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Angewandte Kulturwissenschaften

2019
978-3-8233-9218-7
Gunter Narr Verlag 
Anneli Fjordevik
Jörg Roche

Die Vermittlung von Sprache und Kultur geschieht im Unterricht häufig getrennt voneinander, oft auf Kosten kultureller und lingua-kultureller Aspekte. Der Band versammelt unterschiedliche theoretische Facetten der modernen Kognitions-, Kultur-, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften und arbeitet ihre Relevanz für die Sprach- und Kulturvermittlung im Ausland anschaulich heraus. Dargestellt werden Grundlagen der kontrastiven Literaturgeschichte und der Literaturwissenschaften, der literarischen Dynamik, der Intermedialität von Literatur, Bild, Film, Musik und Kabarett, der Kulturwissenschaften und der Interkomprehensionstheorie. Ein Ressourcen- und Referenzteil zu Staatsordnung und Parteienlandschaft in Deutschland, zu Sprache und Funktion der Massenmedien sowie eine kompakte Wiederholung der Grundlagen der germanistischen Linguistik schließen diesen multiperspektivischen Band angewandter Kulturwissenschaften ab.

Angewandte Kulturwissenschaften Kompendium DaF / DaZ Herausgegeben von Jörg Roche (München) Band 10 Anneli Fjordevik / Jörg Roche (Hg.) unter Mitarbeit von Maren Eckart Angewandte Kulturwissenschaften Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2512-8043 ISBN 978-3-8233-8218-8 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ (Jörg Roche) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Teil 1. Grundlagen der angewandten Kulturwissenschaften . . . . . . . . . . . . 17 1. Grundlagen der Literaturgeschichte (Yuri Stulov) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft (Fredrik Land, Maren Eckart & Anneli Fjordevik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 2.1 Handlung und Figurenkonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.2 Gattung und Erzählperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.3 Schauplatz und Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Grundlagen literarischer Dynamik (Serena Grazzini) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . 72 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung . . . . . . 81 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 4. Grundlagen der Intermedialität (Fredrik Land, Maren Eckart & Anneli Fjordevik) . . . 101 4.1 Literatur, Bild und Film . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2 Literatur und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.3 Literatur und neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche (Thomas Borgard) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 5.1 A-kulturelle linguistische Statik und Anglozentrismus in der globalisierten metalinguistischen Praxis und Wissensproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.2 Cultural lag und Humankapital als Voraussetzungen der gegenwärtigen Bildungsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.3 Die kognitive Gesellschaft: Öffentliche Resonanz, ökonomischer Konsens . . . 137 5.4 Expansive Theoriebildung-- ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs . . . . . . . 140 5.5 Bilder im Kopf: Konjunktur der Kompetenz und mögliche Auswege aus einem reduzierten Kultur- und Sprachverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 6 Inhalt 6. Grundlagen der Interkomprehension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 6.1 Graphemik und Wortschatz (Silvia Bruti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 6.2 Wortbildung und Morphosyntax (Marianne Hepp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6.3 Syntax und Text (Marina Foschi Albert) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Teil 2. Ressourcen und Referenzmaterialien zu Sprache, Medien, Politik und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs (Gianluca Cosentino) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 7.1 Phonetik und Phonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 7.2 Morphologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 7.3 Syntax, Grammatik und Grammatiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 7.4 Die Valenzgrammatik und ihre Probleme bei der Anwendung im DaF-Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 8. Massenmedien in Deutschland (Tatjana Kalchuk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 8.1 Überblick über die Medienlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 8.3 Sprache der Massenmedien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 9. Rechts- und Politikwissenschaften (Irina Nesteruk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 9.1 Staatsordnung Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 9.2 Staatsaufbau Deutschlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union . . . . . . . . . 233 10. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 11. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 12. Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 7 Vorwort Vorwort Trotz vieler neuerer Bemühungen um Kompetenz-, Aufgaben- und Handlungsorientierung kommen in der Praxis der Sprachvermittlung weiterhin verbreitet traditionelle Verfahren zur Anwendung, beispielsweise bei der Festlegung der Lehrprogression, den Niveaustufen, der Fehlerkorrektur und der Leistungsmessung. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven Linguistik und weiterer kognitiv ausgerichteter Nachbardisziplinen beginnt sich nun aber auch in der Sprachvermittlung in vieler Hinsicht ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die kognitionslinguistischen Grundlagen dieses Paradigmenwechsels werden in dieser Reihe systematisiert und anhand zahlreicher Materialien und weiterführender Aufgaben für den Transfer in die Praxis aufbereitet. Die Reihe Kompendium DaF / DaZ verfolgt das Ziel einer Vertiefung, Aktualisierung und Professionalisierung der Fremdsprachenlehrerausbildung. Der Fokus der Reihe liegt daher auf der Vermittlung von Erkenntnissen aus der Spracherwerbs-, Sprachlehr- und Sprachlernforschung sowie auf deren Anwendung auf die Sprach- und Kulturvermittlungspraxis. Die weiteren Bände behandeln unter anderem die Themen Sprachenlernen und Kognition, Kognitive Linguistik, Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen, Unterrichtsmanagement, Medienwissenschaften und Mediendidaktik, Kulturwissenschaften, Mehrsprachigkeitsforschung, Propädeutik. Durch die thematisch klar abgegrenzten Einzelbände bietet die Reihe ein umfangreiches, strukturiertes Angebot an Inhalten der aktuellen DaF / DaZ-Ausbildung, die über die Reichweite eines Handbuchs weit hinausgehen und daher sowohl in der akademischen Lehre als auch im Rahmen von Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen behandelt werden können. Die meisten Bände der Reihe werden von (fakultativen) flexibel einsetzbaren Online- Modulen für eine moderne Aus- und Weiterbildung begleitet. Diese Online-Module ergänzen den Stoff der Bücher und enthalten Zusatzlektüre und Zusatzaufgaben (www.multilinguaakademie.de). Für diesen Band ist allerdings bisher kein Online-Begleitmodul vorgesehen. Zusatzmaterialien und Hinweise auf eine weiterführende Lektüre finden sich aber auf dem Portal des Gunter Narr Verlags. Das Digitale Lexikon Fremdsprachendidaktik (www.lexikonmla.de) bietet darüber hinaus Erklärungen der wichtigsten Fachbegriffe und damit einen leichten Zugang zu allen aktuellen Themen der Fremdsprachendidaktik sowie der Sprachlehr- und -lernforschung und ihrer Bezugsdisziplinen. Möglich gemacht wurde die Entwicklung der Inhalte und der Online-Module durch die Förderung des EU Tempus-Projektes Consortium for Modern Language Teacher Education. Neben den hier verzeichneten Autorinnen und Autoren haben eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der editorischen Fertigstellung des Manuskriptes dieses Buches mitgewirkt, vor allem: Katsiaryna EL -Bouz, Christina Bacher und Corina Popp (Gunter Narr Verlag). Ihnen allen gebührt großer Dank für die geduldige und professionelle Mitarbeit. Wir danken außerdem Maren Eckart (Dalarna University) für die Mitarbeit bei der Herausgabe des Bandes. Dieser Band hat zwei Teile. Im ersten Teil geht es uns um die Darstellung wichtiger Grundlagen angewandter Kulturwissenschaften. Der zweite Teil liefert weitere Ressourcen und 8 Vorwort nützliche Referenzmaterialien zu den thematischen Schwerpunkten des Bandes, und zwar zu den Themen: Sprache, Medien, Politik und Gesellschaft. Bei der großen Bandbreite und Überschneidungen der Wissenschaften, die sich mit Kultur beschäftigen, muss man exemplarisch vorgehen. Der Fokus dieses Bandes schränkt das große Spektrum insofern ein, als seine Perspektive die der Sprach- und Kulturvermittlung des Fremdsprachenunterrichts ist. In Band 7 dieser Reihe wird bereits ausführlich auf die neuesten Ansätze der Sprach- und Kulturvermittlung eingegangen, die die holzschnittartigen, oft zur Stereotypisierung verleitenden Modelle der Landes- oder Kulturkunde abgelöst haben. Dennoch halten sich im beruflichen Feld nicht nur die Begriffe, sondern mit ihnen auch die Konzepte antiquierter Vorstellungen von Kultur und Sprache im Fremdsprachenunterricht. Um die in Band 7 ausgeführten Modelle, Theorien und Praktiken weiter auszuführen, zu differenzieren und zu illustrieren, sollen hier also die wichtigsten Grundlagen der Sprach- und Kulturwissenschaften anschaulich dargestellt werden. 9 Warum Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig ist Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Jörg Roche Der Bedarf an solider Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sprachvermittlung nimmt ständig zu. Immer stärker treten dabei spezialisierte Anforderungen zum Beispiel in Bezug auf Fach- und Berufssprachen, Kompetenzen oder Zielgruppen in den Vordergrund. Theoretisch fundiert sollten die entsprechenden Angebote sein, aber gleichzeitig praxistauglich und praxiserprobt. Genau diese Ziele verfolgen die Buchreihe Kompendium DaF / DaZ und die begleitenden Online-Module. In mehreren Modulen und Bänden soll hiermit eine umfassende Einführung in die Wissenschaft und in die Kunst des Sprachenlernens und Sprachenlehrens gegeben werden, weit weg von fernen Theorie- oder Praxiskonstruktionen und Lehr-Dogmen. Im Mittelpunkt des hier verfolgten Ansatzes steht das, was in den Köpfen der Lerner geschieht oder geschehen sollte. Sachlich, nüchtern, effizient und nachhaltig. Buchreihe und Online-Module sind eine Einladung zur Professionalität eines Bereichs, der die natürlichste Sache der Welt behandelt: den Sprachenerwerb. In diesen Materialien und Kursen werden daher Forschungsergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen zusammengetragen und der Nutzen ihrer Synthese für die Optimierung des Sprachenerwerbs und Sprachunterrichts aufgezeigt. Warum Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig ist Wer sich etwas eingehender darum bemüht zu verstehen, welche Rolle die Sprache im weiten Feld des Kontaktes von Kulturen spielt-- oder spielen könnte--, muss von den Gegensätzen, Widersprüchen und Pauschalisierungen, die die Diskussion in Gesellschaft, Politik und Fach bestimmen, vollkommen irritiert sein. Vielleicht lässt sich aus dieser Irritation auch erklären, warum dieser Bereich von so vielen resistenten Mythen, Dogmen und Praktiken dominiert wird, dass das eigentlich notwendige Bemühen um theoretisch fundierte Innovationen kaum zur Geltung kommt. Mangelndes Sprach- und Sprachenbewusstsein besonders in Öffentlichkeit und Politik führen ihrerseits zu einem ganzen Spektrum gegensätzlicher Positionen, die sich schließlich auch bis in die lehrpraktische Ebene massiv auswirken. Dieses Spektrum ist gekennzeichnet durch eine Verkennung der Bedeutung von Sprache im Umgang der Kulturen auf der einen und durch reduktionistische Rezepte für ihre Vermittlung auf der anderen Seite: Die Vorstellung etwa, die Wissenschaften, die Wirtschaft oder der Alltag kämen mit einer Universalsprache wie dem Englischen aus, verkennt die- - übrigens auch empirisch über jeden Zweifel erhabenen- - Realitäten genauso wie die Annahme, durch strukturbasierten Sprachunterricht ließen sich kulturpragmatische Kompetenzen (wie sie etwa für die Integration in eine fremde Gesellschaft nötig waren) einfach vermitteln. Als ineffizient haben sich inzwischen auch solche Verfahren erwiesen, die Mehrsprachigkeit als Sonderfall-- und nicht als Regelfall-- betrachten und daher Methoden empfehlen, die den Spracherwerb vom restlichen Wissen und Leben zu trennen versuchen, also abstrakt und formbasiert zu vermitteln. Der schulische Fremdsprachenunterricht und der Förderunterricht überall auf der Welt tendieren (trotz rühmlicher unterrichtspraktischer, didaktischer, 10 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ struktureller, konzeptueller und bildungspolitischer Ausnahmen und Initiativen) nach wie vor stark zu einer solchen Absonderung: weder werden bisher die natürliche Mehrsprachigkeit des Menschen, die Sprachenökologie, Sprachenorganik und Sprachendynamik noch die Handlungs- und Aufgabenorientierung des Lernens systematisch im Fremdsprachenunterricht genutzt. Stattdessen wird Fremdsprachenunterricht in vielen Gesellschaften auf eine (internationale) Fremdsprache reduziert, zeitlich stark limitiert und nach unterschiedlich kompetenten Standards kanalisiert. Interkulturelle Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung In unserer zunehmend globalisierten Welt gehört die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen zu einem der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche. Die Globalisierung findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: lokal innerhalb multikultureller oder multikulturell werdender Gesellschaften, regional in multinationalen Institutionen und international in transkontinentalen Verbunden, Weltorganisationen (unter anderem für Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Sport, Banken) und im Cyberspace. Dabei sind all diese Globalisierungsbestrebungen gleichzeitig Teil einer wachsenden Paradoxie. Der Notwendigkeit, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme wegen der globalen Vernetzung der Ursachen auch global zu lösen, stehen andererseits geradezu reaktionäre Bestrebungen entgegen, der Gefahr des Verlustes der „kulturellen Identität“ vorzubauen. Einerseits verlangt oder erzwingt also eine Reduktion wirklicher und relativer Entfernungen und ein Überschreiten von Grenzen ein Zusammenleben und Kommunizieren von Menschen verschiedener Herkunft in bisher nicht gekannter Intensität, andererseits stehen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft die gleichen Widerstände entgegen, die mit der Schaffung solcher Gesellschaften als überkommen geglaubt galten (Huntington 1997). Erzwungene, oft mit großer militärischer Anstrengung zusammengehaltene multikulturelle Gesellschaften haben ohne Druck keinen Bestand und neigen als Folge des Drucks vielmehr dazu, verschärfte kulturelle Spannungen zu generieren. Auch demokratisch geschaffene multikulturelle Gesellschaften benötigen meist viel Zeit und Energie, um sich aus der Phase der multi-kulturellen Duldung zu inter-kultureller Toleranz und interkulturellem Miteinander zu entwickeln. Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und die ethnischen Auseinandersetzungen in Afrika und Asien zeigen, dass es zuweilen gewaltig unter der Oberfläche gesellschaftlicher Toleranz- und Internationalisierungspostulate rumort. Ethnozentrismus, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus, Diskriminierung, Terrorismus, Bürgerkrieg, Massen- und Völkermord sind durch politisch und wirtschaftlich bewirkten Multikulturalismus nicht verschwunden. Das verbreitete Scheitern von Multikulturalismus-Modellen zeigt, dass ein verordnetes oder aufgezwungenes Nebeneinander von Kulturen ohne Mediationsbemühungen eher Spannungen verstärkt, als nachhaltig Toleranz zu bewirken. Es mangelt an effizienten Verfahren der Vermittlung (Mediation) zwischen Kulturen. Den Sprachen kommt in dem Prozess der Mediation deswegen eine besondere Rolle zu, weil er mit der Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg anfängt und auch nur durch diese am Laufen gehalten wird. Die Sprache kann nicht alle Probleme lösen, aber 11 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ sie hat eine Schlüsselposition beim Zustandekommen interkulturellen Austauschs, die weit über die Beherrschung von Strukturen sprachlicher Systeme hinausgeht. Diese Funktion hat mehr mit Kulturvermittlung als mit strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme zu tun und sie kann kaum durch eine einzige Lingua Franca erfüllt werden. Das Lernen und Lehren von Sprachen ist in Wirklichkeit eines der wichtigsten politischen Instrumente im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung. Sprachunterricht und Sprachenlernen werden aber von Lehrkräften und Lernern gleichermaßen oft noch als die Domäne des Grammatikerwerbs und nicht als Zugangsvermittler zu anderen Kulturen behandelt. Wenn kulturelle Aspekte im Fremdsprachenerwerb aber auf die Faktenvermittlung reduziert werden und ansonsten vor allem strukturelle Aspekte der Sprachen in den Vordergrund treten, bleiben wichtige Lern- und Kommunikationspotenziale ungenutzt. Dabei bleibt nicht nur der Bereich des landeskundlichen Wissens unterentwickelt, sondern es wird in erster Linie der Erwerb semantischer, pragmatischer und semiotischer Kompetenzen erheblich eingeschränkt, die für die interkulturelle Kommunikation essentiell sind. Wenn in der heutigen Zeit vordringlich interkulturelle Kompetenzen verlangt werden, dann müssen in Sprachunterricht und Spracherwerb im weiteren Sinne also bevorzugt kulturelle Aspekte der Sprachen und Kommunikation berücksichtigt werden. Dazu bedarf es aber einer größeren Bewusstheit für die kulturelle Bedingtheit von Sprachen und die sprachliche Bedingtheit von Kulturen. Diese müssen sich schließlich in kultursensitiven Lern- und Lehrverfahren manifestieren, die Mehrsprachigkeit nicht nur künstlich rekonstruieren und archivieren wollen, sondern die in Fülle vorhandenen natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität organisch, dynamisch und effizient zu nutzen wissen. Das Augenmerk der künftigen Lern- und Lehrforschung ist daher verstärkt auf Aspekte der Ökologie und Ökonomie des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements zu richten. Das bedeutet aber, dass die Spracherwerbs- und die Mehrsprachigkeitsforschung sich nicht nur eklektisch wie bisher, sondern systematisch an kognitiven und kultursensitiven Aspekten des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements ausrichten müssen. Diesen Aufgabenbereich zu skizzieren, indem wichtige, dafür geleistete Vorarbeiten vorgestellt werden, ist Ziel dieser Reihe. Interkultureller Fremdsprachenunterricht Als die Forschung begann, sich mit interkulturellen Aspekten in Spracherwerb und Sprachunterricht zu beschäftigen, geschah dies auf der Grundlage bildungspolitischer Zielsetzungen und hermeneutischer Überlegungen. Literarische Gattungen sollten den kommunikativen Trend zur Alltagssprache ausgleichen helfen und damit gleichzeitig frische, auf rezeptionsästhetischen Theorien basierende Impulse für das Fremdverstehen und die Fremdsprachendidaktik liefern (vergleiche Hunfeld 1997; Wierlacher 1987; Krusche & Krechel 1984; Weinrich 1971). Die anfängliche Affinität zu lyrischen Texten weitete sich auf andere Gattungen aus und verjüngte mit dieser Wiederentdeckung der Literatur im Fremdsprachenunterricht gleichzeitig das in den 1980er Jahren bereits zum Establishment gerinnende kommunikative Didaktikparadigma. Man vergleiche die Forderung nach einem expliziten interkulturellen Ansatz von Wylie, Bégué & Bégué (1970) und die bereits frühe Formulierung der konfrontativen 12 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Semantik durch Müller-Jacquier (1981). Für die auf Zyklen sozialisierte Zunft der Sprachlehre stand fest: das ist eine neue, die vierte Generation der Fremdsprachendidaktik, die interkulturelle, oder zumindest die Version 3.5, die kommunikativ-interkulturelle. Allerdings hat diese Euphorie nicht überall zu einer intensiveren, systematischen Reflexion interkultureller Aspekte in Bezug auf ein besseres Verstehen des Sprachenlernens und eine effizientere Ausrichtung des Sprachenlehrens geführt. Selbst in der Lehrwerksproduktion, deren Halbwertzeitzyklen seitdem immer kürzer werden, ist die Anfangseuphorie vergleichsweise schnell verflogen. Infolge des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen ( GER )-- und bereits seines Vorgängers, des Schwellen-Projektes (threshold level project) des Europarates-- scheinen sich aufgrund der (oft falsch verstandenen) Standardisierungen die starken Vereinheitlichungstendenzen zu einer Didaktik der Generation 3 oder gar 2.5 zurück zu verdichten. Die Aufnahme der Fremdperspektive in Lehrwerken beschränkte und beschränkt sich oft auf oberflächlich vergleichende Beschreibungen fremder kultureller Artefakte, und die Behandlung der Landeskunde unterliegt nach wie vor dem Stigma der vermeintlich mangelnden Unterrichtszeit. Ein kleiner historischer Rückblick auf die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts Der Fremdsprachenunterricht ist traditionellerweise vor allem von den bildungspolitischen, pädagogischen, psychologischen und soziologischen Vorstellungen der entsprechenden Epoche und ihren gesellschaftlichen Trends beeinflusst worden. Diese Aspekte überschreiben im Endeffekt auch alle sporadischen Versuche, den Fremdsprachenunterricht an sprachwissenschaftlichen oder erwerbslinguistischen Erkenntnissen auszurichten. So verdankt die Grammatik-Übersetzungsmethode ihre Langlebigkeit den verbreiteten, aber empirisch nicht begründeten Vorstellungen von der Steuerbarkeit des Lerners, der Autorität des Inputs und der Bedeutung elitärer Bildungsziele. Mit den audiolingualen und audiovisuellen Methoden setzt eine Ent-Elitarisierung und Veralltäglichung des Sprachenlernens ein. Die vorwiegend mit Alltagssprache operierenden Methoden sind direkte, wenn auch reduzierte Abbildungen behavioristischer Lernmodelle und militärischer Bedürfnisse ihrer Zeit. Der kommunikative Ansatz schließlich ist von den Demokratisierungsbestrebungen der Gesellschaften bestimmt. Sein wichtigstes Lernziel, die kommunikative Kompetenz, ist dem soziologischen Ansatz der Frankfurter Schule entlehnt (Habermas 1981). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen stellt zwar keinen neuen didaktischen Ansatz dar, bildet aber über seine Ausrichtung auf den pragmatischen und utilitaristischen Bedarf eines zusammenwachsenden und mobilen europäischen Arbeitsmarktes den Zeitgeist des politisch und wirtschaftlich gewollten Einigungsprozesses in Europa ab und wirkt daher paradigmenbildend und auf den Unterricht stärker standardsetzend als alle didaktischen Ansätze zuvor. Er weist deutliche Parallelen zu den Proficiency-Guidelines des American Council of Teachers of Foreign Languages ( ACTFL ) auf, die ihrerseits-- wie bereits die audiolinguale Methode-- stark von den Bedürfnissen der Sprachschulen des US -Militärs beeinflusst wurden. Eine erwerbslinguistische oder stringente sprachwissenschaftliche Basis weist er nicht auf. Typisch 13 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ für die zeitlichen Strömungen sind konsequenterweise auch all die Methoden, die in der Beliebigkeit des Mainstreams keine oder nur geringe Berücksichtigung finden können. Diese alternativen Methoden oder Randmethoden wie die Suggestopädie, Total Physical Response, Silent Way oder Community (Language Learning) Approach reflektieren die Suche des Sprachunterrichts nach zeitgemäßen Verfahren, die vor allem die vernachlässigte Innerlichkeit der Gesellschaft ansprechen oder die Kritik an ihrem Fortschrittsglauben ausdrücken sollen. Die gefühlte Wahrheit der Methoden bei gleichzeitigem Mangel an wissenschaftlich-kritischer Überprüfung der Annahmen ergibt ein inkohärentes Bild der Fremdsprachendidaktik und -methodik, das zwangsläufig zu vielen Widersprüchen, Rückschritten und Frustrationen führen muss. Die rasante Abkehr von der Sprachlerntechnologie der 60er und 70er Jahre, das Austrocknen der alternativen Methoden, die Rückentwicklung der kommunikativen Didaktik oder die neo-behaviouristischen Erscheinungen der kommerziellen Sprachsoftware gehören zu den Symptomen dieses Dilemmas. Die anhaltende unreflektierte Verbreitung eklektischer Übungsformen der Grammatik-Übersetzungsmethode oder des Pattern Drills in Unterricht und Lehrmaterial illustriert, wie wenig nachhaltig offenbar die Bemühungen um eine theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte kommunikative Didaktik waren. Mit dem Auftauchen der interkulturellen Sprachdidaktik und der „vierten Generation von Lehrwerken“ (Neuner & Hunfeld 1993) schien sich eine Veränderung gegenüber den Referenzdisziplinen anzubahnen. Zunehmende Migration und Globalisierungstendenzen machten eine entsprechende Öffnung nötig. Aber auch diese anfänglichen Bestrebungen haben sich in der Breite des Lehrmaterials und des Sprachunterrichts genauso wenig durchgesetzt wie wissenschaftlich fundierte Modelle von Grammatik und Sprache. Stattdessen beschäftigt sich die Unterrichtsmethodik geradezu aktionistisch mit temporären Neuerungen (wie den neuen Medien, dem Referenzrahmen, der farbigen Darstellung grammatischer Phänomene) oder Wiedererfindungen bekannter Aspekte (wie dem Inhaltsbezug oder der Diskussion der Bedeutung mündlicher Texte), ohne sich ernsthaft mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik zu beschäftigen. Ein kurzer Rückblick auf die Vorschläge von Comenius zum inhaltsbezogenen Lernen aus dem 17. Jahrhundert etwa oder der Sprachreformer früherer Jahrhunderte sowie die Modelle aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts würde der neueren Diskussion des Content and Language Integrated Learning ( CLIL ) eine erhellende Perspektive bieten. Comenius hält unter Bezug auf einen christlichen Gelehrten bereits 1623 fest: Die Kenntnis einer Sprache mache noch keinen Weisen, sie diene lediglich dazu, uns mit den anderen Bewohnern der Erdoberfläche, lebenden und toten, zu verständigen; und darum sei auch derjenige, welcher viele Sprachen spreche, noch kein Gelehrter, wenn er nicht zugleich auch andere nützliche Dinge erlernt habe. (Comenius 1970: 269) Dabei verbindet Comenius bereits die Prozesse des Spracherwerbs und der allgemeinen Maturation (der Vision und des Intellekts des Kindes) und nimmt damit Jean Piagets Modell der kognitiven Entwicklung sowie die in der Spracherwerbsforschung etablierten, kognitive Entwicklungsphasen repräsentierenden Konzepte der Erwerbssequenzen vorweg. Darüber hinaus produzierte er bereits ein Lehrbuch (Orbis sensualium pictus), in dem er systematisch die Verwendung visueller Materialien beim Sprachenlernen und -lehren bedachte (Comenius 14 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ 1981). Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen und sozialen Umwälzungen entstandene, bildungspolitisch und methodisch motivierte Reformbewegung des Fremdsprachenunterrichts bildet zwar eine didaktische Brücke zwischen den Arbeiten von Comenius und den Elementen des inhaltsbezogenen und handlungsorientierten Lernens moderner didaktischer Ansätze, verfolgt jedoch keine wissenschaftlichen Ziele. Ihr geht es vielmehr darum: Fremdsprachen jedem zugänglich zu machen, anstatt sie einer exklusiven Elite vorzubehalten, den Fremdsprachenunterricht weit über den Unterricht klassischer Literatur hinaus zu erweitern, indem Inhalte des Alltags- und Berufslebens sowie schulischer Fächer in den Fremdsprachenunterricht aufgenommen werden sollten, zum Beispiel in verschiedenen Verfahren des immersiven Lernens. Mitbegründer oder Anhänger dieser Bewegung wie Jesperson (1922), Passy (1899), Sweet (1899), Gouin (1892), Berlitz (1887), Viëtor (1882) prägten die Reformbewegung mit unterschiedlichen auf die Praxis ausgerichteten Ideen, Modellen und Unterrichtsverfahren. In seiner einflussreichen Einführung benennt Stern (1983) diese Phase wie folgt: The last decades of the nineteenth century witnessed a determined effort in many countries of the Western world (a) to bring modern foreign languages into the school and university curriculum on their own terms, (b) to emancipate modern languages more and more from the comparison with the classics, and (c) to reform the methods of language teaching in a decisive way. (Stern 1983: 98) Verschiedene Methoden sind in den 20er Jahren (bis in die 40er Jahre) des 20. Jahrhunderts als „praktische Antworten“ auf die vorangehende Diskussion entwickelt worden: darunter die vermittelnde Methode (England), die Lesemethode (England) und BASIC English (British/ American / Scientific / International / Commercial), ein Versuch, das Sprachenlernen zu vereinfachen und zu rationalisieren. Mit diesen Methoden beginnen die ersten Ansätze, das Unterrichtsgeschehen, die sprachliche Basis, das Testen von Fertigkeiten und das Lern- und Lehrverhalten mittels verschiedener Pilotstudien systematisch zu untersuchen (unter anderem die Modern Foreign Language Study der American and Canadian Committees on Modern Languages 1924-1928, siehe Bagster-Collins, Werner & Woody 1930). Dieser Trend wurde in den 40er und 50er Jahren mit der Profilierung der Linguistik noch intensiviert. Hierzu gehören Schlüsselereignisse wie die Veröffentlichung von Psycholinguistics: A Survey of Theory and Research Problems, herausgegeben von Osgood, Sebeok, Gardner, Carroll, Newmark, Ervin, Saporta, Greenberg, Walker, Jenkins, Wilson & Lounsbury (1954), Verbal Behavior von Skinner (1957) und Lados erste systematische Erfassung der kontrastiven Linguistik Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers (1957). The American Army Method, deren Errungenschaften später heiß umstritten waren, versuchte nachzuweisen, dass Sprachunterricht auch ohne die traditionellen schulartigen Methoden und mit wesentlich größeren Gruppen und in kürzerer Zeit effizient durchgeführt werden kann. Als Folge der behaviouristischen Ideologie wurden besonders in den USA die audiolingualen und in Frankreich die audiovisuellen Lehrverfahren entwickelt, die lange Zeit den Sprachunterricht dominierten und unter anderem auch dem Vormarsch der Sprachlabortechnologie Vorschub leisteten und- - trotz gegenteiliger empirischer Evidenz-- bis heute dem konditionierenden Einsatz elektronischer Medien zugrunde liegen (zum Beispiel in Programmen wie Rosetta Stone oder Tell me more). 15 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Die stetige Zunahme von linguistischen Studien und die Begründung der Psycholinguistik als ein interdisziplinäres Forschungsgebiet leisteten später einen wesentlichen Beitrag zur Identifizierung der aus den Methoden der behaviouristischen Verhaltensformung entstehenden Probleme des Spracherwerbs (zum Beispiel Rivers einflussreiches Buch The Psychologist and the Foreign Language Teacher 1964). Als Folge der zunehmenden Kritik an den intuitiven Methoden gewann schließlich das kognitive Lernen-- bis heute weitgehend als das regelgeleitete, systematische Lernen missverstanden-- in der Diskussion um angemessene Ansätze an Gewicht. Chomskys nativistische Theorie auf der einen Seite und soziolinguistische und pragmalinguistische Strömungen auf der anderen haben im Anschluss daran vor allem die Erwerbsforschung und die Entwicklung neuer methodischer Verfahren geprägt. Chomskys Ausgangshypothese zufolge haben Kinder eine angeborene Fähigkeit der Sprachbildung (in der Muttersprache, L1). Wenn Kinder zum ersten Mal die Sprache hören, setzten allgemeine Prinzipien der Spracherkennung und Sprachproduktion ein, die zusammen das ergäben, was Chomsky den Language Acquisition Device ( LAD ) nennt. Der LAD steuere die Wahrnehmung der gehörten Sprache und stelle sicher, dass das Kind die entsprechenden Regeln ableite, die die Grammatik der gehörten Sprache bildeten. Dabei bestimmten Verallgemeinerungen, wie die Sätze in der entsprechenden Sprache zu bilden seien. Im Zweitsprachenerwerb werde die Reichweite des LAD einfach auf die neue Sprache ausgedehnt. Nativistische Theorien des Spracherwerbs haben jedoch wenig Einfluss auf die Entwicklung von Erwerbs- und Unterrichtskonzepten für Fremdsprachen gehabt. Den stärksten Einfluss haben sie in der Erforschung und Formulierung von Erwerbssequenzen ausgeübt. In deutlichem Kontrast dazu haben sich seit den 1970er Jahren parallel verschiedene Forschungsrichtungen ausgebildet, die sich an die Valenzgrammatik, die Pragmalinguistik (Sprechakttheorie, Diskursanalyse), die funktionale Linguistik, die Textlinguistik und die Psycholinguistik und andere Kognitionswissenschaften anlehnen. Mit wenigen Ausnahmen ist es aber auch dieser Forschung nicht gelungen, nachhaltig auf die Lehr- und Lernpraxis einzuwirken. Unter den Versuchen einer systematischen Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Entwicklung von Lehrmaterial und Lehrverfahren sind die folgenden zu nennen: ▶ ein kurzlebiger Versuch, die Valenzgrammatik als Grundlage einer didaktischen Grammatik einzuführen (zum Beispiel das DaF-Lehrwerk Deutsch Aktiv) ▶ die eklektische Nutzung von Elementen der pragmatischen Erwerbsforschung in der Lehrwerksproduktion (siehe die DaF-Lehrwerke Tangram, Schritte international) ▶ die Berücksichtigung von Aspekten der Interkomprehensionsdidaktik in Lehransätzen (EuroCom) ▶ die Gestaltung des Sprachunterrichts nach handlungstheoretischen und konstruktivistischen Prinzipien (Szenariendidaktik, fallbasiertes Lernen, Fachsprachenunterricht). Fremdsprachenunterricht wird verbreitet noch als Domäne des Einzelerwerbs betrachtet. Die systematische Nutzung von Kenntnissen der Vorsprachen beim Erwerb weiterer Sprachen wird bisher nur ansatzweise bedacht und bearbeitet. In Begriffen wie Mehrsprachigkeitsdidaktik, Deutsch nach Englisch oder Interkomprehensionsdidaktik zeigen sich die Vorboten einer neuen Generation der Fremdsprachendidaktik, deren Grundlagen jedoch noch zu erarbeiten sind, wenn sie nicht bei kontrastiven Vergleichen verharren will. 16 Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ Zur kognitiven Ausrichtung Um zu verstehen, wie die Sprache überhaupt in den Köpfen der Lerner entsteht und sich weiter verändert-- und darum geht es in dieser Buchreihe-- sind Erkenntnisse aus verschiedenen Nachbardisziplinen der Sprachlehrforschung erforderlich. Die Neurolinguistik kann zum Beispiel darüber Aufschluss geben, welche Gehirnareale wahrend der Sprachverarbeitung aktiviert werden und inwiefern sich die Gehirnaktivität von L1-Sprechern und L2-Sprechern voneinander unterscheidet. Durch die Nutzung bildgebender Verfahren lässt sich die sprachrelevante neuronale Aktivität sichtbar und damit auch greifbarer machen. Was können wir aber daraus für die Praxis lernen? Sollen Lehrer ab jetzt die Gehirnaktivität der Lerner im Klassenraum regelmäßig überprüfen und auf dieser Basis die Unterrichtsinteraktion und die Lernprogression optimieren? Dabei wird schnell klar, dass eine ganze Sprachdidaktik sich nicht allein auf der Basis solcher Erkenntnisse formulieren lässt. Dennoch können die Daten über die neuronale Aktivität bei sprachrelevanten Prozessen unter anderem die Modelle der Sprachverarbeitung und des mehrsprachigen mentalen Lexikons besser begründen, die sonst nur auf der Basis von behaviouralen Daten überprüft werden. Ähnlich wie die Neurolinguistik stellt die kognitive Linguistik eine Referenzdisziplin dar, deren Erkenntnisse zwar für die Unterrichtspraxis sehr relevant und wertvoll sind, sich aber unter anderem aufgrund des introspektiven Charakters ihrer Methoden nicht direkt übertragen lassen. Die kognitive Linguistik erklärt nämlich die Sprache und den Spracherwerb so, dass sie mit den Erkenntnissen aus anderen kognitiv ausgerichteten Disziplinen vereinbar sind. So dienen kognitive Prinzipien wie die Metaphorisierung oder die Prototypeneffekte der Beschreibung bestimmter Sprachphänomene. Der Spracherwerb wird seinerseits durch allgemeine Lernmechanismen wie die Analogiebildung oder die Schematisierung erklärt. Die kognitive Linguistik, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik, die kognitiv ausgerichteten Kulturwissenschaften sind also Bezugsdisziplinen, die als Grundlage einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik fungieren. Sie sollen in den Bänden dieser Reihe soweit zum Tragen kommen, wie das nur möglich ist. Bei jedem Band stehen daher die Prozesse in den Köpfen der Lerner im Mittelpunkt der Betrachtung. Teil 1. Grundlagen der angewandten Kulturwissenschaften 19 Zur kognitiven Ausrichtung 1. Grundlagen der Literaturgeschichte Yuri Stulov …-the story of the European tradition is a rich harvest-- a tradition also that owes much to peoples that lived beyond the borders of the smallest and yet most aggressive continent. For that reason we must be respectful to these foreign creditors, for the world of art knows no barriers of geography, race, or language, and there are no tariff walls in matters of the spirit. (Buck 1947: Introduction) Dieses Kapitel besteht aus einer Studie ausgewählter literarischer Werke, die von der Antike bis zum heutigen Tage reichen. Sie repräsentiert verschiedene regionale Kulturen und Zeitperioden und ist damit auch für den kulturellen Kontext des Sprachunterrichts relevant. Es wird eine Reihe von kritischen Ansätzen betrachtet, die mit Blick auf verschiedene literarische Texte in Form von Diskussionen innerhalb von Seminaren und schriftlichen Hausarbeiten angewandt werden. Jede Lerneinheit in diesem Kapitel betrachtet jeweils zwei Texte unterschiedlicher literarischer Gattungen. Die einzelnen Einheiten basieren auf den Verbindungen zwischen den Texten, die verschiedenen Kulturen und Zeitperioden zugeordnet werden können, und liefern Fragestellungen mit welchen man an die Texte herantreten kann. Das Ziel dieses Kapitels ist es, Studenten und Studentinnen in die literarische, kulturelle und soziale Bedeutung der Meisterwerke der Weltliteratur einzuführen, und es ihnen zu ermöglichen, diese literarischen Texte in ihren historischen und kulturellen Kontexten zu analysieren, sowie mögliche Verknüpfungen zwischen den Texten zu finden, um Schlüsse hinsichtlich der Interaktion zwischen Kulturen und kulturellen Epochen auf der ganzen Welt ziehen zu können. 20 1. Grundlagen der Literaturgeschichte 1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft In der vorliegenden Lerneinheit werden wir Meisterwerke der Weltliteratur durchgehen, welche im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland und in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts verfasst wurden, um Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Warum ist Weltliteratur relevant für die Betrachtung des kulturellen Kontexts, welcher die Entwicklung der Menschheit bestimmte? Welche Verbindungen existieren zwischen der Literatur der Vergangenheit und zeitgenössischer Literatur? Auf welcher Grundlage kann man Werke vergleichen, die verschiedenen Nationen und Zeitperioden zugehörig sind? Auf welche Weise kann das Studium der Weltliteratur hilfreich sein, Grenzen zu überschreiten und zum gegenseitigen Verständnis zwischen Menschen beizutragen? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig zu verstehen, was Weltliteratur gegenüber der vergleichenden Literatur eigentlich ist, sowie zu sehen, welche kritischen Ansätze verwendet werden können, um eine tiefere Einsicht in den kulturellen und ästhetischen Kontext zu gewinnen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ ein Konzept zur Leseförderung für eine bestimmte Zielgruppe entwerfen können; ▶ verschiedene Definitionen von Weltliteratur vergleichen und diese interpretieren können sowie über die Definition von Weltliteratur selbst reflektieren; ▶ Texte verschiedener Epochen in ihrem zeitlichen und regionalen Kontext analysieren und diese als kulturtragend beschreiben können; ▶ den historischen Ablauf in Bezug auf literarische Bewegungen, bedeutende Autoren und Autorinnen sowie Texte kritisch lesen und verstehen können. 1.1.1 Definition der Weltliteratur Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs Weltliteratur. Das Oxford Dictionary definiert Weltliteratur als: 1. A body of work drawn from many nations and recognized as literature throughout the world. 2. (The sum of) the literature of the world. (Ein Oeuvre, das aus Werken vieler Nationen besteht und als Literatur auf der ganzen Welt anerkannt ist). (Oxford Dictionary a) Einige Gelehrte betrachten Weltliteratur als die Studie repräsentativer Werke westlicher und nicht-westlicher literarischer Traditionen im kulturellen und historischen Kontext von der Antike bis zum heutigen Tage. Obwohl diese verwurzelt sind in den Regionen der Welt denen sie entstammen, sind sie von großem Interesse für Personen von außerhalb dieser Regionen. Die Leitlinie des Institute for World Literature der Harvard University verweist darauf, dass 21 1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft our understanding of ‚world literature‘ has expanded beyond the classic canon of European masterpieces and entered a far-reaching inquiry into the variety of the world’s cultures and their distinctive reflections and refractions of the political, economic and religious forces sweeping the globe. (Unser Verständnis von ‚Weltliteratur‘ hat sich über den klassischen Kanon der europäischen Meisterwerke hinaus erweitert und ist zu einer weitreichenden Ermittlung der Diversität der Weltkulturen mit ihren distinktiven Überlegungen und Bruchstellen der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Kräfte der Welt übergegangen). (The Institute for World Literature) J. Hillis Miller beschreibt: Studying literature from around the world is a way to understand globalization. This understanding allows one to become a citizen of the world, a cosmopolitan, not just a citizen of this or that local monolingual community. (Das Studium der Literatur aus der ganzen Welt ist ein Weg die Globalisierung zu verstehen. Dieses Verstehen erlaubt es einem, ein Weltbürger, ein Kosmopolit zu werden, anstatt eines einfachen Bürgers einer einsprachigen Gemeinde). (Miller 2011: 253) Ein Student oder eine Studentin der Weltliteratur eignet sich umfassendes Wissen über Literaturen der ganzen Welt an; dies ist eindeutig eine gewaltige Aufgabe, die ein großes Bemühen miteinschließt, die Texte der verschiedenen Nationalliteraturen nicht als eine beliebige Ansammlung anzusehen, sondern als repräsentativ für gewisse literarische Strömungen, Bewegungen und Zeitperioden, die einen länderübergreifenden Wert inne haben. Das World Literature Syllabus der Penn State University bietet eine genauere Beschreibung dessen, was mit Weltliteratur gemeint ist. Es beinhaltet die folgenden Punkte: 1. World Literature as a comprehensive corpus of all literary texts in all languages of the world (Weltliteratur als ein umfassender Korpus aller literarischer Texte aller Sprachen der Welt.) 2. World Literature as an anthropological comparison of how different cultures develop literary forms (Weltliteratur als ein anthropologischer Vergleich hinsichtlich der Art und Weise verschiedener Kulturen, literarische Gattungen zu entwickeln.) 3. World Literature as a hypercanon of „the best that has been thought and said“ by selected writers of the world (Weltliteratur als ein Hyperkanon des „Besten, das jemals gedacht und gesagt wurde“ von ausgesuchten Autoren der Welt.) 4. World Literature as the process of diffusion of texts around the globe through translation, adaptation, rewriting, etc. (Weltliteratur als der Prozess der globalen Verbreitung von Texten durch Übersetzungen, Adaptionen und Umschreibungen). (Pennsylvania State University 2014) David Damrosch formuliert „a threefold definition focused on the world, the text and the reader“ (eine dreifache Definition mit dem Fokus auf Welt, Text und Leser): 1. World literature is an elliptical refraction of national literatures. (Weltliteratur ist eine elliptische Bruchstelle nationaler Literaturen.) 2. World literature is writing that gains in translation. (Weltliteratur ist das Schreiben, das durch Übersetzung an Wert gewinnt.) 22 1. Grundlagen der Literaturgeschichte 3. World literature is not a set canon of texts but a mode of reading: a form of detached engagement with worlds beyond our own place and time (Weltliteratur ist kein fester Kanon von Texten, sondern ein Lesemodus: eine Art losgelöste Beschäftigung mit Welten, die jenseits unserer eigenen Zeit und jenseits unseres eigenen Raums liegen). (Damrosch 2003: 281; Kursiv-- David Damrosch) Er fährt fort: World literature has often been seen in one or more of three ways: as an established body of classics, as an evolving canon of masterpieces, or as multiple windows on the world. (Weltliteratur wurde oft in bis zu drei Arten betrachtet: als ein etabliertes Oeuvre der Klassiker, als ein sich entwickelnder Kanon der Meisterwerke, oder als multiple Fenster in die Welt). (Damrosch 2003: 15) Auf eine bestimmte Art und Weise wiederholt J. Hillis Miller einige Inhalte der Definition von Damrosch und bezieht sich dabei auf „the challenge of translation, the challenge of what literary works to choose as representative, the challenge of making a universal definition of ‚literature‘“ (Miller 2011: 251). 1.1.2 Vergleichende Literaturwissenschaft Die vergleichende Literaturwissenschaft beschäftigt sich ebenfalls mit den Aspekten, die im Abschnitt 1.1.1 behandelt wurden. Der Fokus ist allerdings ein etwas anderer: Er überschreitet Grenzen und liegt „beyond the the boundaries of languages and national literary traditions, between cultures and world regions, among disciplines and theoretical orientations, and across genres, historical periods, and media“ ( ICLA , International Comparative Literature Association). Djelal Kadir betont den übernationalen und transkulturellen Charakter der vergleichenden Literaturwissenschaft. Ihm zufolge gilt: Comparative Literature is the systematic practice of discerning, examining, and theorizing symbolic processes as they affect the material and aesthetic enablements in the production, valuation, and dissemination of literary culture at and through transnational and transcultural sites. (Vergleichende Literaturwissenschaft ist die systematische Praxis der Wahrnehmung, Untersuchung und Theorie symbolischer Prozesse, während diese materielle und ästhetische Möglichkeiten in der Produktion, Valuation und Dissemination der literarischen Kultur auf und durch übernationale und transkulturelle Standorte beeinflussen). (Kadir 2001: 25) Die International Comparative Literature Association sagt ebenfalls, die vergleichende Literaturwissenschaft „extends to the study of sites of difference such as race, gender, sexuality, class, ethnicity, and religion in both texts and the everyday world“ ( ICLA ). Die Brown University ist lakonischer in ihrer Definition der vergleichenden Literaturwissenschaften und beharrt auf den internationalen Charakter der Forschung und Anleitung. Sie wird maßgeblich als „the study of literature and other cultural expressions across linguistic and cultural borders“ (comparative literature) bezeichnet (Brown University). Die Yale University betont dagegen die Interdisziplinarität. Ihre diskursive Praxis vereint das Partikuläre mit dem Generellen, lokale Spezifität mit globaler Universalität. Kadir weist darauf hin, dass neue diskursive 23 1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft Formationen „lines, borders, frontiers“ definieren, „and parameters are no longer crossed but are transcended“ (Kadir 2001: 27). In diesem Sinne wird die vergleichende Literwissenschaft „as a discursive field, as cultural institution, and as historical formation“ (Kadir 2001: 27) betrachtet. Kulturelle Zeiträume Griechisch-römische Kultur Die griechisch-römische Kultur beziehungsweise die antike Klassik (8. Jahrhundert v. Chr. bis 5. Jahrhundert n. Chr.) erstreckte sich um das Mittelmeer herum und umfasste die Zivilisationen des antiken Griechenlands und des antiken Roms. Während der Hochzeit dieser Kultur erstreckte sie sich von den britischen Inseln über Kleinasien, dem Kaukasus, Mesopotamien bis zu den Rändern Indiens. Die griechische und römische Philosophie, Wissenschaft, das Recht, Literatur und Kultur beeinflussten Europa, Nordafrika und Südwestasien immens. Die Kunst der griechischen und römischen Kultur betonte den Aspekt des Gedenkens und vereinte die symbolische und narrative Behandlung eines Themas. Von besonderer Relevanz sind die Formen des literarischen Unterfanges, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Literatur und der Weltliteratur hatten, wie etwa der Mythos, die Tragödie, die Komödie, lyrische Poesie. Diese finden sich in den Werken von William Shakespeare, John Milton, Jean Racine, Molière, James Joyce, T. S. Eliot, André Gide, Jean Anouilh, Eugene O’Neill, Lajos Mesterházy und vielen anderen wieder. Der Geist des Ostens Kulturelle Prozesse gingen nicht in Isolation vonstatten, sondern entwickelten sich durch verschiede Arten von direktem wie indirektem Kontakt sowie konstanter Interaktion. Neben dem Besten, das die antike griechische und römischen Literatur zu bieten hatte, gab es auch den ethischen und ästhetischen Standard der hebräischen Bibel, die epische Kraft der Mahabharata, die vorzügliche Dramatik der Akoontala, die Lyrik der persischen und ägyptischen Poesie, die Feinheit des Korans und die philosophische Tiefe und Schönheit der konfuzianischen Klassiker, welche alle einen weitreichenden Einfluss auf die Weltliteratur hatten. Das Mittelalter Der Fall Roms im Jahre 476 n. Chr. wurde gefolgt von einem tausend Jahre währenden Zeitraum, der heute als das Mittelalter bekannt ist, und der bis zur italienischen Renaissance andauerte. Während diesem Zeitraum wurde die Kirche zur mächtigsten Institution. Das Christentum spielte eine wichtige Rolle in dem Fall des größten Imperiums der Welt, da es zu einem Wandel im System der moralischen Werte führte. Die Bibel ist die Grundlage des Judentums, des Christentums und einiger anderer Religionen. Die Mythologie der Bibel, das heißt ihre Motive, Charaktere, Bildsprache und Sprache wurde später von vielen Autoren unterschiedlicher Länder wieder aufgegriffen, von Dante Alighieri und Francesco Petrarch bis William Shakespeare, John Milton, George Gordon Byron, Charles Dickens, Fjodor Mi- 24 1. Grundlagen der Literaturgeschichte chailowitsch Dostojewski, Jospeh Conrad, William Faulkner, John Steinbeck, James Baldwin, William Golding, Michail Bulgakov, Pär Lagerkvist, Tschingis Aitmatow und vielen anderen. Die mit dem US -Pulitzer-Preis dotierte Autorin Marilynne Robinson weist darauf hin: „The Bible is the model for and subject of more art and thought than those of us who live within its influence, consciously or unconsciously, will ever know“ (Robinson 2011). Es war die Zeit der großen Völkerwanderung in ganz Asien und Europa, während der sich Nationen und nationale Staaten nebst Volkssprachen bildeten. Neue soziale Strukturen erschienen unter dem Einfluss des wirtschaftlichen Wachstums und Handels, der technologischen Entwicklung und Bildung, die weitreichende Folgen für das Leben in den Städten nach sich zogen. Kreative Literatur wurde in den Volkssprachen verfasst; die Sprache der Wissenschaft und Wissenschaftler war Latein. Die wesentlichen literarischen Gattungen umfassten das Heldenepos, die Lyrik (vor allem den Minnesang) sowie Rätsel und Mysterienspiel. Die meiste mittelalterliche Literatur wurde mündlich weitergegeben. Die wichtigsten Motive waren Minne (höfische Liebe), Ritterlichkeit, die Heldentaten der Kreuzritter und biblische Ereignisse. Die Renaissance Die Renaissance ist eine präzedenzlose Zeitperiode hinsichtlich der Entwicklung der Europäischen Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft und umspannt einen Zeitraum vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. In diesen Zeitraum fielen ebenfalls der Abstieg des Feudalsystems und das enthusiastische Wiederaufleben eines Interesses an der Antike, ihrem kulturellen Erbe und klassizistischen Lernen. Dies stand in Verbindung mit der neuen intellektuellen Bewegung des Humanismus, welcher den Menschen als Zentrum betrachtet und und den Wert und die Würde des Menschen betont. Diese Zeitperiode brachte den „Renaissance Menschen“ beziehungsweise den universal man-- ein Ideal des vielseitigen und in sich wohlgerundeten Menschen: „[L]imitless in his capacities for development“ (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2017). Die ultimative Quelle von Werten ist der Mensch als das Maß aller Dinge. In diesen Zeitraum fielen ebenfalls die Erforschung neuer Kontinente, große wissenschaftliche Entdeckungen und Innovationen, wie der Buchdruck. Diese Epoche brachte zudem artistischen Wert von einmaliger Qualität hervor: Die Gemälde von Raffael, Michelangelo, Titian, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Peter Bruegel, Rembrandt, Skulpturen von Donatello and Michelangelo, Bücher von François Rabelais, Michel de Montaigne, Miguel de Cervantes und William Shakespeare. Die Moderne Die Moderne begann ungefähr im 16. Jahrhundert. Die Verwendung neuer wissenschaftlicher Methoden führte zur Verbreitung von Wissen in allen Gesellschaftsschichten sowie zu raschem wirtschaftlichem Wachstum durch die Zeit der Aufklärung und der wissenschaftlichen und industriellen Revolution. Es war das Zeitalter der Entdeckungen, der Globalisierung und der Kolonisation anderer Kontinente durch europäische Großmächte. Die Entwicklung des Kapitalismus führte zur Industrialisierung und zur Urbanisierung. Individualismus und 25 1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft Fortschrittsglaube sind Folgen der Moderne. Neues demokratisches Gedankengut fand sich in verschiedenen Feldern des menschlichen Handelns wieder und beeinflusste damit stark die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Der Handel mit dem Ausland und alle Formen des Kontakts charakterisierten die Beziehungen zwischen Europa, dem amerikanischen Doppelkontinent, Asien und Afrika. Die alte Weltordnung wurde von dem Ausgang des Ersten Weltkrieges durchbrochen, der einen Prozess weitreichender politischer und wirtschaftlicher Veränderungen sowie die Dekolonisation und Aufteilung der Welt in Blöcke in Gang setzte. Die Postmoderne Der postindustrielle Kapitalismus bestimmte die Entwicklung der Postmoderne, die mit dem Gedankengut der Aufklärung und seinem Glauben an den Fortschritt, wie auch mit den Ideen der Moderne brach. Die Postmoderne beginnt in den 1960er Jahren und hat einen spürbaren Einfluss auf die Philosophie, Kultur, Kunst und Literatur der heutigen Zeit. Einige der wichtigsten charakteristischen Merkmale der Postmoderne sind die Konzepte der Pluralität und Multiplizität kultureller Paradigmen, der Multikulturalismus, die Dezentralisierung, „an incredulity towards metanarratives“ (Lyotard 1984), die Fragmentation, die sich unter dem Einfluss der Postindustrialisation, Informationsrevolution, Verbreitung von Innovationen, des Konsumerismus etc. entwickelte. In der Literatur brachte dies Texte hervor, die auf Fragmentation, Intertextualität, Auflösung von Grenzen zwischen „anspruchsvoller“ und „banaler“ Kunst, Hybridität, Entmarginalisation der zuvor marginalisierten Minderheit und Experimentierung basierten. 1.1.3 Zusammenfassung ▶ Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs Weltliteratur. Der Begriff bezeichnet zum einen alle literarischen Texte aller Sprachen der Welt, zum anderen repräsentative Werke für literarische Strömungen, Bewegungen und Zeitperioden, die länderübergreifend von Bedeutung sind. Eine weitere Definition bezieht sich auf den Kulturbegriff und die Art, wie verschiedene Kulturen literarische Gattungen entwickeln. ▶ Damroschs Definition zielt auf die Faktoren Welt, Text und Leser und bringt somit die Dynamik und Losgelöstheit von Grenzen, die der Weltliteratur innewohnen, zum Ausdruck. ▶ Von Weltliteratur kann man sowohl im Sinne etablierter Klassiker als auch im Sinne eines sich entwickelnden Kanons von Meisterwerken sprechen. Zudem bietet Weltliteratur ein vielfältiges Fenster in die Welt. ▶ Die vergleichende Literaturwissenschaft zeichnet sich ebenfalls durch einen übernationalen und transkulturellen Charakter aus. Auch kulturelle Zeiträume, wie die griechischrömische Kultur, der Geist des Ostens, das Mittelalter, die Renaissance, die Moderne und auch die Postmoderne, spielen für die Erkenntnisse der vergleichenden Literaturwissenschaft eine bedeutende Rolle. 26 1. Grundlagen der Literaturgeschichte 1.1.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Inwiefern verkörpert der Fachbereich der vergleichenden Literaturwissenschaft Interdisziplinarität? 2. Nennen Sie Beispiele für literarische Formen der griechisch-römischen Kultur, die einen erheblichen Einfluss auf die Europäische Literatur und die Weltliteratur hatten. 3. Welche Gattungen spielten im Mittelalter eine tragende Rolle? Wie verbreitete sich die Literatur zu dieser Zeit und welche Motive wurden literarisch verwertet? 4. Durch welche Merkmale zeichnet sich die Postmoderne aus? Welche Folgen hatten diese für literarische Texte dieser Zeit? 27 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur In der Lerneinheit 1.1 haben Sie sich eingehend mit den wissenschaftlichen Disziplinen der Weltliteratur und der vergleichenden Literaturwissenschaft beschäftigt. Beide haben dabei gemeinsam, Literatur über historische, nationale oder kulturelle Grenzen hinweg zu betrachten. Genau das ist auch Ziel der vorliegenden Lerneinheit, wobei der Fokus auf ausgewählter Weltliteratur und deren Einflüssen durch die griechische Literatur liegt. Genauer hat Lerneinheit 1.2 den Einfluss der Geschichtszyklen Metamorphosen des großen römischen Poeten Ovids auf die Weltliteratur im Kontext von Zeit und Ort zum Thema. Die Metamorphosen wurden 8 n. Chr. verfasst und sind das Magnum Opus des römischen Poeten Ovid (Ovidius). Wir suchen Antworten auf die folgenden Fragen: Warum wird das antike Epos als das wichtigste Werk der Weltliteratur angesehen? Warum ist es relevant für die Studie von diversen Autoren, wie etwa Dante, Chaucer, Shakespeare, Kafka und vielen anderen? Welche Verbindungen bestehen zwischen Ovids epischem Gedicht und Titus Andronicus, Ein Sommernachtstraum, Romeo und Julia von William Shakespeare und Die Verwandlung von Franz Kafka? Was ist die Grundlage für Vergleiche zwischen Texten, die verschiedenen Nationen und Zeitperioden angehören? Und inwiefern hängt dies mit der Intertextualität zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, zunächst einen Überblick über die griechische Literatur zu erhalten und die Entwicklung der von Ovid inspirierten Tradition zu verstehen. So können Sie schließlich erkennen, warum das Motiv der Metamorphose beziehungsweise der Transformation einen derart prominenten Teil der Weltliteratur einnimmt. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ einen Überblick über die griechische Literatur erhalten; ▶ die Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur nachvollziehen können; ▶ verschiedene Definitionen von Metamorphosen vergleichen, interpretieren und über die verschiedenen Typen der Metamorphose in Ovids Gedicht reflektieren können; ▶ Texte verschiedener Epochen im zeitlichen und regionalen Kontext analysieren und sie als kulturtragend beschreiben können; ▶ den historischen Ablauf der Entwicklung von Ovids Motiven in den Texten der großen Weltautoren kritisch lesen und verstehen können. 1.2.1 Die griechische Mythologie als Grundlage der antiken griechischen Kultur und Literatur Die griechische Mythologie beinhaltet die frühesten Formen des literarischen Unterfangens, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung Europäischer Literatur hatten. Sie ist ein Textkörper, der sich mit der Schöpfung, mit Griechischen Göttern, Heroen und dem 28 1. Grundlagen der Literaturgeschichte Verständnis der Welt beschäftigt und der gleichzeitig einen Einblick in die antike griechische Zivilisation gibt. Das Merriam-Webster-Wörterbuch definiert den Mythos als a usually traditional story of ostensibly historical events that serves to unfold part of the world view of a people or explain a practice, belief, or natural phenomenon. (Merriam-Webster o. J.) In seiner wegweisenden Studie über die Mythologie wie auch über die Hauptmotive und Charaktere des Mythos und der Folklore betrachtete Eleazar Meletinsky den Mythos als ein semiotisches Phänomen und kam zu dem Schluss, dass archaische Traditionen von paradigmatischer Signifikanz für die Entwicklung von Literatur sind. Aufbauend auf Jungs Theorie der Archetypen, formuliert Meletinsky grundlegende geistige Universalien, die sich in Märchenstrukturen und epischen narrativen Strukturen gespiegelt finden. Er zeigte die Transformationen von bedeutenden mythischen und folkloristischen Figuren von der antiken Literatur bis zur Literatur des 20. Jahrhunderts und betonte dabei, „myth is always expanding“. „Meletinsky links the re-mythication of modern literature to the universality of the poetic unconscious“ (Lanoue 1998: X). Ihm zufolge ist es so: „Myth is a multi-faceted phenomenon that expresses the fundamental characteristics of human thought, social behaviour and artistic expression; hence the contributions from literary criticism must be given as much weight as strictly ethnological approaches to myth“ (Meletinsky 1998: XXI ). Für die Griechen war die Mythologie ein Teil ihrer Geschichte und wurde dafür verwendet, Naturphänomene, kulturelle Variationen und Beziehungen zur Außenwelt zu erklären. Griechische Mythen beschreiben die Erschaffung der Welt und befassen sich mit den Leben und Abenteuern von Göttern, Göttinnen, Helden, Heldinnen und anderer mythologischer Kreaturen. Laut Walter Burkert sind „the Greek gods- […] persons, not abstractions, ideas or concepts“ (Burkert 1985: 182). Sie besitzen ihre eigenen Interessen, die oft aufeinandertreffen, da die Götter auch eifersüchtig, neidisch, rachsüchtig und gnadenlos sein können. Das Heldenzeitalter brachte zusätzlich den Heldenkult (oder Halbgötterkult) hervor. Es gibt eine Reihe von Mythen, die erzählen wie Götter sich in das Leben der Menschen einmischen und damit das Motiv der göttlichen Gerechtigkeit einführen. Da die Mythen schon vor der Einführung der geschriebenen Sprache existierten, wurden sie von einer Generation zur nächsten mündlich überliefert und damit die Grundlage der antiken griechischen Kultur und Literatur sowie später die Grundlage der Kultur, Künste und Literatur der westlichen Zivilisation. Sie übten einen großen Einfluss auf die europäischen Sprachen aus. Die bedeutenden Werke der griechischen Literatur befassten sich mit wichtigen Motiven des griechischen Mythos, wie etwa der Macht des Schicksals, der Sterblichkeit, Moralität, dem Heldenabenteuer, der Gefahr der Eitelkeit, vergeltender Gerechtigkeit, Entlohnung für Güte und Vergeltung des Bösen. All diese Motive sind später von Autoren und Autorinnen aus verschiedensten Teilen der Erde aufgegriffen worden. Die Macht des Schicksals manifestierte sich in der Gestalt der Göttinnen des Schicksals, die die Unentrinnbarkeit des menschlichen Schicksals symbolisierten. Dies wiederum ist eindringlich dargestellt in der Geschichte von Laios, dem König von Theben und seinem Sohn Ödipus. Das Heldenabenteuer bedeutet sowohl physisches wie spirituelles Wachstum und schließt eine Reihe an Figuren ein, die nahezu unmögliche Aufgaben bewältigen, wie etwa Herkules, Theseus und 29 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur Odysseus. Die Geschichte des Ikarus etwa ist ein Beispiel, wie Stolz und übermäßige Ambition bestraft werden. Die chinesische Variante dieses Mythos erzählt die Geschichte von Kua Fu, einem Riesen, der versucht die Sonne zu jagen und dafür bestraft wird, ihr zu nahe gekommen zu sein. Blutvergießen bringt nur noch mehr Blutvergießen hervor, wie die Geschichte des Hauses von Atreus demonstriert. Dies wird auf verschiedene Weise in Homers großen Epen aufgegriffen sowie in der Aischylos Trilogie Orestie, Sophokles’ Ödipus Trilogie und dem Theaterstück Elektra aus der Feder des Euripides. Die ältesten bekannten epischen Gedichte Die Illias und Die Odyssey werden dem blinden Poeten Homer zugeschrieben, über den nichts bekannt ist. Es ist unbekannt, zu welchem genauen Zeitpunkt sie verfasst wurden, aber basierend auf indirekten Befunden, könnten sie dem 9. bis 8. Jahrhundert v. Chr. zugeordnet werden. Die Epen handeln von den Ereignissen, die in Verbindung mit dem trojanischen Krieg stehen. Die Illias beschreibt die Belagerung der Stadt Troja während des trojanischen Krieges. In beiden Gedichten ist eine Reihe von antiken Mythen erhalten. Die Götter nehmen aktiv am Krieg teil und unterstützen den ein oder anderen ihrer Favoriten. Das Gedicht glorifiziert menschliche Würde und Tapferkeit angesichts widriger Umstände. Odysseus, einer der prominentesten griechischen Krieger, wird zum Protagonisten der Odyssee, die die Rückkehr in seine Heimat Ithaka beschreibt. Während seiner zehnjährigen Reise durchlebt er eine Reihe von Abenteuern, die ihm dabei helfen, sein eigenes Wesen zu entdecken und die Komplexität der Welt zu verstehen. Das Gedicht handelt ebenso von Schicksal, freiem Willen, intellektueller und spiritueller Wanderung oder Suche, die zu bedeutenden Motiven der antiken griechischen Tragödien werden und später zu einigen Motiven der Weltliteratur. Das griechische Theater Das griechische Theater entwickelte sich aus religiösen Festen zu Ehren Dionysos, einem Gott der Fruchtbarkeit, des Weins, der Vergnügungen und Festivitäten. Besondere Theaterbauten namens theatron wurden auf den Hängen der Hügel errichtet. Die ursprüngliche Form des Schauspiels umfasste Tanz und Gesang, der sich auf die antiken Mythen bezog. Die Schauspieler waren ausschließlich männlich und trugen traurige oder lächelnde Masken, je nach Genre des Theaterstücks. Die Masken dienten auch dazu, die Stimme zu verstärken. Zu Beginn des Theaterstücks stand eine Art Dialog zwischen dem ersten Schauspieler (Protagonist) und dem Chor. Oft gab es auch einen Wettbewerb zwischen den Dramatikern darüber, wer seine Stücke während dem dionysischen Fest präsentieren durfte. Den Gewinnern wurden Preise verliehen. Das griechische Theater entfaltete sich um das 5. Jahrhundert v. Chr. Die Werke der Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides hatten tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Kultur und Literatur. Die Handlung der meisten Tragödien bezieht sich auf das Zeitalter der Helden und den trojanischen Krieg und stellt das dem Untergang geweihte Haus von Atreus dar: Agamemnon, Klytemnestra sowie deren Kinder (Iphigenie, Orest, Elektra); die tragische Dynastie von Theben (Ödipus, Jokaste, Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene); Jason, der Anführer der Argonauten und Medea und so weiter. Während dem 30 1. Grundlagen der Literaturgeschichte Heldenzeitalter gehörten Götter und Heroen der sakralen Sphäre an. Eines der wichtigsten Ereignisse, bei dem die Helden ihre Kraft, ihren Mut, Einfallsreichtum und ihre Geschicklichkeit zur Schau stellten, waren die argonautische Expedition, der trojanische Krieg, der thebanische Krieg. Diese sahen die großen Heldentaten des Herakles, sowohl Held als auch Gott, sowie Achilles, Äneas, Hektor, Leonidas, Odysses, Ödipus, Orpheus, Paris, Tantalus, Theseus etc. Viele von ihnen treten auch in den griechischen Tragödien auf. Das Oxford Dictionary definiert die Tragödie als „a play dealing with tragic events and having an unhappy ending, especially one concerning the downfall of the main character“ (Oxford Dictionary b). Aischylos (525-455 / 456 v. Chr.) siegte zum ersten Mal im Wettbewerb der Dramatiker im Jahre 484 v. Chr. und durchlief eine bemerkenswerte Karriere als Dramatiker, in der er über 90 Theaterstücke verfasste. Nur sieben dieser Theaterstücke sind heute überliefert. Er führte die erste Trilogie basierend auf einem einzigen Motiv ein: Orestie sowie ein zweiter Schauspieler. Die letztere Neuerung half, den oft statischen Charakter der früheren Theaterstücke zu überwinden und sorgte für mehr Dynamik und Handlungsvariationen. Die Trilogie handelt von der Familie des Atreus und erforscht das Wesen der Gerechtigkeit, die Justiz, Vergeltung und Gnade, die Rolle der Götter, das Schicksal des Menschenlebens und die soziale Ordnung. Aischylos beharrt darauf, dass ein ungesühntes Verbrechen unweigerlich zu einem weiteren führt. Eines seiner Stücke-- Die Perser-- handelt vom Kampf Athens gegen die Perser. Der Dramatiker selbst nahm teil an den Schlachten von Salamis und Marathon. Er wird zu Recht der „Vater der Tragödie“ genannt. Sophokles (495-405 v. Chr.) gewann seinen ersten Preis 468 v. Chr. und siegte damit gegen Aischylos. Zu seinen Lebzeiten schrieb er ungefähr 120 Stücke und errang 18 erste Preise. Nur sieben dieser Stücke sind heute noch überliefert. Er begann mit der Verwendung von gemalter Hintergrundszenerie, führte einen dritten Schauspieler ein, schaffte die Form der Trilogie ab und beschäftigte sich intensiv mit der Psychologie seiner Figuren, wie an seinen Meisterstücken König Ödipus, Antigone und Elektra ersichtlich ist. Sophokles macht Frauen zu den Heldinnen seiner Stücke: Antigone ist eine Art radikale Feministin, die die männlichdominierten sozialen Strukturen herausfordert. In König Ödipus befasst sich der Dramatiker mit dem sogenannten tragic flaw (tragischer Fehler) oder hamartia, ein „inherent defect or shortcoming in the hero of a tragedy, who is in other respects a superior being favored by fortune“ (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2016a). Der tragische Fehler des Ödipus sind seine unfreiwilligen Verfehlungen, die dazu führen, dass er genau das tut, was er versuchte zu vermeiden, nämlich das was in der Prophezeiung des Orakels von Delphi vorhergesagt wurde. Euripides (484-407 / 406 v. Chr.) war der Jüngste der drei großen Tragiker. Er errang nur vier erste Preise, obwohl er fast unmittelbar nach seinem Tod als der tragischste der griechischen Dramatiker angesehen wurde. Seine psychologische Einsicht in das Wesen seiner Figuren ist ungewöhnlich tiefgreifend und beschreibt die Erfahrungen eines normalen Individuums statt eines Heldens. Er führte die Intrige in seinen Stücken ein und erschuf das Liebesdrama. Eines seiner bedeutendsten Werke ist das Stück Medea. Euripides verfasste 90 Stücke, von denen 18 heute überliefert sind. Seine Abhandlung von gewöhnlichen Motiven war provokativ wie verstörend; die meisten Athener wussten seine Herangehensweise nicht zu schätzen. Dennoch ist Medea heute eine der höchst gelobten Tragödien im Repertoire der 31 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur weltweit führenden Theatergruppen. Das Stück stellt eine leidenschaftliche Frau dar, die alles opfert für Jason, den Mann den sie liebt. Die griechische Komödie Die griechische Komödie entstand im 6. Jahrhundert n. Chr. und brachte zwei große Komödianten hervor: Aristophanes und Menander. Das Merriam-Webster Dictionary definiert die Komödie als „[…]- a drama of light and amusing character and typically with a happy ending; -[…] the genre of dramatic literature dealing with the comic or with the serious in a light or satirical manner“. Aristophanes (448-385 v. Chr.) verfasste 40 Stücke, von denen elf heute überliefert sind. Zwei dieser Stücke stehen in direkter Kritik zu Euripides (The Acharner, Die Frösche). Komödien machen sich über Götter, Menschen und ihre Torheiten lustig. Einige dieser Stücke stellen eine Antwort zum Peloponnesischen Krieg dar. Das berühmteste ist Lysistrata, ein Anti-Kriegsstück, das die Schicksale der Frauen beschreibt, die dem Krieg ein Ende setzen möchten, da dieser ihnen ihre Ehemänner und Söhne nimmt. Einige dieser Stücke sind politische Satiren. Aristophanes verwendete ebenfalls Mythen, wie zum Beispiel in Die Vögel oder Die Frösche. 