Gegenstands an, die Suche nach dem „verlorenen Text“ sei von außerordentlicher Bedeutung für das Verständnis der Geschichte. Übersetzungen 162 könnten nicht in dem Maße Aufschluss über das Denken und die Kultur einer Epoche geben wie dies der Originaltext könne: Plus un ouvrage est le produit d’une imitation ambitieuse, mais stérile, d’un art devenu mécanisme; plus il tourne dans le cercle des magnifiques lieux communs et d’une phraséologie savamment factice, moins il risque à être traduit; car les équivalents de ces choses se trouvent abondamment dans toutes les littératures cultivées. Mais l’empreinte originale, non seulement des œuvres accomplies du génie, mais encore d’un art naissant, est difficile à conserver dans des traductions. (Schlegel 1971 [1818]: 8) Schlegel geht davon aus, dass sich über die Erforschung der provenzalischen Dichtung auch Erkenntnisse über die Geschichte der Troubadoure gewinnen ließen - und damit letztlich auch Erkenntnisse über die Geschichte des deutschen Volkes, da Schlegel von einer Seelenverwandtschaft der Geisteswelten des deutschen und des provenzalischen Geisteslebens ausging. 163 Zugrunde legt er seiner Argumentation, ganz in der Tradition eines hermeneutisch-idealistischen Sprachbegriffs stehend, die Überzeugung, über Sprache ließen sich der Eigenwert und die historische Entwicklung eines Volkes erkennen. Unverkennbar ist bereits der Gedanke einer 161 Natürlich spielen hier der Einfluss der Germanistik und der Methode Lachmanns eine weitaus gewichtigere Rolle als Einzelbemerkungen wie sie in Schlegels Schrift eingestreut zu finden sind. Interessant ist aber, dass sich die Kriterien der historischvergleichenden Methode für wissenschaftliche Editionsphilologie bereits sehr früh auch im Rahmen von Studien zu neueren Sprachen manifestieren - wie dies hier in den Observations der Fall zu sein scheint. 162 Es sei hier noch einmal auf das tiefe Misstrauen den Übersetzungen gegenüber hingewiesen. Ein ähnlicher Verweis auf die Furcht der Forscher durch das Übersetzen der Texte könnten wertvolle kulturhistorische Informationen verloren gehen, findet sich auch bei Gottfried Hermann, ebenso bei Friedrich Diez, der ja selbst als Übersetzer tätig war. 163 Vgl. zu dieser Motivation für die Anfänge der romanischen Forschungen besonders die Beschreibung Risops, der die Studien zum provenzalischen Mittelalter mehr als Mittel zum Zweck sah und nicht davon ausgeht, dass der Eigenwert der romanischen Literatur den vordergründigen Antrieb für die Beschäftigung mit deren Denkmälern bildete (Risop 1910: 10/ 11). Schlegels Ausführungen hinsichtlich der Literatur stützen diese Argumentation, der Erforschung der provenzalischen Sprache spricht er jedoch einen Eigenwert zu, der unmittelbar an die Sprache selbst gekoppelt ist: „Ensuite l’étude de la langue provençale est très curieuse en elle même, sous le triple rapport de la théorie générale des langues; de l‘étymologie de la langue françoise et des autres idiomes dérivés du latin; enfin, de ses propres beautés et de ses qualités distinctives.“ (Schlegel 1971 [1818]: 13) Die Diskursformationen der Neuphilologien 280 Nationalphilologie und deren essentieller Rolle bei der Erfassung der Geschichte einer Nation: Il sera temps de discuter le mérite poétique des Troubadours, quand on pourra lire leurs œuvres principales dans une édition correcte et accompagnée de tout qui sert à en faciliter l’intelligence, telle enfin que M. Raynouard nous la promet. Mais les hommes instruits dans l’histoire tomberont d’accord que les poésies provençales contiennent un trésor de souvenirs nationaux. (Schlegel 1971 [1818]: 11) Schlegel ordnet sich über seinen Sprachbegriff in die Tradition Humboldts ein und bindet das Kriterium der Historizität an die Sprache, die Sprache wiederum bindet er nicht nur an die Geschichte, sondern auch an den Menschen, dessen kreative Dynamik sie spiegele. Sprache ist also nicht nur historischem Wandel unterworfen, sie ist auch davon geprägt, dass sie individuell genutzt wird, was besonders in der Dichtung zum Ausdruck kommt, da sich in ihr individuelle Nutzung zu Traditionen verdichten lassen. Diese Fähigkeit spricht er der Menschheit als universelle Eigenschaft zu. Voraussetzung ist aber für das literarische Schaffen das Vorhandensein einer Kultur: Sans doute, dans l’histoire de la civilisation, il faut suivre avec soin les traces des communications qui ont eu lieu entre différents peuples; mais il faut bien se garder de confondre les analogies qui ont leur source dans la nature humaine, avec les ressemblances dérivées de l’imitation. Si vous refusez la puissance créatrice de l’homme presque dans tous les siècles et dans tous les pays; si vous faites, pour ainsi dire, la généalogie de toute activité intellectuelle, vous rendez la première invention d’autant plus inconcevable, et vous avez créé une difficulté au lieu d’en résoudre une. Tous les peuples bien doués ont eu le besoin et le goût de la poésie; elle s’est développée partout où les circonstances ont été propices. (Schlegel 1971 [1818]: 72/ 73) Dichtung wird also in der Sicht Schlegels zur Seinsbedingung eines Volkes, ohne eigene Dichtung ist eine eigene, kollektive Identität - und Schlegel denkt hier in erster Linie an den Begriff der Identität einer Nation - nicht möglich: Passe encore de recourir aux étrangers pour les arts du dessin; mais la poésie tient de plus près aux impressions intimes que produit la langue maternelle; elle est toujours nulle et factice, quand elle n’est pas nationale. (Schlegel 1971 [1818]: 73) Der Antrieb, aus dem heraus Schlegel die Observations verfasste, mag der romanischen Literatur noch keinen historischen Eigenwert zuerkannt und sie mehr als Mittel zur Erforschung der eigenen, deutschen Geschichte betrachtet haben, dennoch ist der Impuls den Schlegel durch sein intensives Romanische Philologie als Fachwissenschaft 281 Engagement für den Gegenstand ,Romanische Philologie‘ für deren Anfänge in Deutschland gab, nicht zu unterschätzen. Neben typologischen Ausführungen sind nicht nur die methodischen Anregungen, die sich in ihnen finden lassen und die durch Schlegels Schüler Diez größtenteils fortgesetzt und zur wissenschaftlichen Grundlage des Faches ,Romanische Philologie‘ weiterentwickelt wurden, von Bedeutung. Schlegel wertet den Forschungsgegenstand ,Romanische Sprachen und Literaturen‘ auf und verschafft, zumindest der provenzalischen Dichtung, so eine breitere Rezeptionsbasis. Noch ein weiterer Aspekt fällt in der Konzeption der Philologie bei Schlegel ins Auge: Er festigt das Band zwischen Geschichte und Sprache, das er als Hauptgegenstand der philologischen Forschung bestimmt, da dieses den genuin ontologischen Kern der Philologie ausmache. Denn erst die Beziehungen zwischen Geschichtlichkeit und Sprache eröffnen einen Kontext für philologische Forschung. Untersuche man nicht die sprachlichen Denkmäler der Vergangenheit, so könne die Gegenwart kein Potential für Innovation gewinnen, da dieses stets nur auf oberflächlichen Kenntnissen beruhe und daher nicht tragfähig für die Entwicklung neuer Ideen sei. Philologische Vergangenheitsbewältigung lässt in der Schlegelschen Fassung erst den Raum für das Betreten neuer Wege in der Gegenwart entstehen: A une époque où les esprits sont tournés vers de nouvelles idées, il est peutêtre particulièrement utile de réveiller le souvenir d’un passé déjà lointain. Tout le monde se croit en état de juger les anciens temps d’après des connoissances superficielles; les bien connoître, est tout autrement difficile. Le moyen le plus sûr de ne tirer aucun parti de l’histoire, c’est d’y porter un esprit d’hostilité. Si nous dédaignons nos ancêtres, prenons garde que la postérité ne nous le rende. (Schlegel 1971 [1818]: 81) Denkt man Schlegels warnende Worte weiter, so entfalten diese um die Jahrhundertwende in Anbetracht der resignierten Rechtfertigungen eines Hugo Schuchardt oder eines Adolf Toblers eine nahezu prophetische Dimension. 5.4.1.2 Lorenz Diefenbach (1806-1883) und die beginnende Verwissenschaftlichung Angesichts des zementierten Gründungsmythos Friedrich Diez und der Symbolkraft der Diezschen Grammatik als Formel zur Beschwörung einer Grundsteinlegung der Romanischen Philologie als Wissenschaft, neigt die Gegenwart leicht dazu, die Anfänge des Faches mit einem exkludierenden Die Diskursformationen der Neuphilologien 282 Blick zu betrachten. 164 So gerät ein weiterer Forscher, der Pionierleistungen auf dem Gebiet der Romanischen Philologie erbracht hatte, leicht in Vergessenheit: Lorenz Diefenbach. 1831 legte Diefenbach seine Dissertation Ueber die Jetzigen romanischen Schriftsprachen vor, die bis zum Erscheinen der Diezschen Grammatik grundlegend für die Beschäftigung mit den romanischen Sprachen war (Storost 2008: 181). So bezieht sich beispielsweise kein Geringerer als Wilhelm von Humboldt in seiner Abhandlung über die Kawi-Sprachen auf Diefenbachs Werk. Diefenbach selbst war gut vernetzt, er hielt Kontakt zu Jakob Grimm, Friedrich Diez, Franz Bopp und August Pott. 165 Sein Werk allerdings ist disparat: neben dem eher geringeren Teil, den seine Forschung zur Romanischen Philologie ausmacht, war Diefenbach vor allem auf dem Gebiet der deutschen Sprache, besonders auch der Keltologie tätig, bemühte sich um eine Verbindung von Ethnologie und Linguistik in seinen Forschungsarbeiten und schrieb auch belletristische Werke und Gedichte. 166 Diefenbachs Interesse galt hauptsächlich lexikographischen Studien, ein großer Teil seines Werkes besteht aus Wörterbüchern oder Glossaren. 167 Storost ordnet Diefenbach der Vorgeschichte der wissenschaftlichen Romanistik zu (Storost 2008: 190). Dafür spricht auch die Konzeption der Schriftsprachen, beginnend mit dem Spanischen unternimmt Diefenbach einen Streifzug durch die romanischen Sprachen, über das Portugiesische, Rätoromanische, Italienische, Französische bis hin zum Dakoromanischen. 168 Den größten Teil der Untersuchung nehmen Vergleichstabellen der sechs romanischen Sprachen, die Diefenbach untersucht, mit dem Lateinischen ein. Hier beklagt bereits Diez die fehlende Systematik, die Kriterien zur Anordnung der Tabellen werden für den Leser nicht transparent. 169 Zudem vermisst Diez die Orientierung an Lautregeln, wie er sie selbst in seiner Grammatik angewandt hatte: 164 Vgl. hierzu beispielsweise Gauger et al. 1981: 14: „Der Begründer der romanischen Sprachwissenschaft - dies ist unbestritten - ist Friedrich Diez.“ 165 Vgl. hierzu den Briefwechsel Diefenbach-Grimm (Bader 1985) sowie den Briefwechsel Diefenbach-Diez (Stengel 1883). 166 Vgl. zu Leben und Werk Lorenz Diefenbachs Wunderlich 1903; Bader 1985; Storost 2008. Traurige Berühmtheit erlangte der Titel von Diefenbachs 1873 erschienener Erzählung Arbeit macht frei. Sein belletristisches Werk ist nicht sehr umfangreich, seine eher biographisch wertvollen Ausflüge in die Narrativik „erwärmen mehr für den Menschen als für den Künstler“ (Wunderlich 1903: 679). 167 Zu nennen wären hier beispielsweise das Mittellateinisch-hochdeutsch-böhmische Wörterbuch (1846), das Vergleichende Wörterbuch der gothischen Sprache (1846-51) oder das Glossarium Latino-Germanicum mediae et infimae aetatis (1857). Zu einer umfassenden Bibliographie der Werke Diefenbachs vgl. Bader 1985: 3-6. 168 Malkiel 1976: 5 bezeichnet Diefenbachs Untersuchung als „panoramic view of all Romance literary languages known and actually in use“ - auch er sieht, im Vergleich zu Diez’ Grammatik, die fehlende Systematik in der Anordnung als wissenschaftliche Schwäche. 169 Vgl. zur Rezension Diefenbachs durch Diez Storost 2008: 189. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 283 Mit Sorgfalt und Einsicht gearbeitet sind die grammatischen Tabellen; nur hätten wir bei der Buchstabentabelle die Unterscheidung zwischen betonten und tonlosen Vokalen und die Angabe der Stelle des Buchstabens (aninauslautend) gewünscht. (Diez 1831: 584). Diefenbach selbst war sich dieses Mangels an wissenschaftlicher Systematik wohl durchaus bewusst und ordnet seine Untersuchung zusammen mit anderen zeitgenössischen Sprachstudien nahezu als eine Art Vorarbeit für die Nachfolgegeneration der Sprachforscher ein. Besonders bewusst ist ihm dabei das Problem der Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf dem Gebiet der Syntax und damit auch das Problem der Unmöglichkeit der Authentizität der Quellen. So schreibt er in der Vorrede zu den Schriftsprachen: Unsere Zeit thut in dieser Rükksicht mehr für die Sprachforscher der Nachwelt in den zahlreichen Beispielsammlungen der Volksdialekte. Doch verfehlen diese oft einen Hauptheil ihres Zwekkes, indem sie die Satzbildung der Volksrede im Aufschreiben unwillkührlich zu schriftmäßsig machen und uns so im Grunde nur Wörtersammlungen liefern. (Diefenbach 1831: 3) Implizit scheint hier eine Diskrepanz zwischen Theoriebildung und Empirie anzuklingen; Diefenbach spricht das Bedürfnis in der Sprachforschung an, vom unsystematischen Sammeln zu einem methodisch basierten Systematisieren der Beobachtungen zu gelangen. Zwar verbindet Diefenbach bereits die Forderung Humboldts nach einer Charakterisierung der Sprache mit dem komparativen Ansatz der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, indem er die bereits genannten Vergleichstabellen erstellt, er bleibt aber hinter seinem eigenen Anspruch nach Systematik zurück, da er eben noch nicht nach linguistischen Kriterien wie zum Beispiel phonetischen Gesetzmäßigkeiten kategorisiert und seine Ergebnisse auf diese Weise klassifiziert (Swiggers 2001: 1276). Auch Diefenbachs Vorhaben, ein etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen zu schreiben, scheint von diesem Bewusstsein - sowie der Tatsache, dass Diefenbach um das Diezsche Projekt wusste - mit verhindert worden zu sein: Ich fühle mich manchmal zu einer Bearbeitung dieser Wörterbücher versucht, bei welcher ich auch die mittellateinischen Formen prüfen und erläutern würde. Dufresne und seine Nachfolger reichen bei den lateinischen Glossen der deutschen (älteren und ältesten), mitunter auch der französischen, Glossarien bei Weitem nicht aus. Ich habe für Mittellateinisches und Romanisches Viel gesammelt, und Diez spornt mich zur Ausarbeitung und Veröffentlichung an, ob er gleich mit einem ähnlichen Werke schwanger geht. Aber ein vollständiges etymologisches Lexikon der romanischen Sprachen erfordert jüngere Kraft und Alterszeit, als die meine, und ein eklekti- Die Diskursformationen der Neuphilologien 284 scher Lexilog droht mit Qual der Wahl. (Brief Diefenbachs an Grimm vom 29. März 1851 zit. nach Bader 1985: 40) Diefenbach selbst sah sich als einen „Aufzeichner“, seine Arbeiten bezeichnet er als „Materialsammlungen“, die weniger durch eigene Theorien und Gedanken als durch den Umfang des vorliegenden Stoffes bestechen (Bader 1985: 45). 170 Dieses noch unsystematische Zusammenstellen von Sprachproben wie auch der porträtartigen Charakterisierung der romanischen Sprachen ohne Anwendung einer kohärenten Methode rechtfertigt die Einordnung Diefenbachs in die „Kontinuität des Mithridates“ (Storost 2008: 190). Gleichzeitig weisen seine Vorarbeiten Diefenbach auch als einen Pionier auf dem Gebiet der Romanischen Philologie aus. Ähnlich wird seine Rolle von Richert bewertet, die in der Beziehung Diefenbach - Diez eine Parallele zur Beziehung Raynouard - Diez sieht (Richert 1914: 77): Es war schon vor Diez eine romanische Grammatik in Deutschland von Lorenz Diefenbach erschienen, die auch die romanischen Sprachen untereinander verglich, und schon die von den Romantikern vernachlässigten unliterarischen Sprachen des Rumänischen und Rätoromanischen berücksichtigte. Doch gilt von diesem Buch, was Gaston Paris von Raynouards Grammatik im Verhältnis zu dem Diezschen Werke sagte: ,Raynouard avait entrevu la possibilité d’écrire une grammaire comparée des langue néolatines; il en avait tracé les premiers linéaments, et cela suffit à sa gloire; mais Diez écrit cette grammaire.’(Richert 1914: 77) Doch es gibt noch andere Hinweise, die auf Diefenbachs Zugehörigkeit zur Vorphase einer fachwissenschaftlich fundierten Romanischen Philologie hindeuten. So betätigt sich Diefenbach im Grunde als historisch-vergleichender Sprachforscher, ordnet sich aber nicht eindeutig der Sprachwissenschaft, sondern vielmehr der Philologie zu. Diefenbach geht ganz selbstverständlich davon aus, dass seine Forschungen dieser Disziplin angehören, eine Differenzierung wie Grimm sie für seine Grammatik vornahm, taucht bei ihm nicht auf (Diefenbach 1831: 1-4). Diefenbach schreibt vor dem Hintergrund der Überzeugung, über Sprache lasse sich Geist und Charakter der Völker übermitteln: Ein mystisches Dunkel ruht über der Werkstätte des Weltgeistes. Aus seiner Hand gingen die Sprachen hervor; keine bedeutungslose Willkühr bildete sie, und es sind die Völker und Menschen selbst, die in ihren Sprachen abgebildet vor uns stehen. (Diefenbach 1831: 4) 170 Die Vollständigkeit seiner Sammlungen lag Diefenbach sehr am Herzen, so fürchtete er in der Celtica „die in engerem Sinne historischen Documente und die daran geknüpften Untersuchungen durch linguistische über Gebühr zu zertheilen“ (Diefenbach 1839: 3). Diese Sorge löste er dadurch auf, dass er das Werk in eine sprachzentrierte und eine historisch-genealogische Studie teilte (vgl. Diefenbach 1839: 3-5). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 285 Interessant ist allerdings, dass Diefenbach dieses Vermögen für die romanischen Sprachen von vornherein abschwächt: Ich schliesse diese Einleitung mit der Bemerkung, dass wir in Schlüssen von der Sprache auf den Charakter der Völker und von diesem auf die Bildung der Sprache sehr vorsichtig sein sollen. Man dehne desswegen die Beziehungen meiner unten folgenden Bemerkungen zur Charakteristik der romanischen Sprachen nicht zu weit aus. (Diefenbach 1831: 3) Diese Abschwächung erfolgt möglicherweise aus der verbreiteten Ansicht heraus, die romanischen Sprachen seien korrumpierte Formen des Lateins, da sie zum einen nicht aus dem klassischen Latein, sondern aus dem Vulgärlatein, also der „Umgangssprache“ entstanden, zum anderen durch die zahlreichen Sub- und Superstrateinflüsse verwässert und verdorben seien. Dadurch schmälerte sich der Wert der romanischen Sprachen für Bildung, Kultur und Nation und Diefenbach unternimmt in seiner Studie nicht den Versuch, mit diesem Vorurteil aufzuräumen. Im Gegensatz zu August Fuchs, der nur wenige Jahre später den Versuch unternehmen wird, den Bildungswert der romanischen Sprachen aufzuwerten, folgt Diefenbach der in den Anfangsjahrzehnten des 19. Jahrhunderts üblichen Hierarchisierung der Sprachen und stellt das Primat des Lateinischen nicht in Frage. An Stelle einer Legitimation des Gegenstandes findet sich bei Diefenbach eine Legitimation der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die, so Diefenbach, das Individuum auf dreifache Weise bilden könne: Dem Verstande bietet jenes Studium logisches Interesse — Sprache ist Ausdrukk des Denkens und wird durch dasselbe gebildet, so wie sie wieder mit Nothwendigkeit auf es einwirkt; die Etymologie zeigt namentlich, wie sich die Begriffe im Anfange bei diesem oder jenem Volke bildeten; die Satzbildung, wie sich im Zusammen-Leben und -Reden diese Begriffe bei verschiedenen Völkern auf verschiedene Weise an einander ordneten. — Dem Gefühle bietet es ästhetisches Interesse im Klange und Sinne der Wörter und der ganzen Rede; der empirischen Forschung überhaupt noch vielseitigere Berührungen. Dem Geschichtsforscher zeigt es den Weg in unbekannten Räumen der Vergangenheit, besonders das vergleichende Sprachstudium; wie denn alles Vorgenannte doppelt von Letzterem gilt. Und wenn er sich dadurch bisweilen in Hypothesen verliert — abusus non tollit usum.— Das allgemeine anthropologische Interesse vor Allem findet hier seine Anknüpfungspunkte. Grundcharakter der Menschen, der Völker, offenbaret sich in allen Theilen ihrer Sprache: […]. (Diefenbach 1831: 1; Hervorhebungen wie im Original) Deutlich wird in Diefenbachs Argumentation für die historisch-vergleichende Sprachforschung die Verankerung in der Geschichtlichkeit des Menschen. Sprachforschung kann in mehreren Dimensionen zur Aufklärung der Menschheitsgeschichte beitragen. Diese Zielsetzung scheint aus Die Diskursformationen der Neuphilologien 286 dem Wolfschen beziehungsweise Boeckhschen Philologieprojekt entlehnt zu sein, Gefühl und Empirie bilden hier noch eine Einheit. Erstaunlich ist, dass Diefenbach den Begriff der Nation außer Acht lässt und sich in einem Programm der vergleichenden Anthropologie verortet. In seiner Vorstellung ist es das Ziel der Sprachforschung, der Verwandtschaft aller Sprachen und somit der Menschheitsgeschichte nachzuspüren, was wiederum auf die von Storost 2008 hervorgehobene Kontinuitätslinie zum Werk Adelungs verweist. 171 Im Werk Diefenbachs laufen unterschiedliche Sprachtheorien zusammen, teilweise noch der Tradition der mithridatischen Sprachforschung verhaftet, zeigt sich Diefenbach aber bereits durchaus von der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft als einer modernen Wissenschaft, wie sie sich in den Grammatiken von Bopp oder Grimm präsentiert, beeinflusst. So diskutiert Diefenbach zwar nicht über die vergleichende Methode, stellt sie aber von Anfang an als die richtige Methode der Sprachforschung dar (Diefenbach 1831: 2). In Diefenbachs Untersuchung trifft ein Wissensdiskurs, der aufgrund seines Bezugs zur Tradition einer auf nicht linguistischen Kriterien beruhenden Katalogisierung der Sprachen im Vergleich zu den Grammatiken Bopps, Grimms und später auch Diez’ als vorwissenschaftlich zu definieren wäre, auf einen Wissensdiskurs, der schon mit Elementen des Wissensdiskurses der modernen Sprachwissenschaft angereichert und dabei ist, sich über die Auseinandersetzung mit Professionalisierung, Methode und Spezialisierung zu zentrieren. So schichtet sich in den Schriftsprachen noch Vorwissenschaftliches und Modern-Wissenschaftliches übereinander: Diefenbachs programmatische Äußerungen spiegeln auf diese Weise den Übergang theoretischer Traditionen, wie eben die mithridatische Sprachforschung, in (Neu)Ansätze seiner Zeit, wie sie von Bopp und Grimm vertreten werden (Trabant 2006: 239). Gleichzeitig zeigt sich in den Schriftsprachen auch, dass diese Übergänge nicht nahtlos ineinander übergehen, sondern dass es sich dabei um brüchige, teilweise schiefe Konstruktionen handelt. Ein Beispiel hierfür liefert Diefenbachs methodische Überzeugung: Trotzdem er sich in den Schriftsprachen klar für die komparatistische Methode ausspricht, deren Wahl er recht knapp und zudem philologisch begründet, kann er sich nicht zur Gänze von der Methode der spekulativen Philosophie - hier verortet über die Bildbereiche des mystischen Dunkels und des Gefühls, über das sich 171 Über den Mithridates wollte Adelung einen Beitrag zur Kultur- und Völkerkunde der Menschheit leisten, wie er im Vorwort ankündigt: „Der Mithridates liegt beendigt vor den Freunden der Menschen- und Völkerkunde aller Nationen, denen er zugänglich ist. Mögen sie alle wirken zur Vollendung eines Werkes, welches die ganze Menschheit angeht. Vor ihnen liegt, was die Kunde der Sprachen umfaßt, und was sie noch nicht erfaßte — interessante, mit Eifer für die Geschichte des menschlichen Geistes, mit theilnehmender Beobachtung seiner Erzeugnisse gesammelte Bruchstücke […].“ (Adelung 1817: III) Zur Tradition und sprachphilosophischen Bedeutung von Adelungs Mithridates vgl. Trabant 2003: 236-239. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 287 dieses Dunkel aufhellen könne etc. - lösen, was einen weiteren Hinweis auf die unterschiedlichen sprachtheoretischen Strömungen in seinem Werk gibt. So lässt Diefenbachs Konzeption des vergleichenden Sprachstudiums in methodischer Hinsicht auch Parallelen zum Sprachdenken Wilhelm von Humboldts erkennen, da er ein philosophisches Element in der Sprachanalyse als Komplement zur Empirie für absolut notwendig erachtet und diesem bei der Erforschung eine wichtige Rolle zuweist. Dieses sprachphilosophische Programm, das Gefühl, Anschauung, empirische Untersuchung und Erkenntnis zusammenbündelt, taucht in dieser Form in den Schriftsprachen allerdings noch nicht auf. Diefenbach legt es einige Jahre später in seiner Abhandlung Über Leben, Geschichte und Sprache vor, in dem er die Zusammenhänge dieses Komplexes (Leben, Geschichte, Sprache) erläutert: Oft wird auch selbst von kritischen Forschern durch das Princip, Alles erklären zu wollen, gefehlt, die lächerlichsten Trivialitäten bei Alten und Neuen ungerechnet. Auch wollen wir in dem ja bei allem wissenschaftlichen Streben nöthigen Aufwande von Kraft und unwiederbringlichem Leben keine Sünde finden. „Des Lebens goldner Baum“ erwächst ja nicht bloß auf praktisch irdischem Boden, und besonders die Erforschung der Sprachen als Zweckes ist mit dem mannigfaltigsten Leben verknüpft und davon durchwachsen. (Diefenbach 1835: 30) Nachdem Geschichte, Fortschritt und Sprache als Spiegelmöglichkeiten der Menschheitsentwicklung dargestellt wurden, übt Diefenbach Kritik an Kant und dessen rationalem Sprachbegriff wie auch dessen Vorstellung der apriorischen Erkenntnis: Sehr ehrenwerthe Philosophen fehlen darinn, daß sie die Sprache gleichsam apriorisch begründen wollen. Historische Sprachkunde — die nämlich die ganzen Sprachen, wie deren einzelne Theile nach ihrer Entwickelung in der Zeit betrachtet und von der die vergleichende nur ein integrirender Theil ist — muß, wie schon der Name zeigt, empirisch begründet werden. Allerdings sind die Gesetze der Sprache aus Naturnothwendigkeit erwachsen; aber vorher konnte sie nur Der construiren, der die Natur ihres Terrains, d.h. der Menschheit, so wie alle die Umstände, welche auf ihre Entwickelung wirken mußten im Gange der Zeit, mit Allwissenheit durchdränge — derselbe Fall wie bei der Geschichte. (Diefenbach 1835: 30) Im letzten Teil des Textausschnittes wird noch einmal deutlich, dass in Diefenbachs Konzeption das Gefühl und damit die Spekulation als Vorstellung eines idealen Wissens Grundlage der Sprachforschung sind - sie führen allerdings erst durch das Hinzuziehen einer empirischen Methode zur Erkenntnis: Indessen ist es unmöglich, jenes Gesetz des empirischen Verfahrens in aller Schärfe durchzuführen. Das Gegebene, aus dem wir schließen sollten, muß- Die Diskursformationen der Neuphilologien 288 te erst voraus zusammengestellt, dabei auf mathematische Gewißheit verzichtet und, bei der ersten Zusammenstellung wenigstens, nur dem Sprachgefühle gefolgt werden. Ahnung legte den Grund zur künftigen Abstraction der Lautverschiebungsgesetze und anderer — es ist der natürliche Gang der geistigen Thätigkeiten; der Mensch, Kind wie Greis, faßt das Angeschaute erst im Gefühle, dann mit der Erkenntniß auf. (Diefenbach 1835: 30) Sprachforschung kann, nach Diefenbach, zwar nur empirisch-philosophisch sein, Sprache selbst aber ist kein objektiv messbarer Forschungsgegenstand und so kann das Ziel der Sprachforschung stets nur menschliche Erkenntnis über das eigene Werden und nicht Selbstzweck sein. Hatte sich Franz Bopp durch seine linguistischen Studien von diesem Ansatz, der aus dem Umfeld der Vergleichenden Anthropologie Wilhelm von Humboldts stammt, immer mehr entfernt, so ist Lorenz Diefenbach diesem immer noch verhaftet. Sein anthropologisches Projekt der Sprachforschung spannt sich nach wie vor um die Axiome ,spekulative Philosophie‘ und ,Empathie‘ - allerdings ist letztere bereits strenger Empirie unterworfen. Den Mittelpunkt bildet nach wie vor der Mensch, der ja auch von den Ergebnissen der Sprachforschung profitieren soll. Verstehen und Erkenntnis sind somit fassbar als Partizipationsangebote an die Gesellschaft, Diefenbachs universelle Konzeption von Sprachforschung rückt somit in die Nähe von Humboldts Sprachdenken sowie der Boeckhschen Philologie. 172 Die Schriftsprachen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als ein ambiges Werk: Das Fehlen einer Methodendiskussion, einer Ordnung des Materials nach (modernen) linguistischen Kriterien sowie einer stringenten 172 Dafür spricht auch die Legitimation für die „neue“ Art der Philologie, die Diefenbach gleich an den Beginn der Schriftsprachen stellt. Philologie ist für Diefenbach bereits eine systematische Wissenschaft und kein bloßes Handwerk mehr (Diefenbach 1831: 1). Dies führt er nicht weiter aus, sondern setzt dies als Fakt. Ausführlicher begründet er jedoch die „neue“ Art der Sprachforschung in Leben, Geschichte und Sprache: Richtig betrieben werden Philologie und Sprachforschung vor dem Hintergrund der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft. Sprachforscher, die Sprache nach wie vor utilitaristisch betrachten, werden von Diefenbach unter einem negativ konnotierten Begriff von Philologen subsumiert, der auf die Ära der Philologie vor Wolf verweist. Hier zeigt sich Diefenbach in den von ihm vorgenommenen Differenzierungen inkohärent und nicht scharf genug. In seiner Argumentation für die historisch-komparative Methode wird die Zäsur, die die Entstehung dieser Disziplin für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache bedeutete, offensichtlich: „Wir kommen endlich auf die Sprache. Indem wir ihre Wichtigkeit für die Geschichtsforschung anerkennen, meinen wir nicht sowol den Gebrauch derselben als Mittel, in schriftliche Quellen unmittelbarer und tiefer einzutringen, sondern das Studium derselben als Zweckes. Und nicht bloß für den Geschichtsforscher, den Logiker und Anthropologen bietet sich in dieser erst in neuerer Zeit gebührend gewürdigten Art von Sprachstudium reiche Ausbeute dar; sondern selbst der die Sprache nur als Mittel betrachtende Philologe bedarf des andern Gesichtspunktes wenigstens temporär, um seines Gegenstandes Meister zu werden; […].“ (Diefenbach 1835: 29) Romanische Philologie als Fachwissenschaft 289 sprachphilosophischen Begründung datieren die Arbeit in die vorwissenschaftliche Ära. Dennoch finden sich Bemühungen um die Implementation einer wissenschaftlich-objektiven Methode. So bleiben die Schriftsprachen letztlich ein erster Versuch im deutschsprachigen Raum, die romanischen Sprachen vor einem neuphilologisch-(sprach)wissenschaftlichen Hintergrund, der sich an Grimm, Bopp, Humboldt und Boeckh orientiert, zu analysieren. 5.4.1.3 Die ersten neuphilologischen Zeitschriften als Spiegel der konzeptuellen Entwicklungen des Philologiebegriffs Wie jede wissenschaftliche Disziplin benötigt auch die Romanische Philologie Kommunikationsplattformen, mittels derer die Forscher untereinander in Kontakt treten, Netzwerke bilden und ihre Forschungsergebnisse darstellen können. Aus diesen öffentlichen Plattformen sollen die ersten Fachzeitschriften herausgriffen werden, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurden, um exemplarisch zu umreißen, inwiefern diese einen wichtigen Beitrag zur Formation und Ausdifferenzierung des neuphilologischen Diskurses leisteten. 173 Wirft man einen ersten Blick auf die Zeitschriftenlandschaft in Deutschland, wie sie sich im Zeitraum von 1830 bis 1900 präsentiert, lassen sich bereits einige grobe Tendenzen hinsichtlich der Entwicklungslinien erkennen: 174 173 Dieses Phänomen ist noch sehr wenig untersucht. Eine der wenigen Untersuchungen liegt vor in Fettweis-Gatzweiler 1994, die das Archivio glottologico italiano und die Zeitschrift für romanische Philologie anhand ihrer thematischen Schwerpunkte miteinander vergleicht. Problematisch hierbei ist, dass keine Auswahlkriterien für die einzelnen Beiträge genannt werden und auch kein zeitlicher Rahmen gesteckt wird, so dass das Ergebnis des Vergleichs wenig aussagekräftig im Hinblick auf den Verlauf der Wissenschaftsgeschichte erscheint. Vgl. auch zur Rolle der Fachzeitschriften bei der Herausbildung einer Wissenschaft ‚Romanistik‘ Schrott 2003. 174 Sinnvoll scheint dabei ein Abgleich mit der Entstehung germanistischer Zeitschriften zu sein, um die Entwicklungslinien deutlicher herauszuarbeiten. Die Anglistik wurde dabei vernachlässigt, da die beiden Fächer im kritischen Zeitraum der Jahrhundertmitte meist im Verbund auftraten und für das letzte Drittel nur die Entwicklung der Romanischen Philologie als Einzelwissenschaft im Fokus des Interesses stand. Zusammengestellt wurde die Tabelle nach Kirchner 1977; Storost 1990; 2001. Einen Überblick über romanistische und anglistische Fachzeitschriften bietet ferner Kalkhoff 2010: 260, eine inhaltliche Auswertung der romanistischen Fachzeitschriften Schrott 2003. Die Diskursformationen der Neuphilologien 290 Germania. [Friedrich Heinrich von der Hagen; 1836-1853; Bd. 1-10] Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. [Ludwig Herrig/ Heinrich Viehoff; 1846ff] Zeitschrift für deutsches Altertum. [Moritz Haupt; 1841ff.] Jahrbuch für romanische und englische Literatur. [Adolf Ebert; 1859-76; Bd.1- 15] ab 1864 unter dem Titel Jahrbuch für romanische und englische Sprache und Literatur. Archiv für den Unterricht im Deutschen in Gymnasien, Realschulen, und anderen höheren Lehranstalten. [Heinrich Viehoff; 1843-44; Jg. 1. 2.] Romanische Studien. [E. Boehmer; 1871-1895; Bd. 1-6] Die deutschen Mundarten. [G.K. Frommann; 1854-59. 1877. Jg.1-6, Jg.1] Zeitschrift für romanische Philologie. [G. Gröber; 1877ff.] Germania. Vierteljahrsschrift für deutsche Alterthumskunde. [F.Pfeiffer; 1856-92; Jg. 1-25] Zeitschrift für (neu)französische Sprache und Literatur. [G. Körting/ E. Koschwitz; 1879ff.] Zeitschrift für deutsche Philologie. [E. Höpfner/ J.Zacher u.a.; 1868ff.] Französische Studien. [G. Körting/ E. Koschwitz; 1881-1897; Bd. 1-7 Archiv für Litteraturgeschichte. [R. Gosche; 1869-87, Bd. 1-15] Gallia. Kritische Monatsschrift für Sprache und Literatur. [A. Kressner; 1882, Bd.1. 2.] Alemannia. Zeitschrift für Sprache, Litteratur und Volkskunde des Elsasses und Oberrheins. [A. Birlinger; 1873- 1890, 1892-1917; Bd. 1-44] Bibliographischer Anzeiger für romanische Sprachen und Literaturen. [1883, Bd.1-2] (fortgesetzt von 1885-89 unter dem Titel Revista bibliografia delle lingue e letteratura romana, dann unter Bibliographisch-kritischer Anzeiger für romanische Sprachen und Literaturen; 1889ff.) Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache.[H. Paul/ W. Braune; 1874ff.] Romanische Forschungen. [K. Vollmöller; 1883ff.] 175 Jahrbuch für niederdeutsche Sprachforschung. [H. Fischer; 1875-1904; Bd. 1- 30. Münchener Beiträge zur romanischen und englischen Philologie [H. Breymann; 1890-1912; H. 1-54] Jahresberichte des philologischen Vereins zu Berlin. [1875-77; Jg.1-3] Berliner Beiträge zur germanischen und romanischen Philologie. [E. Ebering; 1893-1917; Bd. 1-13] (Germanische Abt. ab 1919ff: Germanische Studien; romanische Abt. seit 1903 in Romanischen Studien aufgegangen.) 175 Vgl. zur Geschichte der Romanischen Forschungen z.B. Fuchs 1988. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 291 Zeitschrift für deutsche Sprache. [D. Sanders; 1887-1897; Jg. 1-10] Jahrbuch der französischen Literatur. [M.Mayr; 1895; Jg.1 ] Zeitschrift für deutsche Wortforschung. [F. Kluge; 1900/ 01-1914; Bd. 1-15] Anzeiger für neuere Sprachen und Litteraturen. [J.H. Ehlers; 1896-97; Nr. 1-6 ] Neuphilologische Mitteilungen. [1899ff] Germanisch-Romanische Monatsschrift. [H. Schroeder/ F.R. Schroeder, 1909ff.] Diese Übersicht lässt bereits einige Tendenzen erkennen. Zum einen kristallisieren sich bestimmte Traditionsstränge heraus. 176 Die Auffächerung in einzelne Fachgebiete und eine damit verbundene Spezialisierung sind vor allem ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts erkennbar, so zum Beispiel die Entwicklung vom gesamt-neuphilologischen Ansatz, im Archiv vertreten, zum gesamtromanischen Ansatz, wie er in der ZrPh zu finden ist, bis hin zum einzelsprachlichen Ansatz in der ZfSL. Auch sind die Zeitschriften stark an die Bedürfnisse ihrer Zeit sowie die Bedingungen des Gründungskontextes gebunden. So sind die Prämissen bei der Gründung des Archivs völlig anders gelagert als bei der Gründung der ZrPh: Kann letztere sich bereits auf eine gesicherte methodische wie inhaltliche Legitimation des Gegenstands ,Neuphilologien‘ in seinem Eigenwert stützen, muss das Archiv seinen Legitimationsweg in erster Linie noch über die Bindung an die pädagogische Relevanz des Fachgegenstandes gehen. Zum anderen sind erste Rückschlüsse auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Disziplin möglich. So finden sich in den Jahren von 1846 bis 1877 nur drei Gründungen wissenschaftlicher Zeitschriften und noch 1872 schreibt Eduard Böhmer anlässlich des Erscheinens des ersten Heftes der Romania, recueil trimestriel, consacré à l’étude des langues et des littératures romanes: Dass Lemckes Jahrbuch oder das Archiv unter der Konkurrenz leiden sollten, ist an sich nicht zu besorgen; der Stoff ist zu reich, und die Nachfrage dürfte wachsen; aber eine Vertheilung der Arbeit würde vielfach förderlich sein, wenn eine engere Vereinigung nicht thunlich ist. (Böhmer 1872: 302) Ab den späten siebziger Jahren erfolgt dann allerdings ein wahrer Boom an Zeitschriftengründungen, der sozusagen die Blüte der Romanischen Philologie zu dieser Zeit spiegelt (vgl. Storost 2001; Schrott 2003). 177 176 Zusätzlich wurden die Jahrgänge einzelner Fachzeitschriften (Archiv, Jahrbuch, ZrPh, ZfSl) anhand ihrer Autorenschaft, Inhalt, Anbindung an pädagogische Fragen untersucht. 177 Vereinzelt wird dieser „Boom“ mit der Sorge betrachtet, dass eine Ausdifferenzierung der Zeitschriftenlandschaft auch einer allzu großen Zersplitterung des Faches Bahn brechen könne. So hält Gustav Gröber die Gründung der Romanischen Studien für ein gänzlich unnötiges Vorhaben. Bei diesem Projekt handle es „sich daher lediglich um eine Vermehrung der Organe für die romanische Philologie, wobei die Frage nach der Zweckmäßigkeit und dem Bedürfnis zu beantworten dem Publikum an- Die Diskursformationen der Neuphilologien 292 Einige dieser Zeitschriften, die maßgeblich an der Etablierung des neuphilologischen Diskurses respektive der Romanischen Philologie beteiligt waren, und ihre jeweiligen Programme sollen im Folgenden knapp skizziert werden. - Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Das Archiv 178 wurde 1846 von den beiden Schulmännern Ludwig Herrig und Heinrich Viehoff gegründet und gilt als ältestes Periodikum in diesem Fachbereich weltweit. Im Vorwort wird dem Archiv eine zweifache Bestimmung zugrunde gelegt: Die Aufgabe einer solchen Zeitschrift wird aber eine zweifache sein müssen. Einerseits wird sie die Wissenschaft (wenn man ein so kompliziertes Ganze, wie die Philologie und jeder ihrer Zweige ist, so nennen darf) und andererseits die Schule in’s Auge zu fassen haben. Jene wird sie nicht ausschließen dürfen, auch wenn sie sich rein als pädagogisch-didaktische Zeitschrift betrachtet. Denn, wenn es einer Disciplin noch in dem Grade an wissenschaftlicher Durchbildung mangelt, wenn noch so große Strecken in ihrem Gebiete der ersten Urbarmachung harren, wie dies bei der modernen Philologie der Fall ist: so kann die Schule noch unmöglich den rechten, vollen Gewinn für die Bildung der Jugend aus ihr ziehen. (Herrig/ Viehoff 1846: 2) Damit ist das Programm der Zeitschrift bereits festgelegt. Deutlich wird dabei, dass die Herausgeber ihr Vorhaben an sich und den Wert des Gegenstandes legitimieren müssen. Der Begriff der Modernen Philologie bedarf der Definition - noch ist es nicht selbstverständlich, sie als ,Wissenschaft‘ zu bezeichnen. Diese wird aber nicht von den Herausgebern geliefert, stattdessen beziehen sie sich auf Karl Mager - und machen damit heim gegeben wird. Da nun bei dem weiten Rahmen der Rom. Zeitschrift und der Romanischen Studien und bei der großen Zahl der anderen in Deutschland erscheinenden Fachzeitschriften keiner der im 1. Heft der R.F. enthaltenen und für die nächsten Hefte in Aussicht stehenden Artikel in dieselben sich nicht einfügen und - wie ich in der Lage bin behaupten zu dürfen - keiner darin ununterbringbar sein würde, so ist die Bedürfnisfrage zu verneinen, ebenso wie das Vorhandensein eines durchdachten Programmes, einer sachgemäßen Verbindung von Disciplinen und nicht minder die Zweckdienlichkeit. Man sollte doch endlich mit Gründungen dieser Art aufhören. Die Konkurrenz kann hier nicht fördern, sondern nur zur Zersplitterung der zur Forschung berufenen Kräfte führen und Unbefugten Gelegenheit bieten unreife Leistungen auf den Markt zu bringen, wovon eine notwendige Folge ist, daß kein deutsches Organ für romanische Philologie sich auf die Höhe erhebt und das Ansehen unserer Wissenschaft in Deutschland und auswärts herabgedrückt wird.“ (Gröber 1882: 492) 178 Vgl. zur Entwicklung des Archivs Horn/ Rohlfs 1948; Stempel 1964; Kolb 1988; Meves 1998. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 293 gleich zu Beginn klar, in welches Fahrwasser sie sich mit ihrem Projekt begeben: Wir sehen den Begriff der modernen Philologie nach dem, was Mager, der rüstige Vorkämpfer moderner Schulbildung, darüber gesagt hat, als vollkommen festgestellt an und betrachten es ferner als erwiesen, dass das Studium der neuern Culturvölker, wenn es auf die rechte Weise betrieben wird wahres Humanitätsstudium ist, dass in ihm eine reiche Quelle ächt menschlicher Bildung fließt. (Herrig/ Viehoff 1846: 1) Die Übernahme des Philologiebegriffs nach Mager verdeutlicht, dass vor allem seine Schrift „Die moderne Philologie und die deutschen Schulen“ als eine Art Basistext des Archiv betrachtet und er von den Herausgebern als anerkannte Autorität herangezogen wird. Die zugrunde gelegte Magersche Philologiekonzeption sowie die Schlagwörter ‚wahres Humanitätsstudium, ächt menschliche Bildung’ lassen das Gedankengut des romantischen Idealismus erkennen, das das Zeitschriftenprojekt begleitet. Vorgespiegelt wird auch, dass der Begriff der Philologie, so wie er in der Definition von Mager vorliegt, anerkannt sei. Die Realität sieht allerdings etwas anders aus, die Moderne Philologie steht 1846 noch weiterhin in starkem Konkurrenzdruck zur Altphilologie, die als voll etablierte Wissenschaft bereits über einige Publikationsorgane verfügt, und so stellen Herrig/ Viehoff pragmatisch fest, […] es dürfte nun endlich an der Zeit sein, auch für die moderne Philologie wenigstens Ein ähnliches Organ in’s Leben zu rufen, das der sonst so leicht sich zersplitternden Thätigkeit der Einzelnen, der Lehrer an Gymnasien, wie an Realschulen, zum Vereinigungs- und Anhaltspunkte dienen könnte. (Herrig/ Viehoff 1846: 2) Ihr Anliegen ist es, die Disziplingenese der Neuphilologie als Wissenschaft voranzutreiben, um eine wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer und damit einen kompetenten Unterricht für die Jugend zu sichern: Denn, wenn es einer Disciplin noch in dem Grade an wissenschaftlicher Durchbildung mangelt, wenn noch so große Strecken in ihrem Gebiete der ersten Urbarmachung harren, wie dies bei der modernen Philologie der Fall ist: so kann die Schule noch unmöglich den rechten, vollen Gewinn für die Bildung der Jugend aus ihr ziehen. (Herrig/ Viehoff 1846: 2) Das Archiv soll also eine Brücke zwischen universitärer Theorie und Schulbildung schlagen, wobei das Hauptaugenmerk der Herausgeber mehr auf schulische Belange gerichtet ist. Es findet sich hier also eine enge Verzahnung von Forschung und Lehre, beide Bereiche bedingen sich gegenseitig, die Wissenschaft bedarf des Nachwuchses, die Schule ausgebildeter Lehrkräfte. Dabei stellt sich die Frage, ob das Archiv überhaupt den wissenschaftlichen Publikationsorganen zugeordnet werden kann. Storost 2001: Die Diskursformationen der Neuphilologien 294 1259 und auch Kalkhoff 2010: 260 zählen das Archiv beispielsweise zu den Schulzeitschriften. Dafür spräche, dass die Abhandlungen vorrangig schulisch relevante Themen behandeln und sich auch die Autorschaft vornehmlich aus Schulmännern rekrutiert. 179 Im Rezensionsteil finden sich vor allem Rezensionen zu pädagogisch-didaktischen Werken und auch die Programmenschauen der Schulen haben eine wichtige Stellung inne, was sich erst bei der Übernahme der Herausgeberschaft durch Julius Zupitza 1889 ändern wird. Zugunsten einer Zuordnung zu den wissenschaftlichen Fachzeitschriften spricht die Tatsache, dass aber auch Universitätsgelehrte im Archiv veröffentlicht haben, wie zum Beispiel Bartsch, Delius, von Keller, Andresen, Birlinger, Sachs, Tobler oder Carolina Michaelis de Vasconcelos. Auch die Zahl der Rezensionen zu wissenschaftlichen Werken, wie beispielsweise von Mussafia oder Breymann oder zu Dissertationen steigt mit den Jahren immer mehr an. Ebenfalls ist der Anteil an Abhandlungen, die sich rein schulischen Belangen widmen, nicht sehr hoch: Bis zur Übernahme durch Zupitza beläuft sich die Zahl der rein pädagogisch-didaktischen Beiträge auf zwölf. 180 Weiterhin wurde das Archiv im Ausland rezipiert, es findet sich im Zeitschriftenrezensionsteil der Romania. Somit nimmt das Archiv wirklich eine Sonderstellung aufgrund seiner doppelten Konzeption ein, wobei der Brückenschlag zwischen Universität und Schule aber nicht vollständig gelingt, sondern Schwankungen unterworfen ist, für die zum einen der Druck der Konkurrenzunternehmen sowie zum anderen aber auch der jeweilige Herausgeber mit seiner Fokussierung auf entweder eine stärkere Bevorzugung pädagogischer oder eben fachwissenschaftlicher Inhalte verantwortlich zeichnen. - Jahrbuch für romanische und englische Literatur Mit dem Jahrbuch für romanische und englische Literatur wird 1859 dann ein rein wissenschaftlich konzipiertes Fachorgan gegründet. Sein Herausgeber Adolf Ebert beklagt bereits 1858 den Mangel eines wissenschaftlichen Publikationsorgans für die Philologie der neueren Sprachen, „da das Archiv für neuere Sprachen im allgemeinen doch auf einem gar niederen Standpunkte steht“ (Ebert 1859, zit. nach Fränkel 1904: 233/ 234). So erscheint 1859 das erste Heft, „dont l’apparition fait date dans l’histoire de la philogie romane“ wie Theodor Ryussen es beschreibt (zit. nach Fränkel 1904: 234). Auch Gustav Gröber unterstreicht in seinem Grundriss die außerordentliche Bedeutung des Jahrbuchs und schreibt diesem zu, auf essentielle Weise zur Konsolidierung und Internationalisierung der deutschen Konzeption der Romanischen Philologie beigetragen zu haben: 179 Gesichtet wurden für das Archiv die Bände von 1846-1898. 180 Gewertet wurden die Beiträge, die dezidiert nur auf schulische Inhalte ausgerichtet waren, alle Beiträge, die sich sprachlichen Fragestellungen widmeten, wurden bei der Zählung ausgeschlossen. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 295 Eine entscheidende Wende tritt hierin 1859 ein. Die romanischen Länder wurden seit 1859 allmählich für den deutschen Gedanken einer romanischen Philologie gewonnen. Die Wendung knüpfte sich an das von A. Ebert seit 1853 vorbereitete und 1859 von ihm mit F. Wolf, später von L. Lemcke (bis 1876) herausgegebene Jahrbuch für rom. und engl. Sprache und Literatur, durch das die kritisch Forschenden im In- und Auslande eine Verständigung über die geschichtliche Bearbeitung der romanischen Litteraturen und über die zu ihrem Dienst aufgerufene romanische Philologie herbeigeführt und Forscher gesammelt werden sollten […]. (Gröber ²1904-06: 119) Mitarbeiter am ersten Band waren beispielsweise Adolf Tobler, Ferdinand Wolf oder Karl Bartsch. Leider fehlt dem Jahrbuch ein programmatisches Vorwort, so dass die Bände in ihrer Konzeption (Autoren und Inhalt) sowie in der Rezeption durch die Zeitgenossen (vgl. Gustav Gröber) für sich sprechen müssen. Ab 1864 gibt Ludwig Lemcke das Jahrbuch heraus und unter seiner Herausgabe erfolgt eine Erweiterung des Gegenstandsbereichs, die sich in der Titeländerung in Jahrbuch für romanische Sprache und Literatur spiegelt: […] das Jahrbuch wird hinfort auch dem rein philologischen Theile seines Gebiets die Rücksicht zu Theil werden lassen, die der nunmehrige Stand der Wissenschaft erheischt. (Lemcke zit. nach Fränkel 1904: 235) Ab diesem Zeitpunkt werden sowohl ästhetische als auch rein philologische Arbeiten aufgenommen, zusätzlich wurde das Jahrbuch für Gelehrte des Auslands dahingehend geöffnet, dass sie nun in ihrer Muttersprache veröffentlichen konnten. Beiträger des Jahrbuchs waren unter anderem: Diez, Wolf, Bartsch, Delius, Boehmer, ten Brink, Gröber, Mussafia, Tobler, Paris, Meyer oder Manuel Mila y Fontanals. Die Beiträge bezogen sich vor allem auf altfranzösische und altenglische Fragen. Des Weiteren beinhaltete das Jahrbuch einen Rezensionsteil und eine Bibliographie. Es diente als Vorbild für die später erfolgende Gründung der Romania 1872 sowie der Zeitschrift für romanische Philologie 1877. - Zeitschrift für romanische Philologie Gustav Gröber 181 traf bei der Gründung seines Zeitschriftenprojekts 182 auf einen ganz anderen institutionellen und auch ideengeschichtlichen Hintergrund als seine Vorgänger. Die Moderne Philologie hatte sich mittlerweile innerhalb des Kanons der universitären Fächer etabliert und war als gleichrangige wissenschaftliche Disziplin neben der Altphilologie akzeptiert. Die Zeitschrift vertritt einen gesamtromanischen Ansatz und bereits im Vor- 181 Vgl. zu einer detaillierteren Analyse des wissenschaftlichen Profils und der Philologiekonzeption von Gustav Gröber Kapitel 5.4.4. 182 Vgl. zur Geschichte der ZrPh Baldinger 1977. Die Diskursformationen der Neuphilologien 296 wort steckt Gröber einen weiten thematischen Rahmen. Gleich zu Beginn des „Prospects“ umreißt Gröber die Situation der Romanischen Philologie: Unleugbar hat seit einer Reihe von Jahren die Forschung auf dem Gebiete der romanischen Philologie allerwärts einen bedeutenden Aufschwung genommen, ja sie darf, wie ihr Begründer an seinem Lebensabend noch constatieren zu können die Genugthuung hatte, sich rühmen, den andern Gebieten versagten oder nur in geringem Maße vergönnten Vorzug einer fast europäischen Betheiligung errungen zu haben. (Gröber 1877: IV) Die Romanische Philologie hat einen enormen Fortschritt gemacht, ein Anwachsen der Lehrstühle und Seminare ist zu verzeichnen, auch die Anzahl ausgebildeter Wissenschaftler und damit auch die Menge der wissenschaftlichen Leistungen - Gröber beschreibt die Romanische Philologie im deutschsprachigen Gebiet als eine international anerkannte Wissenschaft (Gröber 1877: IV). Deutlich ist auch die Hommage an Diez, der als Begründer der Romanistik eine anerkannte Autorität ist und somit bereits über die Funktion des Gründungsmythos das Zeitschriftenprojekt Gröbers legitimiert. In seinem „Prospect“ stellt Gröber, wie Herrig und Viehoff, die Verbindung zur Schule her, allerdings auf einer anderen Ebene: […] und wie in den romanischen Ländern das Gefühl erwacht, dass Kenntnis der ältern heimischen Sprache und Litteratur eine Angelegenheit nationaler Bildung sei, so ist in den ausserromanischen längst der Gedanke zur allgemeinen Überzeugung geworden, dass den Schulen das den Unterricht belebende, geistweckende Element wissenschaftlicher Einsicht in die von ihnen gelehrten romanischen Sprachen gemacht werden müsse. (Gröber 1877: IV) Gröber dreht also das Verhältnis um. Jetzt bedarf die Schule der Wissenschaft und nicht mehr umgekehrt. Dieser Aspekt wird besonders betont: Die Wissenschaft habe, so Gröber, nun nicht mehr direkt auf pädagogischdidaktische Fragen Einfluss zu nehmen, sondern ihre Aufgabe sei es vielmehr, die künftigen Lehrer methodisch zu schulen. Dementsprechend hat auch die ZrPh keine pädagogisch-didaktische Aufgabe, sie ist gedacht als ein Publikationsorgan, das rein als Kommunikator für wissenschaftliche Forschungsergebnisse und die in der Forschung erreichten Standards zu fungieren hat. Ein Lehrer könne sie in diesem Sinne als Instrument zur Weiterbildung nutzen, mehr könne sie aber für die Schule nicht leisten: Und wird bei der Vielfältigkeit der zu behandelnden Materien die Zeitschrift auch nicht wohl in der Lage sein, für eine directe Förderung der Interessen der romanische Sprache lehrenden Schulen einzutreten, so wird sie doch den Lehrer derselben über den Stand seiner Fachwissenschaft jederzeit vollständig unterrichten, seinen Bestrebungen von der Forschung dargebotne Resultate für den Unterricht zu verwerthen auf mancherlei Weise Romanische Philologie als Fachwissenschaft 297 Vorschub leisten und so auch für ihn ohne Zweifel von Werth sein. (Gröber 1877: VII) Gröber sieht sein Unternehmen einerseits als Nachfolge des Jahrbuchs, das im Vorjahr sein Erscheinen eingestellt hatte, andererseits auch als „eine Pflicht gegen den Verstorbenen [gemeint ist Friedrich Diez; J.W.] und als nothwendiges Mittel zur Förderung der jungen Disziplin.“ (Gröber 1877: V). Ausführlich stellt er dann Ziel, Anforderungen und Methodik der Zeitschrift dar: Diese müssen freilich als sehr vielseitige gedacht werden. Denn ist auch nicht zweifelhaft, dass sie nur durch Einzelforschungen die Einsicht in die Entwicklungsgeschichte der romanischen Sprachen und Literaturen fördern kann, so hat sie jedenfalls den Interessen vieler zu dienen und die Aufgabe die von ihr vertretene Disciplin nach allen ihren Richtungen hin zu cultivieren und jederzeit die Höhe und Weite wissenschaftlicher Erkenntnis in ihr darzustellen. Bei der beträchtlichen Ausdehnung des zu durchforschenden Gebietes, der grossen Zahl von Sprachen und Sprachnüancen und deren denkmalreichen Litteraturen kann die Aufgabe keine leichte erscheinen, und ausschliessen kann das neue Organ nur das Wenige, was in anderen eine speciellere Pflege erfährt. (Gröber 1877: V) Als zu bearbeitende Felder nennt Gröber beispielsweise Grammatik, Etymologie, Handschriftenkunde, Dialektologie, Textkritik, Exegese sowie Sprach- und Literaturgeschichte. Als Bereiche, die besonders berücksichtigt werden sollen, da sie bisher eher vernachlässigt oder noch gar nicht erschlossen worden seien, führt er historische Syntax, historische Lexikologie sowie eine Aufarbeitung des volksmässigen Wortschatzes an, damit dieser für das Kulturverständnis der Völker nutzbar gemacht werden könne (Gröber 1877: V/ VI). Ebenso fordert er eine intensivere Beschäftigung mit der Semantik, die bei Gröber noch rein unter dem Namen Onomasiologie geführt wird. Auch die junggrammatische Methode soll in der Zeitschrift berücksichtigt werden. Gröber zeigt sich überzeugt vom positivistischen Methodenansatz des noch jungen Forschungsprogramms, das ja erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden war. Als Schlagworte, die Gröbers Nähe zur junggrammatischen Denkweise belegen, fallen im „Prospect“ denn auch Forderungen nach einer Chronologie der Entwicklung der romanischen Laute, der Erforschung der Sukzession der Lautgesetze, der lautphysiologischen Erklärungen für Vokal- und Konsonantenwechsel sowie die Forderung eines vollständigen Nachweises der Kriterien für den gelehrten Ausdruck in den romanischen Sprachen und Dialekten (Gröber 1877: VI). Insgesamt fordert Gröber für den gesamten Forschungsbereich eine stringentere, logischere Argumentation, die sich auf Gesetzmäßigkeiten stützen könne. Auch klingt der Wunsch nach interdisziplinärer Zusammenarbeit an: Gröber will mit seiner Zeitschrift ebenso den Latinisten und allgemeinen Linguisten ein Forum bieten sowie germani- Die Diskursformationen der Neuphilologien 298 sche und klassisch-philologische Probleme miteinbeziehen. Besonders liegt Gröber der internationale Charakter der Zeitschrift und damit die Netzwerkbildung innerhalb der scientific community am Herzen, er betont, dass es sich bei diesem Organ um ein Sammelorgan für deutsche und ausländische Forscher handeln solle und die Beiträge auch in den bekanntesten romanischen Sprachen dargeboten werden sollen - dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Akzeptanz des Gegenstandbereichs innerhalb des wissenschaftlichen Kanons. - Zeitschrift für (neu)französische Sprache und Literatur Eine weitere Zeitschrift, in der die Verbindung Schule und Wissenschaft angesprochen wird, ist die Zeitschrift für (neu)französische Sprache und Literatur 183 , die 1878 durch Gustav Körting 184 und Eduard Koschwitz begründet wurde. Sie entstand zum Teil auf Druck von Seiten der Gymnasiallehrer, aber auch der Ministerialbeauftragten, um das wissenschaftliche Interesse auf die Erforschung des modernen Französisch zu lenken. Die Legitimation des Gegenstandes wurde nicht mehr in Frage gestellt, im Gegenteil, es ging vielmehr um die Ausweitung des Objektbereichs. Zusammen mit diesem Druck bildet der Streit um die Reform des Unterrichts der lebenden Sprachen den Hintergrund für die Gründung der ZfSL, die ihr Anliegen, sich speziell um das Neufranzösische zu kümmern bis Band 6 im Titel trägt. Auch die Sorge um schulische Belange klingt im Titel an, vollständig lautet dieser: Zeitschrift für neufranzösische Sprache und Literatur mit besonderer Berücksichtigung des Unterrichts im Französischen an den deutschen Schulen. Ab 1885 fällt dieser Verweis dann allerdings weg. Von Anfang an widmet sie sich der Diskussion um die Frage, ob unmittelbar praktische Zwecke, also schulische Interessen über ein möglichst tiefes Eindringen in die Sprache, also der rein wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache, zu stellen seien. Im „Prospect“ müssen die Herausgeber aber zunächst ihr Unternehmen, sich dem neufranzösischen Bereich zuzuwenden, rechtfertigen. Dies erfolgt unter der Berufung auf die Befürchtung, die Romanisten könnten sich allzu sehr an die Pflege einer toten Sprache gewöhnen, die Ergänzung sei also notwendig, um die gesellschaftliche Anbindung nicht zu verlieren und erst die Vereinigung beider Zweige bringe die französische Philologie zu vollem Glanz (Körting/ Koschwitz 1879: II). Im „Prospect“ zur ZfSL lässt sich die Tradition der Verzahnung von fachwissenschaftlichen und schuli- 183 Vgl. zur Entwicklung der ZfSL auch Blumenthal/ Hempfer 1988. 184 Vgl. zu einer detaillierteren Analyse des wissenschaftlichen Profils und der Philologiekonzeption von Gustav Körting Kapitel 5.2.2.2. Im Rahmen dieses Kapitel wird auch das Zeitschriftenprojekt der ZfSL angesprochen, allerdings unter einem anderen Blickwinkel. Wiederholungen machen in diesem Zusammenhang erneut deutlich, dass Argumentationsmuster in mehreren Wissensbereichen die Auseinandersetzungen um den Begriff der Philologie regelten und als übergreifende Phänomene in den Texten wirken. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 299 schen Belangen erkennen, wie sie bereits vom Archiv vertreten worden war, und so klingt eine Reminiszenz an Mager und sein Bildungsideal an: Ein tiefes und gründliches Verstehen und Kennenlernen der neufranzösischen Literatur erlaube auch ein tiefes Verstehen des Kulturvolkes (Körting/ Koschwitz 1879: III). Insgesamt fordern die Herausgeber einen Ausbau der historischen Poetik, Rhetorik und Stillehre. Als äußerst mangelhaft wird die Forschung auf dem Gebiet der neufranzösischen Sprache empfunden. Erneut findet sich ein Bezug zur junggrammatischen Methode und es wird gefordert, die physiologischen und psychologischen Bedingungen der lautlichen Veränderungen zu untersuchen sowie den Wandel grammatischer Strukturen, der Wortbildung oder Idiotismen und zwar in historischer Darstellung unter Herstellen von Kausalitäten. Nachdem die Aufgaben und Forschungsfelder klargestellt sind, wenden sich die Herausgeber dem Verhältnis zwischen Universitätsphilologie und Sprachlehre zu, einem Gegenstandsbereich, den sie gleichberechtigt mit der Fachwissenschaft in ihrem Zeitschriftenprojekt behandeln wollen: Mit dem wissenschaftlichen Ausbau der französischen Philologie stehen eine Reihe pädagogischer Fragen in innigem Zusammenhange. Es bedarf eingehender Erörterung, auf welche Weise diese junge Wissenschaft an den Hochschulen vertreten werden soll, ob man z.B. berechtigt ist, das Hauptgewicht an denselben ausschliesslich auf die ältere französische Sprache und Literatur zu legen, oder ob nicht die kritisch-exegetische Interpretation auch neufranzösischer bedeutender Schriftwerke, die Förderung und Anregung zu philologischen Untersuchungen auf dem Gebiete der neufranzösischen Grammatik und Syntax die gleiche Beachtung beanspruchen dürfen; ob es berechtigt ist, die neufranzösische Literatur entweder in dem Cyclus der Vorlesungen unberücksichtigt zu lassen, oder ihre Behandlung nationalfranzösischen Lectoren zu überweisen, deren Standpunkt natürlich den deutschen Studierenden nicht befriedigen kann und darf. (Körting/ Koschwitz 1882: VI) Problemfelder bilden den beiden Herausgebern zufolge die Vorbereitung auf das Studium, die Frage nach dem Status der lateinischen Sprache als Vorbildung und notwendige Voraussetzung für ein Studium der Romanischen Philologie sowie die Überlegung, inwieweit Schule und Universität voneinander profitieren können. Als Fazit ergibt sich bei diesem holzschnittartigen Überblick, dass sich innerhalb des Zeitschriftenpanoramas bereits recht frühzeitig zwei Traditionslinien erkennen lassen. Die eine ist der Vermittlung zwischen universitärem philologischen Diskurs und schulischen Belangen verhaftet, bei der beide Bereiche eng miteinander verzahnt sind und sich sozusagen gegenseitig bedingen. Hier wären das Archiv und später die ZfSL als Vertreter zu nennen. Ihnen stehen Zeitschriften gegenüber, die sich der rein wissenschaftlichen Seite der Romanischen Philologie verschrieben haben und die Die Diskursformationen der Neuphilologien 300 pädagogisch-didaktischen Belange ihres Fachbereichs eher abstoßen wollen, wie das Jahrbuch oder die ZrPh. Der Frage, ob diese Konzepte das begriffliche Feld der Romanischen Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts auch räumlich abbilden, sollen die nachfolgenden Analysen nachgehen. 5.4.2 Friedrich Diez (1794-1876) und die Synthese von hermeneutischer und empirischer Perspektive in der Romanischen Philologie Je m’occupe beaucoup de philologie en ce moment, et cette étude m’a naturellement ramené vers vous, d’autant plus que vos admirables livres m’ont été et me sont tous les jours du plus grand secours. (Gaston Paris in einem Brief vom 06.Oktober 1861 an Friedrich Diez, zit. nach Tobler 1905: 74/ 75) Gaston Paris’ Schreiben an Diez zeugt von dem großen Respekt, den dessen Werk, nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern auch im Ausland genoss. 185 Bereits zu Lebzeiten galt Diez nicht nur als Begründer der Romanischen Philologie, er avancierte zu einer Gallionsfigur der deutschen Romanisten und wurde zu einem Mythos stilisiert, der die Einheit und den Fortschritt des Faches ‚Romanische Philologie‘ symbolisierte. 186 Als „Columbus der neuern Sprachen“ (Sachs 1878: 10) oder als „Grammatiker von Gottes Gnaden“ (Behrens 1894: 17) wird Diez von seinen Zeitgenossen bezeichnet, er selbst zeichnete sich wohl eher durch Bescheidenheit, vor allem in Bezug auf seine Person und seine wissenschaftlichen Leistungen, aus (vgl. Curtius 1947: 401; Behrens 1894; Schöning 1993: 4). Es wäre eine wissenschaftsgeschichtliche Verkürzung der Tatsachen, reihte man sich an dieser Stelle unreflektiert in die Traditionslinie ein, die in Diez den Stifter einer fachlichen Einheit ‚Romanische Philologie‘ sehen will. Er selbst hat 185 So schrieb Henry Nicol 1876 im Nachruf auf Diez für die Academy eine zwar durchaus kritische Würdigung des Diezschen Lebenswerks, betonte dabei aber den Gründungscharakter der Diezschen Grammatik für die Wissenschaft ,Romanische Philologie’: „Though the Romanische Grammatik, whose first volume was published in 1836, can hardly share with its predecessor, the Deutsche Grammatik, and even the Vergleichende Grammatik, the distinction of having created linguistic science, it at least created the Romanic branch of it; all Romanic philologists are Diez’s pupils, and if some of them have outstripped their master, it is chiefly because his point of departure was chaos, theirs, the much improved edition of the work appeardes in 1856; and if it cannot be said of the third edition (1872) that it has kept pace with the discoveries of the intervening period, it is still the indispensable manual of Romanic students and the only compendium of NEO-Latin philology available to more general workers.” (Nicol 1876: 558) 186 Vgl. hierzu die glorifizierenden Nekrologe von Sachs 1878; Behrens 1894; Breymann 1894 sowie die aus kritischer historischer Distanz erfolgenden Erinnerungen Curtius‘ an die Zeit, die unmittelbar auf Diez’ Tod folgte (Curtius 1947). Vgl. zur Mythisierung Diezens auch Rettig 1976: 247/ 248. Ebenfalls kritisch zu einer einheitsstiftenden Gründerfigur Diez Hausmann 1966; 1998 sowie Nerlich 1996. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 301 diese Einheit nicht thematisiert, die Nachfolgegenerationen wollen diese Einheit jedoch im Werk Diezens und den mit ihm verbundenen Gründungsmythos präsentiert sehen, da dessen Arbeiten innerhalb beider Disziplinen, Sprach- und Literaturwissenschaft, anzusiedeln sind. Zusätzlich wird Diezens Person im Rahmen der Fachgeschichte gerne dazu vereinnahmt, die Vorstellung zu untermauern, die Romanische Philologie sei dem Geist der Hochromantik entsprungen (Stenzel 2004: 55). Hierzu gesellt sich zudem die, an ein christliches Erweckungserlebnis erinnernde, Schilderung des Zusammentreffens Diezens mit Goethe, bei dem der alte Meister dem jungen Forscher seine wahre Berufung vor Augen geführt haben soll. 187 Aus fachgeschichtlicher Perspektive scheint Friedrich Diez mehr als geeignet, um sowohl als Gründungsmythos der wissenschaftlichen Disziplin ,Romanische Philologie‘ als auch als Vaterfigur der nachfolgenden Forschergenerationen zu fungieren. Diez’ Leben, schenkt man den „Gedenkworten“ Ernst Robert Curtius Glauben, ist geprägt durch Resignation, Selbstzweifel und dem Bruch mit dem literarisch-romantischen Enthusiasmus, der seine Jugend ausgezeichnet zu haben scheint (Curtius 1947: 398/ 399). 188 Dieses Postulat eines Bruchs in Diez’ Leben und somit seinem wissenschaftlichen Werk, stellt eine durch Diez symbolisierte Einheit allerdings in Frage. Kritische Nach- 187 Die Szene wird in den Gründungsberichten der Romanischen Philologie durchaus mit mystischem Charakter aufgeladen: „Then came the legendary event, of which we are fortunate to have a rather detailed account [sic! ]: Like many confused young men of his restless generation, Diez one day knocked at the door in Weimar of the aging poet and polymath Goethe - Europe’s supreme master of the word and arbiter elegantiarum. After patiently listening to Diez’s probably incoherent confession of his woes and inadequacies, Goethe is reported to have exclaimed: ‘Young man, don’t waste your time and talent on such effusive confessions of incompetency! Wend your way to Paris where, at the Royal Library, you will find, carefully assembled, but not yet fully deciphered, manuscripts of giddying, beautiful medieval troubadour poetry, couched in that language dimly understandable, Old Provençal. Make those texts, properly sifted, readily available to qualified readers outside Paris. Expound their language! And don’t allow this chance of a lifetime to slip through your fingers’.” (Malkiel 1991: 5). Vgl. hierzu auch die Schilderung in Paris 1863: XIV-XV. Bähler sieht in dem bewusst mit religiösen Elementen versehenen Vokabular eine Anspielung auf die Berufungslegende des Hl. Augustinus, vor allem durch die Parallelisierung des Aufrufs „Tolle! Lege! “ Vgl. zu Diezens Berufungslegende v.a. Bähler [im Manuskript]. 188 Vgl. beispielsweise zu Diez’ Personifizierung mit romantischen Strömungen die Anspielungen auf Goethes Werther im Brief an Karl Ebenau vom 26. Mai 1819, in dem Diez Parallelen zu Goethes Hauptfigur zieht: „Was mich hier zunächst vertreibt, ist Mangel an Kraft zum akademischen Lehrer, die dem unseligen Leibesweh allmählich erliegen muss. Diess zuvörderst auszutreiben gilt es. Will es nicht weichen oder wird es schlimmer, so gehe ich in die schottischen Hochländer und stürze mich die Ossiansklippe herab, wie einen tauben Stein, dem die Organe zum wahren Leben fehlen. […] Ein Gedanke wollte mir das theuerste Kleinod des Lebens rauben: War ächte Freundschaft zwischen uns? “ (zit. nach Foerster 1894: 17) Die Diskursformationen der Neuphilologien 302 rufe insinuieren, Diez habe sich wohl mehr aus Verzweiflung der Wissenschaft zugewandt, da ihn seine poetisch-künstlerischen Ausflüge nicht befriedigen konnten - zumal ihm für das Künstlerleben wohl Zeit und finanzielle Mittel fehlten (Curtius 1947: 401). Als endgültiges Ende der literaturwissenschaftlichen Phase in Diez’ Leben will Curtius die Hinwendung Diezens zu sprachwissenschaftlichen Arbeiten verstehen. 189 Nahezu alle Studien weisen auf die zwei bzw. drei Phasen in Diezens Biographie hin. 190 Es scheint kaum umstritten, dass Diezens Hinwendung zur Sprachforschung mit einer eher linguistischen Ausprägung als Abkehr von einer Welt gesehen werden kann, in der die Beschäftigung mit dem Gegenstand ,Literaturen des Mittelalters‘ nationalpolitisches Engagement voraussetzt (Curtius 1947: 399; Gumbrecht 1984: 46; 55f.). In der ersten Phase seines Schaffens, in die Diezens Betätigung als Dichter und Übersetzer fallen, liege dieses Engagement noch vor (Curtius: Ebd.; Gumbrecht: Ebd.) - Diez sei hier noch kreativ schaffend gewesen, biographische Daten hätten dann aber den Bruch in seinem Lebenswerk bewirkt: Zu den Mittelalterstudien scheint sich - als ein zweites Kompensativ - dann bald auch der Alkohol 191 gesellt zu haben. Wenn man dazu berücksichtigt, daß die 1817 gegenüber Ebenau erwähnte ‚Zerüttung‘ der Vermögensverhältnisse in den darauf folgenden Jahren nicht mehr thematisiert wird, so oft Diez auch von seiner Familie spricht wird man ohne psychoanalytische Laien-Phantasie wohl behaupten können, daß die Wissenschaft für Diez ein Mittelweg der Sublimation und Identitätsgewinnung zwischen der Frustration ästhetischer Seelenbildung im ekstatischen Freundesverhältnis und den an der Restauration zerschellenden Träumen des Burschenschaftlers von der Wiedergeburt der deutschen Nation wurde. (Gumbrecht 1984: 55; Kursivierung wie im Original) 189 Vgl. zu diesen beiden Phasen in Diez‘ Leben Curtius 1947: 401; Wunderli 2000: 124/ 125. 190 Vgl. hierzu z.B. Schöning 1993, der eine erste Phase in der Dichtung und Übersetzungstätigkeit sieht, darauf folgen literaturphilologische Studien (Troubadourdichtung) und schließlich sprachwissenschaftliche Arbeiten (Schöning 1993: 1-13). 191 Gumbrecht bezieht sich hier auf eine Fußnote bei Curtius 1947: 398. Auch hier ist eine relativierende Sichtweise geboten: Sicherlich ist es sehr wahrscheinlich, dass das Phänomen der sogenannten Branntweinpest, die auf die Befreiungskriege im 19. Jahrhundert folgte, auch Friedrich Diez betraf; der Hinweis auf Raimund Llull bei Curtius erlaubt aber auch leise Zweifel: aqua ardens war zu Beginn des 14. Jahrhunderts, Llull verstarb 1316, ein Heilmittel, unter anderem bei rheumatischen Gelenkbeschwerden, unter denen Diez litt. Es ist also auch möglich, dass sich die Quellenangabe bei Curtius auf diesen Gebrauch des Branntweins bezieht, so ist Franzbranntwein ja auch heute noch ein probates Mittel zum Einreiben. Vermutlich schwankte der Gebrauch des Branntweins bei Diez zwischen medizinischer Anwendung und Kompensationsmittel (vgl. zum Gebrauch des Alkohols zu Zeiten Llulls z.B. Eckart 6 2009: 72- 74; zum Branntweinmissbrauch im 19. Jahrhundert vgl. Tappe 2002; Zschokke 1837). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 303 Auch Ernst Robert Curtius’ Erinnerungen zeichnen das Bild eines resignierten, kranken und verbitterten Gründervaters, das dem Tenor der Briefe Diezens an den Jugendfreund Karl Ebenau entspricht. In diesen spricht sich Diez deutlich für seine Begeisterung gegenüber der Kunst aus, die er der Wissenschaft vorzieht: Was ist es, das mich so unaussprechlich ahndungsvoll durchzuckt, wenn die Kunst ihre Marienbilder herniederzieht, wenn die Natur ihre lauten oder schweigenden Feste begeht, wenn Deine Seele in der meinigen ruht? […] Es ist so unwidersprechlich fest und wahr, es ist in das Leben aller Völker gepflanzt, die Weisheit der Dichtung verkündigt es aller Orten, dass nur das einzige Gefühl, die Liebe alles ergründet; wie jene Pflanze, die dem Wanderer eine Quelle andeutet, so führen sinnvoll die Geistesschöpfungen der Völker auf den Strom der Ewigkeit. Alle Wissenschaft, alle Gelehrsamkeit nützt nur verneinend. (Diez an Ebenau in einem Brief vom 20. August 1817, zit. nach Foerster 1894: 4) In einem späteren Schreiben betont er, dass er nicht ausreichend Zeit findet, sich der Poesie zu widmen: Nur zu wenig habe ich mich seit unsrer Trennung der Poesie hingegeben, zu sehr habe ich das bessere Denken und Dichten in mir niedergedrückt, fast ist es erstorben unter dem Brüten einer dumpfen Phantasie - möge denn dieser heitre Morgen mir einmal gehören - - - - ! (Diez an Ebenau in einem Brief vom 4. August 1823, zit. nach Foerster 1894: 27) Beide Briefe sprechen tatsächlich für eine eher unfreiwillige Wahl der wissenschaftlichen an Stelle der künstlerischen Laufbahn. Ein Gründungsvater also aus Verlegenheit? Auch Frank-Rutger Hausmann zieht eine eher kritische Bilanz gegenüber dem Gründungsmythos, wobei sich die kritische Reflexion Hausmanns allerdings mehr auf der Ebene des Gegenstandes bewegt (Hausmann 1998a: 16/ 17). Diez’ Leistungen auf dem Gebiet der Romanischen Philologie seien nicht zu bezweifeln, allerdings habe Diez sehr stark auf die provenzalische Sprache und Dichtung fokussiert und somit eine eher einseitige Förderung der Romanischen Philologie betrieben statt eine Einheit im Sinne der Gleichberechtigung der romanischen Sprachen zu unterstützen. Hausmann relativiert sein Urteil über Diezens Einseitigkeit hinsichtlich eines gemeinromanischen Wissenschaftskonzeptes allerdings mit dem Hinweis auf die „Mittelalterbegeisterung der Romantiker“ und den „Aufschwung der positivistischen Textphilologie“ (Hausmann 1998a: 18), zieht aber doch auch den Nationalismus Diezens für die zweigeteilte Biographie seiner Forscherpersönlichkeit heran (Hausmann 1998a: 18/ 19). Man kann diesen Ausführungen noch eine weitere Interpretationsmöglichkeit für das Umschlagen von den literaturhin zu sprachwissenschaftlichen Studien hinzufügen: Das im 19. Jahrhundert entstandene Bewusstsein für Historizität sowie die Ablösung der Philosophie als Die Diskursformationen der Neuphilologien 304 Leitkategorie für den semantischen Gehalt des Begriffs ,Wissenschaftlichkeit‘ bewirken eine epistemologische Zäsur im Sinne Foucaults. Damit verbunden ist eine semantische Verschiebung auf der Konnotationsebene des Begriffs ,Wissenschaft‘. Nachdem Schnädelbach 1983 belegen konnte, dass die von Foucault für die Jahrhundertwende festgemachte Zäsur für Deutschland erst ab den 1830er Jahren zutrifft, deutet die etwa um diesen Zeitpunkt einsetzende, zweite Phase in Diezens Schaffen darauf hin, dass die Forscherpersönlichkeit Diez als Symbol für diesen Übergang eines hermeneutischen durch die Philosophie geprägten Wissenschaftsverständnisses (hermeneutisch-idealistisch) zu einem an den Naturwissenschaften orientierten (empirisch-positivistisch) gelesen werden kann. 192 Mit Sicherheit ist ein Teil der Diezschen Begeisterung für das Provenzalische der romantischen Vorstellung geschuldet, die Wiege des Minnesangs sei in der Provence zu suchen (Schöning 1993: 7). 193 Unbestritten bleiben Diez’ Verdienste hinsichtlich der Methodisierung und Verwissenschaftlichung der Romanischen Philologie, ihm verdankt sie nach Hausmann die Wende zu einem „Positivismusparadigma“ (Hausmann: 1998: 7). 194 Wunderli spricht im Zusammenhang mit Diez von „epochenmachenden“ Werken, die die Romanische Philologie mit einer methodischen Basis nach Vorbild der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft ausstattet und ihr somit den Status einer modernen Wissenschaft verleiht (Wunderli 2001: 124; auch Oesterreicher 2000: 185/ 186). Diez’ Arbeiten sowohl auf literaturwissenschaftlichem als auch auf sprachwissenschaftlichem Gebiet haben größtenteils heute noch Gültigkeit, trotz einiger Schwächen und Fehler in den Analysen, gelten seine Leistungen in der romanistischen Forschung als anerkannt (Wunderli 2001: 124/ 125). Im Zusammenhang mit dem sowohl sprachals auch literaturästhetische Arbeiten umfassenden Werk Friedrich 192 Diese Lesart deutet sich bei Hausmann 1998a: 7 an, wenn er vom Diezschen „Positivismusparadigma“ im Gegensatz zum Vosslerschen „Idealismusparadigma“ spricht. Die Annahme eines solchen Positivismusparadigmas trifft auf Diez allerdings nur dann zu, wenn man sein Werk tatsächlich auf seine sprachwissenschaftlichen Arbeiten beschränken will, in der eine positivistische Herangehensweise an den Gegenstand dominiert. 193 Diese Vermutung wird gestützt durch eine Bemerkung, die Diez über die Ähnlichkeit zwischen der spanischen Cid-Dichtung und der germanischen wie skandinavischen Heldendichtung macht: „Betrachten wir zuvörderst seine Form, so ergibt sich aus ihr ein Schluß für die Gestalt des damaligen Heldenliedes: es scheint in derselben Weise geklungen zu haben, wie das germanische und spätre scandinavische […].“ (Diez 1821: 199) Die aktuelle Forschungsdiskussion ist über diese Diskussion bereits hinweg und sieht den provenzalischen Ursprung des Minnesangs als gesichert. 194 Zur Problematik des Paradigmenbegriffes in wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten auf geisteswissenschaftlichem Gebiet vgl. Roggenbuck 15-44; Kalkhoff 2010: 16. Im Vergleich zu Hausmann formuliert Wunderli 2001: 124 vorsichtiger, wenn er darauf hinweist, Diez habe durch sein Wörterbuch mit den „phantastischen und spekulativen Etymologien“ aufgeräumt und so eine methodische Wende eingeleitet. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 305 Diezens ist auf eine terminologische Schwierigkeit hinzuweisen: Der Begriff ,Literaturwissenschaft‘ entspricht inhaltlich nicht dem heutigen Verständnis der Disziplin, die sich ja erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Disziplinenkomplex der Philologie löste. Er wird sozusagen anachronistisch verwendet, um die Forschungsarbeiten der ersten romanistischen Philologen auf Gebieten, die nicht eindeutig der Editionsphilologie und Textwissenschaft zuzuordnen sind, einordnen zu können, da sie inhaltlich über den Forschungsrahmen von Editions- und Textwissenschaft hinausgehen, so zum Beispiel die Troubadourstudien Diezens, die bereits Ansätze zu literaturtheoretischen und literaturästhetischen Theoriebildungen aufweisen. Diez’ Ruf als Begründer der deutschsprachigen Romanistik beruht vor allem auf eben diesen Leistungen sowohl im sprachwissenschaftlichen als auch im literaturästhetischen Bereich. An beide Bereiche wird in der Analyse der programmatischen Elemente - Diez äußert sich in dieser Weise über seine Werke nur wenig - die Frage nach einer Synthese von hermeneutisch-idealistischen und empirisch-positivistischen Aspekten in der Philologie zu stellen sein sowie die Überprüfung der Hypothese, die zweigeteilte Biographie Diezens sei als Konsequenz der semantischen Verschiebungen auf der Konnotationsebene des Wissenschaftsbegriffs und eben nicht nur als Spiegel einer biographischen Zäsur zu deuten. 5.4.2.1 Friedrich Diez und die Troubadours: zwischen philologischer Kritik und literarischer Ästhetik Meinen schlechten Aussichten zum Trotz habe ich seit Anfang September eine „Geschichte der Poesie des Troubadours“ angefangen, die auf Tod und Leben fortgesetzt wird; desshalb verwende ich auch alle Zeit, d.h. meine 3 Stunden Tags, auf diese nicht unmühsame, weitschichtige Arbeit; in dieser Zeit habe ich es dahin gebracht, wiewohl ein Wörterbuch mir abging, alle Gedichte fast ohne Anstoss lesen zu können. Ich lebe also wieder allein im Mittelalter, dessen Glanz meine trübe Gegenwart umziehen mag; an Philosophie und Göthe kann ich nicht mehr denken […]. Dir brauche ich am wenigsten zu sagen, wieviel man auf jedem Gebiet menschlichen Treibens, das aus der Ferne von einer gewissen Höhe betrachtet, entsetzlich albern erscheint, wenn man sich nur mit den Leuten ohne Vorurtheil einlassen will, des Guten, Schönen und Tiefen findet, womit sich eine Erkenntniss bereichern lässt, die neben dem kleinlichen Wissen als unvergänglich bestehen darf. (Diez an Ebenau in einem Brief vom 21. November 1821, zit. nach Foerster 1894: 23) 195 195 Diez äußert sich in seinen Werken kaum zu seinem Erkenntnisideal. Einige wenige Stellen in seinen Briefen wie auch in programmatischen Texten (Vorwörter, Erläuterungen) zu seinen Werken weisen aber darauf hin, dass Diez durch seine Editionstä- Die Diskursformationen der Neuphilologien 306 Ein großes Verdienst Diezens war es, die Troubadourlyrik als ästhetische Literaturerfahrung des Mittelalters „salonfähig“ gemacht zu haben. 196 Die Erklärungen reichen von der bereits beschriebenen mythisierenden Darstellung 197 bis hin zu der nüchternen Feststellung, der romantische Hinter- tigkeit durchaus einen Beitrag zur Erkenntnis der Vergangenheit der Menschheit zu leisten hoffte, der dem hermeneutischen Selbstverständnis der philologischen Konzeptionen Wolfs oder Boeckhs entspricht. So findet sich in den Erläuterungen zu den von Diez übersetzten Altspanischen Romanzen seine Überzeugung, die geschichtliche Wahrheit wie auch der Charakter eines Volkes sei durchaus in der mittelalterlichen Dichtung zu finden: „Nicht so die ersteren [Diez trennt die hier gemeinte Volksdichtung vom Kunstlied der gebildeten Schicht; J.W.]: was das spanische Gemüth ursprünglich Tiefsinniges und Edles hat, und was eine herrliche tadelfreie Geschichte weiter schön und tüchtig entwickelte, daß liegt treu in diesen Dichtungen aufbewahrt. Eine Natur, wie sie in Spanien sich entfaltet, die Erhabenheit und Anmuth auf die großartigste Weise zusammenstellt, füllte den Busen des ohnehin sich selbst überlaßnen, durch Bergketten vereinzelten Volkes mit ahndungsvollem Staunen, und erzog in ihm eine Gediegenheit, die auch der Flachsinn neuerer Zeit nicht wegschwemmen konnte.“ (Diez 1829: 195/ 196) 196 Vgl. zum bereits erwähnten Mythos, die Anregung zur Edition der Troubadourdichtung verdanke Diez einem Treffen mit Goethe z.B. Bähler [im Manuskript], Curtius 1947, auch Gumbrecht 1984. 