1.2.2 Bezüge der Weltkulturen zur griechischen Mythologie und zur antiken griechischen Literatur Bezüge zur griechischen Mythologie und der antiken griechischen Literatur finden wir in allen Weltkulturen, die verschiedene mythische Aspekte in ihre kulturellen Artefakte haben einfließen lassen. Dieser Einfluss ist besonders stark in der Gesamtheit der europäischen Literatur zu spüren: In den Werken von Francesco Pertrarch, Giovanni Boccaccio und Dante Alighieri in Italien, Geoffrey Chaucer, William Shakespeare, John Milton, Percy Bysshe Shelley in Großbritannien, Pierre Corneille und Jean Racine in Frankreich, Johann Wolfgang von Goethe in Deutschland, Gavrila Derzhavin, Alexander Pushkin in Russland etc. Griechische Mythen waren ebenfalls das Rohmaterial für die Opern von Georg Friedrich Händel, Christoph von Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart. Die Romanautoren beziehungsweise -autorinnen und Dramatiker beziehungsweise Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts reinterpretierten mythologische Motive, darunter so unterschiedliche wie Jean Anouilh, Jean Cocteau, Eugene O'Neill, Tennessee Williams, Thomas Sterns Eliot, Lajos Mesterházi, Marina Tsvetaeva, Seamus Heaney oder James Joyce. Es empfiehlt sich mit den antiken griechischen Mythen und deren Interpretation durch antike griechische Dramatiker vertraut zu sein, um die Werke zeitgenössischer Autoren und Autorinnen in ihrer Gesamtheit schätzen zu können. Der bedeutendste US -amerikanische Dramatiker, Eugene O’Neill (1888-1953), baute seine Stücke auf dem griechischen Konzept der Tragödie auf. Er zeigte das bemerkenswerte Potenzial, das die Kräfte behind life, wie er es nannte, bargen und das menschliche Schicksal bestimmten. Dank dem psychologischen Realismus von O’Neills Stücken erlangte das amerikanische Drama einen weltrenommierten Status. In seinen Stücken erforscht O’Neill mutig das Innenleben seiner Figuren, ihre Motive, Ängste, Hoffnungen und Reaktionen auf Themen 32 1. Grundlagen der Literaturgeschichte und Probleme, die oft universeller Natur sind. Der Dramatiker erweiterte das Spektrum, das als angemessen für Theaterstücke angesehen wurde, um Themen wie Rasse, Geschlecht, die Macht des Unterbewusstseins und Sex. Im Zentrum seiner Stücke stehen, ähnlich wie in den klassischen griechischen Tragödien, meistens die Figuren. O’Neill studierte die Traditionen der griechischen Tragödie und erfand das Genre so auf einmalige Weise neu. Dies erbrachte ihm 1936 den Literaturnobelpreis „for the power, honesty and deep-felt emotions of his dramatic works, which embody an original concept of tragedy“ (NobelPrize.org). Sein Werk war zudem auch stark von den Entdeckungen der europäischen Dramatiker Strindberg, Henrik Ibsen und Anton Chekhov beeinflusst, die das Drama des alltäglichen Lebens einer normalen Person erforschten. Sie schufen, was heute als das theater of mood bekannt ist und befürworteten damit den psychologischen Realismus. „The kind of theatre that O’Neill’s plays hint at could not have flourished on the stage without the necessary acting, directing, and design practices to support it“ (Zarilli, McConachie, Williams & Fisher Sorgenfrei 2010: 402). Er brauchte neue Schauspieler, die sich von den alten abgedroschenen Traditionen der Schauspielerei und Klischees befreien konnten; er hatte das Glück diese in der Truppe der Provincetown Players zu finden, eine Theatergruppe, die 1915 in Provincetown, Massachusetts gegründet wurde. Einige seiner bekanntesten Stücke feierten ihre Premiere in Provincetown. Jenseits vom Horizont (1920) bescherte ihm den ersten von vier Pulitzer-Preisen für Theater; das Stück war eine intensive psychologische Studie zweier Männer, die dieselbe Frau liebten. Der Kaiser Jones (1920) stellte einen all Negro cast (wörtlich so im Programm ausgeschrieben), eine komplett schwarze Besetzung, vor und brachte einen unverzüglichen finanziellen Erfolg. Die Titelrolle wurde von Paul Robeson, dem erfolgreichsten afroamerikanischen Schauspieler, Sänger und Aktivisten gespielt, nachdem der ursprüngliche Darsteller Charles Gilpin zurückgetreten war. Das Stück verbindet Elemente des psychologischen Realismus mit Expressionismus, der charakteristisch für die Theaterstücke der 1920er ist. Der Ursprung dieser Art des Theaters liegt in Deutschland und wird beschrieben als Expressionismus: Artistic style in which the artist seeks to depict not objective reality but rather the subjective emotions and responses that objects and events arouse within a person. The artist accomplishes this aim through distortion, exaggeration, primitivism, and fantasy and through the vivid, jarring, violent, or dynamic application of formal elements. (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2019) Eines seiner bekanntesten Stücke Sehnsucht unter Ulmen (1924) besitzt einen skandalösen Ruf. Die erste Besetzung in Los Angeles wurde für die Aufführung eines obszönen Stücks festgenommen, welches dann in Großbritannien bis 1940 verboten wurde. Das Stück wurde mit einer naturalistischen Ader geschrieben, unter dem Einfluss von nietzscheanischem und Freud’schem Gedankengut. Es beschreibt das Liebesdreieck zwischen dem Vater, seiner neuen Frau und ihrem Stiefsohn und zeigt damit das tiefe Interesse des Dramatikers O’Neill an der griechischen Tragödie. Es bestehen offensichtliche Verbindungen zu dem Mythos des Ödipus, Euripides’ Tragödien Hippolytos und Medea sowie Jean Racines Phèdre. M. L. Ranald bemerkt, dass 33 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur in Greek tragedy, action appears to proceed naturally from a given quantity called ‚character‘, a complex of distinguishable human traits usually seen in part as having been shaped by past experience and perhaps even by heredity (e. g. Antigone, Hippolytus) in ways that reflect universal ‚laws‘ of the human experience. At the same time, the action appears as the product of supernatural forces, a reaction against some breach of the cosmic order. Similarly, in Desire, we are made cognizant simultaneously of the dark, only partly knowable forces of the individual subconscious and of a superhuman cosmic principle working itself out through the action of the tragedy. (Ranald 1986) In seiner Triologie Trauer muss Elektra tragen (1931) versetze der Dramatiker Aischylos’ Orestie in die Zeit nach dem Bürgerkrieg nach Neuengland. Der Parallelismus ist schon in den Titeln der Stücke der Trilogie offensichtlich. Nach Aischylos’ Agamemnon, Die Grabesspenderinnen und Die Eumeniden, betitelte O’Neill seine Stücke Heimkehr, Die Gejagten und Die Verfluchten. Allerdings schreibt Travis Bogard, dass in some thematic respects, Trauer muss Elektra tragen is closer to Euripides than to Aeschylus, owing to the Euripidean treatment, its psychological interest and the incorrigible self-justifications for acts of violence in which Euripides’ Electra and Klytemnestra engage. The incest motif also has its strongest source in Euripides’ Orestes. Nevertheless, O’Neill has worked freely with his Greek material, and, as he noted in his diary, in centering on Electra’s destiny after the murder, he has added a fresh increment to the legend. (Bogard 1988) Die Trilogie stellt die physische und moralische Zersetzung von zwei Generationen der Mannon family dar. Der Ödipus Mythos liegt den Stücken der Trilogie zugrunde und das Motiv des Schicksals wird immer wieder durch die drei Stücke hindurch wiederholt. Der Freud’sche Einfluss tritt in der Exploration des Ödipus- und des Elektrakomplexes zu Tage, übertragen auf die Figuren Orin und Lavinia. O’Neill hebt das menschliche Dilemma und die Kräfte hervor, die verantwortlich sind für den tragischen Zusammenbruch menschlicher Werte. Seine erfolgreichsten Stücke wurden allerdings zum Ende der 1930er-1940er geschrieben. Der Eismann kommt (1939) ist voller Hoffnungslosigkeit und wird oft mit Maxim Gorkis Stück The Lower Depths verglichen, welches O’Neill stark beeinflusst haben muss. Sein autobiographisches Stück Eines langen Tages Reise in die Nacht (1941 geschrieben, erst 1956 veröffentlicht) hatte ihm seinen vierten posthumen Pulitzer-Preis beschert und stellt den Zusammenbruch seiner Familie dar; dies erklärt, warum der Dramatiker keiner Veröffentlichung zustimmte. Harald Bloom schrieb das Vorwort des Stückes und betonte darin, dass the helplessness of family life to sustain, let alone heal, the wounds of marriage, of parenthood, and of sonship, have never been so remorselessly and so pathetically portrayed, and with a force of gesture too painful ever to be forgotten by any of us. (O’Neill 2002: Rückseite) 34 1. Grundlagen der Literaturgeschichte 1.2.3 Publius Ovidius Naso Publius Ovidius Naso (dt. Ovid) (43 v. Chr.-17 n. Chr.) wird als der Größte der römischen Poeten angesehen. Ihm haben wir die brillante Interpretation der griechischen Mythen zu verdanken (traditionelle Geschichten, besonders die, die sich mit der frühen Geschichte der Menschen oder mit einem Natur- oder sozialen Phänomen beschäftigen und typischerweise übernatürliche Wesen oder Geschehnisse beinhalten), die die Entwicklung der Weltliteratur beeinflusste. Er wurde in Sulmo in Mittelitalien geboren und studierte Rhetorik in Rom. Er ging zwar nach Griechenland, um seine Ausbildung fortzusetzen, doch fand die Poesie als seine wahre Berufung. Seine Poesie brachte Ovid nahezu sofortige Berühmtheit. Ovid wurde stark von Homer, Euripides, Theokrit und anderen griechischen Poeten beeinflusst sowie von den römischen Poeten Vergil, Horaz und Tibull. Ovids Erstlingswerk war das Amores, in dem er sich mit dem Motiv der Liebe auseinandersetzt und das elegische Distichon (Verspaar bestehend aus einem daktylischen Hexameter und einem Pentameter, vor allem in griechischen und lateinischen Versen) verwendet, wie in den meisten seiner Werke. Das Motiv spielte in Ars Amatoria (Liebeskunst) ebenfalls eine Rolle, wie auch später in The Heroides, oder Briefe von Heldinnen, ein Text in Form von 14 Briefen berühmter Frauen (etwa Penelope, Ariadne, Dido und Sappho) an ihre Gatten oder Liebhaber. Ovid ist außerdem bekannt für den Erfolg seiner Tragödie Medea. Leider ist der Text dieser Tragödie nicht mehr erhalten. Fasti (Kalender) und Tristia (Klagelieder) zählen ebenfalls zu den Eindrucksvollsten seiner Werke. Fasti, ein Werk, das nicht vollendet wurde, beschreibt verschiedene römische Feierlichkeiten, Rituale und Bräuche zu jedem Monat des Jahres. Der Dichter hatte eigentlich beabsichtigt zwölf Bücher zu schreiben, schaffte jedoch nur sechs. Alle Feierlichkeiten und Zeremonien stehen in Verbindung mit griechischen und römischen Mythen. Tristia (in fünf Bänden) wurde nach seiner Verbannung nach Tomis am Schwarzen Meer geschrieben (heute Constanța an der rumänischen Küste des Schwarzen Meers) und spiegelt das Leid und die bitteren Schwierigkeiten wieder, die ihn im fernen Land befielen. Er fiel bei Kaiser Augustus in Ungnade, obwohl die Gründe für seine Verbannung unklar sind. Der Text seines autobiographischen Gedichts zeigt allerdings, wie am Boden zerstört der Poet war, und wie verloren und verlassen er sich in Tomis fühlte. Ovid appellierte an Augustus, und später an den neuen Kaiser, Augustus’ Stiefson Tiberius, doch all seine Versuche nach Rom zurückzukehren waren vergeblich. Wann genau der große Dichter in Tomis verstarb ist unklar, möglicherweise um 16-18 n. Chr. Zweifelsohne sind Die Metamorphosen (circa 8 n. Chr) die bekanntesten seiner Epen und zeigen verschiedene Formen der Transformation, basierend auf klassischer Mythologie. Es bestehen Verbindungen zu Hesiods Werke und Tage und Aitia von Kallimachos, das Werk beinhaltet sowohl physische, figurative als auch metaphorische Transformationen. Menschen oder Götter verwandeln sich in Pflanzen, Tiere oder Gegenstände, oder die Welt wandelt sich vom Chaos zur Ordnung. Das Wort episch ist ein Adjektiv, das oft als „pertaining to a long poetic composition, usually centered upon a hero, in which a series of great achievements or events is narrated in elevated style“ (Dictionary.com) definiert wird. Ovid macht seine Absichten im ersten einführenden Teil von Buch 1 sehr deutlich: 35 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur My intention is to tell of bodies changed To different forms; the gods, who made the changes, Will help me-- or I hope so-- with a poem That runs from the world’s beginning to our own days. (Ovid 1983: 3) Es existieren nahezu 250 unabhängige Geschichten, die nicht durch Handlung, sondern durch das Motiv der Transformation von Göttern und Sterblichen in der physischen und übernatürlichen Welt verbunden sind. Die Verwandlung von Personen zu Pflanzen oder Tieren ist oft schmerzhaft und gewaltsam und die Figuren sind gelegentlich rachsüchtig und grausam, egal ob Götter oder Menschen. Einige der bekanntesten Figuren aus Die Metamorphosen sind Lykaon, Orpheus und Eurydike, Bacchus, Phaethon, Daidalus und Ikarus, Pygmalion, Jason und Medea, Pyramus und Thisbe etc., die alle aus griechischen und römischen Mythen in guter Erinnerung sind. Es genügt schon, den Trojanischen Krieg zu erwähnen, in dem Ulysses (Odysseus), Achill, Zentauren und Aias vorkamen. Leider verbrannte der Poet das Manuskript. Heute verwenden wir die Texte, die im Besitz seiner Freunde überlebten. Es ist ein episches Gedicht in Form zyklischer Geschichten in 15 Büchern. Es beginnt mit der Schöpfung und endet mit der Zeit Julius Cäsars. Nachdem der Text in die modernen Sprachen übersetzt wurde, griffen viele spätere Autoren und Autorinnen auf Ovid zurück, wenn sie sich mit griechischer und römischer Mythologie befassten. Arthur Goldings Übersetzung ins Englische erschien im Jahre 1567. William Shakespeare muss mit dieser Übersetzung vertraut gewesen sein, wie auch John Milton, Johann Wolfgang von Goethe und Franz Kafka. Ovids Die Metamorphosen wird als ein Prätext (Text, der ‚zuvor‘ geschrieben wurde) von Meisterwerken der Weltliteratur, wie Romeo und Julia oder Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare innerhalb einer Reihe von Intertexten (Texte, die aus anderen Texten entspringen) angesehen, die die Grundlagen für Neuinterpretationen liefern. Ovid hatte recht, als er am Ende von Die Metamorphosen prophezeite, dass er „[…]-will live forever“. Trotz der zeitlichen Ferne des Gedichts dient es immer noch als eine Quelle des Wissens und der Inspiration für jede Person, die sich für Literatur interessiert, egal ob klassische oder moderne Literatur. Das Gedicht ist geprägt von einer Mischung aus Genres und stilistischer Variabilität. Zusammen mit der traditionellen epischen Form spielt der Autor mit verschiedenen Formen von narrativen Stimmen (Geschichten innerhalb Geschichten). Genau wie Ovids andere Werke sind auch Die Metamorphosen im elegischen Distichon geschrieben. Die Charakterisierung der Figuren ist in ihrer psychologischen Tiefe bemerkenswert, und auch die Struktur dieses einzigartigen literarischen Werkes ist hochentwickelt. 1.2.4 William Shakespeare: Titus Andronicus, Ein Sommernachtstraum und Romeo und Julia Die Analyse von William Shakespeares Werk, insbesondere von seinen Stücken Titus Andronicus, Ein Sommernachtstraum und Romeo und Julia zeigt, dass Shakespeare wie bereits dargestellt, die von Arthur Golding 1567 übersetzte Fassung von Die Metamorphosen gelesen 36 1. Grundlagen der Literaturgeschichte haben muss. Es gibt zahlreiche Hinweise, die entweder auf Ovids Text anspielen oder sich um Geschichten drehen, die dem Gedicht entnommen wurden, wie etwa die Geschichten von Pyramus und Thisbe oder Diana und Aktaion. Shakespeare schrieb Titus Andronicus in den frühen 1590er, ein Stück, das zu seinen kontroversesten Stücken zählt und Elemente des römischen und des historischen Theaters und der Rachetragödie verbindet, mit einem Schwerpunkt auf dem Konzept der Metamorphose. Die Rachetragödie war ein Theatergenre, das sich um das Motiv der Rache als „dominantes Motiv“ bezüglich einer echten oder imaginären Verletzung („the dominant motive-[…] for a real or imagined injury“) drehte (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2016b). Einige Kritiker zweifeln daran, dass Shakespeare das Stück überhaupt verfasst hat; andere behaupten, dass es ein „Übungsstück“ war. Das Stück war allerdings Teil der ersten Folio-Ausgabe und es ist bekannt, dass es großen Erfolg bei Shakespeares Publikum hatte. Um die Verbindungen zwischen Shakespeares und Ovids Werk zu erkennen, müssen wir uns Ovids drittes und sechstes Buch der Metamorphosen genauer ansehen. Das Schicksal der Lavinia, der einzigen Tochter des römischen Generals Titus Andronicus erinnert an die Geschichte der Philomela, der Schwester der athenischen Prinzessin Prokne. Die Söhne der gothischen Königin, Tamora, Chiron und Demetrius, vergewaltigen das Mädchen und schneiden ihr die Zunge heraus und die Hände ab, um zu verhindern, dass sie jemandem von dem Verbrechen erzählt. Trotzdem gelingt es ihr, die Namen ihrer Peiniger mit einem Stöckchen zu schreiben, dass sie im Mund hält. Sie verweist unmittelbar auf Ovids Text, um zu beweisen, dass sie vergewaltigt und entstellt wurde: Titus: Lucius, what book is this that she tosseth so? Puer: Grandsire, ’tis Ovid’s Metamorphoses, my mother gave it to me. (Shakespeare 2005: 4.1) Die Rache des Titus erinnert wiederum and die Geschichte der Philomela, und das ganze Stück endet ungeheuerlich. Lucius wird der nächste Kaiser und befiehlt, dass Tamoras Körper den Bestien vorgeworfen wird. Die Royal Shakespeare Company weist darauf hin, dass „[r] ape, cannibalism, mutilation and murder are the gruesome tools in Shakespeare’s bloodiest play“ ( RSC ). Dennoch wirft das Stück auch wichtige Fragen hinsichtlich Ehre, moralischem Chaos, Brutalität, Rache, Gerechtigkeit und Formen der moralischen und psychologischen Transformation auf. Ein Sommernachtstraum wurde in der ersten Hälfte der 1590er Jahren verfasst und ist eine von Shakespeares meist geliebten Komödien mit Mendelssohns Wedding March (ein Fragment der Overture and incidental music for Shakespeare’s play des Komponisten) als möglicherweise dem beliebtesten Musikstück aller Zeiten. Das Stück dreht sich um die Abenteuer des athenischen Grafen Theseus und der Amazonenkönigin Hippolyte, die sich auf ihre Heirat vorbereiten und zweier Paare junger Menschen, die sich im Wald wiederfinden, in dem alle möglichen fantastischen Geschehen von Feen sowie von Oberon und Titania (König und Königin der Elfen) und mechanicals manipuliert werden (Amateurschauspieler, die das Schauspiel Pyramus and Thisbe in Akt 5 aufführen sollen). Die Legende, die dem Stück unterliegt entstammt dem vierten Buch von Ovids Die Metamorphosen, doch der Ton ist ein 37 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur anderer. Shakespeare bringt beide seiner Charaktere und auch die Leser und Leserinnen dazu zu verstehen, dass „The course of true love never did run smooth“ (Ovid 1983: I.1). Dies gelingt ihm durch offensichtliche Veränderungen in den Figuren des Stücks und ihrer Einstellungen nicht nur in Bezug zueinander, aber auch in Bezug zu Realität und Fantasie, Unvorhersehbarkeit des menschlichen Herzens, den Konzepten der Liebe, Beziehungen zwischen Vätern und Töchtern, Ehemann und Ehefrau sowie Männern und Frauen. Allerdings warnt am Ende des Stücks Puck, ein Diener Oberons, das Publikum, dass alles Gesehene nur ein Traum war und wünscht ihnen eine gute Nacht: And this weak and idle theme, No more yielding but a dream, Gentles, do not reprehend: if you pardon, we will mend-… (Shakespeare 2004: V.1) Auf die Geschichte von Pyramus und Thisbe wird auch in Shakespeares Romeo und Julia Bezug genommen. Anders als in der Komödie Ein Sommernachtstraum, die mit glücklichen Ehen endet, steht in Romeo und Julia das tragische Ende der beiden unglückseligen Liebenden im Zentrum, die schon von Anbeginn durch die Fehde zwischen ihren Familien dem Untergang geweiht sind. Ebenso führen verschiedene dramatische Zufälle und Missverständnisse zum Tod von Romeo und Julia und fordern damit das Schicksal, die Sitten einer patriarchalen Gesellschaft und familiäre Vorurteile heraus. 1.2.5 Franz Kafka: Die Verwandlung Franz Kafka (1883-1924) ist vermutlich der bekannteste deutsch-jüdische Autor des Prager Kreises (eine Gruppe Autoren, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Böhmen lebten: Franz Kafka, Max Brod und Franz Werfel). 1915, während Europa sich mitten in der Katastrophe des Ersten Weltkrieges befand (welcher die traditionellen Konzepte der Geschichte und Ordnung in Frage stellte), veröffentliche er seine berühmte Kurzgeschichte Die Verwandlung. Kafka studierte Jura an der Karlsuniversität in Prag und war später am Institut der Arbeitsunfallversicherung angestellt. Während dieser Zeit tauchte er in die verschiedenen sozialen Probleme der Arbeiterklasse ein und auch in die Macht der Bürokratie. Er entwickelte außerdem ein tiefes Interesse am Judaismus, besonders durch den Einfluss des jiddischen Theaters. Kafka befand sich dabei in einer seltsamen Position: Ein deutschsprachiger Jude in einer Großstadt des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs, die von Tschechen, Deutschen, Juden und anderen ethnischen Gruppen bevölkert war. Zusätzlich hatte er Schwierigkeiten in seinen Beziehungen zu seiner Familie und mit dem Kontakt zu anderen Menschen. Es ist auch bekannt, dass er an Depressionen, Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit litt und um 1917 herum erste Symptome von Tuberkulose hatte. Die Encyclopaedia Britannica führt aus: 38 1. Grundlagen der Literaturgeschichte [E]ach of his works bears the marks of a man suffering in spirit and body, searching desperately, but always inwardly, for meaning, security, self-worth, and a sense of purpose. (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2018) Man muss außerdem berücksichtigen, dass Kafka seine Meisterwerke während der Zeit der Moderne schuf, welche zu einer bedeutenden literarischen Strömung wurde und einen Ausbruch aus der traditionellen Literatur darstellte. Unter dem Einfluss der drastischen Veränderungen auf allen Lebensebenen, vor allem nach den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges, drückten die modernistischen Autoren ihre Desillusion bezüglich aller traditionellen Institutionen aus und konnten nicht mehr das Konzept von absoluten Wahrheiten akzeptieren. Sie glaubten, dass „art is not primarily a representation but a presentation, not the imitation of the actual world but the composition of a created world“ (Sokel 2010: 39), und dies ist auch deutlich in der Struktur und dem Stil der Geschichte. Das Motiv der menschlichen Entfremdung oder Abkehr ist allen seinen Arbeiten gemein und ist das hintergründige Motiv der Handlung der ungewöhnlichen Geschichte um Gregor Samsa, einem Handelsreisenden: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“ (Kafka 2005 [1915]). Die Situation scheint absurd, doch sobald man beginnt sie zu analysieren, kann man nicht anders, als die Absurdität der Welt zu spüren, in der Gregor lebt. Obwohl seine Handlungen die eines Ungeziefer sind, ist sein Geist immer noch menschlich und im ständigen Konflikt zwischen dem Menschen und dem Insekt. Der Erzähler erzählt in der dritten Person und beschreibt die Ereignisse, die in Gregors Wohnung stattfinden sowie Gregors Gedanken und Gefühle und die Handlungen, die zu seinem Tod führen. Wegen der Reaktionen der Familie (Vater, Mutter, Schwester), der Hausangestellten und der Untermieter hört Gregor auf zu essen und zu schlafen und stirbt. Kafkas Rolle in der Bestimmung der Entwicklung der modernen Literatur ist bedeutsam. Das Adjektiv kafkaesk wird heutzutage als „having a nightmarishly complex, bizarre, or illogical quality; bureaucratic delays“ (Merriam-Webster) beschrieben und ist ein Zeugnis von Kafkas Beitrag dazu, die modernen Zustände als unlogisch, bedrohlich, beängstigend und voller Kummer und Chaos zu erklären. 39 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur 1.2.6 Zusammenfassung ▶ Griechische Mythen beschreiben die Erschaffung der Welt, befassen sich mit den Leben und Abenteuern von Göttern, Göttinnen, Helden, Heldinnen und anderer mythologischer Kreaturen. Das Heldenzeitalter brachte zusätzlich den Heldenkult hervor. Es existieren zahlreiche Mythen, die erzählen, wie Götter sich in das Leben der Menschen einmischen und damit das Motiv der göttlichen Gerechtigkeit einführen. ▶ Mythen wurden Grundlage der antiken griechischen Kultur und Literatur, später die Grundlage der Kultur, Künste und Literatur des Westens. Wichtige Motive des griechischen Mythos waren die Macht des Schicksals, Sterblichkeit, Moralität, Heldenabenteuer, Gefahr der Eitelkeit, vergeltende Gerechtigkeit, Entlohnung für Güte und Vergeltung des Bösen. ▶ Man sollte mit den antiken griechischen Mythen und deren Interpretation durch antike griechische Dramatiker vertraut sein, um Werke zeitgenössischer Autoren und Autorinnen schätzen zu können. ▶ Ovid gilt als der Größte der römischen Poeten. Die Metamorphosen sind die bekanntesten seiner Epen und zeigen verschiedene Formen der Transformation, basierend auf klassischer Mythologie. ▶ Einige Stücke von Shakespeare und Kafkas Geschichte Die Verwandlung bergen Ähnlichkeiten in ihrer Herangehensweise an den Gedanken der Transformation und seine unterschiedlichen Formen, welche durch Ovids Meisterwerk geprägt wurden. 1.2.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum hatten Die Metamorphosen einen derart großen Einfluss auf spätere Autoren? 2. Warum werden die Motive der Metamorphosen immer wieder in Kunst und Kultur aufgegriffen? 3. Was versteht man unter Intertexten? 4. In welchen Tatsachen wird Ovids Einfluss auf Shakespeare deutlich? Welche Geschichten benutzte der englische Dramatiker in seinen Stücken? 41 1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft Fredrik Land, Maren Eckart & Anneli Fjordevik Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben. (Roland Barthes) Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen andern Sinn heraus oder legte ihn hinein, der ihm ganz allein gehörte, und mit welchem der Autor sehr oft zufrieden sein konnte. (Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor) Bei der Literaturinterpretation und -analyse gibt es kein eindeutiges „richtig oder falsch“. Es gilt vielmehr, überzeugende Argumente dafür zu finden, wie man die Texte verstehen und deuten kann und wie man arbeiten kann, um die Botschaft und die Themen eines literarischen Textes zu entschlüsseln. Dieses Kapitel zielt darauf ab, Sie zu befähigen, das Bedeutungspotenzial literarischer Texte, das weit mehr als nur die Autorintention ist, zu erschließen. Des Weiteren gibt es Ihnen mithilfe literarischer Grundbegriffe das Werkzeug zur Analyse und Interpretation von Literatur. In diesem Kapitel beschäftigen wir uns damit, wie man über das subjektive Leseerlebnis hinaus Literatur besprechen kann; dies geschieht beispielhaft anhand einer Auswahl von Werken aus der englisch- und deutschsprachigen Literatur. Sie müssen die im Text genannten literarischen Werke nicht unbedingt kennen. Das, was gezeigt wird, kann auch auf die von Ihnen für die Aufgaben gewählten Texte appliziert werden. Die Übungen können sowohl im englischsprachigen als auch im deutschsprachigen Fremdsprachenunterricht verwendet werden. Darüber hinaus wird eine Reihe grundlegender Begriffe in Form von Seminardiskussionen und schriftlichen Aufgabenstellungen untersucht und auf die literarischen Texte angewendet. Die Lerneinheit 2.1 fokussiert darauf, was man unter Literatur verstehen kann und auf die Definitionen von Handlung und Figurenkonzeption als ein möglicher Zugang zur Literaturanalyse; Lerneinheit 2.2 befasst sich mit den Begriffen Gattung und Erzählperspektive und zeigt die Vielfalt literarischer Gattungen sowie die Bedeutung der Fokalisierung. In der Lerneinheit 2.3 werden die Begriffe Schauplatz oder Setting besprochen und der Frage nachgegangen, wie man das zentrale Thema beziehungsweise die Themen in literarischen Texten herausarbeiten kann. Die Lehrkraft und / oder die Studentinnen und Studenten können zusätzlich zwei literarische Texte auswählen, mit denen Sie konkret arbeiten. Die Gattungen, die behandelt werden, sind Poesie, Drama, Romane, Kurzgeschichten und Novellen. Sie können die Literatur unter Absprache mit Ihrem Lehrer oder Ihrer Lehrerin frei wählen. Jede Lerneinheit beschäftigt sich mit literarischen Begriffen, zu denen es Aufgaben gibt, mit deren Hilfe Sie Ihre gewählten Texte analysieren und interpretieren können. 42 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft 2.1 Handlung und Figurenkonzeption Die Lerneinheit 2.1 beschäftigt sich mit der Frage, was Literatur ist und wie man literarische Werke studieren kann, um ihr Bedeutungspotenzial zu erschließen. Die literarischen Beispiele sind die beiden Texte, die Sie gewählt haben (siehe oben). Zunächst sprechen wir über die Handlung oder den Plot, also über das geschilderte Geschehen und darüber, was die Handlung vorantreibt. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass in der Literaturwissenschaft gewisse deutsch- und englischsprachige Begriffe oft synonym verwendet werden. Als Nächstes setzen wir uns mit dem Begriff der Figurenkonzeption auseinander und überlegen, wie Personen beziehungsweise die Handlungsträger in einem Text dargestellt werden, das heißt auf welche Weise uns erzählerisch ein Bild über ihr Wesen vermittelt wird. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ über das Wesen der Literatur nachdenken können; ▶ literarische Texte analysieren können, indem Sie die Bedeutung der literarischen Begriffe Handlung oder Plot, innerer und äußerer Konflikt, stabile und instabile Situation, steigende und fallende Handlung und den Höhepunkt einer Geschichte untersuchen können; ▶ die Figuren in einem Text analysieren, sie als statisch oder dynamisch, glaubwürdig oder unglaubwürdig beschreiben und erkennen, ob sie dem Leser und der Leserin direkt oder indirekt präsentiert werden; ▶ den Unterschied zwischen Protagonisten und Antagonisten erkennen und dazu Beispiele aus der Literatur geben können. 2.1.1 Was ist Literatur? Das Bedürfnis etwas zu erzählen, an Personen oder Ereignisse zu erinnern und sinnstiftende Zusammenhänge erstellen zu wollen, findet sich in fast allen Kulturen wieder, sei es in mündlicher oder schriftlicher Form. Erzählerisch wird vermittelt, worum es im Leben gehen kann, dabei stellt sich die Frage, was Literatur eigentlich ist und wie wir einen literarischen Text erkennen. Traditionell besteht die Literatur aus vier Aspekten, die im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche gesellschaftliche Wertesysteme und Denkweisen ausdrücken. Literatur: 1. ist ein geschriebener narrativer Text, 2. ist fiktiv (sie besteht aus denkbaren, erfundenen Welten), 3. ist ein Kunstwerk und enthält ästhetische Komponenten, 4. ist prinzipiell offen für Interpretation und mehrdeutig angelegt. Der Versuch, Literatur zu verstehen, ist ein offener Akt der Kommunikation. 43 2.1 Handlung und Figurenkonzeption Wir können Literatur als Kommunikation bezeichnen, denn Texte sprechen referenziell miteinander und verweisen auf andere Texte, und Autoren, Autorinnen und Texte kommunizieren über Zeit und Raum hinweg mit Lesern, Leserinnen und Lesegemeinschaften. Literatur vermittelt uns bestimmte Wertvorstellungen und das Denken zu einer bestimmten Zeit, und viele Erzählungen verweisen aufeinander (Intertextualität). Es gibt aber auch Muster und Archetypen, die weltweit immer wieder in Erzählungen vorkommen. Denken Sie nur an die Literatur in verschiedenen Kulturen, die von dem Gewinnen oder von dem Verlust von Ehre handeln. Wir sollten uns, wenn wir uns mit Literatur beschäftigen, nicht nur auf eine bestimmte, normierend wirkende und ausgewählte Kanon-Literatur beschränken, die repräsentativ für die Kultur einer bestimmten Sprache ausgewählt wurde. Es ist ohnehin fraglich, wer einen derartigen Kanon bestimmen soll und wie hohe beziehungsweise niedrige Literatur definiert wird. Ein literarischer Kanon muss offen und dynamisch sein. Beispielsweise ist es zum Verständnis der kulturellen Vielfalt in den deutschsprachigen Ländern selbstverständlich sinnvoll, auch andere Texte, wie zum Beispiel Gegenwartsliteratur, zu lesen als nur die Werke von Goethe und Schiller. Zeiten ändern sich, und der Literatur werden unterschiedliche Funktionen zugeschrieben; in bestimmten Epochen waren Dramen wichtig, beispielsweise um Gesellschaftskritik auszuüben, zu anderen Zeiten waren Texte wie Kurzgeschichten eine beliebte Ausdrucksform. Wir müssen auch die Bedingungen der Literaturproduktion berücksichtigen: Wem gehört die geschriebene Erzählung? Wessen Geschichten hören wir, wer schweigt? Männliche Autoren dominierten traditionell die Produktion von Literatur, aber wir müssen auch andere literarische Stimmen (wie Minderheiten, Kinder, Frauen, Ein- und Auswanderer, verschiedene ethnische Gruppen etc.) zu Wort kommen lassen, sie hören und lesen. Literatur drückt aus, reflektiert und prägt das Denken einer bestimmten Zeit. Sie kommuniziert auch über zeitliche und räumliche Grenzen hinaus. So berührt uns beispielsweise weiterhin ein Liebesgedicht, auch wenn es schon tausend Jahre alt sein kann, denn es drückt allgemeinmenschliche Empfindungen aus. Literatur kann immer auf unterschiedliche Weise verstanden werden, denn sie ist vom Wesen her mehrdeutig angelegt. Wir suchen nicht nur nach einer einzigen Wahrheit, wenn wir einen literarischen Text lesen, sondern indem wir relevante Fragen stellen, können wir uns für das Potenzial öffnen, das in einem Text steckt. Heutzutage arbeiten wir mit einem offeneren Verständnis von Literatur als früher. Auch ungedruckte, also nicht verschriftlichte Erzählungen können Literatur sein, wie mündliche Geschichten, zum Beispiel Märchen oder irgendetwas aus Überlieferungen, was noch niemand aufgeschrieben, was man aber einander erzählt hat. Wir haben Hypertexte im Internet, die nicht nur aus einem Text, sondern aus verschiedenen Links bestehen und die vielleicht von vielen anonymen Autoren und Autorinnen geschrieben wurden. Es gibt Comics, in denen Bild und Text zusammenwirken oder narrative Comics oder Graphic Novels ohne oder mit nur wenigen Worten. All dies ist Literatur; es wird etwas erzählt. Aufgrund der Komplexität der Literatur und ihrer Nähe zu anderen Medien und zu dem, was in der Gesellschaft passiert, sehen wir die Literaturwissenschaft heute oft als Teil der Kulturwissenschaften. Neben den traditionellen Gattungen Drama, Epik und Lyrik, mit denen wir uns in Lerneinheit 2.2 in diesem Band genauer beschäftigen werden, sprechen wir auch von einer vierten Gattung: Von den nicht-fiktionalen Texten. Sie sind oft durch eine primäre Funktion gekenn- 44 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft zeichnet und haben ein bestimmtes Ziel: Zu informieren, zu unterhalten, zu überzeugen etc.; das können Fahrpläne, Wetterberichte, Nachrichten, Gesetze, Kochrezepte oder politische Reden sein. Wir haben auch literarische Texte, die zwischen Fakten und Fiktion liegen, zum Beispiel Briefe, Tagebücher, Reiseberichte und Autobiografien. Man kann nicht wissen, ob diese Texte „die Wahrheit“ sagen, vielleicht ist es nur eine fiktionale, subjektive Wahrheit und eine textliche Konstruktion von Identität. Alle diese Texte können Teil der Literatur und somit für das Studium von Interesse sein. Hierbei können wir folgende Fragen stellen: Was ist das spezifische Ziel und die Funktion der Literatur? Wie kommuniziert sie mit den Rezipienten und in welchem Medium begegnen wir diesen Erzählungen (Film, Fernsehen, Radio, Werbung)? Wir konstruieren unsere Welt, unsere Identität durch Erzählungen, durch Texte und Geschichten. Wenn Sie anfangen, einen literarischen Text zu lesen, konzentrieren Sie sich wahrscheinlich auf die Geschichte und der erste Eindruck ist subjektiv. Wir müssen jedoch Wege finden, um Texte intersubjektiv oder objektiv diskutieren zu können. Verschiedene Methoden helfen uns dabei, uns über die Literatur sinnvoll auszutauschen und diese unter verschiedenen Aspekten hinsichtlich ihrer Aussagekraft zu beleuchten. Es geht also nicht nur um die Absichten eines Autors oder einer Autorin, sondern auch um die Wirkungsabsicht, um die Möglichkeiten eines literarischen Textes und um die Erwartung der Leserinnen und Leser. 2.1.2 Handlung A book is made from a tree. It is an assemblage of flat, flexible parts (still called ‚leaves‘) imprinted with dark pigmented squiggles. One glance at it and you hear the voice of another person, perhaps someone dead for thousands of years. Across the millennia, the author is speaking, clearly and silently, inside your head, directly to you. Writing is perhaps the greatest of human inventions, binding together people, citizens of distant epochs, who never knew one another. Books break the shackles of time, proof that humans can work magic. (Carl Sagan) Jemand erzählt von seiner Mutter. Ein Deutscher offenbar. Laut und langsam setzt er seine Worte. Wie ein Mädchen, das Blumen bindet, nachdenklich Blume um Blume probt und noch nicht weiß, was aus dem Ganzen wird-- : so fügt er seine Worte. Zu Lust? Zu Leide? Alle lauschen.-[…] Und wer das Deutsche nicht kann in dem Haufen, der versteht es auf einmal, fühlt einzelne Worte: >Abends<-… >Klein war<-… (Rainer Maria Rilke) Auf der einfachsten Ebene bezeichnet die Handlung (oder der Plot) das, was in einer erzählten Geschichte passiert. Es handelt sich um die logische und motivische Strukturierung einer Geschichte, die der Umsetzung in einem gewissen Medium als Erzählung, Film oder Drama vorausgeht. Die Handlung besteht aus fiktiven Ereignissen, die aufeinander aufbauen und die ein Muster bilden, das von Konflikten vorangetrieben wird. Konflikte können intern oder extern sein. Der interne Konflikt ist der, in dem die Figur in einen Konflikt mit sich selbst gerät, zum Beispiel, wenn jemand hin- und hergerissen ist zwischen dem Wunsch, seine Ersparnisse für eine Auslandreise zu verwenden oder um eine Wohnung zu kaufen. 45 2.1 Handlung und Figurenkonzeption Ein externer Konflikt wird von außen an eine Figur herangetragen. Häufig entsteht ein Konflikt zwischen zwei Personen, aber auch andere Kräfte können einen Konflikt verursachen. In Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter gerät die Hauptfigur in einen Konflikt mit den stürmischen Kräften der Nordseenatur. Der Konflikt ist immer eine Spannung zwischen zwei Polen. Wenn eine literarische Figur sehr traurig ist oder nicht lesen kann (oder etwas anderes), was vielleicht tragisch erscheint, so ist das kein Konflikt. Solche Beispiele wären Probleme. Damit ein Konflikt ein Konflikt ist, brauchen wir eine Situation, in der die Figuren sich gegen etwas richten. Diese Spannung treibt die Geschichte voran, und ein Ereignis führt zum nächsten. Die Ereignisse in einer Erzählung werden vom Konflikt vorangetrieben, aber bevor die Geschichte beginnen kann, brauchen wir eine instabile Situation. Betrachten wir das folgende Beispiel: Es war einmal ein kleines Dorf, wo alle glücklich waren und genug zu essen hatten. Die Sonne schien, und jeden Tag verspürte jeder der Dorfbewohner Glück und Freude. Im Dorf hatten sie sauberes Wasser und alle waren zufrieden. Wenn wir weiter über dieses glückliche Dorf lesen würden, würden wir schnell das Interesse verlieren. Wir brauchen also eine instabile Situation, um die Geschichte in Gang zu bringen, zum Beispiel könnte ein Element eingeführt werden oder etwas passieren, was das idyllische Dorf stören würde, wie beispielsweise ABER eines Tages,-…. Wie sich herausstellt, macht dieses Wort Aber den Unterschied. Wir haben jetzt eine instabile Situation und somit können Ereignisse folgen, die durch den Konflikt (die Konflikte) in Gang gesetzt werden. Der berühmte einleitende Satz in Leo Tolstojs Roman Anna Karenina, „[a]lle glücklichen Familien gleichen einander, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich“ (Tolstoj 1877) drückt genau dies aus: Nur durch die instabile Situation der unglücklichen Familien entstehen die verschiedensten Konflikte und folglich die unterschiedlichsten Erzählungen. Wie oben beschrieben, müssen die Ereignisse irgendwie miteinander verkettet zusammenhängen, zumindest sollte dies am Ende des Textes verständlich sein. Sehen Sie sich das folgende Beispiel an: Der König starb. Die Königin starb. Hier haben wir zwei Ereignisse, aber sie hängen nicht unbedingt miteinander zusammen. Betrachten wir stattdessen Folgendes: Der König starb und die Königin starb vor Kummer. Hier ist Ereignis Nummer zwei, dass die Königin auch gestorben ist, kausallogisch ein Ergebnis von Ereignis Nummer eins. Ähnlich deuten wir unser eigenes Leben; wir verstehen unsere Gegenwart, indem wir Ereignisse betrachten, die zu diesem Moment geführt haben, oder zu dieser Situation oder woran wir denken. Diesbezüglich ist wichtig, dass wir beim Aufzählen von Ereignissen diejenigen auflisten, die sinnstiftend miteinander korrelieren. Wenn wir also gefragt werden, weshalb wir dieses Studium gewählt haben, würden wir Gründe angeben, die etwas mit dieser Wahl zu tun haben, zum Beispiel unsere Kindheitsträume, unsere Eltern, wo wir leben etc. und wir würden nicht über Dinge reden, die nichts damit zu tun haben. Auch Literatur strebt danach, sinnstiftend zu erzählen. Der Autor Anton Tschechow soll diese für uns relevanten Wörter ausgesprochen haben: „Wenn ein Gewehr im ersten Akt erscheint, dann muss es auch spätestens im vierten Akt schießen“. 46 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft Anscheinend zufällig zusammenhängende Ereignisse werden, wie beschrieben, durch den Konflikt in einer sich steigernden Aktion vorangetrieben, bis die Geschichte den sogenannten Höhepunkt oder Wendepunkt erreicht, wo sich die Erzählung dreht und die Handlung sich stabilisiert, wo der Konflikt aufgelöst wird und man von einer fallenden Handlung spricht, wenn der Konflikt sich aufzulösen beginnt, sodass wir endlich eine stabile Situation erreichen, die die Erzählung beenden kann. Natürlich können Autorinnen und Autoren ihre Geschichte auf verschiedene Arten präsentieren; das obige ist eine Beschreibung des traditionellen Musters und wird in der sogenannten Freytag-Pyramide (Dramendreieck nach Gustav Freytag (Freytag 1969)) dargestellt, die Sie leicht online finden können. In diesem pyramidalen Aufbauschema werden fünf Stufen präsentiert, die oft in der klassischen fünfaktigen Dramenform zu finden ist und die für die Handlungsentwicklung zentral sind: Exposition, Steigerung, Peripetie, retardierendes Moment und Katastrophe. Schließlich können wir manchmal bei der Erörterung von Ereignissen in einer Geschichte, also einer Handlung, sehen, dass manche Texte die Geschichte in einer anderen Reihenfolge zusammenstellen als in der Reihenfolge, in der die Geschichte chronologisch geschehen soll. Eine Handlungs- oder Ereigniskette bezieht sich auf die Reihenfolge, in der die Ereignisse im Text zusammengefügt werden; das ist also nicht immer das Gleiche wie die Reihenfolge, in der sie in der Geschichte stattfinden. Manchmal muss man beim Lesen selber ordnen, was wann passiert ist und sich selbst die Zusammenhänge erschließen. In vielen Krimis erfährt man beispielsweise nur fragmentarisch, was sich ereignet hat oder es gibt Rückblicke oder Zeitsprünge und man muss sich die Handlung wie Puzzlesteine zurechtlegen. 2.1.3 Figurenkonzeption We not only understand literature through our lives. We also understand our lives through literature. (Bertil Romberg) Ich Österreichischer Paß, ausgestellt vom Innenministerium. Beglaubigter Staatsbürgerschaftsnachweis. Augen br., Haare bl., geboren in Klagenfurt, es folgen Daten und ein Beruf, zweimal durchgestrichen und überschrieben, Adressen, dreimal durchgestrichen, und in korrekter Schrift ist darunter zu lesen: wohnhaft Ungargasse 6, Wien III (Ingeborg Bachmann: Malina) Die Figurenkonzeption beschäftigt sich damit, wie die Personen, wie Menschen (oder Tiere) in einem literarischen Werk dargestellt werden und wie sie sich entwickeln. Man spricht hier von einfachen und komplexen Figuren. Einfache Figuren haben nur eine Eigenschaft, wie Harriet Beecher Stowes bescheidener, guter und gehorsamer Onkel Tom in Uncle Toms Cabin. Komplexe Figuren zeichnen sich durch ihre Vielseitigkeit und Unberechenbarkeit aus und gleichen somit Menschen im wirklichen Leben. Ein Beispiel dafür ist Hamlet in William Shakespeares gleichnamigen Drama oder Harry Haller in Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf. Wir können uns eine einfache Figur flächenhaft vorstellen, während die komplexe Figur einem Diamanten mit vielen geschliffenen Facetten ähnelt, die man erst sieht, wenn man ihn dreht. 47 2.1 Handlung und Figurenkonzeption Figuren können auch statisch sein, was bedeutet, dass sie sich im Laufe des Textes nicht ändern. Roger Chillingworth in Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter kann ein Beispiel für eine statische Figur sein. Siegfried im mittelalterlichen Epos Das Nibelungenlied kann auch als statisch angesehen werden. Er ist vor allem ein starker und fast unverwundbarer Held, während seine Frau Kriemhild von einer schönen Prinzessin zur rachsüchtigen Witwe wird, auch wenn wir kaum von Charakterfiguren sprechen können, wie sie sich in der modernen Literatur entwickeln. Wir könnten uns auch Donald Duck oder ähnliche Zeichentrickfiguren als statisch vorstellen, da sie über Jahrzehnte gleich geblieben sind. Normalerweise sind einfache Figuren auch statisch, aber das muss nicht der Fall sein. Das Gegenteil einer statischen Figur ist die dynamische Figur, die durch Erfahrungen zu Erkenntnissen kommt und die sich ändert. Der Hund Buck in The Call of the Wild von Jack London ist ein Beispiel für eine dynamische Figur, oder Nora in Henrik Ibsens Nora-- ein Puppenheim oder die junge Frau Effi Briest in Theodor Fontanes gleichnamigem Roman. Sie alle brechen aus ihren traditionellen Rollen, die ihnen zugeschrieben wurden, aus und verändern sich. In vielen sogenannten Bildungs- oder Entwicklungsromanen wird der Reifungsprozess von Figuren dargestellt, wobei es sich häufig um junge Menschen auf ihrem Weg der Selbstfindung und der Integration in die Gesellschaft handelt. Auch hier handelt es sich um dynamische Figuren. Wenn die Figur zu einer plötzlichen Erkenntnis kommt, die ihre Sichtweise auf sich selbst oder bezüglich ihrer sozialen Situation verändert, kann man von einem Schlüsselerlebnis sprechen. Wenn beispielsweise eine Romanfigur inmitten eines Unwetters plötzlich zur Einsicht kommt, dass sie in Zukunft ihr Leben anders gestalten möchte und statt im Supermarkt zu arbeiten in den Bergen Schafhüterin werden will und dies auch verwirklicht, dann handelt es sich um ein Schlüsselerlebnis. Es kann auch zu unerwarteten und unerklärten physischen Verwandlungen kommen, die aber nicht das Denken der Figuren schlagartig ändern: In Franz Kafkas berühmter Erzählung Die Verwandlung erwacht die Hauptfigur Gregor Samsa eines Tages ohne jegliche Erklärung als insektenartiger Käfer und wird in mancherlei Hinsicht immer tierischer, während andere Teile von ihm bis zu seinem Tod menschlich bleiben. In manchen Geschichten lernen wir den Charakter einer Person nur fragmentarisch kennen; es sind mehr oder weniger unspezifische Typen oder Prototypen, die das Gefühl einer ganzen Generation oder Zeit ausdrücken, wie der Protagonist Ulrich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften oder Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg. In Ingeborg Bachmanns Roman Malina wissen wir nicht einmal, ob die Hauptperson aus einer oder drei Figuren besteht oder ob diese drei nur Einbildungen sind. Die Figuren werden dem Leser oder der Leserin direkt oder indirekt präsentiert. In der direkten Chakterisierung wird dem Leser und der Leserin anschaulich beschrieben, wie die Figuren sind, zum Beispiel, dass sie groß, geduldig oder jähzornig sind. Die indirekte Charakterisierung erfordert mehr von dem Leser und der Leserin. Wir können hier nur durch Andeutungen etwas über den Charakter einer Figur erfahren, indem wir lesen, was die Person tut oder zu tun unterlässt, beispielsweise ist ein junger Mann, der einer alten Dame beim Gehen über eine belebte Straße hilft, vermutlich freundlich und hilfsbereit, und wenn ein Mädchen nichts heimlich aus der Pralinenschachtel stibitzt, obwohl niemand sie dabei sehen würde, deutet dies auch auf eine innere Stärke hin (oder sie mag keine Schoko- 48 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft lade). Das, was Figuren sagen und / oder denken, gibt oft Aufschluss über ihr Wesen, und wir können erkennen, ob sie fürsorglich, hasserfüllt oder etwas anderes sind. Allerdings müssen wir den Kontext beachten, in dem diese Äußerungen gemacht werden. Wenn eine Figur sagt, dass eine andere Person gemein und verleumderisch ist, sagt uns das vermutlich mehr über diese Figur, als über diejenige, die beschrieben wird. Das Aussehen der Protagonisten kann auch etwas über ihre Eigenschaften aussagen. Wenn sie zum Beispiel jedes Mal, wenn sie die Liebe ihres Lebens sehen, rot werden und zu stottern beginnen, könnte dies Schüchternheit zeigen. In Heinrich von Kleists Novellen begegnen wir oft Figuren, die rot, blass oder ohnmächtig werden, die aber ihre wahren Gefühle nicht mit Worten ausdrücken können. Wenn wir von einer hübschen kleinen Prinzessin mit süßen Grübchen und einem ewigen Lächeln in einem rosa Schloss voller Schmetterlinge lesen, würden die meisten Leser und Leserinnen annehmen, dass sie eine freundliche und gute Figur ist, im Gegensatz zu einer Figur in schwarzer Robe mit einer großen Warze auf der Nase und fettigen, verfilzten langen Haaren. Schon in der mittelalterlichen Literatur gab es eine Verbindung zwischen äußerer Schönheit und innerer Güte, und diese Muster finden wir immer noch in stereotypen Figuren, zum Beispiel in Seifenopern im Fernsehen. Des Weiteren kann die Umgebung, in der sich die Figuren befinden, von Bedeutung sein, wenn es darum geht, Schlussfolgerungen über ihre Eigenschaften zu ziehen. Zum Beispiel wird der düstere Geisteszustand Roderick Ushers in Edgar Allan Poes Erzählung The Fall of the House of Usher durch seine Umgebung verstärkt oder erklärt. Die Geschichte beginnt wie folgt: During the whole of a dull, dark, and soundless day in the autumn of the year, when the clouds hung oppressively low in the heavens, I had been passing alone, on horseback, through a singularly dreary tract of country; and at length found myself, as the shades of the evening drew on, within view of the melancholy House of Usher. (Poe 1839: 3) Auch der Name der Figur kann von Bedeutung sein, wenn es darum geht, sie zu verstehen. Man denke beispielsweise an die Figur Ishmael in Herman Melvilles Moby Dick. Ismael bedeutet verlassenes Kind. Man kann sich fragen, was dies für das Verständnis der Figur ausdrückt und vielleicht für die Geschichte als Ganzes. In Max Frischs Roman Homo Faber glaubt die Hauptfigur Faber nur an die Technik, was sich bereits in seinem Namen ausdrückt (lat. faber, dt. ‚Handwerker‘). Wenn wir über Figuren sprechen, verwenden wir auch die Begriffe Protagonist und Antagonist. Der Protagonist ist die Hauptfigur, der Handlungsträger oder der Held beziehungsweise die Heldin in einem literarischen Werk. Normalerweise ist es eine Person wie Gandalf (oder Frodo oder Aragorn oder sogar der Ring selbst, je nachdem, wie wir die Geschichte lesen) in J. R. R. Tolkiens Lord of the Rings, aber es muss nicht immer eine Person sein. Zum Beispiel ist Buck in Jack Londons The Call of the Wild ein Hund, und in E. L. Doctorows Ragtime kann der Protagonist als Amerika bezeichnet werden. In der Kinderliteratur und in vielen der von Jakob und Wilhelm Grimm gesammelten und herausgegebenen Volksmärchen begegnen wir Tieren als Hauptfiguren, wie in Der gestiefelte Kater oder Die Bremer Stadtmusikanten (mit einem Esel, einem Hund, einer Katze und einem Hahn als Protagonisten). Der Antagonist ist der Hauptgegner des Protagonisten. Normalerweise ist dies, wie beschrieben, 49 2.1 Handlung und Figurenkonzeption eine personenähnliche Figur wie Sauron, Gandalfs Hauptgegner in Lord of the Rings, aber der Antagonist ist nicht immer eine physische Person. Zum Beispiel kann in einigen psychologischen Romanen argumentiert werden, dass der Antagonist ein Teil des Protagonisten selbst ist, den er zu bekämpfen versucht, wie in Dr. Jekyll und Mr. Hyde von R. L. Stevenson. In Johann Wolfgang von Goethes Drama Faust I beginnt der Prolog mit den Antagonisten Gott und Mephistopheles, während im eigentlichen Drama Mephistopheles dem jungen und frommen Mädchen Margarethe entgegengestellt wird. Der Antagonist kann außerdem ein ganzes System sein, wie in Linda Sue Parks A Single Shard, wo der Waisenjunge Tree-Ear kein Töpfer werden kann, weil in der Gesellschaft, in der er lebt, die Tradition nur vom Vater auf den Sohn übergeht. In diesem Fall kann argumentiert werden, dass der Antagonist das alte koreanische Wertesystem in dieser Gesellschaft ist. In Michael Endes Roman Momo kämpft die kleine Waise Momo gegen die grauen Herren an, die ein Symbol der Erwachsenenwelt sind, welche den Menschen die Zeit stehlen, die man braucht, um ein glückliches, sinnvolles Leben führen zu können. 2.1.4 Zusammenfassung ▶ Literatur ist ein Begriff mit verschiedenen Bedeutungen und Funktionen. Bei der Diskussion über Literatur ist es oft notwendig zu verdeutlichen, was man darunter versteht. ▶ Wenn man die Handlung beziehungsweise den Plot untersucht, geht es nicht nur darum, was passiert, sondern auch um interne und externe Konflikte. Um die Geschichte in Gang zu bringen, ist eine instabile Situation nötig. Die meisten traditionell aufgebauten Erzählungen enden nach dem Höhepunkt in einer stabilen Situation. ▶ Die Figuren in einem Text können als statisch oder dynamisch beschrieben werden, was bedeutet, dass sie einfach sind und sich nicht ändern und nur wenige Eigenschaften haben oder dass sie komplex mit vielen Eigenschaften sind. Zusätzlich erfährt man als Leser oder Leserin die Charakterzüge der Figuren entweder direkt durch die Beschreibung des Erzählers oder indirekt durch das, was sie sagen und tun. ▶ Der Protagonist ist die Hauptfigur, der Handlungsträger in einer Geschichte; der Antagonist ist der Hauptgegner oder derjenige, gegen den der Protagonist ankämpfen muss. 2.1.5 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was ist Literatur? Welche Aspekte sollten hier berücksichtigt werden? 2. Welche Funktion hat ein Konflikt in einem Text? Was ist mit internen und externen Konflikten gemeint? 3. Was versteht man unter statischen und dynamischen Figurenkonzeptionen? Was unterscheidet einfache von komplexen literarischen Personen. Woran erkennen Sie eine direkte Charakterisierung und eine indirekte? 50 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft 2.2 Gattung und Erzählperspektive In Lerneinheit 2.2 beschäftigen wir uns mit der Struktur von literarischen Texten und verschiedenen Arten, Literatur zu klassifizieren und in Gattungen einzuteilen. Die literarischen Beispiele sind die beiden Texte, die Sie gewählt haben (siehe Einleitung des Kapitels). Die traditionellen Hauptgattungen für Literatur sind Epik, Drama und Lyrik, aber es gibt jeweils zahlreiche Untergruppierungen. Romane gehören beispielsweise zur Epik, zur erzählenden Literatur. Wir werden unter anderem untersuchen, was einen Roman zu einem Roman macht, und wir werden auch sehen, wie sich die Gattung weiter in Untergattungen unterteilen lässt. Es wird der Frage nachgegangen, welchen Sinn die Einteilungen für das Verständnis, die Analyse und das Interpretieren von Literatur machen. Darüber hinaus wird die Bedeutung der Erzählperspektive für Erzähltexte untersucht. Diesbezüglich werden wir uns vier Perspektiven, die ein Erzähler einnehmen kann genauer anschauen. Anhand von Beispielen und Erläuterungen wird Ihnen verdeutlicht, dass der Blickwinkel, aus dem erzählt wird, nicht nur die Geschichte, sondern auch die Interpretation der Handlung beeinflusst. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ verschiedene Gattungen und ihre Unterteilungen diskutieren können; ▶ den Unterschied zwischen Autor und Erzähler verstehen; ▶ zwischen verschiedenen Perspektiven, die ein Erzähler einnehmen kann, unterscheiden können; ▶ sich mit den Begriffen, die zur Fokalisierung gehören, beschäftigen und diese verstehen. 2.2.1 Gattung ich sag das ist ein Gedicht und gefällt es dir auch nicht ist gefallen ja nicht pflicht auch mir selbst gefällt es nicht aber schreiben ist mir pflicht-[…] (Ernst Jandl) Das Fiktive bringt manchmal mehr zum Vorschein als die Realität. (Siegfried Lenz) Gattungen teilen Literatur in verschiedene Gruppen ein, wie Epik (=-erzählende Texte), Lyrik (Dichtung / Poesie) und Drama (=- Schauspiele). Diese Hauptkategorien können Unterteilungen haben wie Science-Fiction, historische Romane oder Kinder- und Jugendliteratur etc. Häufig werden die Begriffe Gattung und Genre synonym verwendet, manchmal meint man mit Gattung größere Werkgruppen als beim Genre. Erzählende Gattungen (wo jemand 51 2.2 Gattung und Erzählperspektive etwas erzählt, sich erinnert oder reflektiert und das Geschehen erklärt) können als epische Kleinformen sehr kurz sein, wie eine Fabel oder eine Anekdote. Sie können mittleren Umfangs sein, wie Kurzgeschichten und Novellen, oder umfangreich, wie Romane oder Epen. Nicht nur die Länge, sondern auch die Art, wie ein Text strukturiert wird, das Format und der Inhalt der Geschichte können den verschiedenen Arten von traditionellen Gattungseinteilungen zugrunde liegen. Gattungen sagen uns also etwas darüber, in welcher Form Schriftsteller und Schriftstellerinnen einen Stoff literarisch bearbeiten und gestalten. Sie kennen wahrscheinlich Geschichten, die ausführlich über den Aufstieg und Fall einer Familie über mehrere Generationen hinweg erzählen, wie beispielsweise Thomas Manns Roman Buddenbrooks. Andere kurze Texte erzählen vielleicht über das Gefühl, sich zu verlieben. Empfindungen werden oft in Gedichten ausgedrückt, während sie selten von Expeditionen und Entdeckungsreisen handeln; gewisse Inhalte eignen sich offenbar besonders gut für bestimmte Gattungen. In der postmodernen Literatur gibt es allerdings eine Offenheit, Gattungen miteinander zu vermischen. Und neue Medien lassen neue Sorten von Text entstehen, zum Beispiel Hypertexte (wie hyper crime stories) und Twitter-Romane. Heutzutage lassen sich nicht immer klare Linien zwischen den Gattungen ziehen. Texte sind vielmehr intertextuelle Kompositionen, die sich auf andere Literatur (oder andere Medien) beziehen. Texte sprechen immer mit Texten; sie können losgelöst von jeglichen Kontexten nicht existieren. Wann wissen wir, zu welcher Gattung ein Text gehört? Meistens ist dies bereits vor Textbeginn sehr deutlich markiert. Ein Gedicht ist durch die visuelle Struktur markiert und ein Drama durch Dialoge beziehungsweise Monologe. Allerdings ist es komplizierter, Untergattungen zu erkennen. Nicht selten findet man Gattungsangaben auf dem Titelblatt, was gewisse Leseerwartungen in uns weckt, zum Beispiel, ob es sich um einen fiktionalen oder nicht-fiktionalen Text handelt und bezüglich der Konstruktion eines Textes. Wir lesen auf eine bestimmte Art und Weise, wenn wir wissen, um welche Sorte von Text es sich handelt. Betrachten wir den folgenden Satz: Am 24. Dezember 2018 regnete es in Stockholm. Ihre Wahrnehmung des Satzes unterscheidet sich, je nachdem, ob Sie es in einem Geschichtsbuch, in einem meteorologischen Bericht oder in einem Roman lesen. Egal, ob es tatsächlich an diesem Heiligabend geregnet hat oder nicht, werden wir es, wenn wir den Satz in einem Roman lesen, als innere Textwahrheit akzeptieren (es sei denn, wir vermuten, dass der Erzähler unzuverlässig ist und sich im Roman herausstellt, dass er gelogen hat). Man kann dieses Akzeptieren der fiktiven Realität als Fiktionalitätspakt zwischen den Lesern beziehungsweise den Leserinnen und dem Autor beziehungsweise der Autorin bezeichnen. Epik Nehmen Sie sich etwas Zeit und überlegen Sie, was einen Roman beispielsweise im Gegensatz zur Gattung Kurzgeschichte zu einem Roman macht. Zuerst gibt es offensichtlich einen Unterschied in der Länge. Wann wird ein Erzähltext zu einem Roman? Es gibt keine klaren Anforderungen bezüglich des Umfangs, aber mit weniger als 50 oder 70 Seiten würde man einen Text kaum als Roman bezeichnen. Erzählungen wie eine Kurzgeschichte, die andere Gattungskriterien haben als nur eine kurze Geschichte zu sein, haben oft einen offenen An- 52 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft fang und ein offenes Ende. Es ist nicht ungewöhnlich, dass auch die erzählte Zeit vielleicht auf einen Tag begrenzt ist oder sogar auf die Zeit, die es braucht, um die Geschichte zu lesen und wo sich der Inhalt auf ein bestimmtes Ereignis begrenzt, das das Wesen der Hauptfigur und einen bestimmten Konflikt schildert. Ein Roman hingegen kann weit ausholen und viele Figuren, Erzählstränge, Konflikte und Nebenhandlungen haben. Eine Erzählung besteht nicht nur aus einer Kette von Ereignissen. Was die Figuren sagen, wie sie leben und denken, findet in einer fiktiven, in einer erfundenen Welt statt. Im Gegensatz zur realen Welt, in der wir leben und wo wir Zusammenhänge oft erst aus der Retrospektive verstehen oder auslegen, besteht in Texten oft ein deutlich erkennbarer Sinnzusammenhang; das Geschehen ist zurechtgelegt und hat häufig einen roten Faden (es sei denn der Text will gerade die Sinn- und Orientierungslosigkeit im menschlichen Dasein gestalten). Es kann in der Literatur Ähnlichkeiten mit der Welt außerhalb des Textes geben (zum Beispiel wenn die Literatur von historischen Ereignissen handelt oder auf historische Personen zurückgreift), aber nur in der Fiktion können wir die innersten Gefühle und Gedanken einer anderen Person kennenlernen. Und wir stellen während des Lesens die erfundene Wahrheit, wenn sie im Rahmen der Erzählung glaubwürdig ist, nicht in Frage. Wir akzeptieren, was wir in der Erzählung (oder auf der Bühne) erfahren, beispielsweise, dass Tiere sprechen und dass magische Dinge passieren können, denn die Gattungsmarkierung besagt, dass es sich um fiktive Texte handelt. Weitere Informationen finden Sie weiter unten im Abschnitt 2.2.2 zur Erzählperspektive und zum Erzähler. Drama Was ist ein Drama? Ein Drama verzichtet oft auf einen Erzähler und lässt die Figuren durch Monologe und Dialoge zu Wort kommen, was die Handlung voranführt. Außerdem ist das Drama auf die Bühnendarstellung hin angelegt; es soll auf der Bühne gesehen werden können. Die häufigsten Formen des Dramas sind die Untergattungen Tragödie, Komödie und Tragikomödie. Traditionell gibt es seit der Antike bestimmte Konventionen, wie diese Gattungen konstruiert werden und wovon sie handeln sollen. Die Grundidee eines Dramas besteht also nicht nur darin, es zu lesen, sondern man soll es auch auf Bühnen (oder irgendwo anders, beispielsweise beim Straßentheater) vorgeführt erleben. Es gibt allerdings auch Dramen, die nur gelesen oder gehört werden. In postmodernen Dramenproduktionen, die jenseits traditioneller Gattungsvorstellungen stehen, ist fast alles möglich; Gattungen und verschiedene Texte / Textfragmente können miteinander verbunden und vermischt werden. In einer Aufführung können wir die Handlung sehen und hören. Es ist ein kollektives, häufig öffentliches Ereignis, gebunden an einen bestimmten Ort (die Bühne, das Theater) und eine bestimmte Zeit (die Zeit der Aufführung). Auch der Kontakt zwischen den Zuschauern beziehungsweise Zuschauerinnen und den Schauspielern beziehungsweise Schauspielerinnen ist wichtig, und jede Aufführung ist einzigartig. Das traditionelle Drama spielt eine Handlung ohne einen Erzähler, der uns etwas erzählt oder erklärt, was passiert. Hinsichtlich dieser Unmittelbarkeit ähneln sich Drama und Lyrik. Meistens ist alles auf der Bühne direkt und ohne Erklärungen. Wenn wir ein Drama sehen, 53 2.2 Gattung und Erzählperspektive können wir darüber nachdenken, wie die Handlung vorgeführt und dargestellt wird. Was passiert in verschiedenen Akten, wie entwickeln sich die Figuren in Monologen und Dialogen, wie entsteht Handlung? Haben die wichtigsten Dinge vor der Handlung stattgefunden, wie zum Beispiel in Gottfried Ephraim Lessings analytischem Drama Nathan der Weise, das für Toleranz zwischen Judentum, Islam und Christentum plädiert? Nicht immer werden die wichtigen Dinge, die für die Handlung entscheidend sind, auf der Bühne gezeigt, sondern nur darüber geredet oder die Folgen dieser Handlungen werden dargestellt. In David Mamets Oleanna sehen wir zunächst, wie eine Studentin im Büro einer Universität mit ihrem Dozenten ihre Hausarbeit diskutiert. Als wir sie in der nächsten Szene treffen, scheint etwas passiert zu sein. Warum sind sie so aufgebracht? Hat sie ihm etwas vorgeworfen? Warum? Offenbar beschuldigt sie ihn der sexuellen Belästigung. Man fragt sich, wie dies möglich sein kann oder wann dies passiert sein könnte. Die ganze zweite Szene baut auf Dinge auf, über die wir nichts wissen. Das Publikum muss die fehlenden Informationslücken ausfüllen. Nicht nur Menschen (oder Tiere) agieren in Dramen, sondern es können ebenfalls Symbolträger auftreten. In Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür, das ursprünglich ein Hörspiel war, redet der Fluss Elbe mit der Hauptfigur Beckmann, einem ehemaligen Soldaten. Man kann sich hier fragen, wie ein Gespräch mit einer symbolischen Figur wie einem Fluss auf der Bühne dargestellt werden kann. Dies zu entscheiden liegt in den Händen des Theaterregisseurs oder der -regisseurin. Im Unterschied zu einem Roman, wo der Phantasie und Auslegung des Lesers oder der Leserin viel Spielraum gegeben wird, wird nämlich die Handlung eines Dramas durch den Regisseur beziehungsweise Regisseurin und durch die Schauspieler beziehungsweise Schauspielerinnen interpretiert, wenn wir das Schauspiel sehen, und jede Inszenierung ist eine eigene Deutung. Dramen sind, wie betont, in der Regel unmittelbar: Man sieht und hört direkt ungefiltert, was passiert; niemand kommentiert das Geschehen. Allerdings konnte in Dramen des antiken Griechenlands ein Chor dem Publikum Erklärungen geben, und gewisse moderne Dramen haben einen Erzähler, der sozusagen neben der Handlung steht oder aus seiner Rolle heraustritt und sich an das Publikum wendet. Bei Bertolt Brechts Dramen spricht man vom epischen Theater, das eine Reaktion gegen klassische Theaterformen war. Brecht kombinierte das Drama mit epischen Elementen der erzählenden Literatur. Mit dieser Darstellungstechnik, dem Verfremdungseffekt, beabsichtigte er, dass das Publikum Distanz zur Handlung bekommen sollte, statt von ihr gefühlsmäßig mitgerissen zu werden. Man sollte nicht länger Mitleid mit dem leidenden Helden haben, um durch Empathie zum besseren Menschen zu werden, was bei klassischen Dramen oft beabsichtigt war. Man sollte stattdessen darüber nachdenken, was auf der Bühne gespielt wurde. Ohne einen Erzähler können die inneren Gedanken eines Charakters schwer zu entziffern sein. Stattdessen kann in Dramen der Monolog, der sich an das Publikum richtet, die Gedanken und Absichten der Figuren darstellen. Man kann aber auch auf andere, nonverbale Weise etwas über das Innere der Figuren erfahren, beispielsweise durch ihre Gestik, durch Körpersprache oder über die Stimmlage etc. Es gibt in den Dramentexten häufig Anweisungen, wie die Protagonisten handeln oder Gefühle ausdrücken sollen und welche Art von Requisiten benötigt werden und so weiter. Auch hier ist es dem Theaterregisseur oder der -regisseurin überlassen, zu entscheiden, ob man sich an diese Anweisungen halten will oder nicht. 54 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft Lyrik Es ist nicht immer einfach abzugrenzen, was Lyrik ist und was nicht. (Wir verwenden hier die Begriffe Lyrik, Poesie und Gedichte als Synonyme). Das Wort Lyrik kommt von dem antiken Instrument ‚Lyra‘, was die Verbindung zwischen Musik und der gelesenen, gesprochenen und gesungenen Poesie zeigt. Ein Gedicht ist oft ein sehr präzise aufgebauter, strukturierter Text, in dem Wörter unterschiedliche Bedeutungen haben können. Gedichte sind meistens kürzere, sozusagen „verdichtete“ Texte, in denen mit wenigen Worten komprimiert viel ausgesagt werden kann, aber natürlich gibt es eine breite Spannweite was die Form und den Inhalt von Lyrik betrifft. Man erkennt Poesie häufig an Komponenten wie Rhythmus, Reim, Metrik und an visuellen Einteilungen wie Versen oder Strophen. Viele traditionelle Gedichte folgen einer strengen Struktur. Zum Beispiel sollte ein Sonett 14 Verszeilen haben und rhythmisch aus jambischen Pentametern bestehen, mit einem abab-- cdcd etc. Reimschema (wie bei Shakespeares Sonetten). Manchmal muss man Poesie hören, um die Relevanz von Rhythmus und Metrik erfassen zu können; und manchmal muss man Gedichte als eine Art visuelle Textkunst sehen, um sie zu verstehen. Heutige Poesie kann sehr frei in Bezug auf Reimstrukturen, Aussehen, Rhythmus etc. sein. Poesie ist normalerweise unmittelbar, also ohne eine vermittelnde Erzählinstanz. In der Lyrik werden häufig Empfindungen geschildert und seltener längere Ereignisse. Der vielleicht einfachste Weg, um Poesie zu beschreiben, ist zu sagen, dass alles, was als Poesie geschrieben und wahrgenommen wird, Poesie ist. Das hat oft auch mit dem optischen Bild zu tun. Die Textstruktur kann verdeutlichen, dass der Text als Gedicht wahrgenommen werden soll oder kann. Nehmen wir zum Beispiel einige Zeilen aus Jenny Erpenbecks Roman Heimsuchung. Als Prosatext würde man die Textpassage in einem Stück lesen: Heim. Wenn es regnet, riecht man die Blätter des Waldes und den Sand. Alles klein und mild, die ganze Landschaft dort am See, so überschaubar. Die Blätter und der Sand so nah, als könne man sie sich, wenn man nur wolle, überziehen. Und der See leckt immer nur schwach am Ufer, leckt an der Hand, die man in ihn hineinsteckt, wie ein junger Hund, und das Wasser ist weich und flach. (Erpenbeck 2010: 50) Liest der Leser oder die Leserin es anders, wenn der Text anders strukturiert wird, wie im Beispiel unten, und wenn ja, wie und warum? Heim. Wenn es regnet, riecht man die Blätter des Waldes und den Sand. Alles klein und mild, die ganze Landschaft dort am See, so überschaubar. Die Blätter und der Sand so nah, als könne man sie sich, 55 2.2 Gattung und Erzählperspektive wenn man nur wolle, überziehen. Und der See leckt immer nur schwach am Ufer, leckt an der Hand, die man in ihn hineinsteckt, wie ein junger Hund, und das Wasser ist weich und flach. (Erpenbeck 2010: 50) Wählen Sie selbst einen kürzeren Abschnitt aus einem wahlfreien Roman und brechen Sie den Textabschnitt so auf, dass er wie ein Gedicht erscheint. Es ist, wie betont, üblich, Literatur in Kategorien oder Gruppen einzuteilen (siehe oben in diesem Abschnitt zu Gattungen). Manche Autoren und Autorinnen spielen mit den Lesern und Leserinnen, indem sie Gattungen vermischen und mit den Erwartungen der Leser und Leserinnen spielen. In Paul Austers Roman City of Glass beginnt die Erzählung wie eine geradlinige Rätsel-Geschichte mit einem geheimnisvollen Telefonanruf. Unsere Leseerwartungen werden jedoch immer wieder enttäuscht, denn es ist ein in sich verschachtelter Text, in dem nichts so ist, wie man es erwartet. Wenn man die Geschichte als Spiel mit Gattungserwartungen liest, vermittelt der Roman als eine weitere Botschaft vielleicht, dass literarische Konventionen wie Gattungen konstruiert sind und dass auch unser eigenes Leben und die Art und Weise, wie wir unsere Leben deuten, Zurechtlegungen sind. In Marlene Streeruwitz Nachwelt kann man auf dem Buchdeckel als Untertitel lesen: Ein Reisebericht. Roman. Die Bezeichnung weckt Gattungserwartungen bei uns Leserinnen und Lesern, und letztendlich ist der Text nicht nur ein Roman und ein Reisebericht, sondern auch eine Art von Anti-Biografie, da es der Erzählerin nicht gelingt, einen Lebensbericht über Alma Mahler zu schreiben. Natürlich gibt es andere Arten, Literatur zu kategorisieren. Man kann beispielsweise überlegen, ob in einem Text etwas erzählt wird oder nicht. Ein Erzähltext ist ein Text, der eine Geschichte erzählt, zum Beispiel in Gattungen wie Roman, Kurzgeschichte oder Novelle. Es gibt aber auch erzählende Poesie. Jedes Gedicht, das eine Geschichte erzählt, ist gleichzeitig eine Erzählung, wie zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethes Ballade Der Erlkönig. Andere Arten von Gedichten können malerisch beschreibend sein, statt eine Handlung zu schildern, wie ein Gedicht von Robert Burns, das mit den Worten „My love is like a red, red rose“ beginnt. Das Gedicht ähnelt eher einem Gemälde oder einer Augenblicksschilderung. 56 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft 2.2.2 Erzähler und Erzählperspektive Die Dichter, wenn sie Romane schreiben, pflegen so zu tun, als seien sie Gott, und könnten irgendeine Menschengeschichte ganz und gar überblicken und begreifen-[…] Das kann ich nicht, so wenig wie die Dichter es können. Meine Geschichte ist mir aber wichtiger als irgendeinem Dichter die seinige; denn sie ist meine eigene, und sie die Geschichte eines Menschen-- nicht eines erfundenen, eines möglichen, eines idealen oder sonstwie nicht vorhandenen, sondern eines wirklichen, einmaligen, lebenden Menschen. (Hermann Hesse: Demian) Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die für immer unsere sind. (Julia Engelmann) Der Erzähler ist die Stimme in einem Text, die eine Geschichte erzählt. Der Erzähler ist niemals der Autor. Der Autor ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, während der Erzähler ein Textphänomen ist, das vom Autor erfunden wurde. Der Autor oder die Autorin mag längst verstorben sein; seine oder ihre Stimme ist erloschen und er oder sie kann uns nichts Neues vermitteln, was nicht schon gesagt oder aufgeschrieben wurde; der textinterne Erzähler hingegen kann über Jahrhunderte hinweg in Form von Pigment auf Papier oder digital abgespeichert zu uns sprechen. Er lebt sozusagen im Text. Manchmal wissen wir nichts über die Herkunft des Textes. Er kann von einer anonymen Person, unter Pseudonym oder sogar von mehreren Personen geschrieben worden sein. Überlegen Sie, was durch diese Trennung zwischen Autor und Erzähler erreicht wird? Warum trennt man sie voneinander? Denken Sie an Texte, in denen der Autor über einen Ich-Erzähler schreibt, der eindeutig nicht der Autor ist. Zum Beispiel schreibt Donna Tartt in The Goldfinch über ein „Ich“, über einen jungen Mann namens Theo. In einem derartigen Fall ist es offensichtlich, dass wir die Autorin und den Erzähler auseinanderhalten können, aber in anderen, weniger offensichtlichen Fällen, zum Beispiel in einer Biografie, müssen wir sie dennoch auseinanderhalten, auch wenn wir Parallelen zwischen der Stimme des Autors und der des Erzählers erkennen können. Können wir sicher sein, dass die in dem Text enthaltenen Ansichten vom realen, das heißt dem physischen, textexternen Autor stammen? Wie wichtig ist der reale Autor bei der Analyse eines Textes? Der Erzähler ist, wie gesagt, derjenige, der die Geschichte erzählt, und auch wenn die Erzählerfigur denselben Namen wie der Autor hat, so ist es doch nicht ein und dieselbe Instanz. In der erzählerischen Fiktion kann derjenige, der über die Ereignisse erzählt, mehr oder weniger deutlich hervortreten. Der Erzähler kann außerhalb der Geschichte stehen (extradiegetisch, oft als allwissender Erzähler) oder zur erzählten Geschichte (intra-diegetisch) gehören. Der Erzähler kann auch über sich selbst (homo-diegetisch) oder über jemand anderen (hetero-diegetisch) berichten. Diese Erzählformen können in einer Erzählung 57 2.2 Gattung und Erzählperspektive gemischt werden, um die Handlung aus verschiedenen Perspektiven zu präsentieren, was unterschiedliche Deutungen ermöglicht. Zum Beispiel wird in Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf die gleiche Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt: Zuerst erzählt der Neffe einer Vermieterin im Vorwort über Harry Haller (intra-diegetisch), zweitens gibt es einen neutralen, allwissenden Erzähler im Traktat vom Steppenwolf (extra-diegetisch) und schließlich erzählt Harry Haller (der eigentliche Steppenwolf im Roman) selbst (homodiegetisch). Man verwendet in der Erzählforschung, in der Narratologie, folgende Begriffe, um verschiedene Erzählperspektiven zu beschreiben. Kelley Griffith klassifiziert die verschiedenen Perspektiven auf folgende Weise. Erstens haben wir die sogenannte allwissende Erzählperspektive. Der Erzähler ist kein Teil der Geschichte, sondern steht außerhalb der Handlung und hat gewissermaßen Überblick über die gesamte Welt der Geschichte. Der Erzähler kann von einem Ort und einer Zeit zu einem anderen wechseln. Der Erzähler ist sozusagen Gott ähnlich und weiß alles über die Welt des Erzähltextes. Diese Art von Perspektive kommt häufig in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts vor, zum Beispiel in Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter oder in Dorothea Schlegels Roman Florentin. Der Erzähler weiß also mehr über die Figuren als diese über sich selbst und übereinander. Zweitens, und ähnlich dem obigen Erzähler, haben wir die begrenzt allwissende Perspektive. Hier hat der Erzähler eingeschränkte Kenntnisse über die fiktionale Welt außer einer (oder einigen wenigen) der Figuren. Diese Erzählperspektive kann der Protagonist oder jemand am Rande des Geschehens, also eine Nebenfigur sein. Ein Beispiel für diese Perspektive sieht man in The Open Boat von Stephen Crane. Ein anderer Roman ist The Namesake von Jhumpa Lahiri. Hier erfahren wir, was einige der Figuren denken und fühlen, während die Schwester der Protagonistin zum Beispiel nur von außen betrachtet wird. Manchmal ist die Sichtweise so stark eingeschränkt, dass wir alles, was passiert, nur aus der Sicht einer Figur sehen. Es ist, als ob man alles mit den Augen der Figur wahrnimmt, aber der Erzähler steht, bildlich gesprochen, dahinter und erzählt, was die Figur sieht. Eine derartige begrenzt allwissende Perspektive wird anhand von Benjy deutlich. Er ist ein geistig behinderter Mann in William Faulkners The Sound and the Fury. Er erzählt die Geschichte zwar nicht, aber wir sehen und deuten die Welt aus seiner Perspektive heraus, was die Geschichte extrem chaotisch und schwer verständlich macht, da sie von ihm so wahrgenommen wird. Benjy ist jedoch nicht der Erzähler. Die Geschichte wird durch ihn gefiltert, aber jemand anderes erzählt. Der Erzähler steht immer noch außerhalb der Geschichte, hat aber vollen Zugriff auf eine Figur. Der Leser oder die Leserin erfährt über die anderen Figuren in der Geschichte nur das, was die Person, aus deren Sicht wir alles erfahren, weiß, sieht, hört etc. Betrachten wir drittens die Perspektive in erster Person. Hier erzählt eine der Figuren in der Geschichte über das, was passiert. In der begrenzt allwissenden Erzählung erfahren wir alles über eine Figur, aber bei der Perspektive in erster Person ist unser Wissen noch eingeschränkter. Der Erzähler ist jetzt in der Geschichte, und wir können nur das erfahren, worüber der Erzähler etwas weiß. Die allwissende Perspektive ermöglicht dem Erzähler beispielsweise, über den Tag zu sprechen, an dem der Protagonist geboren wurde, obwohl sich der Protagonist nicht daran erinnern kann. Aus dieser Perspektive in erster Person kann 58 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft eine solche Geschichte nicht erzählt werden, weil die Erzählerfigur nichts über ihre Zukunft wissen, sondern nur vermuten kann. Ein Erzähler kann der Protagonist oder eine Nebenfigur sein, die nicht an den Hauptereignissen teilnimmt, oder jemand, der die Handlung lediglich beobachtet. Beispiele für die Perspektive in erster Person findet man in Charles Dickens Great Expectations, in Mark Twains Huckleberry Finn und in Scott Fitzgeralds The Great Gatsby. Auch in Herta Müllers Roman Atemschaukel wird bereits in den ersten Sätzen die Erzählperspektive deutlich: „Alles, was ich habe, trage ich bei mir. Oder: Alles Meinige trage ich mit mir. Getragen habe ich alles, was ich hatte“ (Müller 2009: 7). In Navid Kermanis Roman Dein Name wiederum spricht die Erzählerfigur wechselweise von sich sowohl in erster Person (Ich-Perspektive) als auch in dritter Person beispielsweise als „der Romanschreiber“ oder als „Navid Kermani“, was den Leser oder die Leserin zwingt, darüber nachzudenken, warum und mit welchen unterschiedlichen Funktionen sich die Erzählerfigur jeweils inszeniert. Außerdem kann der Erzähler manchmal unzuverlässig sein. Zum Beispiel sagt Mr. Stevens in Kazuo Ishiguros The Remains of the Day, er werde eine Reise machen und ein Reisetagebuch schreiben. Er weicht jedoch nach kurzer Zeit vom Thema ab und beginnt stattdessen, über Ereignisse in seiner Vergangenheit zu sprechen, insbesondere über jene, an denen eine bestimmte Frau beteiligt war. Man gewinnt den Eindruck, dass es etwas gibt, mit dem er sich abfinden muss und er scheint diese Frau immer noch zu lieben. Aber es ist unklar, ob er sich dessen bewusst ist. Man kann also nicht immer davon ausgehen, dass ein Erzähler die Wahrheit sagt. Nicht immer kann man ihm oder ihr volles Vertrauen schenken oder der Erzähler greift, obwohl er außerhalb der erzählten Welt steht, in das Geschehen mit ein. Es gibt zum Beispiel einen unzuverlässigen Erzähler in Romanen wie Bret Easton Ellis American Psycho und Alice Munros Friend of My Youth. Auch in vielen Erzählungen Thomas Manns kann man von einer unzuverlässigen Erzählerfigur sprechen. Lesen Sie also aufmerksam und kritisch: Nicht immer sind die Dinge so, wie eine Figur sagt, dass sie sind. Als letzte Erzählperspektive haben wir die objektive (dramatische) Erzählperspektive. Hier ist der Erzähler noch eingeschränkter. Er hat keinen Zugang zu irgendwelchen Gedanken in der Geschichte. Wir sehen die Figuren und hören sie, so wie wir es im wirklichen Leben tun: Wir wissen, wie sie aussehen und erfahren, was andere über sie sagen, aber wir kennen ihre Gedanken nicht, wenn sie uns nicht darüber erzählen. Der Begriff dramatische Erzählperspektive drückt aus, dass diese Perspektive so ist, als würde man Figuren in einem Theaterstück auf der Bühne sehen. Ein Beispiel für diesen Standpunkt ist Ernest Hemingways Hills Like White Elephants, wo man einen Dialog zwischen einem Mann und einer Frau in einem Bahnhof hört beziehungsweise liest. Nach einer Weile scheinen sie zu streiten. Der Leser oder die Leserin fragt sich, was wohl passiert sein wird. Man muss zurückblättern und den Text noch einmal und gründlicher, mit Blick auf Details und Nuancen lesen, um eine Erklärung dafür zu finden, was sich am Bahnsteig ereignet haben muss. In der Poesie verwendet man statt dem Erzähler andere Begriffe, nämlich die Stimme oder das lyrische Ich. In Ulla Hahns Gedicht Gibt es eine weibliche Ästhetik haben wir ein lyrisches Ich, das spricht: 59 2.2 Gattung und Erzählperspektive Ich sehe deine Augen mit den hängenden Lidern am Kinn Fettfalten die Stirn gefurcht deine dünnen spitzen Ohren überm fahlen Haar die kahle Stelle am Hinterkopf ich denke du bist von allen Männern der schönste. (Hahn 2013: 205.) Oft ist die Stimme, das lyrische Ich, eine fiktive Figur, die mit der physischen Person, die das Gedicht geschrieben hat, nicht identisch ist. Man kann sich also fragen, was wir über die Biografie eines Dichters oder einer Dichterin wissen müssen, um die Bedeutung eines Gedichtes verstehen zu können (und dasselbe betrifft auch Erzähltexte). Man muss meistens nicht viel, wenn überhaupt etwas über denjenigen, der einen Text geschrieben hat, wissen, um den Text verstehen zu können. Das heißt jedoch nicht, dass das Studium des biografischen Hintergrunds oder der Entstehungsbedingungen eines Textes irrelevant sind; es kann durchaus aufschlussreich sein, aber oft wird durch Informationen über den Urheber eines Textes beim Lesen zu viel Biografisches hineininterpretiert. Dies ist nur einer von vielen Wegen, Texte zum Sprechen zu bringen. Entspricht der Mann, den Ulla Hahn im Gedicht beschreibt, tatsächlich ihrem Schönheitsideal? Vielleicht ist es so, vielleicht auch nicht. Um die Bedeutung des Gedichts zu verstehen, ist diese Frage nicht sonderlich relevant. Der einfachste Weg ein literarisches Werk zu interpretieren, ist, sich zunächst konkret darauf zu konzentrieren, was tatsächlich im Text steht, ehe man durch textexterne Aspekte versucht, die Literatur zu deuten. Wenn man sich mit dem Erzähler oder mit der Stimme in der Literatur beschäftigt, kann noch eine weitere Differenzierung gemacht werden, nämlich die der Fokalisierung. Betrachten Sie die Erzählerfigur Precious in Sapphires gleichnamigem Roman. Die Romanfigur ist eine funktionale Analphabetin. Sie erzählt von ihrer tragischen Kindheit, und man erfährt, dass ihr Vater sie regelmäßig vergewaltigt hat und auch Vater ihrer beiden Kinder ist. Precious lernte in der Schule weder zu lesen noch zu schreiben. Trotz ihrer stark eingeschränkten Lese- und Schreibfähigkeiten schreibt sie im Roman ihre Lebensgeschichte auf und erzählt wie es war, eine albtraumhafte Kindheit durchstehen zu müssen. Man fragt sich, wie dies möglich sein kann. Offensichtlich muss sie irgendwann das Schreiben gelernt haben, und sie lässt uns verstehen, dass alles im Nachhinein erzählt wird. In Precious erlebt und erzählt ein und dieselbe Person, dennoch gilt es zu unterscheiden: Das Kind Precious ist diejenige, die im Text alles erlebt, aber die erwachsene Precious ist diejenige, die alles erzählt. Die Fokalisierung hilft uns, das Bedeutungspotenzial eines literarischen Textes zu erschließen. Ein weiteres Beispiel 60 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft ist Jeanette Wintersons Oranges Are Not the Only Fruit. In diesem Roman ist die Situation ähnlich wie bei Precious. Hier erzählt die erwachsene Jeanette. Und diese Erwachsene interpretiert ebenfalls, was sie als Kind gesehen und gefühlt hat. Die lebenserfahrene, erwachsene Jeanette erzählt im Roman über sich als Kind und wie ihre Handarbeitslehrerin, Frau Virtue, ihre künstlerische Begabung nicht erkannte, als sie ihr ihre Handarbeit gezeigt hatte und nach einer kurzen Diskussion schrie, sie solle zu ihrem Platz zurückgehen. Wir lesen im Anschluss daran den Kommentar: „What could I do? My needlework teacher suffered from a problem of vision“ (Winterson 1996: 43). Sind das die Worte des kleinen Mädchens oder versucht die erwachsene Erzählerfigur im Nachhinein die ungerechte Behandlung zu erklären? Das müssen wir als Leser und Leserinnen entscheiden. Auch in Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser lebt sich die Erzählfigur Michael als Erwachsener manchmal in das hinein, was geschah, als er ein Jugendlicher und ein junger Mann war; manchmal folgen wir den Erfahrungen und Gedanken des 15-jährigen Michael, dann wieder denen des reflektierenden erwachsenen Mannes. Einige literarische Texte sind als innerer Monolog oder als Bewusstseinsstrom geschrieben worden, wodurch man den Gedanken im Kopf einer Person folgen kann. Hier wird nicht etwas erzählt, sondern vielmehr nur wiedergegeben, was Figuren wahrnehmen, und es muss auch keine eigentliche Handlung geben, sondern der Text kann aus Assoziationen bestehen. Autoren und Autorinnen, die für diese Technik berühmt geworden sind, sind beispielsweise James Joyce, Virginia Woolf und Arthur Schnitzler. In Arthur Schnitzlers Erzählung Fräulein Else folgt man lediglich den sprunghaften Gedanken der Hauptfigur Fräulein Else: Welch eine Nacht ist das! Ich kann nicht schlafen! -… Es ist kaum Mitternacht vorüber-… Ich will doch jetzt hin-…, was soll ich hier, in meiner Wohnung tun-… Ein paar Stunden nur, und die Tollheit ist wieder vorüber-… Wie klar wird alles sein-… Aber bis dahin! -… Nun, es sind ja nur Stunden-… (Schnitzler 2000 [1924]: 35) Ein Text, der im Bewusstseinsstrom oder im inneren Monolog geschrieben wurde, stellt sozusagen eine ungefilterte Subjektivität dar und häufig gibt es gedankliche Wiederholungen oder Sprünge, denn was man denkt und was man sagt oder erzählt sind verschiedene Dinge. Andere Romane sind ebenfalls ohne vermittelnde Erzählerinstanz sehr direkt und subjektiv, weil der Text nur aus Briefen besteht, wie zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethes Die Leiden des jungen Werther oder es ist ein E-Mailroman wie Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind. In einigen Geschichten gibt es Lücken im Text, sogenannte Leerstellen, die der Leser oder die Leserin interpretierend „ausfüllen“ muss. In vielen seiner Texte lässt beispielsweise Heinrich von Kleist wichtige Dinge aus, die aber zum Verständnis der Texte notwendig sind. Seine Novelle Die Marquise von O-… beginnt mit der verwitweten und schwangeren Marquise von O-…, die in einer Zeitung ein ungewöhnliches Inserat aufgibt, nämlich den Vater ihres Kindes finden zu wollen. Viele Dinge, die mit der Schwangerschaft und der Suche nach dem Vater zu tun haben bleiben während der Novelle unklar. Dass der Mann, den sie letztendlich heiratet, sie vergewaltigt hatte, wird anfangs nur mit einem Bindestrich markiert: „Hier-- traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten einen Arzt zu rufen-[…]“ (Kleist 1978 [1808]: 659.). Erst später versteht man, was in dieser Szene passiert sein muss. 61 2.2 Gattung und Erzählperspektive Diese Lücken unterstreichen die Bedeutung der Leseraktivität, um eine Erzählung zu vervollständigen. Das, was ein Autor oder eine Autorin mit einem Text sagen will, ist nicht gleichzusetzen mit dem, was Leser, Leserinnen und Lesegemeinschaften aus Texten herauslesen, und es ist nicht gleichzusetzen mit dem, was an Bedeutungspotenzial in einem Text vorhanden ist. Wenn wir heutzutage ein Drama des 17. Jahrhunderts auf seine Geschlechterrollenkonstruktionen hin analysieren, so können wir nicht davon ausgehen, dass sich der Autor oder die Autorin der Relevanz einer solchen Thematik bewusst gewesen ist, auch wenn man es heute aus dem Text herauslesen kann. Gewisse Aussagen in älteren Texten werden wir aufgrund bestimmter Ausdrücke als rassistisch empfinden, beispielsweise, wenn in Hermann Hesses Steppenwolf die Rede von „Negermusik“ ist, worüber zur Entstehungszeit womöglich nicht nachgedacht wurde. Jede Zeit liest literarische Werke anders, kein Lesen gleicht dem anderen. Das Verständnis eines Textes und die Erwartungen, mit denen man einem literarischen Text begegnet, hängen also auch immer davon ab, zu welcher Kultur, Klasse, Gruppe oder Generation etc. ein Leser oder eine Leserin gehört. Die Hermeneutik und die Rezeptionsästhetik beschäftigen sich mit derartigen Fragen. 2.2.3 Zusammenfassung ▶ Man teilt Literatur in verschiedene Gattungen ein, die die Texte klassifizieren und die mit bestimmten Leseerwartungen hinsichtlich der Form und des Inhalts verbunden sind. ▶ Der Autor oder die Autorin ist die Person, die einen Text schreibt. Ein Erzähler beziehungsweise eine Erzählerin ist ein fiktionales Textphänomen; er oder sie vermittelt in einer Erzählung die Handlung. ▶ Die Erzählperspektive kann allwissendend sein, was bedeutet, dass die Erzählerfigur über alles, was im Text passiert, Bescheid weiß. Der Erzähler kann aber auch aufgrund der Tatsache, dass er eine an der Handlung beteiligte Figur ist, nur über ein begrenztes Wissen verfügen. Der Erzähler kann des Weiteren einer bestimmten Figur in der Erzählung folgen und alles aus deren Sichtweise berichten, was also eine begrenzt allwissende Perspektive ist. Schließlich kann der Erzähler eine sogenannte dramatische oder objektive Sichtweise haben, bei der man als Leser oder Leserin nur sieht, was die Figuren tun, hören und was sie sagen, aber wir haben keinen Zugang zu ihren Träumen, Gedanken und zu anderen Reflexionen, sofern sie diese nicht sagen. Die Erzählperspektive hängt auch mit den Begriffen intra-diegetisch und extra-diegetisch (innerhalb oder außerhalb der Geschichte) sowie mit hetero- und homo-diegetisch (über jemand anderen in der Geschichte oder über den Erzähler selbst) zusammen. ▶ Ein Erzähler kann unzuverlässig sein, wenn man beim Lesen merkt, dass das, was erzählt wird, nicht den Gegebenheiten entspricht oder wenn der Erzähler beispielsweise keineswegs so neutral ist, wie er vorgibt. 62 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft 2.2.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Funktion haben Gattungen? 2. Warum können wir nicht sagen, dass der Autor oder die Autorin die Geschichte erzählt, sondern immer nur, dass der Erzähler erzählt? 3. Was ist der Unterschied zwischen der Erzählperspektive in erster Person und dem begrenzt allwissenden Standpunkt? Geben Sie konkrete Beispiele aus Ihren gewählten Texten. ▶ Wie man als Leserin oder als Leser einen Text deutet, hängt auch immer davon ab, welche Erwartungshaltungen man hat und welcher Zeit, welchem Kulturkreis etc. man angehört. Bei der Analyse und Interpretation von Literatur geht es nicht nur darum, nach der Absicht des Autors oder der Autorin zu fragen, vielmehr können aus einem literarischen Text viele Bedeutungen herausgelesen werden. 63 2.3 Schauplatz und Thema 2.3 Schauplatz und Thema In dieser dritten Einheit beschäftigen wir uns mit den literaturwissenschaftlichen Begriffen Schauplatz oder Setting und Thema und untersuchen deren Bedeutung und Funktion, was wieder anhand literarischer Beispiele aus der englisch- und deutschsprachigen Literatur verdeutlicht wird. Bei der Auseinandersetzung damit, was das Thema beziehungsweise die Themen eines literarischen Werkes ausmacht, geht es auch darum, relevante Fragen an Texte stellen zu können, die Ihnen helfen, aus der Menge der Lesarten plausible Bedeutungen aus einem literarischen Text herauszulesen. Das Thema ist allerdings nicht mit einer Inhaltsangabe identisch, wie diese Einheit zeigen wird. Sie arbeiten bei den Aufgaben mit den beiden Texten, die Sie selbst gewählt haben (siehe Einleitung des Kapitels). Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ den Schauplatz / das Setting in einem literarischen Text beschreiben können; ▶ diskutieren können, welche Rolle der Schauplatz für das Verständnis des literarischen Werkes spielen kann; ▶ die Bedeutung der Zeit in einem Erzähltext analysieren können; ▶ das Thema in einem literarischen Text erfassen können. 2.3.1 Schauplatz / Setting Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter sie ‚vorher‘ spielt? Zudem könnte es sein, dass die unsrige mit dem Märchen auch sonst, ihrer innersten Natur nach, das eine oder andre zu schaffen hat. (Thomas Mann: Der Zauberberg) Wer an einem Sommermorgen in Stockholm zum Strandweg hinuntergeht und dort am Kai einen kleinen weißen Schärendampfer mit dem Namen ‚Saltkrokan I‘ liegen sieht, der kann ruhig an Bord gehen, es ist der richtige Dampfer. (Astrid Lindgren: Ferien auf Saltkrokan) Der Schauplatz (oder das Setting) ist mehr als nur der geografische Ort der Handlung. Auch die Zeit, in der die Erzählung spielt, das soziale Umfeld der Figuren, ihre Gewohnheiten und Sitten, die moralischen Wertvorstellungen und Normen sowie das Denken der Zeit, zu der die Handlung spielt, gehören dazu. Wenn wir über die Zeit sprechen, sollten wir darauf achten, wann die Geschichte spielt, aber auch die zeitliche Länge der Handlung berücksichtigen. Manchmal wird in einer Geschichte nur eine sehr kurze Situation geschildert, ein kurzer Vorfall, aber gleichzeitig lernt man dadurch die gesamte Lebenssituation der Hauptfigur kennen. In Herta Müllers Roman Heute wäre ich mir lieber nicht begegnet folgen wir den Reflexionen 64 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft und Erinnerungen einer Frau während einer 1 ½ stündigen Fahrt mit der Straßenbahn, aber wir erfahren viel mehr, nämlich wie es ist, in einer Diktatur zu leben. Andererseits spannen die geschilderten Ereignisse in Familien- oder Generationsromanen Jahrzehnte und Generationen. Der Roman Das Muschelessen von Birgit Vanderbeke schildert, wie eine Mutter und ihre Kinder an einem Abend am Esstisch sitzen und alle darauf warten, dass der Vater nach Hause kommt, um Muscheln zum Abendessen zu essen. Es geht aber nicht nur um diese Zeit des Wartens; die eigentliche Geschichte sind die Ereignisse der Vergangenheit, die enthüllt werden, während man auf den Vater wartet. Bei der Untersuchung der Denkmuster, die auch zum Schauplatz oder dem Setting gehören, sollte man unterscheiden, welche Wertvorstellungen im Text durch Signale angedeutet werden und was der Text dadurch als Botschaft vermittelt. In Geraldine McCaughreans Roman Not the End of the World werden die Leser und Leserinnen in biblische Zeiten zurückversetzt, nämlich zu Noah und seiner Arche. In diesem Roman wird die Geschichte jedoch nicht aus Noahs Perspektive erzählt, sondern durch die Gedanken und Stimmen anderer Menschen und Tiere, die an Bord der Arche sind. Auf diese Weise wird Noahs Ansicht, dass er von Gott auserwählt worden ist und die Sintflut überleben wird, in Frage gestellt, und obwohl Noah fest der Meinung ist, dass man ihm und Gott gehorchen müsse, hinterfragt man als Leser und als Leserin seine Ansicht. Der Text vermittelt also etwas anderes, als das, was die Figuren sagen. In vielen literarischen Werken gibt es unterschiedliche Schauplätze, und man kann analysieren, wie diese zueinander in Beziehung stehen. All diese Welten sind Fiktion, das heißt literarische, textuelle Zurechtlegungen, wobei einige dieser Welten in engem Bezug zur textexternen Wirklichkeit stehen und diese spiegeln, andere sind frei erfundene Fiktionen. Wir geben hier einige Beispiele aus bekannten Kinder- und Jugendbüchern. In Michael Endes Roman Die unendliche Geschichte bewegt sich die Hauptfigur Sebastian zwischen zwei Welten, nämlich zwischen einer Phantasiewelt, in der es Drachen und Märchenprinzessinnen gibt, und seiner realen Welt, in der er mit seinem Vater lebt und wo er in die Schule geht. Hier gibt es also zwei Schauplätze, zwei Settings, die sogar mit unterschiedlichen Textfarben (rot und grün) markiert werden. Vielleicht kennen Sie auch C. S. Lewis Romane über das Land Narnia. Auch hier gibt es verschiedene Welten, und die Romanfiguren finden lediglich mithilfe von Magie den Weg in die erfundene Phantasiewelt. In den Harry Potter-Romanen hat Joanne K. Rowling ebenfalls literarisch verschiedene Welten geschaffen, teils eine real denkbare, teils eine vollkommen fiktional erfundene, die im Text gleichwertig sind und die sich im Laufe der Romanserie immer mehr miteinander vermischen. Hogwarts, das Schulinternat, in dem man alles, was mit Zaubern und Magie zu tun hat, lernt, liegt in England, aber es ist für Nicht-Magier unmöglich, dorthin zu gelangen. Man kann Hogwarts mit dem Zug erreichen, aber dieser fährt von Gleis 9 ¾ ab, das für Nicht-Zauberer unsichtbar ist. Ein anderes Beispiel ist Cornelia Funkes Tintenherz-Trilogie. Hier lebt das junge Mädchen Meggie mit ihrem Vater, dem Buchbinder Mo, der eine besondere Gabe hat: Wenn er Bücher laut liest, treten die Figuren aus den Büchern heraus und kommen in die reale Welt. An ihrer Stelle wird jedoch ein echter Mensch in die Welt des Buches hineingezogen. In vielen literarischen Texten ist die Handlung konkret an einen bestimmten Ort und an eine bestimmte Zeit gebunden. In Navid Kermanis bereits in Lerneinheit 2.2 erwähnten 65 2.3 Schauplatz und Thema Roman Dein Name beginnt der Text zeitlich extrem genau: „Es ist Donnerstag, der 8. Juni 2006, 11: 23 Uhr auf dem Laptop, der einige Minuten vorgeht, also 11: 17 Uhr ungefähr oder, da er den Satz noch schreibt, 11: 18 Uhr“ (Kermani 2015: 7). Welche Signale sendet eine derartige Genauigkeit an uns Leserinnen und Leser? In der Regel versucht ein Autor oder eine Autorin, das Denken und die Wertvorstellungen der Zeit zu spiegeln, in der die Handlung spielt; aber auch die Wertvorstellungen der Zeit, zu der der Text geschrieben wurde, prägen sowohl die Sprache als auch die Thematik und die Botschaft des Textes. In Christa Wolfs Medea kommen verschiedene Stimmen zu Wort, welche jeweils aus ihrer eigenen Perspektive Ereignisse des antiken Erzählstoffes über die Kindesmörderin Medea berichten. Die Aussagen der verschiedenen Figuren entsprechen allerdings nicht der Botschaft des Textes. Dadurch, dass Medeas Stimme und ihre Version dominiert, wird aus der Negativfigur eine idealisierte Person, und man sieht Medeas Agieren nach der Lektüre mit ganz anderen Augen. Zugleich geht es aber nicht nur um eine Neufassung des antiken Mythos, sondern der Text kann auch als eine Gegenüberstellung verschiedener Gesellschaftssysteme gelesen werden, nämlich konkret die der DDR und der Bundesrepublik. Hier überlagern sich die Schauplätze durch die Art und Weise, wie man den Roman interpretiert. In vielen Texten müssen sich die Protagonisten mit moralischen Problemen auseinandersetzen, die aus Konflikten mit Werten und Normen der Zeit, in der die Handlung spielt, entstehen. Gleichzeitig sind viele der dargestellten Probleme allgemeinmenschlich und zeitlos. Sie fordern uns Leserinnen und Leser auf, selber darüber nachzudenken, wie man agiert hätte oder was man für richtig hält. Nicht selten werden wir als Leser und Leserinnen (oder Zuschauer und Zuschauerinnen bei Dramen) aber allein gelassen, denn die Literatur gibt uns keine eindeutige Antwort darauf, wie man einen Text verstehen soll. In Bertolt Brechts Drama Der gute Mensch von Sezuan, einer Parabel, in der der Frage nachgegangen wird, ob es überhaupt möglich ist, als ein guter Mensch zu leben, bleibt diese Frage letztendlich unbefriedigend offen. Das Publikum wird vielmehr in einem Epilog aufgefordert, selber Antworten zu finden: „Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss! Es muß ein guter da sein, muß, muß, muß! “ (Brecht 1963: 144). Oft ist der Schauplatz wie betont sehr spezifisch und konkret beschrieben, manchmal kann er wiederum sehr allgemein oder unbestimmt sein. Denken Sie an Franz Kafkas Roman Der Prozess. Josef K. wird aus unerklärten Gründen verhaftet, er befindet sich an verschiedenen Orten, die irgendwie mit der Justiz zu tun haben, aber letztendlich bleibt alles vage in der Schwebe; das Setting entzieht sich gängigen Deutungsmustern; in privaten Räumen finden Dinge statt, die eigentlich öffentlich sein sollten und umgekehrt. Weder Josef K. noch der Leser oder die Leserin weiß, woran man eigentlich ist. Was passiert nun mit der Handlung, wenn der Schauplatz ungenau ist? Worauf richtet man beim Lesen die Aufmerksamkeit? Manchmal kann das Setting recht allgemeingültig sein, obwohl der Schauplatz konkret ist, wie bei der oben erwähnten Arche Noah in Not the End of the World. Man kann überlegen, was die Botschaft des Romans sein könnte. Denken Sie dabei daran, dass literarische Texte mehrdeutig konzipiert sind. Vielleicht besteht es darin, dass, wie im Roman gesagt wird, „jedes Meer zwei Ufer hat“, mit anderen Worten, dass es nicht nur eine absolute Wahrheit gibt und man Anführern nicht blind folgen sollte. Hier stellt sich die Frage, ob man den Schauplatz der Arche überhaupt benötigt, um diese Botschaft vermittelt zu bekommen, wo- 66 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft ran sich auch die Frage anschließt, ob man überhaupt religiösen (oder anderen) Fanatikern Glauben schenken soll. Wie wichtig ist also das Setting für die Botschaft des Textes? Die im Roman geschilderten Ereignisse auf der Arche Noah spielen in einer längst vergangenen, biblischen Zeit, aber eingekleidet in den Mantel der Fiktion und an einem weit entfernten oder erfundenen Schauplatz wird man als Leserin und als Leser dazu aufgefordert, über zeitlose moralische Konflikte nachzudenken. Gerade in Zeiten und Ländern, in denen keine offene Gesellschaftskritik ausgeübt werden konnte oder kann, ist es nicht ungewöhnlich, dass man die Handlung in der Vergangenheit oder an entlegenen Orten spielen lässt. Gewisse Themen und Motive kommen in der Literatur immer wieder vor, auch wenn der Schauplatz variiert. Anstelle eines religiösen Patriarchen wie in Not the End oft he World kann das Thema eines autoritären oder fanatischen Führungsstils mit einem ganz anderen Setting behandelt werden, beispielsweise anhand einer Gruppe von Jungen wie in William Goldings The Lord of the Flies. Denken Sie auch an die Gattung der Kriegsromane, in denen eine bestimmte Gruppe oder Nation einen fanatischen Krieg führt und kompromisslos von einer einzigen Wahrheit überzeugt ist. Überlegen Sie mit anderen Worten, was bei literarischen Werken allgemeingültig und was konkret orts- und zeitgebunden ist, und was die jeweilige Wahl des Schauplatzes in einem Erzähltext oder in einem Drama bewirkt. Das Setting ist also keineswegs eine neutrale Kulisse. Ein Schauplatz kann mehr sein als nur der Ort und die Zeit der Handlung und damit verbundene Wertvorstellungen. Manchmal hat der Schauplatz eine antagonistische Funktion in Bezug auf den Protagonisten. In Ernest Hemingways The Old Man and the Sea kämpft ein alter Fischer unermüdlich gegen etwas an: Ist es der Ozean oder sind es die Haie im Meer? Vielleicht ist der Ozean Ausdruck für etwas anderes? Als Leser und als Leserin sollten Sie über die Funktion des Schauplatzes nachdenken und darauf achten, wie der Schauplatz die Geschichte prägt. In Friedrich Dürrenmatts Komödie Die Physiker versteckt sich ein Kernphysiker in einem Irrenhaus und gibt vor, verrückt zu sein, um die Welt vor seiner entdeckten, weltzerstörerischen Formel zu schützen. Zwei Geheimagenten, die ihrerseits vorgeben, verrückt zu sein, sind ebenfalls in diesem Irrenhaus, um die Formel an sich zu reißen. Das Setting provoziert hier die Frage, wer eigentlich verrückt ist und wer nicht, denn niemandem ist zu trauen. Moralische Fragen werden hier durch Identitätsmaskeraden auf die Spitze getrieben. Das Irrenhaus wird zum Symbol einer verrückten Welt. 2.3.2 Thema Noch einmal flog sein trockener Arm hoch, sein Zeigefinger wies in fordernder Starre auf das Thema: ‚Die Freuden der Pflicht‘, und um allen Fragen auszuweichen, verfügte er: Jeder kann schreiben, was er will; nur muß die Arbeit von den Freuden der Pflicht handeln. (Siegfried Lenz: Die Deutschstunde) Prinzessin [Dornröschen]: Mein Dasein ist Schlaf, daher ist Leben meine logische Grenze. Vielleicht ist mein Dasein aber auch nur Warten, bis ich geküsst werde. (Elfriede Jelinek: Der Tod und das Mädchen. Prinzessinnendramen) 67 2.3 Schauplatz und Thema Bei dem Thema beziehungsweise den Themen eines literarischen Textes geht es um die Grund- oder Leitgedanken, die vermittelt werden. Das Thema ist die Botschaft in einem literarischen Werk. Hier gilt es zwischen Motiv und Thema zu unterscheiden. Das Motiv ist ein Stoffelement des literarischen Textes, das die Funktion hat, ein Handlungsgefüge zusammenzuhalten, zum Beispiel das Motiv der feindlichen Brüder, des Verwandtenmordes oder das Motiv der Liebe. Das Thema ist im Falle der Liebe das, was das Werk über Liebe aussagt, vielleicht ist diese Liebe ewig, schön oder herzzerreißend schmerzhaft. Dies sind sehr unterschiedliche Aspekte. Das Thema wird immer auf eine allgemeine Art ausgedrückt, es werden keine spezifischen Details des Werkes angesprochen, und das Thema kann niemals nur ein Wort sein, da es eine Botschaft ausdrückt. Manchmal wird das Thema schon im Titel oder im Untertitel signalisiert; so hat Heinrich Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum den Untertitel Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Marlene Haushofers Roman Die Wand schildert die Isolation einer Frau von dem Rest der Welt, was durch eine unsichtbare Wand zum Ausdruck gebracht wird. Schon der Titel weist darauf hin, dass die Wand eine zentrale, vermutlich symbolische Funktion haben wird: Die Frau kämpft ohne Kontakt zu anderen Menschen in einer von der Umwelt abgeschlossenen Bergwelt und ohne die Hoffnung, dass die Wand verschwinden wird. Erzählt uns die Geschichte von einem Leben nach einem Atomkrieg? Thematisiert der Text, wie es ist, wegen einer Krankheit psychisch von anderen isoliert zu leben oder ist es eine Art weibliche Robinsonade ohne Hoffnung auf Rettung? Wenn man versucht, in einem Text das Hauptthema zu finden, kann es sinnvoll sein, die verschiedenen Themen aufzuzählen, die im Text erwähnt werden. Wir müssen dann überlegen, welche dieser Themen wichtiger als andere sind, und anschließend kann man sich damit beschäftigen, was der Text über diese zentralen Themen sagt. Beachten Sie dabei, dass Figuren, wie betont, manchmal Meinungen und Ansichten haben, die sich drastisch von den Ansichten des Textes unterscheiden. Denken Sie auch daran, dass ein Thema keine Inhaltsangabe oder Zusammenfassung ist, die die Handlung wiedergibt. Lesen Sie Robert Frosts Gedicht The Road Not Taken (Frost 1916, 9) und überlegen Sie, was das Thema sein könnte. Two roads diverged in a yellow wood, And sorry I could not travel both And be one traveler, long I stood And looked down one as far as I could To where it bent in the undergrowth; 5 Then took the other, as just as fair, And having perhaps the better claim Because it was grassy and wanted wear, Though as for that the passing there Had worn them really about the same, 10 68 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft And both that morning equally lay In leaves no step had trodden black. Oh, I kept the first for another day! Yet knowing how way leads on to way I doubted if I should ever come back. 15 I shall be telling this with a sigh Somewhere ages and ages hence: Two roads diverged in a wood, and I, I took the one less traveled by, And that has made all the difference. Wenn Sie einen literarischen Text analysieren und nach dem Thema suchen, ist es wichtig, den Text sehr sorgfältig durchzulesen und auf Wörter und ihre Bedeutung zu achten. Es gibt sowohl denotative Bedeutungen, was konkrete Wörterbuchbedeutung meint, (auch: Denotat) als auch konnotative, das heißt persönliche, subjektive Bedeutungen (auch: Konnotat), die wir den Wörtern zuschreiben. Was besagt beispielsweise im Gedicht die Tatsache, dass der Wald gelb ist? Ist dies eine Beschreibung des Schauplatzes, wodurch die Jahreszeit markiert wird? Wenn wir uns das lyrische Ich ansehen, dann könnte das Wort gelb diesem lyrischen Ich zugeschrieben werden, und wir sehen in diesem Fall eine innere Landschaft. Wenn wir die Farbe Gelb und den Herbst als Metapher deuten (siehe unten), drückt dies im übertragenen Sinn vielleicht Traurigkeit, Alter oder etwas anderes aus. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich das lyrische Ich in diesem Moment an etwas in seinem oder in ihrem Leben zurückzuerinnern scheint, wenn er oder sie zwischen den beiden Straßen wählen muss, oder dass er oder sie wahrscheinlich über die Zukunft nachdenkt. Auf jeden Fall scheint der Augenblick der Wahl äußerst wichtig zu sein: Was macht also das lyrische Ich? Offenbar wählt die Person nur eine der beiden Straßen („Then took the other“), aber dennoch scheint es, als ob die Straße, die von Blättern bedeckt ist, irgendwie verlockend wirkt. Was könnte damit gesagt werden? Im Text steht, es war „grassy and wanted wear“, was darauf hinweist, dass sich nur wenige dorthin begeben haben. Lesen Sie auch Friedrich Hölderlins Gedicht: Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser Weh mir, wo nehm ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo 69 2.3 Schauplatz und Thema Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. (Hölderlin 2000 [1804]: 146) Zunächst kann man konkret zusammenfassen, was im Gedicht beschrieben wird und auf welche Weise sprachlich eine bestimmte Stimmung hervorgerufen wird. Auch hier wird eine Herbstlandschaft beschrieben (es gibt gelbe Birnen und wilde Rosen), und in der zweiten Strophe wird die unerbittliche Kälte des Winters veranschaulicht. Was ist aber das Thema dieses Gedichtes? Soll man es nur wortwörtlich als ein Stimmungsbild verstehen oder gibt es eine übertragene Bedeutung? Wenn Sie nun den Titel in Ihre Überlegungen mit einbeziehen, wird vieles sicherlich deutlicher, denn es heißt Hälfte des Lebens. Können Sie durch diese Information genauer beschreiben, was mit dem Gedicht thematisch ausgedrückt wird und wie? Wenn man Lyrik analysiert, geht es besonders darum, auf bestimmte Stilmittel zu achten. Hier kann der Begriff der Bildlichkeit hilfreich sein, um ein Thema herauszuarbeiten. In der Poesie hat die Bildlichkeit zwei Bedeutungen. Zuerst stellt sie die beschreibenden Passagen in einem Gedicht dar, das die Sinne anspricht. Zweitens kann sie verwendet werden, um hauptsächlich durch Metaphern etwas anderes, Übertragenes zu sagen, als die wortwörtliche Verwendung. Eine Metapher erstellt Verbindungen zwischen einem Objekt mit grundlegend verschiedenen Dingen, Sachverhalten oder Lebewesen, beispielsweise, wenn man ein Kamel als Schiff der Wüste bezeichnet oder einen listigen Menschen als Fuchs. Viele idiomatische Wendungen / Phraseologismen und die meisten Sprichwörter sind ebenfalls Metaphern. Die Formulierung mit allen Wassern gewaschen sein, meint beispielsweise nicht, dass eine Person besonders hygienisch ist, sondern es handelt sich um jemanden, der aus Erfahrung weiß, worum es geht. Im Unterschied zu einem Vergleich verwendet eine Metapher keine Wörter wie „wie“, um die Ähnlichkeit anzuzeigen. Wenn man sagt, „meine Geliebte ist wie eine Rose“, wäre dies ein Vergleich. Wenn Begriffe oder Gegenstände verwendet werden, die in ihrer Bildkraft und Zeichenhaftigkeit auf etwas anderes verweisen, können wir auch von Symbolen sprechen, so bezeichnet ein Kreuz das Christentum oder ein Ehering symbolisiert Treue. Wir kommen noch einmal auf Robert Frosts Gedicht zurück. Wir hatten auf einige mögliche Themen hingewiesen, und wir können nun überlegen, welche besonders wichtig erscheinen. Wir können uns zunächst konkret auf die erwähnten Straßen im Gedicht konzentrieren und darauf, was der Text über ihre Unterschiede sagt. Wir können aber auch den Fokus auf die gedankliche Straßenwahl richten. Was ist die zentrale Idee, die ausgedrückt wird, wenn sich das lyrische Ich entscheidet? Was sagt uns das zum Beispiel über Themen wie Individualismus oder Selbstständigkeit? Wenn wir auf diese Weise mit einem Text gearbeitet haben, können wir eine Antwort darauf finden, welche Bedeutungen die Literatur dem Leser oder der Leserin vermittelt. Das ist das Thema des Gedichtes. Mit anderen Worten müssen wir, um das Thema eines Textes herauszufinden, sehr sorgfältige, textnahe Beobachtungen machen, bevor wir mit der Interpretation beginnen. Die Interpretation eines Textes 70 2. Grundlagen der Literaturwissenschaft unterscheidet sich sicherlich von Leser zu Leser, von Lesegemeinschaft zu Lesegemeinschaft. Sie kann in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften unterschiedlich sein, aber wir sollten immer mit den Informationen beginnen, die wir konkret im Text vorfinden. Wenn Sie das Thema eines Textes erfasst haben, haben Sie einen wichtigen Schritt getan, um die Literatur interpretieren zu können. 2.3.3. Zusammenfassung ▶ Die Begriffe Schauplatz und Setting beziehen sich auf die Zeit und den Ort der Handlung in einem literarischen Text sowie auf die moralischen Wertvorstellungen und Normen. ▶ Der Schauplatz ermöglicht dem Leser oder der Leserin, den Kontext zu erfassen, in dem die Geschichte spielt. Die Untersuchung des Schauplatzes soll es dem Leser und der Leserin erleichtern, nicht nur die Figuren, ihr Agieren, ihre Gedanken und ihre Reaktionen zu verstehen, sondern auch die Umstände und Mechanismen in ihrem Umfeld, die sie dazu bringen das zu tun, was sie tun. ▶ Das Thema eines Textes ist die Bedeutung des Textes. Das Thema drückt das aus, worüber es etwas interpretatorisch zu sagen gibt. Das Motiv dagegen ist eine Komponente im Text, wie die Liebe, die die Handlung vorantreiben kann. Das Thema ist das, was der Text in diesem Fall über die Liebe sagt, beispielsweise die Traumatisierung eines Menschen durch eine unglückliche Liebe. 2.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was untersuchen wir beim Studieren des Schauplatzes eines Textes? 2. Welche Aspekte sollte man bei der Analyse der Zeit berücksichtigen? 3. Inwiefern kann der Schauplatz für das Verständnis der Figuren wichtig sein? 4. Was ist ein Thema und wie kann man das Thema eines Textes herausfinden? 71 2.3 Schauplatz und Thema 3. Grundlagen literarischer Dynamik Serena Grazzini Kapitel 3 geht von der Auffassung der Literatur als eines dynamischen ästhetischen Konstrukts aus, das von kulturellen, historischen, sozialen und kognitiven Prozessen zeugt und gleichzeitig selbst zur Entfaltung dieser Prozesse beiträgt. Die literarische Sprache und die literarische Figurenwelt fordern geradezu einen aktiven Beitrag vonseiten der Leser und Leserinnen, die, lassen sie sich auf die literarische Kommunikation ein, zu bewussten Akteuren der oben genannten soziokulturellen und kognitiven Prozesse werden können. Die Hervorhebung dieser Dynamik ist besonders wichtig im Hinblick auf den Schulunterricht, der eine außerordentliche Gelegenheit darstellt, eine kommunikative, aktualisierende, das heißt nicht-antiquarische Lektüre der Literatur zu bieten, und auf diese Weise ihr kognitives und kulturelles Potenzial zu bewahren und zu fördern. Das Kapitel besteht aus drei Lerneinheiten, die anhand von zahlreichen literarischen Materialien zur Bewusstmachung der hier angedeuteten Prozesse beitragen. Es werden voneinander stark differierende Themen und Textbeispiele behandelt, die von dem engen Verhältnis zwischen Literatur und Kultur zeugen. Damit wird eine möglichst breite Vorstellung der Dynamiken geboten, die der Literatur auf der einen Seite, ihrer Rezeption auf der anderen Seite innewohnen. Die Lerneinheiten sind an einer Unterrichtspraxis orientiert, in der die Lernenden zu bewussten und aktiven Akteuren der literarischen Kommunikation werden können. In der ersten Lerneinheit wird das Augenmerk auf das performative Potenzial literarischer Texte gelenkt. Behandelt wird das literarische Kabarett, das ein wichtiges Kapitel der anbrechenden literarischen und kulturellen Moderne im Übergang vom 19. bis zum 20. Jahrhundert darstellt. Am Beispiel von Texten, die sich auf das Thema des Terrorismus und der sozialen Angst beziehen, fokussiert die zweite Lerneinheit auf die sprachliche und literarische Codierung von Emotionen. Hervorgehoben werden insbesondere die Semantik der Angst und die literarische Tauglichkeit der ihr unterliegenden Dynamiken. Die dritte Lerneinheit behandelt das Thema von Identität und Heimat, die eine wichtige Rolle in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts spielen. Besondere Aufmerksamkeit wird den kognitiven und kulturellen Assoziationen gelten, die diese Begriffe hervorrufen, und die sowohl die Produktion als auch die Rezeption eines literarischen Textes beeinflussen können. Vor allem wird untersucht, welche Rolle die Literatur bei Identitätskonstruktionen oder bei der Kritik von gängigen Identitätsvorstellungen spielen kann. 72 3. Grundlagen literarischer Dynamik 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts Die Lerneinheit behandelt ein wichtiges Kapitel der deutschsprachigen Literatur- und Kulturgeschichte, und zwar das literarische Kabarett am Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach einer allgemeinen Überlegung über die Rezeption literarischer Texte, wird der Fokus auf folgende Themen gelenkt: Kabarettistische Literatur als künstlerische Performance und als performativer Akt, die Gespanntheit zwischen Unterhaltung und Kulturkritik, die schnellen Rhythmen des Kabaretts und der leichte Ton der kabarettististischen Texte als Ausdruck des kognitiven und anthropologischen Wandels in der Moderne. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ über einen Überblick über die wichtigsten Merkmale des literarischen Kabaretts verfügen; ▶ das performative Potenzial eines Textes ergründen können; ▶ die Ambivalenz der kabarettistischen Literatur in Bezug auf Unterhaltung und Kulturkritik deuten können; ▶ die intime Verbindung zwischen Literatur und Kultur besser nachvollziehen können. 3.1.1 Grundlagen: Allgemeine Prämisse zur Bewusstwerdung unseres Rezeptionsvorgangs Heute ist die Verbindung zwischen Literatur und Kabarett keine Selbstverständlichkeit mehr, und mit dem Wort Kabarett verbinden wir künstlerische Erfahrungen, die mit denen am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr übereinstimmen. Naturgemäß wird unsere Rezeption eines literarischen Textes vom historischen, kulturellen und kognitiven Kontext beeinflusst, dem wir selber angehören, und natürlich variiert die Vorstellung dessen, was als Kabarett gilt, nicht nur von Zeit zu Zeit, sondern auch von Land zu Land. Diese Tatsache ist nicht abzustreiten und es hätte kaum Sinn zu versuchen bei der Analyse eines literarischen Textes oder Phänomens unsere Erwartungen auszuschalten: Sie werden im Rezeptionsvorgang immer eine Rolle spielen, ob wir es wissen oder nicht. Wichtiger und produktiver scheint deswegen die Bewusstwerdung dieser Erwartungen zu fördern, damit wir eine möglichst klare Vorstellung über Potenziale und Schwierigkeiten unserer Rezeption haben. Sich literarischen Texten aus anderen Epochen (oder aus anderen Kulturen) als der eigenen anzunähern bedeutet also nicht nur historische und kulturelle Kenntnislücken zu füllen. Ebenso wichtig ist es dabei, sich der am meisten bedeutenden Unterschiede bewusst zu werden, die zwischen unserem kollektiven ästhetischen und literarischen Horizont und dem der in Betracht kommenden Zeit und Kultur bestehen. Unsere Erfahrungen dienen uns oft zur ersten Orientierung, in manchen Fällen können sie jedoch auch ein Hindernis für das Verständnis der zu betrachtenden Werke darstellen. In der hermeneutischen Tradition wird diesbezüglich von „Vorurteilen“ (vergleiche Gadamer 1972) gesprochen: Obwohl das Wort negativ klingt, ist die Bedeutung, 73 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts die ihm in Bezug auf die literarische Rezeption anhaftet, eher als neutral aufzufassen. Vorurteile beinhalten in dieser Hinsicht sowohl Potenzialitäten als auch Grenzen des Verstehens. Auch in Bezug auf das Thema dieser Lerneinheit ist es also empfehlenswert, sich eine Vorstellung des kognitiven und kulturellen Horizontes und der Erwartungen an (künstlerischen) Erfahrungen zu machen, von denen wir heute ausgehen, wenn wir an das Kabarett denken. Es handelt sich um eine Arbeit der Bewusstmachung, die Sie als Lehrer und Lehrerinnen auch mit Ihren Schülern und Schülerinnen leisten können, damit Ihnen möglichst deutlich wird, was diese mit dem vorgeschlagenen Thema unmittelbar verbinden. 3.1.2 Der kabarettistische Text als künstlerische Performance und performativer Akt Im deutschen Sprachraum wurde das Kabarett von Literaten gegründet, die sich nach dem Muster des weltberühmten Chat Noir und ähnlicher Pariser Lokale auf Montmartre richteten und dabei versuchten, auch in ihrem Land eine Kultur des Kabaretts zu verbreiten (für einen geschichtlichen Überblick vergleiche Greul 1971). Sie waren auf der Suche nach einer künstlerischen und literarischen Form, die ein neues, näheres Verhältnis zwischen den Dichtern und ihrem Publikum ermöglichen könnte. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist die Beschreibung, die Hanns Heins Ewers (1871-1943) in seiner Retrospektive Das Cabaret (1904) von der lockeren Atmosphäre bot, die im Cabaret Chat Noir herrschte. Es war vor allem diese Atmosphäre, die auf die deutschen Dichter, die in Paris gewesen waren und jene Realität gekannt hatten, ansteckend wirkte. Ein Textauszug aus dieser Retrospektive soll verdeutlichen, was vielen Dichtern als das Wichtigste am Pariser Muster erschien: --Worin lag nun der eigentümliche Reiz, dieser Zauber, der ‚tout Paris‘ in die Cabarets zog? -[…] Das Neue, das, was das Publikum unwiderstehlich anzog, war die Tatsache: hier lernte es die Künstler selbst von Angesicht zu Angesicht kennen, deren Werke es auf den Bühnen, in den Konzerten, in den Kunstausstellungen und in den Buchläden fand. Richtige lebendige Dichter, Maler, Tonkünstler und Bildhauer, nicht einen oder den andern nur, wie in irgend einer Abendgesellschaft, sondern gleich eine ganze Reihe, und alle in Freiheit dressiert, in ihrem eigenen Heim, in ihrem ureigensten Element! So etwas war in keinem Salon zu finden! - […] Das ist gewiß: was Montmartre bot, war auf der ganzen Welt nirgend wiederzufinden! So, wie sie von der Straße kamen, stellten sich diese Künstler auf das Podium, sprachen oder sangen ihr Lied, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Nichts schonten sie, nicht einmal das dreimalheilige Publikum, vor dem doch jeder vernünftige Theaterdirektor, Sänger, Schauspieler stets ehrfurchtsvoll auf dem Bauch liegt. (Ewers 1904: 12-4) In dieser Beschreibung wird besonders auf das Verschwinden der Grenze zwischen Straße und Podium Wert gelegt. In der ungezwungenen Atmosphäre des Kabaretts hatte es den Anschein, dass sich die Dichter auf den Brettern des Podiums so darstellten, wie sie im „normalen“ Leben waren, das heißt sie konnten sich so frei fühlen, wie es in keinem Salon oder in keinem damaligen Theater möglich gewesen wäre. Sie teilten die Szene mit anderen Dichtern und Interpreten, was das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Künstlergemeinschaft verlieh. Die Anziehungskraft der kabarettistischen Form lag zudem darin, dass Dichter und Publikum körperlich nah waren; diese Nähe ließ-- nach Ewers Worten-- jenes gegenseitige 74 3. Grundlagen literarischer Dynamik lähmende Ehrfurchtsgefühl zumindest kurzfristig vergessen, welches normalerweise das Verhältnis zwischen Künstler und Kunstrezipienten kennzeichnete. Die leibliche Ko-Präsenz von Schauspielern beziehungsweise Schauspielerinnen und Zuschauern beziehungsweise Zuschauerinnen, die dem Theater schon eigen war, wurde in den meistens kleinen Räumen des Kabaretts zur körperlichen Nähe, und sie wirkte künstlerisch produktiv. Die literarischen Texte wurden als künstlerische Performances aufgefasst, das heißt sie wurden von ihren Autoren und Autorinnen (oder von deren Interpreten und Interpretinnen) direkt vor einem Publikum vorgetragen und aufgeführt, das unmittelbar darauf reagieren konnte. Das Kabarett war ein Ereignis, das von der Unmittelbarkeit der Aufführung von literarischen und künstlerischen Produkten und der Reaktion des Publikums darauf lebte. Stimme, Gestik, Körperhaltung, Licht, Raum trugen insgesamt zum Erfolg der kabarettistischen Nummer bei und gewannen auch in Bezug auf den Text, der rezitiert beziehungsweise gespielt wurde, an ästhetischer Bedeutung. In Bezug auf das Kabarett ist es also wichtig, sich dessen bewusst zu werden, dass die kleinste künstlerische Einheit nicht der Text als solcher, sondern die kabarettistische Nummer war, von der der Text nur ein Bestandteil unter anderen war. Nicht nur: Der öffentliche Vortrag von literarischen Texten, das heißt der Übergang von der Schrift hin zur Performance, ermöglichte zugleich die volle Entfaltung des funktionalen performativen Potenzials, das der Literatur immer anhaftet. Damit der Begriff klarer wird, wird im Folgenden die Definition von „funktionaler Performativität“ geboten, wie sie bei Häsner, Hufnagel, Maassen & Traininger (2011: 84 f) zu lesen ist: […]-der Begriff der funktionalen Performativität [zielt] auf das ab, was ein Text auslöst. Funktionale Performativität bezeichnet zunächst die Wirkungen und Dynamiken, die ein Text an der Schnittstelle mit seinen Rezipienten entfaltet. Das Konzept der funktionalen Performativität verlagert den Fokus vom Autor auf den Leser, vom Werk auf den Rezeptionsakt-[…]. In dieser Hinsicht sind kabarettistische Texte nicht als etwas Feststehendes und sich Gleichbleibendes zu verstehen, vielmehr sind sie als dynamische Konstrukte aufzufassen, an denen sich sowohl die Autoren beziehungsweise Autorinnen und die Darsteller beziehungsweise Darstellerinnen als auch das Publikum beteiligen. Diese aktive Teilnahme des Rezipienten wurde im Kabarett zum Teil vorausgesetzt, zum Teil durch die kabarettistischen Performances selbst geradezu gefördert. Wohlbemerkt: Aktive Teilnahme des Publikums bedeutet nicht, dass das Publikum an der Textgestaltung teilnahm, sondern dass die Aufführung zum Teil durch die Anwesenheit des Publikums selber beeinflusst wurde, zum Teil auf die Auslösung einer Vielfalt von Reaktionen beim Publikum abzielte. Nicht von ungefähr waren in der freien Atmosphäre des Kabaretts Provokationen des Publikums an der Tagesordnung: Durch mehr oder weniger offene Kritiken wurden verbreitete Lebensauffassungen und -weisen oft lächerlich gemacht und in Frage gestellt. Im Kabarett wurde der Text in eine Kulturpraxis-- und zwar die kabarettistische-- integriert, die oft in gespanntem Verhältnis zu anderen Lebensbereichen und kulturellen Gepflogenheiten stand. Auf dieses Thema wird der nächste Abschnitt 3.1.3 ausführlicher eingehen, in dem der performative Charakter der Texte unter den Stichworten Unterhaltung und Kulturkritik untersucht wird. 75 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts 3.1.3 Zwischen Kulturkritik und Unterhaltung Wenigstens ideell sollte das Kennzeichen der kabarettistischen Gemeinschaft die Ausdrucksfreiheit sein, die sowohl an literarischem als auch an kulturellem und politischem Wert gewann. Auf einem literarischen Niveau führte diese Freiheit zum Beispiel dahin, dass neue Formen ausprobiert wurden, wie zum Beispiel das Chanson, die direkte Hinwendung zum Publikum, die Grotesken, die Sketche. Auf der kulturellen und politischen Ebene wurde das Kabarett zu einer Stätte, in der der Bezug auf die Aktualität stark betont wurde. Es ist allerdings sehr wichtig, zwischen Ideal und Realität zu unterscheiden: In der Tat erreichten die ersten Kabaretts im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts nämlich nur selten jenes Niveau von Freiheit, von dem ihre Gründer geträumt hatten (vergleiche Sprengel 1991). Das Pariser Muster behielt in Deutschland in gewisser Weise den Status der Utopie. Dass die Texte von der Zensur bewilligt werden mussten, bevor sie öffentlich vorgetragen werden durften, stellte in gewisser Hinsicht das größte Hindernis für die Verwirklichung des kabarettistischen Ideals dar. Nicht von ungefähr erlebte das Kabarett einen ganz neuen Elan, als die Präventivzensur in der Weimarer Republik aufgehoben wurde und die Dichter keine Anklage mehr wegen Ungehorsam, Unbotmäßigkeit, Unsittlichkeit oder Landesverrat zu befürchten brauchten, wie das im wilhelminischen Deutschland noch der Fall war. In den 1920er Jahren gab es deswegen eine neue Kabarettenwelle, viele neue Lokale wurden eröffnet, und wichtige Dichter beteiligten sich an den Veranstaltungen. Dass das Eingreifen der Zensur in der wilhelminischen Zeit von vielen damaligen Protagonisten der kabarettistischen Szene beklagt wurde (vergleiche Ewers 1904: 34-39), zeigt jedoch, dass auch am Anfang des Jahrhunderts dem deutschsprachigen Kabarett eine kritische Absicht zugrundelag. Diese war hauptsächlich gegen die sogenannte spießbürgerliche Mentalität und die mit ihr verbundenen sozialen Einrichtungen und moralischen Gebote gerichtet. Ein Symbol dieser kritischen Basis war zum Beispiel der Schandpfahl mit dem Totenschädel und dem Beil im Kabarett der Elf Scharfrichter: An ihn „angenagelt fand das interessierte Publikum Zensurentscheide, Gerichtsurteile, amtliche Verlautbarungen oder was immer den Zorn der ‚Elf ‘ erregt hatte“ (Budzinski 1961: 50). Die Eingriffe der Zensur trugen jedoch insgesamt dazu bei, dass das Kabarett im wilhelminischen Zeitalter ziemlich bald zur reinen Unterhaltungskunst degradierte. Eine gewisse Ambivalenz behielt aber auch das Kabarett in der zensurfreien Weimarer Republik. Es ist nämlich zu bedenken, dass die Kabarettbesucher meistens genau dem Bürgertum angehörten, welches das bevorzugte Ziel der satirischen Angriffe vonseiten der Kabarettkünstler war. Wollten die Dichter mit ihren kabarettistischen Nummern auch Kulturkritik ausüben, mussten sie zugleich aufpassen, dass ihre Kunst weiterhin unterhaltend wirkte. Nur wenige Autoren konnten die Dynamik zwischen diesen zwei Polen beherrschen und in ihren Texten aufrechterhalten. Musterhaft wirkt auch in dieser Hinsicht die kleine groteske Szene Egon und Emilie. Kein Familiendrama (1907) von Christian Morgenstern (1871-1914). Die Szene besteht aus einem (scheinbaren) Streitgespräch zwischen der Figur Emilie, die ein Familiendrama inszenieren will, und der Figur Egon, der nicht mitspielt, auf die Anforderungen seiner Ehefrau mit Schweigen reagiert und sie zum Verzweifeln bringt. Egon spricht erst am Ende, wenn Emilie ihre Überzeugungsversuche aufgibt und die Bühne verlässt. So endet die kurze Szene: 76 3. Grundlagen literarischer Dynamik Emilie: Keine Antwort, kein unartikulierter Laut, nicht einmal ein Blick! Stein, Stein, Eis. Grausamer, der du mich um meine Rolle gebracht hast, unnatürlicher Mensch, der du hier ein Familiendrama in seinen Windeln erwürgst-… Er ist stumm, er bleibt stumm, ich gehe. Nun, so falle denn, Vorhang wieder, kaum dass du dich erhoben hast; so geht denn, ihr lieben Leute, nach Hause. Ihr saht, ich tat mein Möglichstes. Alles umsonst. Der Unmensch will kein Drama, er will seine Ruhe haben. Lebt wohl. (Ab) Egon (erhebt sich): Sehr richtig, ich will meine Ruhe haben, ich will kein Familiendrama. Um euretwillen, liebe Zuschauer, sollte ich diesem Wasserfall von Weibe durchaus zu Willen sein? Um eurer schönen Augen willen mich mit ihm in endloses Geschwätz verwickeln? Ich denke nicht daran. Geht jetzt nur heim und kommt zu der Erkenntnis, dass ihr heute zum ersten Male in eurem Leben auf der Bühne einen wahrhaft vernünftigen Mann gesehen habt, einen Mann, der das Sprichwort ‚Reden ist Silber, Schweigen ist Gold‘ nicht nur im Munde führte, sondern furchtlos befolgte. Lebt wohl. (Ab). (Morgenstern 2001 [1907]: 329) Die Szene ist sehr unterhaltsam, ohne dass sie deswegen ihren kritischen Gehalt einbüßt: In drei bis vier Minuten Spielzeit wird hier nämlich ein radikales Urteil nicht nur über das bürgerliche Theater, sondern auch über dessen Publikum ausgesprochen, das im Grunde auch das Publikum des Kabaretts war. Es wird fröhlich Abschied von einer Theaterform genommen, indem diese auf ein Minimum von Handlung und Worten reduziert wird. Auf der anderen Seite wird der Kern des Familiendramas und hiermit das Bedürfnis des Publikums danach aber gerettet: Emilie ist zuerst empört, dann schockiert, dann traurig und verzweifelt über die Reaktion (oder besser: Nicht-Reaktion) des Ehemanns, jedoch ohne dass dabei ein traditionelles dramatisches Stück entstanden wäre. Das Publikum ist gleichzeitig betroffen und belustigt. Der kognitive Horizont der Theaterbesucher und Theaterbesucherinnen in Bezug auf Handlung, Figurenkonstellation und Vorgehensweise eines Familiendramas wird aufgerufen, dennoch, fast ohne es zu merken-- und zumindest solange der komische Effekt andauert- -, nehmen sie Abstand von ihren emotionalen Erwartungen an Dramen. Diese Erwartungen werden satirisch ins Lächerliche gezogen, aber nicht völlig enttäuscht, auch wenn dabei nicht geweint, sondern gelacht wird. Die Spannung zwischen Kulturkritik und Unterhaltung aufrechtzuerhalten, war eine erhebliche literarische Leistung; sie setzte ein gewisses Qualitätsniveau voraus, das durch die schnellen Rhythmen des Kabaretts nicht immer gefördert wurde. 3.1.4 Die schnellen Rhythmen des modernen Lebens und der leichte Ton der kabarettistischen Texte Die Entstehung des Kabaretts war eng verbunden mit der Entwicklung der Großstadt und ist in jeder Hinsicht als Ausdruck der literarischen Moderne und als Produkt einer Gesellschaft zu verstehen, die gerade dabei war, sich radikal strukturell zu ändern. Es ist nicht übertrieben, das Kabarett als ein Resultat des kognitiven und anthropologischen Wandels zu interpretieren, den die Rhythmen des modernen Lebens am Ende des 19. Jahrhunderts herbeiführten. Worin dieser Wandel bestand, ist aus folgendem Passus leicht zu entnehmen: 77 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts Der heutige Stadtmensch hat-[…] Variéténerven; er hat nur noch selten die Fähigkeit, großen dramatischen Zusammenhängen zu folgen, sein Empfindungsleben für drei Theaterstunden auf einen Ton zu stimmen; er will Abwechslung,-- Variété. Damit müssen wir rechnen, wenn wir mehr sein wollen als ästhetische Präceptoren; und wenn wir Künstler sind, mit dem Wunsche, ins Leben zu wirken, so werden wir nicht auf die Idee verfallen, die Tingeltangels mit Feuer und Schwert, mit Polizei und Fanatismus auszurotten, sondern wir werden darauf denken, sie der Kunst zu gewinnen, sie in einem gewissen Sinne den ‚ordentlichen‘ Theatern ebenbürtig zu machen. (Bierbaum 1900: XI - XII ) Der zitierte Passus ist in Otto Julius Bierbaums (1865-1910) Text Ein Brief an eine Dame anstatt einer Vorrede zu lesen, der als Einleitung zur Textsammlung Deutsche Chansons (Brettl- Lieder) (1900) diente. Diese Sammlung kündigte das allererste deutschsprachige Kabarett an, und zwar das Bunte Theater (Überbrettl). Das Überbrettl wurde 1901 von Ernst von Wolzogen (1855-1934) in Berlin gegründet und wirkte bahnbrechend in der Geschichte des deutschsprachigen Kabaretts, auch wenn es selber den damaligen traditionellen Theatern noch sehr nah stand. Klar ist die Absicht, das traditionelle Tingeltangel-- worunter die „[n]ach 1870 in Berlin aufgekommene, lautmalerische Bezeichnung einer Singspielhalle minderen Ranges“ (Budzinski & Hippen 1996: 393) zu verstehen ist-- dadurch zu nobilitieren, dass die Künstler und Künstlerinnen der veränderten kognitiven Kapazitäten des neuen Stadtmenschen gewahr wurden und versuchten, eine Kunst zu schaffen, die fähig sein sollte, in das neue Leben hineinzuwirken. Dies ist der soziale und kulturelle Kontext, in dem die ersten Kabaretts entstanden. Es darf deswegen nicht verwundern, dass im Jahr 1901 die ersten Lokale, die als Kabarett bezeichnet werden können, in Berlin, München und Wien fast gleichzeitig eröffnet wurden (vergleiche Greul 1971). Es handelte sich um Kleinkunst (vergleiche Lareau 2003; Grazzini 2014), das heißt um eine Kunst des kleinen Formats (kurze Texte, meistens Lieder oder Chansons, Einakter, kleine Sketche etc.), die dem Anschein nach nicht zu anspruchsvoll wirken sollte, weil das Publikum im Kabarett vor allem Ablenkung vom Alltag und Unterhaltung suchte. Die Herausforderung für die Dichter bestand daher überwiegend darin, Texte zu schreiben, die ohne Einbußen der literarischen Qualität beim Publikum der Großstadt Gefallen und Resonanz finden konnten. So erklärt sich die besondere dynamische Eigentümlichkeit des Kabaretts: seine schnellen Rhytmen, der Abwechslungscharakter der Nummer, die Vielfältigkeit der künstlerischen Formen sowie auch der leichte Ton vieler Texte. Dieser leichte spielerische Charakter war jedoch bei manchen Autoren nur der erste Schein und soll nicht über den im Grunde ernsten Inhalt einiger Texte hinwegtäuschen. Abschließend werden zwei Beispiele herangezogen, die den Kontrast zwischen einem rein unterhaltenden und einem nur scheinbar spielerischen Ton besonders deutlich veranschaulichen. Der erste Text, Der lustige Ehemann, ist ebenfalls von Otto Julius Bierbaum und wurde wegen seines unmittelbaren Erfolges zu einem richtigen Schlager in den ersten deutschen Kabaretts. Der zweite Text ist Der Tantenmörder von Frank Wedekind (1864-1918). Das Gedicht wurde oft im Kabarett der Elf Scharfrichter vorgetragen, auch wenn es vermutlich um 1895-1898, also vor der Entstehung der kabarettistischen Bühnen, verfasst wurde. 78 3. Grundlagen literarischer Dynamik Der lustige Ehemann Ringelringelsrosenkranz, Ich tanz mit meiner Frau, Wir tanzen um den Rosenbusch, Klingklanggloribusch, Ich dreh mich wie ein Pfau. Die Welt, die ist da draußen wo, Mag auf den Kopf sie stehn! Sie intressiert uns gar nicht sehr, Und wenn sie nicht vorhanden wär’ Würd’s auch noch weiter geh’n: Zwar hab ich kein so schönes Rad, Doch bin ich sehr verliebt Und springe wie ein Firlefink, Dieweil es gar kein lieber Ding Als wie die Meine giebt. Ringelringelrosenkranz, Ich tanz mit meiner Frau, Wir tanzen um den Rosenbusch, Klingklanggloribusch, Ich dreh mich wie ein Pfau. (Bierbaum 1900: 4 f) Der tanzende Rhythmus trägt sehr stark zur Leichtigkeit bei und alles geht schnell voran. Der Text verlangt keine intellektuelle Anstrengung vom Publikum, er kann ohne Schwierigkeiten verstanden, aufgenommen und nachgesungen werden. Die Ironie des Textes ist unüberhörbar: Sie ist gegen den mit sich und seiner Frau sehr zufriedenen und wie ein Pfau prahlenden bürgerlichen Ehemann gerichtet. Dennoch wirkt diese Ironie eher harmlos und das Publikum lacht und singt- - nicht ohne Selbstironie- - zusammen mit dem lustigen Ehemann, der in einer Welt für sich lebt. Der Ehemann wird nämlich lächerlich gemacht, aber dass er von sich sagt „Ich dreh mich wie ein Pfau“, entschärft die womöglich böse Pointe dieser lächerlichen Darstellung von vornherein. Der Zuschauer oder Zuschauerin kann diese Darstellung mögen oder nicht, genießen oder nicht, er und seine Welt werden durch sie nicht in Frage gestellt. Der Tantenmörder Ich hab’ meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ich hatte bei ihr übernachtet Und grub in den Kisten-Kasten nach. Das Geld war schwer zu tragen, Viel schwerer die Tante noch. Ich faßte sie bebend am Kragen Und stieß sie ins tiefe Kellerloch.