197 Gumbrecht 1984: 46-48 interpretiert Diezens Interesse an der provenzalischen Troubadourlyrik als eine Suche nach dem intellektuellen Selbst mittels Alteritätserfahrungen. Diez stehe im Spannungsfeld zwischen nationaler Kollektividentität und intellektueller Individualität, dieses Spannungsfeld präge ideengeschichtlich die Entstehung der Romanischen Philologie auf markante Weise (Gumbrecht 1984: 43f.). Diezens Biographie - zu verzeichnen ist eine Entwicklung vom romantisch-nationalen Burschenschaftler zu einer international anerkannten Forscherpersönlichkeit - sei dabei quasi symptomatisch (Ebd.). In der teilweise psychoanalytischen Deutung Gumbrechts, scheint der Autor allerdings bisweilen einige Faktoren zu verkürzen: Triebe man eine solch psychoanalytische Lesart auf die Spitze, so müssten die Kriegserfahrungen Diezens vor dem Hintergrund aktueller Forschung zu Kriegstraumata beleuchtet werden (vgl. hierzu z.B. Zimmermann et. al. 2005). Diezens Ablehnung gegenüber der französischen Sprache - Diez weigerte sich bis zu seinem Tod, Prüfungen auf Französisch abzunehmen - sind vor dem Hintergrund der Kriegseindrücke verstehbar und damit ebenfalls seine Fokussierung des Provenzalischen, galt dessen mittelalterliche Dichtung doch als möglicher Ursprung des deutschen Minnesangs (vgl. Sokolowsky 1906: 8f., 134). Auch seine bisweilen nationalistisch anmutenden Äußerungen wären durch mögliche traumatische Erlebnisse während des Befreiungskrieges 1814 erklärbar. Gegen eine solche Deutung ist allerdings einzuwenden, dass die Problematik des Fremden Diez vor allem in linguistischer Hinsicht interessierte, inhaltlich bewertete er die Troubadourgesänge teilweise zwar als aufschlussreich hinsichtlich der in ihnen vermittelten Geschichte, von ästhetischem Interesse sei der Inhalt eher weniger (vgl. Diez 1829: III-XII; vgl. zum Problem des Fremden im Werk Diez’ Schöning 1993: 124ff., v.a. 125/ 126). Dies lässt die Interpretation des Forschungsgegenstandes als „Horizont idealer individueller Identität“ (Gumbrecht 1984: 44) sowie die Vereinnahmung der Diez-Biographie für eine ideologische Erklärung der Entstehung der Romanischen Philologie als eine Gegenfolie zur Bildung einer nationalen Kollektividentität doch fraglich erscheinen. Weder der Begriff der Nation noch der der Alterität werden von Diez’ Forschungen Romanische Philologie als Fachwissenschaft 307 grund Diezens habe dieses Unternehmen geradezu herausgefordert, da die provenzalische Minnedichtung den mittelalterbegeisterten „Pfadfindern“ der neueren Philologien als Schlüssel zur Vergangenheit galt (Curtius 1947: 402). Diez scheint bei seinem Vorhaben dem emphatischen Aufruf Ludwig Uhlands gefolgt zu sein, der 1807 in einem Brief an seinen Studienfreund Kölle in Paris schreibt: So wollte ich Sie beschwören bei dem heiligen Mutternamen Deutschlands, gehen Sie, wann Sie immer können, in die Bibliotheken von Paris, suchen Sie hervor was da vergraben liegt von Schätzen altdeutscher Poesie. Da schlummern sie, die bezauberten Jungfrauen, goldene Locken verhüllen ihr Gesicht; wohlauf ihr männlichen Ritter, löset den Zauber! sie werden heißathmend die Locken zurückwerfen, aufschlagen die blauen träumenden Augen. Allein sehen Sie nicht ausschließend auf deutsche Alterthümer, achten Sie auf die romantische Vorwelt Frankreichs. Ein G e i s t des Ritterthums waltet über ganz Europa. Wo Sie in einem alten Buche eine schöne Kunde, Legende u.s.w. finden, lassen Sie die nicht verloren gehen, wir haben ja so großen Mangel an poetischem Stoff, an Mythen. (Brief Uhlands an Kölle vom 26. Januar 1807; Hervorhebung wie im Original) 198 Die europäische Kulturgeschichte bündelt sich im Zusammenhang der germanisch-romanischen Kulturzeugnisse, deren Wert für das Verständnis der europäischen Geschichte die Legitimationsgrundlage für eine Hermeneutik der Moderne ausmacht. Das modern-europäische Bildungsgut steht der Antike mit ihren Werten und ihren Kulturdenkmälern gegenüber. Als diesen ebenbürtig erkannt, wird die zunächst schwärmerische Beschäfti- unter diesem Gesichtspunkt berührt, perspektiviert wird dagegen die Geschichtlichkeit und der Erkenntnisgewinn wie auch - und dies scheint eindeutig im Vordergrund zu stehen - die Anwendung der wissenschaftlichen Methode. Kulturelle Alteritätserfahrungen sind ein integraler Bestandteil von Diezens Sprachbegriff, die Erfahrbarmachung fremder Kulturen, wie der eigenen übrigens auch, liegt in der Natur der hermeneutisch ausgerichteten Philologie, die Diez zum Teil noch vertritt. Wahrscheinlicher scheint die Deutung Schönings 1993: 125 (vgl. auch Hausmann 1998: 16/ 17), die Wahl des Gegenstandes sei Diezens Bemühen, einen Beitrag zur Universalpoesie sowie zur Klärung des Ursprungs des deutschen Minnesangs zu leisten, geschuldet. 198 Bezeichnend für die unter den Mittelalterforschern herrschende Stimmung ist auch die auf diesen Brief erfolgende Antwort Kölles, die einerseits die Verklärung der romanischen Minnesangpoesie, andererseits die Parisbegeisterung wiederspiegelt: „Ungefähr 200 alte Romane, theils im Romanzo, theils schon in der langue d'oui (der Quelle des heutigen Französischen) liegen da. Ich fange, wie billig, meine Lectüre bei dem Romane von der Rose an. Jede Entdeckung werde ich mit meinen Freunden theilen. Um Gotteswillen kommen Sie nach dem Examen sogleich hierher! Man lebt hier wohlfeil, und auch abgesehen davon, für äußere und innere Bildung ist Paris einzig, und es müßte schlecht gehen, wenn Sie nicht bald etwas liefern könnten, was Sie in den Stand setzt, auf eigenem Fuß hier zu leben.“ (zitiert nach: Emilie Uhland 1874) Die Diskursformationen der Neuphilologien 308 gung mit den neueren Sprachen zu einer wissenschaftlichen. 199 Dieser Umschwung im Umgang mit der Literatur und Dichtung des Mittelalters 200 zeigt sich auch in den widersprüchlichen Äußerungen, die Diez über seine Edition der Troubadourlyrik macht: Zwar sei schon viel darüber geschrieben worden, aber eine wissenschaftlich nutzbare Edition existiere nicht (Schöning 1993: 5). Im Vorwort zur Poesie der Troubadours wird auch deutlich, welchen neuen Anspruch Diez an seine Edition heranträgt. Diez kritisiert die bereits vorhandenen Anthologien der Troubadourlieder aufgrund des teilweise recht freizügigen Umgangs mit der Geschichte 201 , der mangelnden wissenschaftlichen Methode 202 oder auch der Unvollständigkeit der Liedersammlungen, die er sämtlichen Editionen ankreidet. 203 Explizit äußert Diez sein auf dem Anspruch nach (philologischer) Exaktheit und Vollständigkeit beruhendes Editionskonzept nicht, dieses tritt vielmehr in der kritischen Rezension der von ihm besprochenen Werke zutage. So bemängelt er an der Ausgabe des Abbé Millot: Allein Millot's Arbeit hatte sich nur auf den litterärischen Theil des Studiums beschränkt; der philologische blieb fortwährend mit Dunkel bedeckt, ja viele meinten, es sey der Sache schon ihr Genüge geschehen, ohne zu bedenken, daß der Besitz einer Litteraturgeschichte ohne den einer Litteratur ein ärmliches Ding ist. (Diez 1826: IX/ X) 199 Vgl. zur Bedeutung der Entdeckung des Mittelalters in der deutschen Romantik als gleichermaßen religiöser wie politisch-patriotischer Strömung und dessen Stilisierung zu einer Gegenwelt und einer Zukunftsutopie z.B. Buschinger 2007: 11-18. 200 Vgl. zu diesem Umschwung in der Bewertung der mittelalterlichen Literatur besonders Bähler [im Manuskript]; auch Schöning 1993: 4/ 5. 201 So schreibt Diez zur Ausgabe von Johann Nostradamus: „Allein dieß Buch ist, wiewohl der Verfasser der klassischen Zeit der Provenzalen bedeutend näher stand als wir, und manche seitdem verlorene Hülfsmittel benutzen konnte, von geringem Werth, da es so viele Widersprüche und Verstöße gegen die Geschichte enthält, daß man ihm fast alle Glaubwürdigkeit abzubrechen genöthigt ist.“ (Diez 1826: V) 202 Zu Crescimbenis Ausgabe äußert sich Diez im Hinblick auf die wissenschaftliche Verwendbarkeit sehr kritisch: „[…] doch war der Text unrein und die Uebersetzung falsch.“ (Diez 1826: VI) 203 Vollständigkeit vermisst Diez beispielsweise bei Bastero, La Curne de Sainte-Palaye, Millot und auch bei Raynouard. Für gut befunden wird die Ausgabe von Rochegude, die Zusammenstellung der Lieder sei „ziemlich gut“, das angehängte okzitanische Glossar findet jedoch keineswegs Diezens Zustimmung, der Versuch sei zwar lobenswert, aber „freilich sehr mangelhaft“ (Diez 1826: XIII). Einzig August Wilhelm Schlegel entgeht der scharfen Kritik Diezens - dies ist nicht allzu verwunderlich, hat Diez seine Edition doch „dem gelehrten und geistvollen Beurtheiler der Sprache und Litteratur der Provenzalen“ gewidmet. Diese Widmung rückt Diezens Projekt von Anfang an in die romantische Tradition der Weltliteratur, allen voran dem Schlegelschen Projekt einer Universalpoesie, wodurch sein Vorhaben bereits legitimiert zu sein scheint. Vgl. zum Projekt der Weltliteratur als Zugang zur Vergangenheit Schöning 1993: 6. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 309 Diez’ Forderung nach einer grammatischen Behandlung der Sprache der Troubadours liest sich nahezu wie ein Verweis auf seine zukünftigen sprachwissenschaftlichen Projekte wie sie in Form seiner Grammatik oder seines Wörterbuchs der romanischen Sprachen einige Jahre später erscheinen sollten. 1826 scheinen ihm allerdings die Grammatik und das Dictionnaire der provenzalischen Sprache Raynouards zu genügen, wobei er auch bei deren Erwähnung einen kleinen Seitenhieb in Richtung des französischen Kollegen nicht unterlassen kann: 204 Die Aufgabe, eine Grammatik und ein Wörterbuch der provenzalischen Sprache aufzustellen und die Werke der Troubadours in reinem Originaltext zu liefern, ist endlich in unsern Tagen bis auf einen gewissen Punkt gelöst worden. (Diez 1826: X) Selbst Raynouard kann Diezens Anspruch nach einer vollständigen, philologisch aufbereiteten Edition der Troubadourgesänge nicht befriedigen. Obwohl er Raynouard großen Fleiß bescheinigt, fällt seine Kritik letztlich recht vernichtend aus. Für den Philologen, der das Werk wissenschaftlich nutzen möchte, sei dieses schlichtweg nicht benutzbar: Zwei Punkte möchte ich bei diesem Werke erinnern. Erstlich wäre es zu wünschen gewesen, daß der Verfasser die wichtigsten Lesarten, nicht eben jede nichtssagende Variante, seinem Texte untergelegt und so den Leser an der Critik hätte Theil nehmen lassen, ein Punkt, der für die gelehrte Benutzung der Werke von entschiedener Wichtigkeit ist. (Diez 1826: XI) Doch nicht nur das Fehlen der wissenschaftlichen Methode schmälert den Wert der Ausgabe beträchtlich, auch die Selektion der Lieder erregt Diezens Missfallen: Sodann erlaube ich mir gegen die Auswahl, als solche, eine Einwendung. Die zweckmäßigste Anthologie ist doch nicht viel mehr als ein Behelf: sie wird stets auf das Fehlende zurückweisen, dieß steht aber im gegenwärtigen Fall in den Handschriften, deren Einsicht nur wenigen vergönnt ist. (Diez 1826: XI) An dieser Stelle zeigt sich Diezens demokratisches Wissensverständnis: Das Wissen, das über das Gewordensein des Menschen in den Handschriften verborgen ist, soll allen zugänglich gemacht werden - und zwar unter Anwendung einer objektiven, wissenschaftlichen Methodik. Deutlich wird, dass Diez, der der Schlegelschen Idee einer Universalpoesie nahesteht, inhaltlich in Nähe zur philologischen Konzeption der partizipativen Verstehenswissenschaft Boeckhs zu verorten ist, die den Prozess des Erkenntniszuwachses für die Gesellschaft erfahrbar und in die eigene Wissensstruktur 204 Diez bezeichnet Raynouard allerdings bis zu seinem Tode als „Begründer der romanischen Philologie“ (Diez 1869; vgl. Curtius 1947: 401; Gauger 1991: 26; Oesterreicher 2000: 185). Die Diskursformationen der Neuphilologien 310 integrierbar macht. Die Werte der Vergangenheit, wie sie in literarischen Denkmälern verborgen sind und die der Philologe zu entschlüsseln hat, müssen durch eine nachvollziehbare Methode für die Gesellschaft entdeckbar gemacht werden. Dem Gegenstand angemessen erscheint Diez die hermeneutische Methode - allerdings in der Boeckhschen Konzeption als eine Synthese von empirischer und spekulativer Methode -, die er in aller Strenge und Sorgfalt auf literaturästhetische wie editionsphilologische Forschung angewendet wissen will. Philologisches Arbeiten bei Diez erhält so eine doppelte Struktur: Auf inhaltlich sozialer Ebene behält es seinen philosophischen Anspruch bei, auf methodisch-praktischer Ebene ist es bereits von der Diskussion beeinflusst, die die epistemologische Zäsur ausgelöst hat. Diez selbst kann innerhalb dieser Zäsur eine Schwellenfunktion, zumindest, was seine Arbeiten auf dem Gebiet der Troubadourforschung betrifft, zugesprochen werden. Schöning 1997: 64 unterscheidet hinsichtlich der Übersetzungstätigkeiten zwischen akademisch-philologischer und literarisch-künstlerischer Rezeptionsweise von (übersetzten oder edierten) Texten. Diese unterschiedlichen Rezeptionsweisen spiegelten die Bereiche Kunst und Wissenschaft wider, der Wissenschaft (akademischphilologisch) sei dabei das Ziel des Erkenntniszuwachses, der Kunst das Ziel poetischer Innovation zuzuordnen (Schöning 1997: 64). Bereits Schlegel hatte auf die Synthese der beiden Bereiche im Rahmen einer philologia philosopha hingewiesen. Diezens Nähe zu Schlegel lässt auf ein ähnliches Verständnis von philologischer Übersetzungs- und Editionstätigkeit schließen, so kann als Hypothese formuliert werden, dass sich partizipatives Verstehen und Erkenntniszuwachs bei Diez nicht ausschließen. Auch darf nicht vergessen werden, dass der hermeneutische Anspruch des „Besserverstehens“ den philosophisch-ideengeschichtlichen Hintergrund seiner textphilologischen Studien noch immer mitbestimmte. Diezens Werke über die Troubadours stehen zwischen den Polen Kunst und Wissenschaft, zwischen Erkenntniszuwachs, gesicherter Methode und ästhetischem Anspruch und der Bereitstellung von Sinn. Die von Schöning beobachtete Spaltung zwischen den beiden Polen ist bei Diez noch nicht zur Gänze vollzogen, wie seine Aussagen belegen (Schöning 1997: 64). Die Tendenz zu einer wissenschaftlichen Auffassung von philologischer Tätigkeit, die sich rein über Methodizität definiert, ist allerdings bereits erkennbar. Sie ist möglicherweise ein Resultat der Konnotationsverschiebungen im Wissenschaftsbegriff, der in Anlehnung an die Naturwissenschaften eine immer stärker positivistische Ausrichtung erfährt. Diez proklamiert eine Untermauerung der Ergebnisse durch methodische Kontrollierbarkeit. Diese lasse sich in Vollständigkeit des Materials und empirischer Methodik der philologischen Arbeiten spiegeln (Oesterreicher 2000: 186). 205 Nur so könne 205 Die möglichst vollständige Sichtung der Quellen wie auch eine ebensolche Wiedergabe der Werke liegt Diez bereits bei den Altspanischen Romanzen am Herzen, in de- Romanische Philologie als Fachwissenschaft 311 das geschichtliche Beziehungsgeflecht zwischen den kulturellen Zeugen vergangener Zeiten sichtbar werden. Daher fordert er: Die Herausgabe des gesammten Liedervorraths ist daher das einzige Mittel, die gerechten Ansprüche der Freunde der Poesie zu erfüllen, und bis dahin ist die Arbeit nur halb gethan. Die Poesie der Troubadours ist geselliger Natur, die Dichter stehen in sichtlicher Berührung unter sich im Leben wie in der Kunst, beziehungsvolle Fäden schlingen sich durch ihre Werke, und so ist es einleuchtend, daß nur durch die Zusammenstellung aller Ueberreste ihrer Litteratur gewisse Beziehungen und Anspielungen sich aufklären und das Ganze wie das Einzelne sein rechtes Verständniß gewinnt, ein Umstand, der für die innere Geschichte dieser Poesie und die Lebensverhältnisse der Dichter von dem größten Gewicht ist. Freilich ist es nicht möglich, das Ganze in so klassischem Texte zu liefern, wie es Hr. Raynouard bei einer sparsamen Auswahl vermochte, allein es steht noch eine bedeutende Menge von Originalen zurück, von welchen sich entweder unmittelbar aus guten Handschriften oder durch Vergleichung der Varianten ein reiner Text aufstellen läßt, ja selbst die fehlerhaften oder verderbten Stücke haben für den Sachkenner einen zu hohen Werth, als daß er sie in den Handschriften einer ungewissen Zukunft preis geben möchte. Die provenzalische Litteratur hat durch das Werk des Hrn. Raynouard schon manchen Anhänger erworben; es ist zu wünschen, daß einer derselben das Fehlende ersetze: unsre Zeit ist berechtigt, diese Forderung zu machen. (Diez 1826: XII) Nach dieser kritischen Würdigung der vorhandenen Editionen stellt Diez sein eigenes Projekt vor. Dabei gibt er sich zunächst bescheiden: Ueber das gegenwärtige Buch, welches sich den erwähnten Schriften anschließen soll, habe ich wenig zu sagen; es mag für sich selbst reden. (Diez 1826: XIII) 206 nen er sich lobend über das Bemühen der ersten Editionen der spanischen Volkslieder hinsichtlich der Gesamtheit äußert (Diez 1821: 194). Es wäre daher falsch, in Diez einen reinen Vertreter der literarisch-künstlerischen Übersetzungsbzw. Editionsarbeit zu sehen. So führt Schöning 1997 aus, dass philologische Übersetzungen dem Zweck dienen, das Verständnis des Originals zu gewährleisten. Dies werde nicht über eine Wiederholung des Werkes, sondern über eine möglichst originalgetreue Annäherung erreicht (Schöning 1997: 63). Genau dieses Prinzip lässt sich in den theoretischen Ausführungen Diezens bereits erkennen - es ist dies das Prinzip, das der Editionsphilologie von Karl Lachmann zugrunde liegt. In der Ausführung zeigt sich bei Diez, dass er dieses Prinzip vor allem dann verletzt, wenn es um ästhetische Ansprüche des Stils geht - Stil und Form dienen Diez als Leitkriterien, um den Wert eines Gedichts zu messen (Schöning 1997: 38). Dieses Schwanken zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Anspruch ist symptomatisch für die literarischphilologische Schaffensphase Diezens. 206 Diese Zurückhaltung Diezens, sich in theoretische Diskussionen einzumischen, entwickelt sich nahezu zu einem Topos in seinem Werk. Diez überlässt es dem Leser, sich seiner theoretischen Meinung anzuschließen - nicht nur in der Poesie der Trouba- Die Diskursformationen der Neuphilologien 312 Seine wissenschaftliche Überzeugung liegt ihm dann aber doch zu sehr am Herzen, um sie unerwähnt zu lassen. Sie spiegelt die Pole, zwischen denen sich die Diezsche Edition befindet: philologische Exaktheit und ästhetischer Anspruch. Sie erklären sich durch die romantische Tradition, in die Diez sich - nicht nur über die Widmung an Schlegel - einschreibt. Geist und Charakter sollen der Gesellschaft zugänglich gemacht werden. Dabei will Diez nicht beurteilend, sondern erklärend vorgehen (vgl. Diez 1826: XIII). Auch hier findet sich sein wissenschaftlich-objektiver Anspruch, hinter dem die Ästhetik zurückstehen muss: So viel aber glaube ich erklären zu müssen, daß ich bei einer Darstellung der Poesie hier nicht die Absicht hatte, ästhetische Betrachtungen anzustellen; selbst der dritte Abschnitt soll weniger eine beurtheilende als eine erklärende Ausstellung der Liederpoesie liefern. Mein Bestreben ging vornehmlich dahin, die eigenthümlichen Züge und Verhältnisse, welche die Kunst und das Leben der Dichter bezeichnen, aufzufassen, und durch die wichtigsten Zeugnisse bewahrheitet hervorzustellen. (Diez 1826: XIII) Eindeutig distanziert sich Diez hier von einem normierenden Diskurs. Es geht um die Bereitstellung von Wahrheit, nicht darum, diese zu bewerten. Textphilologie wird hier zu einem objektiven Projekt, das in seinem Anspruch an dieser Stelle erneut an die Boeckhsche Konzeption erinnert. 207 dours. Dieses ausweichende Verhalten findet sich bereits in der Übersetzung der Altspanischen Romanzen (Diez 1821), es kehrt wieder in Leben und Werk der Troubadours (Diez 1829) und verdeutlicht sich besonders in der Frage nach dem Ursprung der romanischen Sprachen - in der Diez bekannterweise eine von Raynouard gänzlich abweichende These vertrat. Diez leitete die romanischen Sprachen vom Vulgärlatein ab, während Raynouard das Provenzalische als Quelle ausmachte (vgl. zur Diskussion um den Ursprung der romanischen Sprachen zwischen Diez und Raynouard Várvaro 1968; Rettig 1976; Selig 2007, vgl. zum ausweichenden Verhalten Diezens gegenüber sprachtheoretischen Auseinandersetzungen v.a. auch Selig 2007; auch Paris 1863: IX/ X). Vgl. zur Vermeidung der Theoriedebatte Diez 1856: 4, Fußnote: „Der Ursprung der romanischen Sprachen ist schon in früheren Jahrhunderten Gegenstand vieler, mitunter gelehrter und geschickter, oft aber auch langweiliger und unfruchtbarer Untersuchungen gewesen. Auf dieses Thema nochmals einzugehn, ist hier nicht der Ort. Selbst was in neuerer Zeit, seit Raynouard, der hier Epoche machte, in Frankreich von Ampere, Fauriel, Du Meril, Chevallet, in Deutschland von Blanc, Fuchs, Delius […] und was von andern Philologen auf diesem Felde Scharfsinniges und Belehrendes geleistet worden, muss ich in gegenwärtigem Buche, dessen eigentlicher Gegenstand Buchstaben, Formen und Constructionen sind, unberührt lassen.“ (Diez 1956-72: 1/ 2) 207 Auf diese Verbindung von kontrollierbarer, genauer Methode und der Bereitstellung von Wahrheit weist auch eine Rezension der Troubadour-Editionen in der Foreign Quarterly Review vom Juli 1833 hin, die vor allem die Integrität der Forscherpersönlichkeit Diezens hervorhebt: „As his extensive reading and mature study of everything connected with his subject, fully entitle him to pronounce an authoritative opinion, the result is, that his viewes are always offered with the confidence which a thorough conviction of their accuracy necessarily produces, but at the same time with the Romanische Philologie als Fachwissenschaft 313 Die gesicherte Methode gewährleistet eine Annäherung an die Wahrheit ohne diese normativ zu beurteilen. Zu verstehen ist sie als Partizipationsangebot an die Gesellschaft, die dann ihrerseits die Einschätzung des vermittelten Inhalts vorzunehmen hat. Unabdingbar erscheint die Forderung Diezens für die Glaubwürdigkeit philologischer Projekte, sich der Wahrheit auf objektiv-empirischem Wege anzunähern, um so über die Literatur einen Einblick in die Vergangenheit zu erheischen (Schöning 1993: 6/ 7). 208 Das Primat der Methode über den ästhetischen Anspruch ist dabei von mehreren Faktoren abhängig: Da ist zum einen Diezens Anspruch, der Sprache der Troubadours gerecht zu werden. Diez verweist hier auf seine Methode, die Handschriften untereinander zu vergleichen, um die Texte so originalgetreu wie möglich wiedergeben zu können. Erneut beklagt er das Fehlen eines Wörterbuchs, welches er „sich selbst entwerfen“ muss (Diez 1826: XIV). Diese Mängel veranlassten ihn, seiner Edition einen Anhang über die Sprache der Troubadours beizufügen, denn Diez’ Anliegen war es, editionsphilologisch nachvollziehbar zu arbeiten. Zum anderen wird die philologische Glaubwürdigkeit von der möglichst vollständigen Sichtung des Materials gewährleistet, die Diez als absoluten Maßstab an Editionen anlegt. Wie sehr das Kriterium der Wissenschaftlichkeit der Edition mit der sorgfältigen Überprüfung der Quellen zusammenhängt, belegt ein Kommentar Diezens über die Troubadourpoesie gegenüber Grimm: Für das erwähnte Buch über die Troubadours habe ich wenigstens die pariser Handschriften studiert, welche zu meinem Zwecke Stoff genug lieferten. Unterdessen ist nach einer Anzeige im Kunstblatt auch in Deutschland, nämlich in der Bibliothek des Fürsten von Wallerstein ein provenz. Codex entdeckt worden, ich habe um dessen Einsicht gebeten, aber keine Antwort erhalten. Glöckle’s Abschriften, deren sich Görres bedient hat, möchte ich wohl auch durchsehen, weiß aber nicht, wie ich dazu gelangen soll. Merkwürdig ist es, daß ich noch bis auf die Stunde den Parnasse occitanien (v. Rochegude) nicht habe erhalten können. Wenn ich nicht noch dazu gelangen kann, so gibt dieß einen wesentlichen Mißstand für meine Schrift ab […]. (Diez in einem Brief an Jakob Grimm vom 29. Januar 1826, zit. nach Tobler 1877: 483) 209 modesty which is ever attendant upon true learning. On the other hand, when he has occasion to differ from the opinion of others, he does so in a manner which shows that he is willing to believe them actuated by the same desire to ascertain the truth by which he is himself guided.” (Foreign Quarterly Review 1833, 12: 23; Art. VIII: 191). 208 Möglicherweise ist diese Forderung, die Wahrheit der Vergangenheit möglichst unverfälscht in ihrer Ursprünglichkeit darzustellen, der antinationalistischen Gegenbewegung der Romantik hinsichtlich der Aufklärung geschuldet (Schöning 1993: 7). 209 Wie essentiell das Kriterium einer im idealen Fall nahezu vollständigen Überprüfung der Quellen nebst Literatur für Diez war, zeigt auch seine Begründung gegenüber Tobler, als er die Herausgabe einer zweiten Ausgabe der Troubadour-Editionen ablehnt: „Was die Anfrage des Hrn. Dr. Hirzel betrifft, so habe ich darauf zu erwiedern, Die Diskursformationen der Neuphilologien 314 Diez’ Bemühen gilt der Wiederherstellung des Urzustandes der Texte und deren Edierung, was nur über die komparative Methode zu erreichen ist. Hier wird der empirische Anspruch der positivistischen Wissenschaft auf die philologische Methode übertragen und damit deren Wissenschaftscharakter über die Methode garantiert. In Diez’ Arbeit verbinden sich empirische Methode und Annäherung an historische „Wahrheit“, was auf eine Verbindung zu den Spannungsfeldern ‚ars und techné‘ sowie zu einer Philologiekonzeption als partizipative Verstehenswissenschaft schließen lässt. Diez überträgt nicht nur die komparative Methode, sondern integriert in seine literaturästhetische Forschung auch die Boeckhsche Methode, die Empirie und Spekulation synthetisiert. So kann Philologie die Sprache sowohl als Naturals auch als Kulturprodukt analysieren. Philologie bei Diez will mehr, als nur die Texte in ihrem ursprünglichen Wortlaut wiederherzustellen. Sie will eine größtmögliche wissenschaftliche Annäherung an Wahrheit erreichen und gleichzeitig in diesem Prozess für die Gesellschaft transparent bleiben. Diese Verbindung erklärt Diez in einem Brief an Grimm, in dem er das Ziel seiner Troubadouredition näher erläutert: Ich habe in dieser Schrift besonders gesucht, die Geschichte u. den Character der prov. Kunstpoesie darzustellen, und zu diesem Zwecke jede Stelle auf die Wagschale gelegt, dann aber auch über Sprache und Verskunst gehandelt. Die Beziehung der prov. Poesie zu auswärtiger - französischer, deutscher, italiänischer - ist ein anziehendes, aber nicht leichtes Capitel; einerseits ist wohl zu erwägen, daß, wenn auch der Grundcharakter der Völker des Mittelalters verschieden war, er doch dieselbe Richtung angenommen hatte […]. (Diez in einem Brief an Jacob Grimm vom 29. Januar 1826, zit. nach Tobler 1877: 483/ 484) Auch Diez ist der Überzeugung, in der Sprache lasse sich der Charakter und die Geschichte eines Volkes erkennen 210 , um daher die geschichtlichen daß ich durchaus nicht beabsichtige, meine beiden Bücher über die Troubadours noch einmal herauszugeben, da ich eine solche Ausgabe nur mit einer Umarbeitung zu rechtfertigen wüßte, eine Umarbeitung aber neue ziemlich weitläufige Studien erfordern würde, denen ich mich nicht mehr gewachsen fühle. Was damals leicht war, ist durch das Anschwellen der Litteratur, wie Sie wissen, schwer geworden.“ (Brief von Diez an Tobler vom 10. März 18[6]9, zit. nach Lommatzsch 1954: 174) 210 Besonders deutlich wird diese Ansicht in den Altspanischen Romanzen: „Außer dem frischen Genuß, den sie gewähren [die spanischen Romanzen; J.W.], erinnern sie zugleich an das allzeit thätige Wirken des Menschengeistes, der selbst, wo ihn, wie im Volk, das äußere prosaische Leben zu beengen und einzudämmen strebt, wie ein freudiger unversiegbarer Quell dennoch mächtig aus den mineralischen Tiefen bricht, um sich glänzend und rauschend in Farben und Klängen auszupressen.“ (Diez 1821: 232) Ähnlich äußert sich Diez über das Wirken des menschlichen Geistes auch im Vorwort zu Grimms Silva de romances viejos: „Es gibt eine Art von Geistesgebilden, für die sich der Name Kunstwerk am wenigsten eignet, wir meinen die Dichtungen, welche so frisch und heilsam durch die Brust der Völker strömen: herrliche Werke der Natur, entsprungen mit der gesunden Menschheit selbst, sprechen sie Romanische Philologie als Fachwissenschaft 315 Beziehungen um die provenzalische Minnedichtung sichtbar zu machen, muss diese in ihren Relationen zur Minnesangdichtung anderer Sprachen gesehen werden. Der Wert der vergleichenden Methode liegt darin, dass über sie eben dieses Beziehungsgeflecht und damit eine Annäherung an die historische Wahrheit sichtbar gemacht werden kann. 211 Mit diesem Ziel ediert Diez die Poesie der Troubadours wie er im zweiten Band seiner Troubadour-Editionen, Über Leben und Werk der Troubadours (1829), verdeutlicht: Wenn ich damals ihre Litteratur als solche vor Augen hatte, ihr inneres Wesen so wie ihre Beziehungen nach außen zu entwickeln suchte, so wende ich mich jetzt zu den Dichtern selbst, zu ihrem Leben und ihren Leistungen. (Diez 1829: III) Empirie und Hermeneutik werden bei Diez synthetisiert. Es genügt die Anwendung einer stringenten, als wissenschaftlich anerkannten Methode, um den Gegenstand zu legitimieren. Erneut wird deutlich, dass die durch strenge methodische Prinzipien erlangte Nachvollziehbarkeit der Ergebnisse von Diez über den literarisch-ästhetischen Anspruch gestellt wird. Dabei wird auch deutlich, dass damit ein epistemischer Wechsel im Verstehensbegriff vorliegt: Der Wissens- und Erkenntnisprozess wandelt sich von einem apriorischen zu einem aposteriorischen Begreifen, dem eine beobachtende Untersuchung zugrunde liegt: Auch hier, wie in der frühern Arbeit habe ich mich untersuchend, nicht räsonnirend verhalten wollen, wobei es mein Augenmerk blieb, ein reines Bild des Gegenstandes zu geben. Ich habe zwar gegen die räsonnirende Behandlung an sich nichts einzuwenden, nur sollte man sie von der kritischen getrennt halten, da sie auf letztre einen nachtheiligen Einfluß zu üben pflegt. (Diez 1829: VII) dem einfachen, still begeisterten Gemüthe des Volkes um so vernehmlicher, je minder es sich von der Pflanze losgewunden hat, je inniger es noch mit der Natur verwachsen ist: darum ist die inwohnende unwandelbare Seele dieser Werke so alt wie unsre Geschlechter, darum werden sie so lange fortleben, als noch die Macht der Natur in die Saiten menschlicher Gefühle greift. […] Der Urquell ist also noch nicht versiegt, wir leben im Vollgenuss seiner reichen Strömungen: wollen wir daher das wahre Wesen unverkünstelten menschlichen Gemüths einsehen lernen, so müssen wir den Strom hinangehen zu seiner Quelle, und vernehmen, dass das wunderbar in den innersten Räumen des Herzens widerhallt, was sie uns aus der Verborgenheit mitbringt […].“ (Diez 1883 [1815]: 1) 211 Vgl. hierzu noch einmal folgende Aussage Diez’, die die kulturelle Alteritätserfahrung über Sprache bekräftigt: „Es ist unwidersprechlich fest und wahr, es ist in das Leben aller Völker gepflanzt, die Weisheit der Dichtung verkündigt es allerorten, daß nur das einzige Gefühl, die Liebe alles ergründet; wie jene Pflanze, die dem Wanderer eine Quelle andeutet, so führen sinnvoll die Geistesschöpfungen der Völker auf den Strom der Ewigkeit.“ (Diez in einem Brief an Ebenau vom 20. August 1817, zit. nach Foerster 1894: 4) Die Diskursformationen der Neuphilologien 316 Die Analyse stützt sich, wie bei der Poesie, auf gründliche Analysen der Sprache und der Quellenlage, was Diez im Vorwort erläutert (vgl. Diez 1829: III-VII). Außerdem wird im zweiten Teil der Troubadour-Editionen eine Forderung nach einer Expertenkultur erkennbar - ebenfalls ein Kriterium moderner Wissenschaft und so erlaubt sich Diez eine gewisse Selektion bei der Nutzung der Sekundärliteratur: Auch Rücksicht auf Bemerkungen solcher Schriftsteller, denen die provenzalische Litteratur eigentlich fremd ist, habe ich mir im Allgemeinen erspart, da ich keinen Grund absah, dem, was in der Sache schon widerlegt erscheint, noch eine förmliche Berichtigung zu widmen. Ich hätte leicht einen ansehnlichen Troß von Litteratur nachführen können, denn wer hat nicht all über die Troubadours geschrieben? Allein es schien mir, als bestünde das Verdienst des Schriftstellers weniger in dem Aufhäufen alles dessen, was je angemerkt und beigebracht worden, als vielmehr in dem besonnenen Ausscheiden dessen, was unmittelbar zum Zwecke dient. Die goldne Regel der Einfachheit ist eben in unsern Tagen, wo der Strom der Litteratur so sehr angeschwollen, mehr als je zu beherzigen. (Diez 1829: VII) Aus methodischer Perspektive ist der Gegenstand, die Troubadourlyrik, hinreichend legitimiert. Diez erweitert seine Legitimation aber noch um weitere Argumente. Zunächst führt er das Argument des historischen Werts der mittelalterlichen Dichtung an, kein Mediävist würde auf diese „Überreste“ verzichten wollen (Diez 1829: VIII). Schwieriger gestaltet sich die Beurteilung hinsichtlich des „inneren Werth[s]“, bei dem es um die Einordnung der Troubadourlyrik als „Denkmäler der Poesie“ geht (Ebd.). In dieser Frage wechselt Diez in der Argumentationsführung nun auf die ästhetische Ebene: […] manche werden überall zu tadeln finden, andre werden sich leicht mit ihnen befreunden, darin aber möchten wohl alle, auch die Wohlwollendsten, übereinstimmen, daß uns manches in ihnen begegnet, was unsern Kunstbegriffen nicht zusagt. Nur über diesen Punkt erlaube ich mir eine Bemerkung. Es ist nicht etwa die Einfachheit ihrer Ideen und Ansichten, die man ihnen wird vorwerfen wollen: das hieße, etwas anders erwarten, als was ihrer Zeit angemessen war; es kann hier billiger Weise nur von dem die Rede sein, was den absoluten Foderungen der Kunst widerspricht. Wir sind z.B. darüber einverstanden, daß ein Gedicht eine Idee ausdrücken, daß alle seine Theile auf die Darstellung derselben hinwirken sollen, wodurch denn ein harmonisches Ganzes entsteht: dieß ist ein in dem Wesen der Poesie begründetes, weder von Zeit noch Ort abhängiges Gesetz, und dieß haben auch die Troubadours, sofern wir das von dem Gegenstand abirrende Geleit als eine Sache der Mode entschuldigen, gewöhnlich beobachtet oder vielmehr unbewußt angewandt: viele ihrer Lieder zeigen eine künstlerische Abrundung, die gar nicht lobenswerther sein kann. (Diez 1829: VIII) Romanische Philologie als Fachwissenschaft 317 Es geht Diez um die Einhaltung der Form, der Inhalt ist sekundär. In der Form präsentiert sich die Kunst, die Anwendung der ästhetischen Regeln erlaubt es, die Troubadourgesänge dem Kanon der Poesie zuzuschlagen, die für die Bildung der Gesellschaft wertvoll erscheint. Das Kriterium der Regelhaftigkeit in der Form verweist wieder auf die Methode zurück, auch in der literarisch-ästhetischen Legitimation des Gegenstandes geht Diez letztlich erneut den methodischen Argumentationsweg und macht den ästhetischen Wert vorrangig an der Einhaltung überzeitlicher, universeller Regeln fest (Methode und Theorie der poetischen Form). Inhaltlich präsentiert sich der provenzalische Minnesang, so Diez, auch zu disparat, um von ihm aus auf den inneren Wert zu schließen (Diez 1829: IX/ X). 212 Es sind allzu emotionale Schilderungen der dichterischen Gefühlswelten oder thematische Brüche, die seine Kritik auf sich ziehen, auch hier fordert der strenge Methodiker die Wahrung der Objektivität von den Autoren: Merkwürdig ist es, in welchem Grade sie [die Minnesänger; J.W.] auch hier, wo sie ein Abentheuer erzählen, an jener subjectiven Richtung haften: immer stellen sie sich, außer im Taglied, als Zeugen oder Theilnehmer der Handlung dar, um nur ja nichts rein Objectives zu geben. (Diez 1829: X) Durch ihre abhängige Stellung am Hof seien die Sänger in ihrem subjektiven Verhalten allerdings weitgehend zu entschuldigen, dies seien kleinere Mängel, die den Wert der Lieder nur wenig zu schmälern vermögen (Diez 1829: X/ XI). Im Vordergrund steht also auch bei der ästhetischen Beurteilung die Theorie der literarischen Form, das heißt die Einhaltung technischer und stilistischer Regeln beim Verfassen des Werkes. Dieser Primat der Methode findet sich dann verstärkt in den sprachwissenschaftlich ausgerichteten Werken Diez’, wobei auch hier bisweilen sein Erkenntnisideal, die Annäherung an die historische Wahrheit, durchscheint. 212 Diez äußert sich in Leben und Werk der Troubadours sehr differenziert über die inhaltliche Qualität der Troubadourlyrik. Einerseits entgeht sie nicht der Kritik, teilweise zu subjektiv von Emotionen zu berichten, andererseits wird ihr historische Relevanz sowie die Wahrung der ästhetischen Form bescheinigt. Insofern ist auch hier das Urteil Gumbrechts 1984: 57/ 58 zu relativieren, der Diez vorwirft, sich in widersprüchliche ästhetische Urteile zu verstricken. Legt man Diezens Kriterien der historischen Relevanz sowie den ästhetischen Anspruch der Form zugrunde, so scheint seine inhaltliche Kritik gerechtfertigt. Die von Gumbrecht als „vergilbt“ verpönte Metapher des „Gartens“ wird von Diez übrigens gerne verwendet, um gerade den Bezug zu Rittertum und Mittelalter und deren Bedeutung für die Romantik herzustellen. Beide gelten ihm als „Zaubergarten“ des Volkscharakters, von dem er sich Hinweise auf die Geschichte erhofft (vgl. z.B. Diez 1821: 233; Diez 1829: XII; Gumbrecht 1984: 57). Die Diskursformationen der Neuphilologien 318 5.4.2.2 Der strenge Methodiker - Friedrich Diez als Sprachwissenschaftler Bei der Untersuchung des Stoffes sind etymologische Misgriffe freilich nicht zu vermeiden, nur wissenschaftliche Berechnung kann gefordert werden, diese aber auch in ihrer ganzen Strenge. Sowohl in der Herleitung der Wörter wie in der Construction der Lautgesetze hielt ich mich daher überall an den Buchstaben ohne den Vorwurf einer allzu materiellen Auffassung zu scheuen. (Diez 1836: V) Der Editionsphilologe und Übersetzer Diez entgeht nicht dem Vorwurf, in seinen Übersetzungen bisweilen selbst poetisch tätig gewesen zu sein. 213 Zeigen Diez Arbeiten’ zu den Troubadours noch deutlich den Versuch eines Brückenschlags zwischen Kunst und Wissenschaft, so entpuppt sich in seinen sprachwissenschaftlichen Publikationen ein naturwissenschaftlichpositivistischer Einfluss als Leitkategorie. Die Methode wird absolut gesetzt, erkennbar wird ein Wissenschaftsbegriff, der sich vom hermeneutisch-romantischen Erkenntnisideal distanziert hat. Das Ziel, das sich Diez - die Grimmsche Grammatik vor Augen - gesetzt hatte, ist kein Geringeres als einen essentiellen, methodischen Gründungsakt der modernen Wissenschaft ,Romanischen Philologie‘ zu begehen. Zu dem Wunsch, durch diese methodische Transferleistung, die Romanische Philologie auf den gleichen wissenschaftlichen Rang wie die Deutsche Philologie zu heben, gesellte sich noch die Frustration über den Mangel an einer wissenschaftlichen Grammatik wie auch an einem etymologischen Wörterbuch der romanischen Sprachen, die Diez während seiner Troubadourforschungen immer wieder überkommen hatte. Diesen Mangel zu beheben und gleichzeitig der Romanischen Philologie eine wissenschaftliche Grundlage zu verleihen, scheinen die Triebkräfte gewesen zu sein, die Diez zu der Arbeit an der Grammatik der romanischen Sprachen bewogen haben. Dieses doppelte Anliegen beschreibt Gaston Paris 214 im Vorwort seiner Übersetzung der Grammatik: Jusque-là, l'auteur de la Poésie des Troubadours n'avait sérieusement étudié que l'histoire des littératures romanes. Il avait dû cependant, en s'occupant de leurs plus anciennes productions, être frappé de l'insuffisance des travaux existants sur les langues elles-mêmes, et surtout de l'absence d'unité et de méthode dans les travaux dont elles avaient été l'objet. De là à essayer de combler cette lacune il n'y avait pas loin pour un esprit comme le sien. Ce furent les travaux de Jacob Grimm sur la langue allemande qui le décidèrent à se livrer à la philologie romane , et lui indiquèrent en même temps la voie à suivre. ‛Ce qui m'a poussé à entreprendre mes travaux philologiques, m'écrivait-il, et ce qui m'a guidé dans leur exécution, c'est uniquement l'exemple de Jacob Grimm. Appliquer aux langues romanes sa grammaire 213 Vgl. hierzu etwa Richert 1914: 57, Schönert 1997: 38. 214 Zur Übersetzung der Diez-Grammatik durch Paris vgl. Bähler 2004: 103-106. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 319 et sa méthode, tel fut le but que je me proposai. Bien entendu, je n'ai procédé à cette application qu'avec une certaine liberté.’ (Paris 1863: XVI) 215 Es ist übrigens genau die Distanz, die Diez gegenüber den romantischen Idealen gewonnen hat, die Paris zu dem Urteil führen, Diez habe Grimm in puncto Wissenschaftlichkeit und Methodenstrenge noch übertroffen: 216 Jacob Grimm, qu'une érudition immense, une grande pénétration, une haute intelligence du génie des nations et des langues, ont fait placer à bon droit au premier rang des philologues, pèche quelquefois par trop d'imagination et de subtilité, plus souvent par la confusion et un entassement d'idées et de faits qui rend la lecture de ses livres extrêmement pénible. M. Diez a porté plus d'ordre dans la disposition de ses matériaux; il a mieux digéré sa science et l'a rendue plus facilement abordable; enfin il a plus sévèrement subordonné son imagination à son observation, et n'a jamais demandé qu'aux faits eux-mêmes leur explication logique. Je cite encore ses propres paroles: ‛Les faits sont mon seul sujet; je les rassemble et je les juge aussi bien qu'il m'est possible, voilà tout. J'ai expressément évité toute recherche qui n'aurait pu donner que des résultats hypothétiques; ainsi j'ai renoncé à expliquer la manière dont les langues romanes se sont formées du latin.’ Ce parti pris de ne jamais se laisser aller à des idées séduisantes, mais seulement probables, donne aux travaux de M. Diez une sûreté et une solidité qui en font la base inébranlable de la philologie romane. (Paris 1863: XVII) 217 Neben dem Beschwören eines Gründungsmythos Friedrich Diez evoziert Paris noch einen weiteren wichtigen Wissensrahmen: Die Bereitstellung einer als objektiv geltenden Methode als solide Basis einer Wissenschaft ,Philologie‘ 218 , die durch Friedrich Diez als Voraussetzung für die Legitimation der Romanischen Philologie bereitgestellt wurde. Die Gangart der aposteriorischen Forschungsmethode wird dabei zur Messlatte der modern-objektiven Wissenschaftlichkeit der Disziplin erhoben: Eine messbare 215 Im Bereich der sprachwissenschaftlichen Arbeiten Diez’ sind programmatische Äußerungen über Methode, Gegenstand und Disziplin noch weniger greifbar als im Bereich seiner literarphilologischen Arbeiten. Daher ist es für die Analyse des Diezschen Werkes unabdingbar, auf Äußerungen seiner Zeitgenossen zurückzugreifen. Dass dabei bisweilen Verklärungen durch Lehrer-Schüler-Verhältnisse auftreten, wird bei der Auswertung berücksichtigt. 216 Vgl. hierzu die entgegensetzte Meinung Nicols in seinem Nachruf auf Diez (Nicol 1876: 558). Als Schüler Diezens klingt bei Paris in der Bewertung des „Meisters“ eventuell ein wenig glorifizierende Bewunderung mit. 217 Paris spielt hier auf den Vorwurf gegenüber Grimm an, seine Sprachtheorien seien zu mythologisierend, vgl. hierzu Janota 1980: 26/ 25. 218 Hier sei noch einmal an die nahezu synonyme Verwendung der Begriffe ,philologie’ und ,linguistique comparée’ im französischsprachigen Raum erinnert. Paris bezieht sich mit dieser Methodenforderung vermutlich auf das Vorbild der sprachwissenschaftlichen Arbeiten Diezens. Die Diskursformationen der Neuphilologien 320 Faktenlage sichert beweisbare Erkenntnisse in Form einer deskriptiven Auswertung direkt beobachtbarer Phänomene. Reflexionen über die Angemessenheit der Herangehensweise gegenüber einem Forschungsgegenstand, der sich qua seiner Beschaffenheit der Kontrolle durch empirische Instrumentarien letztlich entzieht, werden angesichts der eindimensionalen Ausrichtung des hier etablierten positivistischen Forschungsprogrammes ausgeblendet. 219 Offenkundig hat Diez in seinen sprachwissenschaftlichen Arbeiten den Übergang zu einem szientistischen Wissenschaftsbegriff vollzogen. In der Konsequenz seiner Überlegungen, legt er denn auch die, als streng wissenschaftlich anerkannte, historisch-komparative Methode seiner Grammatik zugrunde, hier beruft sich Diez auf sein Vorbild Grimm: Gegenwärtiges Buch ist einem auch durch geographische Ausbreitung und litterarische Bildung sich empfehlenden Gebiete gewidmet und hat vornehmlich den practischen Zweck, das wissenschaftliche auf die Ursachen der Erscheinungen achtende Studium sowohl einzelner wie aller dahin gehöriger Sprachen zu fördern. Die Bedeutung der historischen Grammatik hat sich neuerlich durch ihre eben so gelehrte als sinnvolle Anwendung auf die deutschen Sprachen erst recht hervorgehoben und auch von andern Seiten ist diese Wissenschaft durch wichtige Beobachtungen bereichert worden. (Diez 1836: III) Empirisch-methodische Nachvollziehbarkeit ist das Ziel der methodischen Überlegungen Diez’ nur was über die Anwendung logischer Gesetze und einer kontrollierbaren Methode erklärbar wird, kann auch dargestellt werden - dabei stößt die Forschung, das gibt Diez offen zu, auch an ihre Grenzen: […] der Genius, welcher Sprachen schafft und umbildet, ist uns freilich nicht in allen seinen Regungen erkennbar, allein der Verstand dringt auf sinnliche Anschauung, so weit ihre Möglichkeit gegeben ist. (Diez 1836: III) Diez scheint, ähnlich wie Grimm, implizit eine Trennung zwischen sprachwissenschaftlicher und philologischer Forschung aufzumachen. Methode und Ergebnisse legitimiert er über die Einhaltung der linguistischen Methode, den Gegenstand seiner Forschung aber philologisch: Die Untersuchung des Stoffes zumal, die, soweit er unrömisch […] trägt einen besonderen Reiz in sich; […] Mit diesen Bestandtheilen je ganz ins Reine zu kommen, wird man verzweifeln und am Ende gestehen müssen, daß das romanische Gebiet außer dem, was ihm später von verschiedenen Seiten zugeflossen, noch ansehnliche Reste vorrömischer Landessprachen be- 219 So erklärt sich auch, warum Diez in seiner Grammatik auf eine Interpretation der Entstehung der romanischen Sprachen vor einem kulturell-anthropologischen Hintergrund verzichtet. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 321 wahre, ein Geständnis, welches ihm eine gewisse philologische Bedeutsamkeit sichern muss. (Diez 1816: V) Auch in Bezug auf die Sprachenwahl - Diez hat das Provenzalische nach wie vor im Blick - argumentiert Diez mit dem philologischen Wert des Gegenstandes: In Betreff der von mir behandelten sechs Sprachen könnte man die Frage erheben, mit welchem Rechte die veraltete provenzalische den übrigen zur Seite gestellt werden durfte? Hierauf bemerke ich nur, daß diese aus der Litteratur verdrängte Mundart, da sie noch immer als cultiviertes und nicht unedles Volksidiom einen großen und schönen Theil des romanischen Europas inne hat, gerechte Ansprüche auf unsre Rücksicht zu haben schien […]. (Diez 1816: V) Diese zweifache Argumentationsstruktur lässt sich als ein deutlicher Hinweis auf das Auseinanderbrechen der bisher gerne postulierten Einheit der Romanischen Philologie lesen (Blauth-Henke/ Wolf 2011: 60). Sprachwissenschaftliche und philologische Forschung haben unterschiedliche Zielsetzungen, möglicherweise ist hier der Einfluss des Vorbilds Jakob Grimm auf Diez für diese Parallele, Sprachwissenschaft und Philologie als getrennte Disziplinen in ihren Konzeptionen zu betrachten, federführend (vgl. Richert 1914: 74/ 75). Was nun die sprachwissenschaftliche Forschung Friedrich Diez’ betrifft, so wird vor allem diese als Gründungsakt der Wissenschaft ,Romanische Philologie‘ bezeichnet, da sich über sie die „[vorwissenschaftlichen; J.W.] Böcke von den Schafen scheiden“ (Niederehe 1976: 23). Die Applikation der historisch-vergleichenden Methode nicht nur auf das Gebiet der Grammatik, hier war Diez ja lediglich ein „Nachahmer“ Grimms oder Bopps, sondern vor allem auch auf dem Gebiet der Etymologie zeichnet für das neue Verständnis von Wissenschaft, das auf die Romanische Philologie nun ebenso anwendbar ist wie auf die Germanistik oder die historischvergleichende Sprachwissenschaft, verantwortlich. Über diese nunmehr vorhandenen m e t h o d i s c h e n Kriterien zur Überprüfung der Wissenschaftlichkeit von Forschungsergebnissen kann die vorwissenschaftliche von der eigentlich wissenschaftlichen Romanischen Philologie unterschieden werden (Niederehe 1976: 22/ 23). Die Vorarbeiten auf dem Gebiet der Romanischen Philologie, beispielsweise in Gestalt Diefenbachs 220 , zeigen, dass es sich hier nicht um eine plötzliche Zäsur, sondern um einen Über- 220 Diez hat seinen Kollegen Diefenbach geschätzt, die Widmung der Grammatik an Diefenbach impliziert möglicherweise, dass Diez dessen methodische Vorarbeiten, in denen er Stringenz und Systematik in der Anwendung vermisste, fortführen wollte, um so die vorwissenschaftlichen Arbeiten in wissenschaftliche zu überführen (vgl. Diez 1831; vgl. zum Verhältnis Diez-Diefenbach Storost 2008; zur durch Diez’ Arbeiten verursachten Zäsur vgl. Niederehe 1976; Hausmann 1998a, 1998b). Die Diskursformationen der Neuphilologien 322 gang handelte, in dem sich verschiedene Diskursformationen im Begriffsfeld ,Wissenschaft‘ mischten und überlagerten. Diez selbst war sich der Tragweite seines Vorgehens vermutlich bewusst, wenn er im Etymologischen Wörterbuch ausführt: Die aufgabe der etymologie ist, ein gegebenes wort auf seinen ursprung zurückzuführen. Die zur lösung dieser aufgabe angewandte methode ist aber nicht überall dieselbe: leicht läßt sich eine critische und eine uncritische wahrnehmen. Die uncritische nimmt ihre deutungen auf gut glück aus einer äußerlichen ähnlichkeit der form, oder erzwingt sie bei geringerer ähnlichkeit, ja selbst bei gänzlicher Verschiedenheit derselben, durch eine reihe willkürlich geschaffener mittelglieder. Ein in seinem grundsatze so fehlerhaftes verfahren, dessen ungeachtet doch da, wo witz und divinationsgabe nicht fehlten, mancher treffliche wurf gelang, haben bei vielen die ganze etymologische kunst in miscredit gebracht, während sie sich andern durch die leichtigkeit ihrer ausübung, wozu sich jeder ohne beruf und vorbereitung aufgelegt fühlte, empfahl. Jene irren in ihrer abneigung, diese in ihrer zuneigung. Im gegensatze zur uncritischen methode unterwirft sich die critische schlechthin den von der lautlehre aufgefundenen principien und regeln ohne einen fußbreit davon abzugehen, sofern nicht klare thatsächliche ausnahmen dazu nöthigen; […]. (Diez 1853: III) Erneut trifft man auf die Forderung nach einer strengen Einhaltung der wissenschaftlichen Regeln bei der Anwendung der Methode. Aber auch wie schon in der Grammatik versäumt Diez es nicht, auf die Grenzen, die der Wissenschaft durch dieses Prinzip auferlegt werden, hinzuweisen. Die Übertragung der sprachwissenschaftlichen Prozesse auf philologische Forschungsarbeiten impliziert die Herausbildung eines Funktionssystems ,Wissenschaft‘ 221 , in dessen Rahmen Erkenntnis methodisch generiert, deren Bedeutung für die Gesellschaft innerhalb des Systems aber nicht mehr im Sinne einer Beteiligung an der ars vitae ausgelegt werden. Denn weiter heißt es: […] sie bestrebt sich dem genius der sprache auf der spur zu folgen, ihm seine geheimnisse abzugewinnen; sie wägt jeden buchstaben und sucht den ihm in jeder Stellung zukommenden werth zu ermitteln. Und doch, wie wenig vermag sie oft, wie zweifelhaft sind ihre erfolge. Das höchste, was der etymologe erreicht, ist das bewustsein wissenschaftlich gehandelt zu haben; für absolute gewissheit hat er keine gewähr, eine unbedeutende notiz kann ihm das mühsam erworbene zu seiner beschämung unversehens unter den füßen wegziehen. (Diez 1853: III/ IV) Das Verdienst des Wissenschaftlers liegt in dem Wissen, unter Anwendung der kritischen Methode nachvollziehbare und falsifizierbare Ergebnisse zu 221 Vgl. zum Systembegriff Luhmann 1984, zur Beziehung zwischen Gesellschaft und wissenschaftlichen Funktionssystemen vgl. Stichweh 1988. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 323 liefern. Der Anspruch auf die Bereitstellung von Wahrheit im Sinne eines Bildungsauftrags gegenüber der Gesellschaft ist hier nicht mehr erkennbar. Diez kommt zu dem Schluss, dass Romanische Philologie respektive Sprachwissenschaft nur dann als Wissenschaft ernst genommen werden kann, wenn sie stringent und in voller Konsequenz auf die historisch-vergleichende Methode rekurriert: Etwas habe ich durch vieljährige erfahrung auf diesem gebiete gelernt, was sich zwar von selbst versteht, aber nicht von allen verstanden sein will: daß zu wissenschaftlich sicherem urtheile sich nur der durcharbeitet, der den gesammten wortvorrath der sprache bis in ihre mundarten hinein zu bewältigen nicht ermüdet. Wer nicht so weit vorzudringen lust hat, der beklage sich nicht, wenn er jeden augenblick den boden verliert. Es ist kein wunder, wenn manche auf andern Sprachgebieten ausgezeichnete forscher auf dem romanischen so oft fehlgreifen, da sie nur das einzelne in einer bestimmten gestalt auffassen ohne seine geschichte und seine beziehungen nach allen seiten hin erkannt zu haben. (Diez 1853: IV) Trotz dieser positivistischen Auffassung von Wissenschaft bleibt die sprachwissenschaftliche Forschung bei Diez eine der Geschichtlichkeit verpflichtete Disziplin. So spricht Diez vom „Fünkchen des Geistes“ der Substrate, das im Französischen weiterlebe (Diez 1853: XVII) oder von den „kleinen Gefühlsäußerungen der Sprache“, die sich in unregelmäßigen Lautentwicklungen zeigten (Diez 1853: XIX). Auch hier lässt sich ein Hinweis auf das Auseinanderbrechen der imaginierten Einheit ,Romanische Philologie‘ erkennen: Die sprachwissenschaftliche Forschung stellt das Instrumentarium zur Verfügung, das die Philologie dann für ihre Studien benötigt, um in ihnen ebenso methodisch gesicherte Ergebnisse vorlegen zu können wie erstere. Die Forderungen an literarphilologische Arbeiten auf dem Gebiet der romanischen Sprachen, die in Diezens Troubadoureditionen zu Tage traten, werden hier wiederholt: Applikation der kritischvergleichenden Methode sowie eine möglichst umfassende Sichtung der Quellen. 222 Dieses Verständnis von wissenschaftlichem Arbeiten zieht sich als eine Art roter Faden durch das Diezsche Werk, die Anwendung dieser Prinzipien - es sei an Diezens bisweilen sehr freie und kreative Übersetzungen erinnert - weist allerdings auf den so oft postulierten Bruch hin. Erklärbar wird diese Abwendung von einer Philologie, in die noch künstlerische wie spekulative Elemente integriert sind, vor dem Wechsel im Dominanzverhältnis eines hermeneutisch-idealistisch versus positivistischmaterialistisch gefassten Wissenschaftsbegriffes; dieser Wechsel schlägt sich sowohl in der Grammatik als auch im Etymologischen Wörterbuch nieder. 222 „Dazu muß man alle quellen der lateinischen sprache benutzen, denn die romanische birgt mehr alterthümliches oder verschollenes in sich, als man ihr obenhin angesehen zutrauen möchte […].“ (Diez 1853: XVII) Die Diskursformationen der Neuphilologien 324 Ab diesem Zeitpunkt, dem Erscheinen der Grammatik der romanischen Sprachen und des Etymologischen Wörterbuch der romanischen Sprachen, stellt Hausmann denn auch das Vorhandensein einer disziplinären Matrix für die Romanische Philologie fest, die er als „Diezsches Paradigma“ bezeichnet (Hausmann 1998b: 453). Dieses Paradigma fasst er „als Editionswissenschaft und Abart der vergleichenden Sprachwissenschaft” (Hausmann 1998b: 453). Ihm wird das „idealistische Paradigma“ Vosslers quasi entgegengesetzt, das eine Wende markiere (Hausmann 1998: 456). Dabei wird der Rückbezug in Vosslers idealistischer Philologiekonzeption auf die hermeneutisch-idealistische Tradition, deren Sprachtheorie durchaus mystisch aufgeladene Elemente enthielt, nicht deutlich. Das von Hausmann beschriebene „gegabelte Denken“, in dem sich eine empirisch-positivistische und eine idealistisch-ästhetische Denkweise (Hausmann 1998b: 457) gegenüberstehen, ist vom Zeitpunkt ihrer Begründung integraler Bestandteil der Neuphilologien, real fassbar wird es in den Abspaltungsprozessen der einzelnen Disziplinen aus dem Gesamtkomplex Philologie, für die Diez exemplarisch lesbar ist. Das Urteil Hausmanns, zwischen den beiden von ihm distinguierten Paradigmen sei die integrativ-komparatistische Ausrichtung die einzige Gemeinsamkeit 223 , ist dahingehend zu revidieren, dass sich im Begriff der Philologie beide Paradigmen von Anfang an manifestieren und Vossler auf Diskurselemente zurückgreifen kann, die in der hermeneutischen Tradition der Philologien von ihren Anfängen bei Wolf und Boeckh über Diez bis hin zu Gröber oder Tobler in der Konzeption der Philologie als einer partizipativen Verstehenswissenschaft als Gegenfolie zu einer, von der techné dominierten Editionsphilologie immer schon vorhanden waren. So spiegelt der Bruch in Diezens Schaffensphase zwar sicherlich biographische Zäsuren der eigenen Identitätsfindung wider (vgl. Gumbrecht 1984), er kann aber auch interpretiert werden als Teil des identitären Prozesses der Romanischen Philologie, der sich sowohl im Spannungsfeld eines sich wandelnden Erkenntnisideals sowie in epistemologischen Verschiebungen im Verständnis von Wissen und Wissenschaft vollzieht. 224 Auf diesen pluridimensionalen Ausdifferenzierungsprozess der Romanischen Philologie - zwischen partizipativer Verstehenswissenschaft (Textphilologie), Editionsphilologie und (szientistischer) Sprachwissenschaft - weisen auch die Konzeptionen von Philologie der Nachfolger 223 „Den beiden genannten Paradigmen ist gemeinsam, daß sie, soweit die Romanistik betroffen ist, integrativ und komparatistisch orientiert sind. Während Diez sich um die Textgestalt bemüht, will Vossler die ästhetische Wertigkeit der Texte erkennen, arbeitet überwiegend intratextuell, zieht aber durchaus geistesgeschichtliche Parallelen zu anderen Wissens- und Erkenntniszweigen. Insofern sind auch transtextuelle Deutungsverfahren bei ihm angelegt.“ (Hausmann 1998: 457/ 458) 224 Vgl. hierzu auch Stierle 1979, Gumbrecht 1984, Hausmann 1998b, Selig 2005, Selig/ Oesterreicher 2009. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 325 Diezens hin, die im Folgenden auf ihre Mehrschichtigkeit hin befragt werden sollen. 5.4.3 Karl Bartsch (1832-1888) und die Tradition der Editionsphilologie Hatte die Romanische Philologie mit den sprachwissenschaftlichen Arbeiten Friedrich Diez‘ nun also eine methodische Basis zu ihrer Legitimation als autonome moderne Wissenschaft erhalten, so galt es in der Folge, diese auf universitärer Ebene im Fach Romanische Philologie umzusetzen. Dies wurde vor allem über einen Forscher erreicht, der zwar kein ausgewiesener Romanist, aber als Mediävist doch ein profunder Kenner der mittelalterlichen Sprache und Literatur der romanischen Kulturen (Französisch und Provenzalisch) war. Karl Bartsch, dies deuten die Ausführungen Dieter Seitzens an, kann, zumindest in einer auf die Methode konzentrierten Perspektive, als Symbol für den Prozess von Philologisierung gelesen werden, der die Philologie im Laufe des fortschreitenden akademischen Etablierungsprozesses, sowohl auf institutioneller als auch auf inhaltlich-methodischer Ebene, immer weiter von Fragen, die Gesellschaft und die Kulturpolitik betreffend, entfernte (Seitz 2000: 47). Zu verorten ist Karl Bartsch wissenschaftstheoretisch als Fortsetzer der Lachmannschen Editionsphilologie und -methode. So liegt auch der Schwerpunkt seiner Forschungs- und Publikationstätigkeit im Bereich der Textkritik, allerdings geht er im Rahmen seiner Editionsphilosophie nicht immer mit der Lachmannschen Überzeugung konform. Hintergrund der Editionstätigkeiten von Karl Bartsch bildet der sogenannte „Nibelungenstreit“, in dessen Zentrum die Frage nach dem historischen Stellenwert des Textes innerhalb einer Textfiliation, die Diskussion um die philologische Methode sowie die Aufgabe philologischer Editionstätigkeit stehen. 225 Bartschs Position in diesem Streit lässt eine weitere Dimension der Perspektivierung seiner Tätigkeit zu: In dieser erweist sich Bartsch auch als Symbol einer Philologie, die ihren „Sitz im Leben“ behaupten will und Anteil an kulturpolitischen wie soziohistorischen Fragestellungen der Gesellschaft nimmt und sich eben nicht in den universitären Elfenbeinturm flüchtet (Seitz 2000: 51/ 52). Karl Bartsch ist einer der wenigen Germanisten, der romanistische Forschungen betreibt, seine Vielseitigkeit wird in Würdigungen und Nekrologen gerne hervorgehoben (Bechstein 1888: 68). Zudem hatte Bartsch ab 1871 das Ordinariat für germanische und altromanische Sprache und Literatur in Heidelberg inne. Bartsch, der, wie bereits erwähnt, mehr Mediävist als Germanist oder Romanist ist, zeigt sich überzeugt von der guten Ver- 225 Vgl. zum Nibelungenstreit und dessen Bedeutung für die Umstrukturierung der Germanistik im 19. Jahrhundert z.B. Kolk 1994: 84-97, ebenso Kapitel 3.3.2. Die Diskursformationen der Neuphilologien 326 einbarkeit Germanischer und Romanischer Philologie, wobei er sich wohl vor allem auf den Bereich der Mittelalterforschung bezieht: […] trotz mancher Versuche, eine besondere Sektion für neuere Sprachen zu gründen [d.h. eine eigene Sektion der neueren Sprachen auf der Philologenversammlung; J.W.], haben bis jetzt die Romanisten redlich mit den Germanisten zusammengehalten. (Bartsch 1883: 235) Diese Überzeugung und seine wissenschaftlichen Tätigkeiten auf dem Gebiet der provenzalischen und altfranzösischen Forschung sind wohl auch der Grund, warum über seine Person die Rezeption einschließlich der divergierenden Positionen um Lachmanns editionsphilologische Methode innerhalb der Konstitution der Romanischen Philologie rezipiert wird. Vor der Folie des Nibelungenstreites entpuppt sich die Frage, ob sich philologische Editionen rein an ein wissenschaftliches Fachpublikum zu wenden haben - das heißt, der wissenschaftliche Kommentar übernimmt innerhalb der Ausgabe die wichtigste Rolle - als eine grundlegende Herausforderung für die philologische Editionsarbeit und -forschung. Die Verbreitung des Inhalts gegenüber einem breiteren Publikum als Ziel und Aufgabe philologischer Editionstätigkeit, mit der der Bildungsauftrag der Philologie spätestens seit Friedrich Wolf integral verbunden war, tritt in der Lachmannschen Konzeption in den Hintergrund. Die Frage, welchen Beitrag philologische Forschung zur Erfassung der Sinnkohärenz der Menschheitsgeschichte zu leisten habe, rückt ebenfalls aus dem Blickfeld der Wissenschaftler. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die mechanische und dadurch objektive Normierung der Texte (Hunger 1987: 61). Philologie verliert in der Lachmannschen Fassung als reine Editionswissenschaft ihre Anbindung an die wie auch ihre ethische Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft und wird zu einer Angelegenheit für den Spezialistendiskurs „intra muros“ (Janota 1980: 44/ 45). 1868 übernimmt Karl Bartsch nach Franz Pfeiffers Tod die Herausgabe der Zeitschrift Germania - ein erster Hinweis auf seine Stellungnahme in der Frage inwieweit die wissenschaftliche Diskussion um die „richtige Stelle“ zugunsten einer größeren Partizipationsmöglichkeit beschnitten werden dürfe. Denn, wie bereits Pfeiffer, bemüht sich Bartsch hier um eine vermittelnde Stellung innerhalb des Scharmützels, das sich die Lager innerhalb der Deutschen Philologie liefern und spricht sich für ein Bewusstsein des historischen Auftrags der Philologie - Bartsch fokussiert hier in erster Linie auf Editionstätigkeiten - aus. Deutlich wird sein Anliegen, das in dieser Form auch auf die Romanische Philologie zu übertragen ist, die Texte als Speicher der Geschichte der Völker nicht nur dem Spezialisten als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung zugänglich zu machen, sondern bei der Herausgabe an eine breitere Gesellschaftsschicht zu denken. Sehr klar zeigt sich bei Bartsch allerdings auch, dass er eine bestimmte Zielgruppe vor Augen hat. Seine Editionen wenden sich, ähnlich wie bereits Franz Romanische Philologie als Fachwissenschaft 327 Pfeiffer formuliert hatte, an eine gebildete Schicht 226 , der die Textzeugen vergangener Epochen als Bildungsgut zugänglich gemacht werden müssten: Der Wunsch des Herausgebers ist, daß seine Bemühungen um Reinigung und Erklärung des schönen Gedichts dazu beitragen möchten, demselben eine größere Verbreitung zu verschaffen, als es bisher genoß. Wir haben schon eine Reihe von Übersetzungen der Kudrun, und darunter einige recht gute und lesbare; aber daß sie das Original ersetzen können, wird wohl niemand glauben. Wenn die Schwierigkeiten, die sich dem Verständniss der Originale entgegenstellen, mehr und mehr gehoben werden, dann dürfen wir hoffen, daß unsere ältere Poesie ein Gemeingut der Gebildeten unsers Volks werde; und diesen Zweck zu fördern, ist der Gesichtspunkt, der bei dem Beginne dieser Sammlung, der auch den Herausgeber des vorliegenden Gedichts geleitet hat. (Bartsch 1867: XXIV) 227 Der Textausschnitt evoziert ein Schlagwort, das Karl Bartsch sofort innerhalb eines bestimmten Diskursstranges verortet: „Öffentlichkeitsbezogene Forschungsarbeit“ heißt das Losungswort der Fraktion um die Zeitschrift Germania, was deren Herausgeber Franz Pfeiffer und Karl Bartsch als Prinzip auch in ihren Editionen mittelalterlicher Texte betonten und anwendeten (Janota 1980: 45) und damit in Opposition zur Gegenseite standen, die den Kommentar als wichtigste Funktion innerhalb einer Edition betrachtete. Karl Bartsch übertrug daher nicht nur eine wissenschaftliche Editionsmethode in die romanistische Forschung, sondern erweist sich auch als Garant für die Beibehaltung der Dimension der Philologie, die Partizipationsangebote an die Gesellschaft formulierte. 228 Bartsch zeigt sich in der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung der philologischen Forschung als ein Vermittler zwischen wissenschaftlicher Fachkultur und Bildungsan- 226 Vgl. zur Bedeutung der gebildeten Schicht als Adressatenkreis der Germanistik v.a. Janota 1980: 45/ 46. Interessant ist dabei die Beobachtung Janotas, dass die Germanistik über die Verschiebung ihrer Zielsetzung - die Bildung des nationalen Bewusstseins stand nicht mehr im Vordergrund - in wesentlich größere Konkurrenz zur Altphilologie trat als zuvor, wenn es sich um die Garantie des sozialen Aufstiegs durch Bildung handelte (Janota 1980: 49/ 50). 227 In der zweiten Auflage wird die Bedeutung der Annäherung an die Originalquelle noch stärker betont: „In dieser zweiten Auflage ist der Text an manchen Stellen noch mehr der Überlieferung genähert worden als in der ersten.“ (Bartsch ²1867: XXXIV) 228 Bartsch hatte vermutlich erkannt, dass eine Aufspaltung in verschiedene Schulen die Germanistik in ihrer Entwicklung zu einem etablierten und vor allem erfolgreichen universitären Fach behindern würde. Eindringlich warnte er vor einer Zersplitterung in disziplinäre Subkulturen, die die Akzeptanz des Faches in der Gesellschaft nachhaltig erschüttern könnten. So ist seine ausgleichende Haltung wohl mit ein Resultat des Versuchs, das eigene Fach als eine Gemeinschaft von Forschern, die letztlich das gleiche Ziel vor Augen haben, vor diskursiven Übergriffen sowohl von innen als auch von außen zu schützen (vgl. Kolk 1980: 71). Die Diskursformationen der Neuphilologien 328 gebot und betont den Aspekt der Zugänglichkeit der aus den Sprachdenkmälern gewonnenen historischen Erkenntnisse. Wesentlich stärker scheint die Lachmann-Rezeption auf Bartschs Konzeption der Philologie als universitäres Fach gewirkt zu haben. 229 Für das Studium der Philologie plädiert Bartsch zugunsten einer stärkeren Konzentration auf die Methode. 230 Der Akzent in der Lehrerbildung sei ganz klar auf die methodische Perspektive, weniger auf die pädagogischdidaktische Komponente des Studiums zu legen (Bartsch 1883: 239). Das Ziel des philologischen Seminars müsse in erster Linie der Erwerb der „philologischen Methode, Gewöhnung an philologisches Denken“ sein (Ebd.). So überträgt Bartsch nicht nur die Anwendung der Editionsprinzipien Lachmanns auf die Romanische Philologie, indem er provenzalische und altfranzösische Texte nach deren Vorbild ediert, vielmehr wird er gleichermaßen auch zur Schnittstelle der Wende in der Ausbildung der künftigen Lehrer, da er die neue Akzentuierung auf die methodische Ausbildung in das Studium der Romanischen Philologie nach Vorbild der Germanistik überführt. 231 Bartsch spricht sich in diesem Punkt eindeutig für eine Bevorzugung der „gelehrten Ausbildung der jungen Philologen“ vor der „pädagogischen Schuldung der künftigen Lehrer“ aus (Bartsch 1882: 239). Sicherlich sei das praktische Beherrschen der Fremdsprache ein wichtiges Kriterium eines guten Lehrers und Philologen (Bartsch 1883: 240), wichtiger sei aber die Denkschule, die über die Vermittlung der philologischen Methode erfolge (Bartsch 1883: 242). Bartsch orientiert sich hier 229 Die Wendung zur Diskussion, dass der Studierende nun vor allem in der Methode ausgebildet werden solle, spiegelt auf inhaltlicher Ebene den Institutionalisierungsprozess wider. Bartsch 1883: 234 betont, dass Legitimationsfragen die neueren Sprachen betreffend nun endgültig geklärt seien und auf universitärer Ebene ein erweiterter Begriff von Philologie vorläge. Damit kann sich die Institutionalisierungs- und Fachpolitik anderen inhaltlichen Belangen zuwenden und muss ihren Gegenstand als einen wissenschaftlichen Gegenstand nicht mehr verteidigen. 230 Kolk 1989: 55/ 56 verzeichnet es als einen der großen Verdienste Lachmanns, dass die Ausbildung der Studenten der Philologie eine Wendung zur Konzentration auf die methodische Ausbildung erfuhr. Das Beherrschen der Methode rückte in den Vordergrund, das Ansammeln von Kenntnissen geriet ins Hintertreffen. Prägnant äußert sich Lachmann über die Bedeutung der Methode. Nur die praktische Sicherheit in der Handhabung textkritischer Verfahren bewahre die Studenten vor Spekulation und unhaltbarer Hypothesenbildung: „Denn Klarheit vor Allem forderte Lachmann, sicheres Bewusstsein von den Gränzen des eigenen Wissens. Jedes Rathen, Tasten, Raisonniren über halbgewusste Facta war ihm verhaßt. [...] Er trug daher auch kein Bedenken gelegentlich sein Nichtwissen auszusprechen, einen Irrthum anzuerkennen, von einem Seminaristen Belehrung anzunehmen. Aber Faselei und vorlauten und naseweisen Dünkel wies er mit eben der Unbarmherzigkeit zurück, als umhertappendes Halbwissen: ‚Solche Bursche‘, meinte er, ‚muss man kappen‘.“ (zit. nach Kolk 1989: 56) 231 Vgl. zu dieser Rolle Bartschs bei der Institutionalisierung der Philologie z.B. Kalkhoff 2010: 245; 266. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 329 klar am Humboldtschen Bildungsideal, über die forschende Beschäftigung mit dem Gegenstand bilde der Geist des Individuums sich aus. So gelange der Studierende zu einer allseitigen Beherrschung seines Faches, das heißt seiner Fachmethode (Bartsch 1883: 244). Denn das erste Ziel des universitären Studiums der Philologie sei schließlich: Methodisch denken und arbeiten ist ja das, was alles wissenschaftliche Lehren und Lernen erstrebt, was mithin auch die Hauptaufgabe jeder seminaristischen Thätigkeit sein muss. (Bartsch 1883: 245) Karl Bartsch liefert möglicherweise keine neuen Elemente innerhalb des Panoramas an philologischen Konzeptionen, wie sie von der Romanischen Philologie rezipiert und teilweise aufgenommen werden - seine vermittelnde Position in der Frage, ob philologische Forschung stets an gesellschaftliche Bedürfnisse rückgekoppelt sein müsse, steht ja in der Tradition Franz Pfeiffers und führt somit dieses Diskurselement lediglich fort. Für die Romanische Philologie hat er dennoch eine zweifache Bedeutung: Die Implementierung der Editionsmethode Karl Lachmanns sowie die damit verbundene Neuakzentuierung auf die methodische Ausbildung der Studierenden der philologischen Fächer innerhalb der Romanischen Philologie sind, auf institutioneller Ebene und in Bezug auf die Editionsphilologie, sicherlich größtenteils sein Verdienst (vgl. Kalkhoff 2010: 245; 266). Dies ist jedoch nur ein Teil der Transferfunktion Bartschs. Gleichzeitig transferiert er auch sein Bewusstsein für die ethische Verpflichtung der Philologie gegenüber der Gesellschaft als ein Element, das die Philologie eben nicht in den, vor allem heutzutage vielbeschworenen, Elfenbeinturm führt, in dem Philologie nur mehr als reiner Selbstzweck betrieben wird. 5.4.4 Gustav Gröber (1844-1911) und der „geteilte Gegenstand“ Gustav Gröber entwirft 1888 seinen Grundriss der romanischen Philologie mit einem ungleich höheren Anspruch als beispielsweise Gustav Körting seine Encyclopädie: Gröbers Ziel ist es, das kollektive Gedächtnis der Romanischen Philologie für die wissenschaftliche Expertenwelt zu verfassen. Bezüge zu Schule und Universität spielen dabei keine Rolle, Romanische Philologie soll in ihrer Entwicklung dargestellt und vor diesem historischen Hintergrund ihre Wissenschaftlichkeit herausgehoben werden, die sie nun nicht nur als den anderen Wissenschaften ebenbürtig, sondern - und das wird vor allem in der zweiten Auflage deutlich - auch durchaus als Konkurrenz erscheinen lässt. Gröber versammelt in seinem Grundriss die angesehenen Fachgelehrten seiner Zeit: Gottfried Baist, Harry Bresslau, Tommaseo Casini, Friedrich Kluge, Hermann Suchier, Adolf Tobler, Wilhelm Windelband oder Ernst Windisch, um nur einige der prominenten Namen zu nennen. Das Werk hat Monumentalcharakter - nicht nur bildet es die gesamte Entwicklung der Romanischen Philologie ab, es vereint in sich Die Diskursformationen der Neuphilologien 330 auch die einzelnen Disziplinen in ihrer Aufgabenstellung und Methodik. Doch Gröber beschränkt sich nicht nur auf die Disziplinen des eigenen Faches. Um den Charakter und den Eigenwert der Romanischen Philologie als Wissenschaft deutlich hervorzuheben, nimmt er auch die „Grenzwissenschaften“ wie beispielsweise die Geschichte sowie die Kultur- und die Kunstgeschichte der romanischen Völker mit auf. Das ist programmatisch als Absage an die Universalphilologie zu lesen - Gröber konzipiert die Romanische Philologie als Einzelwissenschaft mit einem allerdings breit gesteckten Objektbereich: Sie umfasst alle romanischen Sprachen sowie die Disziplinen Sprachwissenschaft, Philologie als Text- und Editionswissenschaft, außerdem, ab der zweiten Auflage, Literaturgeschichte. Der Grundriss markiert gleichzeitig einen Höhe- und einen Wendepunkt für den Begriff der Romanischen Philologie. Zum ersten Mal versucht ein Romanist alle Leistungen seiner Wissenschaft für die Fachkollegen zusammenzufassen und stellt damit der Expertengesellschaft ein imposantes Kompendium der Wissensvorräte der Romanischen Philologie zur Verfügung. Zu Recht wird der Grundriss als Meilenstein in der Entwicklung der Romanischen Philologie bezeichnet werden. 232 Aber er spiegelt auch den Preis, den die Institutionalisierung diese gekostet hat: Romanische Philologie als wissenschaftliches System schließt sich und verliert so ihre ethische Verpflichtung wie auch ihre pädagogische Verantwortung. Von beiden Konzepten wird sich Gustav Gröber in seinem Grundriss verabschieden, um den zu seiner Zeit geltenden Kriterien der Wissenschaftlichkeit genüge zu leisten. Der Begriff der Philologie, wie Wolf Stempel nicht ohne Bedauern formuliert, bildet hier in der Tat nur mehr einen Bezugsrahmen für den Verbund unterschiedlicher Disziplinen, er selbst wirkt dabei tatsächlich nur mehr als Band, mit dem Sprach- und Literaturforschung zusammengeklammert werden (Stempel 1988: 45). Die zweite Auflage des Grundriss der romanischen Philologie (1904-06) von Gustav Gröber markiert einen vorläufigen Endpunkt des bisher aufgezeigten Stationenlaufs der Romanischen Philologie in ihrer Identitätsfindung. Hier erscheint sie nun endgültig als eine von aller spekulativen Intuition gereinigte Geschichtswissenschaft, die allerdings durch strenge Objektivität ihrer Methoden durchaus noch eine Nähe zu den Naturwissenschaften aufweist. Damit scheint Gröber auch die Frage nach ihrem Verhältnis zur historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft positiv umzulenken und so endgültig zu beantworten. Selig 2005 spricht in diesem Zusammenhang von einer “Zwischenstellung“ Gröbers: Gröber stehe sozusagen zwischen dem Wolfschen Modell und den Anforderungen einer modernen autonomen Wissenschaft (Selig 2005: 301). Mit der Gröberschen Herausnahme der Pädagogik aus der Philologie hat deren Verwissenschaftlichung jedoch einen Höhepunkt erreicht, der die Diskursformation 232 So kündigt das Romanische Jahrbuch 1985 die Neuauflage des Grundriss an. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 331 Philologie derart beeinflusst, dass von einem Dominanzwechsel innerhalb der bis dahin bestehenden Diskursformationen um den Begriff der Methode auszugehen ist. Die Diskussion um eine Synthese von Empirie und subjektivem „Hineinfühlen“ wird im Grundriss zugunsten ersterer entschieden. Einen Endpunkt aber auch deswegen, weil Gröbers Werk all die verschiedenen Diskursstränge, die seit der Herausführung der Philologie aus dem Stand einer Hilfswissenschaft zu einer autonomen Wissenschaft durch Friedrich Wolf in dessen disours fondateur, zumindest teilweise, widerspiegelt. Diese Diskursformationen überlagern sich im Grundriss noch unter dem Wunsch, eine Einheit der Disziplinen herzustellen, wo längst keine mehr ist oder vielleicht sogar nie eine war. 233 Betrachtet man die Archäologie des Textes, so findet sich das Wolfsche Postulat, Erkenntnisgewinn durch philologische Forschung als Angebot zur Besserung der Gesellschaft durch Bildung bereitzustellen, im Grundriss als eine Art Basissediment. Mittelsedimente bilden die Auseinandersetzungen der Philologie mit der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und den Naturwissenschaften, und als Decksediment, unter dem das Ganze zusammengespannt wird, dient der Kriterienkatalog einer modernen Definition von Wissenschaft, an dem die Wissenschaftlichkeit der Neuphilologien gemessen wird und deren Leitkategorien Objektivität, Kontrollierbarkeit und systemimmanente Verwendbarkeit ihrer Ergebnisse bilden. Um vor dieser Messlatte bestehen zu können, muss Gröber die verschiedenen Diskursformationen so miteinander verknüpfen, dass ein integraler Zusammenhang zwischen den einzelnen Teilen entsteht und der aufgrund seiner Natur „geteilte Gegenstand“ eine Einheit bildet. 234 Außerdem darf eine so gewonnene Redefinition der Philologie keinerlei Aspekte mehr enthalten, die eine Schließung des Systems ‚Wissenschaft‘ verhindern. Daher ist bei einer Analyse des Gröberschen Konzeptes besonders auf die Merkmale der Partizipation, der Ganzheitlichkeit und des ethischen Anspruchs sowie der Verbindung Philologie und Pädagogik zu achten, um die verschiedentlich auftretenden 233 Vgl. Stierle 1979; Stempel 1988; Selig 2005. Gröbers Grundriss ist zudem der letzte Versuch, Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft nach Vorbild der großen philologischen Enzyklopädien zusammenzufassen. 234 Sprachforschung verfolgt je nach Ausrichtung ein unterschiedliches Ziel. Historischvergleichende Sprachwissenschaft zielt darauf ab, Sprache als eigenständiges System in ihren Regelmäßigkeiten zu untersuchen, Philologie betrachtet Sprache demgegenüber als eine Quelle der Geschichte der Menschheit und sieht in der philologischen Forschung die Möglichkeit, über die Erforschung der sprachlichen Denkmäler, die Entwicklung menschlichen Wissens zu rekonstruieren. Da Sprache als Forschungsgegenstand beide Blickrichtungen erlaubt, ist die Teilung der Disziplinen in der Natur ihres Forschungsgegenstandes verankert. Auf diese Problematik, gerade in Hinsicht auf Gröbers Grundriss, wurde in der Forschung bereits verschiedentlich hingewiesen: Vgl. hierzu z.B. Stierle 1979: 275; Stempel 1988: 45. Die Diskursformationen der Neuphilologien 332 Ambivalenzen innerhalb der einzelnen Textteile vor dem Hintergrund einer Neuanordnung der Klassifikatoren ‚Moderne Philologie‘ besser interpretieren zu können. Ein Vergleich der beiden ersten Ausgaben des Grundriss soll im Folgenden weiterhin ermöglichen, die Aussage Ernst Robert Curtius zu überprüfen, Gröber habe sein philologisches Erkenntnisideal der wissenschaftlichen Forderung nach strenger methodischer Objektivität untergeordnet, um so die letzten Zweifel an der Ebenbürtigkeit der ‚Wissenschaft Philologie‘ neben anderen akzeptierten Wissenschaften zu beseitigen (Curtius 1960: 448). Eine derart „gereinigte“ Konzeption von Philologie als eine universitäre Disziplin neben anderen bedeutete letztendlich den Verlust der Rückkoppelung an die Gesellschaft - eine Komponente, die in der Wolfschen Konzeption ja gerade konstituierend war. Im Grundriss steht von Anfang an, auch schon in der ersten Auflage von 1888, die Wissenschaftlichkeit der Romanischen Philologie im Vordergrund, durchaus unter modernen Vorzeichen. Dies schließt eine Spezialisierung und Verengung des Forschungsgebiets genauso wie die Entstehung eines Expertentums ein, um für die Romanische Philologie Internationalität und Konkurrenzfähigkeit garantieren zu können. Die Konsequenz einer solchen „Redefinition“ der Philologie muss dementsprechend die Bildung neuer Wissensrahmen um die Themenfelder Zielsetzung, Forschungs- und Forscherqualität sein. 235 5.4.4.1 Der Objektbereich: zwischen Allseitigkeit und Begrenzung Das Merkmal der romanischen Forschungen und Arbeiten in Deutschland ist die Allseitigkeit. ( Gröber 1888: 90; Kursivierung J.W.) In der ersten Auflage des Grundriss von 1888 legt Gröber, zunächst ganz in der Tradition Boeckhs stehend, bei der Beschreibung der Geschichte der Romanischen Philologie Wert auf eine universelle Erfassung des Forschungsgegenstandes. Die Aufgabe der Romanischen Philologie ist es dementsprechend „zu einem begründeten, allseitigen Wissen von ihm zu gelangen“ (Gröber 1888: 140). 236 Diese Allseitigkeit nimmt er gleichwohl nur ein Kapitel später im Hinblick auf die Volkskunde wieder zurück 235 Gröber verweist in diesem Zusammenhang auch auf den Einfluss der gestiegenen Anforderungen seitens der Schulen, die ihrerseits wieder in die philologischen Seminare an den Universitäten zurückwirken. Dieses Phänomen macht er ab ca. 1859 für die Romanische Philologie aus, seine Redefinition ist demzufolge nur bedingt auf den Faktor ‚Schule - Studieninhalte‘ zurückzuführen (Gröber ²1904-06: 124/ 125). 236 Gröber nimmt hier sein Ziel, die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philologie unter einem Dach als Einheit zusammenzuspannen, im Grunde vorweg. Auf dieses Ziel wird im Folgenden noch genauer einzugehen sein. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 333 (Gröber 1888: 147) und in der zweiten Auflage heißt es an eben dieser Stelle denn auch nur noch in abgeschwächter Form: Ein Merkmal der romanischen Forschung und Arbeit in Deutschland wird die Allseitigkeit. (Gröber ²1904-06: 104; Kursivierung J.W.) Wie aber lässt sich nach Gröber der Objektbereich für die Romanische Philologie definieren? Gröber spricht sich eindeutig für die Tradition aus, die Romanische Philologie als eine Einheit zu fassen, die nicht nur alle romanischen Sprachen unter ihrem Dach vereinigt, sondern die auch eine Verklammerung der einzelnen Disziplinen als für ihren Gegenstandsbereich konstitutives Merkmal beinhaltet und auf diese Weise als Fachbezeichnung identitätsstiftend für die verschiedenen Disziplinen wird (Wandruszka 1988: 29). Bestimmt wird die Romanische Philologie bei Gröber als eine geschichtswissenschaftliche Disziplin, sie „betrachtet, wie jene [die Geschichtswissenschaften; J.W.], bestimmte Leistungen und Äusserungen des menschlichen Geistes“ (Gröber 1888: 145). Bis hierhin scheint Gröber der romantisch-idealistischen Konzeption des philologischen Gegenstands noch zu folgen. Doch im Gegensatz zum Universalphilologen, der sich durchaus auch als Politologe, Theologe, Künstler etc. versteht, hält Gröber nicht viel davon, dilettierend in fremde Wissensgebiete einzudringen. 237 Der Philologe agiert nun als spezialisierter Fachwissenschaftler, das Ideal des Polyhistor oder Universalgelehrten hat er hinter sich gelassen. Gröber definiert das Gebiet der Philologie als „d i e u n v e r s t a n d e n e o d e r u n v e r s t ä n d l i c h g e w o r d e n e R e d e u n d S p r a c h e “ (Gröber 1888: 146; Sperrung wie im Original). Er verlegt damit den Objektbereich der Philologie in die Vergangenheit, ihr Forschungsgegenstand wird ein geschichtlicher, sie selbst zu einer Geschichtswissenschaft neben anderen (Selig 2005: 304). 238 Der Philologe wird dadurch zum Wis- 237 „Nun ist ersichtlich, dass die Geschichte der Glaubenslehren, der Philosophie, der Rechtsanschauungen, der Rechtsverhältnisse früherer Zeit, die Geschichte der menschlichen Einsicht in die Natur der Dinge der organischen und anorganischen Welt und die von Kenntnissen irgend welcher Art, die alle nur durch schriftliche Aufzeichnung uns nahe gebracht werden, am wahrsten von demjenigen erforscht werden wird, der in jenen Erkenntnisgebieten zu Hause ist.“ (Gröber 1888: 146) Hier wird erneut die bekannte Forderung an den Philologen, er müsse sich seinen Gegenstand so vertraut machen, sich so in ihn hineinfühlen, dass er ihm gleichsam einwohne, über die Wohnmetapher evoziert, was auf der diskursiven Ebene das Abrufen der mit dieser Metapher verbundenen Wissensrahmen bewirkt. 238 Die Historizität des Gegenstandes ist für Gröber ausschlaggebend: „Wofern er [der Fremde; J.W.] jedoch die fremde Rede nicht in völliger Freiheit, unbewusst, anzuwenden vermag, sie reflektierend reproduziert, ist sie für ihn eine tote Sprache, für die er nur eine historische Auffassung, zu der er ein historisches Verhältnis hat. Sein Weg zum Sprachverständnis führt von Aussen nach Innen, von Wort zu Satz zu Vorstellung und Gedanken, während bei dem Nationalen umgekehrt die Vorstellung das Wort, der Gedanke den Satz herbeiruft.“ (Gröber 1888: 210) Es ist diese Umkehrung Die Diskursformationen der Neuphilologien 334 senschaftler, der den Schlüssel zur Sinnerschließung dieses Objektbereichs in Händen hält, dessen Aussagen nur er allein über die Anwendung objektiver, wissenschaftlich kontrollierbarer Methoden für andere zugänglich macht. 239 Damit wäre die Selbständigkeit der Philologie als Wissenschaft hinreichend begründet. Nun gilt es, ihren Forschungsgegenstand noch genauer zu fassen. Zum einen bilden „Litteraturforschung und Litteraturgeschichte“ (Gröber 1888: 146) einen Teil der Philologie, zum anderen die Sprachforschung, denn: D i e E r s c h e i n u n g d e s m e n s c h l i c h e n G e i s t e s i n d e r S p r a c h e , s e i n e L e i s t u n g e n i n d e r k ü n s t l e r i s c h b e h a n d e l t e n R e d e b i l d e n i h r e n e i g e n t l i c h e n G e g e n s t a n d . (Gröber 1888: 146; Sperrung wie im Original) Hier, in der Definition des Objektbereichs, findet sich der Ort, in den Gröber die Einheit der auseinanderdriftenden Disziplinen legt. Er definiert Philologie als das Haus, in dem sowohl Literaturforschung als auch Sprachwissenschaft unter einem Dach wohnen können, wobei Gröber im Gegensatz zu Tobler eindeutig das „große Haus“ 240 favorisiert. 241 Verbun- der Analyserichtung, die den Philologen nach Gröber letztlich in die Lage versetzt, den menschlichen Geist in Sprachquellen erfahrbar zu machen. 239 Eine Überordnung schließt Gröber genauso wie eine Unterordnung aus. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer Philologie, die an einen „empirischen Stoff“ gebunden ist (Gröber 1888: 145). Eine Überordnung wäre nach Gröber erst möglich, wenn es der Philologie um die Erforschung der „Entwicklungsgesetze des menschlichen Geistes“ (Ebd.) ginge, Philologie kann diesen Geist aber lediglich rekonstruieren und für die Gegenwart erkennbar machen. Sie ist die „Herstellerin“ und die „Deuterin“ der schriftlichen Quellen. Durch diese Rekonstruktionsaufgabe wird sie den anderen Geschichtswissenschaften aber auch ebenbürtig, so dass Gröber eine Unterordnung ausschließen kann (Gröber 1888: 144/ 145). Daher ist die Philologie den anderen Geschichtswissenschaften beigeordnet. In der zweiten Auflage (1904-06) schließt Gröber auch eine Identität (Gröber 1904-06: 191) aus und kritisiert dabei die Gleichsetzung von Geschichte und Philologie, wie sie z.B. Louis Havet vornimmt. 240 Vgl. zur „Hausmetaphorik“ Wandruszka 1988: 29; Lebsanft 2009: 77; Hültenschmidt 2003: 66. 241 In der ersten Auflage von 1888 distanziert sich Gröber allerdings noch nicht explizit von Toblers Philologiemodell. Zwar ordnet er auch hier bereits die zergliedernde Sprachforschung der Philologie als einen Teilbereich zu, die „gegenwärtig keinesfalls von der Philologie getrennt werden könne“ (Gröber 1888: 146). Aber in der Hierarchisierung der Teildisziplinen scheint ihm schon in der ersten Auflage die philologische Königsdisziplin diejenige zu sein, deren Aufgabe er als „wahre und getreue Vergegenwärtigung des Inhalts fremder Rede“ definiert (Gröber 1888: 146). Endgültigkeit erlangt diese Auffassung aber erst in der zweiten Auflage: „Ist nun wahre und getreue Vergegenwärtigung des Inhalts fremder Rede eine erste, von niemand als dem Philologen lösbare Aufgabe der Philologie, auf die A. Tobler geneigt ist sie zu beschränken […].“ (Gröber ²1904-06: 193) Warum Gröber sich allerdings erst in der zweiten Auflage so dezidiert für ein weiter gefasstes Philologiemodell stark macht und damit - wahrscheinlich ungewollt - Ambivalenzen in seinem eigenen Werk zu- Romanische Philologie als Fachwissenschaft 335 den sind Sprachwissenschaft und Philologie über den hermeneutischen Zusammenhang von Sprache und Rede, den Gröber als grundlegend für die Bestimmung des Gegenstands wie auch der Aufgabe der Romanischen Philologie setzt (Stierle 1979: 282). 242 Diese Einheit wird in der zweiten Auflage noch stärker betont, die Grenze zur allgemeinen Sprachwissenschaft schärfer gezogen. Blickt man auf die entsprechenden Textstellen, so wird die Tendenz einer Engerführung des Objektbereichs wie auch der Aufgaben der Romanischen Philologie deutlich: Grundriss 1888 Grundriss ²1904-06 Was gehört zur Philologie: - Ist nun wahre und getreue Vergegenwärtigung des Inhalts fremder Rede Aufgabe der Philologie, so liegt ihr ob, einerseits die Vergegenwärtigungen fremder Reden geschichtlich zu verknüpfen, sie selber als Ganzes nach Inhalt und Form zu erklären und zu beurteilen: so ergeben sich Litteraturforschung und Litteraturgeschichte als Teile der Philologie. Andererseits ist sie zur Erfüllung ihrer Aufgabe gezwungen, die Rede bis ins Einzelnste zu zergliedern, also die Sprache zu erforschen; mithin ist auch die Sprachforschung eins ihrer Lehrgebiete. (146) - Ist nun wahre und getreue Vergegenwärtigung des Inhalts fremder Rede eine erste, von niemand als dem Philologen lösbare Aufgabe der Philologie, auf die A. Tobler geneigt ist sie zu beschränken, so ist damit eine zweite,von niemand anderem zu lösende Aufgabe gegeben, die Teile der fremden Rede als Ganzes, also nach seiner litterarischen Seite und im Zusammenhang mit ähnlichen Erzeugnissen der Redekunst zu betrachten: so ergeben sich Litteraturforschung und Litteraturgeschichte als Teile der Philologie. […] Ferner ist die Philologie zur Erfüllung ihrer Aufgabe aber auch gezwungen, die Rede bis ins Einzelnste zu zergliedern, also ausser der Rede auch die Sprache zu erforschen, wonach die Sprachforschung eins ihrer Lehrgebiete ist. Denn in unverständlich gewordener Rede lässt, darüber lässt sich nur spekulieren. Zum einen grenzt Tobler selbst sein Philologiemodell im Grundriss längst nicht in so entschiedener Weise von der Sprachwissenschaft ab, wie er es dann 1890 in seiner Antrittsrede tun wird (Tobler 1888: 251/ 252 im Grundriss; vgl. hierzu besonders Lebsanft 2009: 77/ 78). Möglicherweise liegt Gröber zum anderen an der Festigung des von ihm beschworenen Bandes „Philologie“ als Rahmenkonstellation, die Sprach- und Literaturwissenschaft zusammenzuhalten vermag. Auffällig ist auch, dass Gröber hier im Gegensatz zur ersten Auflage die Selbständigkeit der Philologie betont, indem er den Philologen als Experten herausstellt. 242 Stierle 1979: 282 beschreibt diesen hermeneutischen Zusammenhang im Grundriss als „bereits erschüttert“. Philologie als Band zwischen Literatur- und Sprachforschung sei zu brüchig geworden, um dieses Einheitskonzept noch weiter verlässlich zu stützen (Stierle 1979: 283). Die Diskursformationen der Neuphilologien 336 Begründung der „Einheit“: - Denn eine die Sprachen zusammenfassende Sprachwissenschaft wäre nur dann eine gesonderte geschichtliche Wissenschaft, wenn alle Sprachen aus einer Ursprache hervorgegangen, also ein genealogischer Zusammenhang unter ihnen erwiesen wäre. Da dies nicht der Fall ist, kann sie entweder nur als psychologische Gesetzeswissenschaft gedacht werden, oder als Geschichtswissenschaft aus der Untersuchung der e i n z e l n e n Sprachen sich hervorbilden; die Sprachforschung kann also gegenwärtig keinesfalls von der Philologie getrennt werden. (146) können Bedeutung und Form einer Ausdrucksweise, eines Wortes u.s.w. oft nur durch erforschende Vergleichung ermittelt werden; jüngere Sprachen müssen es deuten, eine Grundsprache seine Form verständlich machen helfen. Hier wird der sprachdeutende Philolog Sprachhistoriker. - Es liegt wiederum keinem anderen Geschichtsforscher näher als ihm, die Ursachen zu ermitteln von Veränderungen in Laut, Form, Bedeutung und Verwendung eines Wortes, die ihm auf Schritt und Tritt in einem Schrifttum begegnen, das nicht nur einige Generationen umfasst, und so wird er auf die psychophysische Mechanik hingewiesen, deren Wirkungen er in der von ihm bearbeiteten Sprache verfolgen muss, um auch nur seine nächste Aufgabe, die der Sprachdeutung, wissenschaftlich zu lösen. Dass ‚eine Sprachwissenschaft‘ sich in neuerer Zeit die besondere Aufgabe stellt, wie den Sprachursprung, so die Gesetze des psychophysischen Mechanismus in der Sprache zu erforschen, entbindet ihn durchaus nicht von der Verpflichtung, sich Rechenschaft zu geben von den letzten Gründen für von ihm allein beobachtbare Sprachvorgänge; denn die ‚allgemeine Sprachwissenschaft‘ berührt sich mit der Philologie nur in einer kritischen Zusammenfassung der aus psychologischem Gesichtspunkte der der Psychophysik entnommenen Erklärungen für die Tatsachen der Geschichte der einzelnen Sprache, die der Philolog verständlich zu machen vermocht hat, kann diese Erklärungen für den einzelnen Fall aber nicht selbst auffinden oder begründen. (193/ 194) Romanische Philologie als Fachwissenschaft 337 Die Betonung liegt in beiden Ausgaben auf der Historizität der Sprache, die eine philologische Forschung legitimiert und eine Abgrenzung zur allgemeinen Sprachwissenschaft ja erst ermöglicht. Zudem verhindert, so Gröber, die Tatsache, dass der allgemeinen Sprachwissenschaft kein kontinuierlicher geschichtlicher Gegenstand als Forschungsobjekt zugrunde liegt, eine Zuordnung derselben zu den geschichtlichen Wissenschaften. 243 Jene definiert Gröber als eine „psychologische Gesetzeswissenschaft“, ihre Aufgabe sei es beispielsweise, die Lautgesetze als „Tatsachen der Geschichte“ herauszufinden 244 , erklären müsse deren Wirkung auf die Entwicklung des Menschen sodann aber der Philologe (Gröber 1888: 146; ²1904-06: 194). 245 Die beiden Disziplinen berühren sich in dem psychologischen Moment der Deutung empirischer Daten, die eine eben als Gesetzes-, die andere als empirische Geschichtswissenschaft. Beiden immanent ist aber die Vorstellung, dass Wandel Gesetzen unterliege. Implizit ist hier auch bereits erkennbar, dass die einzige Verbindung zwischen Philologie und Sprachwissenschaft tatsächlich nur mehr in der Beschaffung von Sprachdaten besteht, die die Sprachwissenschaft der Philologie für deren Rekonstruktionen liefert. Diese Abgrenzung von der allgemeinen Sprachwissenschaft führt Gröber denn nun auch unmittelbar zu seiner Gegenstandsbestimmung der Philologie: D i e E r s c h e i n u n g d e s m e n s c h l i c h e n G e i s t e s i n d e r n u r m i t t e l b a r v e r s t ä n d l i c h e n S p r a c h e u n d s e i n e L e i s t u n g e n i n d e r k ü n s t l e r i s c h b e h a n d e l t e n R e d e d e r V e r g a n g e n h e i t a l s o b i l d e n d e n e i g e n t l i c h e n G e g e n s t a n d d e r P h i l o l o g i e . (Gröber ²1904-06: 194; Sperrung wie im Original) Sehr viel radikaler wird hier im Gegensatz zur ersten Auflage betont, dass die Gegenwart nicht Bestandteil des Forschungsgegenstands der Romanischen Philologie sein könne. Gröber sichert den diachronen Charakter seines Objekts gleich auf zweifache Weise ab: Der menschliche Geist ist nur noch durch die Vermittlung einer zweiten Instanz - und zwar der des Philologen - greifbar zu machen. Außerdem handelt es sich um den menschlichen Geist in schriftlichen Quellen der Vergangenheit. Beide Präzisierungen fehlen in der ersten Auflage, obwohl Gröber bereits dort den Forschungsgegenstand der Philologie als einen geschichtlichen klar be- 243 Auf das Verhältnis von Sprachwissenschaft und Philologie wird im Folgenden näher eingegangen werden. 244 Sprachforschung bei Gröber fokussiert stark auf diesen Aspekt: Die „Aufsuchung von Gesetzen der Sprachveränderung“ (Gröber ²1904-06: 188) wird als primäres Ziel derselben immer wieder formuliert. 245 Vgl. zum Begriff der allgemeinen Sprachwissenschaft bei Gröber v.a. Selig 2005: 303. Allerdings wird hier nur auf die Verhältnisbestimmung in der ersten Auflage des Grundriss eingegangen. Die Diskursformationen der Neuphilologien 338 stimmt. Hier schließt Gröber die Volkskunde nun auch endgültig aus 246 , diese ist mittlerweile zu einer selbständigen Geschichtswissenschaft herangewachsen und so betont er erneut die Verengung des Objektbereichs: […] die Philologie kann nur Sprache und Litteratur des Volkes als den ihr gehörigen Teil und in dem Umfange beanspruchen, in dem sie geschriebene Sprache bearbeitet. (Gröber ²1906-04: 194) 247 Als letzten Punkt seiner Gegenstandsbestimmung greift Gröber auf die Einteilung in Völker und Volkssprachen zurück. Die Philologien müssen ihre „Gebiete“ abstecken, dabei „kann nur K o n t i n u i t ä t i n S p r a c h e u n d R e d e massgebend sein“ (Gröber ²1904-06: 195; Sperrung wie im Original). Kontinuität erscheint bei Gröber als Zauberwort, das ihm jegliche Begründung für seine Bestimmung des Objektbereichs wie auch die Legitimation seiner Konzeption einer Romanischen Philologie als „großes Haus“ liefert (Stempel 1988: 44). Kontinuität bezeichnet die gesetzmäßige Entwicklung der Einzelsprachen, als deren Ausgangspunkt Gröber die ersten Quellenbelege der jeweiligen Sprache definiert. Für die Romanische Philologie sei das die „Rede des gemeinen römischen Mannes“ (Gröber ²1904-06: 195). Da eine derart gestaltete Kontinuität für Sprache und Rede nur für die historischen Einzelsprachen sowie Verbände eng verwandter Sprachen angenommen werden kann, wendet sich Gröber von der Konzeption einer Universalphilologie, wie sie August Boeckh formuliert hatte, ab, da von einer „ununterbrochenen Kontinuität in Sprache und Rede von deren Anfängen an“ in keinster Weise gesprochen werden könne (Gröber ²1904-06: 195). Dies würde auf das Vorhandensein einer Ursprache schließen lassen, aus der sich in einer solchen Kontinuitätslinie alle Sprachen entwickelt hätten, was ja aber zu verneinen sei. Implizit schiebt Gröber Boeckh hier die Legitimation seiner Philologiekonzeption über die Ursprachenargumentation unter - allerdings scheint er Boeckh hier geradezu absichtlich misszuverstehen, denn dessen Universalphilologie gründete sich nicht auf einer angenommenen Kontinuitätslinie von Sprache und Rede, sondern ging vielmehr von einem Universalzusammenhang der geschichtlichen Kultur- und Menschheitsentwicklung aus, deren Sinnkohärenz es zu erschließen galt. Philologie bei Boeckh war konzipiert als Kulturwissenschaft, in der Sprachanalyse und auf Schriftlickeit zentrierte Quellenforschung nur ein Gebiet unter anderen ausmachten. Universal gedacht war in dieser Konzeption der Objektbereich, der eben auf die Erforschung aller zugänglichen Kulturgegenstände zielte. Sprache spielte dabei die Rolle ei- 246 Vgl. zu dieser Trennschärfe in der Bestimmung der Disziplinen Stempel 1988: 44. Trotzdem, und hier befindet sich Gröber dann doch wieder in der Nähe Boeckhs, bleibt die Sprache das Medium par excellence, um „die tiefsten Blicke in sein Wesen [das Wesen des jeweiligen Volkes; J.W.] zu werfen“ (Gröber ²1904-06: 194). 247 Noch einmal verweist Gröber auf die Ausschließlichkeit der schriftlichen Quellen (vgl. hierzu auch Gröber 1888: 145; ²1904-06: 192). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 339 nes Mediums zum Transport historischer Informationen. 248 Der Philologe hat sie als Zeichensystem zu erkennen, das einen Beitrag dazu leistet, die „Durchgängigkeit bestimmter Strukturen einer Kultur“ (Rodi 1979: 74) zu entschlüsseln. Die Aufgabe der philologischen Forschung bei Boeckh ist auf die Erkenntnis der Strukturen der „Menschennatur“ und der „Kette der Kultur“ (Boeckh 1877: 11) gerichtet. Es gilt, die Regeln herauszuarbeiten, die die Wissensrahmen in einer bestimmten Epoche konstituierten und strukturierten. Sprache bei Boeckh hat bereits einen Doppelcharakter: Sie ist Teil der Kultur, das heißt ihre Struktur, ihre innere Ordnung wie auch die Veränderung, die sie durchlebt, sind Teil des geschichtlich-kulturellen Lebens, gleichzeitig ist sie aber auch das Kommunikationsmittel, das über diesen geistigen Zusammenhang der Menschheitsgeschichte Aufschluss gibt. 249 Gröber integriert diesen kommunikativen Aspekt nicht in seine Philologiekonzeption. Er fokussiert die historische Einzelsprachenforschung, geht es ihm doch in erster Linie darum, die Ausdifferenzierung der einzelnen Philologien zu stützen, deren innerer Zersplitterung aber durch den Zusammenhang der Disziplinen, die sich dann unter dem Dach der Einzelphilologie finden, entgegenzuwirken (Stempel 1988: 43/ 44). Gröbers Ziel ist es auch nicht, Philologie als Kulturwissenschaft zu legitimieren, sondern sie als eine auf schriftliche Quellen der Vergangenheit konzentrierte Wissenschaft zu definieren, deren Aufgabe in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen darin besteht, zur Aufklärung sprachsystematischer Forschungsfragen (Sprachwissenschaft), texteditorischer Forschungsfragen (Editionsphilologie) sowie - ab der zweiten Auflage -zur positivistischen Literaturgeschichte beizutragen. Der Begriff der Kontinuität kann sich bei Gröber demnach nur auf die historische Entwicklung der Einzelsprachen beziehen, der ihm zufolge bestimmte Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. So weist er zwar die Universalphilologie, die die von ihm anvisierte Aufteilung der philologischen Fächer ja obsolet machen würde, über fehlende Kontinuität in der Kulturentwicklung der Menschheit in ihre Schranken, benutzt nun aber genau diese Kontinuität, um die einzelnen 248 Allerding war die Rolle der Sprache bei diesem Kulturtransfer eine herausragende, wie Boeckh in der Diskussion um Wortversus Sachphilologie auch stets betonte. 249 Vgl. zu diesem Doppelcharakter der Sprache bei Boeckh besonders Rodi 1979: 75/ 76. In einer vorsichtigen Deutung ließe sich in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Boeckh über den doppelten „Sinn“, den er in Sprache und logos erkennt, die Kriterien der Universalität wie der Historizität der Sprache antizipiert. ‚Universal‘ erhielte dann für die philologische Forschungsaufgabe bei Boeckh auch die Dimension, dass der Forscher die kommunikativen Prozesse zu entschlüsseln habe, der Philologe lässt sich in ein Gespräch mit seinem Forschungsgegenstand ein und erhält so Aufschluss über den logos als über Tradition erworbene Erkenntnis und Wissensstrukturen (vgl. Boeckh 1877: 22; Rodi 1979: 76). Die Diskursformationen der Neuphilologien 340 Philologiegebiete abzustecken und auf deren innere Kohärenz, die sich allein über Sprache manifestiert, hinzuweisen. Denn: Wo diese [die Kontinuität; J.W.] aufhört, endet auch ein Philologiegebiet. Nur mittels verwandter oder sich deutender Sprachen, die Hilfsmittel zur gegenseitigen Aufhellung bieten, lassen sich größere Philologiegebiete abtrennen. (Gröber ²1904-06: 195) Diese Abgrenzung einzelner Philologiegebiete führt Gröber in letzter Instanz denn auch zum Fach Romanische Philologie, das aus der Indogermanischen Philologie hervorgeht. Analog ergeben sich Germanische, Slavische oder Keltische Philologie. Zwar gesteht Gröber den einzelnen Kulturen Kontakte zu, er spricht von „Berührungen mit fremder, entfernter verwandter oder auch unverwandter Rede und eine[r] Mischung der Rede“ (Gröber ²1904-06: 196), der Romanist aber habe sich „im fremden Lande“ nur „soweit heimisch“ zu machen, „um jene Berührungen blosslegen zu können“ (Gröber ²1904-06: 196). 250 Trotz dieser strikten Einteilung in philologische Gebiete, geordnet nach Sprachgemeinschaften, reduziert Gröber Sprache und Rede eines Volkes nicht nur auf ein sezierbares wissenschaftliches Objekt. Der Romanist wird deswegen nicht zum „Fachidioten“, muss er doch […] soviel allgemeine und psychologische Bildung und soviel Sachkenntnis besitzen, um das Individuum in seinem Wesen und seiner Geistesart erfassen zu können, das er zur Gegenwart sprechen zu lassen sich befähigt hält. (Gröber ²1904-06: 198) Obwohl Gröber Empathievermögen unter dem Deckmantel der „psychologischen Analyse“ verbirgt,- der Begriff ,psychologisch‘ wird im Grundriß nahezu synonym für das Aufdecken von positiven Gesetzmäßigkeiten verwendet - klingt hier doch eine Reminiszenz an das Konzept der Klassischen Philologie und ihres Klassifikators der Bildung durch „Sich hineinversetzen“ an. Auch Gröbers Philologe ist ein „Vermittler“, allerdings spricht er - dies sei an dieser Stelle betont - bei Gröber mit den Texten, um deren Wissen einer Ex-pertenkultur zugänglich zu machen, nicht um Bildungsangebote an die Gesellschaft zu formulieren. Zusätzlich, neben dem (ungewollten) Evozieren des Diskursstranges ‚Hineinfühlen‘, erinnert diese Passage doch auch an Magers Forderung nach einer polyhistorischen Kenntnis der Nachbardisziplinen. 251 Die hier 250 Selig 2005: 303 wertet dies als eine verpasste Chance auf einen differenzierten Kulturbegriff, der der Anpassung der Philologie an die Naturwissenschaften geschuldet sei. 251 Siehe zur Herauslösung des pädagogischen Auftrags der Philologie im Folgenden. Auch fehlt dieser Satz in der ersten Ausgabe. Hier hat der romanische Philologe den Auftrag, sich mit der Aufgabe der Philologie - so wie Gröber sie definiert hatte - be- Romanische Philologie als Fachwissenschaft 341 angelegten Wissensrahmen, die auf die Konzeption ,Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft‘ verweisen, sorgen für Widersprüchlichkeit. Ist dies möglicherweise ein Beleg für die Behauptung Curtius’, Gröber stelle sein Erkenntnisideal hinter die Institution „Romanische Philologie“, die es zu etablieren und zu sichern gilt? Dafür sprächen auch die Ausschließlichkeit, mit der er sich auf das Mittelalter konzentriert, sowie die strikte Eingrenzung des Objektbereichs. 252 Um was geht es Gröber wirklich? Warum lässt er in seinem großen Werk so viele Ambivalenzen und Widersprüche zu? Um diese Frage annähernd zu klären, müssen Gröbers Philologiekonzept sowie seine Methodik genauer analysiert werden. 5.4.4.2 Die (fach)wissenschaftliche Disziplinierung der Philologie Gröber lehnt eine holistische Auffassung von Philologie wie sie bei Mager oder auch Körting zu finden ist, mit der Begründung ab, dass Romanische Philologie einem solchen Anspruch nicht genügen könne, ohne ihre Wissenschaftlichkeit zu verlieren (Gröber ²1904-05: 195; 187/ 188). 253 Eine mo- kannt zu machen und zu ihrer Lösung beizutragen. Dabei obliegt es dem Forscher, „Belehrung darüber zu suchen, wieweit die Lösung bereits gediehen, wo sie versucht, aber nicht erreicht ist und nach welchen Zielen in ihr gegenwärtig gestrebt wird und überhaupt gestrebt werden kann“ (Gröber 1888: 150). 252 Eine Mittelalterphilologie lehnt Gröber allerdings mit der Begründung ab, dass dann die Forschung über die einzelnen Völker und ihre Sprachen ins Hintertreffen gelange. Den pragmatisch-institutionellen Grund, dass dann nämlich auch keine Lehrstühle für Romanische Philologie mehr nötig und ein Fach ‚Romanische Philologie‘ letztendlich überflüssig wären, verschweigt er allerdings. 253 „Das aus Sprache und Sprachwerk erkennbare geistige Leben der Romanen, dort in seinem ganzen Umfang [Gröber bezieht sich hier auf Sachs; J.W.], hier in seinen Eigentümlichkeiten [gemeint ist die Konzeption von Körting; J.W.] ist der Kernpunkt der beiden viel mehr einschliessenden Forderungen als bisher der romanistische Forscher zu leisten gesonnen war. Sie greifen in fremde, wohlangebaute Wissenschaftsgebiete hinüber. Sie sind jedoch, wenn nicht darum, so aus dem Grunde unannehmbar, weil sie Unausführbares und Halbheit vorschreiben. […] Und die Erkenntnis des ‚eigenartigen‘ geistigen Leben der Romanen zielt […] auf eine Auswahl unter den Erscheinungen im Sprach- und Bildungsleben derselben hin, bei der […] von einem erschöpfenden Einblick in die romanische Litteraturbewegung Abstand genommen wird, und der romanischen Philologie der Name einer Wissenschaft nicht mehr zukommen kann.“ (Gröber 1888: 142). Klar ersichtlich sind hier die Forderungen nach Expertentum und Selektion sowie der Verankerung der Wissenschaft im universitären Rahmen eines institutionalisierten Faches. Darüber hinaus verbannt Gröber endgültig das Bild des Magerschen Blumisten und des Schleicherschen Gärtners als wirkmächtige Konzepte in der konnektiven Struktur- und damit im Grunde die Trennung zwischen Wissenschaftler und Philologen - und definiert den Philologen so als Wissenschaftler, der einen gesicherten Überblick über sein gesamtes Forschungsgebiet haben soll: „Oder würde die Beschränkung der Erkenntnis im Tier- und Pflanzenreiche auf ‚eigenartige‘ Entwickelungsformen des tierischen Leibes und der Pflanze noch Wissenschaft, und ein begründetes Wissen in Zoologie und Botanik dabei auch nur möglich sein? “ (Ebd.) Die Diskursformationen der Neuphilologien 342 derne wissenschaftliche Disziplin beinhaltet Spezialisierung, was wiederum eine Verengung des Forschungsgegenstandes bedeutet. Zwar lehnt Gröber einen allumfassenden philologischen Forschungsgegenstand bereits in der ersten Ausgabe ab, aber erst in der zweiten Ausgabe wird die Einschränkung des Forschungsgebietes schon zu Beginn des Kapitels „Aufgabe und Gliederung der Romanischen Philologie“ verdeutlicht. Betont Gröber in der ersten Ausgabe noch die Etablierung der Romanischen Philologie als Wissenschaft, die ihre Identität gefunden hat, folgendermaßen: In der Reihe der Jahrhunderte, in denen die Beschäftigung mit romanischen Sprachen und Litteraturen sich beobachten lässt, zeigt die romanische Philologie ein wechselndes Gesicht. Mancherlei Zwecken dienend, oft nur spielende oder tastende Bearbeitung von Einzelheiten oder an der Oberfläche haftende Betrachtung grösserer Teile, ist die romanische Philologie seit zwei Menschenaltern der Würdigkeit ihres Gegenstandes und der Unentbehrlichkeit seiner Erforschung voll bewusst geworden und hat zu einem begründeten, allseitigen Wissen von ihm zu gelangen als ihre Aufgabe erkannt. (Gröber 1888: 140) So wird der Fokus in der zweiten Ausgabe anders gesetzt: Schon ehe F. Diez eine romanische Sprach- und Litteraturforschung methodisch begründete und F. Mahn, wie es scheint, zuerst den Namen Romanische Philologie gebrauchte, war sie im Keime wenigstens vorhanden. Sie begann, ohne die Absicht erschöpfender Belehrung über romanische Sprache und Litteratur […]. Mittelpunkt der philologischen Studien blieb danach zu aller Zeit Sprache und Rede, und der Forschung über romanische Sprache und Rede seit Diez lag die Überzeugung zu Grunde, dass sie über Seiten der geistigen Vergangenheit der lateinischen Völker und über das in ihren Sprachen sich ausprägende geistige Leben zu wertvollen und unentbehrlichen Einsichten gelangen könnte, die keine der vorhandenen methodisch durchgebildeten Wissenschaften zu gewähren vermöchte. (Gröber ²1904-06: 186) Drei Punkte fallen in diesem Abschnitt im Vergleich der beiden Ausgaben auf: Erstens beschwört Gröber in der zweiten Ausgabe deutlich stärker den Gründermythos Friedrich Diez herauf, zweitens betont er die methodische Durchbildung der Romanischen Philologie. Hier ist sie den anderen Wissenschaften ebenbürtig, allein ihr Forschungsgegenstand hebt sie aus deren Kreis hervor. Erneut trifft man also auf das Kriterium der Methodizität, das zum Hauptkriterium der Wissenschaftlichkeit auch in den Geschichtswissenschaften aufgestiegen zu sein scheint. Drittens erfolgt hier eine endgültige Umdefinierung der philologischen Aufgabe, die sich bereits in der ersten Ausgabe immer wieder andeutet: Moderne philologische Forschung bedient mit ihren Ergebnissen andere wissenschaftliche Disziplinen. Der Romanische Philologie als Fachwissenschaft 343 Anspruch des klassischen philologischen Konzeptes tritt hinter dieser Anforderung zurück. In der ersten Ausgabe bedienen diese Ergebnisse noch einen doppelten Zweck. Sie verhelfen einerseits „zu Einsichten, die auch ausserhalb der romanischen Länder die aufrichtige Teilnahme aller derer beanspruchen dürfen, die von der geistigen Vergangenheit in der Menschengeschichte bedeutsamer Völker Kenntnis zu besitzen nicht verschmähen“ (Gröber 1888: 140). Hier klingt das Postulat, Erkenntnis als Bildungsangebot zu vermitteln, durchaus noch an. Andererseits vermitteln diese Ergebnisse aber auch „Einsichten, die für die Forschung auf anderen Wissensgebieten sogar von grösster Bedeutung werden können.“ (Ebd.) In der späteren Ausgabe von 1904 geht das ethisch-pädagogische Restsediment verloren, von einer „aufrichtigen Teilnahme“, die sich als gesellschaftliche Partizipation deuten lässt, ist keine Rede mehr. Denn dass Philologie keine Bildungsphilologie im Sinne der Klassischen Philologiekonzeption mehr sein kann, unterstreicht Gröber deutlich in beiden Ausgaben und trennt dabei endgültig den Bildungsauftrag, den die Philologie in der Wolfschen und Boeckhschen Konzeption innehat, von einer wissenschaftlich definierten Philologie ab (vgl. Stierle 1979: 280-283): So gewiss das griechische und das römische Altertum als Inbegriff einer Verkörperung unserer ästhetischen, ethischen und Bildungsideale in unserem Bewusstsein lebt und wirkt und zu unserem Heile immer wirken und leben, und im Vereine mit dem religiös-moralischen Idealbild des Stifters der christlichen Religion uns zum Nachstreben aneifern und begeistern soll, so gewiss hat auch die klassische Philologie als Wissenschaft, wie die christliche Religionsgeschichte thut, daneben den kritischen Thatsachensinn zufrieden zu stellen, der die Glaubhaftigkeit und richtige Auffassung der Urkunde, die geschichtlichen Dinge in ihrem wahren Sein, das Grosse nach seinen menschlichen Seiten und im Zusammenhange mit dem Kleinen und Vorbereitenden, das Heranwachsen der geistigen Schätze, die Wandlungen des geistigen Gehalts der Zeiten im Altertum zu erkennen verlangt. Das Wertvolle ist Gegenstand des U n t e r r i c h t s . Es kann wohl Triebfeder der klassisch-philologischen Forschung sein, nicht aber kann es der G e g e n s t a n d ihrer Forschung heissen und das Wertvolle in der Romanischen Philologie kann von anderer Art sein als in jener. Daher ist mit jener Bestimmung des Begriffs der klassischen Philologie ihre Verwendung, nicht ihr Gegenstand bezeichnet, und also auch sie nicht angethan, den Gegenstand der Romanischen Philologie bestimmter erfassen zu helfen. (Gröber 1888: 143/ 144; Sperrung wie im Original) Mit dieser eindeutigen Distanzierung vom Vorbild einer Philologie, die pädagogischen Zwecken dient, reduziert Gröber das „moderne“ Philologiekonzept zunächst um einen Klassifikator, nämlich den Anspruch, einen Beitrag zur Erziehung des Menschen zu leisten, was ja für die Altphilologie geradezu essentiell war, und verlagert dann den Fokus auf die Wissen- Die Diskursformationen der Neuphilologien 344 schaftlichkeit, die ganz auf Objektivität und Methode beruht. Stierle verdeutlicht diese Spaltung in zwei Aufgabengebiete der Philologie bei Gröber, indem er das klassische Philologiekonzept als eine „Hermeneutik der Denkmäler“, das Gröbersche Philologiekonzept aber als eine „Hermeneutik der Quellen“ beschreibt (Stierle 1979: 281). Über die Einschränkung Gröbers auf eine „Philologie der Quellen“ löse dieser sich vom Kriterium der Normativität und damit auch vom pädagogischen Auftrag einer Philologie, die beides enthält und in der die Denkmäler das Primat vor den Quellen innehaben (Ebd.). Deutlich wird hier eine Trennung zwischen der Wissenschaft Philologie, die den „kritischen Thatsachensinn“ bedient und einer Philologie mit ethisch-pädagogischem Anspruch, deren Ergebnisse im Einzelnen wirken und die ihren Ort in der Schule findet. 254 Dieser ethisch-ästhetische Anspruch kann aber für eine Philologie, die Wissenschaft sein will, keine Gültigkeit mehr besitzen. So heißt es weiter im Grundriss: Alle diese Wirkungen der romanischen Philologie sind i d e a l e r A r t . U n l e u g b a r i s t s i e n i c h t b e r u f e n z u e i n e r v i e l s e i t i g e n p r a k t i s c h e n W i r k s a m k e i t und unfähig, das zu leisten, was durch Erfassung des idealen Geistes des Altertums die classische Philologie für die Menschenbildung und Menschenerziehung geworden ist […]. (Gröber 1888: 154; Sperrung wie im Original) Dieser Satz ist in beiden Ausgaben im Wortlaut noch genau gleich. Dann aber folgen kleine Unterschiede, die den Wandel der Romanischen Philologie zu einer objektiven Geschichtswissenschaft belegen. Betont Gröber in der ersten Ausgabe noch beinahe überdeutlich, dass die Romanische Philologie ihren Teil zur Völkerverständigung beitrage und dies der Endzweck einer geschichtlichen Wissenschaft sei 255 , so konzentriert sich diese Aufgabendefinition in der zweiten Auflage auf die Sicherung der Quelleninterpretation durch einen Expertenkreis: Geist und Art alter romanischer Schriftsteller sind nicht umsetzbar in moderne Bildung und Litteratur. Vertraut mit ihnen werden immer nur engere Kreise sein können. Allein, warum soll von diesen aus die rechte Einsicht in das eigene Wesen und das rechte Verständnis für das Fremde in weiteren Kreisen unter den Romanen nicht verbreitet werden und der Geist der Versöhnung mit wachsender Selbsteinsicht sich nicht festigen können? Hier liegt eine der schönsten und eigensten Aufgaben der romanischen Philologie. Denn werden die Romanen auf die Dauer ihrer Vorfahren sich schämen können oder vielmehr auf ihre litterarischen Ehrentitel in der Vergangen- 254 Vgl. hierzu auch Selig 2005: 301. 255 Dass die Romanische Philologie an der „Versöhnung der Völker“ teilhaben solle, erwähnt Gröber auch in der zweiten Auflage (Gröber ²1904-06). Allerdings genügt ihm hier eine einmalige Erwähnung. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 345 heit verzichten mögen? Und können geschichtliche Wissenschaften Höheres leisten als die Nationen über sich selbst aufzuklären? Jener Aufgabe kann und darf sich die romanische Philologie nicht entziehen und sie verheisst ihr, auch wenn alle Fragen, die ihr erschöpfbarer Stoff ihr vorlegt, beantwortet sind, so lange zu bestehen, als romanische Völker sein werden. (Gröber 1888: 154) Beseitigung von Irrtümern und Aufklärung - dies sind Zielsetzungen, die eindeutig noch aus der Wolfschen Philologiekonzeption stammen. Hier ist der Wissenschaftler noch emotional engagiert und seine Forschung dient einem ideellen Zweck. 256 Seine Erkentnnis soll dem Volk, dessen Sprache und kulturelle Zeugnisse er erforscht, zugänglich gemacht werden - in der ersten Auflage des Grundriss richtet sich der Philologe an die Romanen. Diese Aspekte müssen aber vor dem Hintergrund des Objektivitätsanspruchs der modernen Wissenschaften zurücktreten. So formuliert Gröber in der zweiten Ausgabe neu: Vertraut mit ihnen werden immer nur engere Kreise sein können, aber von ihnen aus wird auch die rechte Einsicht in das Wesen eines romanischen Volkes und das rechte Verständnis für seine Vergangenheit und Selbsteinsicht in weiteren Kreisen verbreitet werden. Hierin liegt die schönste und eigenste Aufgabe der romanischen Philologie, deren Bearbeitung ihr verheisst, so lange zu bestehen, als romanische Völker sein werden. (Gröber ²1904: 202) Der Versuch, die Zielsetzung der Romanischen Philologie von jeglichem Idealismus zu reinigen, ist klar ersichtlich. Gereinigt von emotional besetzten Zwecken dient die Forschung der Datensicherung, um so, mittels Faktenwissen, über die Vergangenheit aufklären zu können. Dieses Faktenwissen dient in der zweiten Auflage nicht mehr der Bildung der „Romanen“, sondern wird als wissenschaftliche Erkenntnis den Kreisen der Forschenden und Lehrenden innerhalb des Systems ,Romanische Philologie‘ bereitgestellt, um so neue Forschung generieren zu können (Autopoiesis). Damit kann sich der zu bearbeitenden Stoff auch nicht erschöpfen - dieser Passus fehlt in der zweiten Auflage. 257 Trotzdem Gröber bereits in der ersten Auflage das ethisch-pädagogische Element der Menschenerziehung und -bildung aus der Romanischen Philologie herausnimmt, so ist doch erkennbar, dass er sich teilweise noch 256 Dieses emotionale Engagement war ja auch im pädagogischen Philologiekonzept Magers wichtiger Bestandteil. Ebenso findet es sich bei Jakob Grimm, wenn er den Philologen vom Sprachwissenschaftler trennt. 