-- Da fand ich goldene Haufen, Fand auch an Papieren gar viel Und hörte die alte Tante schnaufen Ohn’ Mitleid und Zartgefühl. Ich hab’ meine Tante geschlachtet, Meine Tante war alt und schwach; Ihr aber, o Richter, ihr trachtet Meiner blühenden Jugend-- Jugend nach. Was nützt es, daß sie sich noch härme-- Nacht war es rings um mich her-- Ich stieß ihr den Dolch in die Därme, Die Tante schnaufte nicht mehr (Wedekind 1900) Frank Wedekinds Text ist eigentlich viel komplexer als Bierbaums Chanson. Ohne im Detail auf diese Komplexität einzugehen, reicht es für den Zweck dieser Lerneinheit, auf die Spannung zwischen Leichtigkeit und Reflexion hinzuweisen, die dieses Gedicht vom Lustigen Ehemann so stark unterscheidet. In Der Tantenmörder greift Wedekind auf die bänkelsängerische 79 3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts Tradition zurück, die zugleich auf den Kopf gestellt wird. Das Gedicht behält eine Distanz zu der sprechenden Figur und ihrer Perspektive, ohne dennoch den urteilenden Gesichtspunkt des Richters zu übernehmen. Es stellt eher sowohl das moralische Urteilssystem als auch die amoralische Jugendverherrlichung des Verbrechers in Frage. Der groteske Sarkasmus gibt Grund zum Lachen, einmal mit der Figur gegen die herrschende Moralvorstellung, einmal gegen die Figur und ihre Selbstverherrlichung, was den Rezeptionsvorgang dynamisiert: Das Gedicht lässt sich nicht mit einem einfachen Lachen quittieren und bietet Stoff zum Nachdenken. Auf jeden Fall gerät der Zuschauer oder die Zuschauerin in eine gewisse Unsicherheit und kann nur den schnellen Rythmen des Kabaretts danken, wenn diese Unsicherheit nicht lange andauert: Die nächste Nummer ist nämlich schon an der Reihe und wird die vorige und ihre beunruhigende Wirkung schnell verdrängen. 3.1.5 Zusammenfassung ▶ Das deutschsprachige Kabarett orientierte sich an dem in Paris aufstrebenden Cabaret, insbesondere an dem weltberühmten Chat Noir, das eine nie zuvor dagewesene Nähe zwischen Dichter und Publikum ermöglichte. Die Künstler und Künstlerinnen konnten sich auf diese Weise frei und unmittelbar entfalten und ihren Zuschauern und Zuschauerinnen präsentieren. Kabarettistische Texte, beziehungsweise Performances, sind somit dynamische Konstrukte, an denen sich sowohl Autoren beziehungsweise Autorinnen und Darsteller beziehungsweise Darstellerinnen als auch Zuschauer und Zuschauerinnen beteiligen. ▶ Das Kabarett war in Deutschland stets durch das Spannungsfeld zwischen Kulturkritik und Unterhaltung gekennzeichnet. Im wilhelminischen Deutschland machte die Präventivzensur eine vollkommene Ausdrucksfreiheit der Kabarettisten unmöglich, wodurch sich das ursprünglich kulturkritische Kabarett nach und nach zur Unterhaltungskultur entwickelte. Auch in der zensurfreien Weimarer Republik hatten Künstler und Künstlerinnen noch mit diesem Status zu kämpfen. ▶ Die Entstehung des Kabaretts ist nicht von der Entwicklung der Großstadt zu trennen und daher stark von Dynamik, Wandel und den Rhythmen des entstehenden modernen Lebens am Ende des 19. Jahrhunderts geprägt. Dem Kabarett als Kunstform sollte es gelingen, in dieses neue Leben hineinzuwirken. 3.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum ist es wichtig, dass sich der Rezipient eines literarischen Textes seines eigenen historischen und kulturellen Kontextes bewusst wird? 2. Worauf macht der Begriff der „funktionalen Performativität“ aufmerksam? 3. Warum ist der Begriff der „funktionalen Performativität“ für die Analyse von literarischen kabarettistischen Texten hilfreich? 80 3. Grundlagen literarischer Dynamik 4. Was versteht man unter dem Begriff „Kleinkunst“? 5. Welche Rolle spielte die Zensur für das Kabarett im wilhelminischen Deutschland? 6. In welchem Verhältnis standen Kulturkritik und Unterhaltung in den Kabarettnummern? 7. Welche Verbindung bestand zwischen der Entstehung des Kabaretts und der Entwicklung des modernen Stadtlebens? 8. Welche Neuerungen erbrachte das Kabarett auf literarischer und kultureller Ebene? 81 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung In der vorhergehenden Lerneinheit 3.1 haben Sie am Beispiel des literarischen Kabaretts gelernt, den performativen Charakter eines literarischen Textes und das enge Verhältnis zwischen Literatur und Kultur zu erkennen. In der vorliegenden Lerneinheit werden wir eine besondere Form dieses Verhältnisses behandeln und unsere Aufmerksamkeit auf die literarische Gestaltung des Themas Terrorismus und soziale Angst lenken. Als Beispiele werden wir Texte behandeln, die sich auf die Zeit der RAF (Rote Armee Fraktion) beziehen und historische Personen oder Ereignisse literarisch verarbeiten. Nach einem schnellen Umriss des mit dem Begriff Angst verbundenen definitorischen Problems wird die semantische Codierung der Angst behandelt. In einem zweiten Schritt werden die Dynamik zwischen Erstarrung und Bewegung, die Angst auslösen kann, und ihre literarische Tauglichkeit in Betracht gezogen. Im letzten Teil werden einige wichtige Variationen des Themas kurz vorgestellt. Die jeweils herangezogenen Textbeispiele sollen uns dabei helfen, allgemeine Reflexionen am literarischen Material zu konkretisieren. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die Semantik der Angst in einem literarischen Text erkennen; ▶ zwischen Angst als literarisches Thema und Angst als literarisches Motiv mit struktureller Funktion unterscheiden können; ▶ die der Angst eigenen Dynamiken erkennen und ihre Auswirkungen auf die Literatur nachvollziehen können; ▶ einige wichtige literarische Variationen des Themas kennen. 3.2.1 Grundlagen: Definitorisches Problem Angst stellt ein sehr breites Forschungsthema dar und betrifft zahlreiche Wissensbereiche wie unter anderem Biologie, Medizin, Neurowissenschaften, Psychologie, Soziologie, Theologie, Politikwissenschaft, Philosophie, Ästhetik, Literatur- und Medienwissenschaft (vergleiche Goltschnigg 2012; Koch 2013). Die Liste wird hier nur deshalb erwähnt, um auf die Komplexität des Themas hinzuweisen. Demgemäß führt die Analyse des Verhältnisses zwischen Angst und Literatur notwendigerweise dahin, auch die Resultate der wichtigsten Studien zum Thema in anderen Forschungsbereichen im Auge zu behalten. Allgemein wird die definitorische Problematik des Begriffs Angst festgestellt, den wir hier als Sammelbegriff verwenden, und unter dem eine Gesamtheit von Emotionen-- Furcht, Schauer, Schreck, Panik, Grauen und so weiter- - subsumiert werden kann. Unterscheidungen zu treffen, ist nicht immer einfach, und auch in der Forschung zum Thema herrscht über die verschiedenen voneinander abzugrenzenden Begriffe noch kein volles Einverständnis. Seit Søren Kierkegaards Begrebet Angest (Der Begriff der Angst, 1844 erschienen) pflegen zum Beispiel manche 82 3. Grundlagen literarischer Dynamik Wissenschaftler-- und unter diesen besonders die Philosophen--, eine klare Trennungslinie zwischen Furcht und Angst zu ziehen: Bei der Furcht handle es sich um ein Gefühl, das durch eine deutlich erkennbare Ursache ausgelöst werde, bei der Angst hingegen um ein Gefühl, das durch keinen genau zu definierenden Anlass entstehe und nicht selten ins Existenzielle ausufere. Darauf, dass diese Unterscheidung jedoch nicht standhält, verweist mit Klarheit das Historische Wörterbuch der Philosophie (1971): Angst, Furcht. Die verbreitete Scheidung zwischen A[ngst] als gegenstandslosem, frei flottierendem Gefühl und Furcht als einem gegenstandsgerichteten läßt sich weder im Hinblick auf die Verwendung der Begriffe in der gesamten Literatur noch vom allgemeinen Sprachgebrauch her aufrecht erhalten- […]. Die begriffliche Unterscheidung hat heuristischen Wert: zur Scheidung der existentiell oft tief verwurzelten unbestimmten A[ngst] gegenüber einer bestimmten, existentiell eher peripheren A[ngst], die dann gewöhnlich ‚Furcht‘ genannt wird. (Häfner 1971: 310) Der Grund, warum wir im Folgenden überwiegend den Begriff Angst verwenden werden, liegt darin, dass er sowohl ein gegenstandsloses als auch ein gegenstandsgerichtetes Gefühl bezeichnen kann, und sich daher besser als „Furcht“ dafür eignet, nicht nur mit dem einzelnen Individuum, sondern auch mit einem Kollektiv in Verbindung gebracht zu werden. 3.2.2 Semantik der Angst Trotz des hier schnell umrissenen definitorischen Problems, sind Erscheinungen und Symptome der Angst allgemein bekannt und mit Genauigkeit definiert worden. Hält man sich zumindest an die bisherigen Ergebnisse der Forschung, sind sie als eine anthropologische Konstante zu betrachten, die nicht zuletzt auf die tierische Natur des Menschen zurückzuführen ist (vergleiche unter anderem Tembrock 2000). Das bedeutet natürlich nicht, dass Emotionen kulturunabhängig sind, vielmehr können die Ursachen der Angst- - das heißt das, was jeweils als Bedrohung empfunden wird-- zum Teil kulturell bedingt sein, und es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren eine wichtige kulturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema entwickelt hat (vergleiche Koch 2013). Die äußeren und inneren Erscheinungen der Emotion scheinen dennoch eine konstante Größe zu bilden, was unter anderem zu ihrer sprachlichen und symbolischen Codierung geführt hat (vergleiche Lickhardt 2013). Diese wird sowohl von künstlerischen (als Beispiel vergleiche Pochat 2012) als auch von literarischen Darstellungen von Angstsituationen aufgegriffen. Während nicht nur der Bildkunst, sondern auch dem Theater außersprachliche Mittel zur Verfügung stehen, um Angstsituationen zu inszenieren beziehungsweise zu produzieren, wird Angst in der Literatur mittels der Sprache erzeugt beziehungsweise geschildert. Dafür bedient sich der literarische Text sowohl bestimmter erzählerischer Strategien (vergleiche unter anderem Conrad 1974) als auch der codierten Semantik der Angst. 83 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung Experiment Folgendes Experiment, das sich auch für den Schulunterricht eignet, kann Ihnen helfen, sich eine klare Vorstellung davon zu machen, was mit sprachlicher Codierung dieser Emotion gemeint ist. Sicher haben Sie schon Momente erlebt, in denen Sie sich vor etwas Bestimmtem (einem Menschen, einem Tier, einer Situation, etc.) gefürchtet oder in denen Sie ein Gefühl einer allgemein und nicht genau definierbaren Angst gehabt haben. Versuchen Sie jetzt diese Gefühle und ihre körperlichen Erscheinungen durch Stichworte zu beschreiben, die Sie auf einem Blatt notieren. Falls Ihnen keine persönliche Erfahrung einfällt, können Sie sich auch durch Bildmaterial helfen, das Sie im Internet ohne großen Aufwand finden können (möglicher Suchbegriff: Angst Bilder). Vergleichen Sie Ihre Stichworte mit denen der anderen Kursteilnehmer und Kursteilnehmerinnen. Es ist anzunehmen, dass für diese Beschreibungen ähnliche Formulierungen verwendet werden, die allgemein charakteristisch sind. Das heißt bei diesem Experiment werden Sie sehr wahrscheinlich auf semantische Topoi zurückgreifen, die Ihnen Einblicke in die sprachliche Codierung dieser Emotion gewähren werden. Die semantische Codierung der Angst erweist sich als besonders fruchtbar für die Literatur, weil sie eine Vielfalt von erzählerischen oder auch dramaturgischen Möglichkeiten zur Verfügung stellt, um zum Beispiel Angstgefühle der Figuren zu beschreiben oder zu evozieren, ohne dass der Terminus Angst (oder seine Äquivalenten) explizit benannt werden muss. Die Verwendung semantischer „fester Topoi“ und „formelhafte[r] und stereotype[r] Beschreibungen“ (vergleiche Lickhardt, 2013: 196) ruft nämlich das (internalisierte) kognitive Wissen der Rezipienten und Rezipientinnen unmittelbar auf, welche ohne Reflexionsbedarf die beschriebene oder, in einem Drama, die stattfindende Angstsituation auf Anhieb erkennen können. Das Beispiel einer Textpassage aus Friedrich Christian Delius’ Mogadischu Fensterplatz (Delius 2014b [1987]) wird Ihnen helfen, das hier Gemeinte besser zu veranschaulichen. Der Roman gründet auf dem historischen Ereignis der Entführung einer von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main gerichteten Lufthansa-Flugmaschine durch ein palästinensisches Terrorkommando im Oktober 1977. Das Kommando agierte im Auftrag der RAF und hatte die Aufgabe, die Geiselnahme gegen die Freilassung der verhafteten RAF -Mitglieder zu verhandeln (für eine Geschichte der RAF vergleiche unter anderem Hoffmann 1997; Kraushaar 2006). Der Roman entwickelt sich als die Erinnerung einer Geisel an die Tage ihrer Entführung. An der zitierten Stelle bezieht sich die Ich-Erzählerin auf die Durchsuchung der Passagiere durch die Entführer beziehungsweise Entführerinnen: Die Männer wurden aufgefordert, einer nach dem andern, in den Gang zu treten. Sie wurden durchsucht. Manche geschlagen. Minuten, die nur unterbrochen waren vom klatschenden Geräusch einer Hand, die in ein Gesicht traf. Der Captain schrie What’s that? What’s that? Er hielt eine Nagelfeile hoch. That’s a weapon! Weapon! Schrie er und schlug wieder zu. Bei jedem Schlag zuckte ich zusammen, als täte es mir weh, und es tat mir weh, ich saß wie gelähmt und versuchte, die hochgestreckten Arme gegen die Ohren zu pressen. Das Mädchen neben mir lehnte seinen Oberarm an meinen. Wir sahen nicht hin, wenn geschlagen wurde, wir hörten nur das häßliche Klatschen von Fleisch und Knochen gegen Fleisch und Knochen-[…]. (Delius 2014b [1987]: 234) 84 3. Grundlagen literarischer Dynamik Lähmung, Abwehrreaktion, Wegsehen, Suche nach körperlichem Kontakt, Solidarität und Schutz: Es handelt sich um unreflektierte Reaktionen, durch die das Angstgefühl der zwei Frauen evoziert wird. Dank ihrer Verinnerlichung der semantischen Codierung der Angst, auf die wir uns oben bezogen haben, können die Leser und Leserinnen dieses Gefühl der Figur unmittelbar erkennen. Zugleich geschieht auch etwas anderes: Der schnelle Rhythmus der Narration, die knappen Sätze, die Reihenfolge der Aktionen, die reduzierte Verwendung von Adjektiven bilden die erzählerische Strategie, durch die der Text die Leser und Leserinnen an der Angst der Geisel nicht nur kognitiv, sondern auch emotional teilhaben lässt. Es geht also nicht um eine distanzierte Darstellung der Angst der Figuren, sondern um eine Erzählung, welche in den Rezipienten und Rezipientinnen-- gleichwohl nicht selber bedroht-- Spannung bewirkt und Empathie für die Figur erweckt. 3.2.3 Dynamiken der Angst und ihre literarische Tauglichkeit Angst wird allgemein als Reaktion eines gefährdeten-- individuellen oder kollektiven-- Subjektes aufgefasst, als unreflektierte aber nicht deswegen irrationale Antwort auf eine Gefahr, und für unsere Zwecke ist es erstmal von sekundärer Bedeutung, ob diese Gefahr reell oder bloß imaginär, konkret oder unbestimmt ist. Was uns in Bezug auf die Literatur hingegen interessiert, ist, die Dynamiken zu verstehen, die entstehen, wenn Angst im Spiel ist. Es sind nämlich diese Dynamiken, die sich von einem literarischen Gesichtspunkt aus als besonders produktiv erweisen. Wir beziehen uns sowohl auf Angst als Produkt einer Konfliktsituation als auch auf die Dynamik zwischen Lähmung und Bewegung. Wir fangen mit der Untersuchung der ersten Dynamik an: Eine Angstsituation beinhaltet die gleichzeitige Gegenwart und in manchen Fällen die Ko-Präsenz eines angstmachenden Subjektes-- oder auch eines Objektes, einer Situation, einer Figurenkonstellation- -, das die Gefahr repräsentiert, und eines sich ängstigenden Subjektes- - kollektiv oder individuell- -, welches das (potenzielle) Opfer der Bedrohung darstellt. Bei Angst entsteht also ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Polen und eine Konfliktsituation, die sich für eine literarische Verarbeitung besonders gut eignet, weil sie in nuce das Organisationsprinzip liefert, nach dem Narration, Handlung, Figurenkonstellation und psychologische Motivationen (von Handlungen und Verhaltensweisen) gestaltet werden können. Zu den vielen Gründen, warum sich der Terrorismus als ein besonders fruchtbares literarisches Thema erweist (vergleiche Hoeps 2001; Galli & Preußer 2006), zählt auch die Angst, die terroristische Anschläge und staatliche Abwehrreaktion auf der sozialen Ebene normalerweise auslösen. Beim Thema Terrorismus scheint nämlich die Lebenswelt selber jene Situationen und Konflikte zu bieten, auf denen literarische Texte oft aufgebaut sind. Ulrike Edschmids Frau mit Waffe. Zwei Geschichten aus terroristischen Zeiten (Edschmid 2001 [1996]) befindet sich an der Schnittstelle von Literatur und Realität und eignet sich besonders gut für eine Exemplifizierung des eben Behaupteten. Der unten zitierte Passus stammt aus der Erzählung I’m not gonna see you again. Nach den Gesprächen, die Edschmid mit der ehemaligen RAF -Angehörigen Astrid Proll über deren Leben geführt hat, schreibt sie dieses Leben in der Form einer (literarischen) Erzählung auf, die, gleichwohl die subjektive Perspektive der Protagonistin (und der Autorin) wiedergibt, was die Fakten angeht, 85 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung den Status objektiver Wirklichkeit jedoch nicht aufgibt. Das Zitat setzt in dem Moment an, als die Revision der Strafe von Andreas Baader, Gudrun Ensslin-- die später eine führende Rolle in der RAF hatten--, Thorwald Proll und Horst Söhnlein verworfen wird. Aus Protest gegen den USA -Krieg in Vietnam und die Bombardierung von Hanoi hatten sie am 2. April 1968 einen Frankfurter Supermarkt als Symbol der kapitalistischen Gesellschaft in Brand gesteckt. Sie wurden verhaftet, dann am 13. Juni 1969, in Erwartung der Revision der Strafe, provisorisch freigelassen und zu Sozialarbeiten verpflichtet. Nachdem die Revision verworfen wurde, entschieden sie sich für den bewaffneten Kampf und die Illegalität. Dann wurde die Revision verworfen.- […] Die Angst vor dem Gefängnis begann sofort. Morgen, dachten sie, würden sie verhaftet. Sie fühlten sich sofort verfolgt. Die Angst stand jetzt im Raum und bestimmte alles. An ihr wuchs die Staatsmacht zur riesigen Gefahr. Zwei Jahre Gefängnis wurden zur unüberwindbaren Hürde, vor der sie die Flucht ergriffen. Zwei Jahre erschienen ewig, so ewig, daß kein Gedanke so weit in die Zukunft hätte reichen können, um die zwei Jahre vergehen zu lassen-[…]. Jetzt kamen viele Menschen, die Ratschläge bereithielten, wohin zu fliehen sei. Von Schweden bis Algerien, alles wurde in Erwägung gezogen, aber es mußte ein Ort sein, an dem gekämpft wurde, und so führte die Angst vor zwei Jahren Gefängnis auf einen Weg, der ohne Wiederkehr war. Der Anfang vom Ende liegt hier. Alles wäre anders geworden, wenn es nicht diese Angst gegeben hätte und wenn das Gericht in Frankfurt eine Brücke zu seinen Gegnern hätte schlagen können, als sie noch keine Feinde waren. (Edschmid 2001 [1996]: 117f) Sowohl für diese Geschichte als auch für La Retrouvaille verwendet Ulrike Edschmid die Bezeichnung von biographischen Erzählungen (Edschmid 2001 [1996]: 7). Es geht dabei um eine außerliterarische Realität, die jene Züge aufzuweisen scheint, die es möglich machen, sie in der Form einer (literarischen) Geschichte zu präsentieren. Diese Geschichte, die nicht in der ersten, sondern in der dritten Person Singular geschrieben ist, erzählt unter anderem den „Anfang vom Ende“ (118), das heißt die Entscheidung zum bewaffneten Kampf. Bei der Lektüre wird es Ihnen wahrscheinlich aufgefallen sein, dass hier die Angst vor dem Gefängnis als Reaktion auf die Strenge des Gerichts präsentiert und als der eigentliche Motor der dramatischen Entwicklung der Geschichte dargestellt wird: In der vom Text gebotenen Interpretation verursacht sie die entscheidende Wendung der historischen Ereignisse, zugleich liefert sie der erzählten Geschichte ein strukturelles Prinzip: Sie bietet einen Zusammenhang zwischen den Fakten und stellt einen Punkt dar, bei dem die verschiedenen Figuren und Kollektive (Brandstifter, Staat, Freunde, Gesellschaft) zusammenfinden und zugleich gegeneinander agieren. Aus dem Vorhergehenden wird ersichtlich- - und wir kommen damit zur zweiten oben angedeuteten Dynamik- -, dass Lähmung und Erstarrung, welche zum Beispiel die Geiselfiguren in Delius’ Roman befallen, nicht die einzigen Reaktionen sind, die Angst bewirken kann. Auch das Gegenteil ist der Fall, und Edschmids Erzählung bietet ein Beispiel dafür, da ihr, der Angst, die Rolle des Motors der Ereignisse zugewiesen wird. In diesem Beispiel bleibt die Wirkung der Angst allerdings negativ, weil sie zur Schärfung der sozialen Konflikte, zu gewalttätigen Anschlägen, zur Tötung von anderen Menschen und, am Ende, zum Selbstmord der RAF -Anführer beziehungsweise -Anführerinnen führt. Von dieser besonderen Bedeutung abgesehen, herrscht in der Forschung allgemeiner Konsens darüber, dass Angst 86 3. Grundlagen literarischer Dynamik (zumindest potenziell) Fortschritt fördern kann (zum Thema vergleiche im Besonderen Goltschnigg 2012, der sich auf Kierkegaard beruft). Die Wahrnehmung einer Gefahr, die Angst auslöst, kann nämlich auch zur Suche nach Alternativen, zu Veränderungen, zur In-Frage- Stellung des Bestehenden und zur Betrachtung anderer Möglichkeiten anspornen. Ob dies für das von der Angst heimgesuchte Individuum oder Kollektiv einen positiven oder negativen Wert hat, lässt sich nicht abstrakt entscheiden, sondern ist von Mal zu Mal zu bestimmen. Was uns hier interessiert, ist, inwiefern sich diese Offenheit des Ausgangs als besonders produktiv für die Literatur erweist. Die Potenzialitäten, die der hier beschriebenen Dynamik der Angst innewohnen, nutzen nämlich besonders die Autoren und Autorinnen, die durch ihre Texte auf eine Kritik des Bestehenden, oder zumindest auf eine Auseinandersetzung damit, zielen (vergleiche unten im Besonderen die Beispiele von Dea Loher und Friedrich Christian Delius). Es ist wichtig hervorzuheben, dass es sich bei der hier exemplarisch behandelten Literatur überwiegend um Texte handelt, die Fiktion und historische Realität zwar miteinander verbinden, und meistens so, dass die Fiktion keinen Verrat an der historischen Wirklichkeit ausübt, aber gleichzeitig geht es nicht darum, diese Ereignisse, wenn auch nur auf eine symbolische (literarische) Weise, noch einmal aufleben zu lassen. Vielmehr versuchen die Texte-- nicht immer mit Erfolg--, Einsicht in die historischen Fakten zu gewähren, Kritik auszuüben, Alternativen zu erproben, die sich hätten ergeben können (oder, je nach Urteil über die Fakten, sich hätten ergeben sollen). Die Angst kann also unter anderem einen dynamischen Moment darstellen, an dem die Erwägung von verschiedenen, manchmal sogar entgegengesetzten Möglichkeiten ansetzen kann, und einige Autoren und Autorinnen haben das Potenzial der hier betrachteten Dynamik literarisch zu nutzen gewusst. Experiment Nehmen wir an, in der Textstelle aus Edschmids Erzählung gehe es nicht um historische Personen, sondern um rein fiktive Figuren. Diese Figuren sind zuerst verhaftet, dann freigesprochen, dann nochmal zum Gefängnis verurteilt worden. Die Perspektive des Gefängnisses löst in ihnen Angst aus und sie stehen vor einer Entscheidung. Versuchen Sie sich jetzt andere Entwicklungsmöglichkeiten der Geschichte vorzustellen als die, die bei Edschmid (und in der historischen Wirklichkeit) zu lesen ist. Es sollte aber um Entwicklungen gehen, die durch ein starkes Gefühl der Angst veranlasst werden. Durch dieses Experiment werden Sie selber die Potenzialitäten ahnen, die die Dynamiken der Angst der Literatur eröffnen. 3.2.4 Thematische Variationen Beim Phänomen Terrorismus spielt (soziale) Angst eine zentrale Rolle: Terror als „systematische Verbreitung von Angst u[nd] Schrecken durch Gewaltaktionen (bes. zur Erreichung politischer Ziele)“ (Duden 2001a: 1572) wird in terroristischen Aktionen sowohl zum Mittel des Kampfes als auch zur kommunikativen und politischen Strategie vonseiten der Täter erhoben (vergleiche Petersen 2013). Aber auch der staatliche Kampf gegen den Terrorismus 87 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung bedient sich der Angst (vor den Terroristen) als strategisches und kommunikatives Mittel. Es darf daher nicht verwundern, dass Angst auch eine wichtige Rolle in der Literatur spielt, welche die RAF -Thematik behandelt. In den Abschnitten 3.2.2 und 3.2.3 haben wir Beispiele untersucht, in denen Angst eine literarische strukturelle Funktion hat. Jetzt werden wir unser Augenmerk lediglich auf Angst als literarisches Thema richten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden wir im Folgenden einige wichtige Variationen des Themas in Betracht ziehen, die einen ersten Einblick in die Vielfalt gewähren, die die literarische Behandlung der Angst aufweist. Zwei verschiedenen thematischen Variationen sind wir schon durch die oben angeführten Beispiele begegnet: Angst des Opfers terroristischer Anschläge in Delius’ Roman Mogadischu Fensterplatz, Angst der Vollstrecker von Gewaltaktionen in Edschmids I’m not gonna see you again. Diesen werden im Folgenden drei weitere hinzugefügt. Angst als (rhetorisches Mittel der) Legitimation des bewaffneten Kampfes gegen den Staat Angst, keine Arbeit zu haben, Angst, keine Frau zu finden oder keinen Mann, Angst, seine Arbeit wieder zu verlieren, Angst jeden Morgen vor dem Aufstehen, Angst, dass man wieder hinter den Erwartungen zurückbleibt, die immer ein ganz wenig hoch sind-[…]. (Scholz 2001: 121) Diese Worte werden in Leander Scholz’ Roman Rosenfest (2001) durch den RAF -Gründer Andreas Baader ausgesprochen, der damit das Lebensgefühl des Durchschnittsmenschen in der damaligen BRD schildert. Seiner Meinung nach bietet die Angst dem Staat Nahrungsstoff: Der Staat, der das Leben der Einzelnen regiere, ohne sich dabei um ihr Wohlbefinden zu kümmern, wird nämlich von der Figur als die wahre Ursache dieser Angst betrachtet. Den Kampf seiner Gruppe gegen den Staat und dessen Symbole präsentiert Baader demzufolge als eine Form des Widerstandes gegen diese soziale Angst und als einen Ausdruck sozialen Mutes. Eine ähnliche Auffassung spricht die Figur Marie (die für die historische RAF -Anführerin Ulrike Marie Meinhof steht) in Dea Lohers Leviathan (1994) aus, wenn sie vor Christine (ihrer Schwester) der Brandstiftung des Frankfurter Supermarktes jeden politischen Wert abstreitet, ihr jedoch eine symbolische Bedeutung zuweist: Durch diese Aktion hätten die vier Brandstifter den Mut gezeigt, Änderungen herbeizuführen. In der Perspektive beider RAF - Gründer wird also die Überwindung der Angst als eine soziale Notwendigkeit dargestellt, die ihre Taten legitimiert. Hier folgt das Zitat aus Lohers Stück: MARIE -[…] Von wegen revolutionäres Bewußtsein reaktionär systemerhaltend nicht subversiv […] Das einzig wirklich Revolutionäre an der Brandstiftung war der Mut das Gesetz zu brechen ein Gesetz das nicht den Menschen schützt 88 3. Grundlagen literarischer Dynamik sondern das Eigentum die sanktionierten Grenzen des Protestes zu überschreiten der Wille zur Effizienz (Loher 2008 [1994]: 156) Angst und medialer Diskurs Terrorismus ist nicht nur eine Gesamtheit von Gewalttaten, in der modernen medialen Gesellschaft wird er auch zum Diskurs. Auch zur Zeit der RAF trugen die Medien (Fernsehen, Tageszeitungen, Zeitschriften) sehr stark dazu bei, die öffentliche Aufmerksamkeit auf terroristische Anschläge, auf die Opfer und auf die Täter zu lenken, und damit soziale Angst zu steigern. Terrorisierende Zeitungsschlagzeilen und Bilder waren an der Tagesordnung, und auch wenn die RAF eine letztendlich sehr kleine Gruppe blieb, bewirkte die Übertragung des Terrorismus auf den medialen Diskurs seine Allgegenwärtigkeit im Bewusstsein der Bevölkerung. Durch die Medialität gewann der Terrorismus einerseits an Bedrohlichkeit, andererseits an Popularität, er wurde zum Mythos, nicht nur des Bösen (vergleiche Galli & Preußer 2006). Gegen die terroristische Bedrohung bediente sich auch der Staat kommunikativer Strategien, die ein Angstszenarium entwarfen, das beabsichtigte, bei der Bevölkerung den staatlichen Kampf als Schutzaktion erscheinen zu lassen. Das Aufbauschen der Angst durch die Medien bildet ein wichtiges Thema in Friedrich Christian Delius’ Roman Ein Held der inneren Sicherheit (2014a [1981]). Der unten zitierte Text bezieht sich auf die Entführung des Vorsitzenden vom Verband der Menschenführer Alfred Büttinger und stellt kritisch dar, wie dieses Ereignis in den Tagesnachrichten alle anderen Nachrichten verdrängt. Die Kritik des Autors gilt dieser Verabsolutisierung des Terrorismus und seiner daraus folgenden Verwandlung in eine mediale Attraktion, die lediglich die Funktion hat, von anderen furchterregenden Nachrichten abzulenken: In den Fernsehnachrichten verschwanden die Nachrichten.-[…] Als gäbe es nur Büttinger und sonst nichts auf der Welt, verblaßten alle anderen Geschehnisse und die Nachrichten von den Geschehnissen. Amerikaner Russen Israelis, alle die Leute mit den Stammplätzen im Nachrichtenprogramm schrumpften zu Pygmäen. Die atomaren Bomben und alle Raketen waren von ein paar Pistolen in den Schatten gestellt. Der Ärger mit dem Widerstand gegen Kerntechnik war endlich weggeschoben, eine Nebenfrage des Terrors. Die ohne Arbeitsplatz winkten nur noch von fern aus dem hintersten Gang, unsichtbar wurden die Drogen, jeder unerwünschte Lärm war leicht zu verschweigen. All das bot nicht die Erregung, die Büttinger bieten sollte.-[…] Um dem Live-Krimi noch mehr Action zu geben, um die lüsternen Schrecken des Terrorspiels noch zu steigern, wurde jedem Zuschauer zusätzlich eine aktive Rolle zugewiesen als Fahnder oder Verdachtsperson. (Delius 2014a [1981]: 71) Angst als undefiniertes Lebensgefühl Als letztes Beispiel wird hier wieder eine Textstelle aus Dea Lohers Leviathan zitiert. Die sprechende Figur ist Christine, Maries Schwester, die vergeblich versucht hat, Marie davon abzuhalten, den Weg der Illegalität zu begehen und die Flucht zu ergreifen. Auf der anderen 89 3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung Seite fühlt sie, dass ihre Schwester ein Ziel hat, während sie selbst wegen einer anscheinend nicht begründeten Angst wie gelähmt ist. Diese Angst erzeugt eine Leerstelle, die Entscheidungen von Marie erscheinen jedoch im Vergleich zu dieser sinngerichtet wenn auch (selbst-) zerstörerisch. CHRISTINE Das Schlimmste ist daß ich es nicht genießen kann ich genieße das Leben nicht Ich wache auf und sehe einem Tag entgegen und es packt mich Angst statt mich zu freuen über jeden Morgen […]-ich sage mir es geht mir doch gut wie kaum einer wir leben nicht im Krieg ich habe Arbeit und Geld eine Wohnung ein Auto ich fahre in Urlaub ich habe Freunde und Geliebte ist alles da alles alles also warum warum gehe ich umher wie unter Tage Kopf eingezogen Schultern nach vorne die Wände rechts und links schränken jede Bewegung ein und über mir die steinernen Lasten von Jahrhunderten […] (Loher 2008 [1994]: 216 f) Das Gefühl einer existenziellen lähmenden Angst, das hier angesprochen wird, bildet ein wichtiges Thema in der behandelten Literatur. Allen Sicherheiten oder allem Luxus zum Trotz löst der Gedanke an die Zukunft eine Angst aus, und diese existenzielle Angst macht für Sinnangebote empfänglich, die wenigstens den Anschein haben, sie zu vertreiben. In dieser Erwartung nach Sinn erkennen einige Autoren und Autorinnen einen der Gründe der zweideutigen Attraktion, die die RAF trotz ihrer Gewalttaten bei vielen ausübte, und die von der Presse reichlich genutzt wurde. 90 3. Grundlagen literarischer Dynamik 3.2.5 Zusammenfassung ▶ Angst wird in der Literatur mittels Sprache erzeugt, wobei bestimmte erzählerische Strategien und auch die codierte Semantik der Angst zum Einsatz kommen. Letztere stellt vielfältige erzählerische oder dramaturgische Möglichkeiten zur Verfügung, um Angstgefühle zu beschreiben oder hervorzurufen, ohne diese explizit zu benennen. Eine Erzählung, die sich mit Angst befasst, bewirkt dadurch Spannung und weckt gleichzeitig Empathie für die in Angst lebende Figur. ▶ Die Dynamiken, die der Angst innewohnen, sind für die Literatur überaus produktiv. Bei diesen kann es sich sowohl um Angst als Produkt einer Konfliktsituation als auch um die Dynamik zwischen Lähmung und Bewegung handeln. Eine weitere Reaktion auf Angst kann auch die Suche nach Veränderungen, und damit die Förderung des Fortschritts, darstellen. In der Literatur kann so Kritik am Bestehenden geübt werden. ▶ Thematische Variationen der Angst als literarisches Thema sind vielfältig. Beispiele sind die Angst des Opfers terroristischer Anschläge, die Angst der Vollstrecker von Gewaltaktionen, die Angst als Legitimation des bewaffneten Kampfes gegen den Staat, die Angst und der mediale Diskurs oder die Angst als undefiniertes Lebensgefühl. 3.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle Bewerten Sie die folgenden Aussagen: Richtig oder falsch? 1. Angst ist ein interdisziplinäres Thema. Welche sind die wichtigsten Disziplinen, die sich mit ihr beschäftigen? 2. Wie würden Sie das Verhältnis von Angst und Literatur anhand der in dieser Lerneinheit behandelten literarischen Texten beschreiben? 3. Würden Sie der Behauptung zustimmen, dass es nicht möglich ist, Angst in der Literatur zu erkennen, wenn der Text den Begriff nicht explizit erwähnt? 4. Löst die literarische Darstellung einer Angstsituation oder einer sich fürchtenden Figur immer auch Angst in den Lesern und Leserinnen aus? 5. Welche Rolle spielt der mediale Diskurs in der Verbreitung sozialer Angst in Bezug auf Gefahren des Terrorismus? 91 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit Wie schon in den vorhergehenden Lerneinheiten 3.1 und 3.2 werden wir uns auch in Lerneinheit 3.3 auf das enge Verhältnis zwischen kulturellen und literarischen Dynamiken konzentrieren. Wir werden literarische Identitätskonstrukte behandeln und Texte aus dem 20. Jahrhundert betrachten, die eine enge, in manchen Fällen auch problematische Beziehung zwischen Identität und Heimat herstellen. Es geht dabei um komplexe und mehrfach konnotierte Themen, die im 20. Jahrhundert nicht selten eine ideologische Färbung erhalten haben. In den Grundlagen werden wir deswegen den Gebrauch dieser Begriffe definieren. In einem zweiten Teil wird die Beziehung zwischen Literatur, Heimat und Identität im 20. Jahrhundert in Grundzügen gezeichnet, von der Heimatkunst bis zur interkulturellen Literatur. Als Textmaterial werden wir schließlich im letzten Teil Beispiele heranziehen, die unterschiedliche Perspektiven auf das Thema liefern. Der Fokus wird bei der ideologischen Auffassung von Heimat und Identität liegen, die der nationalistischen Heimatkunstliteratur am Anfang des Jahrhunderts zugrunde lag. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Einblick in die kognitiven Assoziationen gewinnen, die Heimat und Identität hervorrufen; ▶ lernen, selbstverständliche Begriffe wie Identität und Heimat zu problematisieren und kritisch zu betrachten; ▶ die Rolle erkennen, die Literatur bei Identitätskonstruktionen haben kann; ▶ einen Überblick über die wichtigsten Tendenzen der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts in Bezug auf das behandelte Thema bekommen. 3.3.1 Grundlagen 1: Was sind literarische Identitätskonstrukte? In unserer Zeit ist die Verwendung des Begriffs Identität, sei er auf den Einzelnen oder auf eine Gruppe bezogen, zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Versucht man aber die Inhalte zu definieren, welche Identität ausmachen, dann stößt man nicht selten auf ungeahnte Schwierigkeiten, und der Begriff erweist sich als äußerst problematisch. Was macht ein bestimmtes Individuum aus? Was macht ein bestimmtes Kollektiv aus? Es sind Fragen, die meistens keine eindeutige Antwort zulassen, dennoch scheint der Begriff oft als unverzichtbar und wir sind an seinen Gebrauch gewöhnt. Für das Thema dieser Lerneinheit ist es deswegen besonders wichtig, sich dessen bewusst zu werden, was wir mit dem Begriff Identität normalerweise und meistens unreflektiert verbinden. Anders als bei den Themen der Lerneinheiten 3.1 und 3.2 handelt es sich beim Thema Identität um etwas, was die Schüler und Schülerinnen sehr gut von sich aus kennen: Vor allem die Schüler und Schülerinnen im pubertären Alter sind alltäglich mit identitären Problemen konfrontiert und, auch wenn sie es nicht immer wissen, treffen sie ständig Entscheidungen in Bezug auf die eigene Person und auf das Ver- 92 3. Grundlagen literarischer Dynamik hältnis, das sie zu ihrer Umwelt entwickeln. Es ist allerdings zu empfehlen, das Thema nicht (oder nicht nur) auf psychologischer und sozialer, sondern auch auf ästhetischer Ebene zu behandeln, damit der Bezug auf die Literatur verständlicher wird. Identität ist nämlich nicht nur durch eine innerliche, sondern auch durch eine äußere Dimension gekennzeichnet, dank der sie sich zu erkennen gibt. Dies bedeutet, dass Identität nicht nur ist, sondern auch dargestellt und dadurch für andere erkennbar gemacht wird. Auch Literatur kann ein Mittel der Darstellung von (realer oder fiktiver) Identität sein, und wenn wir hier den Ausdruck literarische Identitätskonstrukte verwenden, dann beziehen wir uns auf literarische Werke, die Identität (oder Identitätsvorstellungen) nicht nur thematisieren, sondern auch darstellen, entwerfen, oder auch nur fingieren, in manchen Fällen sogar dekonstruieren. Die Pluralform bezieht sich jedoch nicht nur auf die vielen Möglichkeiten, die Literatur im Hinblick auf das Thema zur Verfügung stehen, sondern auch auf die moderne Konzeption der Identität als relationaler, dynamischer, sich verändender Größe (für einen schnellen, aber genauen Überblick, vergleiche Bosse 2011). Es hat sich nämlich nunmehr die Idee durchgesetzt, dass sich Identität in der Interaktion mit anderen Menschen und mit der Umwelt formt und sich je nach Beziehungsgeflecht oder auch je nach Lebensmoment ändert, in dem wir uns jeweils befinden. Dementsprechend wird nicht mehr von einer Identitätssubstanz, sondern von dynamischen Identitätskonstruktionen oder Identitätsfabrikationen gesprochen (vergleiche Kimminich 2003). Diese modernen Begriffe enthalten in sich auch die Idee, dass Identität eine performative Seite hat, indem sie auch eine Frage der Selbstdarstellung und der jeweils gespielten Rolle im Umgang mit anderen ist (vergleiche unter anderem Goffmann 1959). Experiment Denken Sie an Situationen Ihres Lebens, in denen auch andere Menschen (Familie, Freunde und Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen) involviert sind und die sich sehr häufig auf ein und dieselbe Weise wiederholen. Es sollen natürlich keine intimen, eher alltägliche Situationen sein. Versuchen Sie jetzt das Muster zu identifizieren, das die Gleichheit dieser sich wiederholenden Situationen ausmacht: Was sind typische Gesten? Typische Handlungen? Typische Gespräche? Stellen Sie sich vor, ein neues Element würde die Wiederholung des Musters nicht gestatten. Worin könnte es bestehen? Was würde sich ändern? Wenn Sie wollen, können Sie die Situation und das Auftreten einer hypotetischen Änderung in theatralisierter Form darstellen. Dieses Experiment, das sich mit Schülern und Schülerinnen besonders gut wiederholen lässt, kann uns mit der Vorstellung der rollenhaften Identitätskonstruktion etwas vertrauter machen. 3.3.2 Grundlagen 2: Was bezeichnet der Begriff Heimat? Im Deutschen bezeichnet Heimat den Ort, in dem man geboren und aufgewachsen ist, zugleich drückt das Wort ein Gefühl der Zugehörigkeit zu jenem Ort aus. Wegen dieser gefühlsbeladenen Bedeutung gehört Heimat zu jenen deutschen Worten, von denen zu Recht behauptet wird, dass sie nicht in andere Sprachen übersetzbar sind. Was dem Begriff anhaftet, 93 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit ist nämlich die Idee einer intimen Verbindung zwischen dem Individuum und dem Ort, den es als seine Heimat bezeichnet. Der Begriff ist jedoch nicht nur lokal, sondern auch moralisch konnotiert: Er bezeichnet nämlich sowohl den Ort, als auch die Menschen, die dort leben und als eine Gemeinschaft aufgefasst werden, zu der man sich zugehörig fühlt und deren Werte man teilt. Aus diesem Grund kann Heimat auch ein metaphorischer Idealbegriff sein und sich auf den Ort beziehen, an dem man vielleicht nicht geboren wurde, zu dem man sich jedoch zugehörig fühlt. Heimat kann also auch eine auserwählte sein. Die gefühlsbeladene und moralische Konnotation der Heimat darf nicht verwundern: Indem sie den Schauplatz der Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen bildet und den Ort bezeichnet, an dem die ersten Erfahrungen von sich, von den anderen, also von der Welt gemacht werden, stellt Heimat auch schon deswegen einen Orientierungspunkt dar, weil man sie gut kennt und sich in ihr gut auskennt; sie bietet dem Menschen die ersten kulturellen Instrumente, die er braucht, um in der Natur überhaupt zu überleben. Demzufolge ist die Verbindung zwischen Heimat und Identität, die auch vielen literarischen Texten zugrundeliegt, nachvollziehbar (vergleiche Bausinger & Köstlin 1980). Der deutsche Begriff beinhaltet nämlich die Annahme einer kollektiven Identität, nach der die persönliche Identität geformt wird. Auf der anderen Seite haftet aber der Vorstellung von Heimat die Idee einer zeitresistenten Stabilität an, die im Kontrast zu der Identität als Konstruktion und dynamische Dimension steht. Anhand von einigen Beispielen werden wir uns im Folgenden auf dynamische und statische literarische Identitätskonstrukte in Bezug auf Heimat fokussieren. 3.3.3 Literatur, Heimat und Identität in Grundrissen Eingliederung in eine Gemeinschaft, Vertrautheit mit der umgebenden Welt, Harmonie zwischen den menschlichen Lebensrhythmen und den Rhythmen der Natur, Schutz vor dem Unbekannten: Es sind diese Werte, die in den Texten der Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts an ästhetischer Konkretion gewannen (zum Begriff Heimatliteratur vergleiche Charbon 2007 [2000]), zugleich auch zum Klischee degradierten. Es handelte sich um literarische Darstellungen einer Welt im Winkel, die durch auktoriale Gefühlsteilnahme am Schicksal der Figuren gekennzeichnet waren. Mit der Entstehung der Heimatkunstbewegung (vergleiche Rossbacher 1975) um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert erfuhren diese symbolischen Bedeutungen eine starke ideologische Schattierung: In der Zeit der radikalen sozio-ökonomischen Änderungen, die der Aufbruch der Moderne mit sich brachte-- denken Sie zum Beispiel an Lerneinheit 3.1 zum Kabarett und an die dort enthaltenen Bezüge auf die beschleunigten Rhythmen der (industrialisierten) Großstadt--, wurde Heimat nämlich mit einer politischen und nationalistischen Konnotation beladen, die dem Begriff bis zu diesem Zeitpunkt fremd war (vergleiche Grazzini 2009: 169). Noch stärker wurde die Ideologisierung der Heimat in den 1920er Jahren und im Nationalsozialismus: In dieser Zeit wurde Heimat zu einem aggressiven, chauvinistischen Schlagwort, das nicht nur einen klar eingeschränkten Ort (das heißt den Geburtsort) bezeichnete, sondern auf die ganze Nation bezogen wurde. Die nationalistische Rhetorik machte nämlich reichlichen Gebrauch davon, um bei den Deutschen (und den Österreichern beziehungsweise Österreicherinnen) ein 94 3. Grundlagen literarischer Dynamik nationales Einheitsgefühl und die Vorstellung einer kollektiven Identität zu erwecken. Die nationalsozialistische Vereinnahmung des Begriffs verhinderte allerdings nicht, dass gleich nach dem Krieg eine richtige Welle von Heimatromanen (und Heimatfilmen) produziert wurde, und Heimat zu einem Lieblingsthema der Trivialliteratur wurde (zum Thema Heimatliteratur nach 1945 vergleiche unter anderem Polheim 1989). Erst in den 1970er Jahren begann eine kritische Auseinandersetzung sowohl mit der idealisierenden, aber politisch harmlosen Tradition, als auch mit der aggressiven Ideologisierung der Vorkriegszeit, und in der sogenannten Anti-Heimat-Literatur wurde die traditionelle positive Konnotation des Wortes literarisch destruiert: Heimat wurde zum pejorativen Begriff und zum Synonym von Enge, Provinzialismus, Chauvinismus, Angst vor dem Fremden, woraus sich das Subjekt nur durch die Abwendung vom Geburtsort hätte retten können. Die Rolle der Heimat im Prozess der individuellen Identitätsbildung wurde im Grunde auch in der Anti-Heimat-Literatur nicht bestritten, aber ihr wurde jetzt eine negative Bedeutung zugemessen, sodass Literatur zum Mittel des (nicht immer gelungenen) Widerstands gegen die Vereinnahmnung des Subjekts durch die Welt der Heimat wurde. Heute können schon wieder neue Tendenzen festgestellt werden: Die wachsende historische Distanz zum Zweiten Weltkrieg lässt allmählich die Erinnerung an den nationalistischen, ideologischen Gebrauch des Wortes verblassen, ohne dass deswegen die Gefahr einer verharmlosenden idealisierenden literarischen Darstellung verkannt wird. Heimat stellt nicht mehr nur das Gute und auch nicht nur das Schlechte dar, und die Literatur, die den Bezug zur Heimat gestaltet, weist nicht selten eine neue Dynamik zwischen Gefühls- und Bewusstseinssprache auf. Es mag fast paradox wirken, dass die Autoren und Autorinnen, die der sogenannten interkulturellen (oder auch Migranten-)Literatur angehören, also aus der Fremde kommen, aber in deutscher Sprache schreiben, keinen unbedeutenden Beitrag in dieser Richtung leisten (zur interkulturellen Literatur vergleiche unter anderem Chiellino 2000; zum Thema Heimat in der interkulturellen Literatur vergleiche unter anderem Szöllösi 2014). 3.3.4 Tendenzen Zwischen Sehnsucht und kritischem Bewusstsein Viele Autoren und Autorinnen der interkulturellen Literatur haben nicht selten Erfahrungen von Vertreibung und Flucht oder auch von Migration aus wirtschaftlichen Gründen hinter sich und haben die (meistens nicht gewollte) Trennung von dem Ort, dem sie angehörten, literarisch verarbeitet. Nicht selten bringen ihre Werke eine Sehnsucht nach der verlorenen Heimat zum Ausdruck. Sehnsucht bedeutet aber nicht unbedingt Verklärung, und in der Tat tendieren viele Autoren und Autorinnen dieser Texten dazu, Heimat nicht auf akritische Weise und auch nicht vom ausschließlichen gefühlsgesteuerten Gesichtspunkt aus darzustellen. Oft wird hingegen die Idee von Heimat problematisiert und die Sehnsucht nach ihr geht mit dem Bewusstsein einher, dass eine Kluft die Idealvorstellung der Heimat von dem realen Ort trennt, und dass es auch deswegen nicht möglich ist, sich mit diesem Ort bedingungslos zu identifizieren. Die Erfahrung des Fremdseins, die Aneignung einer literarischen Sprache, die 95 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit nicht die Muttersprache ist, lässt aus der Entfernung einen Blick auf die Heimat werfen, der diese zudem hinterfragt. Die Literatur wird in manchen Fällen zum Mittel, auf der einen Seite den Ort der Sehnsucht oder die Erinnerung daran zu gestalten, auf der anderen sich mit dem Bewusstsein dessen auseinanderzusetzen, dass es irgendwann nicht mehr möglich wurde, in der Heimat weiterzuleben. Als Beispiel werden wir folgendes Zitat analysieren, das aus Erica Predettis Roman Engste Heimat (1995) stammt. Auch wenn Erica Predetti deutsche Muttersprachlerin ist, wird ihr Werk zu Recht als transnationale Literatur bezeichnet, in der sowohl Grenzüberschreitung als auch Heimat literarisch relevante Themen sind. Die Hauptfigur Anna-- eine fiktive Figur mit autobiographischen Zügen-- entscheidet sich dafür, die Schweiz zu verlassen, um nach Nordmähren zurückzukehren. Der Mauerfall macht diese Rückkehr zu dem Ort möglich, aus dem sie und ihre Familie als Sudetendeutsche vertrieben worden waren. Die zitierte Textstelle bringt das Schwanken der Figur zwischen angenehmen und schmerzvollen Erinnerungen an die Heimat und ihr Zögern im Moment der Entscheidung zur Rückkehr in die alte Heimat zum Ausdruck: Kehr dich nicht um, Anna, geh weiter! Du hast doch alles, es ist alles in dir drin, die Zimmer, zwei Gärten, Blumen, Blumen, die Müh, manchmal Qual beim Bergsteigen, Spieglitzer, Roter Berg, Altvater, Schäferei, und honigsüßes Bienenwachs im Mund, verläßlich gespeichert. Die Nacht ist rund mit Sternen ausgeschlagen. Wer wollte das jetzt ruinieren, den Anfang und ein schönes Stück weit Leben, vollständige, dir liebe Bilder mutwillig zerstören. Und die bösen Bilder? Chauvinismus, Nationalismus, der jahrelang schwelende, dann explodierende Haß auf allein Seiten, von einer Generation zur andern, von einem Regime zum nächsten Regime weitergegeben. Ich geh nicht hin. Schau nicht zurück, die alte Salzsäule, Vorsicht, paß auf, steht dort unausweichlich an meiner Stelle, unverrückbar. Engere Heimat, engste Heimat: alles Quatsch. Also wein ich lieber, die Nacht ist rund, vielleicht, hoffentlich lösen Tränen die Erstarrung auf. (Predetti 1995: 155f) Der Text produziert kontrastierende Bilder, die der Heimat und dem Heimatgefühl literarische Gestalt verleihen, zugleich die gefühlsbedingte Neigung zur Idealisierung nicht gestatten. Die Literatur wird hier zum Weg, durch den die Zugehörigkeit zur Heimat von neuem entschieden (oder nicht entschieden) werden kann, sie kann auf keinen Fall als ein für allemal gegeben betrachtet werden, wie das in der konservativen Heimatkunstliteratur oft der Fall war. Die zur Erstarrung führende Unsicherheit, ob die gefallene Entscheidung zurückzukehren sich als gut oder schlecht erweisen wird, ist eine Unsicherheit in Bezug auf die Heimat und auf das Selbst. Dadurch leistet diese Literatur eine Dynamisierung des Gedächtnisortes Heimat auf der einen Seite und der Identität der Figur auf der anderen. Diese Dynamisierung scheint die einzige Bedingung zu sein, durch die eine Beziehung zwischen persönlicher Identität und Heimat gerade noch hergestellt werden kann. Feste Identitätskonstrukte gegen die moderne Selbstentfremdung Im Abschnitt 3.3.3 haben wir darauf hingewiesen, dass der Begriff Heimat am Anfang des 20. Jahrhunderts stark politisiert wurde und im Laufe der vier folgenden Jahrzehnte eine ag- 96 3. Grundlagen literarischer Dynamik gressive, chauvinistische und ideologische Bedeutung erlangte. Es ist wichtig zu betonen, dass, wenn auch diese Ideologisierung überwiegend soziopolitisch und ökonomisch begründet war, sich Kultur und Literatur eifrig an ihr beteiligten. Auf die Erfahrungen der Moderne, die wir am Beispiel des Kabaretts untersucht haben, reagierten einige Autoren und Autorinnen mit einer stark konservativen Haltung. Sie erklärten den von Otto Julius Bierbaum gepriesenen Variéténerven (vergleiche Lerneinheit 3.1) den Kampf und bemühten sich darum, in ihren Werken eine kompakte und geschlossene Welt darzustellen, die im modernen Wirbel der Empfindungen und der Erfahrungen einen Halt bieten sollte. Der Großstadt, die den physischen und symbolischen Ort der Moderne und der mit ihr verbundenen Erfahrung der Selbstentfremdung darstellte, wurde die Agrarwelt der Heimat entgegensetzt: Das heimatliche Dorf wurde zum Symbol einer festen, tief verwurzelten Identität. Als Beispiel dieses Gefühls der Fremde, gegen das die Bindung an die Heimat schützen sollte, wird hier das Gedicht In einer fremden Stadt (1912) des frühexpressionistischen Dichters Ernst Blass (1890-1939) zitiert: Ich bin in eine fremde Stadt verschlagen. Die Straßen stehn mit Häusern. Weißer Himmel, Auf dem im Winde dünne Wolken ziehn. Im Abend: Rufe, Pfiffe, Bahngebimmel. In einem Café würden Melodien Mir heute die Begrüßung doch versagen. Ein Kellner käme fremd, was ich befehle: Vielleicht wär wieder Angst in meiner Kehle. Ich gehe matt, zerschlagen hin auf realen Wegen. Menschen kommen mir abendlich entgegen. Pfiffe hör ich, Rufe, wie im Traum. Ich spüre meine alte Angst noch kaum. Ich werde schlafen gehn, daß mich nichts wieder quäle. Ich kenne hier ja keine Menschenseele. (Blass 1912) Das lyrische Ich geht auf den Straßen einer Stadt, die es nicht mehr kennt, es ist Geräuschen (Pfiffen, Rufen, Bahngebimmel) ausgesetzt, die mit ihm in keinem Zusammenhang stehen: Der Verlust an Kontakt mit der umstehenden Realität lässt diese wie ein Traum vorkommen. Der Überschuss an Realität führt hier auf paradoxe Weise sowohl zu der Entsubstanzialisierung der Realität als auch des Subjekts. Als Ausweg wird der Schlaf angesehen, der die Idee des Todes hervorruft („daß mich nichts wieder quäle“). Der letzte Vers drückt ein Gefühl des extremen Alleinseins aus, und die Trennung von den anderen führt dahin, dass sich das 97 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit Subjekt auch von sich selbst getrennt fühlt. Dadurch bringt Blass etwas zum Ausdruck, was die Literatur der Moderne kennzeichnet: Die Selbstentfremdung des Subjekts, die (historisch bedingte) existenzielle Einsamkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins an eine Realität, zu der man keinen persönlichen Bezug mehr hat, die Unmöglichkeit, sich selbst zu spüren. Genau dieses Gefühl der Fremde und des Selbstverlusts versucht die Heimatkunstliteratur am Anfang des 20. Jahrhunderts abzuwenden. Man könnte fast sagen, sie versucht, die Zeit festzuhalten, und in der Tat ist sie eine Literatur der Rückkehr nach Hause, des Sich-Zurückziehens und des angeblichen Sich-Wieder-Findens. Um diese besondere Charakteristik zu veranschaulichen, lesen wir im Folgenden eine Stelle aus Friedrich Lienhards Wasgaufahrten (1895). Das erzählende Ich ist autobiographisch: Ein aus der Provinz stammender Dichter kehrt nach fünf Jahren in Berlin nach Hause zurück. Er hat das Selbstbewusstsein eines unverstandenen Genies, das in der Großstadt nicht den Erfolg gehabt hat, den es zu verdienen meint. Sein Misserfolg führt ihn nicht zu einer Revision seines Selbstbewusstseins, sondern zu einer Dämonisierung der Stadt, die in seinen Augen zu einem Ort wird, an dem Ethik, Einfachheit und Natürlichkeit völlig abwesend sind. Diese Dimensionen wird er erst wieder in seiner Heimat finden: Und man bekommt wieder Mut, bedachtsam zu sein, doppelt bedachtsam in einer Zeit, wo von allen Seiten aufgeregte Marktschreierei auf die unselige Menschheit eindringt; man fasst wieder Mut, sittenstolz zu sein, doppelt sittenstolz in einer Zeit, wo die Liederlichkeit wissenschaftlich entschuldigt wird; man wagt wieder schlichter und natürlicher Mensch zu sein, doppelt schlicht in einer Zeit, wo jeder dumme Junge sich für einen Übermenschen hält! / Aus diesen Empfindungen wurden Entschlüsse. Und diese Entschlüsse liefen in dem einen Entschluss zusammen: da draußen in meinem Wasgau mich zu sammeln und zu klären. Eines Morgens sah ich mich wieder in meinem elsässischen Dorfe. Und nach Monaten dumpfer Verbitterung taute mein Herz langsam auf und merkte mit etlicher Verwunderung, dass der Frühling noch immer die alten Herrlichkeiten gelassen über das alte Land warf. (Lienhard 1926 [1895]: 3 f) Bedachtsamkeit, Sittenstolz, Schlichtheit, Natürlichkeit, innere Beherrschung, Klärung: In der Ansicht, die Lienhard mit seiner Figur teilt, stellt die Heimat die einzige (und ewige) Garantie dieser Werte dar; sie ermöglicht dem Ich das zu sein, wofür es sich hält, und zwar ein sittliches Subjekt, das wieder Entschlüsse fassen kann und dessen Herz wieder zu fühlen beginnt. Der wiederkehrende Frühling, die alten Herrlichkeiten, das alte Land: Es ist eine zuverlässige Welt, die sich nicht ändert und fest steht, und die durch ihre Stabilität dem Subjekt die Kontur verleiht, die es in der Heimatlosigkeit in der Stadt zu verlieren riskierte. Der in der Großstadt unverstandene Dichter findet in der Heimat seine stabile, unveränderliche, durch seine Zugehörigkeit determinierte Identität wieder. Natürlich geht es dabei auch um ein literarisches Identitätskonstrukt, das jedoch seinen konstruierten Charakter verheimlichen soll. Die Heimatkunstliteratur inszeniert Identität als ein unveränderbares Naturgesetz, weil sie ihre Wurzeln in Blut und Boden hat. Ohne hier im Detail die Anti-Heimat-Literatur behandeln zu können, wird im Folgenden ein Textausschnitt aus Thomas Bernhards Zurückgekehrt zitiert, der ein besonders eklatantes Beispiel der gnadenlosen Kritik an der Idee von Heimat als heile und ethische Welt liefert. 98 3. Grundlagen literarischer Dynamik […]-Als [mein Freund] vor Jahren, von Heimweh geplagt, ankündigte, er werde Newcastle aufgeben, und in seine Heimat zurückkehren, habe ich ihn sofort telegrafisch vor einer Rückkehr in seine Heimat gewarnt und ihn darauf aufmerksam gemacht, daß diese seine Heimat in Wahrheit nurmehr noch eine gemeine Hölle sei, in welcher ununterbrochen der Geist verleumdet und die Wissenschaft und die Kunst vernichtet werden und daß seine Rückkehr sein Ende bedeutete. Er hat meinen Rat nicht gefolgt. Er ist ein todkranker Mann, für welchen schon jahrelang die Irrenanstalt Am Steinhof der ordentliche, gleichzeitig entsetzliche Wohnsitz ist. (Bernhard 1978: 179) Der Kontrast zu Lienhard ist so augenscheinlich und frappant, dass es hier eigentlich keines weiteren Kommentars bedarf. Es sei nur darauf hingewiesen, dass in der Perspektive des Textes die Engstirnigkeit der Heimat nicht nur den Tod der Wissenschaft und der Kunst bedeutet, sondern auch des Freundes, „der sich für seine Wissenschaft vollkommen aufopferte“ (Bernhard 1978: 179). Die Befriedigung des in der Heimatlosigkeit auftauchenden Heimwehgefühls verurteilt zum Wahnsinn, das heißt zum geistigen Tode und hiermit zur Zerstörung des Ichs. Die Wurzeln der Identität in Blut und Boden Die nationalsozialistische Literatur wird auch als Blut-und-Boden-Literatur bezeichnet, und die Biologisierung der Gebundenheit des Ichs an die Welt der Heimat war die Basis der nationalsozialistischen Idee der im Blut gegründeten persönlichen Identität und der kollektiven Identität, die hiermit den Charakter der Determination erhielten. Die Verbindung von Blut und Boden und ihr Verhältnis zur Literatur ist jedoch aus heutiger Sicht alles andere als selbstverständlich. Der zweite Teil des Gedichts Urheimat von der preußischen Dichterin Agnes Miegel (1879-1964) wird uns als Beispiel dienen, um diese Verbindung anschaulicher zu machen. Das Subjekt sie im ersten Vers bezieht sich auf die Urahnen. Das sie im zweiten Vers bezieht sich auf die Erde. Sie aber rangen keuchend mit der tollen Zermalmenden Urgewalt und zwangen sie Strömend von Schweiß, den sie leis witternd trank. Und lockte sie mit Spenden und Gesang Und mit Geduld. Und zähmten sich und sie. Bis ihrem Pfluge sich die Ackerschollen So willig wie ein Fell zum Streicheln boten. Bis ihre Kleinen sie wie Junge nährte Und still bewachte ihre schlafenden Toten. Und bis aus ihnen atmete dies Land Und es aus ihrem Mund den eigenen Namen fand. (Miegel 1996: 72) 99 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit Die Urahnen haben durch Arbeit und Schweiß die Urgewalt gezähmt, die aus dem Boden entsprang, den sie bewohnt haben. Menschen und Boden werden als Manifestationen dieser Urgewalt gesehen, sie gestalten sich gegenseitig und erreichen eine vollkommene Durchdringung, das heißt sie werden zu ein und derselben Sache. Das menschliche Werk hat die Erde bewohnbar gemacht, und diese bietet Nahrung und Bestattung: Von der Geburt bis zum Tod ist der Mensch an die Erde gebunden, die ihrerseits ihren Namen (also: ihre Identität) vom Menschen bekommt. Außerdem wird das Blut zur Garantie der Fortsetzung dieser Bindung durch die künftigen Generationen. Noch deutlicher wird dies bei den folgenden Versen aus dem Gedicht O ihr, aus deren Blut ich kam derselben Dichterin, in denen sich das lyrische Ich an die Urahnen wendet: Zersplittert fühlte ich mein Ich In euer Wesen tausendfach, Im dunkeln trieb und irrte ich Hundert verkreuzten Wegen nach-- Dann kam der Wille, der euch zwang Und mich empor zum Lichte hob. Und es war meines Namens Klang, Der euch zu eins in mir verwob. (Miegel 1996: 71) Das Ich fühlt sein Selbst im Wesen des Kollektivs der Ahnen verteilt. Die Ahnen sind mehr als ein Erinnerungsbild, sie sind konstitutiv für die persönliche (Selbst-)Erfahrung des Ichs und bilden die notwendige Bedingung seiner Identität. Zugleich ist es im Ich und in seinem Namen, dass sie ihre nicht nur biologische sondern auch moralische Einheit wiederfinden. Es geht um die völlige Übereinstimmung von persönlicher und kollektiver Identität, welche die Grundlage des Führergedankens bildete, den Agnes Miegel mit Begeisterung vertrat. 3.3.5 Zusammenfassung ▶ Identität formt sich in der Interaktion mit Menschen und der Umwelt und kann sich je nach Kontext ändern. Daher spricht man von dynamischen Identitätskonstruktionen. Identität hat eine performative Seite, indem sie eine Frage der Selbstdarstellung und der gespielten Rolle im Umgang mit anderen ist. Durch Literatur kann Identität dargestellt, entworfen, fingiert oder dekonstruiert werden. ▶ Heimat bezeichnet den Ort, und die Menschen, die dort leben und als eine Gemeinschaft aufgefasst werden, zu der man sich zugehörig fühlt und deren Werte man teilt. Heimat stellt einen Orientierungspunkt dar, da sie den Menschen die ersten kulturellen Instrumente zum Überleben bietet. 100 3. Grundlagen literarischer Dynamik 3.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Bitte erklären Sie anhand der behandelten Beispiele die identitätsstiftende Rolle, die Literatur spielen kann. 2. Welches Verhältnis besteht zwischen Heimat und Identität? 3. Welche Werte verband die Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts mit der Vorstellung von Heimat? 4. Wie wurden Heimat und Identität im Nationalsozialismus konnotiert? 5. Die Anti-Heimat-Literatur hält Heimat für einen harmlosen Begriff. Würden Sie dieser Behauptung zustimmen? ▶ Heimat hat in der Literatur des 20. Jahrhunderts eine wichtige, häufig problematische Rolle gespielt. Die Heimatliteratur des 19. Jahrhunderts war geprägt von Gemeinschaft, Vertrautheit mit der Umgebung, Harmonie zwischen Mensch und Natur und Schutz vor Unbekanntem. Um die Jahrhundertwende, in den 1920er Jahren sowie im Nationalsozialismus erfuhr Heimat eine ideologische Schattierung. In den 1970er Jahren setzte man sich in der Anti-Heimat-Literatur kritisch mit dem Begriff auseinander. 101 3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit 4. Grundlagen der Intermedialität Fredrik Land, Maren Eckart & Anneli Fjordevik […]-davon singet und saget, klinget und prediget, schreibet und leset, malet und zeichnet. (Martin Luther) Wir können nicht entscheiden, ob das was wir Wahrheit nennen, wahrhaftig Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint-… (Heinrich von Kleist: Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801) Kapitel 4 beschäftigt sich auf unterschiedliche Weise mit Intermedialität. Intermedialität beschreibt die Kommunikation, die durch Beziehungen unterschiedlicher Medien-Formen entsteht. Es ist Ziel des Kapitels, mit deutsch- oder englischsprachigen literarischen Werken als Ausgangspunkt, die medial umgesetzt wurden, den Begriff Intermedialität zu analysieren und zu problematisieren. Diesbezüglich werden ausgewählte literarische Texte und ihre Bearbeitungen in verschiedenen Genres und Medien besprochen und theoretisch beleuchtet. Lerneinheit 4.1 behandelt, wie Literatur, Bild und Film, Lerneinheit 4.2, wie Literatur und Musik und Lerneinheit 4.3, wie Literatur und neue Medien (zum Beispiel Fankultur und digitale Adaptionen) in Korrelation zueinander stehen. Der Fokus wird unter anderem auf den Mehrwert durch den Medienwechsel gerichtet, wodurch die Literatur als Ausdrucksform in einen größeren kulturellen und medialen Kontext gestellt wird. Beim Erzählen, das heißt bei der Repräsentation von (fiktionalen) Ereignissen, kann man sich unterschiedlichster medialer Träger bedienen, die vom mündlichen Erzählen und dem gedruckten Text bis hin zu audiovisuellen Darstellungsformen reichen. Jedes Medium stellt spezifische Formen und Gestaltungsmittel zur Verfügung, auch wenn die Ereignisfolge und der Stoff mehr oder weniger identisch sind und wenn über dieselben Ereignisse berichtet wird. Sie können beispielsweise Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig (1912) als gedruckten Text lesen, ihn als Hörbuch hören, sich Luchino Viscontis Verfilmung (1970) anschauen oder sich die Oper Death in Venice (1976) von Benjamin Britten anhören oder ansehen. Vielleicht erleben Sie die Umsetzung des Stoffes auch als Ballett (beispielsweise in der Inszenierung von John Neumeier (2003). Bei jeder medialen Umsetzung werden Sie andere Interpretationen kennenlernen, werden andere Sinne angesprochen, die von der Repräsentation des jeweiligen Mediums geprägt sind (und natürlich von den Deutungen, Auslassungen und Erweiterungen, die vonseiten der Mitwirkenden gegenüber der Ursprungserzählung vorgenommen worden sind). Es geht hier nicht um die Frage, welcher mediale Träger der Ereignisrepräsentation besser oder schlechter ist, sondern vielmehr darum, wie sich die Medien zueinander verhalten und wie mit dem Erzählstoff aufgrund medienspezifischer Besonderheiten umgegangen wird. Ehe in den Lerneinheiten Aspekte der Intermedialität behandelt werden, soll hier kurz auf die Thematik der Intertextualität hingewiesen werden, das heißt auf Bezüge von Texten zueinander. In der postmodernen Literaturwissenschaft gilt der Begriff Intertextualität als Grundeigenschaft von Literatur. Man geht davon aus, dass Texte immer mit Texten „reden“, 102 4. Grundlagen der Intermedialität also auf andere Texte Bezug nehmen. Intertextualität bezeichnet die Wechsel- oder Referenzbeziehung(en) zwischen Texten. Diese können auch außerliterarischer Art sein. Sie kennen sicherlich zahlreiche Beispiele für intertextuelle Bezüge, so nimmt beispielsweise Elfriede Jelineks Theaterstück Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaften (1979) sehr deutlich auf Henrik Ibsens Nora-- Ein Puppenheim (1879) Bezug, und James Joyces Roman Ulysses (1922) hätte ohne Homers Odyssee in der vorliegenden Form nicht entstehen können. Bei intertextuellen Bezügen, sei es durch direkte oder indirekte Zitate oder durch Anspielungen auf Namen aus anderen literarischen Werken, wird unter anderem davon ausgegangen, dass die Leser und Leserinnen den Text kennen, zu dem Referenzen erstellt werden. Beispielsweise finden sich in Paul Austers Roman City of Glass (1985) zahlreiche Referenzen zu Edgar Allen Poe sowie zu den amerikanischen sogenannten Tranzendentalisten, vor allem zu Henry David Thoreau. Austers intertextuelle Anreicherung dient der Kontrastierung, um die Erfahrung einer zerrissenen Wirklichkeit, welche in postmoderner Ästhetik ausgedrückt wird, hervorzuheben. Die Bezüge zu Poe zeigen sich darin, dass in City of Glass eine der Hauptfiguren William Wilson heißt, welches wiederum der Titel einer Erzählung Poes ist. Während Poes Ansicht nach jede gute Kriminalgeschichte auf ein sorgfältiges Studium von Details baut und man aus diesen Details Muster erkennen kann und sich somit ein Sinn hinter dem mutmaßlichen Chaos verbirgt, so ist es in Austers Roman genau umgekehrt: Je mehr Details hier studiert werden, umso verwirrender und chaotischer entpuppt sich alles. Es geht um den Versuch einer Sinngebung, wo kein offenbarer Sinn vorliegt. Auf ähnliche Weise arbeitet Auster mit Thoreaus Roman Walden (1854), in dem ein eremitisch zurückgezogenes Leben im nahezu kosmischen Einklang mit Gott, dem Sein und der Natur beschrieben wird. In City of Glass hingegen wird die Einheit so weit zerrissen, dass nicht nur Identitäten in Frage gestellt werden, sondern auch die Struktur des Romans auseinanderbricht. Die in der Vorlage angestrebte Einheit wird bei Auster zu einer Illusion, und selbst die Wirklichkeit ist eine konstruierte. Austers Roman vermittelt mithilfe intertextueller Bezüge die Botschaft, dass Wahrheit, Sinn und Kohärenz von jedem einzelnen geschaffen werden müssen. In dem vorliegenden Kapitel gehen wir von der Intertextualität, der Text-zu-Text-Beziehung, sozusagen einen Schritt weiter zur Intermedialität und beschäftigen uns damit, was passiert, wenn ein Erzählstoff in andere Medien transponiert wird oder mit ihnen korreliert. 103 4.1 Literatur, Bild und Film 4.1 Literatur, Bild und Film Der Filmsehende liest Erzählungen anders. Aber auch der Erzählungen schreibt, ist seinerseits ein Filmsehender. (Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozess) Von der Vergangenheit bis in die Gegenwart sind die Bezüge zwischen literarischen Texten und visuellen Werken nahezu unerschöpflich. Sie unterliegen einem ständigen Wandel oder verschmelzen miteinander im Zuge einer zunehmend digitalisierten Welt, und es kommt zu neuen (multi-)medialen Ausdrucksformen. In der vorliegenden Lerneinheit 4.1 geht es vornehmlich darum, zu analysieren und zu problematisieren, was im Medienwechsel Literatur-Bild-Film mit dem Erzählstoff passiert, was im jeweiligen Medium den Mehrwert ausmacht und wie sich die unterschiedlichen Medien gegenseitig beeinflussen können. Die Lerneinheit nimmt ihren Ausgang in der Literaturwissenschaft und in deutsch- oder englischsprachigen literarischen Werken. Von Ihnen wird daher nicht erwartet, dass Sie mit Begriffen und Analyseverfahren der Filmwissenschaft eingehend vertraut sind. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ grundlegende Begriffe innerhalb der Intermedialitätsforschung erklären können; ▶ mit einem literarischen Text und dessen Verfilmung(en) gearbeitet und diese eingehend analysiert haben, sodass Sie den Mehrwert dieses Medienwechsels diskutieren können. 4.1.1 Hintergrund und Terminologie Von der Vergangenheit bis in die Gegenwart sind die Bezüge zwischen literarischen Texten und visuellen Werken nahezu unerschöpflich, und sie ändern sich ständig, zumal es im Zuge einer zunehmend digitalisierten Welt zu immer mehr Vermischungen und Verschmelzungen künstlerisch-ästhetischer Ausdrucksformen kommt. Das Phänomen der Intermedialität an sich ist allerdings nicht neu, und so kann man bereits die Reformation als ein multimediales Ereignis betrachten. Die Reformatoren bedienten sich neben dem gesprochenen, geschriebenen und gedruckten Wort auch der Bildmedien wie der Druckgrafik bei Bibeldrucken und Flugblättern (als derzeit neues Medium) und betonten zudem die Bedeutung der Musik und des Gesanges für das auf ein Seelenheil ausgerichtete Leben der Gläubigen. Einige Jahrhunderte später, in der Epoche der Romantik, spricht man vom ästhetischen Ideal eines Gesamtkunstwerkes, der Verschmelzung unterschiedlicher Medien und Ausdrucksformen in einem von der Struktur eher offenen Kunstwerk. Man machte sich schon früh Gedanken über die Unterschiede verschiedener Medien, was unter anderem in der Poetik verschiedener Epochen zum Ausdruck gebracht wurde. „Uns Dichtern scheint es unbegreiflich, wie ihr euch entschließen könnt, ihr lieben Maler, deren Kampf etwas so Unendliches ist, jahrelang zuzu- 104 4. Grundlagen der Intermedialität bringen mit dem Geschäft, die Werke eurer großen Meister zu kopieren“-- so fängt der Brief eines jungen Dichters an einen jungen Maler an, der im Jahre 1810 von dem deutschen Dichter und Dramatiker Heinrich von Kleist geschrieben wurde (Kleist 2001 [1810]: 336). Kleist stellt hier das geschriebene Wort (die Poesie) der Malerei gegenüber. Einige Jahrzehnte früher hatte Gotthold Ephraim Lessing in Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) die Unterschiede der Literatur und Malerei theoretisch verglichen, nachdem in den Schriften von unter anderem Johann Jakob Breitinger (Critische Dichtkunst 1740) und Johann Joachim Winckelmann (Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 1755) die Überlegenheit der Malerei hervorgehoben worden war. Lessing betont hier die unterschiedlichen formalen Bedingungen der beiden Künste (Dichtung und Malerei) und kommt zum Schluss, dass sie ausgehend von ihren jeweiligen Ausdrucksmitteln unterschiedliche Themen behandeln: Die Malerei hat eher unbewegliche Gegenstände zum Thema und kann nur einen einzigen Moment wiedergeben. Die Dichtung dagegen ordnet Handlungen, Ideen etc. aufeinanderfolgend in der Zeit und kann einen großen Zeitraum mit Personencharakterisierungen und Gedanken wiedergeben. Etwas vereinfacht könnte man sagen, die Malerei arbeitet im Raum und die Dichtung in der Zeit. Die Darstellung von Schmerz in der Beschreibung von Laokoons Schicksal erweckt laut Lessing im Leser oder in der Leserin Mitleid und diese Empathie führt wiederum zur Läuterung des Menschen. Lessing ist daher mit dem Idealismus der Aufklärung der Ansicht, dass die Literatur in besonderer Weise den Menschen zum Positiven verändern kann. Nun zurück zum Brief, den Kleist vor gut 200 Jahren schrieb: Es geht ihm hauptsächlich nicht darum, welches Medium das bessere ist, sondern ihm geht es vor allem darum, wie man mit den Medien umgeht: Er kritisiert das Kopieren der Maler und meint, dass so eine Vorgehensweise den Dichtern völlig unmöglich wäre. Kleist erkennt in der Arbeit der jungen Maler einen doppelten Gebrauch des Bildes: „einmal der, den ihr davon macht, nämlich die Züge desselben nachzuschreiben, um euch die Fertigkeit der malerischen Schrift einzulernen; und dann in seinem Geist, gleich vom Anfang herein, nachzuerfinden“ (Kleist 2001 [1810]: 336). Kleists Auffassung ist jedoch, den ersten Schritt (das Kopieren) ganz wegzulassen, denn die jungen Maler müssen über ihren Meister (Kleist nennt als Beispiele Raphael und Corregge) hinweg, über sie hinaus, wirken: „da ihr euch doch ganz und gar umkehren, mit dem Rücken gegen ihn stellen, und, in diametral entgegengesetzter Richtung, den Gipfel der Kunst, den ihr im Auge habt, auffinden und ersteigen könntet“ (Kleist 2001 [1810]: 337). Im Folgenden werden wir uns in dieser Lerneinheit mit ähnlichen Themen beschäftigen, nämlich mit intermedialen Phänomenen, die Literatur und Bildmedien betreffen. Man kann Intermedialität im Hinblick auf Literatur, Bild und Film in drei Unterformen unterteilen: Sie kann zum einen eine Gleichzeitigkeit der Ausdrucksformen, eine Medienkombination, sein, wobei beide / sämtliche Medien im entstehenden Produkt präsent sind, wie Comics, Bilderbücher, Graphic Novels, audiovisuelle Musikvideos, Filme, Computerspiele oder Opernvorstellungen. Zum andern kann Intermedialität ein gezielter Medienwechsel sein, der dann besteht, wenn eine Transformation und Adaption eines bestimmten Inhalts durch die Anpassung an ein anderes Medium stattfindet, wobei nur letzteres materiell präsent ist. In dem Film The Reader (2008) in Regie von Stephen Daldry wird beispielsweise mit 105 4.1 Literatur, Bild und Film gewissen Abweichungen, Selektionen und Akzentuierungen die gleiche Handlung wie in Bernhard Schlinks Roman Der Vorleser (1995) erzählt. Hier ist der ursprüngliche Stoff in ein anderes Medium transformiert worden. Man kann sich allerdings bei Verfilmungen fragen, inwiefern tatsächlich dieselbe Geschichte erzählt wird, denn im Medienwechsel spielen auch semiotische Differenzen des medienspezifischen Zeichensystems mit ein. Schließlich gibt es die intermedialen Bezüge, zum Beispiel, wenn ein literarischer Text sich auf einen bestimmten Film oder ein Film sich auf die Malerei bezieht. Es wird also innerhalb eines bezugnehmenden Mediums auf ein anderes (Bezugs-)Medium verwiesen, auch wenn das Zeichensystem des Bezugsmediums in der Regel nicht in Erscheinung tritt. Ausgehend von dieser Systematisierung unterscheiden Berndt & Tonger-Erk in ihrer Einführung zur Intertextualität (2013) zwei mögliche Bezugnahmen: Die Referenz, die darin besteht, dass ein literarischer Text andere Medien zitiert, und die Performanz, bei der ein literarischer Text andere Medien inszeniert. Performanz findet beispielsweise statt, wenn in der Literatur filmische Zeichen mit sprachlichen Mitteln imitiert und reflektiert werden; so kann ein narrativer Montagestil einen subjektiven Kamerablick und schnelle Schnitt- und Perspektivenwechsel nachahmen. Bei Performanz handelt es sich also um eine Imitation oder Reflexion des anderen Mediums, beispielsweise ist das Erzählen in Frank Millers Graphic-Novel Sin City (1991-1992) eine Adaption filmischen Erzählens und gleicht in seiner narrativen Struktur zugleich Comics. Performanz kann auch dergestalt sein, dass ein Text bewusst von der Struktur her so aufgebaut wird wie die Komposition eines Musikstückes. Sowohl in den Werken Thomas Manns als auch bei Günter Grass wird narrativ mit derartigen Verfahren experimentiert. Referenz und Performanz sind bei der Analyse von Intermedialität zentrale Begriffe. Es gibt zahlreiche Varianten der Intermedialität in Bezug auf Literatur, Bild und Film. Bei Medienzitaten handelt es sich um die direkte Einzelreferenz (ohne erklärende Systemreferenz) auf ein anderes Medium, dabei können Bilder, Filme oder Musik in den literarischen Text mit einfließen. Ein Beispiel ist W. G. Sebalds Roman Austerlitz (2001), bei dem die textuelle Narration grenzüberschreitend mit Fotos und Zeichnungen sowie zahlreichen Daten und Bildquellen angereichert ist. Man spricht von Ekphrase oder Ekphrasis, wenn ein Werk der visuellen bildenden Kunst in literarischen Werken beschrieben wird. Ein derartiges Beispiel findet sich in Max Frischs Roman Homo Faber (1957), in dem die Hauptfigur in einem Museum einen antiken Skulpturenkopf einer schlafenden Erinnye erblickt: „Hier fand ich: Großartig, ganz großartig, beeindruckend, famos, tief beeindruckend. Es war ein steinerner Mädchenkopf, so gelegt, daß man darauf blickt wie auf das Gesicht einer schlafenden Frau, wenn man sich auf die Ellenbogen stützt-[…]“ (1977: 111). In der Intramedialität geht es um Bezugnahmen auf dasselbe Medium, zum Beispiel, wenn ein Gemälde sich auf ein anderes Gemälde bezieht, beispielsweise in Paraphrasen, mit denen sich Künstler und Künstlerinnen neuschöpferisch mit anderen, häufig bekannten, Werken auseinandersetzten. Denken Sie zum Beispiel an Salvador Dalis Mona Lisa oder Andy Warhols Popart Umsetzung von Botticellis Geburt der Venus. Transmedialität wiederum beschreibt medienunspezifische „Wanderphänomene“, wie das Auftreten des gleichen Stoffs in unterschiedlichen Medien. Dies wird besonders deutlich beim Faust-Stoff, den Goethe als 106 4. Grundlagen der Intermedialität Marionettentheater gesehen hatte, ehe er selber verschiedene Fassungen (Urfaust, Faust I und Faust II ) schrieb, und zu dem es nicht nur zahllose intertextuelle literarische Bearbeitungen, sondern auch Opern, Ballette, Comics und Filme etc. gibt. Der Übergang von einem Medium in ein anderes beziehungsweise in andere wird an folgendem Beispiel besonders deutlich: In Charlotte Brontës berühmtem Roman Jane Eyre (1847) kommt unter anderem Bertha Mason als Nebenfigur vor. In Jean Rhys Roman Wide Sargosso Sea (1966) wird der Fokus auf Bertha Mason, auf ihre Perspektive und ihre Geschichte gerichtet. Diese Geschichte wurde 1993 nicht nur verfilmt, sondern 1997 auch medial zu einer Oper mit Musik von Brian Howard transponiert, dann wiederum interessierte sich die BBC für den Stoff, und Margaret Busby machte 2004 ein Radio-Feuilleton daraus, wonach es 2006 von Brendan Maher zu einer Fernsehserie umgesetzt wurde. Und wenn dies nicht genug wäre: Darüber hinaus handelt ein Song des Rocksängers Steve Nick aus dem Jahr 2011 sowohl von dem Roman als auch von dem Film. In Zeiten medialer Schnelllebigkeit und Interaktion sind wir heute vermutlich mehr denn je zuvor an intermediale Transformationen gewöhnt; Medien greifen ineinander über, überschneiden und vermischen sich und auch unser Medienverhalten und unsere Medienkompetenz sind davon geprägt, dass wir uns zahlreicher Medien parallel zueinander bedienen und die jeweiligen Eigenarten medialer Ausdrucksformen gezielt anwenden beziehungsweise verstehen. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie ein Erzählstoff medial transponiert und weitergeführt werden kann; denken Sie zum Beispiel an die medialen Transformationen des Romans Lord of the Rings, der nach der Verfilmung von Tolkiens literarischer Trilogie (1954) nicht nur als Musik von Howard Shore Verbreitung fand, sondern auch in vielen, variationsreichen Computerspielen ein eigenes und zugleich intermediales Leben führt. Mediale Umsetzungen und Adaptionen können in beliebige Richtungen gehen; als ein Beispiel dafür dienen die Filme Lara Croft: Tomb Raider (2001) mit der Fortsetzung Lara Croft: Tomb Raider-- Die Wiege des Lebens (2003), welche Tomb Raider-Computerspiele als Vorlage haben. 4.1.2 Beziehungsmuster zwischen Literatur und Film Auf die Frage „Hast du das Buch gelesen? “, hört man ab und zu die Antwort, „Nein, aber ich habe den Film gesehen“. Diese Aussage deutet darauf hin, dass man die Medien gleichstellt und als austauschbar betrachtet, was allerdings das Ausdruckspotenzial des jeweiligen Mediums verkennt. Zwischen Film und Literatur lassen sich allerdings keine Gleichheitszeichen setzen. Das Filmmedium beziehungsweise das Kino geriet jedoch vor gut 100 Jahren in ein offenes Konkurrenzverhältnis zum Medium Literatur in der sogenannten Kino-Debatte 1909-1929: Autoren, Journalisten sowie Literatur- und Kulturkritiker versuchten die Medien Literatur und Film miteinander zu vergleichen und voneinander abzugrenzen, dabei bestanden aber auch immer gleitende Übergänge zwischen den Medien und nicht selten wurden Autoren als Drehbuchautoren engagiert, um das Ansehen des Films zu steigern. Heutzutage fokussiert man nicht länger auf ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Medien, sondern man interessiert sich in der Forschung vor allem für Kontinuitäten und Veränderungen im Medientransfer, das heißt in der Medienüberführung, und auf die medienspezifischen Dar- 107 4.1 Literatur, Bild und Film stellungsformen. Allerdings gilt festzustellen, dass das Medium der gedruckten Literatur seine jahrhundertelange Vorrangstellung als Leitmedium inzwischen zugunsten des Films und neuer digitaler Medien verloren hat. Das jeweils dominierende Medium ist insofern interessant, als es kollektiv das Bewusstsein, die Wahrnehmung und die Erfahrungen einer Gesellschaft prägt und kulturelle Referenzrahmen erstellt. Geht man von einem erweiterten Literaturbegriff aus, der unterschiedlichste Formen des Erzählens sowie auch nonfiktionale Texte inkludiert, dann ist der Schritt, beispielsweise vom Roman zum Drehbuch und Script bis hin zum filmischen Erzählen allerdings nicht allzu weit, auch wenn sich die Ausdrucksmöglichkeiten der Medien unterscheiden. Im Unterschied zum monomedialen Text in traditionell gedruckter Form (bei digitalen Hypertexten entwickeln sich neue Variablen) ist das Medium Film plurimedial und als eine gemischte Kunstform zu verstehen, bei der sich visuelle und auditive Zeichensysteme miteinander verbinden. Die Adaptionen gehen nicht nur in eine Richtung von der Literatur zum Film, sondern auch umgekehrt, reziprok und wechselwirkend. Filme können narrative Erzählformen übernehmen, beispielsweise mit einer kommentierenden Erzählerstimme, und Romane können filmisch erzählen. Das Lesen erfordert sozusagen von den Rezipienten bisweilen eine filmische Kompetenz, um zu erkennen, ob in den Texten wie in einem Filmmanuskript erzählt wird und ob der Text im filmischen Schreiben narrativ filmische Darstellungen sowie Gestaltungstechniken nachahmt. In diesem Sinne ist die Faszination für das filmische Erzählen und die Affinität zum filmischen Erzählen bereits in den Romanen von Irmgard Keun aus den 1930er Jahren deutlich zu erkennen. Im Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) sagt die Hauptfigur Doris: „[I]ch will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.-[…] Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino-- ich sehe mich in Bildern“ (2012 [1932]: 8). Keun lässt im Roman die Handlung in kleinen Szenen filmisch rasch aufeinander folgen, und man hat durch die narrative Vermittlung als Leser oder Leserin nahezu visuell beim Lesen viele Bilder vor sich, hört Geräusche und fragmentarische Lieder. Auch in Hermann Hesses Roman Der Steppenwolf (1927) ist bereits der Einfluss des Mediums Film bei der narrativen Schilderung der Ereignisse im magischen Theater unverkennbar und in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (1929) erinnert die rasche, visuelle, lebhafte Szenenbeschreibung an einen Film. Das Leitmedium Film und neue digitale Medien haben seit langem schon ihre Spuren in der Literatur hinterlassen, und besonders in der Popliteratur, zum Beispiel in Christian Krachts Roman Faserland (1995) finden sich zahlreiche (unerklärte) Medienreferenzen und -zitate, die sich auf das Filmmedium beziehen; auch die literarischen Hauptfiguren inszenieren sich nicht selten als Filmsehende. Das Zusammenwirken von Literatur und Film spielt auch bei der kommerziellen Vermarktung eine Rolle und wird dadurch ersichtlich, dass nach einer Verfilmung nicht selten Filmfotos auf dem Buchdeckel abgebildet werden. Zugleich stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß bei uns als Rezipienten und Rezipientinnen von Literatur unsere Filmkompetenz und -erwartung in den Akt des Lesens mit hineinspielt. Filme basieren häufig nicht nur auf Romanen, sondern können auch Comics als Vorlage haben. Filmisches Erzählen kann zudem, wie beispielsweise in Tom Tykwers Lola rennt (1998), Computerspielen gleichen, indem Handlungsstränge in verschiedenen Variationen 108 4. Grundlagen der Intermedialität miteinander verknüpft und dargestellt werden. Auch der Einfluss von Fernsehserien auf Filme oder die Umgestaltung von einem Filmmanuskript zu einem Roman verdeutlichen die ineinander verflochtenen Wechselbeziehungen der Medien. Es finden dabei spannende intermediale Prozesse und Umwandlungen statt, beispielsweise ist Sönke Wortmanns Film Das Wunder von Bern (2003) in ein gleichnamiges Musical transponiert worden; dies entspricht einem zunehmenden Trend, aus Filmen Musicals zu machen. Es kommt auch vor, dass ein literarischer Text verfilmt wird, um dann wieder ein Buch zu werden: Der Roman Push (1998) von Sapphire wurde nach seiner Verfilmung mit dem Titel Precious (2009) so beliebt, dass im Anschluss daran der Roman Precious. Based on the novel Push erschien (um wiederum Verwechslungen mit dem Science-Fiction-Thriller Push zu vermeiden). Ähnliches trifft auch auf die mediale Transponierung des Jugendromans Northern Lights (1995) von Philipp Pullman zu. Der Roman wurde unter dem Titel The Golden Compass (2007) verfilmt und Neuauflagen des Romans erschienen in Folge unter dem Filmtitel. Das (kommerzielle) Zusammenwirken von Text und Verfilmungen wird auch daraus ersichtlich, dass nach Verfilmungen Neuauflagen der literarischen Texte häufig mit Filmfotos auf dem Buchdeckel versehen sind. Stephan Kings Erstlingsroman Carrie (1974) wurde 1976 verfilmt und dann zu einer Fernsehserie. Im Jahr 2002 erschien eine neue, aktualisierte Fassung, welche die Handlung in das 21. Jahrhundert verlegt. Eine Neuverfilmung aus dem Jahr 2013 liegt wiederum dem Ursprungstext näher, wenngleich die Mädchen im Film als Beispiel der Aktualisierung eigene Filmszenen bei Youtube auslegen. 4.1.3 Filme als eigenständige künstlerische Werke, als Nacherzählungen oder Remakes Bei Verfilmungen literarischer Werke stellt sich die Frage, wie nah sich der Film an seine literarische Vorlage hält. Ist es „nur“ eine Nacherzählung in einem anderen Medium oder hat der Film eigene künstlerische Qualitäten, einen Mehrwert gegenüber dem Ursprungsmedium? Es versteht sich, dass bei einer medialen Umsetzung andere Komponenten des Erzählens mit hineinspielen; bei einem visuellen Medium muss anders erzählt werden, dabei kommen nicht nur Aspekte wie Musik und Ton zur visuellen Darstellung hinzu, sondern auch Zeit und Raum. Ein Roman kann sich über Jahrzehnte erstrecken und viele Nebenhandlungen (und auch Leerstellen) haben. Liest man ein Buch, kann man es beiseitelegen und beliebig im eigenen Rhythmus weiterlesen. Das Medium Buch wird anders rezipiert als ein kollektiv im Kino gesehener Film (auf Videos und digitale Varianten des individuellen Filmkonsums soll hier nicht eingegangen werden). Ein Film von Normallänge hat seine eigenen Voraussetzungen. Er ist in der Regel zeitlich auf circa 90 Minuten begrenzt und daher müssen in der Darstellung Schwerpunkte gesetzt werden. Es bestehen also organisatorische Differenzen zur Literatur. Es stellt sich zudem die Frage, wie im Film die narrative Chronologie einer Romanhandlung gehandhabt wird. Was passiert mit Leerstellen des Romans, wie wird mit häufig notwendigen Verkürzungen und Straffungen gearbeitet? Des Weiteren können bei Verfilmungen historische und kulturelle Differenzen zur Vorlage bestehen. Eine Romanverfilmung aus dem Jahr 2014 wird zweifellos anders erzählt und bedient sich anderer medientechnischer Mittel als eine Verfilmung der 1960er Jahre, und auch die Mediengewohnheiten der Rezipienten ha- 109 4.1 Literatur, Bild und Film ben sich geändert. Beispielsweise wird in Rainer Maria Fassbinders Film Effi Briest (1974), der auf Theodor Fontanes gleichnamigen Roman (1894) rekurriert, weitaus langsamer filmisch erzählt als in Hermine Huntgeburths Filmfassung (2009) mit dem gleichen Titel, in welcher sich diese wiederum die Freiheit eines anderen Endes als im Roman nimmt. Eine andere Frage ist, wie und in welcher Weise das Filmerlebnis das Leseerlebnis prägt. Es wird vielen Leserinnen und Lesern schwerfallen, Joanne K. Rowlings Harry Potter-Romane (1997, 1998, 1999 und 2000) zu lesen, nachdem man die Filme gesehen hat, ohne die filmischen Rolleninterpretationen vor Augen zu haben. Filme sprechen aber nicht nur mit ihren literarischen Vorlagen, sondern sie sind auch intramediale Auseinandersetzungen mit anderen filmischen Vorgängern, wodurch eine mediale Überschichtung stattfindet, indem die filmischen Literarturdeutungen der Vorlage korrigiert werden. Damit Filme in den USA kommerziell vermarktet werden können, ist es nicht ungewöhnlich, dass erfolgreiche ausländische Filme ein weiteres Mal verfilmt werden, allerdings nun mit amerikanischen Filmschauspielern und -schauspielerinnen. Ein Beispiel für ein derartiges Remake beziehungsweise eine Neuverfilmung ist der Hollywoodfilm The girl with the dragon tattoo von David Fincher (2011), nach dem schwedischen Film Män som hatar kvinnor (2009) (wörtliche Übersetzung: ‚Männer, die Frauen hassen‘, deutscher Filmtitel Verblendung), welcher als Verfilmung des gleichnamigen Buches vom schwedischen Krimi-Autor Stieg Larsson gedreht wurde. Die Handlung von Wim Wenders Filmklassiker Der Himmel über Berlin (1987) wird in der amerikanischen Filmfassung von Brad Silberling kurzerhand nach Los Angeles verlagert (City of Angels, 1998). Andere bekannte Remakes sind zeitgemäß modernisierte Fassungen alter Disneyklassiker, wie zum Beispiel Schneewittchen, welche letztendlich im Medienwechsel auf die Märchensammlung der Brüder Grimm rekurriert. Wieviel von Grimms Märchenfassung noch bei den modernen Disneyvarianten erkennbar bleibt und welche Akzentverschiebungen im Stoff, in der Moral und in der Figurenvorstellung vorhanden sind, sind interessante Fragen. Wenn Sie die spezifischen Darstellungsmittel des audiovisuellen Erzählens im Film untersuchen, können Sie Ihre Aufmerksamkeit beispielsweise auf folgende größere Bereiche (vergleiche Lahn & Meister 2008: 265 ff) richten und darüber nachdenken, was die spezifische Art des Erzählens in Bezug auf die Handlung oder den Erzählstoff bewirkt: ▶ Die Mittel der Bildgestaltung: Zum Beispiel die schauspielerische Leistung, Kostüme, Darstellung des Milieus und Kameraführung. Worauf wird der Fokus gerichtet? Wie ist der point of view? ▶ Die Mittel der Tongestaltung: Zum Beispiel die Auswahl und Komposition von Musik, Stimmen, Geräuschen und Soundeffekten. ▶ Die Kombination von Bild und Ton; zum Beispiel, ob es Sprecher beziehungsweise Sprecherinnen oder einen Off-ton (das heißt eine akustische Beschreibung der visuellen Gegenstände oder Informationen) oder Voice-Over (das heißt Kommentare von Figuren oder einer Erzählerstimme, die über die Szene gelegt werden) gibt. ▶ Die Erzählinstanz: Gibt es eine Erzählinstanz, die reflektierend oder kommentierend ist oder tritt diese zurück? Vielleicht erzählen auch mehrere Stimmen aus unterschiedlichen Perspektiven. 110 4. Grundlagen der Intermedialität ▶ Die Montage: Zum Beispiel wie die Handlungseinheit in Szenen und Sequenzen eingeteilt wird, ob es Parallelmontagen zwischen Ereignissen an verschiedenen Orten gibt oder ob Raffungen stattfinden. Wird kontinuierlich erzählt? ▶ Der Zeitaspekt: Zum Beispiel: Wie wird audiovisuell Zeit, Gegenwart und Vergangenheit gestaltet? Wann wird im Vergleich zum textuellen Erzählen gerafft oder gibt es Erweiterungen oder Wiederholungen? Gibt es zeitliche Sprünge? Wie ist das Erzähltempo? ▶ Die Kombination von Zeichenformen: Zum Beispiel, ob es computeranimierte Bilder, Collagen oder Standbilder gibt sowie Texte, die in den Film eingebaut werden. Vielleicht sind auch Dokumentarbilder in den Film eingefügt. 4.1.4 Medienkombination Bei Filmen kommt es nicht selten zu Medienkombinationen, die sich nicht nur auf Literatur, sondern auch auf andere Medien beziehen können. Beispielsweise wird in Carlos Sauras Spielfilm Carmen (1983) George Bizets gleichnamige Oper (1875) adaptiert und die Opernhandlung mit der Geschichte eines Opernensembles verwoben beziehungsweise überschichtet. Ein weiteres Beispiel der Medienkombination ist Francis Ford Coppolas Antikriegsfilm Apocalypse now (1979), in dem in einer Szene ein amerikanischer Hubschrauberanflug auf ein vietnamesisches Dorf unter der Musik von Richard Wagners Walkürenritt erfolgt. Die kriegerische Musik aus Wagners Oper Die Walküre (1870) soll zugleich daran erinnern, dass diese Klänge während der Nazi-Diktatur bei Propagandanachrichten der Deutschen Wochenschau als Hintergrundmusik bei der Schilderung der Luftangriffe auf Kreta dienten. Die aufputschende Musik dient intern im Film dazu, die angreifenden Soldaten auf den Angriff anzustimmen, zugleich hat die Musik die externe Funktion auf das Publikum in Anbetracht des historischen Kontextes, kriegerische Gewaltverherrlichung zu kritisieren. 4.1.5 Zusammenfassung ▶ Intermedialität im Hinblick auf Literatur, Bild und Film kann sowohl eine Medienkombination als auch ein gezielter Medienwechsel sein. Intermedialität findet auch statt, wenn innerhalb eines bezugnehmenden Mediums auf ein anderes Medium verwiesen wird, auch wenn das Zeichensystem des Bezugsmediums nicht in Erscheinung tritt. ▶ Referenz bedeutet, dass ein literarischer Text andere Medien zitiert; Performanz bedeutet, dass ein literarischer Text andere Medien inszeniert. ▶ In der heutigen medialen Schnelllebigkeit und Interaktion sind wir mehr denn je zuvor an intermediale Transformationen gewöhnt, welche unser Medienverhalten und unsere Medienkompetenz prägen. ▶ Zwischen Film und Literatur bestehen zahlreiche Unterschiede: Bei einem visuellen Medium muss anders erzählt werden; es kommen Aspekte wie Musik und Ton hinzu und auch Zeit und Raum gestalten sich anders. Das Medium Buch wird anders rezipiert als 111 4.1 Literatur, Bild und Film 4.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum kann man die Reformation als mediengebundenes und multimediales Ereignis betrachten? 2. Was unterscheidet-- nach Lessing-- die bildende Kunst von der Dichtung? 3. Ist die Verfilmung einer literarischen Vorlage eine Medienkombination oder ein Medienwechsel? 4. Wie nennt man es, wenn in einem Roman plötzlich eine Postkarte abgebildet wird? 5. Was ist aus intermedialen Gesichtspunkten kennzeichnend für Comics oder Graphic Novels? 6. Wie wurden die Märchen der Gebrüder Grimm (oder andere Märchen) transmedial umgesetzt? 7. Wie kann die Performanz eines Textes aussehen, der „wie Film“ erzählt? ein kollektiv im Kino gesehener Film. Außerdem können bei Verfilmungen historische und kulturelle Differenzen zur literarischen Vorlage bestehen. ▶ Filme sprechen nicht nur mit ihren literarischen Vorlagen, sondern sind auch intramediale Auseinandersetzungen mit anderen filmischen Vorgängern, wodurch eine mediale Überschichtung stattfindet, indem die filmischen Literarturdeutungen der Vorlage korrigiert werden. ▶ Adaptionen gehen nicht nur in Richtung Literatur zum Film, sondern auch umgekehrt, reziprok und wechselwirkend. 112 4. Grundlagen der Intermedialität 4.2 Literatur und Musik Längst habe ich-[…] eine eigene Rom-Karte im Kopf, meine geheime Karte der Klangräume. Wie ein Voyeur auf der Suche nach Bildern treibe ich mich, süchtig nach Tönen, in der Nähe bestimmter Häuser herum, um etwas Musik mitzubekommen. ( Hanns-Josef Ortheil: Die Erfindung des Lebens ) Die Mutter versteht selbst nichts von Musik, doch sie zwingt ihr Kind ins Geschirr dieser Musik. Es entwickelt sich ein fairer Rachekampf zwischen Mutter und Kind, denn das Kind weiß bald, daß es über seine Mutter musikalisch hinausgewachsen ist. Das Kind ist der Abgott seiner Mutter, welche dem Kind dafür nur geringe Gebühr abverlangt: sein Leben. ( Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin ) Lerneinheit 4.2 nimmt ihren Ausgang in der Literaturwissenschaft und in deutsch- oder englischsprachigen literarischen Werken. Von Ihnen wird daher nicht erwartet, dass Sie mit Begriffen und Analyseverfahren der Musikwissenschaft eingehend vertraut sind. In der vorliegenden Lerneinheit geht es vornehmlich darum, zu analysieren und zu problematisieren, was im Medienwechsel Literatur-Musik mit dem Erzählstoff passiert, was im jeweiligen Medium den Mehrwert ausmacht und wie sich Literatur und Musik gegenseitig beeinflussen können. In erster Linie denkt man bei der medialen Umsetzung von Literatur in Musik vor allem an das Zusammenwirken von Literatur und Musik, beispielsweise durch die Vertonung eines Gedichtes oder an Songtexte und weniger an eine vollkommene Transponierung von Literatur in nonverbale Musik. Wenn wir uns im Folgenden mit Aspekten des Medienwechsels und der Medienkombination beschäftigen, wird, wie in der Lerneinheit 4.1, in erster Linie von literarischen Werken ausgegangen und Aspekte der Referenz und der Performanz-- wie in Lerneinheit 4.1 erläutert-- werden mithilfe von Beispielen beleuchtet. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ grundlegende Begriffe innerhalb der Intermedialitätsforschung zur Thematik Literatur und Musik erklären können; ▶ mit einem literarischen Text und dessen Vertonung(en) gearbeitet und diesen eingehend analysiert haben, um den Mehrwert dieser Medienkombination beziehungsweise des Medienwechsels diskutieren zu können. 4.2.1 Hintergrund und Terminologie „Woher kommt Musik, und weshalb machen Menschen Musik? “- - mit dieser Frage, die 2004 in einem schwedischen Sommerradioprogramm gestellt wurde, löste der Filmregisseur Ingmar Bergmann eine Welle von Leserbriefen aus, in denen man sich mit dem Wesen und 113 4.2 Literatur und Musik den ästhetischen Qualitäten von Musik auseinandersetzte. Viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen ließen und lassen sich in ihrem künstlerischen Schaffen von Musik inspirieren, und es gibt zahlreiche mediale Ausdrucksformen, in denen Musik und Literatur miteinander verschmelzen. Reflexionen über das Zusammenwirken, aber auch über Kontraste zwischen Literatur und Musik sind nicht neu. Bereits um 1600 stritt man bezüglich der Vorrangstellung von Sprache oder Musik in Opern. Musik und Literatur werden in vielerlei Hinsicht häufig eng miteinander verbunden, sei es thematisch oder strukturell. In Elfriede Jelineks Roman Die Klavierspielerin (1983) wird Musik zu einem Machtmittel und einem Instrument der Unterdrückung, während es in Franz Grillparzers Der arme Spielmann (1848) um die Gewalt der Musik und um Wahnsinn geht. Thomas Manns Auseinandersetzung mit Richard Wagner führt zu einem leitmotivisch-musikalisch inspirierten Schreiben. Haruki Murakamis Roman Norwegian Wood (1987) wiederum setzt mehr oder weniger voraus, dass man als Leser oder Leserin intermedial mit dem Beatles-Song Norwegian Wood (This Bird Has Flown) von Lennon & McCartney vertraut ist. Der Song wird mehrfach im Roman erwähnt und ist das Lieblingslied der Hauptfigur Naoko. Zwischen (rhythmisierter) Sprache, Literatur und Musik besteht seit jeher eine starke Affinität. Bereits im antiken Griechenland wurden Dichtungen musikalisch von einer Lyra oder Kithara begleitet, und Apollon galt unter anderem als Gott der Musik, der Dichtkunst und des Gesangs. Auch die Gattung Lyrik unterstreicht die Nähe der Medien zueinander, was besonders in Laut- und Klanggedichten deutlich wird; Ernst Jandls lautliche und akustische Poesie ist ein gutes Beispiel dafür. Musik ist physisch-materiell an das Medium der Stimme und instrumenteller Musikkörper gebunden und wird oft poetisch als die Sprache der Seele, als unmittelbarer Ausdruck von Gefühlen bezeichnet, wobei zugleich die Materialität des Tonträgers mit hineinspielt. Sowohl die gesprochene Sprache als auch Musik werden traditionsgemäß medial in erster Linie auditiv wahrgenommen, aber sie verfügen bei allen Gemeinsamkeiten über unterschiedliche Zeichensysteme. Berndt & Tonger-Erk (2013: 189) weisen darauf hin, dass sich bei sprachlichen Zeichen das Lautbild eines Wortes (Signifikant) mit einem Vorstellungsbild (Signifikat) verbindet, das als Referenz auf eine außersprachliche Wirklichkeit verweist. Musikalische Zeichen hingegen haben keine fixierbaren, außermusikalischen Referenzen (Denotate), aber viele Konnotate, die von der musikalischen Syntax, kulturellen Konventionen und Codes abhängen. Die Tonart Moll steht bekanntlich für eine traurige und die Tonart Dur für eine fröhliche Stimmung. Bei der auditiven Wahrnehmung gibt es ein zeitliches Nacheinander, das wichtig ist. Musik erzeugt aber auch ein räumliches Nebeneinander, das beispielsweise in Akkorden ausgedrückt werden kann oder wenn in Opern mehrere Stimmen unterschiedliche Partien gleichzeitig singen können und sich zu einer Einheit verbinden oder einen intendierten Kontrast ausmachen. 4.2.2 Verbal music und Referenz In der Literatur wird Musik immer wieder dadurch thematisiert, dass Romane von Musik(theorie), Musikerinnen und Musikern und von der Entstehung musikalischer Werke handeln oder indem die Romanfiguren Musik ausüben oder erleben. Man verwendet bei der 114 4. Grundlagen der Intermedialität literarischen Wiedergabe eines musikalischen Werkes oder der literarischen Beschäftigung mit wirklicher oder fiktiver Musik häufig den Begriff verbal music. Er bezeichnet allgemein die Versprachlichung von Musik in literarischen Texten. Bei Referenzen zu spezifischen musikalischen Werken, gegebenenfalls auch mit inhaltlichen Analogien, kann man von einer musikalisch-literarischen Ekphrase sprechen (entsprechend der Bezüge zur bildenden Kunst in der Literatur). Eine musikalische Ekphrase „erzählt“ oder „malt“ sozusagen mit Tönen Geschichten oder Szenen nach, die von einem anderen Künstler oder einer anderen Künstlerin in einem anderen Medium geschaffen wurden; denken Sie beispielsweise an Mussorgskys Programmmusik Bilder einer Ausstellung (1874). Intermedial kann Musik als explizite Referenz vorkommen, indem in der Literatur Musik diskutiert wird, so wie Harry Haller in Hermann Hesses Steppenwolf (1927) seine starke Abneigung gegen Jazz bekundet, oder indem sie als unkommentiertes Medienzitat in den Text eingewoben wird. In Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924) legt Hans Castorp im Kapitel Fülle des Wohllauts auf einen Plattenspieler sowohl Titel aus Verdis Aida als auch Schuberts Lindenbaum-Lied auf. Es suggeriert das Motiv der Ruhefindung beziehungsweise des Todes, zumal am Ende des Romans der Erste Weltkrieg seinen Beginn nimmt, als Castorp die isolierte Zauberbergwelt des schweizerischen Sanatoriums verlässt. Explizite Musikzitate kommen auch in Christin Krachts Roman Faserland (1995) vor. Die Nennung des Songs Brother Louie der deutschen Band Modern Talking geht davon aus, dass im kollektiven Gedächtnis der anvisierten Leserschaft das musikalische Gedächtnis beim Lesen sofort aktiviert wird und man beim Lesen den Song nicht nur vor Augen, sondern auch in den Ohren hat: Das Interessante daran ist, daß Alexander eigentlich nur genau zwei Lieder auf der Gitarre spielen kann. Das eine ist Es geht voran von den Fehlfarben, und das andere ist Brother Louie von Modern Talking. Jedenfalls schnappt Alexander sich die Gitarre und fängt an, die ersten blöden Akkorde von Brother Louie zu spielen.-[…] Alle kennen das Lied ganz genau, und durch die dreckige Bar mitten in der Wüste erscheint ein Männerchor: Brother Louie, Louie, Louie-… How you douie, douie, douie, douie. (Kracht 2008 [1995]: 69) Musik kann aber auch insofern integraler Bestandteil der Literatur sein, indem musikalische Einlagen (Gesänge oder Songs) in Texte eingebaut werden und den narrativen Erzählfluss entweder weiterführen, unterbrechen oder die Handlung thematisch unterstreichen. Dies ist Praxis in vielen literarischen Werken der Romantiker, in denen eine Annäherung der Literatur an die Musik geschah, was zu neuen Schreibformen führte. Auch in Bertold Brechts epischem Theater, zum Beispiel im Drama Mutter Courage (1938 / 39), werden Lieder in die Dramen eingebaut, wobei es sich bei der Inszenierung zugleich um eine Medienkombination (siehe Abschnitt 4.2.4) handelt. In Brechts Dramen unterbrechen die Lieder zwar den Handlungsverlauf, sie greifen aber zugleich handlungsrelevante Themen auf oder fungieren als Kontrastierungen. 115 4.2 Literatur und Musik 4.2.3 Performanz Musik kann intermedial in der Literatur vorkommen, indem textuell musikalische Form- und Strukturparallelen nachgebildet werden und Literatur sozusagen einem Musikstück ähnlich „komponiert“ wird. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie Autorinnen und Autoren „wie Musik“ zu schreiben versuchen, beispielsweise James Joyce im sogenannten „Sirenenkapitel“ in Ulysses (1922), Thomas Mann in Tonio Kröger (1903) und Doktor Faustus (1947, eine Auseinandersetzung mit der Zwölftonmusik), Virginia Wolf in Die Wellen (Original: The Waves 1931), Peter Ackroyd in English Music (1992) und in Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (2002). Musikalische Strukturelemente, wie unter anderem Fugentechnik, Repetition und Kontrast sowie Simultanität werden hier literarisch umgesetzt. Ähnlich markiert bereits der Titel des Holocaust-Gedichtes Todesfuge (deutsche Fassung 1948) von Paul Celan, dass die musikalische Struktur des Fugenschemas als Vorbild diente, ohne jedoch, dass die Stimmen, die zu Wort kommen, wie in der Musik, simultan auftreten können. Die Affinität zur Musik zeigt sich auch darin, dass Celan zu den am meisten vertonten deutschsprachigen Lyrikern des 20. Jahrhunderts zählt. Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive heraus interessieren uns besonders die spezifischen Funktionen, die der Literatur zugeschrieben werden, wenn sie Kompositionsmuster oder Ausdrucksformen der Musik nachzuahmen versucht. Allerdings erfordert es gewisse Medienkompentenzen und Musikkenntnisse, um die Frage beantworten zu können, was dadurch bewirkt wird und um diese musikalischen Strukturelemente erkennen zu können. Musikalische Performanz kann beispielsweise aus Wortmusik bestehen wie in Joyces erwähntem Sirenenkapitel, wo der Fokus auf die akustische Dimension der Sprache gerichtet wird. Wiederum gibt es formale oder strukturelle Analogien zur Musik, was unter anderem in Anthony Burgess’ verbaler Imitation von Ludwig van Beethovens Eroica in Napoleon Symphony (1974) der Fall ist. Im Roman Kontrapunkt (Original: Point Counter Point, 1928) von Aldous Huxley wird ebenfalls textuell eine Kompositionsstruktur-- die des Kontrapunkts-- übernommen. Eine weitere Form des Vorkommens von Musik in Literatur, welche über Performanz hinausreicht, ist in jüngerer Literatur zu beobachten, in der Musik zum Ausdruck einer Lebensform wird, auf die Jeßing & Köhnen (2007: 252) hinweisen: Musik und Literatur werden miteinander verbunden. Als Anregung dient die sogenannte DJ -Culture. Wie (Pop-) Musik gemixt, gescratcht und in digitalen Samplings zerstückelt und wieder zusammengesetzt werden kann, so setzt sich auch die experimentelle Literatur jüngerer Autoren und Autorinnen aus Textfragmenten, Zitaten und Alltagsgesprächen von Partys etc. zusammen und spiegelt einen Lebensstil. Beispiele einer solchen Schreibweise finden sich in Rainald Goetz’ Rave (1997) und in Benjamin von Struckart-Barres’ Remix (1999). 116 4. Grundlagen der Intermedialität 4.2.4 Medienwechsel und Medienkombination In der Literatur kann experimentell nicht nur „wie Musik“ geschrieben werden, sondern es finden sich auch Beispiele dafür, wie das mediale Erlebnis der Musik in einen narrativen Text eingeht, ohne in Worte gefasst zu werden. Wenn in Arthur Schnitzlers Erzählung Fräulein Else (1924) die gleichnamige Hauptfigur (im inneren Monolog wiedergegeben) Musik hört, ist im Text das Notenbild der gehörten Musik abgedruckt. Man muss die Noten lesen können, um zu verstehen oder innerlich zu hören, welche Musik Fräulein Else wahrnimmt. Im Roman unterstreicht das Notenbild aus Robert Schumanns Klavierzyklus Carneval die erregte Stimmung der Protagonistin und den Wendepunkt der Handlung, als sie sich gezwungen sieht, sich nackt in einer Gesellschaft zu präsentieren. (Hier besteht zudem eine Anspielung auf den Titel des Musikstückes.) Als Medienkombination tragen auch in Wolfgang Hildesheimers Roman Mozart (1977) abgedruckte Partituren zur „Komposition des Textes“ bei. Bei der Medienkombination von Musik und Literatur, so wie wir sie beispielsweise vom Kunstlied, dem vertonten Gedicht, her kennen, denken Sie vielleicht auch an Franz Schuberts bekannte Vertonungen von Goethe-Gedichten oder an Bachkantaten, bei denen Musik und meistens religiöse Texte eine Gesamtheit bilden. Die Kombination von Musik und Gedicht führt zu neuen, eigenständigen Genres, die durch den semantischen Mehrwert entstehen. Sprachliche und musikalische Zeichen laufen nicht nur parallel zueinander, sondern ergänzen einander. Andererseits können Text und Musik auch im Kontrast zueinander stehen und Ironie oder Parodie ausdrücken. Eine der wohl beliebtesten und traditionsreichsten Formen des Medienwechsels von Literatur in Musik ist die Oper. Bei der Umsetzung eines Prosatextes oder eines Dramas in ein musikalisches Werk wird in Libretti die Handlung in Textbüchern und Textheften zum Mitlesen und zum Singen umgeschrieben. Diese Libretti sind als intertextuelle Zwischenstufen hin zum Medienwechsel der musikalischen Inszenierung zu betrachten. In der Operninszenierung wiederum wechseln sich Musik und Sprache traditionsgemäß ab und ergänzen beziehungsweise überlagern einander. Es gehört zur Entwicklungsgeschichte der Oper, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, dass diese lange Zeit relativ handlungsarm war, insbesondere als opera seria: Auf der Bühne wurde gesungen, aber es geschah relativ wenig. Diesem Mangel an Geschehen half unter anderem die italienische opera buffa und die französische opéra comique ab, aber vor allem seit Christoph Willibald Gluck erhielt die Oper zunehmend die Form eines musikalischen Dramas, und spätestens mit Richard Wagners Idee des Gesamtkunstwerks kann man vollends von einer Verschmelzung verbaler, nonverbaler und visueller Ausdrucksformen sprechen. In seiner Konzeption eines verschiedene Künste umfassenden Kunstwerks vereinen sich in seinen Opern unterschiedliche mediale Ausdrucksformen zu einem gemeinsamen Zweck. Im Zuge der Medienkombination werden bei Operninszenierungen zunehmend auch moderne Medien mit eingesetzt; so können Videoprojektionen eingeblendet oder es kann mit Montagen gearbeitet werden, und nicht selten ist durch Textmaschinen das Libretto (zum Teil als Übersetzung zur gesungenen Originalsprache) parallel zur Vorführung in materieller Präsenz ablesbar. Es erscheint hier allerdings wenig angebracht, auf all die zahllosen Opern 117 4.2 Literatur und Musik einzugehen, die vor allem auf Prosa- und Dramentexte rekurrieren. Als Beispiel für den Medienwechsel bei Textvertonungen vom Drama zur Oper sei hier lediglich verwiesen auf Alban Bergs Wozzek (1921) nach Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck (1879) und auf Gottfried von Einems Der Prozess (1953) nach Franz Kafkas gleichnamigem Roman (1925). Denken Sie beispielsweise auch an Charles Gounods Faust-Oper (1959), an Jaques Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen (1881), in der Abschnitte aus Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Erzählung Der Sandmann (1816) in Szene gesetzt sind, oder an Guiseppe Verdis Macbeth (1847) und Othello 1887 nach Williams Shakespeares Dramen oder an Guiseppe Rossinis Wilhelm Tell (1829) mit Text nach Friedrich von Schiller (1804). Die Texte in Carl Orffs Carmina Burana (1935-36) stammen wiederum aus einer Handschrift des 13. Jahrhunderts aus dem Kloster Benediktbeuren, und Richard Wagners Opern wie Parsifal (1882) und Der Ring des Nibelungen (1878) basieren wiederum auf mittelalterlichem Erzählstoff. Opern werden in der Regel durch nonverbale Ouvertüren eingeleitet, in denen durch Leitmotive zentrale Elemente der Opern anklingen, sodass musikalisch ein Gefühlserlebnis vermittelt wird, das auf die Handlung hinweist, die dann gespielt, gesprochen und gesungen wird. Das gestalterische Prinzip der Leitmotive kündigt musikalisch Figuren, Themen oder Probleme an; es wird heutzutage nicht selten auch in Seifenopern, Fernsehserien und Musicals verwendet. In der Oper folgen Dialogszenen und Rezitative aufeinander, welche die Handlung vorantreiben; sie machen zusammen mit den musikalischen Passagen in Form von Arien, Duetten oder Chorstücken, bei denen die Stimme sozusagen zum Instrument wird, das Gesamterlebnis einer Medienkombination aus. Es kommt zu einem Zusammenwirken von Musik, Gesang, nonverbalen Elementen wie Körpersprache und Sprache. Zu dem multimedialen Ereignis einer Oper gehören aber auch das Bühnenbild sowie bisweilen andere mediale Ausdrücke wie Balletteinlagen und vieles mehr. Im Genre der Programmmusik geht es um die Umsetzung von Literatur in Musik. Musikalisch werden nicht nur Themen, Gegenstände oder Stimmungsbilder wiedergegeben, sondern in den symphonischen Dichtungen, beispielsweise von Richard Strauss (mit Werken wie Also sprach Zarathustra (1896)- - verfasst von Friedrich Nietzsche zwischen 1883 und 1885, oder Till Eulenspiegels lustige Streiche, die zwischen 1894 und 1895 entstanden sind), wird von literarischen Vorlagen ausgegangen, die musikalisch allerdings ohne Liedtext transponiert werden; der Text wird stattdessen vom Orchester angedeutet beziehungsweise nachgeahmt. 118 4. Grundlagen der Intermedialität 4.2.5 Zusammenfassung ▶ Musik dient als Inspiration für literarische Werke, zahlreiche mediale Ausdrucksformen lassen Musik und Literatur miteinander verschmelzen. ▶ Zwischen Sprache, Literatur und Musik besteht eine starke Affinität: Im antiken Griechenland wurden Dichtungen musikalisch begleitet, die Gattung Lyrik unterstreicht die Nähe der Medien zueinander. Musik ist physisch-materiell an das Medium der Stimme und instrumenteller Musikkörper gebunden und wird oft als Sprache der Seele bezeichnet. Gesprochene Sprache und Musik werden medial vor allem auditiv wahrgenommen, verfügen aber über unterschiedliche Zeichensysteme. ▶ Verbal music bezeichnet die Versprachlichung von Musik in literarischen Texten. ▶ Bei Referenzen zu musikalischen Werken werden Geschichten mit Tönen nacherzählt, Musik wird in der Literatur explizit diskutiert oder als unkommentiertes Medienzitat in den Text eingewoben. Zudem können musikalische Einlagen in Texte eingebaut werden, die den Erzählfluss beeinflussen oder die Handlung thematisch unterstreichen. ▶ Bezüglich der Performanz kann Musik intermedial in der Literatur vorkommen, indem textuell musikalische Form- und Strukturparallelen nachgebildet werden. ▶ Eine bekannte Form des Medienwechsels von Literatur zu Musik ist die Oper. Zunehmend werden hier auch moderne Medien mit eingesetzt. ▶ Bei Programmmusik geht es um die Umsetzung von Literatur in der Musik; so wird beispielsweise von literarischen Vorlagen ausgegangen, die musikalisch ohne Liedtext transponiert werden. 4.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Worin unterscheidet sich Literatur von Musik in seiner medialen Ausdrucksform? 2. Wie kann man „wie Musik“ schreiben? 3. Was kann die Medienkombination Musik und Text bewirken, wenn ein Gedicht vertont wird? Geben Sie dazu auch ein Beispiel an. 4. Erläutern Sie die Komponenten des Medienwechsels, die Opern häufig zugrunde liegen und den Mehrwert der Opern gegenüber einer literarischen Vorlage. 119 4.3 Literatur und neue Medien 4.3 Literatur und neue Medien 13 Minuten später RE: Lieber Leo, nein, natürlich mailen wir ungehemmt weiter. Sie kennen mich ja: Ich übertreibe maßlos. Ich steigere mich gerade in etwas hinein und will dabei nicht gestört werden. (Daniel Glattauer: Gut gegen Nordwind) Die Literatur hat unlängst Neuland betreten und auf unterschiedliche Weise ihren Einzug in die digitale Welt gehalten, sei es als E-Book oder als Netzliteratur. Wir können davon ausgehen, dass die Zukunft der Literatur und des Buches im Digitalen liegt und wir momentan erst am Anfang einer technischen Entwicklung stehen, die dem menschlichen Bedürfnis zu erzählen, zu erinnern und zu kommunizieren in ungeahnten Formen entgegenkommen wird. In Lerneinheit 4.3 beschäftigen wir uns mit den Besonderheiten von Literatur und dem Erzählen in neuen Medien; dabei geht es weniger darum, neue, sich schnell ändernde Gattungen zu studieren, sondern der Fokus wird übergreifend auf Aspekte der Literaturproduktion und -konsumtion in neuen Medien gerichtet. Es handelt sich mit anderen Worten um die Besonderheiten des Erzählens in seiner medialen, hier digitalen Gebundenheit. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ grundlegende Begriffe der neuen Medien erklären können; ▶ mit einem literarischen Text und dessen Umsetzung in neue Medien gearbeitet und diese eingehend analysiert haben und den Mehrwert dieses Medienwechsels analysieren können. Der Begriff neue Medien ist längst nicht mehr so neu und kann außerdem als relativer Begriff angesehen werden. Was als neue Medien empfunden wird, unterliegt immer dem Wandel der Zeit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts dienten der Film und der Rundfunk als neue Medien, Mitte des 20. Jahrhunderts eher das Fernsehen. Was wir heute unter neuen Medien verstehen, sind in erster Linie elektronische, digitale und interaktive Medien, wie zum Beispiel E-Mails, das World Wide Web, DVD s, Blu-Rays oder CD -Roms. In literarischen Texten nehmen diese digitalen Medien immer mehr Platz ein. Digitale Schreibszenen können auch in Printmedien inszeniert werden (Performanz), wie in den weiterhin gedruckt publizierten E-Mail-Romanen Gut gegen Nordwind (2008) und Alle sieben Wellen (2011) von Daniel Glattauer, die ausschließlich aus E-Mails bestehen, oder in Jeanette Wintersons Roman The Powerbook (2000), in dem eine junge Schriftstellerin unter dem Namen Ali Geschichten hinaus in die Weite der virtuellen Welt sendet und in dem ein Internet-Chat simuliert wird. In der Konzeption dieser Geschichten gibt es keine eigentliche Erzählinstanz: Interaktivität wird hier nachgespielt, inszeniert. Literarische Figuren verwenden auch in Texten immer mehr digitale Medien: In dem Fall sprechen wir von einem Zitieren der digitalen Schreibszenen (Referenz). Im Roman 120 4. Grundlagen der Intermedialität Tschick (2010) von Wolfgang Herrndorf schlägt der Achtklässler Tschick vor, dass er und sein Klassenkamerad Maik in den Sommerferien in die Walachei fahren werden, worauf Maik diese Region bei Wikipedia eintippt, um sich Information darüber zu verschaffen. In einem gestohlenen Lada machen sie sich auf den Weg. Um nicht von seinen Eltern erreicht werden zu können, lässt Maik bewusst sein Handy zu Hause liegen, was möglicherweise auch als Medienkritik interpretiert werden könnte. Die beiden jungen Männer bleiben nach längerer Fahrt auf einem holprigen Feldweg zwischen ein paar Weizenfeldern stehen und Maik hat eine Idee: „Ich schlug vor, Tschick sollte versuchen, unsere Namen in den Weizen zu schreiben, sodass man sie von einem Hubschrauber aus lesen konnte oder später bei Google Earth“ (Herrndorf 2010: 110-111). 4.3.1 Besonderheiten des digitalen Erzählens Digitale Medien werden oft als mixed media beziehungsweise Hybrid-Medien (Anz 2007) klassifiziert, indem die zugrundeliegende Digitalität der Informationen zu neuen Formen der Intermedialität führt (Bilddateien können beispielsweise in Text- und Tondateien transformiert werden), in denen verschiedene Medien in der neuen Informations- und Medienwelt zusammenwachsen. Man kann auch von einer Konvergenzkultur (Jenkins 2006) sprechen. Kennzeichnend für diese ist, dass alte und neue Medien zusammengehen (kollidieren) und neue Kommunikationsformen und -wege bilden. Es geht nicht mehr um eine Mitteilung, die von einem Absender an einen Empfänger geht-- diese Betrachtungsweise ist laut Jenkins sowohl überholt als auch irreführend. In der digitalen Konvergenzkultur wird nicht mehr von passiven Empfängern gesprochen, sondern von Benutzern, die auf eine kreative Art und Weise mit dem im Internet vorhandenen Material weiterarbeiten. Die Grenze zwischen Produzenten und Konsumenten künstlerischer Werke ist somit unklarer geworden, indem die Konvergenzkultur auf einer Mitmachkultur basiert, bei der die Interaktion der Benutzer und die Anbindung der Leserinnen und Leser an das literarische Produkt zentral ist. Man kann Einblick in die digitalen Schreibwerkstätten der Verfasser und Verfasserinnen bekommen und dies kommentieren oder in Lesegemeinschaften auch als Laie Literaturkritik ausüben. Im Zuge der Digitalisierung zeigt sich auch ein anderes Verhalten bei den Anwendern. Das, was erzählt wird, ist nicht länger nur an ein Medium gebunden: Wir konsumieren dieselben Erzählinhalte zunehmend in Form von Medienpaketen, die aus Hörbüchern, Büchern, E- Readern und Filmen bestehen können. Es werden oft folgende Bereiche genannt, die den Unterschied zwischen neuen und eher traditionellen Medien ausmachen: Die Digitalität beziehungsweise die Virtualität, die Hypertextualität beziehungsweise die Hypermedialität sowie die oben genannte Interaktivität. Unten wird ausgehend von diesen Phänomenen diskutiert, wie mit Literatur in neuen Medien umgegangen wird. Aufgrund der Schnelllebigkeit virtueller Texte (Internetseiten verschwinden, Webadressen können geändert werden oder der Inhalt ändert sich) wird in diesem Abschnitt weitgehend auf konkrete Beispiele verzichtet. Mit dem Internet hat sich die „literarische Infrastruktur“ (Vogt 2008: 285) geändert. Überwiegend dominiert auch in digitalen Medien weiterhin ein eher traditionelles Erzählen. Von 121 4.3 Literatur und neue Medien der bloß digitalisierten, also ins Netz gestellten Literatur, ist hier die digitale Literatur zu unterscheiden, die außerhalb der digitalen Medien nicht existieren kann. Sie ist speziell für das Netz geschrieben worden, wie der Twitter-Roman Black Box (2013) von Jennifer Egan, der in seinem Entstehen getwittert (280 Zeichen pro Text beziehungsweise Tweet) worden ist. Ihr Twitterroman lässt sich neuen, nur digital möglichen Gattungen zuordnen, zu denen beispielsweise auch Literatur- und Reise-Blogs sowie Internettagebücher und Handyhaikus gehören. Sie alle testen, was durch die neue Technik literarisch und multimedial machbar ist, und da sich die digitale Technik schnell ändert, sind diese Gattungen nicht unbedingt auf Langlebigkeit hin ausgerichtet, sondern eher von einer Experimentierfreudigkeit geprägt. Es wird sich zeigen, welche neuen Erzählformen Bestand haben werden. In dieser virtuell beeinflussbaren Welt können die Benutzer eigene virtuelle Identitäten und Narrationen inszenieren, beispielsweise in sozialen Medien wie Facebook und Instagram. Eine wichtige Rolle spielt hier die Anonymität im Internet, die für künstlerische Zwecke, beispielsweise dem Spiel mit der eigenen Identität, genutzt werden kann. 4.3.2 Transmedialität Eine besondere Form des virtuellen Erzählens, welche den Rahmen traditioneller Literatur sprengt, ist das sogenannte transmediale Erzählen (transmedia storytelling). Hier werden über die Grenzen einzelner Medien hinweg Geschichten inszeniert und mit der Wirklichkeit verbunden. Unmittelbare gegenwärtige Erlebniswelten werden geschaffen und als Leser oder Leserin nimmt man im Rahmen einer Community oder einer Fangruppe an der Entwicklung dieser Welt teil. Transmediale Erzählungen haben meistens keinen klar strukturierten Handlungsaufbau mit Charakteren, sondern ein Inhalt wird einfach über mehrere Medien hinweg erzählt, wobei oft komplexe Handlungen und Personenkonstellationen entstehen, die auch ein größeres Expansionspotenzial bieten. Das transmediale Erzählen nutzt also unterschiedliche Medien als virtuelle Räume, sei es Blogs, Youtube, Internetseiten oder das eigene Leben und dessen Umgebung, die sich somit zu einer großen Erzählwerkstatt verbinden. Die Materialien werden aufeinander abgestimmt und in ihrer Wirkung intensiviert. Herkömmliche Vorstellungen von Geschichte und Inszenierung werden dabei überschritten, weshalb man auch von alternate reality games spricht: Es sind Spiele, die auf verschiedene Medien zurückgreifen und bewusst die Grenze zwischen fiktiven und realen Charakteren und Ereignissen verwischen. Nicht selten gibt es Aufgaben, die man nur durch Zusammenarbeit mit anderen Mitspielern lösen kann. Generell lässt sich feststellen, dass bei vielen digitalen Erzählformen die Nähe zum Spiel unverkennbar ist und die sich herausbildenden, vom jeweiligen Stand der Technik abhängigen neuen Gattungen einen eher spielerisch-experimentellen Charakter haben. Zudem ist von den Produzentinnen und Produzenten transmedialer Narrationen ein hohes Maß an technischer Medienkompetenz erforderlich, was erklärt, dass man nicht selten im Team (mit unterschiedlichen Kompetenzen) kollaborativ schreibt; es ist zudem nicht ungewöhnlich, dass digitale Autorinnen und Autoren einen Hintergrund als Drehbuchautoren haben. 122 4. Grundlagen der Intermedialität Hypertextualität und Hypermedialität Viele Erzählformen im Internet sind nicht ganz neu, aber durch die Möglichkeiten der Technik lassen sich verschiedene Aspekte neu miteinander verbinden. Sie kennen vielleicht die Vorformen eines nicht-linearen Lesens aus Kinderbüchern, bei denen man beim Lesen hin- und herspringen kann. Es kann dort beispielsweise heißen: ▶ Wenn Maria die heimliche Schrift entziffern kann, dann lies auf Seite 19 weiter. ▶ Wenn Maria ihre verschwundene Großmutter finden muss, die ihr hilft, die heimliche Schrift zu entziffern, dann geh zu Seite 53. ▶ Wenn Maria das Rätsel alleine lösen kann, ohne die heimliche Schrift zu verstehen, dann blättere bis Seite 80 weiter. Der Terminus Hypertextualität bezeichnet, im Gegensatz zu einem einfachen Text mit geradliniger Textabfolge, ein Netz von Texten, die miteinander verbunden sind. Als umfassendster Hypertext könnte das WWW angesehen werden. Die Verbindung mindestens zweier Texte führt die Leser und Leserinnen in ein assoziatives, interaktives Netzwerk hinein, wobei die Texte häufig eine deutliche Verweisstruktur aufweisen. Diese multi-lineare Verweisstruktur der Dokumente (Hypertexte) ist eine andere Art des Erzählens und der Bezugnahme auf andere Texte als bei traditioneller Intertextualität. Kommen weitere multimediale Aspekte hinzu, spricht man von Hypermedialität, womit die Erweiterung des Hypertextes durch Audio-, Bild- und Videodateien (und nicht nur durch Texte) gemeint ist. Man kann sich hier die Frage stellen, was diese Vernetzung von Texten mit unserem Lesen macht, denn als Besonderheit des Umgangs mit Netzliteratur tritt das nicht-lineare Verfahren beziehungsweise das nicht-lineare Lesen in den Vordergrund. Neue Medien schaffen somit nicht nur neue Narrationsformen (das nicht-lineare Erzählen), sondern auch neue Partizipations- und Rezeptionsformen. Wir verlinken uns immer mehr und lesen nicht nur chronologisch-linear. Es kann somit festgestellt werden, dass Lesen im Netz nicht mehr bedeutet, dem herkömmlichen chronologisch-linearen Verfahren zu folgen, sondern Lesen im Netz bedeutet vielmehr eine eigene Leselinie zu legen: Durch das Klicken kommt man zu einzelnen Seiten oder Stücken, und die vielen kleineren Textstücke kombiniert man dann selbst zu einer Einheit, deren Inhalte nicht linear verschachtelt sind. 4.3.3 Interaktivität und Mediendemokratie Interaktivität bezeichnet das wechselseitige Agieren zwischen Menschen und komplexen technischen Systemen wie dem Internet. Allen virtuellen Literaturproduktionen gemeinsam ist ihr interaktiver Charakter. Nehmen wir die Fankultur als Beispiel: Fangemeinden (fan communities) gibt es seit langer Zeit (zum Beispiel zu Star Trek seit den 1960er Jahren), sie sind aber mit dem Heranwachsen des Internets viel umfassender und zahlreicher geworden. Von besonderem Interesse kann hier die Fanfiktion sein. Fanfiktion sind Texte, die Fans intertextuell oder intermedial zu einer bereits existierenden literarischen oder trivialliterarischen Welt oder zu einem Originalwerk erstellen. Es kann sich zum Beispiel um Filme, Fernseh- 123 4.3 Literatur und neue Medien serien, Bücher und Computerspiele handeln, oder auch real existierende Menschen, wie bekannte Schauspieler und Schauspielerinnen, Musiker und Musikerinnen oder Sportler und Sportlerinnen. In den Fanfiktion-Texten wird die Welt des Ursprungswerkes beziehungsweise der real existierenden Prominenten in einer neuen, fortgeführten oder alternativen Handlung dargestellt; die existierende (Text-, Film-)Welt wird einfach von oft anonymen Fans beziehungsweise Laienschriftstellern und -schriftstellerinnen weitererzählt. Sie können beispielsweise andere Erzählperspektiven als die ursprüngliche einnehmen, Charaktere weiterentwickeln, die in der Vorlage Nebenrollen hatten oder einfach „Lücken“ ausfüllen. Beispielsweise publiziert die Signatur „Smaragdsee“ auf der Fanfiktion-Seite www.fanfiktion.de ein einziges Kapitel, einen sogenannten one shot (eine der neuen Gattungen, die innerhalb der literarischen Fan-Welt entstanden ist) zu dem deutschen Musical Die Schöne und das Biest des deutschen Komponisten Martin Doepke (das seinerseits auf das französische Volksmärchen La Belle et la Bête zurückzuführen ist). In dieser Fanfiktion folgen wir den Gedanken des Biests und wie es sich nach der Zeit zurücksehnt, in der es vor seiner Verwandlung durch eine Zauberin ein junger strahlender Prinz war und das Leben perfekt erschien. In einer 14 Kapitel umfassenden Fanfiktion auf derselben Webseite zum Computerspiel Minecraft, in dem es darum geht, Konstruktionen aus würfelförmigen Blöcken in einer 3D-Welt zu bauen, geht es darum, Ressourcen zu sammeln oder gegen Monster zu kämpfen. Leser und Leserin (im Fanfiktion-Text ist in der Du-Form geschrieben worden) werden unweigerlich partizipierend in die Minecraft-Welt mit hineingezogen. Nachdem diese Texte auf Fanfiktion-Seiten im Internet ausgelegt worden sind, werden die allermeisten Beiträge in Foren von anderen Lesern und Leserinnen rezensiert, kommentiert und diskutiert. Die Stimme des Lesers bekommt somit ein immer größeres Gewicht. Auch in Buch Communities, Leserblogs und sonstigen Formen der internetbasierten Buchrezeption gibt es immer die Möglichkeit, ungefiltert direkt zu kommentieren oder sich am Schreiben zu beteiligen. Auf diese Weise wird man Mitwirkender bei einer Teilnahmekultur, wovon Wikipedia wahrscheinlich das umfassendste Beispiel ausmacht. Jeder kann heute Texte, Bilder, Film, Musik und sogar Talkshows oder Zeitschriften im Netz produzieren, wenn man sich nur technisch auskennt, von daher kann von einer Mediendemokratie gesprochen werden. Fanfiktion (oder fanart, fan music etc.) könnte also als eine demokratische Gattung angesehen werden, da gerade der freie Zugang zum Medium einen zentralen Aspekt des Internets ausmacht. Dies ist womöglich eine der größten Errungenschaften und Möglichkeiten der neuen Medien. Ein jeder kann ungeachtet von Herkunft und Bildungsstand global, über Landesgrenzen hinweg, auf kreative Weise und in kürzester Zeit eigene Botschaften an unzählige Menschen verbreiten. Digitale Medien werden nicht mehr zu einer bestimmten Zeit bereitgehalten, sondern die digitale Kulturproduktion kann zu jeder beliebigen Zeit rezipiert werden, indem beispielsweise Film- und Tondateien gespeichert und nach freier Wahl des Empfängers beziehungsweise des Benutzers benutzt werden. Allerdings ist das digitale Erzählen auch von seiner Schnelllebigkeit geprägt; digitale Texte können genauso schnell wieder verschwinden wie sie entstanden sind oder ihren Inhalt ändern. Die Kommunikation im Internet kann deswegen auch als demokratisch charakterisiert werden, weil man meistens anonym ist und sich frei äußern kann; keiner kennt die Rasse, 124 4. Grundlagen der Intermedialität das Geschlecht, das Alter, die Religion oder ähnliche denkbare Diskriminierungsaspekte der Produzenten. Die Anonymität kann weiter eine Freiheit sein, „gewagte“ Werke zu erfinden, oder eine Möglichkeit, mit der eigenen Identität zu spielen. Konstruierte oder rekonstruierte Identität wird im Internet oft für künstlerische Zwecke genutzt; so wird zum Beispiel in dem Fanfiction-Genre Slash mit der Gender-Identität gespielt, indem Homosexualität in den Geschichten als maleslash (bei Männern) und femslash (bei Frauen) thematisiert wird, entweder nebenbei am Rande oder als Haupthandlung der Story. 4.3.4 Neue Lehr- und Lernwege Die neuen Medien spielen in der heutigen Gesellschaft aus verschiedenen Gründen eine bedeutende Rolle. Sie geben uns neue Informationswege und-- was sehr wichtig ist-- jeder kann diese Information selber aussuchen und zu sich nehmen. Auf diese Weise schaffen wir uns auch Kenntnisse, die nicht von der Schule oder sonstigen Bildungsinstitutionen kommen. Junge Menschen, die das technische Web-Know-how haben und viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, lernen Sprachen (zum Beispiel Englisch) als eine digitale wie auch kulturelle Kommunikationskompetenz. Beim Lernen geht es heute weniger um eine Wiederholung des schon Gekannten, sondern es wird in der heutigen Forschung eher eine Produktion vom Neuen, Interessanten beziehungsweise Relevanten betont. Junge Menschen verfügen über eine Medienkompetenz, die häufig eine Art Parallelwelt zu konventionellen Kommunikationsformen, Identitätskonstruktionen, Medienpartizipationen und zu traditionellen Lernformen darstellt. Indem fast jeder an das Internet herankommt und seine eigene Information zusammenkombinieren kann, bewegt sich das Lernen teilweise vom traditionellen Klassenzimmer hinweg. Lehrer und Lehrerinnen werden deshalb vor neue Herausforderungen gestellt; vielleicht müssen sie zum Beispiel teilweise eine andere Rolle als die traditionelle Lehrerrolle einnehmen und mehr Gewicht auf Betreuung legen und mit den Lernern den Aussagegehalt und die Zuverlässigkeit der virtuellen Quellen diskutieren. Es ist wichtig, die Welt der neuen Medien als Potenzial zu sehen und die unbegrenzten Möglichkeiten zu nutzen, die hier zur Verfügung stehen. 4.3.5 Zusammenfassung ▶ Heute sind neue Medien vor allem elektronische, digitale und interaktive Medien, die auch in literarischen Texten immer mehr Platz einnehmen. Digitale Schreibszenen, die in Printmedien inszeniert werden, sind ein Beispiel der Performanz. Auch literarische Figuren verwenden in Texten immer mehr digitale Medien. ▶ Digitale Medien werden oft als mixed media, Hybrid-Medien bezeichnet oder unter dem Begriff der Konvergenzkultur genannt. Die Digitalität der Informationen führt zu neuen Formen der Intermedialität, in denen Medien zusammenwachsen und sich neue Kommunikationsformen und -wege bilden. Grenzen zwischen Produzenten und Konsumenten werden durch die Mitmachkultur unklarer. 125 4.3 Literatur und neue Medien 4.3.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was versteht man unter einer Konvergenzkultur im Hinblick auf neue Medien? 2. Warum bezeichnet man das Buch bisweilen als slow media im Unterschied zu neuen Medien? 3. Was ist gemeint, wenn man von einem hypertextuellen Lesen spricht? 4. Was kennzeichnet Literatur in den neuen Medien? 5. Inwiefern kann man digitale Literatur auch als Ausdruck einer Mediendemokratisierung verstehen? 6. Wie kann die Performanz neuer Medien in analogen Printmedien literarisch ausgedrückt werden? ▶ Es entstehen neue Partizipations- und Rezeptionsformen: Allen virtuellen Literaturproduktionen gemeinsam ist ihr interaktiver Charakter (zum Beispiel Fanfiktion). ▶ Eine besondere Form des virtuellen Erzählens ist das sogenannte transmediale Erzählen, wo über die Grenzen einzelner Medien hinweg Geschichten inszeniert und mit der Wirklichkeit verbunden werden. ▶ Hypertextualität meint ein Netz von Texten, die miteinander verbunden sind. Kommen multimediale Aspekte hinzu, spricht man von Hypermedialität, die Erweiterung des Hypertextes durch Audio-, Bild- und Videodateien. ▶ Neue Medien geben neue Informationswege, jeder kann diese Informationen aussuchen und aufnehmen. Auf diese Weise bewegt sich auch das Lernen teilweise vom traditionellen Klassenzimmer weg. 127 4.3 Literatur und neue Medien 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche Thomas Borgard Die in den vergangenen Jahrzehnten von einer regelrechten Bedeutungsinflation erfassten Begriffe Kognition und kognitiv verweisen auf eine Vielzahl von Forschungsansätzen unterschiedlicher Herkunft sowie Phänomene physisch-materieller und geistig-immaterieller Art. Daher sind stets Angaben der jeweiligen Kontexte erforderlich, in denen Begriffe verwendet werden. Nicht zuletzt muss aufgrund des enormen Einflusses angelsächsischer Wissenschaftler auf die Grundlegung der Cognitive Studies gefragt werden, inwiefern die damit einhergehende Terminologie ein implizit oder explizit naturalisierter Anglozentrismus ist? Denn dies würde bedeuten, dass etwa der Begriff mind Konzepte transportiert, die einer real besonderen Kultur entstammen. Die Herkunft aus spezifischen lokal-zeitlichen (hier: amerikanischen) Gegebenheiten wird indes verschleiert, wenn die an sie gebundenen Begriffe die Gestalt eines abstrakten Allgemeinen annehmen. Kulturelle Spezifika metalinguistisch zu universalisieren, bedeutet, polyzentrische und interkulturelle Zugriffe von vornherein zu verderben (Levisen 2018). Vor dem Hintergrund des zunehmenden Nationalismus bleibt die kulturelle Vielfalt eine nicht immer bequeme Tatsache. Sie lässt sich auch nicht mithilfe einer, gewiss sympathischen, universellen Ethik beseitigen, welche die zur konzeptuellen Universalisierung neigenden intellektuellen Milieus oftmals vertreten (Lakoff & Johnson 1999; dazu Trabant 2003: 284). Solche kategorischen Ansätze bleiben den Kulturen äußerlich und maßen sich nicht selten im Vergleichen eine „erhabene Position“ an (Jullien 2014 [2012]: 33). Gleiches wird Anderem gegenübergestellt, kulturelle Mehrfachzugehörigkeit sieht sich also latent diskriminiert und einem äußeren Anpassungsdruck ausgesetzt. Vorherrschend bleibt hier die Vorstellung vom Unterschied, die sich auf eine vermeintlich ohne weiteres gegebene Identität bezieht und zudem von zeitlicher Statik ausgeht. Fasst man hingegen kulturelle Pluralität konzeptuell als Abstand, dann wird das komplementäre Verhältnis zwischen identitärer Perspektive und Uniformisierung durchbrochen (Jullien 2014 [2012]: 34-37). In einer „transdifferenten“ (Lösch 2005), zugleich historisch-semantischen Perspektive wäre dann (engl. / amerik.) mind / cognition in Bezug zu setzen zu (franz.) esprit / âme, (dt.) Geist / Seele, (russ.) душa (duša) usw. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ einige Aspekte der geschichtlichen Herkunft des Kognitivismus und die auf ihn einwirkenden gesellschaftlichen, ökonomischen, wissenschafts- und sprachpolitischen Einflüsse verstehen; ▶ die Fachgeschichten des Kognitivismus in ihrer disziplinären Vielfalt in Grundzügen nachvollziehen, ebenso die damit einhergehenden Tendenzen zur Universalisierung und Vereinheitlichung ihrer je besonderen Einsichten und Methoden; 128 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche 5.1 A-kulturelle linguistische Statik und Anglozentrismus in der globalisierten metalinguistischen Praxis und Wissensproduktion Bereits mit dem altgriechischen λόγος (lógos) und dem lateinischen cognitio / cogitatio wird die Fähigkeit bezeichnet, zu erkennen, wobei die Akte des Denkens, Erkennens und die Gehalte des Erkannten beziehungsweise des Wissens von jeher umstritten sind. Dabei spielen das Verhältnis von Vernunft beziehungsweise Verstand und Sinnlichkeit ebenso eine Rolle wie die symbol-, bild- und zeichenhaften Formen, in denen kognitive Gegebenheiten materiell repräsentiert sind. Auch wenn mit Kognition Vorgänge angesprochen werden, die in der natürlichen Ausstattung des Menschen wurzeln, darf nicht vergessen werden, dass dahinter häufig aus polemischen Auseinandersetzungen hervorgehende Konzepte, Institutionen, möglicherweise auch Ideologien stehen. So ist ein Verständnis der Privilegierung besonderer Forschungsstrategien nur möglich, wenn diese vor dem Hintergrund der jeweiligen soziokulturellen, ökonomischen und gegebenenfalls auch sprachpolitischen Umgebungen gesehen werden, in denen sie entstehen und prosperieren. Längere Zeit dominierte der Fokus auf einem von sozialen und kulturellen Faktoren unabhängigen funktionalistischen Modell der Kognition. Dieses wurde von der zweiten Generation des Kognitivismus herausgefordert, insbesondere durch den Linguisten George Lakoff und den Philosophen Mark Johnson, deren weltbekanntes Buch Metaphors We Live By 1980 erschien. Darin wandten sich die Autoren gegen die nur den formalen (grammatisch-syntaktischen) Aspekt der Sprache hervorhebende Linguistik Noam Chomskys. Um sowohl die Streitpunkte als auch die untergründigen Gemeinsamkeiten zu verstehen, muss man sich das Erbe der Linguistik Ferdinand de Saussures bewusst machen. Er stellt der historischen Sprachwissenschaft eine andere Betrachtungsweise der Sprache zur Seite, die als „synchrone Wissenschaft von der langue“ (Trabant 2003: 273) im 20. Jahrhundert großen Einfluss entfaltet. In der amerikanischen Linguistik konzentrierte sich das Interesse bald auf die synchronische und strukturelle Beschreibung von Lauten und Morphemen, wobei der Bedeutungsinhalt von Worten (Semantik) nicht interessierte (zum Beispiel Hall 1948). Dieser behaviouristisch-materialistischen, lediglich die äußeren Sprachaspekte beachtenden Vorgehensweise widersprachen andere Linguisten, die sich auf das Geistige der Sprache, die inneren Vorgänge des Denkens, bezogen. Daraus folgte ein radikaler sprachlicher Relativismus, insofern sie das Denken durch die jeweilige Einzelsprache determiniert sahen (Whorf 1956). Das amerikanische Angebot schwankte also zwischen absolutem Universalismus und absolutem Relativismus, worauf Chomsky ebenfalls übertreibend reagierte, und zwar in Form einer „spiegelbildlichen Vereinseitigung“ (Trabant 2003: 280): ▶ mit dem Kognitivismus einhergehende weltanschauliche (ideologische) sowie bildungspolitische Probleme und Konflikte verstehen und diese diskutieren können; ▶ kognitivistische Begriffe so zu verwenden, dass die Spezifik des Zugriffs, die eingenommene Perspektive auf den jeweiligen Gegenstand, sichtbar bleibt und alternative Zugriffe im Rahmen einer Didaktik kultureller Transdifferenz diskutierbar werden. 