257 Allerdings liefert dieser §20 der „Aufgabe“ auch ein Beispiel für die Inkonsequenz, mit der Gröber seine Nachbesserungen vorgenommen hat. Denn nach wie vor soll die Romanische Philologie vor „nationalem Eigendünkel“, „Unwissenheit oder Charlatanerie“ schützen, eine Zielsetzung, die noch nicht ganz von aller Subjektivität befreit zu sein scheint (Gröber 1888: 154; Gröber ²1904: 202). Die Diskursformationen der Neuphilologien 346 dem romantisch-hermeneutischen Erkenntnisideal, das dem Begriff der Philologie als Konzept seit ihrer Genese als autonome Wissenschaft inhärent ist, verpflichtet fühlt. Einerseits ist er sich des geteilten Gegenstands „Philologie“ bewusst, so unterscheidet er beispielsweise klar eine sprachwissenschaftliche von einer philologischen Methode. Andererseits zeigt allein das Projekt eines Grundriss der romanischen Philologie, dass er weiterhin versucht, die beiden Bereiche unter einen Nenner zu bringen. Das Verstehensangebot als Möglichkeit der gesellschaftlichen Partizipation bleibt in der ersten Auflage weiterhin bestehen. Noch stärker müssen diese Spuren des erkennenden Subjekts und damit der menschlichen Intuition dem Kriterium der strengen wissenschaftlichen Objektivität in der zweiten Ausgabe weichen und Erkenntnis als Partizipationsangebot an die Gesellschaft spielt nunmehr eine untergeordnete Rolle. Klar ersichtlich wird diese Verlagerung bei einem Vergleich der „Vorwörter“ der beiden Ausgaben: Im ersten Abschnitt („Geschichte der romanischen Philologie“) der ersten Ausgabe präsentiert sich die Gröbersche Auffassung der Romanischen Philologie: Auch die romanische Philologie stellt in ihrer Entwickelung den gewöhnlichen Gang menschlicher Erkenntnis dar. Absichtslose Wahrnehmung, unscheinbare Anfänge gehen dem zielbewussten Suchen, dem allseitigen Erfassen des Gegenstandes voraus. Im sprungweisen Durchmessen des Raumes hascht dann der Suchende nach dem Ziel. Mit einem Schema unfertiger Ansichten über ähnliche Gegenstände scheint er das Ganze erfassen zu können, ehe Natur und Teile gekannt sind. Der vorschnellen Meinung folgt die Einsicht des Irrtums, nur langsam der Entschluss, dem Gegenstand in kleinen und kleinsten vorsichtigen Schritten nahe zu kommen, Teil und Teilchen zu beschauen und nicht zu ruhen, bis die Überzeugung gewonnen ist, dass sie nur so und nicht anders aufgefasst werden dürfen. (Gröber 1888: 3) So lauten die ersten Sätze des Grundriss von 1888, die in der zweiten Ausgabe überhaupt nicht mehr zu finden sind. 258 Deutlich wird hier, dass Gröber in der ersten Ausgabe des Grundriss davon ausgeht, dass auch partielles Erkennen („Teil und Teilchen“) zur Erfassung einer Sinnkohärenz der „menschlichen Erkenntnis“ führen kann. Diese aber bleibt stets nur eine Ahnung des Ganzen. Elemente, die ihn hier wieder in die Nähe der Boeckhschen Philologie rücken, sind: i) die Annahme, philologische Forschung sei eine Möglichkeit zur Erfahrbarmachung von Wissen in seinem Sinnzusammenhang; ii) sie sei eine Annäherung an die Ganzheitlichkeit geistiger Objektivationen in ihrer geschichtlichen Entwicklung; iii) die Vorstellung, Wissenschaft sei unendliche Approximation und iv) die Idee, Ini- 258 Diese Beobachtung macht bereits Ernst Robert Curtius in seinen Gedenkworten auf Gustav Gröber (Curtius 1960: 448). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 347 tiierung von Forschung laufe über das Moment der Intuition („absichtslose Wahrnehmung“). Darauf folgt dann eine bildhafte Beschreibung der historisch-komparativen Methode und ihrer wissenschaftlichen Kriterien, denn diese bilde das eigentliche Feld der Forschung - am Beginn aber steht die Intuition. An Stelle des Erkenntnisideals und der Forderung nach gesicherter Einsicht tritt in der zweiten Ausgabe dann die Betonung der Gleichrangigkeit der Romanischen Philologie neben den etablierten Wissenschaften. Gröber wählt eine Metapher aus dem Bereich der Flora, um die Fruchtbarkeit und die Blüte der Romanischen Philologie zu beschreiben. 259 Ob der Bildspender passend gewählt ist, erscheint fraglich. Gröber vergleicht die Romanische Philologie nämlich mit einer Schlingpflanze, deren Konnotationsbereich üblicherweise Begriffe wie ‚Unkraut‘, ‚Ersticken‘, ‚unkontrolliertes Wuchern‘ beinhaltet. Die Romanische Philologie wirkt in diesem Vergleich denn auch leicht parasitär und erinnert ein wenig an die Würgefeige 260 , die ihrem Wirt mit dem Austreiben eigener Wurzeln den Nährboden entzieht und ihn letztlich aushungert, um dann selbst auf dessen Platz zu stehen: Obgleich von ‚Romanischer Philologie‘ erst seit wenigen Jahrzehnten gesprochen und die Vorstellung von einer notwendig zu betreibenden geschichtlichen Wissenschaft erst seit dem letzten Drittel des verflossenen Jahrhunderts verbunden wird, ist sie doch keine Entdeckung der jüngsten Generation. […] Seitdem rankte sich die Beschäftigung mit den romanischen Sprachen und Litteraturen wie eine Schlingpflanze an den verwandten, ihrer Zeit als festgegründet geltenden Wissenschaften empor, wuchs mit ihnen, wurde von ihnen genährt, bildete ein Lehrgebiet nach dem anderen aus und konnte im zweiten Drittel des vorigen Jahrhs. als selbständiges Glied in die Reihe der Sprach- und geschichtlichen Wissenschaften eintreten. (Gröber ²1904-06: 1, erster und vierter Satz) Der vierte Satz findet sich zwar auch schon in der ersten Ausgabe, doch längst nicht an so prominenter Stelle, eher beiläufig wird die Tatsache, dass 259 Metaphern aus dem Bereich des organischen Wachstums waren im 18. Jh. und auch im 19. Jh. beliebt, um die Entwicklung der Menschheit zu verdeutlichen. Beispiele wären hierfür die Organismusmetapher sowie das Wortfeld „Blühen“, vgl. hierzu beispielsweise Römer 2000: 353-365. 260 Die Würgefeige (ficus virens) entwickelt sogenannte Luftwurzeln, mit der sie ihren Wirtsbaum umschlingt. Letztlich wächst sie nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Erreichen die Luftwurzeln den Boden, bedeutet dies das Aus für den Wirtsbaum. Er erstickt, die Würgefeige kann zudem bereits auf eigenen Füßen stehen. Zum Teil trifft dies auf die Romanische Philologie zu: Zunächst begab sie sich in vorgefertigte Argumentationsmuster, übernahm bestehende Methoden und bildete sich so über die Nachahmung zu einer eigenen Wissenschaft aus. Die Herauslösung der pädagogischen Verpflichtung aus der Konzeption der Romanischen Philologie lässt sich mit dem Absterben integraler Bestandteile der zuvor übernommenen Legitimationsmuster (Altphilologie) vergleichen. Die Diskursformationen der Neuphilologien 348 sich die Romanische Philologie neben den anderen Wissenschaften etabliert hat, im dritten Absatz erwähnt. Natürlich spielt hier auch der Zeitpunkt, zu dem der Grundriss verfasst wurde, eine Rolle. So geht es in der ersten Auflage noch ganz um die gefundene Identität der jungen Wissenschaft, […] in den übrigen Zeiträumen folgt die romanische Philologie den Einwirkungen insbesondere der klassischen Philologie, der Sprachwissenschaft und Geschichte; im jüngsten s c h e i n t s i e f e s t i n s i c h b e g r ü n d e t . (Gröber 1888: 4; Sperrung J.W.) während sich diese in der zweiten Auflage bereits selbstbewusst als impulsgebende, gleichwertige und konkurrenzfähige moderne Wissenschaft gibt: 261 […] in den übrigen Zeiträumen steht die romanische Philologie besonders unter dem Einflusse der klassischen Philologie, der Sprachwissenschaft und der Geschichte; im jüngsten, m e t h o d i s c h d i s z i p l i n i e r t , f ä n g t s i e a n r i c h t u n g g e b e n d f ü r d i e a n d e r e n P h i l o l o g i e n z u w e r d e n . (Gröber ²1904-06: 1; Sperrung J.W.) 262 Essentiell ist hier der Verweis auf ihre methodische Disziplinierung. Die Methodizität der Forschungsarbeit gilt als Beweis für ihre Wissenschaftlichkeit sowie die Objektivität ihrer Ergebnisse. Damit verbunden ist die Umwertung des Verhältnisses von Methode und Intuition. Deren Bedeutung als Grundlage für das Generieren von Erkenntnis, steht sie doch am Beginn jeglicher methodischen Forschung (erste Auflage), erhält in der zweiten Ausgabe keine Aufmerksamkeit mehr. Trotzdem Gröber auch in der ersten Auflage als Wissenschaftskriterium die Methodizität der Verfahrensweisen betont hatte, schimmerten in dieser Sedimente der „alten“ Auffassung von Philologie auf, die auf das Wechselspiel zwischen apriorischem und aposteriorischem Erkennen verwiesen. Besonders betont wird dabei, dass die Anwendung gesicherter Verfahren die Netzwerkbildung und damit die Internationalität der Romanischen Philologie unterstütze - letztendlich bereits moderne Kennzeichen einer wissenschaftlichen Disziplin. 263 Gröber wertet hier den Stellenwert der Romanischen Philologie ganz entschieden auf. Ihr Fortschritt im Hinblick auf ihre Stellung als moderne Wissenschaft wird an ihrer methodischer Durchbildung, Internationalität 261 Auch dies passt zum Vergleich mit der Schlingpflanze. 262 Interessant ist, dass Gröber die Germanistik als Leitdisziplin in keiner der beiden Ausgaben explizit nennt. Möglicherweise sieht er in ihr einen zu großen Konkurrenten - die Argumentationsmuster beider gleichen sich mit Ausnahme der nationalen Legitimationsebene der Germanistik und würden einen Vergleich ja geradezu anbieten. 263 Vgl. zu den Kriterien moderner Wissenschaften Stichweh 2006. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 349 und der Kontrollierbarkeit ihrer Ergebnisse gemessen, nicht mehr an ihrem Beitrag zu einer ethisch-ästhetischen Menschenerziehung. Hier wird deutlich, um was es Gröber geht. Er ordnet die Philologie zwar den Geschichtswissenschaften zu, methodisch lässt sie sich aber in Nähe zu den Naturwissenschaften verorten. Eine Zuordnung der Sprachwissenschaft zu den Naturwissenschaften lehnt Gröber allerdings ab. Als zu starr und gezwungen haben sich die Auswirkungen des Darwinismus gezeigt, für Gröber ein eindeutiger Nachteil für die Romanische Philologie (Gröber 1888: 107/ 108). Positiv bewertet er dagegen den Einfluss der Darwinschen Naturanschauung: Die genaue Beobachtung selbst kleinster Veränderungen in der Sprache helfe, Sprachwandel zu erklären und dessen Gesetzmäßigkeiten herauszuarbeiten (Gröber 1888: 108). 264 Gröber zeigt sich hier als ein gemäßigter Vertreter des Begriffs der „Sprachgesetze“, der sich selbst in der Tradition Diezens sieht und betont, dass nicht nur starre Gesetze, sondern auch Analogieschlüsse Sprachwandel induzieren können. Die Übertragung der deduktiven Methode aus den Naturwissenschaften in die Geschichtswissenschaften versetze diese in die Lage, ihre Theoriebildung empirisch an objektiv gemessenen, also tatsächlichen, Fakten zu verifizieren. Damit löste Gröber das methodische Spannungsfeld der philologischen Forschung auf: Der Pol des empathischen Nachfühlens, das noch dem Kantschen Theorem der kritischen Urteilskraft verpflichtet war (Talent, Divinationsgabe), löst sich auf und übrig bleibt ein positives Erkennen der sprachlichen Daten. Über die Auflösung der bipolaren Forschungsmethode, gelingt Gröber der Transfer eines positivistischen Forschungsprogrammes in die Romanische Philologie, die nunmehr in ihrer Vorgehensweise die naturwissenschaftliche Methode der Deduktion nachbildete und den Erkenntnisprozess damit eindeutig als rein aposteriorisch definierte (Gröber ²1904-06: 188). Betrachtet man die Herauslösung der pädagogisch-ethischen Verpflichtung der Philologie aus Gröbers Konzeption im Zusammenhang mit seinem Methodenbegriff, wird deutlich, dass sich Gröber für die Beziehung zwischen Leben und Philologie nur am Rande interessiert: Philologie hat ihren Sitz im wissenschaftlichen Leben, sie leistet einen Beitrag für „engere Kreise“, das heißt ihre Ergebnisse sind in erster Linie auf den Diskurs intra muros ausgerichtet - auch hier unterscheidet er sich deutlich von den Ansichten Adolf Toblers. Die gesellschaftliche Folie wird denn auch von diesem Expertenkreis aus bedient: Die „rechte Einsicht“, das „rechte Verständnis“ und „Selbsteinsicht“, die der Forscher aufgrund der objektiv gesicherten Faktenlage - Wissen wird aus dem Tatsächlichen generiert - an die Gesellschaft weitergibt, hat nicht mehr den Anspruch auf Bildung im 264 Interessant ist in diesem Zusammenhang die Bemerkung Curtius’, Gröber verwende im Hinblick auf die Methode gerne den Begriff ‚Autopsie‘ (Curtius 1960: 446). Die Diskursformationen der Neuphilologien 350 Sinne einer Erziehung, sondern auf Bildung im Sinne einer Aufklärung über eben diese Faktenlage (Gröber ²1904-06: 202). 5.4.4.3 Sprachwissenschaft und Philologie: eine methodische Abgrenzung? Gröber formuliert sein Anliegen, die Romanische Philologie als Geschichtswissenschaft mit einer naturwissenschaftlichen Methode zu legitimieren, nur implizit. Über intertextuelle Verweise lässt sich der Bezugsrahmen, in dem Gröber seine Philologiekonzeption verortet feststellen: August Boeckh und Gustav Körting, die beide - in unterschiedlicher Weise - eine Philologiekonzeption vorgestellt hatten, in der text- und sprachwissenschaftliche Forschung sich als Teilbereiche einer übergeordneten Kulturwissenschaft präsentierten, werden zurückgewiesen. Körtings Enzyklopädie weist zudem eine viel zu starke Orientierung an didaktischen Forderungen von Universität und Schule auf und visiert nicht den Expertenkreis an, den Gröber beim Verfassen seines Werkes im Blick hat. Um sich von beiden Konzeption abzugrenzen, bedient sich Gröber der bereits erwähnten Schlagworte der „mangelnden Kontinuität“ wie auch der „Eingrenzung des Gegenstandsbereichs“ und konstituiert so neue Wissensrahmen um den Begriff der Romanischen Philologie. Legitimiert wird Gröbers Konzeption durch die Traditionslinie, in die er sich stellt: Friedrich Diez dient Gröber als Emblem der modernen Wissenschaft ‚Romanische Philologie‘. Er, Diez, habe den Plan aufgestellt (Grammatik und Wörterbuch), der bis dahin für die Romanische Philologie gefehlt habe und der die Ausdehnung und die Selbständigkeit des neuen historischen Forschungsgebietes gezeigt, der einen vollständigen Überblick über dasselbe gewährt, die Arbeit und die Ziele der Forschung angegeben hätte. (Gröber ²1904-06: 119) Solchermaßen gerüstet, die Wissenschaftlichkeit hatte Gröber methodisch und inhaltlich über den Gründervater abgesichert, legt Gröber seinen Grundriss als ein Projekt an, das eine Konzeption von Romanischer Philologie als Wissenschaft hauptsächlich über eine alle Forschungsergebnisse überdachende und sichernde Objektivität verspricht - dies beinhaltet auch Modernität, Autonomie und Fortschritt. Den Fortschritt der Romanischen Philologie bemisst Gröber an äußerlich messbaren Kriterien, die wiederum für Objektivität stehen: der Erweiterung des Expertenkreises und der Verschärfung der Forschungsmethoden (Gröber ²1904-06: 126). Unhinterfragt legt Gröber all seinen Überlegungen die Einheit des Forschungsgegenstandes zugrunde, Unterschiede will er nur für die methodische Seite gelten lassen, inhaltlich verfolgten Sprach-, Literatur und Textforschung das gleiche Ziel: Aufklärung über die „nur mittelbar verständliche Sprache“ (Gröber ²1904-06: 194). Ihr müssen sich Sprach- und Textforschung auf verschiedene Weise nähern und so trennt Gröber in beiden Romanische Philologie als Fachwissenschaft 351 Ausgaben in sprachwissenschaftliche und philologische Behandlung der Quellen, in der zweiten Ausgabe tritt in diesem Abschnitt noch ein Kapitel über die literaturgeschichtliche Behandlung der Quellen hinzu. Im Abschnitt über „Aufgabe und Gliederung der Romanischen Philologie“ hatte Gröber den Philologen bereits als Personalunion eines Literaturgeschichtlers und eines Sprachwissenschaftlers definiert, wobei er das Aufgabengebiet des Sprachwissenschaftlers auf die historischen Einzelsprachen einschränkte. Sprachwissenschaftliche Forschung habe die Gesichtspunkte, unter denen die Rede als „Sprache, als Bezeichnendes“ untersucht werde, zu betrachten (Gröber 1888: 151; ²1904-06: 199). Er unterscheidet dabei eine empirische, eine historische und eine genetische Sprachbetrachtung. Empirische Sprachbetrachtung erforscht die Rede in ihrem sprachlichen Istzustand (Synchronie), wie er in Regelwerken, Gröber nennt hier Grammatiken, Wörterbücher, Übersetzungen und Polyglotten, zu finden ist (Gröber 1888: 210; ²1904-06: 167). Die historische Sprachbetrachtung (Diachronie) richtet sich auf Sprachwandel, ihr Forschungsmaterial findet sie in Schriftdenkmälern der Vergangenheit. Allerdings kann sie nur Auskunft über die Entwicklung geben, nicht etwa über die Ursachen für Veränderungen. Diese Ursachen aufzuspüren ist Sache der genetischen Sprachbetrachtung, die im Grunde der Methode der allgemeinen Sprachwissenschaft entspricht: Verallgemeinert […] sucht die genetische Betrachtung, - ebenso wie die Physiologie die Bethätigung und das gesetzliche Wirken der körperlichen Organe aus ihrer Einrichtung, und wie die Biologie ihre Entstehung und Veränderung erforscht -, das Wirken des vorstellenden Geistes in der Sprache, die das Sprechen veranlassenden und begleitenden seelischen Thätigkeiten, Entstehung und Wandel in der Sprache aus der seelischen Mechanik, mitsamt der Entwickelung des Geistes selbst zu ergründen und wird so zur (psychologischen) S p r a c h w i s s e n s c h a f t . (Gröber 1888: 210/ 211; Sperrung wie im Original) Alle drei bedingen sich gegenseitig und sind nötig zur vollständigen Erfassung des Gegenstandes. Offensichtlich stehen zwei sprachwissenschaftliche Methoden der Philologie ein wenig näher, bildet doch die empirische Sprachbetrachtung zusammen mit Kritik und Hermeneutik die Grundlage bei der „Vergegenwärtigung fremder Rede im Sinne ihrer Urheber“ und erweist sich so als essentiell für die Text- und Editionswissenschaft (Gröber 1888: 211; ²1904-06: 269). 265 Doch auch bei der historischen Sprachbetrachtung lässt sich die Verbindung zur Philologie herstellen, denn 265 Interessant ist, dass Gröber von der Hermeneutik und in diesem Zusammenhang auch von der Philologie öfter als von einer Kunst spricht: „Die ersten zünftigen Romanisten […] stellen die deutsche und romanische Philologie als mittelalterliche der klassischen Philologie gegenüber und übertragen, wie Schlegel gleichfalls verlangte, und K. Lachmann in der Deutschen Philologie gezeigt hatte, die an Sprache und Litteratur des Altertums herangebildete Kunst auf die romanische Philologie.“ (Gröber Die Diskursformationen der Neuphilologien 352 […] sie ermöglicht im Wörterbuche einer Sprache eine geschichtliche Anordnung der Wortbedeutung, wodurch die Darlegung einer Bedeutungsentwickelung eines Wortes an Stelle der üblichen logisch analytischen mit ihren Sprüngen tritt, und weist dem Umfang des Begriffsschatzes eines Volkes, das Mass der Bethätigung seiner geistigen Kräfte in der Sprache für verschiedene Zeiträume seines geschichtlichen Daseins nach. (Gröber 1888: 211) Sprachforschung zielt darauf ab, über empirisch erhobene Daten, Regelmäßigkeiten der Sprachentwicklung durch die historische Aufarbeitung des Datenmaterials zu erkennen und so Echtheitsfragen, geschichtliche Verläufe und gesetzmäßig verlaufenden Sprachwandel zu klären. Sie liefert Faktenmaterial, mit dem die philologische Forschung arbeiten kann, denn deren Aufgabe ist es, den Quellen zu entnehmen, […] wie in der Übung redender Künste die Vergangenheit dem Gefühle dauernden Ausdruck gegeben habe, mit welchem sie sich dem Weltlauf und dem Menschenleben gegenüber stellt, wie weit sie vermocht hat, ihre Betrachtung des Seienden für sich und für die Nachwelt in Worte zu bannen; (Tobler 1888: 252 in Gröber 1888: Ebd.) 266 Erneut ist die Spaltung des Gegenstandes im Grunde erkennbar, Sprachwissenschaft hat andere (Erkenntnis)Ziele und nutzt andere Methoden als die Philologie. Einheit funktioniert nur über die Verbindungsbrücke der Nutzbarkeit der Erkenntnisse der Sprachwissenschaft durch die Philologie. Die genetische Sprachbetrachtung bündelt „allgemeine Einsichten in das Wesen der Sprache“, richtet ihr Augenmerk aber durchaus auch auf „Besonderheiten der einzelnen Sprachen und ihrer geistigen Bedingtheit“ (Gröber 1888: 212; ²1904-06: 270). Diese Stelle führt unweigerlich zur Frage 1888: 89; ²1904-06: 103). Vgl. hierzu Schlegels Projekt der Philologie: III 231: „Nur dadurch daß die φλ [Philologie] W ISSENSCHAFT wird, kann sie sich als K UNST erhalten […].“ Also doch eine ethisch-ästhetische Konzeption der Philologie? Für Gröbers Konzeption muss diese Frage verneint werden, ihm geht es hier um die Übertragung der philologischen Regeln - darauf verweist die Nennung Karl Lachmanns, dessen Positionierung im germanistischen Methodenstreit ebenfalls nicht auf ethischästhetische Partizipation deutete, sondern auf eine Bevorzugung von Editionsverfahren, die aufgrund ihrer mechanischen Regeln objektiver und damit wissenschaftlicher zu sein schienen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Andeutung auf ein Projekt Mittelalterphilologie, das Gröber im zweiten Abschnitt dann verwerfen wird. 266 Tobler bezieht sich hier auf die Ebene des „Seienden“, Gröber selbst befindet sich methodologisch aber auf der Ebene des „Tatsächlichen“. Hier zeigt sich deutlich, dass der Verstehensbegriff der beiden Romanisten anders gelagert ist. Tobler geht von einer partizipativen Philologie aus, die teilnimmt und Teilnahme ermöglicht. Gröber hingegen sieht die Aufgabe philologischer Bildung in der Darstellung der Abläufe auf einer objektiven, die Fakten abbildenden Ebene. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 353 nach Gröbers Sprachbegriff. Der Anklang an Humboldt 267 , dieser wird neben Paul als Quelle benannt, ist unübersehbar. Humboldt definiert genetische Sprachbetrachtung als Eindringen in die Strukturen der Geistesarbeit: Denn wenn man die Sprachen genetisch, als eine auf einen bestimmten Zweck gerichtete Geistesarbeit betrachtet, so fällt es von selbst in die Augen, dass dieser Zweck in minderem oder höherem Grade erreicht werden kann, ja es zeigen sich sogar die verschiedenen Hauptpunkte, in welchen diese Ungleichheit der Erreichung des Zweckes bestehen wird. Das bessere Gelingen kann nemlich in der Stärke und Fülle der auf die Sprache wirkenden Geisteskraft überhaupt, dann aber auch in der besonderen Angemessenheit derselben zur Sprachbildung liegen, also z.B. in der besonderen Klarheit und Anschaulichkeit der Vorstellungen, in der Tiefe der Eindringung in das Wesen […]. (Humboldt [1827-29] 2003: 294) Bei Gröber findet sich hingegen als Aufgabe der genetischen Sprachforschung die Forderung, sie solle, „Ordnung und Zusammenhang in die sprachliche Veränderung“ bringen, ferner obliege es ihr, den Forscher zur Erkenntnis der sprachlichen Veränderung als „Resultat des Wirkens seelischer Thätigkeitsformen und äusserer Beweggründe“ zu führen (Gröber 1888: 231). Gröber legitimiert seine Methode über das Zitieren des „großen Meister[s]“ - dass er dessen philosophisch-anthropologische Sprachwissenschaft allerdings nur in Ansätzen in seine Konzeption integriert, scheint ihn nicht zu stören. 268 Bereits im Abschnitt „Geschichte der romanischen Philologie“ hatte Gröber, fast schon erleichtert, geschrieben: Allmählich trat auch die ältere Auffassung von der Sprache, die man Diez leiten sieht, wenn er nach der Ursache der Ausnahmestellung ursprünglich gleichgestalteter Wörter fragt und sie öfter in der Einwirkung des einen Wortes auf das andere begründet findet (Analogie), in den Vordergrund, die psychologische, die in der Sprache ein Erzeugnis des erkennenden Geistes, in der Sprachveränderung Wirkungen der psychischen Mechanik, in der Sprachwissenschaft eine Geisteswissenschaft erblickt, und der ausgehend von W.v.Humboldts sprachwissenschaftlicher Forschung und Her- 267 Gröber interessiert sich - im Gegensatz zu Humboldt - allerdings nicht in erster Linie für das sprechende Individuum des „Ist-Zustandes“. Ganz der historischen Wissenschaft verschrieben, richtet er sein Augenmerk auf die „Sprachgenossenschaften“ und deren diachrone Erforschung (Gröber 1888: 233). 268 Vgl. hierzu Trabant, der dieses rudimentäre Zitieren von Humboldts Sprachtheorie als geradezu symptomatisch für das 19. Jahrhundert beschreibt (Trabant 1990: 59/ 60). Möglicherweise verdeckt das Beschwören der Humboldtschen Sprachtheorie den Mangel einer eigenen sprachtheoretischen Diskussion und das blinde Übernehmen der historisch-komparativen Methode, ohne diese daraufhin befragt zu haben, ob sie allein den Erkenntnis- und Partizipationsangeboten einer als ethisch-ästhetische Verstehenswissenschaft konzipierten Philologie Genüge leisten könne. Einfacher scheint es zu sein, auf diesen Anspruch schlichterhand größtenteils zu verzichten… Die Diskursformationen der Neuphilologien 354 barts Psychologie, H.Steinthal in Untersuchungen über den Zusammenhang der Sprache mit dem vorstellenden Geiste […] zugleich unter endgiltiger Zurückweisung der Auffassung F.Beckers von der Sprache als Ausdruck logischen Denkens, wieder Geltung schaffte. (Gröber 1888: 108; 1904- 06: 127) Trotzdem ist Vorsicht geboten, zöge man eine sprachwissenschaftliche Parallele Gröbers zu Humboldt, steht dieser doch in „konzeptioneller Hinsicht [in einer] marginalen Position […] im sprachwissenschaftlichen Feld“ (Messling 2008: 42). Dafür spricht auch die Bemerkung Delbrücks: „Man verbeugt sich in der Vorrede vor dem alten Meister und verfährt im übrigen nach alter Weise.“ (Delbrück 1893: 46). 269 Der intertextuelle Verweis dient Gröber nur mehr als Habitus: Über ihn schreibt er sich in die Humboldtsche Tradition ein und kann nun mit den in ihr gebundenen Wissensrahmen in seinem Sinne agieren. Denn trotz der diskursiven Vernetzung mit den Humboldtschen Wissensrahmen um den Begriff ,Sprache‘ ersetzt er die menschliche Kreativität als ein Wirkungsprinzip des Sprachwandels durch die „psychische Mechanik“ - und zeigt sehr deutlich seine Nähe zum formalistischen Sprachbegriff der Junggrammatiker. Neben dieser (vorgespiegelten) Filiation finden sich integriert in Gröbers sprachtheoretischen Ausführungen auch das Konzept der psychologischen Sprachwissenschaft Heyman Steinthals, die historische Einzelsprachenbetrachtung Hermann Pauls 270 sowie die bereits erwähnten Ideen der Junggrammatiker. 271 Gröber sitzt, so scheint es, zwischen allen Stühlen und bedient sich aus allen Töpfen. Als Sprachwissenschaftler tendiert er 269 Vgl. zur Randposition Humboldts Beneš 1958; Trabant 1990; Messling 2008. 270 Vgl. z.B. zur Sprachwissenschaft als Geschichtswissenschaft Paul 1920: §10: „Ich habe es noch kurz zu rechtfertigen, dass ich den Titel Prinzipien der Sprachgeschichte gewählt habe. Es ist eingewendet, dass es noch eine andere wissenschaftliche Betrachtung der Sprache gäbe als die geschichtliche. [...]. Ich muss das in Abrede stellen. Was man für eine nichtgeschichtliche und doch wissenschaftliche Betrachtung der Sprache erklärt, ist im Grunde nichts als eine unvollkommen geschichtliche, unvollkommen teils durch Schuld des Betrachters, teils durch Schuld des Beobachtungsmaterials. Sobald man über das blosse Konstatieren von Einzelheiten hinausgeht, sobald man versucht den Zusammenhang zu erfassen, die Erscheinungen zu begreifen, so betritt man auch den geschichtlichen Boden, wenn auch vielleicht ohne sich klar darüber zu sein. Allerdings ist eine wissenschaftliche Behandlung der Sprache nicht bloss möglich, wo uns verschiedene Entwickelungsstufen der gleichen Sprache vorliegen, sondern auch bei einem Nebeneinanderliegen des zu Gebote stehenden Materials. Am günstigsten liegt dann die Sache, wenn uns mehrere verwandte Sprachen oder Mundarten bekannt sind. Dann ist es Aufgabe der Wissenschaft, nicht bloss zu konstatieren, was sich in den verschiedenen Sprachen oder Mundarten gegenseitig entspricht, sondern aus dem Überlieferten die nicht überlieferten Grundformen und Grundbedeutungen nach Möglichkeit zu rekonstruieren. Damit aber verwandelt sich augenscheinlich die vergleichende Betrachtung in eine geschichtliche.“ 271 Vgl. zu Gröbers Nähe zum junggrammatischen Denken auch sein Zeitschriftenprojekt, die Zeitschrift für romanische Philologie. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 355 zum naturalisierten Sprachbegriff der Junggrammatiker, zumal deren positivistisch-materialistischer Sprachbegriff auch in Verbindung mit der Vorstellung einer objektiven Systemwissenschaft steht, wie sie Gröber als Modell für die Romanische Philologie vorschwebt. Als Philologe aber, der den Text als Quelle fokussiert, will Gröber vordergründig an Humboldts Sprachphilosophie anknüpfen. 272 Er bemüht sich um eine Synthese der verschiedenen Positionen, versucht das Spannungsfeld zwischen allgemeiner Sprachwissenschaft und Philologie aufzulösen, indem er letztere an die wissenschaftlichen Messkriterien der Sprachwissenschaft angleicht und kurzerhand Objektivität als überdachendes Kriterium einführt, zu dem er gelangt, wenn er die bipolare Forschungsmethode reduziert und eine naturwissenschaftliche Methode in der philologischen Forschung implementiert, die der Generierung einer Faktenlage auf Basis des „Tatsächlichen“ entspricht. Zusätzlich begreift er einzelsprachliche Forschung als integralen Teil der Philologie - die Eingrenzung des Forschungsgebiets verspricht ihrerseits eine höhere Objektivität, da so genauere Beobachtung und wahrscheinlichere Regelbildung möglich scheinen. Gröber, so scheint es, kann sich letztlich nicht entscheiden: Aufklärung über geschichtliche Entwicklung bei größtmöglicher Einhaltung der Objektivitätsforderung. Sedimente des idealistisch-ethischen Auftrags der Boeckhschen Philologie bleiben dennoch sichtbar. Angesichts des Erkenntnisideals Gröbers, das ihm von Ernst Robert Curtius zugeschrieben wird, lassen sich die verschiedenen Mosaikstücke im Grundriss vielleicht auch als ein Versuch deuten, die Sterilität des positivistischen Sprachbegriffs der „modernen“ Sprachwissenschaft, die sich vom Idealismus zu befreien suchte, nicht gänzlich für die Philologie gültig zu machen. Methodisch gesehen gehen Philologie und Sprachwissenschaft im Grundriss jedoch längst getrennte Wege. Den Schritt aber, in logischer Konsequenz drei verschiedene Disziplinen, nämlich Sprachwissenschaft, Philologie als Textwissenschaft und Literaturgeschichte nebeneinanderzustellen, geht Gröber im Gegensatz zu manchen Zeitgenossen noch nicht. Georg von der Gabelentz, den Trabant als einen der wenigen echten Nachfolger Humboldts bezeichnet (Trabant 1990: 62), geht diesen Schritt, indem er für die Sprachwissenschaft eine Nähe zu den Naturwissenschaften sieht, die die Philologie als reine Geschichtswissenschaft, deren Ziel auf das Erkennen des Wirkens auch des einzelnen Individuums ausgerichtet ist, nicht 272 Humboldts Sprachkunde richtet ihr Augenmerk auf das Studium der Texte. Sprache kann nur im Zusammenhang mit der Kultur und Literatur des jeweiligen Volkes erfolgen. Trabant 1990: 213 spricht in diesem Zusammenhang von einer „Vermählung von Linguistik und Philologie, mit einer eindeutig hierarchischen Einstufung einer philologisch fundierten Erforschung des Sprachcharakters als der gegenüber struktureller Linguistik höheren Disziplin“. Genau diesem kulturalistisch-philologischsprachwissenschaftlichen Projekt scheint sich auch der Grundriss - zumindest auf den ersten Blick - verschrieben zu haben. Die Diskursformationen der Neuphilologien 356 erreichen kann. 273 Im Gegensatz zu Gröber geht es Gabelentz nicht mehr um Synthese, in seiner Darstellung finden sich Philologie und Sprachwissenschaft bereits als voneinander getrennte wissenschaftliche Disziplinen. Gröber dagegen will die Einheit, er will das große Ganze, allerdings fachwissenschaftlich und methodisch gesichert (Gröber 1888: V). Das auf Gröbers Methodenkapitel zur sprachwissenschaftlichen Forschung folgende Kapitel über die philologische Behandlung der Quellen (Kritik und Hermeneutik) von Adolf Tobler liest sich wie eine Kontrastfolie - vor allem, wenn Toblers eigentliche philologische Konzeption noch in Rechnung gestellt wird. 274 Tobler vollzieht die Trennung aus philologischer Perspektive. Mit der bekannten Fußnote in der zweiten Ausgabe stellt er das gesamte Werk, aus heutiger Sicht gedeutet, eher in Frage, als es zu fördern. Unumwunden gibt er zu, im Grundriss einen Philologiebegriff zu vertreten, der nicht der eigene sei und der in seinen Augen auch nicht als der richtige zu gelten habe. Um des „Einheitsprojektes“ seines Kollegen willen, habe er den eigenen Begriff modifiziert. Auch dies reflektiert die Vielfalt der Wissensrahmen, die sich um den Begriff der Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts gebildet haben: Der Verfasser [gemeint ist Adolf Tobler selbst; J.W.] dieses Abschnittes hat über Wesen und Ziel der Philologie in seiner 1890 gehaltenen Rede ‚Romanische Philologie‘ […] sich wesentlich anders ausgesprochen, als in der ersten Auflage des ‚Grundrisses‘ 1884 geschehen ist, namentlich die Philologie schärfer von der Sprachwissenschaft, aber auch von der Litteraturgeschichte gesondert und bekennt sich noch zu der später bekundeten Anschauung. Wenn er hier gleichwohl das früher Geäusserte wiederholt, so geschieht es, weil Titel, Anlage und Ausführung des grossen Werkes, an dem er hat mit- 273 „Eben hierin liegt nun das Zweite, die Fruchtbarkeit und verhältnissmässige Sicherheit dieser Forschungsart. In die Philologie spielt doch scheinbar zuviel des Subjectiven hinein. […] Die Verwandtschaft der Linguistik mit den Naturwissenschaften liegt aber auch sonst im Wesen der Sache. Nichts gleicht einem Organismus mehr als die menschliche Sprache. […] Dagegen giebt es eine Macht, die der Naturforscher als solcher nie begreift, mit der nur der Historiker zu rechnen versteht: die Macht des Individuums. Der Naturforscher mag die Biologie erforschen: eine Biographie zu schaffen ist nicht seines Amtes; er mag seinen Arm ausstrecken, ob er die Psychologie in sein Bereich [sic! ] herüberziehen könne: das Geistesleben eines Menschen, eines Volkes, eines Zeitalters bleibt ihm unerfassbar, unerreichbar.“ (Gabelentz ²1901: 16/ 17) 274 Diese findet sich in seiner Antrittsrede von 1890. Tobler betont in der zweiten Ausgabe des Grundrisses, dass hier nicht seine eigene Überzeugung dargelegt ist. Er trennt Philologie von Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte, seine Vorstellung der drei Gebiete ist eher eine interdisziplinäre denn eine intradisziplinäre, wie sie Gröber vertritt. Dennoch steht er hinter seiner eigenen Überzeugung zurück, „weil dieses zu Titel, Anlage und Ausführung des grossen Werkes, an dem er hat mitarbeiten dürfen, sich besser schickt“ (Tobler ²1904-06: 318). Vgl. hierzu auch Lebsanft 2009. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 357 arbeiten dürfen, sich besser schickt. (Tobler ²1904-06: 318, Fußnote in: Gröber ²1904-06: Ebd.) Wo also Tobler und Gabelentz zwei getrennte Forschungsfelder und die mit ihnen jeweils verbundenen Disziplinen konstituieren 275 , lässt Gröber sich, um der Einheitsutopie willen, auf einen Kompromiss ein und damit auf einen methodischen Bruch zwischen Sprachwissenschaft und Philologie, der letztere zu einem bloßen Rahmen für sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung machen wird. 5.4.4.4 Fazit: Resignation und Zäsur Die Ambivalenzen im Grundriss machen die Krise, in die die romantischidealistische Konzeption der Philologie im Sog der modernen (Natur)Wissenschaften geraten ist, nachvollziehbar. Gustav Gröber arbeitet an diesem letzten großen enzyklopädischen Werk der Romanischen Philologie in einer Zeit, in der das Bemühen um einen Wechsel klar ins Auge springt. 1882 erschien Wilhelm Vietörs Streitschrift „Der Sprachunterricht muss umkehren“, die stellvertretend für alle Reformbefürworter des neusprachlichen Unterrichts eine Abkehr von den alten Texten und eine Hinwendung zur gesprochenen zeitgenössischen Sprache forderte. 276 Das praktische Beherrschen der Sprache tritt in den Vordergrund und verdrängt das philologische Anliegen der Menschenbesserung durch ein profundes „Sich Hineinversetzen“, für das in der angestrebten modernen Unterrichtswelt kein Platz mehr ist. Möglicherweise liegt hier ein weiterer Grund für die absolute Zurückweisung zeitgenössischer Rede als Gegenstand philologischer Forschung bei Gröber. Gleichzeitig wandelt sich die Linguistik zu einer mehr und mehr an den Naturwissenschaften orientierten Systemwissenschaft, die Funktion einer „theoretischen Spitze“ 277 der Philologie kann und will sie nicht mehr erfüllen. Zu sehr divergiert die Sprachvorstellung der Junggrammatiker von einer, in der Herderschen Tradition stehenden philologischen Sprachauffassung: An die Stelle der Sprache als Medium der Erkenntnis über die geschichtliche Entwicklung der Menschheit tritt 275 In diesem Zusammenhang ist auf die von Oesterreicher 2000 immer wieder betonte Trennung zwischen Fach und Disziplin aufmerksam zu machen. Fach, Forschungsgegenstand und Disziplin sind nicht immer deckungsgleich. So ist es durchaus möglich, dass sich Disziplinen in der Gleichheit des Gegenstands berühren, Methode und Zielrichtung aber grundsätzlich verschieden sind. 276 Darauf reagierte beispielsweise Hermann Breymann, der innerhalb der universitätspädagogischen Diskussion um den Begriff der Philologie behandelt wurde. 277 Gemeint ist hier die Aufgabe der Philologie, Verstehens- und Erkenntnisprozesse sichtbar zu machen, hermeneutisch auszulegen und zu erklären und dann als Erkenntnisangebote an die Gesellschaft zu übermitteln. Diese Aufgabe sei über die philologische Methode auch in der Sprachwissenschaft, so Wach, wirksam gewesen (Wach 1984: 5). Die Diskursformationen der Neuphilologien 358 eine Vorstellung von Sprache, die Sprache als einen den Naturgesetzen unterworfenen Organismus begreift. 278 Gröber steht im Grundriss vor der Wahl: Aufspringen auf den Zug der modernen Wissenschaften und dem damit verbundenen Wegfall der ethisch-ästhetischen Aufgabe der Philologie oder Weiterführen der romantisch-idealistischen Konzeption der Philologie mit allen Konsequenzen ihres pädagogischen Bildungs- und Forschungsprogramms und damit letztlich eine Auflösung des Disziplinenverbands Sprachwissenschaft, Philologie und Literaturgeschichte. Man kann den Grundriss in dieser Hinsicht als eine verpasste Chance lesen (vgl. Selig 2005), denn Gröber entscheidet sich für ersteres, aber auch nur recht halbherzig. Es gelingt ihm nicht, Philologie auf ein System zu reduzieren, das die Möglichkeit der Partizipation gänzlich ausschließt. 279 Zwar bemüht sich Gröber, den Klassifikator ‚modernes wissenschaftliches System‘ als den dominierenden einzuführen und durchzuhalten, wenn er eben jenen berühmten ersten Satz der Ausgabe von 1888 streicht und die Wissenschaftlichkeit der Romanischen Philologie betont. Gröber also als Endstation der Romanischen Philologie? Maria Selig zeichnet hier ein pessimistisches Bild: Am Ende des 19. Jahrhunderts wird zwar der Name Philologie weiter benützt, aber er meint nicht mehr eine Synthese von pädagogischwissenschaftlichen Aspekten. Die Wissenschaftler definieren sich und ihre Tätigkeit am Ende des Ausdifferenzierungsprozesses in bewusster Absetzung von den Aspekten, die die Philologie als Bildungsprogramm zu Beginn des Jahrhunderts auszeichneten: Ermöglichung der Partizipation an den verschiedenen Kulturen, Ermöglichung reflektierter Textlektüren, Ermöglichen eines ethischen Gewinns durch das Nachvollziehen der erforschten kulturellen Manifestationen. (Selig 2005: 305) Gröbers Scheitern lässt sich durchaus so interpretieren. Aber doch nur, weil Gröbers Projekt des „großen Hauses“ von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, weil eine Einheit hergestellt werden soll, weil Spannungsfelder aufgelöst werden sollen, weil Philologie aus ihrer ethischen Verpflichtung gelöst und damit semantisch entleert werden soll - und das nicht funktionieren kann. Kultur erfahrbar machen, das ist auch Gröbers philologisches Konzept, und dieses kann ohne Partizipation nicht stattfinden. 278 Gröber vertritt keinen vollständig naturalisierten Sprachbegriff, wie er in Vorwegnahme bei Schleicher angelegt ist oder wie er sich zeitgleich bei den Junggrammatikern findet (Bachmann 2005: 121-151). Er steht hier sozusagen zwischen den Fronten wie einst Wolf, der in seiner Enzyklopädie ja zwischen dem Sprachbegriff der französischen Aufklärung und dem Herderschen Sprachbegriff stand. Vgl. zum Sprachbegriff Schleichers Beneš 1958; zum Sprachbegriff der Junggrammatiker Einhauser 1989; Jaritz 1990; Bachmann 2005. 279 Vgl. zum Wandel des pädagogischen Bildungsprogramms Philologie zur „reinen“ Wissenschaft v.a. Selig 2005: 305f. Kritisch dazu äußert sich Bähler 2009: 135. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 359 Schließlich ist Gröbers Grundriss aber nicht nur ein Zeichen der Resignation innerhalb der philologischen Krise. Er bietet auch die nötige Zäsur, um Innovation zuzulassen. Hier bietet sich ein Blick auf andere Lösungsvorschläge an, die bereits verschiedentlich angedeutet wurden. Ein Beispiel wäre das Philologiekonzept Adolf Toblers, das als ethisches Bildungsprogramm angelegt ist und die unterschiedlichen Zielsetzungen von Sprachwissenschaft, Philologie und Literaturgeschichte erst gar nicht verschleiern will. 5.4.5 Begegnungen im Text - Philologie als ethische Verstehenswissenschaft im „kleinen Haus“: Die Spaltung der Einheit in selbständige Disziplinen bei Adolf Tobler (1835-1910) Der Schweizer Adolf Tobler (1835-1910) zeichnet sich durch ein breitgefächertes Lebenswerk aus, er publizierte im Bereich der romanischen Sprachwissenschaft, der Romanischen Philologie wie auch der romanischen Literaturgeschichte und gilt als einer der prominentesten Vertreter des Faches Romanistik am Ende des 19. Jahrhunderts. 280 1867 an die Universität Berlin berufen, erfolgte 1881 die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften. 281 In seiner Erwiderung auf die Antrittsrede Toblers brachte Theodeor Mommsen seine Hoffnung zum Ausdruck, mit Tobler sei nun endlich „der neueren Philologie überhaupt […] eine hervorragende Stellung in unserem Kreise gesichert“ (Mommsen 1882: 721). Toblers Interesse galt neben der Herausgabe eines altfranzösischen Wörterbuchs 282 auch editionsphilologischer und literaturgeschichtlicher Forschung. Auch in ihm, so läge die Vermutung nahe, ließe sich ein Beispiel für die Bewahrung der fachlichen Einheit der Philologie am Ende des 19. Jahrhunderts sehen. Seine Konzeption von Philologie hat er 1890 in der Rede bei Übernahme des Rektorats niedergelegt 283 - in ihr vermittelt Tobler einerseits sein transnationales Verständnis von Philologie (Kalkhoff 2007: 446; Bott 2010: 450), andererseits aber auch eine Konzeption, die Philologie, Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte als eigene Disziplinen definiert und somit die Einheit ,Romanische Philologie‘ aufbricht. Zwar bleiben die Disziplinen in 280 Vgl. zu Toblers Lebenswerk Lommatzsch 1910; 1954; Morf 1910, besonders die nach Disziplinen gegliederte, umfassende Übersicht über Toblers Leben und Wirken von Lebsanft 2009. 