129 5.1 A-kulturelle linguistische Statik und Anglozentrismus Gegen den radikalen behavioristischen Materialismus-[…] stellt Chomsky einen ebenso radikalen Mentalismus-Kognitivismus, und auf den extremen Relativismus antwortet er mit einem ebenso extremen Universalismus: ‚Sprache‘ (language) ist für Chomsky-[…] kein beobachtbares lautliches, kommunikatives Ereignis mehr (das wäre speech), sondern ein innerer mentaler Mechanismus. (Trabant 2003: 280) Chomskys mentalistisch-kognitivistischer Ansatz führt schließlich zur Vorstellung angeborener Denkstrukturen, was wiederum auf eine Universelle Grammatik hinausläuft, die gegenüber dem bloßen Sprechen die Vollkommenheit logisch-mathematischen Denkens hervorhebt und damit das Gebiet der eigentlichen Sprachwissenschaft verlässt (Trabant 2003: 279-284). Diese alinguistische Tendenz setzt sich mit anderen Mitteln aktuell in der maschinellen Textverarbeitung sowie der Konstruktion von Übersetzungscomputern wie etwa DeepL fort (Bubenhofer 2018; Bubenhofer & Dreesen 2018). Lakoff und Johnson forderten den Mentalismus Chomskys heraus mit ihrer sensualistischen Auffassung des Sprachsinns (Wortsemantik) als „transformierte Sinnesempfindung“ (Trabant, 2003: 283). Mit Metapher und Metonymie werden hier Operationen akzentuiert, deren Kenntnis „der klassischen Lehre der rhetorischen Figuren“ und damit letztlich dem „Begriffs-Inventar der Literaturwissenschaft“ entstammt (Wildgen 2010: 147). Trotz ihrer erbitterten Feindschaft besteht zwischen der amerikanischen Ostküsten-Linguistik (Chomsky) und jener der Westküste (Lakoff, Fillmore, Langacker, Talmy, Fauconnier, Turner usw.; dazu Wildgen 2008) eine fundamentale Gemeinsamkeit. Zwar messen die Kalifornier kulturellen Einflüssen und dem Sprachwandel große Bedeutung zu, sie setzen aber mit ihrem Ausgehen vom menschlichen Körper (embodied mind, Lakoff & Johnson 1999) gleichwohl einen starken universalistischen Akzent. Dieses mit dem auf beiden Seiten vorherrschenden Willen, die Linguistik als neue humanwissenschaftliche Leitdisziplin zu etablieren, einhergehende Interesse führt dazu, dass die „Metaphern, mit denen wir leben“ lediglich als Beispiele dienen für einen „generellen-[…] Nachweis der Fundierung des Denkens im Körper“; sie werden also nicht, wie man erwarten könnte, als „Wörter bestimmter Sprachen“ untersucht (Trabant 2003: 284). Wildgen betont ferner die in den Schriften Talmys und bei anderen kognitiven Linguisten zu beobachtende Eigenheit, sowohl die Anschlüsse an parallele zeitgenössische Forschungen als auch an „europäische Traditionen“ zu verschweigen, wobei ihre „Ausgrenzungs-Strategien-[…] aus heutiger Sicht nur als politische“ zu verstehen seien (Wildgen 2008: 113-114). Ungeachtet nicht zu leugnender Unterschiede zwischen den funktionalistischen, auf Maschinen bezogenen (artificial intelligence), logizistisch-mentalistischen und „von einer semantischen Motivierung noch der grammatischen Kategorien“ ausgehenden Konzepten wie die kognitive Bildsemantik Langackers (Stockhammer 2014: 231), lassen sich diese einem Feld mit gemeinsamen Merkmalen zuordnen: In allen Ansätzen dominieren universalistische Interessen philosophischer und naturwissenschaftlicher Provenienz über genuin sprach- und kulturwissenschaftliche Fragen. Ein wichtiger kognitivistischer Schritt ist ab Mitte der 1980er Jahre die Ersetzung der Frage nach der inneren mentalen Symbolverarbeitung durch das Interesse an neuronalen 130 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche Netzwerken und ihren Modellierungen. Übersetzt man den Ausdruck cognitive science ins Deutsche, bieten sich sowohl ‚Kognitionswissenschaft‘ an, wodurch die Aufmerksamkeit auf den wissenschaftlichen Gegenstand gelenkt wird, als auch ‚kognitive Wissenschaft‘. Dann liegt der Akzent auf einer spezifischen Methode, die mit Hilfe kognitiver Kategorien wie Repräsentation und Symbol menschliche und maschinelle Leistungen erfassen will-[…]. Eine ähnliche Entscheidung wurde in der Psychologie getroffen, wo sich seit Neisser (1967) der Ausdruck ‚cognitive psychology‘ eingebürgert hat, der, je nachdem ob der inhaltliche oder der theoretische Aspekt des Kognitiven im Vordergrund steht, mit ‚Kognitionspsychologie‘ oder mit ‚kognitive Psychologie‘ übersetzt wird-[…]. (Münch 2000 [1992]: 43) Für die lange Durchsetzungsphase kognitivistischer Methoden und Modelle ist die auch in anderen Wissenschaften beobachtete schrittweise „Universalisierung ihrer Geltungsansprüche“ charakteristisch (Schneider 2009: 8). Im Zuge dieses Vorgangs bilden sich strukturanaloge Zugriffe auf Menschen und Maschinen sowie eine Terminologie heraus, die ein zur Isomorphie tendierendes semantisches Feld ausbildet. Eine Schlüsselrolle kommt dabei zunächst der sich in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Art Leitwissenschaft entwickelnden Kybernetik zu. Mit ihren vielfachen Implikationen dringt diese in Domänen geistes- und sozialwissenschaftlicher Disziplinen vor und formt diese maßgeblich um. Für Sprachwissenschaftler ist hier nicht zuletzt die Aussicht interessant, ihr Forschungsfeld in ähnlicher Weise wie dies die Kybernetik tut, an quantifizierenden Modellen der exakten Wissenschaften auszurichten. Mit seiner Kybernetik „zweiter Ordnung“ gilt Heinz von Foersters 1974 erschienenes Buch Cybernetics of Cybernetics als wichtige Quelle für die Zusammenführung kybernetischer, systemtheoretischer und konstruktivistischer Modelle (Müller 2008: 20). Wie kommt es zum leichten Übergang von einem Bereich zum anderen, zur Entwicklung eines in sich, epistemisch gesehen, homologen Gesamtkomplexes? Im Zuge der hier diskutierten Entwicklung unterliegen bestimmte Richtungen der (Sozial-)Psychologie, der Linguistik und der Informationstheorie ein und derselben Denkweise, die Phänomene und Sachverhalte in kleinste Einheiten, Teilsysteme und Strukturen zerlegt (in der Linguistik: Morpheme, Lexeme usw.). Dies erschließt sich bereits aus einer Bemerkung Norbert Wieners: „cybernetics attempts to find the common elements in the functioning of automatic machines and of the human nervous system“ (Wiener zitiert nach Kline 2015: 12). Passend dazu bestimmt Manfred Bierwisch die Grammatik aus Sicht des Strukturalismus als „exakt formulierbare[s] System von Regeln“, wodurch sich diese gleichzeitig „in Analogie zum Programm eines Rechenautomaten“ auffassen lasse, „das abstrakte Relationen festlegt, die physikalisch auf ganz verschiedene Art verwirklicht werden können, je nachdem, von welchem Automaten das Programm ausgeführt wird“ (Bierwisch 1966: 107). Kognitivistische Zugriffe auf ursprünglich philosophisch diskutierte, seit dem 19. Jahrhundert zunehmend von der Psychologie beanspruchte Gebiete lösen ältere logisch-erkenntnistheoretische, gleichzeitig zu umfassenden Metaphysiken ausgebaute Konzepte wie die Platonische Ideenlehre ab. Das gilt insbesondere für solche, die mit oder vor dem Hintergrund von Begriffen wie (altgr.) ψυχή (psychē), (lat.) anima, (dt.) Seele, (franz.) âme (zum Beispiel Descartes 1649; Lotze 1846 sowie hierzu Borgard 1999) oder (dt.) Geist (zum Beispiel Hegel 131 5.1 A-kulturelle linguistische Statik und Anglozentrismus 1807; Dilthey 1883) operieren und die überlieferten Gehalte Zug um Zug uminterpretieren. Bereits 1874 empfiehlt Brentano in seiner Schrift Psychologie vom empirischen Standpunkt, sich nicht mehr mit der menschlichen Seele zu befassen, sondern „psychische Phänomene“ als wichtigsten Gegenstandsbereich zu bestimmen (Münch 2000 [1992]: 8). Hinsichtlich des mentalitätsgeschichtlichen Wandels vom 19. zum 20. Jahrhundert ist folgendes grundsätzlich festzuhalten: Verabschiedet werden die weltanschaulichen Grundlagen des bildungsbürgerlichen Humanismus, der sich an der Vorstellung substanzieller Ganzheit des Menschen, der Natur und der Geschichte orientierte. Parallel zur Entwicklung moderner Massengesellschaften und der Herausbildung arbeitsteiliger Organisationsweisen gilt die Aufmerksamkeit nach 1850 verstärkt der Wechselwirkung zwischen den einzelnen Elementen. In einem wegweisenden Aufsatz Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen (1890) verwendet der Soziologe Georg Simmel zur Beschreibung der formalen Grundlagen des Zusammenlebens ein der Physik entlehntes Vokabular, wenn er schreibt: Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkung ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzulösen-[…]. (Simmel 1989 [1890]: 130) Die moderne Welt zu begreifen, bedeutet, erstens, die Wirkung unpersönlicher Mächte zu erkennen infolge der technischen Rationalisierung, des Prozesses der Verrechtlichung, der Bürokratisierung und der Geldwirtschaft. Es bedeutet, zweitens, zu verstehen, dass die nun in Frage kommenden wissenschaftlichen Aktivitäten insbesondere dort, wo von sprachlichen, kognitiven und sozialen Systemen die Rede ist, Modell und Beobachtung tautologisch aufeinander beziehen. So wird unklar, ob eine Aussage etwa angibt, was sich unmittelbar am sprachlichen Material beobachten lässt oder ob es sich um die Darstellung eines Forschungsprozesses handelt (Coseriu 1974 [1958]: 10 f). Im Rahmen der skizzierten Entwicklung gleichen sich einflussreiche Disziplinen dem sicht- und wissbar Neuen an, auf dem die massendemokratische Gesellschaft ihr ideales Selbstverständnis aufbaut; und das bedeutet jetzt: Einen engen Bezug herzustellen zu den dominanten konsumtiven Lebens- und technisch produzierenden Arbeitsweisen. Das Resultat soll dasselbe sein wie es die bürgerliche Geschichtsphilosophie antizipierte, nämlich ein harmonischer Ausgleich zwischen den Interessen des Individuums und der Gesellschaft, nur eben jetzt nicht aufgrund einer philosophisch-anthropologisch begründeten Vernunft, sondern des technisch / ökonomischen Systemcharakters. Wie inzwischen, teils anhand neu aufgetauchter Materialien, gezeigt werden konnte, beruht die für den wissenschaftlichen Progress von der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts zur modernen Linguistik, zu Semiotik, Formalismus und Strukturalismus verantwortlich gemachte Pionierleistung Ferdinand de Saussures größtenteils auf einer trivialisierenden Überlieferung seines langue-parole-Schemas. Die Textgestalt des posthum von zwei Schülern herausgegebenen Cours de linguistique générale (1916), abgekürzt CLG 1916, ist keinesfalls als authentisch anzunehmen. In Frage steht, was die genealogische Rückführung auf die Autorität de Saussures betrifft, vor allem die modellhafte Auffassung der Sprache als „reine Form- […] unabhängig von ihrer sozialen Realisierung und materiellen Manifestation“ (Jäger 2010: 12). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch bio- und 132 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche technomorpher Sprachweisen, in welchen die gemeinsamen Voraussetzungen der saussureanisch-strukturalistischen und kognitivistischen Episteme zum Ausdruck kommen. So ersetzt der französische Philosoph und Literaturtheoretiker Roland Barthes die Begriffe Subjekt und Bewusstsein durch die Termini Regel, Code und Struktur (Borgard 2009). Ludwig Jäger hat dargestellt, welchen Einfluss, ausgehend von dem in CLG 1916 gelegten Fundament und es zugleich hinter sich lassend, die kognitiven Sprachtheorien auf Chomsky entfalten. Der Fokus verschiebt sich hier vom Zeichensystem zu der als mentales Organ aufgefassten Sprache. Chomskys generative Grammatik ist lesbar als strukturalistische Grammatik-Analyse, die in gewisser Weise mit der formalen Logik (Rudolf Carnap, Wiener Kreis) verwandt ist. Explizit beruft sich der wohl „einflußreichste Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts“ (Trabant 2003: 136) auf Descartes (Chomsky 1966), um gegenüber dem Behaviourismus die vom Handeln und Sprechen nicht determinierte (logische) Denkfähigkeit des Menschen hervorzuheben. Damit reproduziert Chomsky auch den mechanizistisch-cartesianischen Dualismus von Geist (res cogitans) und Körper (res extensa). Sein linguistischer Intellektualismus kennt ferner „keinen konstitutiven Zusammenhang zwischen der Struktur, dem kognitiven System und seinen funktionalen, z. B. kommunikativen Anwendungen“ (Jäger 1993: 79). Der Abkopplung der Linguistik von ihren sozialen und kulturellen Bezügen wird wiederum von Richtungen des sprachwissenschaftlichen Denkens widersprochen, die sich ebenfalls des Begriffs der Kognition bedienen, ihn aber der synchronistisch-formalen Statik entziehen und an Fragen dynamischer sprachlicher Bedeutungsanalysen (Begriffsgeschichte, Historische Semantik) anschließen. So schreibt Geeraerts: In the first place, the experiential nature of language involves historically specific experience. If language both shapes and reflects human experience, then language is as historical as that experience: while part of the human experience is universal and biologically species-specific, another part is historical and cultural. In the second place, the usage-based nature of language implies that language is inherently dynamic. (Geeraerts 2010: 333) In dieser Perspektive wendet sich die kognitive Linguistik wieder Einsichten der historischen Sprachwissenschaft des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts (Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt u. a.) zu. Diese wurde weder vom „Ostküsten-Rationalismus“ à la Chomsky noch vom Embodiment-„Sensualismus“ (Trabant 2003: 283) ernst genommen, insofern nicht nur der formale Universalismus, sondern auch die kalifornische Reduktion des Sprachlichen / Symbolischen auf das Imaginäre an sich (Stockhammer 2014: 232) der Linguistik ihre dynamisch-kulturwissenschaftliche Basis entzog. Jäger stellt, ebenfalls 2010, neuerdings einen Wandel linguistischer Grundeinstellungen fest: An die Seite einer ‚Linguistik des Innern‘- […] treten- […] in den letzten Jahren mit wachsendem Selbstbewusstsein Theoriediskurse, die die soziohistorischen, kulturellen und medialen Szenarien, in denen sich Sprache und Kommunikation prozessural entfalten, wieder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, die also, kurz gesagt, den Theoriefokus von einer ‚langue‘-orientierten zu einer ‚parole‘-zentrierten Sprachwissenschaft verschieben. (Jäger 2010: 15) 133 5.2 Cultural lag und Humankapital als Voraussetzungen der gegenwärtigen Bildungsökonomie Sobald sich die Linguistik von den Beschränkungen logisch-formaler und biologistischer Spielarten einer a-kulturellen Statik löst, wird sie wieder attraktiv für Kooperationen mit Literatur- und (historischen) Kulturwissenschaften. Bezüglich didaktischer Fragen zeichnet sich allerdings ein Konflikt ab zwischen neuesten, die sprachlich-kulturelle Varianz in das Zentrum ihres Interesses rückenden linguadidaktischen Bestrebungen (Roche 2018) und dem im vergangenen Jahrzehnt erneuerten kognitivistischen Funktionalismus auf Basis der sogenannten Kompetenz-Didaktik. Diese geht, erstens, von einer unter kognitivistischen Gesichtspunkten begriffenen Mensch-Maschine-Konvergenz aus; und, zweitens, erkennt sie eine einheitliche Grundlage allen kulturellen Handelns, und damit auch aller bildungspolitischen Maximen, in der Funktionsweise von Materialwirtschaftssystemen. Deren planvolles Management wird jetzt zum rationalen und zweckmäßigen singulare tantum vernetzter globalräumlicher Synchronie. Entsprechend bedeutet die Erzeugung einer geeigneten individuellen Rezeptivität hier zugleich die Erhöhung des Grades ihrer kollektiv wirksamen Adaptivität, und zwar unter gleichen Bedingungen. Diese sollen, verbrämt mit demokratischen Idealen, den nicht zuletzt mit Kostenvorteilen einhergehenden bruchlosen Übergang von einem kulturellen Ensemble zum anderen ermöglichen. Mit der massenhaften Produktion und dem massenhaften Verkauf von Waren und Dienstleistungen gemäß dem Prinzip der economies of scale strukturell assoziiert ist wiederum die Einsprachigkeit (Monoglossie). Sie wird praktisch umgesetzt in der Forderung nach verstärktem Gebrauch des Englischen / Amerikanischen im Namen der Internationalisierung, womit gleichzeitig angelsächsische kulturelle Konzepte und Schlüsselwörter globalisiert werden. Ausgeblendet oder unterdrückt wird in der didaktischen Kodifizierung eines entsprechenden wissenschaftlichen Lexikons die von Humboldt formulierte, später von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf aufgegriffene Annahme „linguistischer Relativität“, wonach Sprech- und Denkweisen miteinander zusammenhängen (Goddard & Wierzbicka 1995; aktuell: Levisen 2018). 5.2 Cultural lag und Humankapital als Voraussetzungen der gegenwärtigen Bildungsökonomie Es stellt sich die Frage, ob kritische Bewertungen des didaktischen Kompetenz-Funktionalismus bildungspolitische Folgen haben werden. Zweifel scheinen angebracht, da die modellhaft herbeigeführte „Vereinheitlichung der Wirklichkeit“ (Kondylis 1991: 270) einen nahezu schrankenlosen sozialtechnischen Optimismus nährt. Grundlage ist die in den USA während der Zwischenkriegszeit aufkommende und seither auch in offiziellen Dokumenten der Europäischen Union verbreitete Vorstellung vom cultural lag: Demnach wächst in den Massendemokratien des Westens mit dem rasanten technologischen Wandel die Gefahr sozialer Instabilität, da tradierte Sitten und Gebräuche den gegenwärtigen Anforderungen an einen raschen Wandel der Lebens- und Arbeitsweisen nicht mehr entsprechen. Was also gewährleistet die soziale Ordnung? Dies könne, so Ogburn, nur durch Anpassung (adjustment) des retardierenden Elements, also des kulturellen und sozialen, an das fortschrittlichere, das sich viel schneller verändernde technisch-ökonomische Element, geschehen (Ogburn 1923 [1922]: 200-203). Im Jahr 1997 wiederholt die europäische Reiffers Commission diese Auffassung in 134 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche ihrem Positionspapier Accomplishing Europe through education and training: „In adapting to the characteristics of future-oriented enterprise, education and training systems could contribute to European competitivity-[…]“ (Reiffers Commission 1997: 20). Die Kommission griff damit die kybernetische Idee einer „Handlungssteuerung“ (Stachowiak 1965) auf, mit welcher man traditionellen Ballast abwerfen und (bildungspolitisch) neu auf der kognitivistisch nachgewiesenen universalen, gleichsam naturgesetzlichen Grundlage der Kompetenz beginnen konnte. Social engineering funktioniert auf der Grundlage stereotypisierender Bildarsenale, vermittelt durch suggestives Sprechen, sowie vereinfachter Entscheidungsmodelle (Couffignal 1952; Ashby 1956; Stachowiak 1965). Ihre Aufgabe ist es, so der ebenfalls vom kulturellen lag ausgehende Vordenker des amerikanischen Pragmatism, John Dewey, neue mentale Gewohnheiten (habits of mind) gezielt zu produzieren, um old habits und old memories vergessen zu machen, in welchen die minds nach wie vor gefangen seien. Die neuen intellektuellen und moralischen Muster (patterns) sollen den aktuellen Anforderungen an kooperative Verhaltensweisen am besten entsprechen, denn: „Industrial habits have changed most rapidly“ (Dewey 1935: 56-61). Umgekehrt geht es einer kognitiven Literaturwissenschaft, folgt man dem 2012 erschienenen Handbuch Literatur und Philosophie, darum, anhand von literarischen Texten „die kognitiven Fähigkeiten explizit zu machen, die Autorinnen- […] bei der Textproduktion und Literaturwissenschaftlerinnen beim Analysieren literarischer Texte anwenden“ (Eder 2012: 311). Im klassischen Literaturunterricht spielt der Kognitivismus keine Rolle, ganz im Unterschied zur Sprachdidaktik. Dies hat nicht zuletzt mit dem unauflösbaren Konflikt zu tun zwischen der unter den Bedingungen des cognitive turn erfolgten „Pragmatisierung des Bildungsbegriffes“, den dafür für erforderlich gehaltenen Lehr- und Präsentationsformen (Schneider 2009: 25), und der literaturwissenschaftlichen Fachkultur. Denn diese verschreibt sich aufgrund der Besonderheiten ihres Gegenstands der Vermittlung eines die alltagssprachlichen Automatismen und instrumentellen Zweckmäßigkeiten oft genug hintertreibenden Sprachidealismus. Eine gewisse literaturwissenschaftliche Relevanz besitzt der Kognitivismus bei der Untersuchung von Lesevorgängen: „[S]ince cognition is to do with the mental processes involved in reading“ (Stockwell 2002: 1). Hinzu kommt, sozusagen auf zweiter Beobachtungsebene, die Untersuchung von Verstehensprozessen beim professionellen Lesen. Der Sprachduktus ist dabei wohltuend sachlich-nüchtern; ein Zitat aus einer einschlägigen Publikation illustriert dies: „In scientific terms, readings are the data through which we can generalise patterns and principles across readers and texts“ (Stockwell 2002: 2). Allerdings herrscht auch hier ein naturalisierender Zugriff vor, der erneut einen gravierenden Nachteil des Kognitivismus enthüllt, wenn Stockwell konstatiert: „This is reading as an entirely natural phenomenon“ (2002: 1). Es ist aus sprach- und literaturwissenschaftlicher Sicht wohl eine der problematischsten Eigenschaften der Kognitionswissenschaft, wenn sie die „formalsemantischen Kategorien-[…] unvermittelt auf ein kognitives Schema [zurückführt], das seinerseits nicht sprachlich, sondern-[…] unmittelbar anschaulich sein soll“ (Stockhammer 2014: 231). Die imaginal disponierende amerikanische „Westküstengrammatik“ macht Sprache gleichsam unsichtbar, indem sie behauptet, „Sprache verbalisiere nur Kognitionsabläufe, die in ähnlicher quasibildlicher Form ohnehin schon im Kopf ablaufen“ (Stockhammer 2014: 232). 135 5.2 Cultural lag und Humankapital als Voraussetzungen der gegenwärtigen Bildungsökonomie Immerhin kehrt in den sich kritisch einerseits mit de Saussures statisch-regelbasierter Auffassung der langue ( CLG 1916), andererseits mit Chomsky auseinandersetzenden Richtungen eine Vorstellung vom intentionalen Subjekt (der Sprache und des Sprechens) in die linguistische Forschung zurück. Doch entfällt mit der Psychologisierung der Verstehensvorgänge, insofern mit dem Bewusstsein und den mentalen Funktionen auf ein isoliertes Subjekt verwiesen wird (Nagel 2016 [2012]: 105), jede sozialgeschichtliche Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand. Literarhistoriker und Literaturhistorikerinnen stellen in der Regel nicht (nur) den einzelnen Akteur (den einzelnen Autor beziehungsweise den einzelnen Leser) in den Mittelpunkt ihrer Darstellungen, sondern sie gehen ebenso von raumzeitlich spezifischen soziokulturellen Lagen (Kontexten) aus. Kognitiv gesehen, findet die literaturgeschichtliche Forschung somit diesseits der Schwelle statt, jenseits der Fragen nach der biopsychischen Determination oder der Freiheit des Willens gestellt werden (Kondylis 1999: 168 f). Ihr Ausgangspunkt ist „notgedrungen ein äußerer und beobachtbarer, d. h. eine (Vorstellung von der) Lage und eine (nach seiner Meinung damit verbundene) Handlung des Akteurs“ (Kondylis 1999: 169). Nicht das allgemeine Menschliche interessiert hier, sondern das Spezifische, bisweilen Singuläre, kulturell wirksamen Sinnverstehens innerhalb bestimmter Zeitfragmente, zu dessen psychischen Erlebnisqualitäten wir schon aufgrund der historischen Distanz keinerlei Zugang haben: Wir können-[…] über das Seelenleben von Michelangelo, Shakespeare oder Mozart nicht viel konkreter Auskunft geben, als über dasjenige einer Gletschermumie; selbst aus der-[…] entschlüsselten DNA des Neandertalers lässt sich wohl kaum herausfinden, welchen Gottesvorstellungen er huldigte. (Proß 2010: 114) Zu den Problemen literaturgeschichtlicher Periodisierung und des literarisch-kulturellen Sinnverstehens führt vom Kognitivismus also kaum ein gangbarer Weg. In ganz anderer Hinsicht gewinnt die „kognitivistische Kreativitätspsychologie“ (Agostini 2016: 113-119) in einer kompetenzorientierten Literaturdidaktik an Einfluss. Von seinen romantisch-genialischen Vorformen völlig gereinigt, verkörpert das gegenwärtige Bild der „lebenslangen Lerner“ sowohl das demokratische Ideal der Chancengleichheit als auch die Forderung nach vollständiger individueller Selbstkapitalisierung. Laut Reckwitz handelt es sich dabei um die „Normalisierung des Ressourcen-Selbst“ (Reckwitz 2014 [2012]: 198-238). Mit anderen Worten: Einbildungskraft, Inspiration, Kreativität, die Kunst und Künstlern beziehungsweise Künstlerinnen zugesprochen werden, sind in einer Gesellschaft geschätzte Eigenschaften, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu Grundvoraussetzungen eines erfolgreichen Erwerbslebens erklärt, zugleich aber auch aufgrund der vom Staat vermehrt auf die Individuen übergegangenen (privaten) Risikovorsorge. Industrie und Wirtschaftsverbände verbinden ihren Bedarf an „arbeitsmarktgerecht Ausgebildeten“ (Reichenbach & Simanowski 2018: 45) mit der Erfordernis, in einer „postindustriellen, wissensbasierten und humanisierten Dienstleistungsgesellschaft“ (Nachtwey 2016: 85f) die Arbeit kreativökonomisch neu zu modellieren. Wie Oliver Nachtwey dargestellt hat, wird das öffentlichkeitswirksam diskursivierte Feld vorgeblicher Humanisierung der Arbeitswelt sowie der in entsprechenden Bildungsprogram- 136 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche men zu fördernden Persönlichkeit überlagert von Groß-Effekten der Kontrolle, und zwar als doppelter Imperativ der permanenten Selbst-Kontrolle und der Selbst-Ökonomisierung. Diese „ambivalente Konstitution moderner Subjektivität“ (Nachtwey 2016: 85f) wird durch Automatisierung und Softwareentwicklung (Industrie 4.0) noch verstärkt, insofern die automatische Verhaltensanalyse gleichzeitig die immer vollständigere Überwachung ermöglicht (Reichenbach & Simanowski 2018: 47). Auf der einen Seite erleben also bereits in internationalen Management-Bestsellern der 1980er und 1990er Jahre (Peters & Waterman 1982; Peters 1992) Elemente der radikalen Künstlerkritik (Nachtwey 2016: 82 f) einen Aufschwung. Diese bildete sich ab dem späten 19. Jahrhundert heraus, allerdings gleichzeitig als Sozialkritik der Entfremdung, Entsubjektivierung und Verdinglichung des Menschen im Zuge von Industrialisierung, Bürokratisierung und Urbanisierung. Seit der Wende von der keynesianischen zur (neoliberalen) hayekianischen Wirtschaftspolitik in den späten 1970er Jahren (Geyer 2007; Nachtwey 2016: 49 und 51) wird die Gestaltung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse von der Fähigkeit des Einzelnen abhängig gemacht, sich dem technisch-ökonomischen Fortschritt anzupassen, der allein die soziale Ordnung garantiere (siehe erneut das Schlagwort vom „lebenslangen Lernen“). Auf der anderen Seite wird dadurch die in Kunst und Literatur angetroffene sozialkritische Komponente aus den in den 1920er und 1960er Jahren noch mit kulturrevolutionärer Schärfe hervortretenden Konturen einer „ästhetischen Moderne“ (Fähnders 2010: 2) herausgelöst. Denn die Prioritäten der ästhetischen Ökonomie mit den Leitbranchen der creative industries Mode, Werbung und Design liegen nicht in einer möglichen kritischen Prüfung gesellschaftlicher Ansprüche an das Individuum, sondern in der nahtlosen Koppelung des Kreativen an das Unternehmerische (Reckwitz 2014 [2012]: 183). Die sich hieraus ergebenden Folgen für die universitäre Lehre und die Schuldidaktik sind zu bedenken. Dies gilt besonders für den Widerspruch zwischen technokratisch vorgeschriebener Lehrform und dem sprachidealistischen Lehrinhalt im Zuge des Anspruchs, Lerner mit den linguakulturellen Besonderheiten von Sprachkunstwerken vertraut zu machen, also zu zeigen wie diese statistisch nicht erfassbaren Singularitäten einen dynamischen Sprachwandel erzeugen, indem sie sich der automatisierten Alltagskommunikation mehr oder weniger widersetzen. Solange dieser Widerspruch, nach Auffassung Jost Schneiders, ein ungelöstes Problem der Germanistik darstellt (Schneider 2009: 25), solange werden sich kulturkritische Reden vom vermeintlichen Elfenbeinturm kaum intelligent widersprechen lassen und sich Fachkultur und Didaktik weiter auseinanderentwickeln. Nur oberflächlich betrachtet tragen zu einer möglichen Lösung Versuche bei, eine kognitive Literaturwissenschaft zu begründen, welche zugleich die Lebensnähe des Unterrichts hervorhebt, die sich aus den common sense-Prämissen des Kognitivismus gleichsam von selbst ergeben. Wenn betont wird, dabei handele es sich um „ein vollkommen nichtelitäres Unternehmen“ (Zymner 2009: 143), dann verbindet sich die Forderung nach einer stärkeren Berücksichtigung lebensweltlicher Kontexte und Bedürfnisse mit der bereits stark fortgeschrittenen Tendenz zur Entfachlichung des gesamten Literaturunterrichts-- bis hin zur Ausblendung komplexerer Realitätsverständnisse anhand anspruchsvoller Lektüren, welche über die intuitive Evidenz hinausgehende Verstehensleistungen erfordern (Borgard 2018). Wenn das kognitive Schema von Lakoff 137 5.3 Die kognitive Gesellschaft: Öffentliche Resonanz, ökonomischer Konsens und Johnson, Langacker und Talmy folgenden Linguisten und Linguistinnen als bildhaft beschrieben wird, dann erscheint „Sprache-[…] als etwas, was der phänomenalen Welt in jeder Hinsicht homolog ist“ (Stockhammer 2014: 232). Insofern trägt die kognitionswissenschaftliche Ausrichtung der Sprachwissenschaft paradoxerweise bei zu einer „Erosionsgeschichte des Erkenntnisgegenstandes Sprache“ (Stockhammer 2014: 233), und zwar bewusst oder unbewusst auch und gerade im kompetenzorientierten schulischen Unterricht. Gleichzeitig vergrößert sich der Abstand zu Fragestellungen, welche die „kulturellen Konstituenten sprachlich-symbolischer Handlungen“ (Jäger 2006: 30) in den Blick nehmen und von hier aus mehrsprachig-polyperspektivische Einsichten vermitteln. 5.3 Die kognitive Gesellschaft: Öffentliche Resonanz, ökonomischer Konsens Der Kognitivismus tritt häufig mit dem Gestus der Überlegenheit auf in Verbindung mit dem immer wieder betonten common sense, der ihn im Verhältnis zu den Geschichts- und Geisteswissenschaften auszeichne (vergleiche bereits Schleicher 1850: 1-5). Hier scheinen der Zugriff auf Naturgesetze sowie die Möglichkeiten der Messung Ideologiefreiheit und Objektivität zu garantieren. Das Prädikat der (Natur)Wissenschaftlichkeit verbindet sich mit dem Anspruch, „gesellschaftliche Ziele und politische Programme ‚wissenschaftlich‘ zu begründen“ (Knobloch 2001: 207), wobei man gleichzeitig die partikularen, spezifischen und nicht zuletzt die staatlichen Aspekte der jeweiligen Entscheidung tendenziell negiert. Denn nicht politisch werden die heute in Fragen der Wirtschaft verorteten Verfahrensweisen begründet, sondern als dem Reich der Notwendigkeit zugehörige Maßnahmen, die einer vermeintlich unausweichlichen globalen, digitalen usw. Zukunft Rechnung tragen. In dieser Situation besitzen ‚wissenschaftliche Erkenntnisse‘-[…] ganz allgemein die Funktion, Aussagen aus dem Bereich der weltanschaulich-politischen Kontingenz in die Sphäre der Unangreifbarkeit, der Notwendigkeit, der ‚Sachzwänge‘ zu befördern. (Knobloch 2001: 208) Begriffe wie good governance und best practice sind in ihrem Kern a-politisch. Verwendet werden sie zwar nicht selten im Namen progressiver Ideen wie gender equality und diversity, doch stets unter dem gleichzeitigen Eindruck leerlaufender demokratischer Willensbildung, weshalb ungelöste Verteilungskonflikte in jüngster Zeit wieder zunehmend kulturkämpferischen Charakter annehmen. Vor diesem im Gesamtzusammenhang zu verstehenden Hintergrund werden individuelle Bildungsziele mit einer fundamentalen Ambivalenz konfrontiert. Zum einen richtet sich der Blick auf die beruflichen Chancen, die employability, zum anderen auf die vorgegebene Anpassung an eine von der Demokratie abgekoppelte Ordnung, die das jeweils lokale Integrationsziel nur als technokratisches Zerrbild ohne Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe sowie emanzipatorischen Engagements vermitteln kann. Vor diesem Hintergrund sind Kompetenzdidaktik und Kognitivismus zu reflektieren, will man ihr aktuelles Bedeutungsfeld vollständig erkennen. Sie erhalten Prominenz im Kontext der beruflichen Bildung sowie im Zusammenhang mit dem Schlagwort von der „Wissensgesellschaft“. Entsprechende Überlegungen und Belege finden sich in einschlägigen Texten der europäischen Bildungsbürokratie, wobei anhand des Terminus „kognitiv“ 138 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche Handlungsweisen von größter Tragweite gerechtfertigt werden. Die Verwendung erfolgt stets sowohl beschreibend (deskriptiv) als auch normativ und wertend (präskriptiv). Die Soziologie spricht diesbezüglich von Rationalitätsfiktionen, d. h. wenn die Empfehlungen suggestiv erfolgen (Schimank 2006: 62-63). Mustergültig geschieht dies in einer Darstellung der Europäischen Kommission, die 1995 eine kognitive Gesellschaft ausruft. Dabei werden individuelle Bildungsziele so begründet, dass sie mit der ökonomisch-technisch vorgesehenen Gesamtordnung harmonisch übereinstimmen. Charakteristischerweise gesteht das kommissionäre Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung dem Management respektive dem Kompetenzmanagement auf dem „Weg zur kognitiven Gesellschaft“ eine Leitfunktion für die gesellschaftliche Steuerung zu. Die Bildungspolitik steht nun ganz im Zeichen der „Herausbildung der Informationsgesellschaft“ sowie der „Globalisierung der Wirtschaft“ (Europäische Kommission 1995: 10, 33). Von beiden Faktoren geht eine entgrenzende Wirkung aus: Betroffen sind davon die „Ortsveränderung des Lernens“ (Negt 1994, zitiert nach Arnold 2002: 29) sowie die Rolle der Didaktik selbst. So dokumentiert der Begriff der Schlüsselkompetenzen (Europäische Kommission 1995: 20) eine „Entgrenzung des Pädagogischen“ (Kade, Lüders & Hornstein 1995, zitiert nach Arnold 2002: 29). Aufgrund der inneren Logik der zugrundeliegenden Prämissen bedeutet die Entgrenzung zugleich die Ökonomisierung des Pädagogischen. Trotz Beachtung der persönlichen Entfaltung liegt der Hauptakzent auf der äußeren Vermögensbildung, was in dem Kernsatz dieses social engineering zum Ausdruck kommt: „Die Schule muß sich anpassen-[…]“ (Europäische Kommission 1995: 41). Innen- und Außenorientierung, das im individuellen und im sozialen Sinn verstandene Kognitive, sollen einander also nicht mehr widersprechen dürfen. Auch dies gewährleistet die durchgehende „Ökonomisierung des Lebens“ (Thomä 2006: 309; Borgard 2014). Sie blendet mit der Forderung nach durchgängiger Selbst-Kapitalisierung ein entscheidendes Merkmal der menschlichen Bildungsgeschichte aus, welches die Kulturanthropologie im Anschluss an die Tatsache der Instinktreduktion hinsichtlich der Befähigung zum fragenden Denken formuliert: Wie kommt [der Mensch] dazu, eine die Erlebnis- und Handlungskompetenz umfassende innere Organisation seiner Person aufzubauen? Wie erwirbt er Bewußtsein, Selbstbewußtsein? Und wie interpretiert er sich im Zusammenhang des von ihm selbst erworbenen Wissens von der Welt? (Dux 1990 [1982]: 40) Gegenüber der „Frage, wie man ‚wird, was man ist‘“ (Thomä 2006: 311) verhält sich die Theorie des Humankapitals vollkommen blind. Deshalb kann das auf vergleichbare Ergebnisse („Validation der Kompetenzen“, Europäische Kommission 1995: 30) angewiesene wirtschaftliche Maximierungsprinzip sein Versprechen auch nur zu einem für die ihr Leben vollziehenden Subjekte unerträglich hohen Preis einlösen: Die Wirklichkeit des Lebensvollzugs, in der man sich einsetzt oder einbringt, bekommt eine seltsam abgeleitete Funktion. Es kommt zu einer Privilegierung des Könnens, welches vom Vermögen repräsentiert wird, gegenüber der Wirklichkeit, welche letztere als Mittel zum Zweck firmiert.-[…] Die Gegenwart, in der man etwas leistet, wird instrumentalisiert-- und zugleich rückt der Zweck, in dessen Dienst man sein Tun stellt, in die Ferne. Diese Wendung geht dem jeweils zu lebenden Leben 139 5.3 Die kognitive Gesellschaft: Öffentliche Resonanz, ökonomischer Konsens gegen den Strich. Wer den Zweck seines Lebens (qua Kapital) nur in der Zukunft sieht, in der der Gewinn eingestrichen wird, sägt auf dem Ast der Gegenwart, auf dem er sitzt. (Thomä 2006: 312) Um neben den durchaus zu würdigenden fachlichen Aspekten die prekären bildungspolitischen Folgen der kompetenz-kognitivistischen Wende angemessen beurteilen zu können, muss man sich die mit ihr einhergehenden Grundsatzentscheidungen bewusst machen. Bei einer Entscheidung handelt es sich, abstrakt gesprochen, um eine wissenschaftlich nicht nur legitime, sondern auch notwendige Komplexitätsreduktion. Sich zu entscheiden bedeutet gleichwohl, andere Möglichkeiten auszublenden. Daher ist es stets klug, das alternativ Mögliche auch in den Praxisbezügen weiterhin im Blick zu behalten, damit es künftig noch „etwas zu entscheiden gibt“ (Van Zijderfeld 2004: 40), denn: Der Selektionszwang begründet ein unvermeidliches Risiko, nämlich das Risiko der Ausblendung.- […] Aus der notwendigen Selektivität des Prozesses resultiert die gewissermaßen parallel laufende Aufgabe, das Risiko durch Wiedereinführung ausgeblendeter Möglichkeiten in Schach zu halten. (Steinmann & Schreyögg 1993 [1990], zitiert nach Zijderfeld 2004: 40) Um die Notwendigkeit eines didaktischen Polyperspektivismus zu verstehen, hat man die „weltanschaulichen und ideologischen Faktoren“ (Kondylis 2006 [1995]: 131) zu beachten, welche die Vorstellung einer von der öffentlichen Kommunikation unabhängigen wissenschaftlichen Objektivität relativieren (Keller 2005; Knoblauch 2005; Berger & Luckmann 1987 [1966]; aber auch schon Mannheim 1929 sowie Fleck 1935). Der Wunsch, einen bestimmten Resonanzeffekt zu erzielen, legt fest, was jeweils als Erkenntnisfortschritt gilt und was nicht, womit der Entscheidungsaspekt, etwa für Lakoff und Johnson und gegen Humboldt, um den des Machtanspruchs ergänzt wird: Da die Wissenschaft kein geschlossenes oder gar abgeschlossenes System ist, sondern beständig in Wechselwirkung mit Kultur, Politik, Wirtschaft, Religion usw. steht, tragen wissenschaftsexterne Einflüsse wesentlich dazu bei, dass bestimmte Sektoren des reich ausdifferenzierten Methodenspektrums zu bestimmten Zeiten mehr in den Fokus des öffentlichen wie auch des fachöffentlichen Interesses geraten, während andere Sektoren dieses Spektrums für kurze oder längere Zeit ein Schattendasein führen. (Schneider 2009: 16) Was folgt in didaktischer Hinsicht aus Flecks Formulierung, dass „Theorien und unsere Einübung in bestimmte ‚Denkstile‘ [festlegen], was wir sehen oder beobachten“ (Kliemt 1986: 16), wobei der jeweilige „kollektive Denkstil die soziale Verstärkung-… [erfährt], die allen gesellschaftlichen Gebilden zuteil wird, und-[…] bestimmt, ‚was nicht anders gedacht werden kann‘“ (Fleck 1935, zitiert nach Kliemt 1986: 20)? Die Pädagogik genügt den Erfordernissen pluralistischer Gesellschaften am besten, wenn sie sich nicht als Erfüllungsgehilfin, sondern als selbstbewusste Partnerin einer zur Uniformität (Strohschneider 2016: 5) tendierenden Bildungsplanung versteht. Die profunde Kritik, welche derzeit ausgerechnet in der Ökonomie im Namen des Pluralismus an standardisierten Ausbildungsverfahren geäußert wird (Graupe 2013), könnte hier ein Vorbild sein. 140 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche Absicht dieser Lerneinheit ist nicht die Bestätigung wissenschaftlicher Klassifikationen, sondern die Förderung kritischer Urteilskraft. Sie beachtet die mit der Bevorzugung einer bestimmten Sprache, bestimmter Begriffe und Methoden einhergehenden Ziele und Machtansprüche. Auf diese Weise werden sowohl fachliche Verständnisse vertieft als auch Ansatzpunkte für eine erweiterte Selbstreflexion wissenschaftlicher Pädagogik eröffnet, die sich an Schulen und Universitäten mit den Gegenständen Sprache / Literatur / Kultur beschäftigt. Von einer Reflexion sowohl der bildungspolitischen als auch der fachlichen Aspekte des Kognitivismus können wertvolle Impulse ausgehen für eine selbstbewusstere Klärung des pädagogischen Verhältnisses zur Humankapitalproduktion sowie zu den Zugriffen von Konzernen, Lobbygruppen und Unternehmensberatungen auf das Bildungswesen (Münch 2009; Krautz 2011). 5.4 Expansive Theoriebildung - ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs Die Bezeichnung cognitive science taucht wahrscheinlich erstmals in den 1970er Jahren in angelsächsischen Publikationen auf (Bechtel, Abrahamsen & Graham 2001), die bis heute weitgehend federführend sind, weshalb im wissenschaftlichen Feld der Kognition ebenso von einem Sprachwechsel zugunsten der lingua franca des Englischen (beziehungsweise Amerikanischen) auszugehen ist. Die Rede ist bisweilen von einer cognitive revolution, für die als Zeitraum die 1940er bis 1970er Jahre angegeben werden (Dember 1974; Hobbs & Chiesa 2011). Allgemein gesprochen, setzen sich im Zuge dieser Umwälzung funktionalistische Theoriemodelle durch, deren für verschiedene Disziplinen nachzuweisende Ähnlichkeiten kollaborativ organisierte Theorieagglomerate und Wissenschaftsprogramme ermöglichen (Block 2000 [1978]: 159). Maßgebliche Rollen spielen hier die Psychologie, die Computerwissenschaften, die Neurowissenschaften und die Linguistik. Wissenschaftshistorisch gesehen handelt es sich bei den genannten Disziplinen um die „Gegenwissenschaften“ zum älteren Kanon der Humanwissenschaften (Welsch 1997: 317 f). Die Herausbildung der Kognitionswissenschaften kann am besten anhand der wechselreichen Geschichte der Psychologie veranschaulicht werden. Sich allmählich von ihren philosophischen Anfängen emanzipierend (Gottfried Wilhelm Leibniz, John Locke, Étienne Bonnot de Condillac, David Hume, Johann Gottfried Herder, Johann Friedrich Herbart u. a.), durchläuft die Psychologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einige fundamentale Paradigmenwechsel. Nach 1900 werden Bewusstseinspsychologie und klassische Psychophysik (Wilhelm Wundt, Gustav Theodor Fechner; vergleiche Poggi 1977; Borgard 1999) abgelöst von dem auf biologischen Grundlagen argumentierenden amerikanischen Behaviourismus sowie der an der physikalischen Feldtheorie orientierten deutschen Gestaltpsychologie. Schließlich erlangen Mitte der 1960er Jahre die Ingenieurwissenschaften eine Leitfunktion. Analog zu Nachrichtenkanälen und Computern werden Lebewesen jetzt als „informationsübertragende und -verarbeitende Systeme“ begriffen (Neumann 1992: 48 f; Schiewer 2004: 86-117). Einen überragenden Einfluss übt Claude Shannons 1948 im Bell System Technical Journal veröffentlichter Aufsatz Mathematical Theory of Communication aus. Gemeinsam mit Warren McCullochs und Walter Pitts’ A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity 141 5.4 Expansive Theoriebildung - ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs (1943) und Arturo Rosenblueths, Norbert Wieners und Julian Bigelows Behavior, Purpose, and Teleology (1943) bildet Shannons Text den Ausgangspunkt der sogenannten „Kybernetik“ (Pias 2002). Der Begriff ist dem griechischen Wort für ‚Steuermann‘ nachgebildet und bezeichnet die vielleicht folgenreichste wissenschaftliche Umwälzung des 20. Jahrhunderts (Ashby 1956; Pias 2003). Shannons Informationstheorie entfaltet ihre auf einem umfassenden Erklärungsanspruch beruhende Wirksamkeit vor allem deshalb, weil sie durch McCullochs „Modell universaler Symbolmanipulation- […] paßgenau- […] ergänzt werden kann“ (Pias 2002). Damit liegt bereits früh das Menschen und Maschinen umgreifende Schlüsselkonzept des Informationszeitalters vor, auch wenn es ab Mitte der 1980er Jahre durch den sogenannten (Neo-)Konnektionismus (auch PDP für parallel distributed processing) herausgefordert und modifiziert wird. An die Stelle der Computer-Analogie rückt jetzt die Gehirn-Analogie. Die modellhafte Darstellung erfolgt nun nicht mehr in Form von Blockschaltbildern und Flussdiagrammen, sondern durch quasi-neuronale Netze (Neumann 1992: 50). Mit einigem Recht wird der Konnektionismus als eine zum heutigen Verständnis des Kognitivismus führende Kulturrevolution gewertet (Neumann 1992: 51). Allgemeinverständliche Kompendien sind, in deutscher Übersetzung, vor allem: Allman 1990 und Gardner 1989 [1985]. Hier wird die große Bedeutung deutlich, die der Erforschung menschlicher Denkoperationen zugemessen wird; diese Operationen begreift der Konnektionismus nicht mehr „als angewandte Logik“ (Neumann 1992: 55). Darauf hat bereits die Denkpsychologie, wichtig ist Otto Selz’ Schrift Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs (1913), hingearbeitet (Schiewer 2004: 112-115). Die experimentelle Leseforschung, die Psycholinguistik und schließlich die Künstliche-Intelligenz-Forschung ( AI , KI ) profitieren von dieser Entwicklung. Neumann schreibt dazu: Die Psychologie der Informationsverarbeitung suchte nach einer Theorie des Geistes. Der Konnektionismus arbeitet an einer Theorie des Gehirns. Die Psychologie der Informationsverarbeitung konstruierte alle mentalen Vorgänge nach dem Vorbild des rationalen Denkens (‚ratiomorph‘ in der Formulierung Egon Brunswiks), der Konnektionismus sieht das Denken, gewissermaßen ‚biomorph‘, als das Derivat einfacher, für sich genommen überhaupt nicht intelligenter Gehirnprozesse. Für den einen Ansatz gehörten geistige Vorgänge einer eigenen Ebene an, die ihren spezifischen Gesetzen folgt und deshalb einer auf sie zugeschnittenen theoretischen Sprache bedarf. Für den anderen ist der Geist ein Stück biologischer Natur-- ‚Geist ist einfach, was Gehirne tun‘-[…]. (Neumann 1992: 57) Erhalten bleibt indes auch nach dieser Umorientierung der Anspruch einer unifizierenden Theorie: Auch im Zuge der Gehirn-Analogie kann, wie schon bei der Computer-Analogie, „ein ganzes Ensemble von Aussagen im gleichen Formationssystem erscheinen“ (Pias 2002). Anders gesagt: Hier wird eine Vereinheitlichung der Wirklichkeit erzielt, was wiederum einer funktionalistischen Perspektive gleichkommt (Kondylis 1991: 270f). Mit dem expansionistischen Modell geht eine Änderung des Wissensbegriffs einher: So betont der Funktionalismus weniger die Variation von Wissen beziehungsweise die Produktion von Wissensüberschüssen als seine „selektive und stabilisierende Funktion“ (Srubar 2006: 139). Bevorzugt wird demzufolge das unmittelbar anwendbare Wissen. Wie Wissenschaftsgeschichtsschreibung und Wissenssoziologie zeigen, können sich überall dort, wo szientifische Aussagen zugleich eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion 142 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche ausüben, „darstellend-deskriptive, verhaltenssteuernd-normative und werthaft-emotionale Komponenten“ miteinander verbinden (Topitsch 1979: 12). Ein Beispiel ist die sozialkybernetische Systemtheorie, die kognitive, psychische und soziale Systeme als einander äquivalent betrachtet. Luhmann definiert Kognition als das rekursive Prozessieren von- […] Symbolen in Systemen, die durch die Bedingungen der Anschlußfähigkeit ihrer Operationen geschlossen sind (seien es Maschinen im Sinne des ‚artificial intelligence‘, Zellen, Gehirne, bewußt operierende Systeme, Kommunikationssysteme). (Luhmann 2005 [1995]: 39) Ebenso wie das aus der Maschinen- oder der Gehirnanalogie geformte Kognitionskonzept verhält sich das kybernetisch-systemtheoretische expansionistisch. Anstatt von Gesellschaft ist jetzt die Rede vom System; analog hierzu fungieren personale und soziale Systeme, womit die Sprechweisen angepasst werden an die Bedeutung, die Technik und Ökonomie mittlerweile in allen Lebensbereichen erlangt haben. Hinsichtlich des industriellen Zwangs zur arbeitsteiligen Kooperation werden diese Personalsysteme vorwiegend in ihren adaptiven Fähigkeiten begriffen. Der Fokus liegt auf Normalität und Konformismus. Gleichzeitig wird dem Individualismus Rechnung getragen, der für pluralistische Gesellschaften, insbesondere die hedonistische Lebenshaltung des spätkapitalistischen Konsumenten, charakteristisch ist (Luhmann 1977: besonders 62-76; über den „funktionalistischen Konservatismus“ entwickelter Industriegesellschaften vergleiche Gouldner 1974 [1970]: 403-406; zum erlebnisorientierten Hedonismus vergleiche Schulze 2000 [1992], aber auch schon Vierkandt 1959 [1931]: 147 und Schumpeter 1993 [1942]: 255). 5.5 Bilder im Kopf: Konjunktur der Kompetenz und mögliche Auswege aus einem reduzierten Kultur- und Sprachverständnis Charakteristisch für die gegenwärtige Bildungspolitik und Didaktik ist die Verwendung von Begriffen wie Kompetenz, Assimilation, Information, Manipulation, Konstruktion und Performanz (Sun & Hui 2012). Viele davon werden nicht nur in wissenschaftlichen Zusammenhängen gebraucht, sondern finden darüber hinaus Eingang in den öffentlichen Sprachgebrauch. Dadurch werden sie „mit einer Fülle von abgeleiteten und erweiterten Bedeutungen versehen- […], die sich vor allem auf Leistungen, deren Messung und deren Vergleich beziehen-[…]“ (Legnaro 2004: 206). Das Paradigma der Messung gilt dabei nicht nur für die nachträgliche Evaluation, sondern es wird im Zuge einer künftig denkbaren breiteren Anwendung algorithmenbasierter Technologien der Echtzeitmessung, der sogenannten „cognitive activity recognition“ (Reichenbach & Simanowski 2018: 48), auch zum Werkzeug der Unterrichtspraxis. Auf diskursiver Ebene ist die Anlagerung analoger und sinnverwandter Konzeptualisierungen von Technologie, Software und Lernprozessen zu beobachten, deren Interdependenz dadurch wächst, wobei sie wegen ihrer Verwandtschaft auf wenige Prinzipien reduziert werden können. In einem kürzlich in fünfter Auflage erschienenen Standardwerk zur Mediendidaktik heißt es: 143 5.5 Bilder im Kopf: Konjunktur der Kompetenz Als Qualitätsmerkmale des Lernangebots können schließlich mehrere Merkmale genannt werden. Für den Lernprozess förderlich ist die Aktivierung eines tiefen Lernens-[…] durch Lernprozesssteuerung und -regelung (Selbststeuerung und Interaktivität durch Rückmeldung und Adaptivität)-[…]. (Kerres 2018: 105) Steuerung ist ein Ausdruck der Regelungstechnik beziehungsweise Kybernetik. Damit setzt sich ein Sprachgebrauch durch, der didaktische Ansätze für kompatibel erklärt mit den Prinzipien des new public managements. Die theoretischen Aspekte des Kognitivismus konstituieren somit nicht nur einen Gegenstand der Forschung, sondern werden gleichzeitig als Anwendungsbereich der kognitivistisch-kybernetischen Modelle selbst verstanden. Diese werden unter manageriale Vorzeichen gestellt, deren Grundmotiv die kostensparende Effizienz ist. Federführend bei der Implementierung und Durchsetzung sind Medienkonzerne, die Beratungsindustrie und Lobbyorganisationen, die mächtigste unter ihnen ist zweifellos der European Round Table of Industrialists ( ERT ). Didaktische Imperative werden gegenwärtig vielfach aus dem Wandel der Informations- und Kommunikationstechnik abgeleitet. Wissenssoziologisch gesprochen, findet dabei eine doppelte Artikulation von Schlüsselwörtern statt (zum Beispiel E-Learning, Kompetenz), indem nicht nur Fachleute, sondern auch die „Öffentlichkeit mit ihren Leitbegriffen, Deutungsmustern und Relevanzstrukturen“ adressiert werden (Knobloch 2001: 203). Von hier ausgehend ist die Konjunktur der Kompetenz-Didaktik zu beurteilen. Analog der für die industrielle Materialwirtschaft erforderlichen Arbeitsteilung zerlegt das Kompetenz-Paradigma die gesamte psychosoziale Wirklichkeit in kleinste Bestandteile. Diese Elemente bilden gleichsam den Rohstoff der Kompetenzen. Dass im Prinzip unendlich viele benannt werden können, ist unerheblich, dienen doch alle, und zwar in ein und derselben Weise, mutmaßlich der kognitiven Höherentwicklung, also dem Fortschritt. Atomisierung und Vereinheitlichung, respektive Individualität und Gleichheit, bilden zwei Seiten einer Medaille. Unter diese Rahmenbedingung fällt auch die von traditionellen Bildungsinhalten abgelöste, jetzt ( PISA ) als Informationsentnahme gefasste Lesekompetenz (Hurrelmann 2002). Sie kann an beliebig auswählbaren Textausschnitten eingeübt und statistisch ausgewertet werden. Ebenso wie aus Kompetenzsicht Quantität Qualität bedeutet, leisten im Modus der Kompetenz Literatur und Sachtexte funktional dasselbe. Erhellend erweist sich das Studium des kompetenzdidaktischen Funktionalismus nicht nur insofern Informatik, Sozial- und Lerntheorien Familienähnlichkeiten aufweisen (Block 1992; Schwinn 1995). Es lässt sich auch zeigen, dass funktionalistische Akzentsetzungen des Kognitiven für ungewollte Folgeprobleme der aktuellen Bildungspolitik verantwortlich sind, wo diese unter dem Einfluss managerialer Steuerungs- und Kontrollsysteme steht ( ERT 1994; Graupe & Krautz 2013). Als wertvoll für solche Untersuchungen erweist sich die ebenfalls aus dem Kognitivismus hervorgehende Theorie des Framing, deren Ursprünge u. a. bis zu Frederic Bartletts Studie Remembering: A Study in Experimental and Social Psychology (1932) zurückreichen. Demnach gilt es, sich die normalerweise unbewusst bleibenden mentalen Operationen zu verdeutlichen, die unsere Sprache und unser Denken prägen (Lakoff & Johnson 1999: 12). Es kann nachgewiesen werden, 144 5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche dass wir mit verschiedenen mentalen Strukturen und Operationen denken, ohne über diese nachzudenken-- und diese Prozesse werden-[…] dem kognitiv Unbewussten zugeschrieben-[…]. (Graupe 2017b: 6) Und weiter: Unbewusstes Denken im Sinne der kognitiven Wissenschaft bezeichnet denjenigen Teil unseres Denkens, den wir einfach nicht bewusst wahrnehmen, nicht reflektieren und daher nicht kontrollieren.-[…] [W]enn wir denken, dann benutzen wir dazu ein höchst komplexes System von mentalen Konzepten-- und zwar ohne zu kontrollieren, wie sie unser Begreifen von Dingen steuern. (Lakoff & Wehling 2016: 22, zitiert nach Graupe 2017b: 6) Im Kontext der Kognitionswissenschaft wird über intelligente Systeme gesprochen, „die Symbole in bestimmter Weise manipulieren“ (Münch 2000 [1992]: 29). Von hier aus könnten kognitivistische Methoden planvoll eingesetzt werden, um die Mechanismen ungewollter Beeinflussung (Framing) in bestimmten Lernumgebungen, etwa anhand persuasiv gestalteter Lehrmaterialien und Textbücher, aufzudecken. Subtile Verfahren der Textanalyse und Textkritik entwickelt aktuell die heterodoxe Wirtschaftsdidaktik anhand einer fundamentalen Kritik standarisierter ökonomischer Unterrichtsmaterialien. Diese werden offenbar seit Jahrzehnten von Ausdrucksformen beherrscht, „die eine Veränderung des Denkens der Lernenden auf der Ebene gedanklicher Deutungsrahmen (in der Fachsprache Frames genannt) bewirken“ (Graupe 2017b: 6); diese können von den Lernern nicht reflektiert werden. Von hier ausgehend lassen sich besonders stichhaltige Argumente gegen das bildungspolitische „Reduktionismusprogramm“ (Münch 2000 [1992]: 31) und seine Framing-Effekte ableiten. Denn was in der Bewältigung alltäglicher Probleme nützlich sein kann, verkehrt sich in solchen Lernumgebungen in sein Gegenteil. Grundlage dieser Einsicht ist die kognitionswissenschaftliche Erkenntnis, dass schematische Wissens- und Bewertungsstrukturen als integraler Bestandteil des menschlichen Informationsverarbeitungsapparates angesehen werden müssen. Erst durch eine solche kategoriale Wissensorganisation wird die aufwendige Bewältigung von Alltagsproblemen möglich. Die Verwendung von reflexhaft aktivierten Schemata erfüllt somit die Funktion kognitiver Ökonomie. (Stocké 2002: 97) Didaktisch gesehen, führt diese Einsicht zu der Forderung, die „Kriterien einer wissenschaftlich-objektiven Erkenntnisschulung“ sichtbar, das heißt für Lehrer und Lehrerinnen beziehungsweise Lerner nachvollziehbar zu gestalten, anstatt „auf die Umbildung von surface frames“ abzuzielen (Graupe 2017a). Lernern soll es ermöglicht werden, „nach bewusster Urteilsbildung in einem Bereich klar markierter Regeln wissenschaftlichen Denkens [zu] streben“; das heißt, es sind Lehrmethoden zu vermeiden, die das „kognitiv Unbewusste umbilden“ (Graupe 2017b: 7). Im Anschluss an diese Manipulationen aufdeckende Nutzung kognitivistischer Erkenntnisse kann gefragt werden, ob und wie Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften vom Kognitivismus fachdidaktisch tatsächlich profitieren könnten. Dabei wären auch Entwick- 145 5.6 Zusammenfassung lungen der Gegenwartsphilosophie zu berücksichtigen, insofern diese sich aktuell von einem reduktiven Naturalismus produktiv herausgefordert sieht (Nagel 2016 [2012]: 106, 161). Vor allem aber wären Allianzen zu bilden zwischen kognitiver Linguistik und historischer Semantik beziehungsweise Begriffsgeschichte zur Eröffnung eines mehrsprachigen und mehrkulturellen transdifferenten Blicks, und zwar nicht nur auf Sprachen, Quellentexte und kulturelle Artefakte, sondern auch auf die jeweils einen Monopolanspruch stellende wissenschaftliche Basisterminologie. 5.6 Zusammenfassung ▶ Die Konjunktur kognitivistischer Modelle kann sowohl nach ihren sachlichen als auch nach ihren weltanschaulich-ideologischen Gesichtspunkten beurteilt werden. ▶ Es macht einen Unterschied, in welcher Sprache ich zum Beispiel metalinguistisch kommuniziere und es geht nicht darum, eine bestimmte Sprache (hier das Englische / Amerikanische), sondern die mit einer Monopolstellung einhergehenden konzeptuellen Verzerrungen zu kritisieren, die einer interkulturellen Didaktik im Wege stehen. ▶ Konzeptuelle Uniformität ist die Folge eines Denkstils, der weniger der Analyse als dem idealen Selbstverständnis einer Gesellschaft entspricht, in der ökonomisch-technische Arbeitssowie produzierende und konsumierende Lebensweisen vorherrschend sind. ▶ Verantwortliche Pädagogen sollten sich mit den problematischen Aspekten einer von den Fachkulturen abgelösten Kompetenz-Didaktik auseinandersetzen. Literarische Texte und Sachtexte leisten hier funktional dasselbe, entsprechend der Gleichsetzung von Quantität und Qualität. Dabei gehen wesentliche kulturelle Aspekte von Sprache verloren.. 5.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Warum spielt der Kognitivismus in der Literaturwissenschaft im Gegensatz zur kognitivistisch ausgerichteten Sprachwissenschaft nur eine eher untergeordnete Rolle? 2. Warum ist sowohl der Begriff Kreativität als auch das Schlagwort vom „lebenslangen Lernen“ ambivalent? Welche maßgebliche Rolle spielt hier ein ökonomistisches Subjektverständnis und welchen wichtigen Bildungsaspekt blendet die Theorie des Humankapitals aus? 3. Welcher ungelöste Widerspruch zwischen Lehrform und Lehrinhalt kann hinsichtlich des Sprach- und Literaturunterrichts festgestellt werden? 4. Was bedeutet das kognitivistische Wort framing? Und warum liegt hier womöglich ein Schlüssel vor für eine verbesserte Unterrichtspraxis zur Förderung der kritischen Urteilskraft? 147 5.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 6. Grundlagen der Interkomprehension Silvia Bruti, Marina Foschi Albert & Marianne Hepp Diese Einheit zielt darauf ab, Ähnlichkeiten zwischen dem Deutschen und Englischen hervorzuheben, deren Kenntnis bei Lernern, die mit einer der beiden Sprachen vertraut sind, das Verständnis der anderen Sprache fördert (Interkomprehension). Deutsch und Englisch sind indoeuropäische Sprachen aus derselben Sprachfamilie und derselben Gruppe der westgermanischen Sprachen. Weltweit wird Deutsch von etwa 100 Millionen Menschen gesprochen. Es ist offizielle Sprache in Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Teilen der Schweiz, Luxemburg und Belgien. In den D-A-C-H-Ländern (D-= Deutschland, A-= Austria / Österreich, CH -= Confoederatio Helvetica / die Schweiz) wird Deutsch von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen (95 % in Deutschland, 89 % in Österreich, 65 % in der Schweiz). Es ist die Hauptsprache von etwa 95-100 Millionen Menschen in Europa, das heißt 13,3 % aller Europäer. Damit steht Deutsch an zweiter Stelle der Erstsprachen in Europa nach Russisch (144 Millionen Sprecher) und vor Französisch (66,5 Millionen) und Englisch (64,2 Millionen). Deutsch wird außerdem als staatliche Amtssprache beziehungsweise als Minderheitssprache in vielen anderen Ländern offiziell anerkannt, zum Beispiel in Italien, Slowenien, Ungarn, Namibia, Polen. Deutsch spielt eine wichtige Rolle als Wissenschafts-, Wirtschafts- und Kultursprache. Es steht an zweiter Stelle der am meisten verwendeten Sprachen im Internet. Englisch wird von etwa 350 Millionen Menschen als Erstsprache gesprochen. Noch viel größer ist die Anzahl derjenigen, die es als Fremd- oder Zweitsprache benutzen: Über 500 Millionen Menschen. Englisch ist Hauptsprache in Großbritannien, in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Irland, Neuseeland sowie mehrerer karibischer und pazifischer Inselstaaten; es ist zudem eine Amtssprache in Pakistan, Indien, auf den Philippinen, in Malta, Singapur und in vielen subsaharischen Ländern Afrikas. Es wird des Weiteren auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Bangladesch, massiv verwendet, in Bereichen wie Recht, Bildung und Forschung. Ähnlichkeiten in der deutschen und englischen Rechtschreibung, die auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgeführt werden können, sind bei den meisten Wörtern offensichtlich; wo Unterschiede auftreten, können diese regulären Veränderungsmustern zugeschrieben werden (siehe Lerneinheit 6.1). Die Kenntnis dieser Regelmäßigkeiten begünstigt zweifellos die Worterkennung und beschleunigt das Leseverständnis. Ähnlichkeiten können bei der Verwendung von Affixen, in Wörtern, die sich aus ähnlichen Wortbildungsprozessen ergeben, und in Funktionswörtern (siehe Lerneinheit 6.2) identifiziert werden. Schließlich wird die Entsprechung auch in syntaktischen Mustern gezeigt, die das Ergebnis eines ähnlichen typologischen Verhaltens sind (siehe Kapitel 3).Wir gehen davon aus, dass, wenn auf diese Ähnlichkeiten hingewiesen wird, vorhandenes Wissen in einem der Sprachsysteme aktiviert wird, sodass Lese- und Verständnisfähigkeiten in der anderen Sprache ebenfalls gefördert werden. 148 6. Grundlagen der Interkomprehension 6.1 Graphemik und Wortschatz Silvia Bruti Da Deutsch und Englisch genetisch verwandt sind, weisen sie viele gemeinsame Merkmale auf. In Lerneinheit 6.1 werden wir Bereiche berücksichtigen, in denen dies ganz besonders der Fall ist, nämlich in der Graphemik und Lexik. Wir werden sehen, dass es gemeinsame Regelmäßigkeiten in der Rechtschreibung beider Sprachen gibt. Dabei werden wir vor allem die Schriftsprache betrachten, wobei festgestellt werden kann, dass die Rechtschreibung eng mit dem Wortlaut verbunden ist. Diese Regelmäßigkeiten haben sich aus einem jahrhundertelangen Sprachwandel ergeben. Vor langer Zeit standen sich Deutsch und Englisch viel näher als heute (Ähnlichkeiten in den Bereichen Lexik und Syntax werden in den Lerneinheiten 6.2 und 6.3 behandelt). Ab einem bestimmten Punkt der Sprachentwicklung änderte sich die Aussprache bestimmter Laute im Deutschen und somit auch ihre Schreibweise. Dagegen blieben sie in der englischen Sprache ziemlich unverändert. Das Nachvollziehen einiger dieser Änderungen wird uns helfen, verwandte Wörter zu erkennen, wie sie heute in beiden Sprachen erscheinen. Der Erb- und Kernwortschatz des Deutschen und Englischen ist germanisch. Das bedeutet, dass viele grundlegende Wörter in beiden Sprachen ähnlich sind: Haus / house, Mann / man, hier / here, gut / good. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Übereinstimmungen in der deutschen und englischen Rechtschreibung (und damit in der Aussprache) erkennen können; ▶ wissen, welche Sprache konservativer beziehungsweise innovativer ist; ▶ wissen, dass Deutsch und Englisch einen großen Anteil des Kernwortschatzes teilen; ▶ Beispiele für Internationalismen zur Kenntnis nehmen, das heißt Wörter, die heute in verschiedenen Sprachen verwendet werden. 6.1.1 Das Alphabet In diesem Abschnitt werden wir das Alphabet des Deutschen und Englischen betrachten. Das Alphabet ist das konventionelle Mittel, um Wörter graphisch darzustellen. Die Zeichen des Alphabets werden Grapheme genannt. Sie entsprechen nicht zwingend den Phonemen als den Einheiten der Aussprache. Phoneme sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden akustischen Einheiten des Lautsystems einer Sprache. Grapheme dagegen sind die kleinsten bedeutungsunterscheidenden graphischen Einheiten des sprachlichen Schriftsystems. Wie wir sehen werden, können Wörter der Schriftsprache unterschiedlich aussehen, wobei sie bei näherer Betrachtung graphemische Gemeinsamkeiten in den beiden Sprachen aufweisen. Das Alphabet beider Sprachen gründet auf dem lateinischen Alphabet. Das Alphabet 149 6.1 Graphemik und Wortschatz des Deutschen und des Englischen enthält 26 gemeinsame Buchstaben. Beim Deutschen kommen die umgelauteten Buchstaben <ä>, <ö>, <ü> und das <ß> (Eszett oder scharfes S) hinzu. Deutschsprachige Lerner des Englischen können bei der graphischen Umsetzung von ausgesprochenen Wörtern Interferenzfehler machen. So schreiben Anfangslerner typischerweise <i> beziehungsweise <a> wenn sie Wörter mit <e> beziehungsweise <r> hören, weil die Aussprache dieser Grapheme im Deutschen [i: ] beziehungsweise [ɑ: ] ist. Analog dazu können auch englischsprachige Lerner des Deutschen die Entsprechung zwischen dem Graphem <i> und dem Phonem [i] nicht ohne Weiteres erkennen. Auch können sie es als merkwürdig empfinden, dass das Graphem <r> überhaupt ausgesprochen wird, da dies im britischen Englisch normalerweise nicht der Fall ist. Die englische Aussprache kann in zwei Varianten eingeteilt werden: die rhotische und die nicht-rhotische Aussprachevariante. Sprecher und Sprecherinnen der ersten Gruppe sprechen die rhotischen Konsonanten (die verschiedenen Typen von [r]) immer aus. Diejenigen der zweiten Gruppe dagegen sprechen <r> nur in Anfangs- und intervokalischer Position aus, zum Beispiel in red [rɛd] oder very [vɛri]. In nicht-rhotischen Aussprachevarianten wie im britischen English wird <r> nie vor Konsonanten (zum Beispiel in part [pɑ: t]) beziehungsweise in Endposition (zum Beispiel in four [fɔ: ]) ausgesprochen. Die Aussprachevarianz beruht auf historischen Vorgängen: Der ursprünglich in allen germanischen Dialekten realisierte <r>-Laut wurde im Laufe der Zeit nicht in allen Varianten beibehalten. Entsprechende konservative Varietäten finden sich in Schottland, Irland, in den USA und Kanada. Fast alle Dialekte des modernen Englischen (bis auf einige periphäre Formen) ließen dagegen das „historische“ <r> fallen. In dieser Hinsicht konservativ wirken auch die Varianten des Englischen in der südlichen Hemisphäre, vor allem das australische, das neuseeländische und das südafrikanische Englisch. Im Gegenwartsdeutschen wird der <r>-Laut in der Regel ausgesprochen. Nur in der Endposition wird er ausgelassen oder vokalisiert, das heißt als Zwischenform von vokalischem und konsonantischem Laut realisiert. Dies ist beispielsweise der Fall bei der unbetonten Endsilbe <-er>und nach langen Vokalen, zum Beispiel besser [bɛs ɐ ], sehr [ze: ] oder [ze ɐ ]. Weitere auffällige Unterschiede: Das englische Graphem <th> kann stimmhaft als [ð] oder stimmlos als [ θ ] ausgesprochen werden. Das deutsche Graphem <th>, das in Wörtern altgriechischer Herkunft wie zum Beispiel Thema erscheint, wird immer als [t] ausgesprochen. Die Lautformen des englischen <th> sind für deutschsprachige Lerner schwierig zu realisieren, weil sie keine Entsprechungen im Deutschen haben. Darüber hinaus wird im Deutschen das Graphem <w> als [v] ausgesprochen, was oft die nichtkonforme Aussprache englischer Wörter wie we oder wine als [vi] und [vain] zur Folge hat. Grapheme und Laute: regelmäßige Übereinstimmungen Wir wenden uns jetzt den Graphemen der beiden Sprachen zu. Als Beispiele dienen das deutsche Wort Pfeffer und sein englisches Äquivalent pepper. Auch das deutsche Wort Pflanze beginnt mit <pf>, das entsprechende englische Wort plant mit <p>. Werfen Sie nun einen Blick auf die zweisprachigen Wortpaare in der untenstehenden Tabelle. Sie werden regelmäßige Übereinstimmungen in der Rechtschreibung erkennen: 150 6. Grundlagen der Interkomprehension Deutsch Englisch Deutsche Grapheme Englische Grapheme Tanz dance t d Tag day t d Tier deer t d Türe door t d Taube dove t d Traum dream t d trocken dry t d Pfad path pf p Pfote paw pf p Pfirsich peach pf p Pfennig penny pf p Pfeffer pepper pf p Pflanze plant pf p Pfahl pole pf p Pfund pound pf p Zapf tap z t zehn ten z t Zeit tide z t Zunge tongue z t zwölf twelve z t zwei two z t dünn thin d th Ding thing d th denken think d th drei three d th Daumen thumb d th Tabelle 6.1: Zweisprachige Wortpaare und ihre Grapheme Selbstverständlich sind die Ähnlichkeiten zwischen den Wortpaaren nicht zufällig. Sie spiegeln vielmehr regelmäßige Übereinstimmungen wider, nach denen ein bestimmtes Graphem (sowie das entsprechende Phonem) des Deutschen einem englischen Pendant entspricht: Zum Beispiel steht Deutsch <t> parallel zu Englisch <d>, <pf> zu <p>, <d> zu <th>. 151 6.1 Graphemik und Wortschatz Experiment Beobachten Sie die Auflistung in der Tabelle. Können Sie semantische Felder erkennen, bei denen regelmäßige Übereinstimmungen besonders häufig vorkommen? Können Sie erklären, warum dies der Fall ist? Finden Sie mithilfe von einsprachigen Wörterbüchern weitere Beispiele für die Auflistung. Eine historische Erklärung Wie vorher erwähnt, ergeben sich Ähnlichkeiten der deutschen und der englischen Sprachen daraus, dass beide der germanischen Sprachfamilie angehören. Sie haben also eine gemeinsame Herkunft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte ein deutscher Sprachwissenschaftler namens August Schleicher die sogenannte Stammbaumtheorie. Die Theorie erklärt die bestehenden Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Sprachen als „Familienrelationen“, die sich in Form von phylogenetischen Stammbäumen darstellen lassen. Schon einige Jahre zuvor hatte Jakob Grimm, einer der berühmten Brüder und Autoren der Kinder- und Hausmärchen, eine Theorie entworfen, die bestimmte Korrespondenzen zwischen germanischen Konsonanten und denjenigen des Sanskrits, Altgriechischen und Lateinischen erklärt. Grimms Gesetz (die sogenannte Erste Lautverschiebung) besagt: 1. Urindogermanische stimmlose Verschlusslaute- - zum Beispiel labial [p]- - verändern sich zu stimmlosen Frikativen, in unserem Fall zu [f]; 2. Urindogermanische stimmhafte Verschlusslaute-- zum Beispiel dental [d]-- verändern sich zu stimmlosen Verschlusslauten, zum Beispiel zu dental [t]; 3. Urindogermanische stimmhafte behauchte Verschlusslaute- - wie etwa guttural [g h ]- - werden zu stimmhaften Frikativen, in unserem Beispiel zu [g]. Beispiele: (a) pisces (Latein) ↔ fish (Englisch), Fisch (Deutsch) (b) cor, cordis (Latein) ↔ heart (English), Herz (Deutsch) (c) hostis (lat. für ‚Fremdling, Feind‘) ↔ Gast (Deutsch), guest (English) Tabelle 6.2: Beispiele zur Ersten Lautverschiebung Der Sprachwissenschaftler Verner beobachtete, dass diese Regelmäßigkeiten nicht in allen Fällen auftreten. Sie sind von mehreren Faktoren abhängig, darunter von Akzent, Stimmhaftigkeit beziehungsweise Stimmlosigkeit und dergleichen. Im Laufe der Zeit haben sich weitere Veränderungen ergeben, wie zum Beispiel die sogenannte Zweite Lautverschiebung, die zu Unterschieden führten, die nur die hochdeutschen Dialekte betraf. Aus diesem Grund erkennen wir heute graphemische Regelmäßigkeiten, wie zum Beispiel engl. <p-> vs. dt. 152 6. Grundlagen der Interkomprehension <pf> vs. <-f(f)-> (Beispiele: pipe / Pfeife; hope / hoffen), engl. <t-> vs. <ts> (sit / sitzen; heart / Herz). Es ist deswegen anzunehmen, dass „Vorahnen“ des Englischen und Deutschen, wie das Angelsächsische und das Althochdeutsche, viel mehr Ähnlichkeiten miteinander aufwiesen als es in den beiden Sprachen der Gegenwart der Fall ist. Die folgenden Tabellen enthalten die wichtigsten Regelmäßigkeiten zwischen deutschen und englischen Graphemen. Tabelle 6.3 betrifft Konsonanten und Konsonantengruppen, Tabelle 6.4 Vokale und Diphthonge: Deutsch Englisch Beispiele b f Dieb - thief; halb - half b v eben - even; Grab - grave; sieben - seven ch k Buch - book; Elch - elk; schwach - weak; sprechen - speak ch gh acht - eight; lachen - laugh; Licht - light; Fracht - freight d th Bad - bath; drei - three; Erde - earth; Leder - leather f p Bischof - bishop; helfen - help; scharf - sharp ff p / pp Affe - ape; Pfeffer - pepper; Schiff - ship g y Tag - day; Weg - way k c Karte - card; Keller - celler k ch Kapelle - crape; Kinn - chin mm mb Lamm - lamb; Nummer - number pf p / pp Apfel - apple; Pfad - path; Pfanne - pan sch s / sh falsch - false; Fleisch - flesh; Schnee - snow ss t / tt besser - better; dass - that; essen - eat; Wasser - water t / th d Taler / Thaler - dollar; vorwärts - forward; Wort - word t / tt d Bett - bed; gut - good; reiten - ride; Tür - door tt th Mutter - mother; Wetter - weather; v f Vater - father; vier - four; voll - full; Volk - folk z / tz t Herz - heart; zehn - ten; zwei - two; Katze - cat z c Eleganz - elegance; zirka - circa; Zirkus - circus Tabelle 6.3: Regelmäßige Übereinstimmungen: Konsonanten (nach https: / / www.thoughtco.com/ german-4133073) Deutsch English Beispiele / Examples a au lachen - laugh; schlachten - slaughter a ea schwach - weak; Waffe - weapon a i Macht - might; Nacht - night a o alt - old; Kamm - comb; falten - fold ä e Ägypten - Egypt; Äquator - equator 153 6.1 Graphemik und Wortschatz Deutsch English Beispiele / Examples au ou laut - loud; Maus - mouse; sauer - sour e ea Feder - feather; Herz - heart; heben - heave(lift) e i geben - give; leben - live ei i beißen - bite; reißen - rip ei o beide - both; Heim - home; Stein - stone ie ee Bier - beer; Knie - knee ie o Liebe - love; vierzig - forty o ea Ost - east; tot - dead u oo Buch - book; Blut - blood; Fuß - foot; Schule - school u ou jung - young; Pfund - pound Tabelle 6.4: Regelmäßige Übereinstimmungen: Vokale (nach: http: / / german.about.com/ library/ blcognates_shiftC. htm) 6.1.2 Wortschatz Die regelmäßigen Übereinstimmungen, die wir in der Graphemik beobachtet haben, sind eng damit verbunden, dass Deutsch und Englisch zur selben Sprachfamilie gehören, das heißt zu den westgermanischen Sprachen, wie dies auch für das Niederländische, das Flämische und das Friesische der Fall ist. Die westgermanischen Sprachen teilen sich einen gemeinsamen Kernwortschatz germanischen Ursprungs. Dieser entwickelte sich später in jeder Sprache auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Etappen weiter, unter anderem dank verschiedener Entlehnungen aus anderen Sprachen. Der germanische Kernwortschatz verfügte über zahlreiche Bezeichnungen für Naturphänomene und für das Kriegswesen. Die germanischen Stämme waren wandernde Völker, die zur Kriegsführung neigten. Sie bewegten sich in einem unwirtlichen Landschaftsraum mit dichter Bewaldung. Ihre Sprache spiegelte ihre Lebensweise wider und nahm erst später durch Sprachkontakte Bezeichnungen für raffinierte Kulturprodukte aus dem Mittelmeergebiet auf. Die Hauptquellen für Entlehnungen dieser Art waren für das Deutsche sowie für das Englische Latein und Französisch. Der deutsche Wortschatz enthält zahlreiche Entlehnungen aus dem Lateinischen, das als Kommunikationsmittel einer weiter fortgeschrittenen Kultur angesehen wurde. Beispiele: Mauer, Spiegel, Kerze, Tafel, Priester, Papst, Altar, taufen, Tinte, Arzt. Dasselbe gilt für die englische Sprache. Die Römer erreichten England im Jahr 55 v. Chr. unter Julius Caesar, als das Land von heidnischen Stämmen keltischen Ursprungs besiedelt war. Die Römer herrschten fast vier Jahrhunderte lang über das Land und verbreiteten ihre Sprache, Baukunst, Religion, ihr Rechts- und Verwaltungswesen. Beispiele lateinischer Entlehnungen sind Toponyme mit -caster, -caster, -chester, -cester, -ceter (aus lat. castrum ‚Feldlager, Festung‘): Lancaster, Doncaster, Gloucester, Manchester, Chichester, Worcester, Chester, Exeter, Colchester, Leicester, Towcester. 154 6. Grundlagen der Interkomprehension Eine neue Welle von Entlehnungen aus dem Lateinischen lässt sich im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance feststellen, als klassische Texte vertieft rezipiert und übersetzt wurden. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstand somit in England zum ersten Mal eine Gelehrtendebatte über Sprachpurismus. Die Frage lautete, ob die massive Anzahl von als unzugänglich und künstlich empfundenen Entlehnungen aus dem Lateinischen und Altgriechischen die englische Sprache aushöhlen würde. Im Laufe der Zeit hat sich jedoch erwiesen, dass diese Entlehnungen den englischen Wortschatz enorm bereichern konnten und dabei Autoren wie Shakespeare zahlreiche neue Ausdrucksmittel zur Verfügung stellten. Die zweite Hauptquelle für Entlehnungen in die beiden Sprachen Deutsch und Englisch war die französische Sprache. Mit dem Sieg 1066 in Hastings durch Wilhelm den Eroberer begann eine etwa 150 Jahre dauernde französische Herrschaft, die in England Französisch als Hofsprache einführte und die englische Sprache dem gewöhnlichen Volk überließ. Abbildung 6.1: Wortschatz des Gegenwartsenglischen Der Wortschatz des Gegenwartsenglischen setzt sich folgendermaßen zusammen: Etwa 29 % sind Entlehnungen aus dem Französischen, ungefähr derselbe Prozentsatz gilt für diejenigen aus dem Lateinischen (Fachwörter der Naturwissenschafts-, Medizin- und Rechtssprache), 26 % ist germanischen Ursprungs, die restlichen 17 % entstammen anderen Quellen. Der englische Wortschatz enthält unter anderem synonymische Ausdrücke, die jeweils aus dem Angelsächsischen und aus dem Französischen kommen. Ein Beispiel dafür ist das Wortpaar ox und beef. Die erste Variante bezeichnet das Tier, die zweite das Ochsenfleisch, das von den Adligen verzehrt wurde. 155 6.1 Graphemik und Wortschatz Analog dazu verweisen die Wörter sheep, calf, pig auf das Tier, die Wörter mutton, veal, pork dagegen auf das Fleisch. In anderen Fällen gehören die synonymischen Wortpaare unterschiedlichen Sprachregistern an. Dabei wirkt das französische Lehnwort stilistisch gehobener, zum Beispiel commence vs. begin, continue vs. go on, encounter vs. meet, purchase vs. buy. Auch die deutsche Sprache erfuhr eine massive Einführung französischer Lehnwörter. Dies geschah im 17. Jahrhundert am Ende des Dreißigjährigen Kriegs, als der Westfälische Friede Frankreich eine leitende Rolle unter den europäischen Mächten einräumte. Der deutsche Wortschatz entlehnte unter anderem Wörter aus dem Militärwesen wie Armee, Kapitän, Offizier, Truppe. Weitere Entlehnungen betrafen andere Lebens- und Erfahrungsbereiche, zum Beispiel Onkel, Tante, Terrasse, Nische, Reputation, Kompliment. Die deutsche und die englische Gegenwartssprache zeigen noch heute viele lexikalische Gemeinsamkeiten auf, zum Beispiel auf dem Gebiet der Chromonymie, das heißt der Farbbezeichnungen. Abbildung 6.2: Gemeinsamkeiten bei der Farbbezeichnung (Eigene Abbildung) Wahrgenommen werden die Farben von dem menschlichen Auge, das dazu fähig ist, über 7000 Farben und gut eine Million Schattenabstufungen zu erkennen. Von allen diesen Nuancen wird nur ein geringer Teil durch die Sprachsysteme in Worte gefasst. Dabei spielen die jeweiligen Kulturwelten die entscheidende Rolle. Die Bezeichnungen für die Grundfarben sind sowohl im Deutschen als auch im Englischen germanischen Ursprungs. Die meisten sind monosyllabisch (vergleiche Abbildung 6.2). Rot / red, grün / green, gelb / yellow verweisen auf Farben der Natur in den vier Jahreszeiten. Blau / blue bezeichnet eine unschärfer wahrnehmbare Farbe. Braun / brown ist dunkler als blau, dafür aber wärmer. Weiß / white und grau / grey drücken unterschiedliche Grade der Helligkeit aus. Das Wortpaar schwarz / black bildet einen 156 6. Grundlagen der Interkomprehension Ausnahmefall: Schwarz stammt aus dem Althochdeutschen swarz ‚Dunkelheit, dicker Nebel‘, black aus dem Protogermanischen blæc ‚verbrannt‘. Die meisten weiteren Farbbezeichnungen sind jüngeren Datums. Sie nehmen unter anderem Bezug auf Mineralien oder Edelsteine (zum Beispiel gold / gold, silber / silver, türkis / turquoise), auf Blumen (lila / lilac, violet / violet), Früchte (orange / orange) etc. Farbabstufungen werden durch Wortbildungen ausgedrückt, wie zum Beispiel durch Substantiv+Adjektiv- oder Adjektiv+Adjektiv-Kompositionen: apfelgrün / apple green, dunkelblau / dark blue. Weitere gemeinsame semantische Felder indoeuropäischer Herkunft umfassen Zahlen und Bezeichnungen von Verwandtschaftsbeziehungen. Beispiele: ▶ eins-- zwei-- drei-- vier-- fünf-- sechs-- sieben-- acht-- neun-- zehn ▶ one-- two-- three-- four-- five-- six-- seven-- eight-- nine-- ten ▶ Vater-- Mutter-- Sohn-- Tochter-- Bruder-- Schwester ▶ Father-- mother-- son-- daughter-- brother-- sister Falsche Freunde Wie wir gesehen haben, verfügen die deutsche und die englische Sprache über verwandte Lexeme aus unterschiedlichen Quellen. Dies kann sich als sehr nützlich erweisen, besonders wenn man die beiden Fremdsprachen nacheinander lernt. Es gibt allerdings in beiden Sprachen Wörter, die gleich oder sehr ähnlich erscheinen und dabei unterschiedliche Bedeutungen haben. Diese Wörter können eine Falle für Fremdsprachenlerner darstellen. Derartige Wortpaare werden als falsche Freunde bezeichnet. Box vs. box Chef vs. chef Fabrik vs. fabric Tabelle 6.5: Beispiele für falsche Freunde Internationalismen In den letzten Jahren hat die Globalisierung die Mobilität von Menschen sowie von Ideen stark gefördert. Dies zeigt sich unter anderem in der deutlich ansteigenden Anzahl der Internationalismen, das heißt der Wörter, die in vielen Sprachen der Welt in derselben Bedeutung verwendet werden. Auch ihre Schreibweise und Aussprache sind in den verschiedenen Sprachsystemen sehr ähnlich oder sogar identisch. Viele Internationalismen stammen aus den technischen und wissenschaftlichen Bereichen und haben ihre Wurzeln in den klassischen Sprachen Latein und Altgriechisch. 157 6.1 Graphemik und Wortschatz ▶ Beispiele aus dem technologischen Bereich, vor allem aus der Computersprache: Computer / computer, Diskette / disk, Spam / spam, Web / web, Online / online, Firewall / firewall; ▶ Beispiele aus dem medizinischen Bereich: Dysphorie / dysphoria, Leukämie / leukemia, Dermathitis / dermathitis; ▶ Aus dem naturwissenschaftlichen Bereich: Atom / atom, Ion / ion, Proton / proton, Polymer / polymer. Für einige dieser Fachwörter gibt es synonyme Ausdrücke in der Umgangssprache. Beispiele: Deutsche Fachsprache Englische Fachsprache Deutsche Umgangssprache Englische Umgangssprache Anämie anaemia Blutarmut anaemia Anorexia anorexia Magersucht anorexia Kardiopathie cardiopathy Herzfehler heart disease Karcinom carcinoma Bösartige Geschwulst cancer Zirrhose cirrhosis Leberschrumpfung liver disease Tabelle 6.6: Fachwörter und synonyme Ausdrücke in der Umgangssprache Einige Wörter aus bestimmten Kulturbereichen gehören zur Gruppe der Internationalismen, zum Beispiel tsunami (aus dem Japanischen), glasnost, perestrojka (aus dem Russischen), laissez-faire, trompe-l’oeil (aus dem Französischen), adagio, tiramisu (aus dem Italienischen). 6.1.3 Zusammenfassung ▶ Zwischen dem Englischen und Deutschen bestehen regelmäßige graphemische Übereinstimmungen, die dazu dienen, über einzelsprachliche Barrieren hinaus Wörter zu erkennen. Ein bestimmtes Graphem (sowie das entsprechende Phonem) des Deutschen kann einem englischen Pendant entsprechen (zum Beispiel Tanz und dance; Tag und day). ▶ Ähnlichkeiten der deutschen und englischen Sprachen ergeben sich aus deren Zugehörigkeit zur germanischen Sprachfamilie, genauer zu den westgermanischen Sprachen. Diese teilen sich einen gemeinsamen Kernwortschatz germanischen Ursprungs, der sich mitunter durch verschiedene Entlehnungen in jeder Sprache unterschiedlich weiterentwickelte. ▶ Die Hauptquellen für Entlehnungen für das Deutsche und das Englische waren Latein und Französisch. ▶ Auch heute gibt es noch viele lexikalische Gemeinsamkeiten, wie beispielsweise bei Farbbezeichnungen, Zahlen oder Bezeichnungen von Verwandtschaftsbeziehungen. 158 6. Grundlagen der Interkomprehension 6.1.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Graphem- und Lautentsprechungen können Sie im Deutschen und Englischen entdecken, die auf deren gemeinsamen Ursprung schließen lassen? 2. Welche semantischen Felder zeigen eine große Anzahl an entsprechenden Lexemen in den beiden Sprachen? Denken Sie, dass dies auch in anderen germanischen Sprachen der Fall ist? 3. Warum haben Internationalismen Ihrer Meinung nach im Laufe der Zeit an Beliebtheit gewonnen? ▶ Sogenannte falsche Freunde (zum Beispiel Chef und chef) erscheinen in beiden Sprachen gleich oder sehr ähnlich, haben aber unterschiedliche Bedeutungen und stellen daher eine Falle für den Fremdsprachenlerner dar. ▶ Die Globalisierung führt zu einer Zunahme von Internationalismen, die gemeinsamer Besitz des Wortschatzes vieler Sprachen der Welt geworden sind. 159 6.2 Wortbildung und Morphosyntax 6.2 Wortbildung und Morphosyntax Marianne Hepp In Lerneinheit 6.1 haben Sie gesehen, dass in deutsch- und englischsprachigen Texten Wörter erkannt werden können, die möglicherweise auf den ersten Blick als fremd erscheinen. Es handelt sich um Wörter, die Laute enthalten, welche in der jeweiligen Sprache unterschiedlichen graphemischen Regeln folgen. Das ist oft der Fall bei Wörtern germanischer Herkunft, die in den zwei Sprachen manchmal sehr ähnlich lauten, aber Unterschiede in der Orthografie aufweisen können. Wer solche Entsprechungen systematisch zu erkennen vermag, kann diesen Wörtern leichter eine Bedeutung zuschreiben und sie als rettende Verständnisinseln im fremden Textmeer wahrnehmen. Ähnliches gilt für solche Fremdwörter, die in mehreren Sprachen als Internationalismen verbreitet sind. In der vorliegenden Lerneinheit 6.2 geht es darum, weitere Wortklassen des Deutschen und des Englischen zu erkennen, die aufgrund des Sprachwandels eine ähnliche, beziehungsweise äquivalente Form aufweisen. Dazu zählen unter anderem Wörter mit vergleichbaren morphologischen Affixen, Wörter, die aus ähnlichen Wortbildungsverfahren resultieren und äquivalente Funktionswörter wie Pronomen und Artikelwörter. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ Ähnlichkeiten in der Flexion der beiden Sprachen (Verbmorphologie, Pluralsuffixe, Sächsischer Genitiv) erkennen können; ▶ ähnliche Verfahren der Wortbildung (Komposition, Derivation) entdecken und beschreiben können; ▶ einige grundlegende, den beiden Sprachen gemeinsame morphosyntaktische Strukturen (Funktionswörter) in Texten finden und analysieren können. 6.2.1 Strukturelle Ähnlichkeiten von Wörtern im Deutschen und im Englischen Thema dieser Lerneinheit ist das Wort im Hinblick auf die Form, die es als konkreter Ausdruck im Text annehmen kann. Unser spezielles Augenmerk gilt dabei den Regeln der Flexion und den Wortbildungsverfahren beider Sprachsysteme, die jeweils auf ihre Weise eine besondere Rolle für die Lesekompetenz aus interkomprehensiver Perspektive spielen. Ausgegangen werden soll dabei also von der Morphologie, das heißt von der Form der Wörter als Konsequenz der Wortformbildung (Flexion) und von der Bildung neuer Wörter auf der Grundlage des bereits bestehenden Wortschatzes (Wortbildung). 160 6. Grundlagen der Interkomprehension Flexion Unter Flexion versteht man in der Grammatik die Art und Weise, wie ein Wort seine Gestalt ändert, um eine grammatische Funktion im Satz zu erfüllen. Deutsch und Englisch gehören zu den flektierenden Sprachen, die systematisch bei Wörtern (beziehungsweise Wortwurzeln) durch bestimmte Affixe Flexionsformen ausbilden. Beispiele: (1) Werk Werks Werke / work work’s works (2) lieb liebt geliebt / love loves loved Für Lehrer und Lehrerinnen ist es wichtig, ein Bewusstsein über die strukturellen Gemeinsamkeiten der Flexion in beiden Sprachsystemen aufzubauen, um die Lesekompetenz der Sprachlernenden unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit fördern zu können. Von Flexion ist unter anderem die Rede, wenn ein Nomen dekliniert wird (Beispiel 1). Dabei wird der Kasus des Nomens (Nominativ, Genitiv etc.) ausgedrückt (Kasusmarkierung) oder auf die Menge hingewiesen (Numerusmarkierung). Den Flexionsverfahren gehört zudem an, wenn eine Verbform konjugiert wird (Beispiel 2), um Person- oder Tempusformen, zum Beispiel Vergangenheit oder Gegenwart, auszudrücken (Person-, beziehungsweise Tempusmarkierung). Flexion realisiert sich hier durch angehängte Wortaffixe (Präfixe und Suffixe). Beispiel 1 zeigt, wie das deutsche Wort Werk und das englische work durch die jeweiligen Suffixe (-s, -e / -’s, -s) den Kasus Genitiv und den Plural markieren. Beispiel 2 zeigt, wie die deutsche Wortwurzel lieb- und das englische Wort love durch Suffixe (-t, -s) die dritte Person Singular markieren. Gezeigt wird außerdem, dass die Wortwurzel des Deutschen durch das Präfix ge- und das Suffix -t, das englische Wort love durch das Suffix -d die Form des Partizip II bilden. Flexion kann sich auch dadurch realisieren, dass die Wortform nicht durch Affixe, sondern im Inneren umgebaut wird, zum Beispiel durch Ablaut bei Verben wie gehen‒ging‒gegangen / go‒went‒gone. Wir haben bis hierher schon gesehen, dass beide Sprachen vergleichbare Flexionsstrukturen aufweisen. Für das mehrsprachige Leseverstehen ist es wichtig, diese Strukturen systematisch aufzuzeigen. Das werden wir nun umzusetzen versuchen, indem wir einige Phänomene auflisten, was in einer tabellarischen Übersicht erfolgt, die Sie selber vervollständigen können. Da das Englische weniger Flexionsstrukturen als das Deutsche zeigt, werden dabei Flexionsstrukturen des Englischen aufgelistet, die entsprechende Formen im Deutschen aufweisen. Art der Flexion Flexionsstruktur Beispiel Deutsch Beispiel Englisch Substantivflexion Pluralform in--s Büro-Büros kid-kids Pluralform in--en Mensch-Menschen child-children Possessivform (Sächsischer Genitiv) Marias Buch Maria’s Book Verbflexion dritte Person Singular Karl spielt Klavier Carl plays the piano Präteritum Karl spielte Klavier Carl played the piano Partizip II Karl hat Klavier gespielt Carl has played the piano 161 6.2 Wortbildung und Morphosyntax Art der Flexion Flexionsstruktur Beispiel Deutsch Beispiel Englisch Adjektivflexion Steigerungsformen langsam-langsamer-am langsamsten slow-slower-slowest … … … Tabelle 6.7: Deutsche und englische Flexionsendungen im Vergleich Wortbildung Unter Wortbildung versteht man die Bildung neuer komplexer Wörter auf der Basis schon vorhandener sprachlicher Mittel. So kann beispielsweise auf der Basis eines Simplexwortes wie deutsch Haus, englisch house eine Wortfamilie aufgebaut werden. Dies kann anhand von unterschiedlichen sprachlichen Mittel geschehen, wie anhand folgender Beispiele gezeigt werden soll: Simplexwort Beispiel. Komplexes Wort Haus house (1) Hausmann househusband (2) Hausbesitzer houseowner (3) Einfamilienhaus single family house Tabelle 6.8: Simplexformen versus Komposita Im Beispiel 1 entstehen die komplexen Wörter jeweils aus zwei Lexemen (Haus + Mann / house + husband). Beispiel 2 zeigt komplexe Wörter derselben Struktur: Lexem (Haus-house) + Wortwurzel (besitz-, own-) + Suffix (-er,--er). Im Beispiel 3 wird ein komplexes Wort durch drei Simplexwörter gebildet: ein- (Quantifikator) + Familie (Substantiv) + Haus (Substantiv) vs. single (Adjektiv) + family (Substantiv) + house (Substantiv). Bei der deutschen Wortbildung Einfamilienhaus gesellt sich noch ein Fugenzeichen hinzu (-n-). Dabei wird ersichtlich, dass deutsche und englische Wortbildungen Lexeme und grammatische Morpheme (Affixe) als sprachliche Bausteine verwenden, wobei Lexeme als Wortwurzeln erscheinen können. Fugenelemente (außer--nauch--s-,--es-,--eetc.) sind charakteristische Vorkommen der deutschen Wortbildung. Die englische Sprache verwendet nur selten das Fugenelement--s- (zum Beispiel sports car). Je nach Art der Bausteine, die in den deutschen und englischen komplexen Wörtern vorliegen, unterscheidet man zwischen morphologischen Wortbildungsprodukten. Aus unserer vergleichenden Perspektive kommen dabei besonders die Derivation (Ableitung) und die Komposition (Zusammensetzung) zum Tragen. Wenn Sie sich die folgende Klassifikation der Wortbildungen aus der folgenden Tabelle anschauen, können Sie sich schon Gedanken darüber machen, nach welchen Prinzipien diese Unterscheidung vorgenommen wird. 162 6. Grundlagen der Interkomprehension Wortbildungsprodukte Englisch Deutsch Derivation celebration anniversary extravagant childhood colorful Aufmerksamkeit Unglück gratulieren tatsächlich Komposition birthday party mid-nineteenth Western cultures common rituals party locations blown out cone-shaped someone milestone Geburtstag Wiegenfest Jahrestag Kindergeburtstag genauso Geburtstagsbrauch Geburtstags-Ständchen Geburtstagslied E-Mail Deutschland Glückwunsch Tabelle 6.9: Derivate und Komposita im Deutschen und Englischen Bei der Derivation werden neue Wörter aus einem Wort oder einer Wortwurzel mit einem grammatischen Morphem (oder mehreren Morphemen) verbunden. So entsteht zum Beispiel das Wort Unglück durch Hinzufügung des Negationsmorphems unan das Wort Glück. Das Substantiv Aufmerksamkeit wird vom Adjektiv aufmerksam abgeleitet, indem das Suffix--keit beigefügt wird. Die englischen Wörter celebration und childhood sind Derivationen von der Wortwurzel celebratbeziehungsweise vom Wort child durch jeweilige Beifügung eines Suffixes (-ion,--hood). Für das Textverstehen ist die systematische Erkennung von abgeleiteten Wörtern wichtig, da bestimmte Affixe die Wortwurzel jeweils auf eine besondere Art determinieren. Dies geschieht sowohl mit morphologischen, als auch mit semantischen Konsequenzen: Je nach Morphemklasse kann eine bestimmte Bedeutung bei dem abgeleiteten Wort wahrgenommen werden. So bilden etwa bestimmte Suffixe Abstrakta oder Nomina Agentis, Actionis und Instrumenti. Besonders wichtig für unsere Zwecke ist zu erwähnen, dass die deutsche und die englische Sprache vergleichbare Derivationsverfahren zeigen. Wir listen im Folgenden einige davon auf (1-4), weitere können Sie auch zusammen mit Ihren Fremdsprachenlernenden ausfindig machen: 1. Versetzung in eine andere Wortart, zum Beispiel ▶ Substantiv, Adjektiv (Gesundheit, sane) + Morphem (-lich,--ly) zu Adverb (gesundheitlich, sanely) ▶ Adjektiv (gesund, sane) + Morphem (-heit,--ty) zu Substantiv (Gesundheit, sanity) ▶ Substantiv (Hoffnung, hope) + Morphem (-voll,--ful) zu Adjektiv (hoffnungsvoll, hopeful) ▶ Verbstamm (interess-, interest-) + Morphem (-ant,- -ing) zu Adjektiv (interessant, interesting) 163 6.2 Wortbildung und Morphosyntax 2. Veränderung der Valenzeigenschaft und / oder der Bedeutung des Grundwortes ▶ Verb (halten, hold) + Morphem (be-, be-) zu Verb (behalten, behold) ▶ Adjektiv (glaubwürdig, believable) + (Negations)-Morphem (un-, un-) zu Adjektiv (unglaubwürdig, unbelievable) 3. Bestimmung einer semantischen Nuance (Abstractum) ▶ Adjektiv (finster, wahr, wirklich, tief, dark; true, real) + Morphem (-nis, -heit, -keit, -e; -ness, -th, -ity) zu Substantiv (Abstractum) (Finsternis, Wahrheit, Wirklichkeit, Tiefe; darkness, truth, reality) 4. Bestimmung von Nomina Agentis, Actionis, Instrumenti: ▶ Wortwurzel (Verb) (les-, druck-, zusammenfass-; read-, print-, summar-) + Morphem (-er, -ung, -e; -er, -y) zu Substantiv (Leser, Drucker, Zusammenfassung; reader, printer, summary). Bei der Komposition wird ein Lexem (zum Beispiel Baum, tree) mit einem weiteren Lexem zusammengebaut. Dabei wird die Bedeutung des ersteren genauer determiniert, wie untenstehend (Abbildung 6.3) bildlich dargestellt wird: Abbildung 6.3: Baum, tree → Weihnachtsbaum, Christmas tree Komposita können auch mehrgliedrig sein, wie zum Beispiel Weihnachtsbaumschmuck, Christmas tree ornament. Determiniert wird immer das rechts stehende Wort (Grundwort). Bei unserem Beispiel wird dies durch das Bild (Abbildung 6.4) verdeutlicht, auf dem der Schmuck (engl. ornament) in den Vordergrund gerückt wird und die Gestalt des (Weihnachts-)Baums keine Rolle mehr spielt. Abbildung 6.4: Weihnachtsbaumschmuck, Christmas tree ornament (Eigene Abbildung) 164 6. Grundlagen der Interkomprehension Wie umfangreich das Kompositum aber auch sein mag, die Struktur bleibt immer binär, das heißt ein Grundwort wird durch ein zweites Lexem semantisch determiniert. Eines oder beide Wortbestandteile können selber Komposita sein. Bei Weihnachtsbaumschmuck, Christmas tree ornament ist das Grundwort ein Simplexwort (Schmuck, ornament), das durch ein zweigliedriges Lexem determiniert wird. In anderen Fällen, wie zum Beispiel Wohngrundstück, residential real estate ist das Grundwort selbst ein mehrgliedriges Kompositum (Grundstück, real estate). Bei den bisherigen Ausführungen mit ihren entsprechenden Beispielen ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, dass es in beiden Sprachen unterschiedliche Möglichkeiten der graphischen Wiedergabe von Komposita gibt. Unter diesen sind besonders erwähnenswert: ▶ Zusammenschreibung: Handtasche, handbag ▶ Getrenntschreibung: Immobilien Service, real estate agency ▶ Zusammenschreibung mit Bindestrich: E-Mail, e-mail In beiden Sprachen können Lexeme aus verschiedenen Wortarten (Substantive, Adjektive, Verben, Präpositionen etc.) zusammengesetzt werden. Dadurch entstehen komplexe Wörter, die jeweils der Wortart des Grundworts angehören. So entstehen zum Beispiel aus der Zusammensetzung von Adjektiven (voll, full) + Substantiven (Beschäftigung, employment) neue Substantive (Vollbeschäftigung, full employment). Umgekehrt werden aus Substantiven (Spülmaschine, dishwasher) + Adjektiven (sicher, safe) zusammengesetzte Adjektive (spülmaschinensicher, dishwasher safe). Viele zusammengesetzte Verben bestehen aus Verben (die eine generische Bedeutung tragen) und Partikeln (die die Verbbedeutung präzisieren). Beispiele: aus-, hinaus-, hinein-, weg-, heimgehen; go out, outside, in, inside, away, home. 165 6.2 Wortbildung und Morphosyntax Experiment Mark Twain hat sich in seinem Aufsatz Die schreckliche deutsche Sprache (1892 [1878]) über die Länge der deutschen Wörter lustig gemacht, indem er „majestätische“ Wortbildungen wie Freundschaftsbezeigungen, Dilettantenaufdringlichkeiten, Generalstadtverordnetenversammlungen auflistet und von ihnen sagt: „Dies sind keine Wörter, es sind Umzüge sämtlicher Buchstaben des Alphabets. Und sie kommen nicht etwa selten vor. Wo man auch immer eine deutsche Zeitung aufschlägt, kann man sie majestätisch über die Seite marschieren sehen-- und wer die nötige Phantasie besitzt, sieht auch die Fahnen und hört die Musik“. Lassen Sie Ihre Schüler und Schülerinnen im Internet nach langen deutschen Wörtern suchen und die fünf längsten davon auflisten. Nun sollen die Wörter richtig segmentiert werden. Sie werden bemerken, dass die meisten Wörter der Alltagssprache aus höchstens drei, seltener aus mehr Bausteinen bestehen. Kann durch die systematische Segmentierung die Angst vor den Wortmonstern beseitigt werden? Wir meinen, ja. Was die englische Sprache angeht, werden Sie bemerkt haben, dass ebenfalls sehr lange Wörter gebildet werden können- - sie werden hier jedoch nicht immer zusammengeschrieben, zum Beispiel: ▶ Real estate office manager ▶ Community council meeting ▶ World wildlife fund membership Wiederholen Sie das Experiment für die englischen Zusammensetzungen. Morphosyntax: Funktionswörter des Deutschen und des Englischen Wir haben den vorhergehenden Abschnitt mit den Komposita abgeschlossen, das heißt mit einem linguistischen Phänomen, das zum Bereich der Wortbildung, aber auch der Syntax gehört. Zusammengeschriebene Komposita sind morphosyntaktische Einheiten: Sie sind als Einzelwörter erkennbar und funktionieren zugleich als syntaktische Gefüge. Im Bereich der Morphosyntax behandeln wir im Folgenden Funktionswörter, erneut im Vergleich der deutschen und englischen Sprache. Die Morphosyntax ist, worauf schon die Bezeichnung selbst hinweist, der grammatische Bereich an der Schnittstelle zwischen Morphologie und Syntax. Die Abgrenzung zwischen Morphologie (Wortstruktur) und Syntax (Struktur der Wortgruppen) kann nicht immer eindeutig vorgenommen werden: Form und Funktion der Wörter und Wortgruppen stehen vielmehr immer in einem engen Zusammenhang. Mit dieser Korrelation von Form und Funktion beschäftigt sich die Morphosyntax. Was unsere beiden Sprachen betrifft, haben wir es mit unterschiedlichen morphosyntaktischen Phänomenen zu tun, die aber gleichzeitig viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Es geht vor allem um Gefüge von Funktionswörtern und Wörter mit einem vollen semantischen Wert, zum Beispiel Artikelwörter und Substantive, Possessiva und Substantive, Modalverben und Vollverben. 166 6. Grundlagen der Interkomprehension Im vorliegenden Abschnitt versuchen wir, einige bedeutende Beispielfälle davon darzustellen, wobei die Liste natürlich erweitert werden kann: 1. Artikelwörter, Quantifikatoren, Possessiva Beide Sprachen determinieren Substantive und Nominalgruppen durch Determinatoren, das heißt Funktionswörter wie Artikelwörter, Quantifikatoren, Possessiva etc.: ▶ der‒die‒das, die; the / dieser‒diese‒dieses, diese; this, these ▶ zwei, viele, ein paar / two, many, a couple of ▶ mein‒meine‒mein, meine; meiner‒meine‒meins, meine / my, mine Funktion und Frequenz derselben sind dabei nicht immer in den beiden Sprachen identisch. So ist zum Beispiel in der deutschen Sprache der bestimmte Artikel gefordert, in der englischen dagegen nicht, wenn es um Zeitreferenz geht, mit Angaben wie: ▶ Der Frühling ist gekommen / Ø spring is here ▶ Am Samstag haben wir keine Schule / we have no school on Ø Saturdays ▶ Im August haben die Schüler Ferien / in Ø August the pupils have vacation Für das Leseverstehen ist auf alle Fälle von Bedeutung, dass die Artikelwörter, Quantifikatoren und Possessiva im Sprachvergleich leicht erkennbar sind, erstens, weil viele davon eine ähnliche Form haben (mein / my, dieser / this), zweitens, weil sie in Begleitung eines Substantivs (mein Buch / my book) beziehungsweise innerhalb einer Nominalgruppe (dieser schöne Mann / this handsome man) auftreten. Die Erkennung der Wortstruktur führt zugleich zur Erkennung ihrer Funktion. 2. Hilfsverben und Modalverben Für das Leseverstehen wichtig ist das Wissen darum, dass beide Sprachen Hilfsverben und Modalverben aufweisen, die in ihrer Form und Funktion insgesamt leicht als solche zu erkennen sind, zum Beispiel: ▶ sein, haben, werden / be, have, be, will ▶ können, müssen, wollen, sollen / can, must, shall, might Bei näherer Betrachtung lassen sich viele Unterschiede nennen. Zum Beispiel zeigen deutsche Modalverben, im Gegensatz zu den englischen, vollständige Paradigmen auf: ▶ er muss, musste, müsste gehen / he must, Ø, Ø go Je nach Verbklasse (transitive vs. intransitive Verben) verwendet die deutsche Sprache bei der Bildung des Perfekts das Hilfsverb haben oder sein. Das Englische konjugiert dagegen immer mit dem Hilfsverb have, zum Beispiel: ▶ Paola hat gegessen, Bruno ist gekommen / Paola has eaten, Bruno has come 167 6.2 Wortbildung und Morphosyntax Man könnte hier noch einige weitere Unterscheidungen angeben, aber wir wollen vor allem das gemeinsame Vorkommen dieser analytischen Konjugationsverfahren in beiden Sprachen hervorheben. So kann in den folgenden Sätzen schon intuitiv verstanden werden, welche Rolle das jeweilige Modal- oder Hilfsverb in der Zusammenwirkung mit dem Vollverb hat: ▶ Rotkäppchen, hast du die schönen Blumen gesehen? / Little Red Cap, have you seen the beautiful flowers? 3. W-Fragewörter Die deutsche und die englische Sprache verfügen über eine ganze Reihe von Fragepronomen, die ähnlich aussehen und funktionieren: ▶ wer, wann, warum, was, wo (wohin, woher) / who, when, why, what, where Auf diese Weise sollten die Fragestrukturen und ihre Funktion in Sätzen wie den folgenden leicht erkannt werden, in unterschiedlichsten Texten: ▶ Rotkäppchen, wohin gehst du so früh? / Where are you going so early, Little Red Cap? 4. Modalpartikeln Funktionswörter können in unseren beiden verglichenen Sprachen semantischen Einfluss auf den ganzen Satz ausüben. Dies ist der Fall bei den sogenannten Modalpartikeln. Modalpartikeln üben die kommunikative Funktion aus, eine Bewertung oder Erwartung des Textproduzenten hinsichtlich der Satzaussage auszudrücken. Im Satz Gute Kleider sind eben teuer liegt die Erwartung vor, dass der Ansprechpartner oder die Ansprechpartnerin die im Satz vorliegende Bewertung teilt. Oft wird davon ausgegangen, dass Modalpartikeln ein typisches Phänomen der gesprochenen Sprache sind. Auch gilt das Deutsche als eine an Modalpartikeln äußerst reiche Sprache, insbesondere auch im Vergleich zu anderen Sprachen, die kaum solche aufweisen. Geht man aber der Sache nach, so erweist sich, dass Modalpartikeln auch in schriftlichen Texten vorkommen, was zur Folge hat, dass sie einen interessanten Fall für das Leseverstehen bilden. Aus unserer Perspektive des interkomprehensiven Lesens ist wichtig festzustellen, dass auch im Englischen das Phänomen der Modalpartikeln in Erscheinung tritt. So modifiziert das Wort though im Satz Good clothes are expensive, though die Aussage in Richtung gemeinsames Erfahrungswissen. Auch im Falle der Modalpartikeln kann somit eine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Sprachen festgestellt werden. 5. Präpositionen „Präpositionen sind unflektierbare Ausdrücke, die Gegenstände oder Sachverhalte in eine spezifische inhaltliche Beziehung zueinander setzen, vor allem in eine räumliche-[…], in eine zeitliche-[…] und in eine kausale“ ( IDS -Grammis 2.0). Die deutsche und die englische Sprache verfügen über eine Reihe von solchen Ausdrücken, die in ihrer Form und Funktion leicht erkennbar sind. Sie sind gewöhnlich einsilbig und stehen vor der Wortgruppe, die sie regieren. 168 6. Grundlagen der Interkomprehension ▶ Er ging durch das Zimmer / He went through the room ▶ Morgen fährt sie nach Berlin / Tomorrow she will go to Berlin ▶ Was willst du von mir? / What do you want from me? In beiden Sprachen kann die Funktion als Präpositionen außerdem durch eine Wortgruppe (zum Beispiel Präpositionalphrasen) ausgeübt werden. Präpositionalphrasen bestehen in der Regel aus Präposition + Substantiv + Präposition, zum Beispiel: ▶ an Hand von (anhand von) / by means of ▶ auf Grund von (aufgrund von) / on account of 6.2.2 Zusammenfassung ▶ Deutsch und Englisch gehören zu den flektierenden Sprachen, die systematisch bei Wörtern durch bestimmte Affixe Flexionsformen ausbilden. Beide Sprachen weisen vergleichbare Flexionsstrukturen auf. ▶ Deutsche und englische Wortbildungen verwenden Lexeme und grammatische Morpheme als sprachliche Bausteine. Fugenelemente sind charakteristisch für die deutsche Wortbildung. ▶ Bei den morphologischen Wortbildungsprodukten kommen besonders Derivation und Komposition zum Tragen. Bei Derivation werden neue Wörter aus einem Wort oder einer Wortwurzel mit einem oder mehreren grammatischen Morphemen verbunden. Deutsch und Englisch zeigen vergleichbare Derivationsverfahren. Bei der Komposition wird ein Lexem mit einem weiteren Lexem zusammengebaut. Dabei wird die Bedeutung des ersteren genauer determiniert. ▶ In beiden Sprachen gibt es unterschiedliche morphosyntaktische Phänomene, die gleichzeitig Gemeinsamkeiten aufweisen: Beide determinieren Substantive und Nominalgruppen durch Determinatoren, also Funktionswörter wie Artikelwörter, Quantifikatoren, Possessiva etc. Beide weisen Hilfsverben und Modalverben auf, die insgesamt leicht als solche zu erkennen sind. Beide verfügen über eine Reihe von Fragepronomen, die ähnlich aussehen und funktionieren. Funktionswörter können in beiden Sprachen semantischen Einfluss auf den ganzen Satz ausüben. Dies ist der Fall bei den sogenannten Modalpartikeln. Die beiden Sprachen verfügen über einige Präpositionen, die in ihrer Form und Funktion leicht erkennbar sind. Sie sind gewöhnlich einsilbig und stehen vor der Wortgruppe, die sie regieren. 6.2.3 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Flexionsendungen weisen in den beiden Sprachen Ähnlichkeiten auf ? 2. Nennen Sie einige typische Derivationsmorpheme des Deutschen und Englischen. 3. Welche Formen der graphischen Wiedergabe gibt es bei deutschen und englischen Komposita? 4. Welche Funktionswörter weisen in den beiden Sprachen eine ähnliche Form und Funktion auf ? 169 6.3 Syntax und Text 6.3 Syntax und Text Marina Foschi Albert In den Lerneinheiten 6.1 und 6.2 haben Sie gesehen, wie man Wörter in deutsch- und englischsprachigen Texten, die auf den ersten Blick fremd erscheinen, zu entziffern vermag. Es wurde dabei die Erkenntnis gewonnen, dass der jeweilige Wortschatz beider Sprachen Lexeme enthält, die zu derselben Sprachfamilie gehören und zuweilen eine vergleichbare Lautgestalt aufweisen. Zudem wurde nachvollzogen, dass in schriftlichen Texten beider Sprachen lexikalisches Material als vertraut erscheinen kann, wenn man Wissen über den Aufbau der Wörter besitzt und damit die Struktur von Wörtern zu erkennen vermag, die vergleichbare Regularitäten in der Flexion und in der Wortbildung des Deutschen und des Englischen zeigen. Die Erkennung einzelner Wörter und Wortfamilien in einem fremdsprachigen Text kann dazu führen, thematische Elemente nachzuvollziehen, die für die Texthandlung wichtig sind, und damit eine erste Annäherung an das Textverstehen zu erzielen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es sich um Wörter handelt (zum Beispiel viele Substantive und Verben), die einen vollen semantischen Wert vermitteln. Aber auch Funktionswörter können eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung und Wahrnehmung der Textkohärenz und des Textsinns spielen. In der Lerneinheit 6.2 haben wir schon einige morphologische Strukturen beobachtet, die syntaktische Relationen ausdrücken. In der vorliegenden Lerneinheit 6.3 soll das besondere Augenmerk auf syntaktische Strukturen des Deutschen und des Englischen gerichtet werden, die gleichartig gestaltet sind und ein ähnliches Verhalten aufweisen. Als typologisch ähnliche Sprachen weisen das Deutsche und Englische viele solche syntaktischen Strukturen auf. Wenn man auf diese Ähnlichkeiten hinweist, vermögen bereits bestehende Kenntnisse in einem der Sprachsysteme die Lesekompetenz in der anderen Sprache zu erleichtern und zu beschleunigen. Aus der kontrastiven Beobachtung der unterschiedlichen Strukturen der zwei typologisch-ähnlichen Sprachsysteme entwickelt sich dabei eine Sprachbewusstheit, die wiederum das Leseverstehen zu fördern vermag. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ syntaktische Gemeinsamkeiten der deutschen und der englischen Sprachsysteme identifizieren können; ▶ die charakteristischen syntaktischen Strukturen erfassen, welche die beiden Sprachen unterscheiden (die charakteristische Verb-Letzt-Position im Deutschen und die typische Vorverb-Position des Subjekts im englischen Satz); ▶ ein Bewusstsein für die Rolle der Textkohäsion beim interkomprehensiven Leseverstehen entwickeln. 170 6. Grundlagen der Interkomprehension 6.3.1 Strukturelle Ähnlichkeiten syntaktischer Strukturen im Deutschen und im Englischen Thema dieses Abschnitts sind die syntaktischen Einheiten der deutschen und der englischen Sprache im Vergleich, ihre gemeinsamen Eigenschaften und Hauptunterschiede. Es wird dabei zuerst einmal um die Hauptstrukturen gehen, die sich im Satzbereich aus Wortkombinationen ergeben, und zwar: Kopf und Determinans, Subjekt und Prädikat, Verb und Komplement. Zudem wird auf die Position der Satzglieder in unterschiedlichen Satztypen eingegangen, Konnektoren und die Bildung komplexer Sätze werden betrachtet. Schließlich sollen Pronominalisierung, Nominalisierung und weitere Verfahren der Textkohäsion berücksichtigt werden. Da die syntaktische Domäne ein sehr breites und vielfältiges Feld ist, wird dabei vor allem auf paradigmatische Erscheinungen hingewiesen, die für die Lesekompetenz aus interkomprehensiver Perspektive eine zentrale Rolle spielen. Mechanismen der syntaktischen Determination Bei der Verknüpfung von Wörtern zu syntaktischen Einheiten (Konstituenten und Sätzen) verwenden unsere beiden Vergleichssprachen dieselben Determinationsprozesse: 1) Kopf und Modifikator; 2) Subjekt und Prädikat; 3) Verb und Komplement. (1) Kopf und Modifikator. Beispiel: Blume → die Blume → die blaue Blume Flower → the flower → the blue flower Das Beispiel zeigt, wie eine Wortgruppe (hier: Eine Nominalphrase) entsteht, indem ein Wort als Kopf fungiert und durch ein anderes Wort (den Modifikator) syntaktisch modifiziert und dabei semantisch bestimmt wird. In diesem Beispiel wird das jeweilige Kernnomen (Blume, flower) durch den Artikel (die, the) modifiziert. Eingebettet in die jeweilige Nominalphrase (die Blume, the flower) sind es die Adjektive blau, blue, die eine Attributfunktion haben. Dabei fungieren die Nominalgruppen als Kopf und die Adjektive als Modifikator. Die deutsche und die englische Sprache können je nach Art des Kopfs unterschiedliche Strukturen dieser Art bilden, unter anderem Nominalphrasen, Präpositionalphrasen, Adverbphrasen. Beispiele für Adverbphrasen sind: genau deswegen, exactly for this reason (der Kopf ist dunkelgrau markiert, der Modifizierer ist unterstrichen). (2) Subjekt und Prädikat. Beispiel: die blaue Blume → Die blaue Blume ist ein zentrales Symbol der Romantik a blue flower → A blue flower is a central symbol of inspiration Die Beispiele zeigen Nominalgruppen (die blaue Blume, a blue flower), die im Satz die Rolle des Subjekts übernehmen, indem die entsprechenden Satzglieder durch Prädikate (ist ein zentrales Symbol der Romantik, is a central symbol of inspiration) determiniert werden. (3) Verb und Komplement. Beispiel: Sie steht-… → Sie steht für Sehnsucht und Liebe It symbolizes-… → It symbolizes hope and the beauty of things 171 6.3 Syntax und Text Das Beispiel zeigt nukleare Sätze (sie steht- …, it symbolizes- …), die durch Komplemente (unterstrichen) ergänzt werden. Durch diese drei grundlegenden Mechanismen werden deutsche und englische Sätze gebildet. Aus Sätzen kommen Texte zustande. Die syntaktischen Verknüpfungen realisieren aber nicht nur formale Gefüge, aus ihnen entstehen vielmehr Bedeutungen. Um Texte zu verstehen, muss die jeweilige Zusammenhörigkeit von Wörtern im Satz erkannt werden. Dazu dienen Kenntnisse über die formale Struktur der Satzglieder und deren Positionierung im Satz. Nominalgruppen, Subjekte und andere Satzglieder Die Struktur der deutschen Nominalphrase zeichnet sich dadurch aus, dass sie eine syntaktische Klammer bildet: ▶ die Kluft die soziale Kluft die bereits in der Gesellschaft vorhandene soziale Kluft die wirtschaftliche und soziale Kluft die immer tiefer werdende wirtschaftliche und soziale Kluft Auch die englische Sprache verfügt über die Nominalklammer: ▶ the gap the social gap the existing social gap the economic and social gap the ever-growing economic and social gap Bei aller Gemeinsamkeit in der grundlegenden Klammerstruktur gibt es jedoch eine operative Unterscheidung. Das Mittelfeld der deutschen Nominalklammer ist grammatisch beliebig erweiterbar. Die Beliebigkeit der Erweiterung des Mittelfelds wird nur in der Sprachrealität eingeschränkt, um kommunikative Anforderungen zu erfüllen. In der englischen Sprache wird das Mittelfeld der Nominalklammer nicht im selben Maße und auf dieselbe Weise besetzt. Eine komplexe Besetzung wie in dem Beispiel oben wäre eher ungewöhnlich. Im folgenden äquivalenten Beispiel folgt dem Substantiv ein Relativsatz als Attribut: ▶ das diesem Eintragungshindernis zugrunde liegende öffentliche Interesse ▶ the public interest that underlies this ground for refusal Umgekehrt kann auch das Deutsche das Nachfeld der Nominalklammer besetzen. So können wir als weitere Gemeinsamkeit in der Struktur der Wortgruppen feststellen, dass Nominalgruppen der beiden Sprachen auch durch rechts vom Substantiv positioniertes Sprachmaterial determiniert werden (in dunkelgrau): ▶ der immer tiefer werdende Graben zwischen reichen und armen Ländern ▶ the ever-increasing gulf between the rich and the poor countries 172 6. Grundlagen der Interkomprehension Werden Nominalgruppen durch eine Präposition regiert, bilden sie Präpositionalgruppen: ▶ im immer tiefer werdenden Graben zwischen reichen und armen Ländern ▶ in the ever-increasing gulf between the rich and the poor countries Wortgruppen, die eine syntaktische Funktion im Satz ausüben, werden als Satzglieder bezeichnet. Satzglieder des Deutschen und des Englischen können aus Nominalphrasen bestehen, die als Satzsubjekt beziehungsweise als direktes oder indirektes Objekt im Satz fungieren. In den folgenden Beispielen aus einem Kommissionsbericht der Europäischen Gemeinschaft sind die entsprechenden Wortgruppen hervorgehoben (Subjekte: grau; Direktobjekte: dunkelgrau): ▶ Der Besuch schloss einen Abstecher zur Baustelle der Auslassleitung in Ringsend ein. ▶ The visit comprised a short tour of the pipeline works site at Ringsend. Die Beispielsätze weisen eine ähnliche Struktur auf. Sie bestehen aus drei Satzgliedern: nominales Subjekt + Verb + nominales Objekt. Ersichtlich ist dabei, dass die deutschen Subjekte und Objekte durch den Kasus markiert sind (der, einen) und dass das deutsche Verb zweiteilig konjugiert ist (schloss-… ein). In beiden Sprachen können Sätze zudem gleichermaßen durch adverbiale Bestimmungen ergänzt werden. Wie die folgenden Beispiele aus einem zweisprachigen technischen Text zeigen, werden Adverbiale unter anderem durch Adverbphrasen (grau hervorgehoben) oder präpositionale Gruppen realisiert (dunkelgrau): ▶ Sofern möglich, wird um das Gebäude eine etwa 2,50 m breite und bis etwa zur Fundamentsole tiefe Arbeitsgrube für den zu schaffenden Warm- und Kühlspeicher ausgehoben. ▶ As far as possible, a roughly 2.50 m wide working trench is dug around the building down to the depth of the foundation base for creation of the heat and cold reservoir. In diesen Beispielen determinieren die Adverbphrasen die Satzaussage, indem sie eine bestimmte Modalität für die Handlung ausdrücken. Die Präpositionalgruppen formulieren hingegen den Zweck der Handlung. Weitere Angaben über die im Satz formulierte Handlung können auch durch Sätze vermittelt werden. Es handelt sich in diesem Fall um Nebensätze, die eine bestimmte Relation ausdrücken, je nach Art der subordinierenden Konjunktion, die sie einleitet, zum Beispiel Temporalität und Finalität, wie in den folgenden beiden Beispielen: ▶ Als 1989 die Mauer endlich fiel, erfüllte sich der Traum aller Deutschen. ▶ When the Wall finally fell in 1989, it made the dreams of all Germans come true. ▶ Um die Probleme der Berliner während der Zeit der Berliner Mauer zu verstehen, besuchten wir zunächst wichtige Orte. ▶ To connect with the problems faced by the Berliners during the time of the Berlin wall, we first did some extensive sightseeing. Je nach Verb bestehen Sätzen aus obligatorischen und fakultativen Satzgliedern, das heißt aus Komplementen (Ergänzungen) und Adverbialen. Deutsche und englische Verben haben die Fähigkeit, ihre syntaktische Umgebung vorzustrukturieren. Man spricht in diesem Zusam- 173 6.3 Syntax und Text menhang von Verbvalenz. So sind unpersönliche Verben avalent (nullwertig) und intransitive Verben monovalent (einwertig). Transitive Verben können zwei- oder dreiwertig sein. Valenz ist eine syntaktische und eine semantische Kategorie. Wird die jeweilige Verbvalenz gesättigt, dann entstehen grammatische Sätze, denen Sinn entnommen werden kann. Avalente Verben des Deutschen und des Englischen zeigen ein grammatisches Subjekt (es, it), das durch kein lexikalisches ersetzt werden kann. Beispiele: ▶ Es regnet. / *Die Katze regnet. ▶ It rains. / *The cat rains. Um grammatische Sätze zu bilden, verlangen intransitive Verben wie schlafen mindestens eine Ergänzung, in der Regel das Subjekt. Beispiele: ▶ Der Hund schläft. ▶ The dog sleeps. Bivalente Verben (zum Beispiel lieben, love) fordern zwei Komplemente, in der Regel ein Subjekt und ein Akkusativobjekt: ▶ Hans liebt Renate. ▶ Hans loves Renate. Dreiwertige Verben wie geben, give verlangen in der Regel ein Subjekt (einfache Unterstreichung), ein direktes (doppelte Unterstreichung) und ein indirektes Objekt (fett unterstrichen): ▶ Das gibt mir ein gutes Gefühl. ▶ That gives me a positive feeling. In allen aufgeführten Fällen können Adverbiale als fakultative Ergänzungen hinzugefügt werden. Ihre Zahl ist frei und theoretisch unbegrenzt. In den folgenden Beispielen sind solche fakultativen Satzglieder durch unterschiedliche Unterstreichung hervorgehoben und voneinander abgegrenzt: ▶ Es regnet sehr viel hier, fast jeden Tag. ▶ It rains a lot here, almost every day. ▶ Der Hund schläft mit ihnen auf einem schwarzen Futon. ▶ The dog sleeps with them on a black futon. ▶ Hans liebt Renate, weil er weiß, dass sie unerreichbar ist. ▶ Hans loves Renate, because he knows her to be unattainable. ▶ Das gibt mir immer ein gutes Gefühl, wenn ich verreist bin. ▶ That always gives me a positive feeling, when I am on a journey. 174 6. Grundlagen der Interkomprehension Experiment Man hat den deutschen Satz bildlich als Schlüsselbund dargestellt: Der Schlüsselring ist das Verb, die Schlüssel seine Ergänzungen. Dabei wird ersichtlich, dass alle Satzglieder hierarchisch auf derselben Ebene stehen. Überlegen Sie auf der Grundlage dessen, was Sie bisher zur Valenz der deutschen und englischen Verben erfahren haben, ob der Schlüsselbund auch den englischen Satz zutreffend darstellen könnte. Wortstellung Unter Wortstellung versteht man die Art und Weise, wie Wörter beziehungsweise Satzglieder im Satz positioniert sind. Für Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen ist es wichtig, ein Bewusstsein für die Regeln der Wortstellung zu gewinnen. Auch die Lesekompetenz kann durch das Wissen über Stellungsregularitäten im Satz beschleunigt werden. Von besonderer Bedeutung dabei ist das Wissen über die reguläre Positionierung des Verbs und des Subjekts. Diese stellen die wichtigsten Satzglieder dar, weil sie den bedeutendsten Informationsgehalt vermitteln. Im vorliegenden Fall der deutsch-englischsprachigen Lesekompetenz geht es vor allem darum, die unterschiedlichen Regeln der Subjekt-Verb-Abfolge zu verdeutlichen. Dies dient dazu, beim Leseverstehen die Aufmerksamkeit der Lerner in Bezug auf die Positionierung von Verb und Subjekt in die richtige Bahn zu lenken. Wie Sie vielleicht schon wissen, ist das Englische eine sogenannte SV -Sprache, die die Abfolge von Subjekt und Verb festlegt und für grammatische Zwecke nutzt. Beispiele: ▶ Sharks are an apex predator at or near the top of their marine food chains. ▶ Research has shown that massive depletion of sharks has cascading effects throughout the ocean’s ecosystems. ▶ Sharks breathe through a series of five to seven gill slits located on either side of their bodies. Die Wortstellung des Deutschen folgt dagegen unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten. Die deutsche Sprache ist eine sogenannte V2-Sprache. Die Bezeichnung verweist auf das reguläre Auftreten des konjugierten Verbteils an der Zweitstelle des unmarkierten Aussagesatzes. Im typischen Fall von Verben, die zweiteilig konjugiert werden, übernehmen die restlichen Teile des Verbs die Endstellung des Satzes. Dabei wird die typische Verbalklammer-Struktur (Satzklammer) herausgebildet. Der erste Teil der Verbalklammer ist das konjugierte Verb des Hauptsatzes, das sogenannte Vorverb. Der zweite Bestandteil der Verbalklammer ist das Nachverb. Beispiele: ▶ Experten schätzen die Gefahr, von einem Hai attackiert zu werden, als extrem gering ein. ▶ Jährlich werden mehr Menschen von umfallenden Getränkeautomaten verletzt. ▶ Meldungen über Hai-Attacken lassen in unserem Kopf unweigerlich einen Horror-Film ablaufen. ▶ Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. ▶ Meist lassen die Fische nach einem Testbiss wieder von Schwimmern ab. 175 6.3 Syntax und Text Der amerikanische Autor Mark Twain, dessen humoristische Bemerkungen über die deutschen Komposita wir schon erwähnt haben, zählt diese typische Struktur zu den sprachlichen Merkmalen, die er in seiner witzigen Rede über Die Schrecken der deutschen Sprache (The Horrors of the German Language) bespricht (Twain 1892 [1878]). Nur „auf den Brücken der Stadt“, wenn nicht sogar auf „Reichsbrücken“, schreibt er, gäbe es für deutsche Sätze genügend Raum: Dort kann man einen edlen, langen deutschen Satz ausdehnen, die Brückengeländer entlang, und seinen ganzen Inhalt mit einem Blick übersehen. Auf das eine Ende des Geländers klebe ich das erste Glied eines trennbaren Zeitwortes und das Schlußglied klebe ich an’s andere Ende-- dann breite ich den Leib des Satzes dazwischen aus. Das Bild der Brücke ist tatsächlich gut dazu geeignet, die deutsche Satzklammer anschaulich zu machen: Abbildung 6.5: Satzklammer (Roche & Scheller 2004: 5) Nicht völlig richtig ist jedoch die Vorstellung, dass die Satzklammer eine ausschließliche Eigenart der deutschen Sprache sei. Auch die englische Sprache kennt split structures bei Verben (Nelson 1958: 295). Beispiele: ▶ Do you like coffee? ▶ Just type or highlight a word for the dictionary tool, choose the language you want to look it up in. ▶ The spiritual beings have not yet given up the resistance against me. Wie wir schon in Bezug auf die Nominalklammer im Sprachvergleich gesehen haben (Abschnitt 6.3.1), ist auch im Fall der Verbalklammer das unterschiedliche Entfaltungspotenzial des Mittelfelds auffällig. Deutsche Verbalklammern skandieren Sätze in Felder, die sehr reichhaltig besetzt werden können. Gespaltene Strukturen bei englischen Verben klammern ein Mittelfeld ein, das nur sehr spärlich besetzt werden kann. 176 6. Grundlagen der Interkomprehension Zusammenfassend kann man hervorheben, dass die Wortstellung des Deutschen und des Englischen sich grundsätzlich unterscheiden. Nimmt man den Aussagesatz als Grundmodell, ist das Englische-- wie wir gesehen haben-- als SV -Sprache zu betrachten. Links vom Verb des englischen Aussagesatzes können mehrere Satzglieder Platz haben: ▶ While they lose teeth on a regular basis, new teeth continue to grow in. Auch englische Nebensätze folgen der regulären SV -Abfolge: ▶ While they lose teeth on a regular basis, new teeth continue to grow in. Das Deutsche ist hingegen eine V2-Sprache. Links vom Verb, im Vorfeld, steht in der Regel genau ein Satzglied, das das Subjekt oder ein anderes Satzglied sein kann. ▶ Die meisten Experten schätzen die Gefahr, von einem Hai attackiert zu werden, als extrem gering ein. ▶ Jährlich werden mehr Menschen von umfallenden Getränkeautomaten verletzt. Mit Bezug auf die Subjekt-Verb-Abfolge im Nebensatz kann das Deutsche als SOV -Sprache klassifiziert werden, das heißt als Sprache, die in ihrer syntaktischen Abfolge die letzte Position für das konjugierte Verb festlegt. ▶ Haie greifen dann an, wenn sie sich angegriffen oder bedroht fühlen. ▶ Der Mensch kommt in ihrem Lebensraum so selten vor, dass er für den Speiseplan der Haie keine nennenswerte Rolle spielt. Betrachtet man schließlich deutsche und englische Fragesätze (Ja / Nein-Fragesätze), so kann man eine ähnliche Struktur bei denjenigen feststellen, die den konjugierten Teil des Verbs in Spitzenstellung positionieren: ▶ Is he working hard today? ▶ Muss er heute viel arbeiten? Subjekt und Prädikat bilden das Grundgerüst des Satzes. Sie halten den Satz grammatisch durch ihre Kongruenz zusammen und sind diejenigen Teile des Satzes, die normalerweise nicht fehlen dürfen. Subjekt und Prädikat spielen außerdem eine wichtige Rolle für den Inhalt eines Satzes und für die Anordnung der Information, die der Satz enthält. Schon Aristoteles unterschied in seiner Abhandlung über die Logik zwischen hypokeímenon, dem Gegenstand der Aussage, und kategoroúmenon, dem, was über den Gegenstand ausgesagt wird. Häufig führt das grammatische Subjekt den Gegenstand der Aussage ein, also dasjenige, worüber die Aussage gemacht wird. Das Prädikat dagegen entspricht der Aussage, die über den Satzgegenstand gemacht wird. Diese Regel gibt eine wichtige Orientierung über den typischen Aufbau deutscher und englischer Sätze: Traditionell wird der Satzgegenstand als Thema, die Satzaussage als Rhema bezeichnet. Unter einem inhaltlichen Gesichtspunkt bildet das Verb gewöhnlich das Zentrum der Satzaussage. Während die Subjekte den thematischen Rahmen setzen, entfalten Verben die 177 6.3 Syntax und Text Handlung. Wenn man ein noch unbekanntes Wort aufgrund seiner Form als Verb identifiziert hat, so ist damit das grammatische und semantische Zentrum des Satzes gefunden, von dem aus ein Zugang zu allen Satzgliedern und damit letztlich zum Verstehen geschaffen werden kann. Deshalb ist das Erkennen und Unterstreichen der Verben ein wichtiges Werkzeug des Leseverstehens. Wir haben bis hierher erfahren, welche Positionierung für das Verb in der Sprache, die wir noch nicht kennen, zu erwarten ist. Versuchen wir nun, in authentischen Texten freier Wahl, Subjekte und Verben zu erkennen und zu unterstreichen. Textkohäsion Sätze bestehen aus Wörtern, so wie Texte aus Sätzen bestehen. Wie wir gesehen haben, sind Sätze nicht aus einer einfachen Aneinanderreihung von Wörtern gebildet, vielmehr sind Wörter in Gruppen angeordnet, die als Satzglieder fungieren und wiederum vielfach verknüpft sein können. Auch die Aneinanderreihung von Sätzen in Texten kann aus der Perspektive der wechselseitigen Relationen betrachtet werden, die über die Satzgrenze hinaus zwischen einzelnen Satzteilen bestehen. Diese semantischen Relationen können auf der Textoberfläche sichtbar sein und werden in diesem Fall unter dem Begriff der Textkohäsion gefasst und analysiert. Der Nachvollzug kohäsiver Phänomene auf der Textebene ist von besonderer Bedeutung für das Textverstehen. In diesem Abschnitt betrachten wir sprachvergleichend die paradigmatischen Kohäsionsverfahren der Pronominalisierung und der thematischen Wiederaufnahme durch lexikalische Mittel. Pronominalisierung bedeutet, dass ein Satzteil (eine Nominalgruppe oder andere Strukturen, auch ganze Sätze) durch ein Pronomen oder eine andere Proform ersetzt wird. Die Ausgangsstruktur wie die Proform verweisen im Text auf denselben Referenten. Somit ist Pronominalisierung ein wichtiges Mittel für die thematische Wiederaufnahme. Beide Sprachen haben sprachliche Mittel, mit denen sie Pronominalisierung realisieren können, zum Beispiel die Personalpronomen. Im folgenden gespiegelten Textbeispiel sind diese sprachlichen Mittel graphisch hervorgehoben: 1. Ein Schweinchen namens Babe ist ein australischer Familienfilm aus dem Jahr 1995. Er 1 beruht auf dem Kinderbuch Schwein gehabt, Knirps! (Originaltitel: The Sheep Pig) von Dick King-Smith. Nachdem das kleine Schweinchen Babe seine 2 Eltern durch den Schlachter verloren hat, landet es 2 auf dem Bauernhof des schweigsamen Arthur Hoggett und dessen 3 Frau Esme. Mit seiner 2 herzensguten Art erobert Babe das Herz der Border-Collie-Hündin Fly. Keine Sekunde zögert sie 4 , ihn 2 zu adoptieren. Als es dem Schweinchen Babe eines Tages gelingt, einige Viehdiebe vom Hof zu vertreiben und die Schafe zu beschützen, glaubt Babe, seine 2 Berufung gefunden zu haben und will Schäferschwein werden. Seine 2 Adoptivmutter Fly hilft ihm 2 dabei. Im Gegensatz zu normalen Schäferhunden behandelt Babe die Schafe mit Respekt und ist freundlich zu ihnen 5 , was dazu führt, dass sie 5 seine 2 Anweisungen 178 6. Grundlagen der Interkomprehension befolgen. Arthur Hoggett ist beeindruckt. So meldet er 3 Babe kurzerhand zum Schäferhundwettbewerb an. 2. Babe is a 1995 comedy-drama film, co-written and directed by Chris Noonan. It 1 is an adaptation of Dick King-Smith’s 1983 novel The Sheep-Pig, also known as Babe: The Gallant Pig in the USA . A piglet, named Babe, is left orphaned after his 2 mother is slaughtered, and is chosen for a „guess the weight“ contest at a county fair. The winning farmer, Arthur Hoggett, brings him 2 home and allows him 2 to stay with a border collie named Fly, her 3 mate Rex, and their 4 pups in the barn. An eccentric duck named Ferdinand poses as a rooster to keep from being eaten and wakes the farm each morning by crowing. He 5 persuades Babe to help him 5 destroy the alarm clock because it 6 threatens his 5 life. Some time later, when Fly’s puppies are put up for sale, Babe asks if he 2 can call her 3 ‚Mom‘. Den Beispieltexten kann entnommen werden, dass in beiden Sprachen Pronomen ko-referenziell verwendet werden. Die Pronominalketten und die ko-referenziellen Nominalgruppen beider Texte werden untenstehend tabellarisch dargestellt. Text (1) Nr. Nominalbeziehungsweise Pronominalkette 1. Ein australischer Familienfilm aus dem Jahr 1995 → er 2. das kleine Schweinchen Babe → seine Eltern → es → seiner herzensguten Art → Babe → ihn [? ] → dem Schweinchen Babe → Babe → seine Berufung → seine Adoptivmutter Fly → ihm → Babe → seine Anweisungen → Babe 3. Arthur Hoggett → dessen Frau Esme → Arthur Hoggett → er 4. [die] Border-Collie-Hündin Fly → sie → seine Adoptivmutter Fly 5. die Schafe → die Schafe → ihnen → sie Tabelle 6.10: Pronominalketten und ko-referenzielle Nominalgruppen aus Text (1) 179 6.3 Syntax und Text Text (2) Nr. Nominalbeziehungsweise Pronominalkette 1. a 1995 comedy-drama film → it 2. a piglet, named Babe → his mother → him → him→Babe → Babe → Babe → he 3. a border collie named Fly → her mate Rex → Fly’s puppies → her 4. a border collie named Fly + her mate Rex → their pups 5. an eccentric duck named Ferdinand → he → him → his [? ] life 6. the alarm clock → it Tabelle 6.11: Pronominalketten und ko-referenzielle Nominalgruppen aus Text (2) Aus der tabellarischen Zusammenstellung können wir die folgenden Gemeinsamkeiten erkennen: ▶ Beide Sprachen können Personalpronomen- - sowie Possessivpronomen- - als Substitution von Nominalgruppen verwenden. ▶ Deutsche Pronomen sind dabei in der Regel kongruent mit dem Genus der Nominalgruppe (das Schweinchen → es). In der englischen Sprache, die das grammatische Genus von Nomina nicht morphologisch markiert, verweisen Pronomina auf den biologischen Genus des jeweiligen Referenten (the piglet Babe → he). Im Sprachgebrauch des Deutschen wird manchmal logische Kongruenz realisiert, wie in unserem Textbeispiel (das kleine Schweinchen Babe → ihn). ▶ Beide Sprachen können Personalpronomen als Substitution von Nominalgruppen verwenden, um auf einen bestimmten Referenten zu verweisen. ▶ In der Regel werden die Referenten im Text durch eine Nominalgruppe eingeführt und danach durch Pronominalformen wieder aufgenommen (anaphorischer Verweis). Das ist in all unseren obigen Pronominalketten der Fall. Es könnte aber auch der umgekehrte Fall einer Einführung durch ein Pronomen vorliegen, das durch eine Nominalgruppe wieder aufgenommen wird (kataphorischer Verweis). ▶ In beiden Sprachen wird im Text Pronominalisierung und Renominalisierung (zum Beispiel sie → seine Adoptivmutter Fly; him → Babe) alternierend eingesetzt. Pronominalisierung und Renominalisierung erfolgen in der Regel aus kommunikativen Gründen: Durch Pronominalisierung wird eine synthetische und variierende Ausdrucksweise erzielt, durch Renominaliserung werden mögliche referenzielle Zweideutigkeiten vermieden. Solche Ambiguitäten können vor allem dann entstehen, wenn homophone Formen in miteinander verflochtenen Pronominalketten vorliegen. Ein Beispiel dafür findet sich in Text (2), Pronominalkette 5: Das mit Fragezeichen markierte Possessivpronomen verweist, wie aus dem Kontext festgestellt werden kann, auf die Ente Ferdinand, könnte grammatisch aber auch auf das Scheinchen Babe Bezug nehmen. 180 6. Grundlagen der Interkomprehension ▶ In unseren Beispieltexten wird Renominalisierung nicht immer durchgeführt, indem die einführende Wortgruppe identisch wiederholt wird. Es treten vielmehr variierende Ausdrücke auf, wie die Border-Collie-Hündin Fly → seine Adoptivmutter Fly, a border collie named Fly → Fly. Beide Sprachen verfügen über viele weitere Mittel der thematischen Wiederaufnahme im Text durch Proformen. Dazu gehören auch Demonstrativpronomen, wie beispielsweise in Text (1), Pronominalkette 3: Arthur Hoggett → dessen Frau Esme. Unter Proformen werden auch Ausdrücke gefasst, die auf nicht-nominale Texteinheiten verweisen. Hier findet man in der deutschen Sprache synthetische Formen, die nicht immer eine Entsprechung in der englischen haben. Beispiele: ▶ Natürlich war Titi im Tor sehr stark und davon konnten wir auch profitieren, indem wir Tempogegenstöße gelaufen sind. ▶ Of course Titi was very strong in the gate and we could also profit from it while we have run tempo counterattacks. 6.3.2 Zusammenfassung ▶ Englisch und Deutsch haben strukturelle Gemeinsamkeiten, die sich mitunter in den Mechanismen der syntaktischen Determination zeigen. Beide Sprachen verwenden dieselben Determinationsprozesse: Kopf und Modifikator; Subjekt und Prädikat; Verb und Komplement. Durch diese drei Mechanismen werden deutsche und englische Sätze gebildet. ▶ Beide Sprachen verfügen über Nominalklammern, wobei es eine operative Unterscheidung gibt: Das Mittelfeld der deutschen Nominalklammer ist grammatisch beliebig erweiterbar. In der englischen Sprache wird das Mittelfeld der Nominalklammer nicht im selben Maße und auf dieselbe Weise besetzt. ▶ Deutsche und englische Verben haben die Fähigkeit, ihre syntaktische Umgebung vorzustrukturieren: Verbvalenz. Valenz ist eine syntaktische und eine semantische Kategorie. Wird die jeweilige Verbvalenz gesättigt, dann entstehen grammatische Sätze, denen Sinn entnommen werden kann. ▶ Die Wortstellung des Deutschen und Englischen unterscheidet sich grundsätzlich: Englisch ist eine SV -Sprache (sowohl in Hauptals auch in Nebensätzen). Deutsch ist hingegen eine V2-Sprache. Im Nebensatz kann das Deutsche als SOV -Sprache klassifiziert werden. ▶ Beide Sprachen haben sprachliche Mittel, mit denen sie Kohäsionsverfahren, wie Pronominalisierung, realisieren können, zum Beispiel Personalpronomen. Beide verfügen über weitere Mittel der thematischen Wiederaufnahme im Text durch Proformen, wie Demonstrativpronomen. 181 6.3 Syntax und Text 6.3.3 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Mechanismen der syntaktischen Determination kann man unterscheiden? 2. Was versteht man unter Verbvalenz? 3. Welche grundlegenden syntaktischen Charakteristika kennzeichnen die deutsche und englische Sprache? 4. Wie wird die Textkohäsion in den beiden Sprachen realisiert? Teil 2. Ressourcen und Referenzmaterialien zu Sprache, Medien, Politik und Gesellschaft 185 6.3 Syntax und Text 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs- Blitzkurs Gianluca Cosentino Was ist eigentlich Sprache? In der einschlägigen Literatur wird der Gegenstand Sprache aus verschiedenen Blickwinkeln als ein historisches und soziales Phänomen, als eine biologische und kognitiv fundierte Fähigkeit des Menschen beschrieben. Es gibt kaum eine Situation im Leben, die nicht mit Sprache verbunden ist. Von der Kindheit an sind wir unbewusst mit Sprache vertraut: Durch Sprache können wir uns verständlich machen, Wissen weitergeben, mit Mitgliedern der Gesellschaft in Kontakt treten, Gefühle ausdrücken, Pläne verwirklichen etc. Es ist daher leicht zu erklären, warum seit den ältesten Zeiten auch das Nachdenken über Sprache einen besonders relevanten Platz in der Wissenschaft einnimmt. Die Wissenschaft, die sich mit der Beschreibung und Analyse von Sprache in den unterschiedlichen Situationen und Kontexten auseinandersetzt, ist die Linguistik. Je nach Forschungsinteresse lassen sich in der traditionellen Linguistik viele Teilgebiete dieser Wissenschaft unterscheiden: Einige Forscher untersuchen die kommunikative und soziale Funktion der Sprache (Pragmatik, Soziolinguistik, Dialektologie); andere analysieren ihren inneren Aufbau (Phonetik, Morphologie, Syntax, Textlinguistik); weitere beobachten die Entwicklung der Sprachfähigkeit bei Muttersowie Fremdsprachlern (Psycholinguistik, Zweitsprachenerwerbsforschung). Kennzeichnend für eine klassische Sicht auf Sprache ist, dass Sprache sich als Ganzes in mehrere kleinere Module teilen lässt, die dann oft einzeln und nicht im Zusammenspiel mit anderen Modulen untersucht werden (zum Beispiel die Morphologie und die Semantik). Im Laufe einer universitären Ausbildung kommt heute kein zukünftiger Deutsch- und DaF-Lehrer und keine zukünftige Deutsch- und DaF-Lehrerin daran vorbei, sich in Einführungsveranstaltungen einen ersten Überblick über diese verschiedenen Bereiche der klassischen Linguistik zu verschaffen. Für den Unterricht ist es wichtig, Kenntnisse der Grammatik, Orthografie, Textproduktion und -rezeption zu besitzen. Schließlich muss man die Schüler und Schülerinnen auf diesen Gebieten unterweisen. Für ein besseres Verständnis von Sprache allgemein, also nicht nur als Einzelsprache, wie Deutsch, Russisch, Amharisch oder Tok Pisin, ist es aber genauso wichtig zu verstehen, wie Sprache eigentlich funktioniert. Wie kommt es, dass man durch Sprache auf die Wirklichkeit verweisen kann, mithilfe von Sprache Probleme lösen und schaffen kann? Damit die neuesten Entwicklungen der kognitiven Linguistik vor dem Hintergrund der klassischen oder traditionellen Linguistik verständlicher werden, möchten wir Ihnen hier eine Blitzwiederholung der wichtigsten Inhalte der typischen Einführung in die Linguistik-Kurse am Beispiel des Deutschen anbieten. Dabei werden wir auf die Grenzen der traditionellen Beschreibungsmethode hinweisen und knapp die Ideen der kognitiven Linguistik dazu skizzieren. 