281 Tobler war der erste Romanist, dem diese Ehre zuteil wurde (Bott 2010: 449). 282 Dieses wurde allerdings erst posthum von Toblers Schüler Erhard Lommatzsch herausgegeben und dann von dessen Schüler Hans Helmut Christmann weitergeführt (Bott 2005: 450). 283 Anders als beispielsweise Friedrich Diez hat Tobler in dieser Rede sein Programm und sein Verständnis von Philologie klar dargelegt, was erlaubt, die Analyse seiner Philologiekonzeption auf diesen Text zu stützen (vgl. Kalkhoff 2007; Bähler 2009; Lebsanft 2009; Bott 2010). Die Diskursformationen der Neuphilologien 360 Toblers Konzeption miteinander verbunden, existieren aber doch jede für sich. 284 5.4.5.1 Philologie als komplexe Verstehenswissenschaft Ein „großes Haus“ Philologie, unter dessen Dach sich Sprach- und Literaturwissenschaften gesellen, wie es Gustav Gröber vorschwebte, war nicht das Ziel in Toblers Überlegungen, er wollte lieber „kleine Häuser bauen“, die aber ebenfalls, wie auch bei Gröber, Raum für alle romanischen Sprachen bieten sollten. 285 Dieser Aspekt der Transnationalität romanischer Sprachforschung und Philologie bildet eines der zentralen Elemente in Toblers Konzeption. Die romanischen Sprachen bestimmen denn auch die Schnittmenge zwischen Sprachwissenschaft, (positiver) Literaturgeschichte und Philologie. Anders verhält es sich mit den Aspekten der Methode, des Inhalts und des Forschungsziels, wie er in seiner Rede deutlich macht. Tobler trennt Philologie und Sprachwissenschaft in ihrer Zielsetzung voneinander ab und entwirft ein selbständiges Forschungsprogramm ,Philologie‘: Philologie sei ein Bemühen um Kenntnis und Verständnis der in sprachlicher Form gegebenen Bezeugungen zeitlich und örtlich und national und persönlich bestimmten geistigen Lebens; sie suche jene Bezeugungen auf, soweit sie noch der wissenschaftlichen Beobachtung verborgen geblieben sind; sie strebe danach ihren echten Wortlaut zurückzugewinnen, wo Verdacht ist, im Laufe der Überlieferung habe er Störungen erlitten; sie wolle ermitteln, wer in jenen sprachlichen Äußerungen sich bezeuge, ob und in welchem Maße ein einzelner Mensch oder neben ihm andere, die vor oder neben ihm gleich gedacht oder gefühlt haben mögen, sie erschöpfe endlich nach Vermögen den vollen Inhalt der Zeugnisrede dergestalt, daß diese als Ganzes und in allen Teilen, auch in der Besonderheit ihrer Form, ihr verständlich werde, ihr als der natürliche, ja notwendige Ausfluß einer Sinnesart erscheine, die der Philologe in sich neu erzeuge, nicht um sie dauernd zu der eigenen zu machen, doch um vorübergehend und ohne Selbstentäußerung fremdes Geisteswesen in der eigenen Person zu neuem Leben zu 284 Vgl. zu diesem Verständnis der Disziplinen bei Tobler Kalkhoff 2007; Lebsanft 2009; Bähler 2009; Bott 2010. 285 Lebsanft 2009: 77 beschreibt den Einheitsentwurf der Romanischen Philologie bei Gröber als „Gebäude“ und gibt dabei zu Recht zu bedenken, dass die differenzierendere Vorstellung Toblers in Gröbers Entwurf allerdings integrierbar gewesen wäre. Auf systemischer Ebene ist dies sicherlich der Fall, das ethische Argument Toblers dagegen, das ja hauptsächlich für die Trennung in selbständige Disziplinen verantwortlich zeichnet, die zwar eng zusammenarbeiten, aber doch selbständig sind, liegt jedoch im Widerspruch zu Gröbers Bemühen, die „affaire du coeur“ (Bähler 2009: 135), die Philologie neben der kritischen Reflexion und ihrer streng objektiven Methodenanwendung eben auch ist, aus dem semantischen Wissenskonzept des Begriffs zu streichen. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 361 erwecken; und dies alles zum Zwecke eines immer volleren Erkennens des gesamten Reichtums der Menschennatur. (Tobler 1890: 7/ 8) Es findet sich hier ein Philologiekonzept, das an den ethischen Entwurf einer empirisch gesicherten philologia philosopha August Boeckhs erinnert. 286 Die Forderung, durch Rekonstruktion der Texte über eine gesicherte Methode, die erlaubt, sich der Urfassung so weit wie möglich anzunähern, einen Beitrag zur Aufklärung über die Geschichte der Menschheit zu leisten, bietet eine Parallele zu Boeckhs Konzeption. Eine weitere Parallele zu Boeckhs Denken findet sich in Toblers Legitimation dieser, von der Sprachwissenschaft klar unterschiedenen, Zielsetzung der Philologie, die gleichzeitig den Gegenstand philologischer Forschung legitimiert: Es ist dies die „Wesenseinheit aller Philologie“, über die sich die Konkurrenz zwischen alter und neuer Philologie auflösen lässt (Tobler 1890: 5). Im Gegensatz zu Boeckh will Tobler den Gegenstandsbereich aber auf kulturelle Denkmäler in sprachlicher Form beschränkt wissen 287 - dies mag der mittlerweile fortgeschrittenen Ausdifferenzierung der universitären Fächer geschuldet sein. 288 Philologie und Sprachwissenschaft stehen sich nahe, die Schnittmenge zwischen den beiden ist klar bestimmt durch den Forschungsgegenstand ,Romanische Sprachen‘, aber bereits in den Methoden, mit denen sie sich ihrem Gegenstand nähern, ist ein Unterschied festzustellen. So nähert sich der Sprachwissenschaftler induktorisch, sein Ziel ist das Entdecken des „Allgemeinen“ - Tobler beschreibt hier die naturwissenschaftliche Forschungsmethode wie sie Wilhelm Windelband als Kriterium für die Zugehörigkeit einer wissenschaftlichen Disziplin zu den Naturwissenschaften schildert. 289 Die Sprachwissenschaft bewegt sich für Tobler zwischen nomothetischer und idiographischer Methode, einerseits stellt sie Gesetzmä- 286 Vgl. hierzu auch Bähler 2009: 126/ 127, die in dieser Konzeption ebenfalls ein Echo der „procédés philologiques traditionnels qui, depuis le temps de Tobler ont subi de profondes remises en questions épistémologiques […].“ sieht. Traditionell seien dabei die Elemente der Rekonstruktion des Textes, der Identifikation mit dem Autor wie der Textauslegung (Bähler 2009: 126). 287 „[…] ich meine diejenige Philologie, die sich beschäftigt mit den aus den Kreisen der romanischen Völker hervorgegangenen Geistesäußerungen in sprachlicher Form, die romanische Philologie.“ (Tobler 1890: 5) 288 Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass Gustav Gröber in der ersten Auflage des Grundriss die Volkskunde noch zu dem Gegenstandsbereich der Philologie zählte, in der zweiten aber für die Volkskunde bereits Tendenzen zur Entwicklung einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin konstatierte (Gröber: ²1904: 179-181). 289 Windelband gibt als Ziel naturwissenschaftlicher Forschung an, „Gesetze des Geschehens“ zu formulieren, demgegenüber richte die geisteswissenschaftliche Forschung ihr Interesse mehr auf detaillierte und tiefgehende Beschreibungen einzelner Geschehen (Windelband 1904: 10). Beide dienten jedoch der „Erkenntnis des Wirklichen“, seien also ethisch der objektiven und größtmöglichen Annäherung an die Wahrheit verpflichtet (Windelband 1904: 9/ 10). Die Diskursformationen der Neuphilologien 362 ßigkeiten auf (überzeitliches Wissen), andererseits berichtet sie auch über die Vergangenheit (historisches Wissen) - allerdings nur insofern, um Gesetzmäßigkeiten und Abweichungen über die Historizität der Sprache erklären zu können. 290 Philologie sucht dagegen das Besondere im Allgemeinen, da im Besonderen die Wesensart eines Volkes fassbar wird, ihr liegt daher an der Aufdeckung dieses Besonderen in den sprachlichen Zeugnissen, dies ist das Ziel ihrer Forschung (Tobler 1890: 8/ 9). 291 Dieser Unterschied zwischen den beiden Wissenschaften bezieht sich aber nicht nur auf die Methode, so Tobler, sondern auch auf den Inhalt (Tobler 1890: 9). Dabei entwirft Tobler für die Sprachwissenschaft ein Programm, das das Saussursche Zeichenmodell antizipiert 292 und kognitive Forschungsfragen hinsichtlich des Spracherwerbs und der Verbindung von Denken und Sprache stellt, die aus heutiger Sicht nahezu als aktuell gelten können. Sehr deutlich kommt dabei zum Ausdruck, dass der Mensch als dynamische Kraft, an die der Gegenstand Sprache in einer fast schon symbiotischen Form gebunden ist, essentieller Bestandteil von Toblers Sprachbegriff ist: […] frägt die Sprachwissenschaft, wie der Mensch überhaupt dazu komme, gewisse Vorstellungen mit gewissen Lautgebungen, vorgestellte Beziehungen zwischen Vorgestelltem mit bestimmten lautlichen Merkmalen zu verknüpfen, die er an jenen ersten Elementen der Rede anbringt, durch welche 290 Vgl. zur Unterscheidung der nomothetischen und idiographischen Methode und deren Zugehörigkeit zu naturbzw. geisteswissenschaftlicher Forschung Windelband 1904: 12: „Die einen sind Gesetzeswissenschaften [hier die Naturwissenschaften; J.W.], die andern Ereigniswissenschaften [hier die Geisteswissenschaften; J.W.]; jene lehren was immer ist, diese, was einmal war. Das wissenschaftliche Denken ist […] in dem einen Falle n o m o t h e t i s c h , in dem andern i d i o g r a p h i s c h . […] Ueberhaupt aber bleibt zu bedenken, dass dieser methodische Gegensatz nur die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst klassifiziert.“ (Windelband 1904: 12; Sperrung wie im Original) Dies deutet erneut auf die Stellung der Sprachwissenschaft als eine dritte Kultur zwischen den Bereichen Natur- und Geisteswissenschaften hin. 291 „Wie im Wandel der Zeiten, wie sogar durch Eingreifen einzelner Personen die Volkssprache sich so oder so gestaltet, sucht man drüben und hüben zu erkennen: dort, um Gesetzen auf die Spur zu kommen, die erhaben über Wissen und Wollen der unter ihrer Wirkung Stehenden sich vollziehn […]; hier sofern die Kenntnis des Verlaufes der Sprachgeschichte Anhalt gewährt für die Datierung von Denkmälern, oder sofern ein leiser Wandel der Denkweise sich spiegeln mag, oder sofern kräftige persönliche Sonderart aus eigentümlichem Sprachgebrauche sich erschließen läßt.“ (Tobler 1890: 9) 292 Hier zeigt sich ein möglicher Einfluss des Humboldtschen Sprachdenkens (Symbol und Form) wie auch der - sehr wahrscheinliche - Einfluss der sprachphilosophischen Überlegungen des älteren Bruders, Ludwig Tobler, der sich in seinen Schriften mit eben diesen Fragen beschäftigt. Auch in dessen Sprachbegriff lassen sich deutliche Parallelen zu Humboldts Entwurf einer anthropologischen Sprachwissenschaft entdecken (vgl. Tobler 1865; 1877). Insofern ist Tobler hier nicht innovativ, führt aber, wie auch in der Philologie, sprachwissenschaftliche Traditionen fort. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 363 Mittel und in welchem Umfange es dem sprachlichen Ausdrucke gelinge mit der wachsenden Fassungskraft, dem gesteigerten Unterscheidungsvermögen des Denkens Schritt zu halten, und dem Denken fortzuschreiten gelinge, da es doch die einmal gefundene Form der Sprache nicht wieder abzustreifen vermöge, fortzuschreiten auch zu Zeiten, da die Entwicklungsfähigkeit der Sprache erloschen scheint; frägt sie, wo die Grenzen zu ziehn seien für ein allgemein menschliches Denken innerhalb der kaum übersehbaren Fülle thatsächlich vorhandener, verschiedener Sprachen, in denen die mannigfaltigsten Sinnesarten sich spiegeln, wie es möglich sei, daß ein Mensch die verschiedensten Sprachen verstehn ja sprechen lernen könne […]. (Tobler 1890: 9) Angedeutet ist hier, dass auch die Sprachwissenschaft letztlich eine universelle Wissenschaft ist, wie es Schuchardt einige Jahre später pointiert formulieren wird: Die romanische Sprachwissenschaft ist, ihrer Begrenzung nach, ein Universitätsfach, keine Einzelwissenschaft. Als solche kann nur die Sprachwissenschaft schlechthin gelten; wir haben keine Sprachwissenschaften, sonst hätten wir deren tausend und abertausend, vielfach ineinander geschachtelte. Wir könnten sie der in zahllosen bestimmten Rechnungen sich verkörpernden Algebra vergleichen, wenn das Besondere sich vom Allgemeinen scharf abhöbe; aber das Besonderste ist vielmehr durch eine stetige Folge mit dem Allgemeinsten verbunden. Mögen die Sprachen untereinander geschichtlich verwandt sein oder nicht verwandt sein, sie stellen nur Variationen des gleichen Stoffes dar, von denen keine unentbehrlich ist, aber auch keine unwichtig für die Vervollkommnung unserer Arbeitsweisen und die Gewinnung eines Gesamtbildes. (Schuchardt ²1915: 11) Hintergrund dieser Überlegungen bildet die Ende des 19. Jahrhunderts bereits weit fortgeschrittene Institutionalisierung der Neuphilologien wie auch dann der durch den Ersten Weltkrieg verursachte Fremdenhass, der sich vor allem auf Franzosen und Italiener bezog. 293 Eine Rückbesinnung auf das gemeinsame Ziel der Sprachforscher wie auch der Philologen schien das Gebot der Stunde - angesichts der wachsenden Zahl an universitären Fächern, aber auch des unaufhaltsamen Differenzierungsprozesses der sprachwissenschaftlichen Disziplin. 294 Möglicherweise ist es auch zum 293 Vgl. zum Einfluss des Kriegs auf die Romanistik Schuchardt ²1915, vgl. zur Institutionalisierungsgeschichte der Romanischen Philologie Kalkhoff 2010, besonders 263ff. 294 Vgl. hierzu noch einmal Schuchardt: „Romanist ist nur ein äußeres Kennzeichen; dem innern Beruf nach ist man Sprachforscher - oder man ist es nicht. Einem Sprachforscher kann es nie fehlen; für eine oder die andere Ecke die ihm versperrt wird, eröffnen sich ihm hundert neue Durchgänge; äußerem oder innerem Drang folgend sattelt er um […], das heißt er wechselt das Pferd, der Sattel bleibt derselbe.“ (Schuchardt ²1915: 12) Dieser Gedankengang wird auch in aktuellen Reflexionen zum Fach Romanistik laut, vgl. hierzu z.B. Meisel/ Schwarze: 2001; Kaiser 2005. Die Diskursformationen der Neuphilologien 364 Teil diesem Prozess geschuldet, dass Tobler die beiden Disziplinen Sprachwissenschaft und Philologie voneinander abgrenzt und damit endgültig jeglichen Gedanken an eine Einheit unmöglich macht. 295 Tobler entwirft sodann ein Forschungsprogramm für die Philologie. Setzt man sie in inhaltlicher Perspektive der Sprachwissenschaft gegenüber […] so ist der Philologie auch hier wieder am Besondern gelegen, an der einem Volke eigentümlichen Sinnesart soweit sie aus seiner Sprache erkennbar wird, an dem, was Erzeugnisse einer Zeit, einer Person von denen anderer unterscheidet, liege es nun in der Ausdrucksweise oder, was weit schwerer ins Gewicht fällt, in dem sich darin kundgebenden Denken und Empfinden; […]. (Tobler 1890: 9/ 10) Der Bezug Toblers zu einer partizipativen Verstehenswissenschaft ,Philologie‘, die mehr sein will als eine reine Textrekonstruktion, ist unverkennbar - aufgerufen wird er hier über den bekannten Topos, Philologie habe das Besondere zu suchen. Damit verbunden ist die Vorstellung von der Geschichtlichkeit der Sprache und der über sie transportierten Wissensvorräte. Über diese beiden Konzepte werden die Diskurse aktiviert, die den Rezipienten bei der Verortung der Toblerschen Konzeption im Wissensvorrat der Zeit unterstützen, indem über sie die mit der ethischen Verstehenswissenschaft verknüpften Wissensrahmen abgerufen werden können. Inhaltlich zeigt sich hier auch die „motivation éthique“, die Bähler in Toblers Schaffen erkennt (Bähler 2009: 137). Toblers Entwurf der Philologie lässt in der Tat das Echo August Boeckhs hinsichtlich der ethischen Verpflichtung des Forschers gegenüber der Gesellschaft und vor allem auch Jakob Grimms, der eine nahezu identische Abgrenzung zwischen Sprachwissenschaft und Philologie vornahm, ertönen, denn weiter heißt es: […] denn von den sprachlichen Denkmälern, die für den Sprachforscher fast nur als Ersatz nicht mehr hörbarer Sprache, als Quellen der Sprachbeschreibung und Sprachgeschichte in Betracht kommen, will der Philologe etwas ganz anderes erfahren, verlangt er Auskunft über Regungen fremden Gefühls, über Weltanschauungen, über Lust und Wehe, Streben und Ruhen, Wagen und Zagen, die da oder dort, früh oder spät im Worte sich kundgegeben haben, ihm ist es zu thun um die ungeheure Fülle fremden geistigen Lebens, das in irgendwie faßbarer Redegestalt der Betrachtung sich darbietet und den Betrachter bereichert entläßt, nicht um einen flüchtigen Genuß, sondern um das Selbsterleben von Gedanken, Empfindungen, Neigungen, Hoffnungen und Ängsten, Freuden und Schmerzen, die aus fremdem Geis- 295 Ein weiterer Faktor für die Absolutheit, mit der Tobler diese Abgrenzung vornimmt, ist eventuell auch in seiner schweizerischen Wissenschaftssozialisierung zu finden. Hier findet sich der Einfluss der französischen Konzeption von Philologie, die eine solche Abgrenzung von vornherein obsolet erscheinen lässt. Vgl. hierzu z.B. Swiggers 1989. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 365 te in den eigenen übergegangen sind; er sucht eine Erziehung zu vollerer, reicherer Menschlichkeit im vertrauten Umgang mit fremdem Geiste, mit den erlesensten Geistern der glanzvollsten Epochen menschlicher Geschichte […]. (Tobler 1890: 9/ 10) Tobler nimmt hier das Grimmsche Bildfeld der lauschenden Philologie auf: Texte haben eine Stimme, der Forscher kann ihnen lauschen. Über die Personifikation des Gegenstandes wird die philologische Forschung zu einem Gespräch mit den Zeugen der Vergangenheit, die in diesem nahezu lebendig von der vergangenen Kultur berichten. Der Philologe erweckt die Quellen zum Leben und erhält so in seiner Eigenschaft als Forscher Verantwortung, diese Erfahrung an die Gesellschaft zu übermitteln. Diese Übermittlungsaufgabe geht aber über das Angebot hinaus, der Gesellschaft eine Teilhabe am geschichtlichen Werden der Menschheit zu ermöglichen, indem Tobler die Gegenwart miteinbezieht und die Ergebnisse der Philologie so nicht als ein normatives Nacherleben fremder Kulturen, da idealer als die Gegenwart, sondern als Möglichkeit der freiwilligen Integration fremder Elemente in die eigene Wesensart definiert. Bewegte sich Tobler bis hierher noch in alten Argumentationsmustern, so verleiht die über die Philologie vermittelte Idee der eigenen kulturellen Freiheit Toblers Konzeption eine neue Dimension. Philologische Forschung kann in dieser Form die eigene Kultur zur Vollendung zwischen Innovation und Tradition führen. Tobler wendet sich mit diesem Verständnis von Philologie bewusst gegen zwei Verengungen, die er als bedenklich für die philologische Forschung erachtet: Fremdenhass und allzu einseitige Rückbesinnung auf die Vergangenheit: […] mit Zeiten kräftigster Eigenart, trotziger Abkehr von allem Fremden und mit solchen, da Philologie Modesache ist, und über dem Verständnis alles irgendwo und irgendwann Gewesenen man selbst etwas und jemand zu sein versäumt. Denn dies kann freilich geschehn, obschon ein liebevolles Eingehn auf fremde Art ein verständnisvolles Nachleben einst gewesenen Geisteslebens solche Frucht keineswegs zu tragen braucht. (Tobler 1890: 10/ 11) Ist diese Gefahr der doppelten Einseitigkeit erkannt, kann Philologie tatsächlich einen wertvollen Beitrag zur freien Entfaltung eines eigenen Geisteslebens leisten. Erneut beschwört Tobler die Begegnung mit fremdem, vergangenem Wissen in den Texten, mit denen der Philologe ins Gespräch kommt und so den kulturellen Wissenvorrat fremder Kulturen zu entschlüsseln vermag. Es steht ihm allerdings dabei frei, dieses Wissen als Alteritätserfahrung in sein eigenes zu integrieren, nachdem er es aus der Distanz kritisch reflektiert hat und so in der Lage ist, seine Begegnung mit dem Text objektiv zu bewerten: Die Diskursformationen der Neuphilologien 366 Philologie läßt uns volle Freiheit eigenen Wachstums; unsere besondere Art aufzugeben haben wir nicht nötig, um im Wiederhall für uns ertönender Musik Saiten in uns erklingen zu lassen, die zuvor stumm waren, was an dauerndem Erfolg, an nicht wieder schwindendem Auswachsen des eigenen Geistes aus der Einwirkung fremder Sinnesart sich ergeben mag, das dürfen wir mit Fug doch als das Erträgnis eigener Anlage ansprechen, als Entwickelung von Keimen, die in uns selbst lagen; und auf der andern Seite wird das Fernhalten mit nachsichtigem Verständnis durchdrungener fremder Denkweise von unserm eigenen Wesen uns dadurch nicht erschwert, daß wir uns vielleicht sagen müssen: auch in uns lag, was zu solchem Wuchs hätte gedeihen können; wohl uns, daß es neben Besserem nicht aufzukommen vermocht hat, daß die heute entwickelte Art unseres Wesens es nicht in sich duldet. Freiheit der Bewegung besteht also sehr wohl neben philologischem Streben; ja, dieses führt geradezu zu Befreiung - aus dem Banne engherziger Pfahlbürgerei, vorurteilsvoller Selbstgerechtigkeit, kümmerlicher Verknöcherung. (Tobler 1890: 11) Tobler integriert in seine Philologiekonzeption 296 ethische Verpflichtung, Identitätsfindung zwischen Kollektiv- und Alteritätserfahrung, Sinnerfahrungen des Eigenen und des Fremden können synthetisiert werden, Vergangenheit und Gegenwart stehen sich nicht mehr in dichotomischer Konkurrenz gegenüber, sondern verschmelzen zu einer Einheit, in der Tradition und Innovation die impulsgebenden Motoren für kulturelle Entwicklungen bilden. Damit erfährt der Begriff ,Philologie‘ eine semantische Verschiebung: Galt die Fremderfahrung bisher, bei Boeckh, Elze oder auch Diez, als Möglichkeit, über eben diese den eigenen Zustand zu vervollkommnen - die fremde Kultur wird dabei als die idealere angesehen -, so wird sie bei Tobler zu einem integralen Bestandteil der Selbstfindung zwischen egalitären Kulturen, zu einem „synonyme de ‚connaissance de soimême à travers la connaissance de l’autre‘“ (Bähler 2009: 129). Über philologische Forschung können die Kulturen in einen ästhetischen Dialog treten: Dabei sehn wir die beteiligten Völker in steter Wechselwirkung, jedes rasch sich aneignen, was das andre an wertvollem Neuen erzeugt hat, dann aber wieder auf seine Eigenart sich besinnen und zu ihr zurückkehren, doch nicht ohne erkennen zu lassen, wie aus der vorübergehenden Hingabe an 296 Bähler 2009: 135 macht als Eckpfeiler der Philologiekonzeption Toblers folgende Elemente aus: 1. Die Einschreibung der Romanischen Philologie in das ideologische Programm der Moderne, das mit durch die Vielfalt der akzeptierten ästhetischen Konzepte bestimmt ist. 2. Der Erziehungsgedanke: Durch Alteritätserfahrung ist eigene Entwicklung und Bildung möglich und 3. Philologische Forschung ist gekennzeichnet durch Empathie (activité passionnelle) und objektive, kritische Reflexion (activité cognitif). Punkt 2 und 3 sind traditionelle Elemente der Diskursformation Philologie als partizipative Verstehenswissenschaft, neu ist die Gleichstellung der Kulturen bei Tobler. Romanische Philologie als Fachwissenschaft 367 das Fremde Wachstum des eigenen Wesens ihm doch geworden ist. So treiben auch Völker Philologie. (Tobler 1890: 19) Hier schreibt sich die Philologie in das Programm der Moderne ein, es geht nicht mehr wie in den romantischen Entwürfen um die Bildung kollektiver Identität durch das „Nachfühlen und Erfahren“ fremder, als wertvoller betrachteter Kulturen, sondern um die Vielheit in der Gleichheit. 297 In einer ähnlichen Weise, in der Tobler eingangs Sprachwissenschaft und Philologie voneinander geschieden hatte, trennt Tobler sodann die Literaturgeschichte von der Philologie. Erstere ist bei Tobler eine rein positiv gefasste Disziplin, ähnlich der Sprachwissenschaft (Kalkhoff 2007: 442). Sie verbindet mit der Philologie die gleiche Art der Fragestellung, welche „Bezeugungen geistigen Lebens aus einer Zeit in sprachlicher Form“ noch vorhanden seien (Tobler 1890: 11), gänzlich verschieden sei aber wiederum das Ziel der beiden Disziplinen. Erneut schwört Tobler die Philologie auf ihre partizipative Verstehensleistung, die es in Verantwortung gegenüber der Gesellschaft zu erbringen gilt, ein: Dem einen gilt es, das Einzelne nach allen Seiten zu durchdringen, als ein geschlossenes Ganzes in sich neu zu erzeugen und zugleich so auf sich wirken zu lassen, wie es nach des Urhebers Meinung auf dessen Mitwelt wirken sollte, nach unserer Kenntnis auf sie wirken mußte. (Tobler 1890: 12) Literaturgeschichte als wissenschaftliche Disziplin versucht dagegen, in den sprachlichen Zeugnissen einer Kultur Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung zu erkennen: Dem andern ist das Einzelne von Bedeutung nur als Glied einer langen Erscheinungsreihe, nur sofern er darin ein Ergebnis erblickt, zu welchem das Wirken gewisser, allgemein menschlicher, aber nach Volk und Zeit bestimmter Kräfte und Strebungen, unter gewissen geschichtlich gegebenen Bedingungen, auf dem Boden einer so und so gearteten Persönlichkeit naturgemäß führte, oder sofern er in dem Vorhandensein desselben selbst wieder eine jener geschichtlich gegebenen Bedingungen zu erkennen vermag, die auf den weiteren Verlauf des litterarischen Geschehens einwirkten. (Tobler 1890: 12) Tobler vergleicht die beiden Disziplinen in ihrer Verschiedenheit mit dem Gegensatz zwischen der historischen Staatslehre und der Staatengeschichte. Erstere hat zum Ziele, die Wirkung bestimmter Zustände auf die Gesellschaft zu vergegenwärtigen und zu interpretieren (Bedürfnisanalyse und Bereitstellung/ Wertung einer möglichen Übertragbarkeit), letztere stellt den geschichtlichen Zusammenhang dar und erklärt diesen aus den Fakten. Beide aber, dies betont Tobler, haben dabei Objektivität zu wahren, so 297 Zur Rolle der Vielfalt ästhetischer Konzepte und deren konstitutiver Bedeutung für die Moderne vgl. Bähler 2009: 135. Die Diskursformationen der Neuphilologien 368 muss auch die interpretierende Staatslehre „von dem Wahn, als liege in irgend einer [der bürgerlichen Gesellschaften; J.W.] die alleinige Bürgschaft glücklichen Daseins“ befreien (Tobler 1890: 13). Toblers Resümee definiert als Konsequenz seiner Überlegungen das Vorhandensein zweier unabhängig voneinander existierender, wissenschaftlicher Disziplinen - wie zuvor im Hinblick auf das Verhältnis Sprachwissenschaft - Philologie konstatiert er: So stehn zwei Paare nächst verwandter Wissenschaften neben einander; innerhalb eines jeden weitgehende Übereinstimmung des Forschungsgegenstandes bei unverkennbarer Ungleichheit der Ziele. (Tobler 1890: 13) Tobler ordnet den einzelnen Disziplinen einen unterschiedlichen Verstehensbegriff zu. Philologie zielt, wie dies bereits bei Boeckh, später auch bei Elze, Grimm oder Mager der Fall war, auf ein partizipatives Verstehen im Sinne von Erkenntnis ab, das sich zwischen den Polen Empathie und kritischer Reflexion aufspannt. Der Sprachwissenschaft wie auch der Literaturgeschichte wird als positiven wissenschaftlichen Disziplinen auch ein positivistisch-materialistischer Verstehensbegriff zugeordnet, der auf Kenntnis und Erklären der Systeme - Sprache wie Literaturgeschichte werden als geschichtliche Systeme verstanden - angelegt ist. 298 Philologie dagegen ist ein „Nacherzeugen fremder Gedanken“ (Tobler 1890: 30), ihre Aufgabe ist es, Texte wieder zum Leben zu erwecken, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, um so den Bezug zwischen Alteritätserfahrungen und der eigenen Identitätsbildung im Sinne einer Bildung des Individuums herstellen zu können (Bähler 2009: 127). Hier trifft man auf das Diskurselement aus der Wolfschen und Boeckhschen Konzeption einer Philologie, der erzieherische Verantwortung eingeschrieben ist. Dieses Element wird bei Tobler erneut zu einem zentralen und öffnet die philologische Forschung wieder für Fragestellungen von ethischer Relevanz. Wie stark die Relation zwischen (gesellschaftlichem) Leben und Philologie bei Tobler ist, zeigt seine Auffassung, nicht nur Höhenkammliteratur, sondern auch die sprachlichen Zeugnisse derer, „die uns leicht als Ärmere am Geiste erscheinen“, zum Forschungsgegenstand der Philologie zu machen (Tobler 1890: 17). Philologische Forschung bezieht sich demnach auf alles, was das menschliche Leben an Vielfalt zu bieten hat, insofern es in sprachlicher Form vorliegt (Tobler 1890: 16/ 17). Tobler sieht auch die „niederen“ Ausprägungen der menschlichen Rede „als Thatsache der Naturgeschichte des Menschengeistes“ (Tobler 1890: 17/ 18), eine Selektion, wie sie 298 Vgl. hierzu Szondi, der die Begriffe Kenntnis und Erkenntnis dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaften zuordnet. Das Auffinden von Gesetzmäßigkeiten und deren Erklärungspotential für den Zustand von Systemen als Ziel der Naturwissenschaften stellt Szondi dabei dem Ziel philologischer Forschung gegenüber, Historizität im Individuellen (Texte) zu finden. Dies setze, so Szondi, Intimität mit dem Gegenstand voraus (Szondi 1970: 20-23). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 369 Mager vornahm, kommt in seinem komplexen Kultur- und Menschenbild nicht in Frage. Dies wäre für Tobler gleichbedeutend mit einer Verkürzung, und damit Verfälschung, der geschichtlichen Entwicklung - hier zeigt sich der strenge Objektivitäts- und Wahrheitsanspruch des Wissenschaftlers Tobler. Bevor sich Tobler in seiner Rede dann der institutionellen Seite, dem Verhältnis Wissenschaft, Universität und Schule widmet, zieht er ein knappes inhaltliches Resümee. Betont wird noch einmal, dass Philologie sich nicht nur den „Gesinnungen, Gedanken und Empfindungen […], in denen romanische Eigenart sich bezeugt“ (Tobler 1890: 18) zu widmen habe, sondern ihr obliegt auch diachrone Sprachbetrachtung, die Aufklärung über die „Schicksale“ der Sprachen (Ebd.). Historizität der Sprache ist bei Tobler als ein zweidimensionaler Begriff gefasst: Zum einen erhält man Aufklärung über individuelle Schöpfungen des menschlichen Geistes 299 , aber auch - bezieht man sich auf die historischen Einzelsprachen - über die Wesensart einer Kultur, eines Volkes oder einer Epoche über die in den Texten verborgene Geschichtlichkeit, die der Philologe aufzudecken hat. Zum anderen geht es um die Historizität der Sprachen selbst. Die Verbindungen zwischen der Geschichtlichkeit der Menschheitskultur und der Geschichtlichkeit der Sprachen wird in Toblers Sprachbegriff, der seiner Philologiekonzeption zugrunde liegt, als untrennbar voneinander beschrieben. Das Wirken des menschlichen Geistes hat unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Sprache. Sprachentwicklung ist somit aufgespannt zwischen Kreativität und Historizität. Damit greift er den Humboldtschen Sprachbegriff auf 300 , der Seelentätigkeit und Sprachentwicklung in seiner Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus (1836) in Einklang gebracht hatte und so zu einer Vorstellung der Sprache als energeia gelangte, die Sprache zunächst als individuell-schöpferisch, gleichzei- 299 Dies wäre streng genommen nicht unter dem Begriff der Historizität zu fassen, da es die universelle Ebene der Sprache betrifft. Der Begriff der Individualität bei Tobler erlaubt, sie innerhalb seines Philologiebegriffes unter Historizität zu subsumieren. Tobler spielt an einigen wenigen Stellen auf diese Individualität an, stets aber im Rückbezug auf die romanischen Sprachen. So spricht er in Bezug auf den „Reichtum menschlicher Persönlichkeit“ (Tobler 1890: 15) beispielsweise von Voltaire, Dante oder Cervantes. Individualität, wenn sie sich als Leistung des menschlichen Geistes manifestiert und einen Einfluss auf Sprache erkennen lässt, ist bei Tobler immer an bestimmte Individuen und damit deren sprachliche Erzeugnisse gebunden. Individualität zeigt sich daher für den Philologen bei Tobler im Text, dieser wiederum bildet ein Glied in der geschichtlichen Kette der sprachlichen Entwicklung. 300 Vgl. Humboldt 1836, besonders 105ff; vgl. zur Auslegung dieses Sprachbegriffs bei Humboldt Coseriu 1988b: 263/ 264; Trabant 1990, besonders 50-59, Messling 2008: 54- 58; zur Fokussierung des kulturellen Gebrauchs der Sprache bei Humboldt vgl. Messling 2009 [im Manuskript]. Die Diskursformationen der Neuphilologien 370 tig aber in ihren verschiedenen einzelsprachlichen Ausprägungen als historisch definierte. 301 Die Kreativität des menschlichen Geistes entpuppt sich in Humboldts Sprachtheorie als eine der treibenden Kräfte, neben äußeren Einflüssen wie Sprachkontakt, in der Entwicklung der Sprachen. 302 Die Parallele zu Toblers Sprachbegriff wird in dessen doppelten Historizitätsbegriff offensichtlich. Auch Tobler sieht in der Beteiligung des Menschen an der sprachlichen Dynamik ein essentielles Element von Sprache. Ähnlich wie Humboldt fokussiert er Sprache - als Gegenstand philologischer Forschung - als kulturellen Gebrauch, sie ist Abbild der geistigen Individualität (Messling [im Manuskript]: 8), gleichzeitig aber, das macht Tobler am Beispiel der romanischen Sprachen deutlich, auch ein Abbild der kollektiven Identität in ihrer Entwicklung. Fasst man die Ausführungen Toblers zu Inhalt und Aufgabe der Philologie zusammen, so gelangt man zu einer integrativen Konzeption, in der ein ganzheitlicher Begriff der kulturellen Spracherzeugnisse (Höhenkamm- und niederere Literatur), eine komplexe Vorstellung des Menschen in seiner Individualität und in seiner Rückbezogenheit auf das Kollektiv, ein mehrdimensionaler Begriff von Historizität wie der ethische Anspruch auf die Bereitstellung eines Bildungsangebots an die Gesellschaft synthetisiert werden. Angedeutet wird hier eine Auffassung von Philologie, die aktuelle Überlegungen, hermeneutische und philologische Textarbeit wieder stärker als eine einheitliche Methode in den Vordergrund einer Textwissenschaft, die in sich Elemente der Semantik und Semiotik, der Kulturwissenschaft, aber auch der Linguistik wie der Literaturwissenschaft vereinigt, antizipiert. 303 301 „Die Betrachtung des Zusammenhanges der Sprachverschiedenheit und Völkervertheilung mit der Erzeugung der menschlichen Geisteskraft, als einer sich nach und nach in wechselnden Graden und neuen Gestaltungen entwickelnden, insofern sich diese beiden Erscheinungen gegenseitig aufzuhellen vermögen, ist dasjenige, was mich in dieser Schrift beschäftigen wird.“ (Humboldt 1836: 2/ 3) 302 „Man kann den Wortvorrath einer Sprache auf keine Weise als eine fertig daliegende Masse ansehen. Er ist, auch ohne ausschließlich der beständigen Bildung neuer Wörter und Wortformen zu gedenken, so lange die Sprache im Munde des Volks lebt, ein fortgehendes Erzeugniß und Wiedererzeugniß des wortbildenden Vermögens, zuerst in dem Stamme, dem die Sprache ihre Form verdankt, dann in der kindischen Erlernung des Sprechens, und endlich im täglichen Gebrauche der Rede. Die unfehlbare Gegenwart des jedesmal nothwendigen Wortes in dieser ist gewiß nicht bloß Werk des Gedächtnisses. Kein menschliches Gedächtniß reichte dazu hin, wenn nicht die Seele instinctartig zugleich den Schlüssel zur Bildung der Wörter selbst in sich trüge. Auch eine fremde erlernt man nur dadurch, daß man sich nach und nach, sei es auch nur durch Übung, dieses Schlüssels zu ihr bemeistert […].“ (Humboldt 1836: 109/ 110) 303 Vgl. hierzu die Überlegungen Rastiers hinsichtlich des Textbegriffs: „Le concept de texte relie historiquement et permet de faire communiquer la linguistique, la philologie et l'herméneutique. Dans la mesure où l'objet des sciences sociales appartient à la Romanische Philologie als Fachwissenschaft 371 In dieser vielschichtigen Form erlaubt Philologie tatsächlich eine „erlebnishafte Begegnung zwischen Leser und Text“ (Lebsanft 2009: 77) und wird ihrer Aufgabe, „von dem geistigen Leben der in Völker gesonderten Menschheit, wie dasselbe sich geschichtlich entwickelt hat und wie es sich immer noch zu bezeugen fortfährt, eine wissenschaftlich gerechtfertigte Anschauung zu gewinnen“ (Tobler 1888: 251), gerecht. 5.4.5.2 Philologische Methode und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit In enger Verbindung steht Toblers komplexer Begriff der Philologie mit seinen methodischen Überlegungen wie auch seinem Plädoyer für eine auf die Wissenschaftlichkeit konzentrierte Ausbildung, die im Folgenden kurz dargestellt werden. Hinsichtlich seines Methodenbegriffs äußert sich Tobler in Gustav Gröbers Grundriss der Romanischen Philologie. In der ersten Ausgabe werden dabei Philologie und Literaturgeschichte noch zusammengefasst, in der zweiten Ausgabe erhält die Literaturgeschichte dann ein eigenes Kapitel. 304 Methodisch bewegt sich Tobler in traditionellen Bahnen: Unterteilt wird die philologische Methode in Kritik und Hermeneutik. Die Kritik untergliedert sich dabei noch einmal in Textkritik und literarhistorische Kritik. Die Textkritik erhält dabei die Aufgabe, den Text möglichst nahe am Original zu rekonstruieren, dabei gilt es zu überprüfen, ob die „Zeugenaussage“, die Tobler in den Quellen sieht, „so wie sie vorliegt, auch der Meinung dessen entspricht, von dem sie ausgeht“ (Tobler 1888: 252). Dabei klingt der empathische Aspekt seiner Philologiekonzeption an. Zunächst definiert Tobler Textkritik ganz generell: Die Textkritik bemüht sich festzustellen, in wie weit auch in seiner sichtbaren Gestalt ein Denkmal der Meinung dessen entspricht, von dem es in seinem Inhalte nach ausgeht, und in wiefern andere Meinung, fremder Wille sich in der Schreibweise kundgiebt, die in demselben bethätigt erscheint. (Tobler 1888: 253) sémiotique, la problématique du texte unit encore aux sciences sociales d'autres disciplines qui ne se prétendent pas scientifiques. Le développement contemporain des sciences du langage et des disciplines qui traitent du texte permet aujourd'hui de formuler un nouveau projet de connaissance : unifier la pratique philologique et la théorie sémantique de l'interprétation.“ (Rastier 1996: 30/ 31) Vgl. zur Etablierung einer Textwissenschaft Oesterreicher 2009: 90. 304 Vgl. Gröber 1888; ²1904-06. Vgl. zu Unterschieden zwischen Toblers Kapitel in der ersten Ausgabe zum Kapitel der zweiten Ausgabe Lebsanft 2009: 77-80. Interessant ist hier die Beobachtung Lebsanfts (2009: 80), dass sich auch Tobler nicht auf Lachmann beruft. Dessen Name fällt in der Tat in der Toblerschen Methodenbeschreibung an keiner Stelle. Gröber selbst nennt Lachmann im Abriss der Geschichte der Romanischen Philologie als Gewährsmann für die Übertragung der Prinzipien der Klassischen Philologie in Editionen der neueren Sprachen und Literaturen (Gröber 1888: 89). Die Diskursformationen der Neuphilologien 372 Weiter heißt es aber dann: Nicht allein der Wandel der Sprache kann sich im Wandel der Schreibweise spiegeln, sondern auch der Wandel in der Auffassung der Sprache, in der Empfindlichkeit für Lautdifferenzen, in der Fähigkeit zur geistigen Zerlegung des Redekörpers in Teile und Teilchen, Wandel im Verständnis der Sprachgeschichte, Wandel im Urteil über das, was Sprache und was Schrift dem Volk sein sollen. (Tobler 1888: 253) Angelegt ist hier eine Textkritik, die gleichzeitig Kultursemiotik bedeutet: Sprachliche Veränderungen können Hinweise auf Verschiebungen in kulturellen Wertungen, auf Entwicklungen in menschlichen Denkformen (analytisches Vermögen) liefern. Die literarhistorische Kritik dagegen fasst Tobler mit der für sie charakteristischen Fragestellung, Worüber sagen die einzelnen Denkmäler aus, wofür dürfen und sollen sie als Zeugnisse dienen? (Tobler 1888: 263) zusammen. Zeit, Ort und Person des jeweiligen sprachlichen Denkmals sollen über sie ermittelt werden (Tobler 1888: 263-267). 305 Gesondert geht Tobler auf das Problem der „gefälschten“ Texte ein - ein Verdienst der strikten Methodenanwendung sei es, dass der Täuschung nur der erliege, „der Täuschung um jeden Preis haben will“, ein sauber arbeitender Kritiker könne nicht in die Irre geführt werden (Tobler 1888: 268). Weiterhin hat die literarhistorische Kritik darüber aufzuklären, was an Informationen über die Epoche, ihre zeitlichen Bezüge, im Text fassbar gemacht werden kann. Dabei gilt es, Diskurstraditionen 306 , die der Autor aufnimmt, von neuen Elementen zu trennen. Dabei hilft die historische Distanz zu erkennen, wo sich echte Innovation findet und wo tradiertes Wissen durch äußere Einflüsse lediglich neu strukturiert wird: Schon das, was menschliche und aussermenschliche Natur an ewig sich gleich bleibendem Gegenstand der litterarischen Darstellung bieten, kann der einzelne in eigentümlicher, selbständiger Weise erfassen oder aber nur 305 Vgl. kritisch hierzu Lebsanft 2009: 79-81. Lebsanft 2009: 81 weist dabei auf die einseitige Konzentration Toblers auf „Urtext“ und „Endprodukt“ hin. Tobler erkenne noch nicht, dass die Zwischenglieder der genealogischen Kette vom Urtext bis zur zu bearbeiteten Quelle auch einen historischen Eigenwert besitzen. 306 Den Begriff Diskurstradition verwendet Tobler natürlich noch nicht. Er beschreibt hier aber letztlich Diskurstraditionen in einem engen Sinn, die über die Kritik ausfindig zu machen sind, wie etwa „Redearten, Formeln, stehende Vergleiche, Sprichwörter“ (Tobler 1888: 271). Diese gelten ihm als Gemeingut, der Autor könne sie beim Leser voraussetzen. Als eine Schwierigkeit der Hermeneutik nennt Tobler denn auch das herauszufinden, „was ein Schriftwerk als im Gedankenschatze seiner Leser vorhanden voraussetzen mag, woran es nur leise zu erinnern braucht, ohne darum weniger lebendige Vorstellungen zu wecken; je nach der litterarischen Bildung der Gesellschaft, an die es sich wendet […].“ (Tobler 1888: 276) Romanische Philologie als Fachwissenschaft 373 mit fremden Augen erblicken, in ihm nur das wiederfinden, als was andere es ihn kennen gelehrt und auch für ihn bereit gestellt haben, so dass in ihm, vielleicht in anderer Sprache zum Ausdruck kommend, durch Besonderheit der umgebenden Welt bestimmt, der nämliche geistige Vorgang nicht unabhängig neu, sondern bloss nacherlebt wird, der früher in anderm Geiste sich vollzogen. (Tobler 1888: 269) Innovation von Tradition zu trennen sowie die Inkorporation fremder Bestandteile auszumachen, sind elementare Aspekte in Toblers Beschreibung der philologischen Methode. In einem letzten Punkt erklärt er die Bedeutung dieses Kriteriums der literarhistorischen Kritik vor dem Hintergrund seines Geschichtsbegriffs. Hat man herausgefiltert, in welchem Maß und in welcher Beschaffenheit fremde Elemente in die Texte integriert wurden, wo und auf welche Weise Wissenstraditionen in diesen weitergeführt werden, so kann der Philologe diesen „innerhalb der Reihen gleichartiger Erscheinungen [ihre] Stelle zuweisen, den richtigen Standpunct für unsere Beurteilung […] gewinnen.“ (Tobler 1888: 271). Auf diese Weise ließen sich geschichtliche Entwicklungen, aber auch (diskursive) Neubeginne aus den Texten lesen. Denn, [..] nicht das Unerhörte ist das geschichtlich Wichtige, sondern die glückliche Vollendung des lange Angestrebten, die reine und volle Herausbildung des in unvollständiger Entwicklung Überkommenen, und andererseits die Erscheinungen, in denen Keime zu erkennen sind für künftiges Wachstum. (Tobler 1888: 271/ 272) Leitendes Prinzip der philologischen Methode ist dabei stets die Objektivität: […] als historische Kritik kennt sie keinen absoluten Massstab, sondern scheidet das durch Zeit und Ort der Entstehung Gegebene von dem neu Hinzugekommenen, und schätzt nach dem Masse, in dem das Werk Weiterführung oder Vollendung eines Werdenden, Keim des Künftigen ist. (Tobler 1888: 272) Tobler nimmt hier im Grunde seine Forderung nach einer egalitären Betrachtung der Epochen und Kulturen, die er in seiner Rektoratsrede 1890 formulierte, bereits vorweg. Angedeutet ist hier ein ganzheitlicher Kultur- und Geschichtsbegriff, der die Grundlage seiner inhaltlichen Überlegungen hinsichtlich des Ziels und der Aufgabe der Philologie bildet. An die Beschreibung der beiden Arten der Kritik schließt die Behandlung der hermeneutischen Methode an. Voraussetzung für die „sachliche Erklärung der einzelnen Denkmäler“ (Tobler 1888: 276) ist - und hier lässt sich eine Parallele zu Karl Magers Forderungen an den Philologen erkennen - eine polyhistorische Kompetenz. Über „häusliches Leben“, „Formen des Zusammenlebens in Familie, Staat und Kirche“, „Berufsarten“, „Verkehrsmittel“, „Natur öffentlicher und privater Vergnügungen“, „Wissen Die Diskursformationen der Neuphilologien 374 und Glauben“, „Natur und Geschichte“ - kurz über den gesamten soziohistorischen und kulturellen Horizont eines Volkes muss der Philologe gründliche Kenntnis besitzen (Tobler 1888: 276). Nur dieses Wissen erlaube dem Philologen, die „konnektive Struktur“ eines Volkes in einer bestimmten Epoche wie auch dessen Kollektivsymbolik in den Texten zu erkennen, um zu einer umfassenden, der Wahrheit verpflichteten Interpretation zu gelangen (Tobler 1888: 278). Entschieden wendet sich Tobler gegen eine normative, moralisierende Lesart der Texte. Gegenüber der schon berührten Neigung älterer Zeit die Interpretation dadurch [indem eine Sittenlehre hineingelesen wird; J.W.] möglichst nutzbringend zu machen […], tritt philologische Deutung mit aller Entschiedenheit der Neigung entgegen, im litterarischen Kunstwerk weitere Gedanken zu finden, als sein Schöpfer unverkennbar darin zum Ausdruck gebracht hat, und das mit ihm auf einer Bildungshöhe stehende Publikum, an das er sich wandte, darin hat finden können und müssen. (Tobler 1888: 278) Die Autorität des Autors 307 wird bei Tobler sehr hoch gewertet, strenge philologische Methode erlaube es, anagogischen wie auch moralischen Sinn, Symbole oder Lösungen der verwendeten Allegorien, die der Autor im Text verborgen habe, dort auch in dessen Sinne aufzufinden - diese aber „zum Genossen eigener Träume umzuwandeln, für eigene Parteileidenschaft zum Herold zu gewinnen“ diskreditiere jegliche ernsthafte philologisch-hermeneutische Interpretation (Tobler 1888: 278/ 279). 308 Auch hier spricht der strenge Methodiker Tobler, dessen Wissenschaftsbegriff in Bezug auf seine Forschung neben der ethischen Dimension sehr wohl auch auf der Forderung nach akribischer Sorgfalt in der Methodenanwendung basierte. Die Arbeit des Philologen, so betont Tobler, sei bisweilen eine mühselige, das Erkenntnisideal, das den Philologen leite, sei aber dieser Mühe wert und das über kontrollierbare Methoden erlangte Ergebnis der Forschung ein sicheres - auch wenn Tobler sich der Tatsache bewusst war, dass seine „mikroskopisch-trockene Art Philologie zu betreiben“ (Lebsanft 2009: 64) mitunter nicht unbedingt studentenfreundlich wirkte: Es soll aber auch die Art, wie ich die von mir gewählten Gegenstände behandle, nicht geeignet sein anzuziehn und Lehrbedürftige rasch und mühelos genug vorwärts zu bringen. Vielleicht hat man mit dieser Ausstellung recht und ‚liest sich in der Tat schwer‘, was ich schreibe, bin also ich selbst 307 So verweist auch Lebsanft 2009: 81 auf die zentrale Bedeutung des Autors bei Tobler. 308 In der zweiten Auflage des Grundrisses warnt Tobler eindrücklich davor, Texte im Nachhinein zu politisieren, um ihnen eine höhere Bedeutung zu verleihen. Dadurch würden sie zu ideologisch-manipulativen Werkzeugen instrumentalisiert, die keinerlei historischen Wahrheitsanspruch mehr vermitteln könnten (Tobler ²1904: 358/ 359). Romanische Philologie als Fachwissenschaft 375 schuld, wenn mir nicht merklicher einzuwirken gelingt. Was so schwer zu lesen ist, so möcht’ ich mich rechtfertigen, ist eben auch vielfach recht schwer zu schreiben gewesen; die Fassung zu finden, die allein die zutreffende gewesen zu sein und jedes Mißverständnis auszuschließen schien, hat oft recht viel Zeit und Anstrengung gekostet; war jene aber einmal getroffen, dann schien auch jedes überflüssige Wort an Zutat vom [sic! ] Übel. (Tobler 1908, Bd.III: V) Diese Aussage Toblers zeigt auch sein Verständnis der Lehre, sein Ziel war es, den Studierenden die Wissenschaft Philologie näher zu bringen. Obgleich Tobler sich für eine Aufwertung der Sprachpraxis und für eine Verbesserung des Unterrichts im praktischen Beherrschen der Sprache ausspricht, muss das Ziel der Lehrerausbildung doch in erster Linie die Bildung zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Gegenstand, den romanischen Sprachen, sein (Tobler 1893: 502). Vor dem Hintergrund der Reformbewegungen, die nach einer Umkehr im Sprachunterricht riefen (Viëtor 1882) und eine stärkere Konzentration auf die sprachpraktische Ausbildung forderten, fürchtete Tobler um das wissenschaftliche Renommee der philologischen Forschungsarbeit - die ja Ende des 19. Jahrhunderts einen ungeheuren Aufstieg zu verzeichnen hatte - in den deutschen Universitäten, was eine Vernachlässigung der wissenschaftlichen Ausbildung nach sich ziehen könnte. 1893 bringt er diese Furcht in einem Brief an Paris zum Ausdruck: […] Ich meinte aber nicht, daß die im Aufsteigen begriffenen Romanisten weniger versprächen als die niedergehenden geleistet haben; was mich bekümmert, ist vielmehr das Abnehmen der Wertschätzung unserer Studien seitens der Regierungen und auch der Lehrerwelt, die Gleichgültigkeit für die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer unserer Jugend, die Überschätzung der Dressur zum Sprechen und Schreiben. Wie viel auch diese Ausbildung für die praktische Beherrschung wert ist, braucht man mir nicht zu sagen, und mir schon darum weniger als manchem meiner Kollegen, weil wohl keiner mehr als ich gerade dafür gearbeitet hat, das wissenschaftliche Interesse für die lebende Sprache zu wecken. (Tobler in einem Brief an G.Paris vom 21. März 1893; zit. nach Bähler 2009: 132) Zwar hatte Tobler auf die Bedeutung der Sprachbeherrschung in seiner Rede von 1890 verwiesen, in seinem Entwurf einer ethischen Philologie spielte diese aber eine untergeordnete Rolle. So hatte der universitäre Unterricht in erster Linie auch die Wissenschaftlichkeit zu garantieren: Keinesfalls aber wird es billig sein, für eine bei manchen Lehrern etwa sich zeigende Unzulänglichkeit des Könnens den Universitätsunterricht in romanischer Philologie verantwortlich zu machen. Dieser hat es zunächst mit Wissenschaft, nicht mit irgend welchen Fertigkeiten zu thun. Wenn er die künftigen Lehrer des Französischen besonders berücksichtigt, da sie doch Die Diskursformationen der Neuphilologien 376 die Mehrzahl derer bilden, die ihn aufsuchen, so wird dies vor allem im Hinblick auf seine wissenschaftliche Ausbildung geschehn sollen, bei der es steht, ob das, was sie lehren, und ob sie selbst bei Schülern, Amtsgenossen und in der öffentlichen Meinung der Wertschätzung teilhaft werden, deren andre Lehrfächer und ihre würdigen Vertreter sich erfreuen, und ob sie vermögen auf Verstand und Charakter ihrer Schüler fördernd einzuwirken. (Tobler 1890: 26) Den Anspruch auf Wahrhaftigkeit, der Toblers wissenschaftliches Werk auszeichnete und den er wohl auch als Messlatte für wissenschaftliche Forschung im Rahmen der Philologie benutzte 309 , sollte in einem wissenschaftlich fundierten Philologiestudium an die Nachfolgegenerationen weitergegeben werden. Die Resignation über die Verschiebung des Interesses hin zu einem rein utilitaristischen Sprachlernen trübte das Verhältnis Toblers zu seinem Fach in den letzten Jahren. Gleichwohl ihm die Anerkennung der Fachkollegen im In- und Ausland sicher war (Tobler ²1908: V), sorgte diese Entwicklung für Desillusion und Toblers Prognosen für ein wissenschaftliches Studium der Philologie, dessen Ziel es war, dass ein „Nacherzeugen fremder Gedanken Ihr [Tobler wendet sich hier direkt an die Kommilitonen; J.W.] geistiges Wachstum fördere“ und die Studierenden zu einem „vollen Verständis“ führe (Tobler 1890: 30), sind dementsprechend düster: Aber man wird nicht bestreiten wollen, daß das, was die Universitäten für die fachmäßige Ausbildung dieser jungen Leute tun können, auf vielen Seiten immer weniger hoch angeschlagen wird: einmal von denen, welche bestimmt haben, daß Mangel an wissenschaftlicher Durchdringung des Lehrgegenstandes durch Fertigkeit im Sprechen und Kenntnis neuester Literatur ausgeglichen werden kann, […] dann innerhalb eines herangewachsenen Geschlechtes von jüngeren Lehrern, die ohne Achtung vor der Wissenschaft und ohne ausreichende Vorbereitung zur Universität gekommen, in vier langen Jahren nicht Zeit gefunden haben zu merken, worauf es bei wissenschaftlicher Arbeit ankommt, von denen die sich durch den höhnischen Gebrauch des anmutigen Ausdrucks ‚Wissenschaftler‘ kenntlich machen; endlich vielleicht bei dem nämlichen Teil des Publikums, der auch nicht versteht, warum die Mediziner Physiologie und Anatomie treiben, statt 309 Vgl. hierzu Morf 1910: 257: „Man hat wohl gesagt, daß Adolf Tobler streng und kühl gewesen sei. Darüber möchte ich noch ein wort sagen, der ich so viel Liebe von ihm erfahren habe: Er war vor allem streng, unerbittlich streng gegen sich selbst. Er lebte ganz seiner Pflicht. Es war alles kernig und tüchtig an ihm. Er hatte jene Zurückhaltung, jene Herbheit, die so oft das Angebinde großer Wahrhaftigkeit ist. Und er war wahrhaftig: das macht auch den Gelehrten und Forscher in ihm so groß.“ Romanische Philologie als Fachwissenschaft 377 ausschließlich erprobte Rezepte auswendig zu lernen und sich im Hühneraugenschneiden zu üben. (Tobler ²1908: VI) 310 Für Tobler ist das hierarchische Verhältnis zwischen Praxisbezug der Lehrerausbildung, hier in Bezug auf Sprachpraxis, und Vermittlung wissenschaftlicher Theorie und Theorienbildung, also auch Methoden und Ergebniskontrolle, klar zugunsten letzterer geregelt. Vor der Folie seines Philologiekonzepts ist vor allen Dingen geduldige und emphatische Hingabe an das Denken und die (Text)Welt Anderer gefordert (Tobler 1890: 30). 311 Verwirklicht wird dieser Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit der Methode und ethischen Anspruch in Toblers Konzeption der Philologie als Verstehenswissenschaft. Insofern widerspricht Bähler der pessimistischen Darstellung der Entwicklung des Philologiebegriffs am Ende des 19. Jahrhunderts teilweise zu Recht (Bähler 2009: 135). Ende des 19. Jahrhundert bietet sich den Romanisten ein Panorama an vielfältigen Konzeptionen der Philologie, das die Freiheit der Forschung in seiner Diversität letztlich auch hätte fördern können. 312 310 Die heutzutage sehr aktuelle Debatte um den vielbeschworenen Praxisbezug in den philologischen Studienfächern klingt hier wohl im Spannungsfeld Vermittlung wissenschaftlicher Theorie versus Vermittlung praktischen Könnens schon an. 311 Vgl. hierzu auch den Auszug aus einem Brief Toblers an Paris, in dem er schildert, dass Philologie ohne ein gewisses emotionales Engagement für den Forschungsgegenstand kaum möglich, ja dieses sogar nahezu eine notwendige Bedingung ist: „Man beschäftigt sich nicht ein halbes Leben lang mit dem Wortschatz und der Syntax eines Volkes ohne diesem von vornherein Liebe entgegengebracht, und ohne diese Liebe über der Beschäftigung wachsen gefühlt zu haben; und wenn man 20 Jahre hindurch sich bemüht andern das Verständnis eines Volkes wertvoll erscheinen zu lassen, und ihnen zu zeigen, daß sie in seinem Wesen eine schätzenswerte Ergänzung des eigenen zu sehn haben […].“ (Brief Toblers an G. Paris vom 31. Dezember 1888; zit. nach Bähler 2009: 124) Neben der Parallele zur Forderung nach einem emotionalen Engagement mit dem Forschungsgegenstand, wie es bereits bei Grimm und Mager zu finden war, zeigt sich hier noch einmal das Verständnis Toblers von Philologie: In der Begegnung mit dem Fremden das eigene Ich zu verstehen und zu vervollkommnen. 312 Diese Freiheit des Forschens wie des Forschers spiegelt sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise in der idealistischen Stilästhetik eines Karl Vossler oder im sprachwissenschaftlichen Individualismus eines Hugo Schuchardt. Da diese „positive“ Zersplitterung bereits als Ergebnis des hier skizzierten Weges der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert verstanden wird, enden die Analysen der vorliegenden Arbeit hinsichtlich des Wandels und der Kontinuitäten in den Wissensrahmen um den Begriff der Philologie mit dem Zeitraum um 1890. 6 Der Vorhang zu und alle Fragen offen? - Versuch einer typologischen Kategorisierung und Schlussbetrachtungen Um die Jahrhundertwende präsentiert sich der Begriff ‚Philologie‘ in Deutschland immer noch als ein polysemer Begriff, über den die unterschiedlichsten Wissensrahmen abgerufen werden können. Zwar scheinen die Wissenschaftlichkeit und der autonome Charakter der universitären Disziplin unzweifelhaft gesichert zu sein, aber Aufgabe und Inhalt der philologischen Forschung sind weit davon entfernt, eine einheitliche Definition aufzuweisen. Vergleicht man am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem die Entwürfe der Protagonisten, die um den Begriff und die Konzeption der Philologie als (Fach)Wissenschaft verhandeln, so fällt auf, dass die bereits in Friedrich August Wolfs discours fondateur aufscheinenden Spannungsfelder der Philologie immanent bleiben. Die Konstituierung der Romanischen Philologie zwischen einem modern-szientistischen Wissenschaftsverständnis, das vor allem durch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft Eingang in das Fach gefunden hatte, und den tradierten Strukturelementen der philologia philosopha verleiht ihren Gründungstexten eine komplexe Archäologie. Nahezu antagonistisch stehen sich ethischer Bildungsauftrag und wissenschaftliche Methodendiskussion gegenüber und sorgen auf diese Weise dafür, dass die Identitätsbildung der Romanischen Philologie weiterhin für Innovationen offen gehalten werden kann. Die Dynamik der stets zu aktualisierenden Positionsbestimmung wurde über die Analyse der programmatischen Schriften der ersten Romanisten deutlich: So arbeitete sich Gustav Gröber methodologisch immer noch an den Spannungsfeldern ‚Kunst versus Wissenschaft‘ und ‚Objektivität versus Empathie‘ ab, indem er die Wissensrahmen um die Auseinandersetzung mit dem Gesetzesbegriff wie auch der Spekulation in seinen zeitgenössischen Rezipienten aktivierte. Adolf Tobler thematisierte in schon beinahe auffällig wirkender Weise die Verpflichtung der Philologie auf ihre Aufgabe, der Gesellschaft Partizipation an Erkenntnisprozessen zu ermöglichen und beschwor dabei das Bildfeld um die in den Texten verborgenen kulturellen Schätze und den mit diesen verbundenen Alteritätserfahrungen. Beide Entwürfe stehen, wie bereits erwähnt, am Ende des 19. Jahrhunderts und doch wirken überzeitliche Diskurse als Regulatoren der Wissensstrukturen in ihnen weiterhin fort. Daneben stehen die Verhandlungen um den Begriff der Romanischen Philologie, die - und auch dies ist ein Erbe des Wolfschen discours - sehr viel stärker auf die Bedürfnisse der schuli- Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 380 schen Realität eingehen. Ab den 1860er Jahren findet man in dieser Diskussion auch den Einfluss der beginnenden Institutionalisierung: Die Romanische Philologie als universitäres Unterrichtsfach gerät stärker in den Blick. Neben Forderungen nach eigenen wissenschaftlichen Abhandlungen, Grammatiken, Wörterbüchern und Kompendien, die den Eigenwert der Romanischen Philologie als Fach(wissenschaft) betonen, entstehen mehr und mehr neue Themenfelder wie das Bedürfnis, den Studierenden einen Leitfaden für ihr Studium an die Hand zu geben, oder der Ruf nach mehr Praxisnähe sowie der dringliche Wunsch nach einer Reform des Sprachunterrichts. Hier wären die Gesprächspartner aus den Texten, deren Konzeptionen im Rahmen des Kapitels 5.2. (Von der Schule zur Universität: Romanische Philologie zwischen kulturpädagogischer Verantwortung und fachwissenschaftlichem Anspruch) vorgestellt wurden, zu verorten. Einige Vertreter scheinen sich einer Zuordnung gar ganz zu entziehen wie es bei August Fuchs der Fall war. Als schwierig stellt sich auch die Bewertung Friedrich Diezens heraus: Zwar hat er durch das Verfassen seiner Grammatik und seines Wörterbuches der Romanischen Philologie zu einer wissenschaftlichen Methode verholfen und diese somit unzweifelhaft als moderne Wissenschaft, den anderen Philologien ebenbürtig, legitimiert. Aus diesem Blickwinkel ist die Stilisierung Diezens als Gründervater sicherlich gerechtfertigt. Doch wo ist seine Philologiekonzeption zu verorten - resignierte Diez doch auf dem Gebiet der philologischen Forschung und wandte sich hauptsächlich der Sprachwissenschaft zu - das Gebiet, auf dem er als Wissenschaftler seine Lorbeeren vornehmlich erntete. 1 Programmatisch ist Diez also in methodischer Hinsicht, aber als Philologe? Hier sei an Diezens schon beinahe demokratisches Wissensverständnis 2 und seinen Wunsch, den Geist eines Volkes auch in der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Sprache zu erhaschen, erinnert - beides sind Argumentationsfelder, die die Philologie über Körting, Tobler bis hin zu Vossler begleiten werden. Es scheint nahezu so viele Konzeptionen als Stimmen der Romanischen Philologie zu geben, die in der vorliegenden Arbeit einzufangen versucht wurden. Angesichts dieser Vielstimmigkeit scheint es angebracht, die unterschiedlichen Konzeptionen resümierend zu kategorisieren: Ursula Bähler unternimmt solch einen Versuch die unterschiedlichen Philologiekonzeptionen zu typologisieren und unterscheidet dabei zwischen universeller, globaler und weiter Definition der Philologie (Bähler 2004: 277-288). 3 Die Unterschiede zwischen den einzelnen Typen macht sie 1 Siehe hierzu v.a. Malkiel 1976; Gumbrecht 1984. 2 Natürlich wird hier nicht in Abrede gestellt, dass Diez sich an eine gebildete Bürgerschicht wandte, sein Anliegen war aber die Ermöglichung der Partizipation an möglichst allen Erkenntnisprozessen, die seiner Forschung zugrunde lagen - in diesem Sinne wird der Begriff ‚demokratisch‘ hier verwendet. 3 Bähler führt auch noch zwei Modelle (conception restreinte und conception méthdologique) in ihrer Typologie auf, die hier aber außer Acht gelassen werden, da diese bei- Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 381 dabei am Gegenstandsbereich, auf den sich philologische Forschung erstreckt, fest. So umschließe die universelle Philologiekonzeption „toutes les traces matérielles laissées par l’homme au cours de l’histoire“ (Bähler 2004: 277). Für die Romanische Philologie verneint Bähler das Vorhandensein einer solchen Konzeption, da ihre Klassifizierung bereits vor dem Raster der ausdifferenzierten Disziplinen erfolgt. Differenziert man ihre Aussage dahingehend, dass ein Unterschied zwischen theoretischem Entwurf und praktischer Umsetzung angesetzt wird und die Modernen Philologien zusätzlich vor ihrer Institutionalisierung betrachtet werden, so wäre zumindest die ideal-theoretische Konzeption Karl Elzes innerhalb einer solchen universellen Philologie - in Bezug auf den Objektbereich - für die Neuphilologien zu veranschlagen. Für diese Einordnung spräche die Tatsache, dass sich Elze aus rein pragmatischen Gründen für eine Eingrenzung auf die schriftlichen Quellen aussprach. Elze kann daher sowohl in der universellen Philologie aufgrund seiner Theorie, als auch in der globalen Konzeption verortet werden, da er sich in der Praxis, unter Berufung auf Humboldt, für eine Beschränkung ausgesprochen hatte. Ebenfalls - und auch hier befände sich die Kategorisierung in einem gewissen Widerspruch zur Einordnung Bählers - würde die Konzeption der Universalphilologie August Boeckhs diesem Typus zugeordnet werden. Boeckh wird bei Bähler im Rahmen der globalen Konzeption verortet, da diese aber eine Gegenstandsbeschränkung auf die schriftlichen Quellen beinhaltet 4 , bedeutete dies eine Reduzierung des Gegenstands gegen die sich Boeckh ja ausdrücklich ausgesprochen hatte; war er es doch, der über eine dezidierte Ausweitung des Quellenmaterials zum einen vehement gegen eine Wortphilologie protestiert hatte, zum anderen den Neuphilologien für die Legitimation ihres Forschungsgegenstandes die Bahn geebnet hatte. Ebenfalls in einer solchen Universalphilologie zu verorten wäre Friedrich Wolf, der sich 1807 in der Darstellung der Alterthumswissenschaft zumindest in der Theorie für eine Ausweitung des Gegenstandsbereiches ausspricht. Zum Typus der universellen Konzeption wären aufgrund der vorliegenden Analysen folglich die Entwürfe Wolfs, Mützells und Boeckhs den allein für den Begriff der Philologie, wie er im französischen Raum verwendet wird, Gültigkeit besitzen und im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur kommunikative Prozesse im deutschen Raum betrachtet wurden (Bähler 2004: 284; 286). 4 „La définition globale se distingue de la définition universelle de la philologie en ce qu’elle se concentre sur les documents écrits.“ (Bähler 2004: 279; Kursivierung wie im Original) Die Divergenz bei der Zuordnung beruht vermutlich auf einer personellen Verwechslung: Der von Bähler zitierte Textausschnitt Boeckhs ist eine Reaktion auf Gottfried Hermanns Wortphilologie, nicht, wie von Bähler irrtümlich angenommen, auf Hermann Paul (Bähler 2004: 280). Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 382 von Seiten der Klassischen Philologie, von Seiten der Modernen Philologien der Entwurf Karl Elzes im weitesten Sinne zu zählen. 5 Diese vier Entwürfe müssen in ihrer Zuordnung aber noch differenziert werden: Prototypisch wären Boeckh und Mützell, noch im Kernbereich befände sich Friedrich Wolf, Karl Elze wäre dagegen bereits im Randbereich zu verorten, der einen Übergang zur globalen Konzeption bildet. Betrachtet man die Konzeption Wolfs genauer, so fällt ein Unterschied zu den anderen Konzeptionen ins Auge: Der Gegenstand bei Wolf erfährt eine Reduktion - nämlich in Form einer Beschränkung auf ideale Kulturen. Boeckh und Elze thematisieren im Gegensatz zu Wolf und Mützell das ethischästhetische Anliegen der Philologie, Partizipation an Erkenntnisprozessen zu ermöglichen und damit über eine pädagogische Verantwortung hinauszugehen. Folglich muss der Typus „universelle Konzeption“ noch einmal in Subkategorien unterteilt werden: Den Bezugsrahmen bildet zunächst die holistische Objektbestimmung (alle Quellen menschlichen Wirkens). Dieser betrifft auch die Philologiekonzeptionen, die eine Selektion hinsichtlich der Kulturen veranschlagen (Wolf). Sodann gilt es hinsichtlich der Aufgabenstellung zu trennen in pädagogische Verantwortung einerseits (Ausbildungsargument der Alteritätserfahrung) und ethisch-ästhetische Verpflichtung andererseits (Partizipationsargument der Alteritätserfahrung). Die Analyse hat gezeigt, dass diese Konzepte in den programmatischen Schriften, die eine Universalphilologie proklamieren, über Diskurse aktiviert werden, die von den Rezipienten in Form von mentalen Wissensrahmen abgerufen werden können. Der Abgrenzungsversuch bei Gröber deutet darauf hin, dass diese Wissensrahmen um den Begriff der Universalphilologie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wirksam waren, auch wenn die Konzeption einer Universalphilologie angesichts des ausdifferenzierten Fächerkanons wohl ihre Gültigkeit verlor. Zudem lieferten die von Wolf erstmals konstituierten Diskursstränge ‚Hineinfühlen‘, ‚Kunst vs. Wissenschaft‘, ,Handwerk vs. wissenschaftliche Methode‘, ‚pädagogische Verantwortung‘ und ‚Geschichtlichkeit in der Sprache‘ Kontinuitätslinien in der Auseinandersetzung mit dem Begriff der Philologie, die auch vor dem Hintergrund der Einzelphilologien stattfand. Die Konzeption Boeckhs wandelte in ihrem System den Diskursstrang ‚pädagogische Verantwortung‘ um in einen Diskursstrang ‚ethisches Verstehen und Partizipation‘, der sich in den Texten ebenfalls bis zum Ende des 19. Jahrhunderts finden lässt - sei es in einer Negierung dieser Aufgabe (Gröber), sei es in einem modifizierten 5 In gewisser Weise fiele auch die Konzeption Jakob Grimms in diese Kategorie, der ja die „Dinge um der Sachen willen“ erforscht hatte. Allerdings steht seine nationale Beschränkung des Gegenstands einer solchen Zuordnung im Wege - eine Ausnahme wird hier nur bei Friedrich Wolf gemacht, dessen philosophischer Hintergrund eine Hinwendung zur idealischen Kultur des Alterthums forderte. Grimm hingegen stand stärker im Einflussbereich der Hegelschen Geschichtsvorstellung und hätte sich über nationale Beschränkungen somit hinwegsetzen können. Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 383 Bejahen (Tobler). Der Wissensrahmen, der um die methodische Debatte besteht, wird ebenfalls im Boeckhschen Entwurf festgelegt und zieht sich als philologisch konnotierter Wissensrahmen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts durch, kennzeichnend ist für ihn die Bipolarität der Forschung: apriorischer versus aposteriorischer Erkenntnisgewinn über die Synthese und Hierarchisierung von Empirie und Spekulation. Zur globalen Konzeption von Philologie zählt Bähler Gustav Körting, worin ihr eindeutig zuzustimmen ist (Bähler 2004: 280). Zu veranschlagen wäre hier auch die Wortphilologie Gottfried Hermanns, wie eben auch, bezöge man sich auf die praktische Umsetzung, Karl Elze als Scharnier zwischen den beiden Konzeptionen. Als problematisch erweist sich der dritte Typus, die „conception large, le modèle allemand“ (Bähler 2004: 281). In dieser verortet Bähler die institutionalisierten Einzelphilologien, die aufgrund des ausdifferenzierten Fächerkanons nicht mehr in die Konzeption einer großangelegten Kulturwissenschaft passen, wie sie die universelle und die globale Konzeption vorschlagen. Dieser Typus muss für die im Rahmen dieser Arbeit analysierten Entwürfe unterteilt werden: - Typ A diskutiert die Konzeption der Philologie vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit den aufstrebenden Realia wie auch den Schulreformen. Hier wäre Karl Mager zu verorten, der den Gegenstand der Romanischen Philologie für seine schulpolitischen Forderungen vereinnahmt, zu einer methodischen Diskussion aber nur sehr wenig beiträgt. - Typ B verhandelt die Konzeption der Philologie vor dem Hintergrund der Bedürfnisse des Universitätsfaches. Am Randbereich dieses Typs wären Karl Mahn und Hermann Breymann zu verorten, die in ihren Konzeptionen auch Nähe zu Typ A aufweisen. Auch Gustav Körting wäre dem Typ B zuzuordnen, er kann wie auch Elze in doppelter Weise gesehen werden (global vs. weit, Typ B). Bernhard Schmitz fiele im weitesten Sinne in diese Kategorie, da er nur ansatzweise eine Konzeption vom Begriff der Philologie in seiner Enzyklopädie entworfen hat. Innerhalb dieser Konzeption werden neben inhaltlichen Elementen (Methode, ethische Aufgabenstellung, Wissenschaftskriterien) vor allem auch auf didaktische und pragmatische Fragestellungen eines universitären Faches fokussiert (Dozenten, Lehrmittel, Förderung der Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses). Als ein Bindeglied zu Typ C kann August Fuchs aufgefasst werden, der sowohl dezidiert fachwissenschaftliche als auch didaktische Aspekte in seine Philologiekonzeption integriert. - Typ C verhandelt wird die Konzeption der Philologie hier unter dem Aspekt der Fachwissenschaft. Hier wären Friedrich Diez, Gustav Gröber und Adolf Tobler zu nennen, die in ihre Konzeptionen methodische Debatten, eine inhaltliche Bestimmung sowie eine klare Aufgabenstellung der Philo- Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 384 logie integrieren und sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Philologie - zumindest was die methodischen Diskussion betrifft - klar an einen Expertenkreis wenden. August Fuchs fällt teilweise in diese Kategorie, teilweise ist er aber auch zum Typ A der conception large zu zählen, da auch er Fragen der Unterrichtsrealität behandelt. Deutlich wird, dass eine solche Typologie zur Klassifizierung der einzelnen Philologieentwürfe nur herangezogen werden kann, wenn man auf oberflächlich erkennbare, unterschiedliche Strukturmerkmale abzielt. Sichtbar werden in einem solchen Raster auch die groben Verläufe der Wandelprozesse wie die zunehmende Methodendiskussion und der sich verengende Gegenstandsbereich. Doch eine solche Gruppierung birgt auch verschiedene Verkürzungen und Reduktionen in sich: Innerhalb eines solchen Vergleichsraster fallen der Gruppierung gerade die Elemente zum Opfer, die für die Indiviualität der einzelnen „Stimmen“ und damit für die Pluridemensionalität der Gegenstandsbestimmung verantwortlich zeichnen. Verborgen bleiben in einer solchen Typologisierung ebenfalls die Brüche und Zäsuren, die der Begriff der Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts durchlaufen hat wie auch die Komplexität der diesen konstituierenden Spannungsfelder. Zudem bietet sie keine Erklärungsmodelle für die Wandelphänomene in den im Begriff der Philologie verankerten Wissensrahmen. Exemplarisch für einen solchen Bruch ist die Diskussion um die Einheitsutopie, die dem Begriff der Philologie immanent ist. Bereits das Werk Friedrich Diezens spiegelt die Spaltung der Philologie in eine Sprach- und eine Textwissenschaft als zwei verschiedene Disziplinen wider. Gustav Gröber nutzt den Begriff der Philologie als semantische Klammer, um sprach- und literaturwissenschaftliche Forschung zusammenzufassen, während Adolf Tobler auf radikale Weise die Konsequenz aus der Spaltung zieht und drei verschiedene Disziplinen veranschlagt - Philologie bleibt dabei die Wissenschaft, der es obliegt, in der Begegnung mit dem Text der Gesellschaft Erkenntnis anzubieten, […] wobei es sich nicht nur um das Auffinden des Materials und das Ausbilden der Methoden seiner Erforschung handelt, sondern darüber hinaus um seine Durchdringung und seine Verwertung für eine innere Geschichte der Menschheit, für den Erwerb einer in seiner Vielfalt einheitlichen Vorstellung vom Menschen. Das war, seit Vico und Herder, die eigentliche Absicht der Philologie; durch diese Absicht ist sie führend geworden. (Auerbach 1967 [1951]: 302) Philologische Entwürfe lassen sich also oberflächlich über Kontinuitätslinien holzschnittartig ordnen, aber lassen sie sich vor dem Hintergrund der veränderten Wissensrahmen erklären? Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 385 Die Antwort auf diese Frage ist möglicherweise in zwei Phänomenen zu suchen, die zumindest in Ansätzen Erklärungen für die semantische Entleerung des Philologiebegriffs einerseits und die Differenzierung in einzelne Disziplinen andererseits bietet. Ein Phänomen ist dabei an das 19. Jahrhundert als kommunikativer Bezugsrahmen gebunden, in dem über Philologie verhandelt wird. Nach Oexle ist die Epoche von „historischgeschichtswissenschafliche[m] Denken im Zeichen des Historismus“ sowie der „Idee von Naturwissenschaft als einer empirischen Beobachtungswissenschaft“ geprägt (Oexle 1998: 105). Wenn sich am Ende des 19. Jahrhunderts die Wissenschaften in die beiden großen Bereiche Natur- und Geisteswissenschaften gliedern, kann die Philologie als historische Wissenschaft, die sich mit kulturellen Denkmälern befasst, ja nur zu letzteren zählen. Auf die Konzeption von Adolf Tobler trifft dies auch zu. Doch was ist mit einer Konzeption, wie sie Gustav Gröber vorschlägt und die immer noch die Einheitsutopie vertritt? Hier kommt das zweite Phänomen zum Tragen, das an den Gegenstand ,Sprache’ im Zentrum des philologischen Forschens gebunden ist: Philologie als Wissenschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Objektivierung des menschlichen Geistes in seinen kulturellen Zeugnissen für die Gesellschaft versteh- und erfahrbar zu machen, schwankt von Anfang an in einem Konfliktbereich zwischen apriorischer und aposteriorischer Erkenntnis, der sich in der Bipolarität ihrer Methode manifestiert. Sie schwankt umso mehr, da ihr Forschungsgegenstand im Grenzbereich zwischen Natur und an menschliche Dynamik gebundener Kultur liegt. Sprache kann einer naturwissenschaftlichen Autopsie (Zergliederung, Zerlegung, Auflösung) unterzogen, sie kann aber auch historisch als Quelle der Kulturgeschichte der Menschheit gelesen werden. Sprache als Entität, die Geist und Natur in sich vereint, steht per se zwischen den beiden Kulturen. In einem Forschungsbereich, der sich mit Sprache beschäftigt, ist der Unterschied zwischen naturwissenschaftlichem Erklären und geisteswissenschaftlichem Verstehen nahezu aufgehoben. 6 Sprache als Gegenstand der Forschung stellt also diese Unterteilung in zwei Kulturen, Geistes- und Naturwissenschaft, von Anfang an radikal in Frage. In einer Zeit, die sich aber dem Systematisieren und Ordnen verschrieben hat, haben Sprachwissenschaft und Philologie, so scheint es, nicht die Wahl, sich dieser Kategorisierung zu entziehen (vgl. Helmholtz 1862; Win- 6 Ernst Cassirer beschreibt dies als Sprachproblem, das für alle Wissenschaften, deren Forschungsgegenstand die menschliche Sprache sei, diskutiert werden müsse (Cassirer 1977: 55ff.). Cassirer selbst löst dieses Problem über die Definition der Sprache als symbolische Form, in der der Geist funktionell definiert wird und sich mit der Natur in der Weise verbindet, dass die Natur dadurch, dass auch sie zu den Funktionen des Geistes zählt, durch diesen gleichermaßen konstituiert wird. Natur und Geist stehen sich also nicht gegenüber, sondern gehen ineinander auf - ein Symbol für diesen Prozess bildet die Sprache (Dessì Schmid 2005: 112). Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 386 delband 1904). Durch ihre Abkehr vom Absolutheitsanspruch des Gesetzesbegriffs, über den sich naturgesetzliche Kausalitäten darstellen lassen, und ihre Rückbesinnung auf das Wirken des Individualismus in der Sprache entzog sich die Sprachwissenschaft einer naturwissenschaftlichen Klassifizierung (vgl. von der Gabelentz ²1901; Paul 1920; Schuchardt 1925). Die Möglichkeit einer dritten Kultur wird erst in neuerer Zeit diskutiert (vgl. Selig 2010). Und die Philologie? Philologie muss sich also entscheiden - Adolf Tobler trifft diese Entscheidung durch eine Ausdifferenzierung in drei Disziplinen, Philologie ist dabei eindeutig den Geisteswissenschaften zuzurechnen. Gustav Gröber will diesen Weg nicht gehen und verharrt resigniert in der Diskussion um die Hierarchisierung von Geist und Natur in der von ihm postulierten Einheit. Sein Versuch, dem Gegenstand durch die Auflösung der Bipolarität der Methode gerecht zu werden, scheitert, da er dadurch aus dem Begriff der Philologie in der Tat die Wissensrahmen herausnimmt, die für sie konstitutiv sind: ‚Synthese von objektiver Methode und subjektiver Empathie‘ sowie ‚ethische Verstehenswissenschaft‘ und ‚Verpflichtung auf Partizipationsermöglichung‘. Damit reduziert Gröber aber auch die Doppeltheit, die dem Gegenstand ,Sprache‘ inhärent ist, da er die Dimension der menschlich-kreativen Dynamik aus seinem positivistischen Sprachbegriff herausnimmt. Die universitäre Realität trifft letztlich die Entscheidung für Gustav Gröber und damit auch für die Philologie: Unter ihrem Namen werden die beiden Disziplinen Sprach- und Literaturwissenschaft institutionell verankert. Die Diskussion um die Verschiedenheit zwischen sprachwissenschaftlicher und philologischer Forschung wird ganz in den Spaltungsprozess zwischen Geistes- und Naturwissenschaften verlagert. Betrachtet man die eingangs erstellte Typologie vor diesem Hintergrund, so kristallisiert sich einerseits eine Affinität zwischen der Reduktion der Wissensrahmen und der Ausdifferenzierung der Fächer heraus, andererseits eine Affinität zwischen der Konzeption der Philologie als einer partizipativen Verstehenswissenschaft und der Auflösung der Einheitsutopie. Wird Philologie zum geschlossenen wissenschaftlichen System, so brechen die Diskursstränge über ethische Fragen der Partizipationsmöglichkeit wie auch des Spannungsfeldes ‚Objektivität versus Subjektivität‘ in der Auseinandersetzung um den Begriff der Philologie ab. Dafür kann mittels einer so entleerten Konzeption die Einheitsutopie zumindest als virtuelles Konstrukt aufrechterhalten werden. Versagt sich die Philologie dieser jedoch und beharrt auf ihrer wissenschaftlichen Eigenständigkeit - und diese war ihr von Anbeginn eingeschrieben - so kann sie sich ihrer gesellschaftlichen Relevanz sicher sein und die Aufgabe erfüllen, die Hans Ulrich Gumbrecht als Chance der Philologie begreift, um wieder zu einer intellektuell attrak- Der Vorhang zu und alle Fragen offen? 387 tiven Philologie mit „einem bestimmten philosophischen Interesse“ zu werden (Gumbrecht 2009: 276): Wir Geisteswissenschaftler sprechen nicht mehr ohne weiteres für Menschheit, Nation oder Gesellschaft, aber fühlen uns zuständig für die Analyse existentieller Situationen. (Gumbrecht 2009: 287). Letztlich, und dies ist zu betonen, liegt es in der Freiheit des Forschers, für welche der Möglichkeiten er sich entscheidet. 7 Bibliographie ADB = Allgemeine Deutsche Biographie. Herausgegeben durch die historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften, 56 Bde. (1875-1912). Berlin: Duncker&Humblot. 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Constant Venesoen Madame de Maintenon, sans retouches Biblio 17, Band 202 2012, 122 Seiten €[D] 49,00/ SFr 61,50 ISBN 978-3-8233-6749-9 Cette biographie évoque le long parcours de Madame de Maintenon, tout en accentuant son rôle pédagogique dans l’enceinte de Saint- Cyr. On mesurera, d’une part, l’extraordinaire ascendant de Madame de Maintenon sur son entourage, sa détermination à s’imposer, son caractère trempé ; d’autre part ses faiblesses, ses doutes, sa foi parfois chancelante. Grâce à sa force de caractère elle a toujours surmonté les embûches, quelles qu’elles soient. Elle a dérouté ses critiques et ses détracteurs, qui sont légion, mais elle n’a jamais cessé d’être une femme exceptionnelle, et à ce titre elle commande le respect. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de NEUERSCHEINUNG MÄRZ 2012 JETZT BESTELLEN! Elisabeth Schulze-Witzenrath Der gerettete Erzähler Decameron rahmen und städtische Sprachkultur im italienischen Trecento 2012, 224 Seiten €[D] 39,99/ SFr 53,90 ISBN 978-3-7720-8449-2 Das Buch nimmt die Frage auf, warum das zum Nutzen und Vergnügen der Frauen geschriebene Decameron mit der Schilderung der Pest von 1348 beginnt, die zu der verbreiteten These von der Verwandtschaft seines Rahmens mit dem orientalischen Halsrahmen geführt hat. Mit Blick auf die Quellen einer frühen Vorform im Jugendwerk Boccaccios wird diese Frage neu beantwortet und ein abendländischer Typus des Erzählens um seiner selbst willen nachgewiesen. Zudem wird gezeigt, dass das Erzählen vor Frauen der höfischen Liebesgeselligkeit entstammt und von dort in die städtische Gesprächskultur übernommen wurde. Das belegen neben der Novellensammlung Boccaccios auch Verhaltenslehren aus jener Zeit.