186 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs 7.1 Phonetik und Phonologie Die Phonetik und die Phonologie sind typischerweise Teil des klassischen linguistischen Kanons. Häufig werden Worte als Ketten zusammenhängender Laute beschrieben. Der vermeintliche distinktive Klang einiger Sprachen, den Laien gern als Merkmal annehmen, also dass einige Sprachen hell, andere dunkel und noch andere nasal klingen, ist darauf zurückzuführen, dass jede Sprache ein eigenes Set von Lauten besitzt, die in anderen Sprachen nicht unbedingt vorkommen. So kommen zum Beispiel im Portugiesischen nasalierte Diphthonge wie <-o> oder im Englischen ein stimmhaftes sowie stimmloses <th> vor, die es im Standarddeutschen, das circa 40 Hauptlaute hat, nicht gibt. Die Disziplinen, die sich mit sprachlichen Lauten beschäftigen, sind die Phonetik und die Phonologie. Erstere untersucht die Prozesse der Bildung, Übertragung und Wahrnehmung von Sprachlauten (Phone); letztere beschreibt die Laute als funktionstragende und in der Kommunikation bedeutungsdifferenzierende Elemente (Phoneme). Es wird allgemein zwischen zwei primären Lautklassen unterschieden: Vokale und Konsonanten. Abbildung 7.1: Vokaldreieck Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ eine systematische Kompetenz zur Sprachreflexion aufzubauen beginnen; ▶ die klassischen modularen Themen Phonologie, Morphologie und Syntax in ihren wichtigsten Punkten wiederholt haben; ▶ eine Idee haben, wie die kognitive Linguistik mit neuen Ideen an alte Frage herangeht. 187 7.1 Phonetik und Phonologie Die Vokale des Deutschen sind stets stimmhaft und zeichnen sich dadurch aus, dass der Luftstrom beim Ausatmen keinerlei Hindernissen begegnet. Das Hauptaugenmerk der artikulatorischen Beschreibung der Vokale liegt auf der Zungenstellung. Je nach Position der Zunge bei der Artikulation (vorn-- hinten, hoch-- mittel-- tief) entstehen die lautlichen Merkmale der Vokale. Um eine schriftliche Fixierung der mündlichen Laute zu gewährleisten, haben Sprachforscher das Vokalvierbeziehungsweise -dreieck entwickelt. Das Dreieck beziehungsweise Viereck ist dem Mund als Artikulationsraum nachempfunden. Man unterscheidet nach dem Öffnungsgrad des Kiefers zwischen geschlossenen und offenen Vokalen (zum Beispiel [i] wie in / ich/ gegenüber [a] wie in / Apfel/ ) und nach der Rundung der Lippen zwischen gerundeten und ungerundeten Vokalen (zum Beispiel [i] gegenüber [y] wie in / über/ ). Neben der Qualität (offen, gerundet, vorn etc.) ist auch die Vokalquantität, also die Artikulationsdauer, ein wichtiger Faktor bei der artikulatorischen Beschreibung der Vokale. Hier unterscheidet man lange und kurze Vokale (zum Beispiel [u] wie in / und/ gegenüber [u: ] wie in / Uhr/ ). Experiment Ö und Ü Ihre Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen haben enorme Schwierigkeiten mit den [ø]- und [y]-Lauten (wie in Öl und über). Weder Nachahmung noch Wiederholungsübungen scheinen ihnen dabei zu helfen. Aus Ihren theoretischen Kenntnissen wissen Sie aber, dass es sich bei diesen beiden Lauten um die gerundeten Korrelate der ungerundeten [e]- und [i]-Laute handelt. Dann könnten Sie ihnen mithilfe folgender Instruktionen weiterhelfen: ▶ Für die Bildung des Ö-Lautes lassen Sie Ihre Lerner ein normales [e] sprechen und währenddessen die Lippen wie beim [o] runden, als würden sie jemanden küssen. ▶ Für die Bildung des Ü-Lautes lassen Sie Ihre Lerner ein normales [i] sprechen und währenddessen die Lippen wie beim [u] runden, als würden sie jemandem hinterherpfeifen. Machen Sie das vor! Bei Konsonanten, die sowohl stimmlos als auch stimmhaft sein können (wie zum Beispiel [p] und [b]), wird die Lauterzeugung beim Ausatmen durch ein Hindernis im Ansatzrohr beeinträchtigt (ausgenommen beim Laut [h]). Wie können so kleine Laute eigentlich dazu beitragen, dass Bedeutung in die Sprache kommt? Bei einigen Wörtern, wie zum Beispiel Dach und Bach, werden auch die Lerner bald merken, dass es sich dabei offensichtlich um sehr ähnliche Wörter handelt, die sich jeweils nur bezüglich eines Lautes unterscheiden (hier / b/ vs. / d/ ), ansonsten aber identisch sind. Das nennt man Minimalpaar. Abschließend sollte außerdem betont werden, dass gesprochene Sprache und geschriebene Sprache in keinem Eins-zu-Eins-Verhältnis stehen. Die Abbildung von Lauten durch bestimmte Buchstaben ist ein abstrahiertes System und stellt eine vereinbarte Konvention dar. Oft wird ein einzelner Laut durch mehrere Buchstaben wiedergegeben, wie zum Beispiel der Laut [ʃ], der graphisch mit mindestens drei Buchstaben (<s>, <ch>, <sch>) realisiert werden kann. Das gilt allerdings auch umgekehrt, wie im Falle 188 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs des Graphems <ch>, das je nach Position den Phonemen [ç], [x] und [ʃ] entsprechen kann. Es ist aus diesem Grund wichtig, dass DaF-Lerner nicht nur mit Aussprachenormen, sondern auch mit Aussprachewörterbüchern konfrontiert werden, die das Maß repräsentieren, an dem jede gesprochene Äußerung dekodiert und eingeordnet werden kann. Die Sensibilisierung im Unterricht für eine Lautschrift, wie das IPA -System (International Phonetic Alphabet), bildet hierfür ein nützliches Instrument. 7.2 Morphologie Von der Ebene der Laute kommt man in einer Einführung in den Linguistik-Kurs dann meist auf die nächste Ebene, nämlich auf die Ebene, auf der Laute zu Wortbestandteilen zusammengesetzt werden: Die Ebene der Morphologie. Die Morphologie betrachtet den internen Aufbau von Wörtern und ihre bedeutungstragenden Bausteine. Kerneinheiten der Morphologie sind Morpheme, das heißt Wortbestandteile, die sich als bedeutungstragende Elemente isolieren lassen. Die Morphologie beschreibt die Kombinationsmöglichkeiten von Morphemen zu komplexen Wörtern. Morpheme lassen sich in drei Klassen einteilen: ▶ freie Morpheme, die selbstständig und ohne weitere Sprachelemente in Texten vorkommen können (zum Beispiel {Frucht}, das allein stehen kann, aber auch mit anderen Morphemen kombiniert werden kann, wie zum Beispiel in Fruchtbarkeit); ▶ gebundene Morpheme, Affixe, die immer in Verbindung mit einem freien Morphem auftreten müssen, da sie nicht alleine stehen können (zum Beispiel {-bar} und {-keit} in Fruchtbarkeit); ▶ unikale Morpheme, die nur in einer einzigen Verbindung vorkommen und deren Bedeutung synchron nicht mehr analysierbar ist (zum Beispiel {Him-} in Himbeere, {-igam} in Bräutigam oder {Brom-} in Brombeere). Entsprechend der Funktion eines jeden Morphems unterscheidet man zudem zwischen Grund-, Derivations- und Flexionsmorphemen. Grundmorpheme sind immer freie Morpheme, sie tragen also eine lexikalische Bedeutung und sind als Basis für weitere Wortbildungen prinzipiell frei verwendbar. Derivationsmorpheme sind immer gebundene Morpheme, die der semantisch-inhaltlichen Erweiterung eines Basismorphems sowie zur Überführung eines Basismorphems in verschiedene Wortarten dienen. Flexionsmorpheme sind auch gebundene Morpheme, sie tragen aber nur eine grammatische Bedeutung und markieren die Beziehung der Wörter zueinander im Satz (zum Beispiel Genus-, Numerus- und Kasusbezeichnungen). In der DaF-Praxis lässt sich dieses Wissen in vielerlei Hinsicht anwenden. Sie können zum Beispiel Ihre Lerner darauf aufmerksam machen, dass sich bei der Schöpfung neuer Wörter einige Derivationsmorpheme nur an bestimmte Wortarten anbinden lassen ({-keit} an Adjektive, {-bar} an Verben etc.) und dass diese immer einen klaren Hinweis auf den Wortarttyp ({-keit} meist Substantiv, {-bar} meist Adjektiv etc.) sowie auf das Genus ({-keit} meist Feminin, {-chen} meist Neutrum etc.) geben. Wie werden eigentlich Wörter im Deutschen gebildet? In der klassischen Linguistik gibt es eine Antwort auf diese Frage: Das der Morphologie zuzuordnende Feld der Wortbildungslehre. 189 7.3 Syntax, Grammatik und Grammatiken Der bestehende Wortschatz der deutschen Sprache ist durch seine unzähligen Kombinationsmöglichkeiten einem ständigen Wachstumsprozess ausgesetzt. Das ist aus sprachökonomischer Sicht insofern von Vorteil, als die sprachlichen Mittel rasch und zweckmäßig den lexikalischen Anforderungen sowie den neu entstehenden Sprecherbedürfnissen angepasst werden können. Die Wortbildungslehre beschreibt die Verfahren und die Gesetzmäßigkeiten bei der Bildung neuer komplexer Wörter mittels vorhandener sprachlicher Elemente. Wortbildungsformen lassen sich gemeinhin in drei Hauptarten einordnen: Komposition, Derivation und Konversion. Komposition, das klassische Zusammensetzen, ist das häufigste Verfahren in der Wortbildung des Deutschen. Deutsch wird im Vergleich zu anderen Sprachen als besonders „kompositionsfreudig“ angesehen. Durch Komposition werden neue Wörter gebildet, indem zwei oder mehr Grundmorpheme aneinandergereiht werden (zum Beispiel {Bunt}{papier}, {Wohn}{zimmer}, {komposition-s}{freud-ig} etc.). Dabei bestimmt das letzte Glied (Basiswort) das grammatische Geschlecht, die Flexion und die Wortart, während das erste Glied (Bestimmungswort) die Bedeutung der Basis ergänzt und in der Regel den primären Wortakzent erhält. Die Derivation oder Ableitung ist neben der Komposition das zweite Hauptverfahren zur Wortbildung. Dabei werden Wörter in ihrer syntaktischen Nutzbarkeit durch gebundenes Sprachmaterial umgewandelt. Häufig zieht Derivation eine Änderung der Wortklasse mit sich. Ein Derivat besteht immer aus einem Grundmorphem und einem Derivationsmorphem wie einem Affix (zum Beispiel {Dumm}{heit} oder {Un}{sinn} etc.). Bei der Konversion oder grammatischen Umsetzung handelt es sich im klassischen Verständnis hingegen um eine syntaktische Transposition von Wörtern oder Wortgruppen beziehungsweise Sätzen ohne eine wesentliche ausdrucksseitige Änderung wie Affigierung oder Stammvokalveränderung (zum Beispiel lesen-- das Lesen, besuchen-- der Besuch, Weihnachten-- es weihnachtet etc.). Darüber hinaus gehören zu den Wortbildungsarten auch Ausdruckskürzungen wie Kurzwörter (Universität-- Uni), Akronyme (Intercityexpress-- ICE ). In Bezug auf den semantischen Beitrag von Wortbildungsformen haben viele Linguisten festgestellt, dass diese im Textgebilde als wichtige textstiftende Mittel fungieren können. Ihre formalen Bestandteile sind oft über den ganzen Text verteilt und können dabei, anhand von Wiederaufnahmen beziehungsweise semantisch affiner Wiederholungen (Isotopieketten), genaue Hinweise auf das Hauptthema eines Textes geben und für die Textvernetzung und -entfaltung eine Schlüsselrolle spielen. Kapitel 2 im Band »Kognitive Linguistik« bietet eine detaillierte Beschreibung der morphologischen Gegebenheiten des Deutschen und zeigt auch eine kognitiv-linguistische Herangehensweise an die Morphologie. 7.3 Syntax, Grammatik und Grammatiken Neben den morphologischen Prinzipien einer Sprache gehört ebenso die Grammatik einer Sprache zu den klassischen Gegenständen des Fremdsprachenunterrichts. Lerner müssen über grammatisches Wissen der Fremdsprache verfügen, Lehrende dieses Wissen vermitteln und in der Lage sein, Grammatikfehler zu korrigieren. Das Verständnis von Grammatik ist allerdings recht facettenreich, weshalb der Begriff Grammatik hier vor dem Hintergrund der klassischen Linguistik präzisiert und an geeigneter Stelle auf neue Ideen der kognitiven 190 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs Linguistik hingewiesen wird. In Kapitel 4 im Band »Kognitive Linguistik« wird genauer erklärt, wie Grammatik in der kognitiven Linguistik verstanden und erforscht wird. Der Begriff Grammatik ist im täglichen und auch wissenschaftlichen Sprachgebrauch also mehrdeutig. Zum einen bezeichnet Grammatik ein abstraktes sprachliches Regelsystem, das für eine bestimmte Einzelsprache spezifisch ist. In diesem Sinne lässt sich zum Beispiel von einer Grammatik des Deutschen, des Türkischen etc. sprechen. Allerdings liegen diese Regelsysteme nicht per se vor; sie sind-- wie de Saussure es ausdrückte-- vielmehr nur über die parole, über die Anwendung der Regeln im Sprachgebrauch zugänglich (vergleiche Lerneinheit 4.1 im Band »Kognitive Linguistik«). Es ist das Regelwissen über den Aufbau einer Sprache, das Sprecher und Sprecherinnen dieser Sprache besitzen. Unter Lernergrammatiken sind auf der anderen Seite Übungsgrammatiken in Buchform oder Lehrbuchgrammatiken zu verstehen. Den Lernergrammatiken liegt häufig kein linguistischer Ansatz der Grammatikbeschreibung zugrunde, sondern sie verstehen sich als Gebrauchsgrammatiken und Nachschlagewerk. Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache können die Regeln ihrer Sprache unbewusst richtig einsetzen. Oft können sie sie aber nicht explizit formulieren. Um Regeln sprachlich beschreiben zu können, ist es von großem Vorteil, Begriffe wie Substantiv, Subjekt und Verb etc. als Bestandteil der linguistischen Metasprache zu kennen und ihre Funktionen zu verstehen. Ist dieses Wissen aufgebaut, kann der Fremdsprachenunterricht unter anderem das Ziel die Lerner dabei zu unterstützen, internes grammatisches Wissen aufzubauen, verfolgen. Zu diesem Zweck greift man aus der Sicht der Lehrpersonen auf die Beschreibungen der Sprachwissenschaft zurück, die-- und dies ist die dritte Bedeutung des Begriffs Grammatik-- in Form von (oft dicken) Büchern materiell vorliegen. Um bei Lernern Grammatikwissen aufzubauen, ist es eigentlich nicht unbedingt erforderlich, es als explizites Regelwissen zu formulieren, obwohl das im Unterricht sehr häufig der Fall ist. Im Unterricht helfen didaktisierende Grammatiken, die als Verbindungsstück zwischen Lernergrammatiken und wissenschaftlichen Grammatiken fungieren. Ein hauptsächliches Ziel der didaktisierenden Grammatik ist es, die komplexen Beschreibungen systematischer Grammatiken auf ein handhabbares Maß zu vereinfachen, ohne dabei stereotype oder falsche Generalisierungen zu produzieren. Darüber hinaus konzentrieren sie sich auf das Wesentliche eines grammatischen Phänomens. Ein Vorteil solcher Grammatiken ist die Unabhängigkeit von theoretischen Ansätzen. Dadurch können sie das Wichtigste aus verschiedenen Ansätzen für sich beanspruchen, ohne die Defizite der Ansätze zu übernehmen. So können verschiedene linguistische Perspektiven in die Grammatiken einfließen, die sich nur auf die jeweils aktuellen Lerninhalte konzentrieren. In der Fremdsprachendidaktik wird bei der Grammatikvermittlung im Unterricht zwischen einem deduktiven (regelgeleiteten) und einem induktiven (entdeckenden) Verfahren differenziert. Oft ist die Vorgehensweise bei der Einführung von grammatischen Phänomenen normativ und deduktiv veranlagt, das heißt die Regeln werden an Beispielen illustriert und in Folge eingeübt. Zuerst erfolgt die Erklärung einer grammatischen Regel. Erst im Anschluss daran beginnen geschlossene Übungen mit leichten Einsetz- oder Umstellungsaufgaben, die sukzessive immer komplexer und offener gestaltet werden. Bei einer induktiven Vorgehensweise sind die Lerner am Entdecken der Regeln selbst beteiligt. Dies kann durch Aufgabenstellungen erreicht werden, die die Lerner anhand von Texten regelmäßige Struk- 191 7.4 Die Valenzgrammatik und ihre Probleme bei der Anwendung im DaF-Unterricht turen beobachten lassen. Über die Regelhaftigkeit der Beobachtungen werden dann von den Lernern Hypothesen gebildet. In einem weiteren Schritt werden die Lerner dazu angehalten, die aufgestellten Hypothesen zu überprüfen, zu festigen und letztlich zu einer arbeitsfähigen Lösung zu gelangen. Während des Prozesses sind die Lerner weitgehend auf sich allein gestellt. Lehrkräfte können ihnen dabei unter die Arme greifen, während bereitgestellte Lehrmaterialien Hilfestellung leisten. Die Regeln werden in der Aufgabenstellung jedoch nicht explizit vorgegeben, müssen auch im Anschluss nicht formuliert werden und sind nicht hauptsächliches Ziel der Aufgabe. Sinn und Zweck ist es, die Lerner zu autonomem Lernen und aufmerksamem Beobachten anzuleiten. Dabei müssen sie die Regel lediglich anwenden und nicht zwingend notwendig verbalisieren können. 7.4 Die Valenzgrammatik und ihre Probleme bei der Anwendung im DaF-Unterricht Schwerpunkt der im DaF-Unterricht weit verbreiteten genutzten Valenzgrammatik (oder auch Dependenzgrammatik) ist es, die Beziehungen der Elemente eines Satzes zueinander zu beschreiben. Unter der Valenz versteht man die Fähigkeit von Wörtern und Wortklassen, andere Wortklassen zu binden und ihnen bestimmte Rollen zuzuweisen. Die wichtigste Rolle in der deutschen Grammatik spielt dabei das Verb, denn es bestimmt, welche anderen Rollen im Satz besetzt werden, also welche Aktanten besetzt werden dürfen (fakultativ) oder (obligatorisch) müssen. Dabei hat jedes Verb eine bestimmte Wertigkeit (Valenz), die angibt, ob eine Nominativergänzung vorhanden sein muss (was in der Regel der Fall ist), ob es sich gegebenenfalls um einen semantisch leeren Platzhalter wie das es in es regnet handelt und ob und welche weiteren Ergänzungen (Objekte) vorhanden sein können oder müssen. Dementsprechend gibt es im Deutschen ein-, zwei- oder dreiwertige Verben. Darüber hinaus legt die Verbsemantik fest, welche weiteren Angaben im Satz gebraucht werden können, also zum Beispiel welche Angaben (Adverbiale der Zeit, des Ortes, etc.) realisiert sein sollen oder müssen. So lassen sich mit recht wenigen Mitteln auf vergleichsweise einfache Art Satzstrukturen darstellen und erklären. Ein Hauptsatz mit zusammengesetztem Verb (V1-= Modalverb, V2-= Hauptverb) kann in diesem Ansatz mit einfachen Balken für die Satzfelder folgendermaßen schematisiert werden: Abbildung 7.2: Einfache Darstellung der Satzstruktur in der Valenzgrammatik des Deutschen (Rall et al. 1985: 38) Das einfache Schema ermöglicht eine einheitliche Darstellung für die unterschiedliche Besetzung von Vor- und Mittelfeld. Im Vorfeld kann demnach bei gleicher Struktur die Nominativergänzung (Subjekt) oder eine Angabe (hier Adverbiale der Zeit- und Richtungsangabe) stehen. Im Mittelfeld hat die Reihung der Elemente keinen Einfluss auf die Gesamtstruktur. Auch Nebensatzstrukturen lassen sich in der Valenzgrammatik noch einfach darstellen: 192 7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs Abbildung 7.3: Einfaches Schema von Nebensatzkonstruktionen in der Valenzgrammatik des Deutschen (Rall et al. 1985: 40) Das Schema in Abbildung 7.3 stellt die Struktur des einleitenden Hauptsatzes ( HS ) mit der Subjektergänzung (E s ; auch Nominativergänzung genannt) dar. Der zweite Teil gibt die gleichen Elemente in der Nebensatzordnung ( NS ) wieder. Dabei wandert das Modalverb (V1) als schließendes Element der Satzklammer an das Ende des Satzes. Die Wertigkeit der Verben wird gestuft angegeben. Keine Valenz (Avalenz) weisen Verben mit leeren Subjekten auf, wie bei Es schneit. Das Subjekt es fungiert hierbei als Platzhalter und ist semantisch leer. Einwertig (monovalent) sind Verben, die meist Zustände beschreiben und keine Objektergänzung besitzen, wie in Der Lehrer meckert unaufhörlich. Die Nominativergänzung (Subjekt) der Lehrer ist hierbei die einzige Ergänzung. Der Lehrer kann zwar Sprachen unterrichten oder Argumente anbringen, aber über diese nicht meckern. Zweiwertig (bivalent) sind Verben, bei denen Akkusativergänzung (Objekt) und Nominativergänzung (Subjekt) wie in Geld regiert die Welt realisiert sind. Dreiwertige (trivalente) Verben fordern, wie in Der Lehrer bringt ihr die richtige Verwendung der Verben bei, drei Aktanten. In diesem Beispiel sind alle Ergänzungen anzugeben, während der Satz Ich bin meinem Lehrer auf der Straße begegnet auch ohne auf der Straße auskommt. Ergänzungen können also notwendige (obligatorische) Ergänzungen sein, die realisiert werden müssen, damit ein Satz Sinn ergibt, oder weglassbare (fakultative) Ergänzungen, bei denen eine Stelle zwar besetztbar ist, aber nicht besetzt werden muss, wenn die Information nicht wichtig erscheint. So ist es auch bei Ich trinke Tee. Zwar ist Tee fakultativ und könnte weggelassen werden, jedoch darf die Ergänzung Ich in keinem Fall fehlen. Im Weiteren sind die Ergänzungen von den Angaben zu unterscheiden, die zusätzliche Informationen, etwa zum Tempus, zur Art und Weise oder zum Ort geben (zum Beispiel zu später Stunde mit meinem Onkel auf dem Weihnachtsmarkt). Wegen der relativ einfachen Darstellungsmöglichkeiten hat die Valenzgrammatik seit den 1970er Jahren besonders in Lehrwerken für Deutsch als Fremdsprache Einzug gefunden. Außer schulgrammatischen Darstellungen ist die Valenzgrammatik der einzige grammatische Ansatz, der überhaupt systematisch in Lehrwerken zum Einsatz gekommen ist. Allerdings ist er in mancherlei Hinsicht nur begrenzt verwendbar und daher auch in neueren Lehrwerken stark modifiziert worden. Für Lerner besonders schwer verständlich ist die Terminologie, die im Gegensatz zur Zielsetzung der Einfachheit der grammatischen Darstellung zu stehen scheint. Begriffe wie Nominativergänzung (statt Subjekt) oder obligatorische Akkusativergänzung (statt direktes Objekt, welches ebenso wenig leicht zu erklären ist) sind für Lerner schwer nachvollziehbar und kaum zu behalten, besonders für Lerner mit niedrigem Sprachniveau. 193 7.5 Zusammenfassung Kritisch ist aber nicht nur die Begrifflichkeit, sondern auch das semantische Verständnis, das hier von den Lernern erwartet wird. Die Funktionen der Ergänzungen und Angaben sind für Lerner ohne sprachliches Vorwissen kaum ersichtlich. Sie ergeben sich erst, wenn die Wörter bekannt sind und verstanden werden können. Ein weiterer Nachteil der Valenzgrammatik ist ihre Beschränkung auf Satzstrukturen. Größere sprachliche Einheiten wie Äußerungen, Gespräche oder andere Texte lassen sich damit nicht erfassen. 7.5 Zusammenfassung ▶ Phonetik und Phonologie befassen sich mit sprachlichen Lauten. Erstere untersucht Prozesse der Bildung, Übertragung und Wahrnehmung von Sprachlauten (Phone), letztere beschreibt die Laute als funktionstragende und bedeutungsdifferenzierende Elemente (Phoneme). ▶ Die Morphologie betrachtet den internen Aufbau von Wörtern und ihre bedeutungstragenden Bausteine. Kerneinheiten sind Morpheme (Wortbestandteile, die sich als bedeutungstragende Elemente isolieren lassen). Es werden drei Klassen unterschieden: Freie Morpheme, gebundene Morpheme, unikale Morpheme. Entsprechend der Funktion eines jeden Morphems unterscheidet man zudem zwischen Grund-, Derivations- und Flexionsmorphemen. Wortbildungsformen lassen sich zudem in drei Hauptarten einordnen: Komposition, Derivation und Konversion. ▶ Grammatik meint das Regelwissen über den Aufbau einer Sprache, das Sprecher und Sprecherinnen dieser Sprache besitzen. In der Fremdsprachendidaktik wird bei der Grammatikvermittlung im Unterricht zwischen einem deduktiven (regelgeleiteten) und einem induktiven (entdeckenden) Verfahren differenziert. ▶ Schwerpunkt der im DaF-Unterricht häufig genutzten Valenzgrammatik ist es, die Beziehungen der Elemente eines Satzes zueinander zu beschreiben. Unter Valenz versteht man die Fähigkeit von Wörtern und Wortklassen, andere Wortklassen zu binden und ihnen bestimmte Rollen zuzuweisen. Die wichtigste Rolle in der deutschen Grammatik spielt dabei das Verb. 7.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Womit beschäftigt sich die Phonologie? 2. Welche phonologischen Realisierungsmöglichkeiten hat das Graphem <ch> im Deutschen? 3. Was ist ein unikales Morphem? 4. Gehen Sie auf die Morphemanalyse folgender Wörter ein: privatwirtschaftliche, Theaterstühle, Altersheim, festlicher. 5. Warum hat das Verb eine satzorganisierende Funktion? 6. Was ist der Unterschied zwischen Ergänzungen und Angaben? 7. Was wird unter Lernergrammatik verstanden? 195 7.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 8. Massenmedien in Deutschland Tatjana Kalchuk Die Bedeutung der Massenmedien für die moderne Gesellschaft ist kaum zu überschätzen. Die Massenmedien schließen Presse, Rundfunk, Internet und Fernsehen ein. Sie prägen das Bild der Menschen von ihrer Welt und ihrer weiteren Umwelt vielfach stärker als eigenes Erleben, als Schule oder andere Bildungsinstitutionen. Massenmedien kann man als Transportmittel der indirekten Kommunikation bezeichnen, die im Leben vieler Menschen einen größeren Raum einnimmt als die direkte Kommunikation. Die Sprache reagiert auf die Bedürfnisse der Gesellschaft und bietet die Möglichkeit, neue Ideen, Gedanken, Wissen verbal darzustellen und ein oder mehrere konzeptuelle Bilder der Welt zu entwickeln. Das publizistische Bild der Welt ist ein spezifisches Bild der Welt. Es ist partiell, fragmentarisch, mosaikartig. Seine Haupteigenschaften sind Dynamik und Variabilität. In der modernen Gesellschaft sind die Medien nicht nur eine der wichtigsten Wissensquellen für Menschen über die Situation in der Welt, sondern sie beeinflussen auch die öffentliche Meinung, Kultur und Weltanschauung. Die Medien sind ein soziales Werkzeug, das die Interaktion in einem Textformat mit dem Ziel ermöglicht, das Bild der Welt des Individuums zu modifizieren. Die Medien bestimmen maßgeblich die Richtung der Modifizierung kognitiver Strukturen, indem sie zur Festigung, Schwächung oder Ersetzung bestehender Strukturen und zur Entstehung ganz neuer Strukturen beitragen. Also, die Medien reagieren auf die Veränderungen in einer bestimmten sprachkulturellen Gemeinschaft, fixieren sie in den produzierten Medienprodukten und beeinflussen damit die Entwicklung neuer Strukturen kognitiver Repräsentation der Realität. Es ist zu berücksichtigen, dass die Besonderheit der kognitiven Organisation des journalistischen Diskurses-- er ist vor allem mit dem Diskurs einer Zeitung verbunden-- auf der Grundlage einer Ausgabe der Zeitung betrachtet werden kann. Die zentrale Annahme der kognitiven Organisation eines Zeitungsdiskurses besteht darin, dass die Konzeptualisierung von Wissen über Geschehnisse in der Welt in Übereinstimmung sowohl mit der Zeit als auch mit einer gewissen Strukturierung der Geschichte erfolgt. So erfolgt die historische Präsentation des Materials durch ein mehrstufiges Überschriftensystem und die Ausdifferenzierung von Genres. In Kapitel 6 im Band »Kultur- und Literaturwissenschaften« wurde die didaktische Nutzbarmachung von Kulturkontakt und Kulturtransferprozessen vermittelt und an zahlreichen Text- und Filmbeispielen veranschaulicht. Die Autoren und Autorinnen gingen davon aus, dass der Sprachunterricht als Katalysator für interkulturelles Verstehen dient. In diesem Kapitel bieten wir viel praktisches Material, das den Typ und die Art der Auswirkung von Wissen auf das Verhalten von Menschen bestimmt zu untersuchen hilft. Das heißt, unterschiedliche Wissensstrukturen werden nicht nur im Zusammenhang mit ihrer inhärenten sprachlichen Form der Objektivierung betrachtet, sondern auch mit den Taten, Aktionen und dem allgemeinen Verhalten von Menschen ins Verhältnis gesetzt, die als Folge der erhaltenen Informationen und / oder Methoden der Darstellung und Präsentation zu betrachten sind. 196 8. Massenmedien in Deutschland 8.1 Überblick über die Medienlandschaft Die Medien spielen eine führende Rolle sowohl bei der Beleuchtung der Tätigkeit der Regierungsbehörden als auch bei der Schaffung eines sogenannten Feedback-Systems, das die öffentliche Meinung überwacht. Viele gegenwärtige Probleme sind heute ohne Beteiligung der Massenmedien nicht mehr zu lösen. Folglich sind die Medien ein wesentlicher Bestandteil des sozialwirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass die Medien als vierte Gewalt bezeichnet werden. Andere Experten betrachten diese Einschätzung als Übertreibung: Die politische Position der Menschen wird von ihren Interessen bestimmt, die wiederum vom sozialen Status bestimmter sozialer Gruppen abhängen. Und die Medien sind nur ein Spiegel, der das Leben der Gesellschaft und die verschiedenen Meinungen widerspiegelt, die in der Gesellschaft existieren. Je mehr Menschen umfassend informiert sind, desto genauer können sie ihre eigene Position bestimmen. Darin besteht die zunehmende Rolle der Medien in unserer Zeit. Wollen wir verstehen, welche Aufgaben die Medien in der modernen Gesellschaft erfüllen? Welche Auswahl von Medien, die miteinander konkurrieren, steht den Bürgern und Bürgerinnen in der BRD zur Verfügung? Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ sich die Medienstrukturen von Deutschland vorstellen; ▶ über die Vielfalt und die Aufgaben der Massenmedien in der Gesellschaft sprechen. 8.1.1 Massenmedien: Aufgaben, Funktionen, rechtliche Grundlagen (1) Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt. (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre. Artikel 5, Grundgesetz der BRD (Bundestag 2017) Die Massenmedien ist eine Sammelbezeichnung für Presse, Rundfunk und Fernsehen, im weiteren Sinne auch für Bücher, CD s, Videos und Internet, also für Mittel (=-Medien), mit denen Nachrichten und Unterhaltung in Schrift, Ton und Bild zu einem breiten Publikum kommen. Politische Beteiligung in einer Massendemokratie wird durch Presse, Funk und Fernsehen erst möglich. Der Einzelne kann politische Entscheidungen nur treffen, wenn er umfassend informiert ist, unterschiedliche Meinungen kennen lernen und gegeneinander abwägen kann. Die Massenmedien stellen Öffentlichkeit her, in der ein Austausch der verschiedenen politischen Meinungen von gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, Parteien und 197 8.1 Überblick über die Medienlandschaft politischen Institutionen stattfindet. Nur solche Meinungen, die in den Massenmedien zu Diskussionsthemen werden, haben die Chance, öffentlich wirksam zu werden. Öffentliche Meinung wird somit weitgehend durch die veröffentlichte Meinung bestimmt. Daraus ergibt sich eine besondere Verantwortung der Massenmedien. Die Massenmedien haben folgende Aufgaben: ▶ Informationen zu verbreiten, sie sollen so umfassend, sachgerecht und verständlich wie möglich sein; ▶ zur Meinungsbildung der Bürger und Bürgerinnen beizutragen, indem sie komplizierte politische Probleme und Zusammenhänge einsichtig machen und politische Ereignisse kommentieren; ▶ die Entscheidungen der politischen Institutionen sowie das Verhalten der Amtsinhaber zu kontrollieren und Missstände zu kritisieren (Pötzsch 1995: 49). Zu den anderen Aufgaben zählen aber auch Unterhaltung und Bildung. Da in einer modernen, differenziert strukturierten Gesellschaft eine Vielzahl von mehr oder weniger großen, zum Teil in Konkurrenz zueinander stehenden Interessengruppen existiert, gehört es auch zu den Aufgaben der Massenmedien, diesen Meinungspluralismus in einem angemessenen Verhältnis widerzuspiegeln. 1986 hat das Bundesverfassungsgericht die von den meisten Bundesländern und der Bundesregierung angestrebte duale Rundfunkordnung mit einem geregelten Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Anbietern verfassungsrechtlich bestätigt (Frankfurter Societäts-Medien GmbH 2010: 8). Öffentlich-rechtliche Sender erfüllen einen gesetzlichen Auftrag. Sie sollen die Grundversorgung der Bevölkerung mit Informationen, aber auch mit Kultur, Bildung und Unterhaltung sicherstellen. Dafür dürfen die Sender von den Hörern beziehungsweise Hörerinnen und Zuschauern beziehungsweise Zuschauerinnen Gebühren erheben. Von 1976 bis 2012 war die Gebühreneinzugszentrale der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in der Bundesrepublik Deutschland ( GEZ ) für den Einzug der Rundfunkgebühr zuständig. Am 1. Januar 2013 gingen die Aufgaben der GEZ an den neu gegründeten Beitragsservice von ARD , ZDF und Deutschlandradio über. Die Grundlage für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bildet der von allen Bundesländern unterzeichnete Rundfunkbeitragsstaatsvertrag. Kontrolliert werden die öffentlich-rechtlichen Sender durch den Rundfunkrat. Er soll eine ausgewogene Programmgestaltung sicherstellen, die die Interessen aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt. Private Sender sind wie Wirtschaftsunternehmen aufgebaut. Ihr Ziel ist es, Gewinne zu erzielen. Sie dürfen daher ein Programm bringen, das viele Zuschauer und Zuschauerinnen anlockt oder sich auf bestimmte Bereiche beschränkt. Dafür haben sie aber keinen Anspruch auf Gebühren und müssen sich durch Werbung finanzieren. Dabei gilt: Je mehr Menschen eine Sendung einschalten, desto höher sind auch die Kosten für die Werbeminute und damit die Einnahmen des Senders. Das Presserecht wird durch Pressegesetze der Länder geregelt. Sie stimmen in den Kernpunkten überein: Dazu zählen die Impressumspflicht, die Sorgfaltspflicht und das Zeug- 198 8. Massenmedien in Deutschland nisverweigerungsrecht der Journalisten und Journalistinnen, die nicht gezwungen werden können, ihre Informanten zu nennen. Als Selbstkontrollorgan der Verleger und Journalisten versteht sich der deutsche Presserat, der sich mit Verstößen gegen die journalistische Sorgfaltspflicht und Ethik befasst (Frankfurter Societäts-Medien GmbH 2010: 8). Die Medien haben gegenüber staatlichen Stellen ein Recht auf Information. In Deutschland sind die Behörden zur Auskunft gegenüber Journalisten und Journalistinnen verpflichtet. Als Vermittler zwischen Regierung und Öffentlichkeit und als Koordinator der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Kanzleramtes und der Bundesministerien fungiert das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ( BPA ). Der Regierungssprecher kommt zur Presse und nicht umgekehrt. Dies unterstreicht die Unabhängigkeit der Presse von den Behörden. Wer kontrolliert die Medien? Die Presse hat 1956 ein eigenes Kontrollorgan ins Leben gerufen, den deutschen Presserat, eine Vereinigung von Verleger- und Journalistenverbänden (Branahl 2010: 11). An den Presserat kann sich jeder wenden. Er ist frei von staatlichem Einfluss. Seine Aufgaben sind unter anderem: ▶ Missstände im Pressewesen festzustellen und auf deren Beseitigung hinzuwirken; ▶ Beschwerden über einzelne Blätter zu prüfen und gegebenfalls Rügen auszusprechen. Der Presserat kann die Beachtung seiner Beschlüsse nicht erzwingen, sondern ist auf die freiwillige Anerkennung seiner Maßnahmen angewiesen. Seine Bedeutung steht und fällt mit dem Maß an Autorität, das er sich durch seine Tätigkeit zu verschaffen vermag. Die meisten Zeitungen und Zeitschriften haben sich freiwillig zum Abdruck der Rügen verpflichtet, die ihnen das Selbstkontrollorgan erteilt, lösen dieses Versprechen aber nicht immer ein. Kritiker halten den Presserat insgesamt für einen „zahnlosen Löwen“ (Niggemeier 2006) wegen seiner fehlenden Sanktionsmöglichkeiten. Sie bezweifeln seine Wirksamkeit und halten die gesetzlichen Bestimmungen für ausreichend, um einem Missbrauch der Pressefreiheit vorzubeugen. Auch wenn Selbstkontrollorgane wie der deutsche Presserat kein Reparaturbetrieb des Journalismus sein können, so erscheinen sie zumindest als geeignet, Diskussionen über Maßstäbe journalistischen Handelns in Gang zu halten. Neben dem Presserat gibt es auch einen Rundfunk- und Fernsehrat. Sie haben eine überwiegend beratende Funktion. Kritik an den Medien Die Macht der Medien und die Art und Weise, wie sie mit ihr umgehen, stößt auf Kritik. Umstritten ist schon die Kontrollfunktion der Medien. Man wendet ein, als vierte Gewalt fehle ihnen die demokratische Legitimation, Journalisten und Journalistinnen brauchten sich keiner Wahl zu stellen. Viele Journalisten und Journalistinnen ließen in die Berichterstattung ihre persönliche, parteiische Meinung einfließen. Kritik wird auch an der Vermittlung von Politik durch die Medien geübt: Vor allem Fernsehen und Boulevardzeitungen 199 8.1 Überblick über die Medienlandschaft ▶ vereinfachten unzulässig komplizierte Sachverhalte; ▶ dramatisierten unbedeutende Ereignisse; ▶ personalisierten sachliche Probleme; ▶ spielten ein Thema für kurze Zeit hoch, um es plötzlich völlig fallen zu lassen; ▶ verbreiteten fast ausschließlich negative Meldungen und zeichneten ein durchgängig pessimistisches Bild der Welt. Trotz dieser Kritik sollte nicht übersehen werden, dass freie Medien ein unverzichtbarer Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft sind. Sie machen politische Entscheidungen durchschaubar (transparent) und üben eine wichtige Kontrollfunktion aus, indem sie Machtmissbrauch, Ämterwillkür und Korruption aufdecken. Diese Macht der Medien erfordert gleichzeitig ein hohes Verantwortungsbewusstsein der Medienmacher, die Orientierung an einer Medienethik, die eine Verletzung der Menschenwürde und eine Propagierung von Gewalt ausschließt (Pötzsch 1995: 49). 8.1.2 Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Zeitung war Nachricht oder Botschaft. Das um 1300 als zīdunge ‚Nachricht, Botschaft‘ im Raum von Köln bezeugte Wort stammt aus mittelniederdeutsch (mittelniederländisch) tīdinge ‚Nachricht‘. Dieses Substantiv ist eine Bildung zu mittelniederdeutsch, mittelniederländisch tīden ‚streben, gehen‘ (in der Bedeutungswendung ‚vor sich gehen, von statten gehen, sich ereignen‘). Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde Zeitung im Sinne von ‚Nachricht von einer Begebenheit‘ gebraucht. Der heutigen Verwendung des Wortes als Bezeichnung für ein Druck-Erzeugnis, das einen breiten Leserkreis in regelmäßiger Folge über allgemeine Tagesereignisse unterrichtet, geht der Gebrauch des Wortes im Plural im Sinne von ‚periodisch ausgegebene Zusammenstellung der neuesten Nachrichten‘ voraus (Duden 2001b). Im Laufe der Zeit wandelte sich die Bedeutung von einer notierten Nachricht oder Botschaft zu einem Informationsblatt, der heutigen Zeitung. Später wandelte sich die Zeitung von einer Form der Bekanntmachung zu einem Informationsmedium, das je nach Herausgeber meinungsbildend, informativ und aktuell ist. Vom Erscheinungsbild ist für Zeitungen typisch, dass sie aus ineinandergelegten und aus minderwertigen Papierbögen bestehen. Noch immer sind Zeitungen eine der wichtigsten Informationsquellen. Wer ausführlich informiert sein will, Einzelheiten und Hintergründe kennenlernen möchte, kommt an der Zeitung nicht vorbei. Außerdem findet man in der Zeitung Informationen, an die sonst nur schwer heranzukommen ist, zum Beispiel zu lokalen oder regionalen Veranstaltungen, Vereinsnachrichten und Todesanzeigen. Viele Menschen haben deshalb eine Tageszeitung abonniert. Auch Zeitungen gehen mit der Zeit. So verfügen alle Tageszeitungen über einen Internetauftritt. Gut drei Viertel der deutschen Bevölkerung über 14 Jahre (71,4 %) lesen regelmäßig eine Tageszeitung, das sind 46 Millionen Männer und Frauen. Bei den lokalen und regionalen Abonnementzeitungen liegen die Leserinnen mit 59,1 % nur ganz leicht hinter den Lesern (63,1 %) (Pasquay 2009: 27). 200 8. Massenmedien in Deutschland Leseinteressen Die 16bis 29-Jährigen Gesamtbevölkerung lokale Berichte aus dem Ort und der Umgebung 74 83 politische Meldungen und Berichte aus dem Inland 49 69 politische Meldungen und Berichte aus dem Ausland 45 60 Anzeigen 41 43 Leserbriefe 28 43 Leitartikel 36 44 Tatsachenberichte aus dem Alltag 32 42 Sportberichte / Sportnachrichten 45 42 kulturelles Leben (Film, Theater, Bücher, Musik) 24- 31 Wirtschaftsteil, Wirtschaftsnachrichten 20 38 Gerichtsberichte, Berichte über laufende Prozesse 31 31 Frauenseiten (Mode, Haushalt, Kindererziehung 24 26 aus Wissenschaft und Technik 25 27 Fortsetzungsromane 3 5 Tabelle 8.1: Was in der Tageszeitung interessiert (nach Pasquay 2009: 33) Experiment Die Menschen verfügen über verschiedene Lesegewohnheiten einer Tageszeitung. Sie können durch ein kleines Experiment selbst Unterschiede in den Lesegewohnheiten beobachten: Lassen Sie Ihre Freunde und Freundinnen ihre Lieblingsrubriken oder -themen in der Tageszeitung nennen. Stellen Sie die Resultate grafisch dar. Vergleichen Sie das Forschungsergebnis mit den angegebenen Ergebnissen aus der Tabelle Was in der Tageszeitung interessiert. Zeitungsgattungen Im internationalen Vergleich zeichnet sich die Bundesrepublik Deutschland durch ein besonders reichhaltiges und vielfältiges Zeitungsangebot aus. Die Zeitungsverlage, die fast alle in privatem Besitz sind, geben 129 Zeitungen (Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen) heraus. Die verkaufte Auflage lag 2018 bei rund 14,1 Millionen Exemplaren. Innerhalb dieser Kategorie nimmt die Bild-Zeitung mit einer verkauften Auflage von rund 1,61 Millionen Exemplaren als einzige überregionale Verkaufszeitung eine herausragende Rolle ein (vergleiche Statistiken zum Thema Zeitung). Deutsche Zeitungen unterscheiden sich in Niveau, Zielgruppen und Verbreitungsgebiete, so die Zeitungen in: Regionale und lokale Tageszeitungen: Sie sind vornehmlich in einer bestimmten Region verbreitet. Sie bieten wochentäglich eine aktuelle Berichterstattung und Kommentierung sowohl zu großen als auch zu regionalen und lokalen Politik-, Wirtschafts-, Kultur- und 201 8.1 Überblick über die Medienlandschaft Sportereignissen. Regionale und lokale Tageszeitungen werden überwiegend im Abonnement abgesetzt. Überregionale Zeitungen mit hohem Anspruch (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Frankfurter Rundschau). Sie sind solche Zeitungen, von deren Auflage mindestens 20 % außerhalb eines Kernverbreitungsgebietes bezogen werden. Diese Zeitungen, die fast alle von Montag bis Samstag erscheinen, berichten ausführlich über das Geschehen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport in Deutschland und in der Welt. Sie bieten hierzu Kommentare und auch Hintergrundinformationen. Der weitaus größte Teil der Auflage der überregionalen Tageszeitungen ist von einem festen Leserstamm abonniert. Boulevardzeitungen („Boulevard-Blätter“) (Bild, Abendzeitung, BZ , Express): Diese Zeitungen haben ihren Namen daher, weil sie nicht im Abonnement, sondern auf der Straße verkauft werden. Sie sind auffällig bunt gestaltet, werben mit großen Schlagzeilen und berichten oft über Skandale, Klatsch und Tragödien. Der Gefühlswert der Beiträge übertrifft deutlich den sachlichen Informationswert. Das Zeitungsangebot lässt sich auch nach der Erscheinungsweise (in Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen) und nach der Vertriebsart ordnen, das heißt danach, ob eine Zeitung überwiegend im Abonnement oder im Einzelverkauf an der Straße oder am Kiosk abgesetzt wird. Für die politische Meinungsbildung sind zum Beispiel wichtig: Wochenzeitungen (Die Zeit, Rheinischer Merkur): Politische Wochenzeitungen sind überregional verbreitet. Da sie wöchentlich erscheinen, findet sich in diesen Zeitungen keine tagesaktuelle Berichterstattung und Kommentierung. In den redaktionellen Beiträgen dieser Zeitungen werden vorwiegend zusammenfassende und Hintergrundinformationen sowie Deutungen von Ereignissen und Entwicklungen des politischen, aber auch des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens geboten. Sonntagszeitungen (Welt am Sonntag, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung): Sie sind zum Teil regional, zum Teil überregional verbreitet. Diese Zeitungen erscheinen nur einmal in der Woche. Sie behandeln aktuelle Themen und Hintergründe. Zeitschriftenpresse: Der deutsche Zeitschriftenmarkt ist breit gefächert. Einschließlich aller Fachzeitschriften werden mehr als 9000 Titel angeboten. Ein Schwergewicht bilden die Publikumszeitschriften mit einer Gesamtauflage von 114 Millionen Exemplaren. Das sind Illustrierte, Programm-, Frauen-, Jugend- und Kinderzeitschriften. Zu den meistgelesenen Nachrichtenmagazinen gehören Stern und Der Spiegel. Diese Nachrichtenmagazine illustrieren lebendig geschriebene Berichte und Kommentare mit vielen Fotos. Immer mehr Leser und Leserinnen gewinnen auch sogenannte Special-Interest-Titel, die sich an bestimmte Zielgruppen mit ausgewählten Einzelthemen, ob Tennis, Computer oder Unterhaltungselektronik, wenden. Zahlenmäßig groß, aber ohne hohe Auflage ist die Gruppe der Fachzeitschriften. Hinzu kommen konfessionelle Blätter, Kundenzeitschriften und Anzeigenblätter. Ein Drittel des Zeitschriftenmarktes entfällt auf die Publikationen der Organisationen und Verbände. Die ADAC -Motorwelt des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs ist mit rund 13 Millionen Exemplaren das auflagenstärkste Blatt (Kwassow 2011: 17-21). 202 8. Massenmedien in Deutschland Heutzutage haben fast alle Zeitungen auch ein Online-Angebot. Als erste machten 1995 taz-- die tageszeitung (Berlin), die Schweriner Volkszeitung, Die Zeit (Hamburg), die Süddeutsche Zeitung (München) und die Rheinische Post (Düsseldorf) eigene Online-Angebote. Im Jahr 2017 sind es 698 verschiedene Zeitungswebsites ( BDZV ). In den großen Suchmaschinen wie Google, Yahoo! , Web.de gibt es eigene Übersichten mit den Internet-Adressen der Zeitungen. Doch eine Suche zu einem bestimmten Thema ist sehr mühsam, wenn man zunächst alle Zeitungen aufrufen muss. Zu diesem Zweck gibt es spezielle Suchdienste, die das Online-Angebot der Zeitungen thematisch absuchen können. Neben den Suchkatalogen ist der größte dieser Art der Dienst Paperball, ein anderer Paperboy. 8.1.3 Das Fernsehen in Deutschland Es gibt derzeit über 145 Fernsehsender, die hauptsächlich Wirtschaftsunternehmen sind und somit auf Gewinnerzielung aus sind. Man unterscheidet heutzutage zwischen drei Arten beziehungsweise Typen von Fernsehsendern in Deutschland: Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, private Fernsehsender, Bezahlfernsehsender (Pay TV ) (Netzwerk Medienkompetenz des WDR 2009: 7). Den Markt teilen sich ungefähr zur Hälfte die öffentlich-rechtlichen Sender (unter anderem Das Erste, ZDF und die regionalen Dritten Programme) und die seit 1984 existierenden Privatsender. Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten: Diese Fernsehsender haben einen vom Staat festgelegten Programmauftrag, nach dem sich die Programminhalte zu richten haben. Diese Fernsehstationen finanzieren sich ausschließlich durch den Rundfunkbeitrag und durch Werbung. Dazu gehören: Das Erste-- ARD , ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen), 3Sat, ARTE , Phoenix, KIKA (Kinderkanal), BR (Bayerisches Fernsehen), HR Fernsehen (Hessischer Rundfunk), MDR (Mitteldeutscher Rundfunk), NDR (Norddeutscher Rundfunk), SWR Fernsehen (Südwest-Rundfunk), WDR (Westdeutscher Rundfunk). Private Sender: Diese Fernsehanstalten befinden sich in privater Hand und finanzieren sich ausschließlich durch verkaufte Werbeplätze sowie durch in Auftrag gegebene Fernsehproduktionen. Private Fernsehsender in Deutschland sind: RTL Television, RTL II , VOX , Super RTL , ProSieben, Sat.1, kabel eins, 9Live, Tele5, MTV (Music Television), Viva, N- TV , N24, Sport1, Eurosport, Comedy Central, Nick Deutschland, Sonnenklar TV . Bezahlfernsehsender (Pay TV ): Diese Fernsehsender sind meist völlig werbefrei und werden vom Zuschauer direkt bezahlt. Um das Fernsehprogramm zu empfangen, benötigt man einen speziellen Decoder, der das codierte Fernsehprogramm nach erfolgter Bezahlung entschlüsselt. Der Zuschauer oder die Zuschauerin hat hierbei die Möglichkeit, die fälligen Gebühren entweder pro Sendung oder pro Programmpaket an den jeweiligen Programmbetreiber zu entrichten. In Deutschland gibt es folgende Bezahlfernsehsender: Premiere, Sat.1 Comedy, Disney Channel, Cartoon Network, kabel eins classics, Focus Gesundheit, SciFi, Hit24, Heimatkanal, Goldstar. Im Januar 2016 konnten durchschnittlich 74 TV -Sender pro Haushalt in Deutschland empfangen werden. Insgesamt gibt es mehr als 410 Programme im deutschen Fernsehen.-[…] Laut dem ALM - Jahrbuch lag die Anzahl der Pay- TV -Sender im Jahr 2016 bei knapp 90. Die Sender mit den höchsten 203 8.1 Überblick über die Medienlandschaft Marktanteilen beim Gesamtpublikum waren die Dritten und die ARD , gefolgt von den Privatsendern RTL , Sat.1 und VOX . Bei den 3-13-Jährigen dagegen hatte Super RTL mit 18,2 Prozent den höchsten Marktanteil, auf den Plätzen zwei und drei lagen der KIKA (15,4 Prozent) und der Disney Channel (8,2 Prozent) vor Nickelodeon (7,3 Prozent) auf Platz vier. (Statistiken zum Thema Fernsehsender) KIKA ist ein Fernsehsender speziell für Kinder und Jugendliche von ARD und ZDF . Bei einer Umfrage des LINK Institut für Markt- und Sozialforschung über die Qualität von Unterhaltungssendungen gaben 58,8 % der Befragten an, dass ProSieben für besonders gelungene Unterhaltungssendungen wie Shows, Serien und Spielfilme steht. Sendungen: Die Sendungen werden bei den Privatsendern durch Werbeblöcke unterbrochen. Das attraktive Rahmenprogramm soll die Zuschauer und Zuschauerinnen animieren, die Werbeblöcke anzusehen. Diese stellen die Haupteinnahmequelle der Privatsender dar. ARD und ZDF zeigen Werbung nur bis 20 Uhr, die übrigen öffentlich-rechtlichen Programme sind werbefrei. Filme der öffentlich-rechtlichen Sender werden in der Regel nicht durch Werbung unterbrochen; jedoch ist vor allem das ZDF dazu übergegangen, Filmenden auszublenden und durch Eigenwerbung zu ersetzen. Es gibt zahlreiche Fernsehformate, zum Beispiel Politmagazine, Fernsehmagazine, Informationssendungen, Dokumentarfilme, Nachrichten, Quizsendungen, Spielfilme, Kinderserien und Seifenopern. Das Angebot ist äußerst vielfältig und verschiedenartig, es füllt fast jede Nische. Die meistgesehene Nachrichtensendung im deutschen Fernsehen- - die Tagesschau- -, läuft seit Jahrzehnten von 20 Uhr bis 20: 15 Uhr, deshalb beginnt das Abendprogramm nahezu aller Sender um 20: 15 Uhr. Die durchschnittliche tägliche Sehdauer hängt deutlich von Alter, Bildung, Beruf und Einkommen der Person ab. Im Jahr 2014 schauten die Deutschen jeden Tag im Durchschnitt 221 Minuten Fernsehen (vergleiche AGF 2017a). Die TV -Zuschauer und -Zuschauerinnen der Altersgruppe ab 50 Jahren sahen am meisten fern (vergleiche AGF 2017b). Experiment 2 Die Menschen verfügen über verschiedene Fernsehgewohnheiten. Sie können durch ein kleines Experiment selbst Unterschiede darin beobachten: Lassen Sie Ihre Freunde oder Freundinnen auf folgende Fragen antworten: ▶ Wie oft schaltest Du den Fernseher ein? ▶ Wie lange und zu welcher Tageszeit siehst Du fern? ▶ Welche Art von Sendungen siehst Du gern? ▶ Wie informierst Du Dich über das Fernsehprogramm? (durch andere Leute, durch das Fernsehen, durch das Radio, durch eine Fernsehzeitschrift, durch eine Tageszeitung,-…) ▶ Wozu siehst Du überhaupt fern? Berichten Sie über die Ergebnisse Ihrer Umfrage. Welche Schlussfolgerungen können Sie ziehen? Vergleichen Sie die Ergebnisse der Umfrage mit den Angaben im Abschnitt 8.1.3. Gibt es mehr Unterschiede oder Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Ihrem Heimatland? 204 8. Massenmedien in Deutschland 8.1.4 Der Rundfunk in Deutschland Am 29. Oktober 1923 ging in Deutschland erstmals eine offizielle Rundfunksendung in den Äther. Um 20 Uhr Ortszeit übertrug man von einem Dachboden in der Berliner Potsdamer Straße 4 diese Ansage: „Achtung! Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin im Voxhaus. Auf Welle 400 Meter. Meine Damen und Herren! Wir machen Ihnen davon Mitteilung, dass am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt“ (Wendling 2013). Jeder Deutsche kommt im Durchschnitt auf eine tägliche Radio-Hördauer von knapp drei Stunden (Stand: 2018). Insgesamt gibt es 418 Radiosender in Deutschland. Davon sind 232 private und 71 öffentlich-rechtliche Radioprogramme. Laut ma 2018 Audio II sind Radio NRW , WDR 2 und SWR 3 bundesweit die reichweitenstärksten Radioprogramme. Zu den verbreitetsten Empfangsarten von Radio in Deutschland zählen laut einer Vu MA -Erhebung die Geräteantenne und der Kabelanschluss. (Statistiken zum Thema Radio) Die lokalen Hörfunksender in Deutschland bieten ein vor allem auf das lokale Verbreitungsgebiet bezogenes Angebot an Nachrichten, Informationen und unterhaltenden Elementen. In einigen Ländern wie Bayern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen übernehmen manche lokalen Sender ein Mantelprogramm oder ein Zulieferprogramm eines landesweiten Anbieters. Beim Hörfunk bilden die Nachrichten das Programmgerüst. Sie werden in regelmäßigen Abständen zu allen Tages- und Nachtzeiten von sämtlichen Rundfunkanstalten gesendet. Sie sollen keine Wertungen enthalten, sondern allein das wiedergeben, was geschehen ist, was ein Redner gesagt oder ein Gremium beschlossen hat. Diese Forderungen lassen sich aus der Objektivitätsverpflichtung der Anstalten ableiten. Um eine Nachrichtensendung zusammenzustellen, stehen als Quellen neben Pressediensten, Korrespondentenberichte und Zeitungen vor allem die Nachrichtenagenturen zur Verfügung. Häufig bestimmen Zufälle das Nachrichtenangebot. Der Sprecher oder die Sprecherin einer Partei formuliert schnell eine Stellungnahme zu einer Entscheidung der Regierung; sein Kollege oder seine Kollegin von der anderen Partei hinkt hinterher, weil er noch einen Vorstandsbeschluss abwarten muss. Die Folge: In der Sendung erscheint nur die Meldung einer Seite. Nachrichten sind, allein schon wegen ihrer Kürze, nie ein objektives Bild der Wirklichkeit. Sie sind flüchtige Momentaufnahmen, die erst durch Kommentare und Dokumentationen Tiefenschärfe erhalten. Die Sprache, die für die Hörfunknachrichten taugt, ist eine andere als die, welche in Schule und Universität vermittelt wird-- mit Einschüben, Nominalstil, Substantiven. Diese Sprache ist für ein einmaliges Hören konzipiert. Für das Medium Hörfunk gilt eben nicht: Sprechen wie gedruckt! Eine sinnbezogene sprachliche und sprecherische Gestaltung, die den Hörer oder die Hörerin einbezieht, ist Voraussetzung. In der kulturellen Entwicklung des Radios spielen anspruchsvolle Musik, ebenso wie Unterhaltungsmusik oder aktuelle Musikströmungen der Jugend eine wichtige Rolle. Die schnell wechselnden Musikstile des jungen Publikums haben zum Entstehen neuer Jugendradios geführt. Es handelt sich dabei um Programme wie Eins Live ( WDR ), Fritz ( RBB ) oder 205 8.1 Überblick über die Medienlandschaft N-joy Radio ( NDR ). Formatradios sind sie aufgrund ihrer eindeutigen musikalischen Wiedererkennbarkeit durch Pop, Rock, Danceflor, HipHop, Techno, ergänzt um fundierte Hintergrundinformationen zu Musiktrends, ständiger Hörerhotline und Mailbox. Radio als Begleitmedium: Die starke Position des Radios ist auch auf veränderte Nutzungsgewohnheiten zurückzuführen. So hörten 2003 fast zwei Drittel (62,3 %) der Befragten beim Essen Radio, die Hälfte bei der Arbeit, ein reichliches Viertel (27,2 %) beim Autofahren und über ein Drittel (34,5 %) in der Freizeit. Der Hörfunk ist zu einem wichtigen Begleitmedium geworden. Dadurch sind traditionelle Programmformen, die hohe Aufmerksamkeit erfordern, etwa das Hörspiel, in ihrem Bestand bedroht. Andere dagegen, wie die verschiedenen Magazinformen, konnten neue Publika erreichen. Für die Hörfunkprogramme erforderte dies einen bislang für elektronische Medien beispiellosen Strukturwandel (Kwassow 2011: Teil IV ). 8.1.5 Zusammenfassung ▶ Die Medienlandschaft in Deutschland ist vielfältig. ▶ Deutsche Print-, Radio-, Online- und Fernsehmedien dienen gleichen Zielen-- nämlich der Informationsversorgung, aber erfüllen ihre Aufgaben auf unterschiedliche Weise. ▶ Man hat die Presse- - und im weiteren Sinne alle Massenmedien- - als vierte Gewalt neben Parlament, Regierung und Gerichtsbarkeit bezeichnet. Eine freie, nicht von der öffentlichen Gewalt gelenkte, keiner Zensur unterworfene Presse ist ein Wesenselement des freiheitlichen Staates. ▶ Zu den medialen Besonderheiten in der BRD gehören die Betonung der föderalen Souveränität in Kultur und Rundfunk und das Nebeneinander von öffentlich-rechtlichen und privaten Medien. 8.1.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Nennen Sie alle Funktionen der Massenmedien in der Gesellschaft. 2. Was verstehen Sie unter der dualen Rundfunkordnung in der BRD ? 3. Wer kontrolliert die Massenmedien in der BRD ? 4. Welche Zeitungsgattungen gibt es in Deutschland? 5. Nennen Sie die Arten beziehungsweise Typen der Fernsehsender in Deutschland. 6. Was gehört zu den am weitesten verbreiteten Empfangsarten von Radio in Deutschland? 206 8. Massenmedien in Deutschland 8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel Die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technik in den letzten zwei Jahrzehnten hat zur Entstehung neuer digitaler Technologien geführt, die aktiv und erfolgreich im Bereich der Kommunikation eingesetzt werden. Das hat zur Entstehung neuer Kanäle für die Verbreitung von Informationen beigetragen. Modernes Fernsehen, Internet und Mobilfunk haben eine besondere Rolle bei der Gestaltung der menschlichen Weltanschauung, Orientierungen und moralischen Prinzipien in der Gesellschaft. Die meisten von uns verbringen Stunden mit dem Handy, um die neuesten Nachrichten über Freunde und Familie zu erfahren. Das Internet hat seit langem gedruckte Presse und die Medien, ausgenommen das Fernsehen, ersetzt. Moderne Kinder surfen bereits im Alter von sechs-sieben Jahren im Internet und registrieren sich in sozialen Netzwerken. Das scheint ungewöhnlich, aber es ist eine Tatsache. Durch neue Kommunikationsmittel werden menschliche Werte und Verhaltensweisen geprägt. In Lerneinheit 8.2 erfahren wir, wie die Informationsrevolution die Massenmedien sowie die Formen und Inhalte von Medienprodukten und der Medienumgebung verändert hat. Welche neuen Kommunikationskanäle sind entstanden und wie beeinflussen sie Massengeschmäcker? Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ zeitgeschichtliche Trends, Dynamiken und Transformationsprozesse im Medienbereich beurteilen; ▶ über die modernen Massenmedien und ihre Rolle in unserem Leben sprechen. 8.2.1 Kommunikationsmittel von heute Die sich erweiternde Globalisierung führte zur schnellen Entwicklung von modernen Informationstechniken und Kommunikationstechnologien. Die elektronische Kommunikation eröffnete neue Perspektiven. Moderne Kommunikationsmittel verändern die Welt und bringen neue Arten von Dialog, Austausch und Zusammenarbeit mit sich. Wir sind heute immer und überall erreichbar, stöhnen über die Flut an Informationen, die über uns hereinbricht und vergessen, dass die meisten Geräte einen Aus-Schalter haben. Wir müssen lernen, die Möglichkeiten der Kommunikation in einen Vorteil zu verwandeln und zu unserem Wohle zu nutzen. Man kann heutzutage seine Freunde in Sekunden erreichen. Jeden Tag benutzt man Mobiltelefone, E-Mail, soziale Medien und Skype. Mit den modernen Kommunikationsmitteln bleiben wir in Kontakt. Seit 1877 gibt es das Telefon. Und 1983 wurde das erste Mobiltelefon erfunden. Jetzt geht man ohne Mobiltelefon nirgends mehr hin. Mit 9,7 Jahren erhalten die Kinder im Durchschnitt ihr erstes Mobiltelefon. 10,4 Milliarden SMS versendeten die Deutschen im Jahr 2017 (Blogtainment (2010)). 207 8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel Seit 1993 gibt es das World Wide Web. Seitdem kann man E-Mails schreiben. Jeden Tag werden weltweit mehr als 200 Milliarden E-Mails verschickt, während eine Milliarde Menschen Facebook nutzen und über Twitter 500 Millionen Nachrichten gesendet werden. Das sind Ergebnisse der Studie The State of Social Marketing 2015 der Agentur SimplyMeasured aus Seattle, USA (vergleiche Hähle 2015). Heutzutage ist das meist genutzte Medium für Korrespondenz, egal ob geschäftlich oder privat, die E-Mail. Diese wird auf elektronischem Wege übertragen. Ermöglicht wird dies durch das Internet. Dabei hat jeder User eine individuelle E-Mail-Adresse, ähnlich einer Telefonnummer. Die E-Mail ist vergleichbar mit einem Brief, nur dass dieser Brief innerhalb von wenigen Sekunden weltweit zugestellt werden kann. Seit Mitte der 1990er Jahre ist dieser Dienst etabliert. Heute sind E-Mails aus der Geschäftswelt und aus dem Privatleben nicht mehr wegzudenken. Dank Smartphones sind heutzutage viele Menschen miteinander vernetzt. Während zu Beginn des Handyzeitalters noch SMS , also reine Textbotschaften, versendet wurden, ist es heute dank Smartphone-Programmen wie WhatsApp oder Viber möglich, auch Bilder, Sprachnachrichten oder Videos auszutauschen. Dieses moderne Mittel hilft, auch unterwegs innerhalb von Sekunden Daten oder auch einfach nur Textnachrichten an eine große Anzahl von Usern zu senden. WhatsApp ist dabei die meistgenutzte Smartphone-App weltweit. Das Internet bedeutet: ▶ ein Teilgebiet in weltweiten Computernetzen, das vor allem zur E-Mail-Übertragung zwischen zwei Computern dient; ▶ einen Computer, der keine eigenen externen Speicher hat, sondern alle Daten vom Internet herunterlädt. Unter Internet versteht man auch Abfragen von Informationen im internationalen Rechnernetz. Man interessiert sich am häufigsten für Nachrichten oder Tourismus und kauft online ein. Das Internet ist ein wichtiger, nicht wegzudenkender Teil unseres Alltags. Laut ARD / ZDF -Onlinestudie lag im Jahr 2018 die durchschnittliche tägliche Dauer der Internetnutzung bei 196 Minuten. Die Anzahl der Internetnutzer in Deutschland belief sich im gleichen Jahr auf 63,3 Millionen. (Statistik zur täglichen Nutzung des Internets) Man kann sagen, dass ein Computer unser wichtigstes Informations- und Kommunikationsmittel sowohl im persönlichen Leben als auch im Berufsalltag darstellt. Er führt bestimmte Rechenoperationen aus, verarbeitet, speichert, übermittelt Daten und steuert Produktionsprozesse. Man kann heute Parkplätze oder Plätze in Restaurants vom Auto aus mittels eines Bordcomputers bestellen. Podcasts sind radioähnliche Beiträge und Sendungen im MP 3-Format, die, teils täglich, teils sporadisch aktualisiert, über das Internet verbreitet werden. Das Kunstwort, podcast setzt sich aus den Bezeichnungen iPod (ein MP 3-Player von Apple) und broadcast ‚senden‘ (mittels Rundfunk übertragen) zusammen. Der Konsument oder die Konsumentin kann sie abonnieren, speichern und, anders als beim Radio, zu jeder beliebigen Zeit hören. Waren Podcasts bislang nur vereinzelt im Internet zu finden, stieg ihre Anzahl im Laufe des Jahres 2005 sprunghaft auf mehrere tausend an. Als Erfinder des Podcasts gilt der ehemalige MTV -Mo- 208 8. Massenmedien in Deutschland derator Adam Curry; im Jahre 2005 integrierte die Computerfirma Apple die Möglichkeit, Podcasts zu empfangen und abzuspielen, in ihre Musiksoftware iTunes (Computer Bild). Die Inhalte der Podcasts reichen von Städteführern bis zu Predigten und Papstinterviews, die von Radio Vatikan angeboten werden. Seit Juni 2006 wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel wöchentlich in einem Video-Podcast an die Bevölkerung, meist spricht sie darin über ein aktuelles politisches Thema wie die Föderalismusreform, das Elterngeld oder beispielsweise eine Offensive für den Mittelstand. 8.2.2 Generation.de: Die elektronischen Nomaden Die Digitalisierung der Medienwelt, das Internet, die dynamische Zunahme mobiler Endgeräte und der Siegeszug der sozialen Medien haben das Mediennutzungsverhalten signifikant verändert. 55,6 Millionen Deutsche über 14 Jahre (79 %) sind online (Frankfurter Societäts- Medien GmbH 2010). Immer mehr Jugendliche zählen sich selbst zur Generation.de- - also zu jenen jungen Leuten, die ihre sozialen Kontakte auch über das Internet suchen. Der Computer übernimmt sogar oft schon Erziehungsaufgaben. Das gute alte Buch kommt damit aber noch lange nicht aus der Mode. Die modernen Informations- und Kommunikationstechniken erlauben den Menschen das Arbeiten in den eigenen vier Wänden. Trotzdem steht dem modernen Medien-User die Welt offen: Er vermag zu surfen, zu chatten und zu mailen-- rund um den Globus und zu jeder Zeit. Zu dieser Generation mit einem neuen Lebensstil gehört vor allem die Altersgruppe der heute 14bis 29-Jährigen, ist diese doch mit Computern, Kabelfernsehen und Privat- TV aufgewachsen. Die jungen Leute verstehen sich als aktiv, kreativ, autonom und weltoffen. Die Web-Gemeinde will ihre Gedanken mitteilen und vorurteilsfrei weltweit miteinander kommunizieren; hierbei wird ein unzensierter Zugang zum Internet als Grundrecht angesehen. Von allen Medien nutzen Jugendliche das Handy beziehungsweise das Smartphone am häufigsten. Laut einer Umfrage zur Mediennutzung von Jugendlichen in Deutschland gaben rund 94 Prozent der Befragten im Alter von 12 bis 19 Jahren an, ihr Smartphone täglich zu verwenden. Beim täglichen Medienkonsum folgen das Internet (91 Prozent) und das Musik hören (84 Prozent). Online-Videos schauen insgesamt 65 Prozent der Jugendlichen täglich. Digitale Spiele nutzen ein knappes Drittel der Befragten jeden Tag. Bücher lesen immerhin noch 19 Prozent der Jugendlichen täglich, Tageszeitungen hingegen deutlich weniger (10 Prozent). Die Internetnutzungsdauer von Jugendlichen lag 2018 bei 214 Minuten pro Tag. Zehn Jahre zuvor lag dieser Wert noch bei 117 Minuten. Die tägliche Sehdauer bei der Fernsehnutzung der 14bis 19-Jährigen in Deutschland lag 2017 mit 70 Minuten unter dem Vorjahreswert (81 Minuten). (Statistiken zur Mediennutzung von Jugendlichen) Den größten Anteil an der Nutzungszeit im Internet von Jugendlichen nimmt der Bereich Kommunikation ein. Unter den regelmäßig ausgeführten Aktivitäten im Internet mit dem Schwerpunkt Kommunikation liegt im Jahr 2018 die Nutzung des Messaging-Dienstes WhatsApp mit Abstand vorn (95 Prozent), gefolgt von den Online-Diensten Instagram (67 Prozent) und Snapchat (54 Prozent). Die tägliche Nutzungsdauer von Games liegt im Jahr 2018 laut dem Medienpädagogischen For- 209 8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel schungsverbund Südwest (mpfs) bei insgesamt 103 Minuten (Montag bis Freitag) beziehungsweise 125 Minuten (Wochenende). Besonders bei den Jungen sind digitale Spiele sehr beliebt. Dagegen ist der Anteil der Jugendlichen, die regelmäßig Tageszeitungen und Zeitschriften in Form von Printmedien nutzen, in den letzten Jahren zurückgegangen. Das regelmäßige Lesen von Büchern erfreut sich hingegen einer relativ konstanten Beliebtheit. (Statistiken zur Mediennutzung von Jugendlichen) Der Fernseher ist für die jungen Leute heute also eher ein Entertainer. Der Computer ist Spiel- und Lernzeug zugleich. Der Computer durchdringt alle Lebensbereiche: Die meisten der Generation.de möchte sich Job-Angebote per Mausklick nach Hause holen, viele wollen sich den Gang zum Einwohnermeldeamt ersparen und mit Behörden online kommunizieren, und mehr als die Hälfe möchte sich ihr Wissen gerne per Tele-Learning aneignen. E-Mails zieht jeder zweite 14bis 29-Jährige der snail mail, also der Briefpost, vor. Ihren Eltern schreiben die Kids ins Stammbuch, dass Erziehung nicht mehr nur deren Sache ist- - der Computer fungiert schon längst als „geheimer Miterzieher“. Kein Wunder, können sich die jungen Leute doch heute über Dinge im Internet informieren, die früher nur über die Eltern zu erfahren waren. Wer glaubt, die Computer-Generation unterscheide sich in allem von den Altvorderen, der irrt. Das gute alte Buch wird doch seine Bedeutung nicht verlieren. Auch junge Leute halten ihm die Stange-- 40 % sagen, Multimedia könne das Buch nicht ersetzen ( AHK ). 8.2.3 Die Tageszeitung im Internet: Was kann sie, was bietet sie? Bei derzeit rund 100 Tageszeitungen online bietet sich eine erstaunliche oder vielleicht auch nicht erstaunliche Vielfalt an Service-Leistung, Aufbereitung von Nachrichten und Layouttechnischer Gestaltung (Grafik, Animation, Design) (Filitowitsch & Vlassjuk 2002: 21). Verallgemeinernd aber kann man konstatieren, dass Tageszeitungen online im Vergleich zur papierenen Schwester (besser: Mutter) in der Regel mit einem umfassenden interaktiven Dienstleistungs-Angebot ausgestattet sind. Hier nur eine Auswahl: ▶ Archiv mit Volltextrecherche (oftmals gratis); ▶ Teilnahme an Gewinnspielen via Mausklick; ▶ Abo-Bestellung via Mausklick; ▶ interaktive Anzeigenannahme; ▶ ausdruckbares Kreuzworträtsel; ▶ Kino-Programm, oftmals verbunden mit der Möglichkeit zur interaktiven Kartenreservierung und einem Filmarchiv; ▶ Downloadbare Fotos zur Weiterverwertung; ▶ Verweise auf andere Links, zumeist themenbezogen innerhalb redaktioneller Artikel; ▶ Werbung verlinkt zur werbeführenden Firma (ermöglicht direkte und schnelle Produktinformation) (Filitowitsch & Vlassjuk 2002: 22). Insbesondere Regionalzeitungen bündeln die surfenden Stadt- und Landbewohner und -bewohnerinnen auf einem virtuellen Marktplatz, wo schneller und direkter Datenaustausch 210 8. Massenmedien in Deutschland via Mausklick der regionalen Serviceleistung und der gegenseitigen Kontaktaufnahme eine andere Qualität verleiht. Zu nennen wären hier unter anderem: ▶ Lokaler Veranstaltungskalender; ▶ Archivierte Gastroführer; ▶ Regionaler Kleinanzeigenmarkt mit interaktivem Zugriff; ▶ Nahverkehrs-Fahrpläne; ▶ Stadtpläne mit Suchfunktion; ▶ Leit-Hilfe durch den Behördendschungel; ▶ Tourismus-Infos; ▶ Lokales Homepage- und E-Mail-Verzeichnis; ▶ Urlaubsabmelde-Service, Adressenänderungs-Service; ▶ Lokaler Branchenindex; ▶ Polizeibericht, Kirchenanzeiger, Sterbetafel (Filitowitsch & Vlassjuk 2002: 22). Kaum eine Tageszeitung stellt ihre komplette Printausgabe im Volltext ins Netz. Zumeist erscheinen die Artikel nur in einer Auswahl und in gekürzter Version. Des Weiteren bieten Tageszeitungen im Internet Mittel zur direkten Kontaktaufnahme-- zum einen zwischen der Redaktion und den Usern, zum anderen zwischen den Usern selbst. Folgende Einrichtungen stehen unter anderem hierfür zur Verfügung: ▶ Leserbriefe via E-Mail; ▶ Themenvorschläge, Beschwerden oder Lob direkt an die Redaktion via E-Mail; ▶ Kommunikation mit anderen Lesern und Leserinnen in Diskussionsforen zu bestimmten Themen: ▶ Kommunikation in Echtzeit innerhalb des von vielen Zeitungen angebotenen Chats (Filitowitsch & Vlassjuk 2002: 22). Bis auf wenige Ausnahmen gestalten sich die Tageszeitungen im Internet recht bunt. Grafiken, Animationen, Logos und Werbebuttons und dazu noch eine Auswahl von Fotos sollen den User animieren. Oftmals jedoch wird die Ladezeit der Seiten dadurch beeinträchtigt, da im Schnitt nicht alle User auf dem neuesten Stand der Technik sind. Beispiel für eine sehr farbenprächtige Gestaltung ist die BILD -Online, ihr Gegenstück ist die sehr textorientierte Tageszeitung die WELT . Vor- und Nachteile von Online-Zeitungen Die vier Wesensmerkmale einer Zeitung sind Aktualität, Universalität, Publizität und Periodizität. Diese Wesensmerkmale werden auch von einer Online-Zeitung erfüllt. Im Bereich der Aktualität liegt die Online-Zeitung sogar deutlich vor der gedruckten Zeitung. Denn 22 der 27 an der Umfrage beteiligten Verlage gaben an, dass sie ihre Online-Ausgabe vor der Print-Ausgabe zur Verfügung stellen. Bei vier Verlagen wird das Angebot sogar mehrfach täglich aktualisiert. So gaben dann auch 70 % der Leser und Leserinnen an, dass gerade diese Aktualität für sie von großer Bedeutung sei. Auch die Möglichkeit, im Internet mehrere Zeitungen zu lesen war für 50 % der Befragten ein wichtiges Kriterium (Filitowitsch & Vlassjuk 2002: 23). 211 8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel Als großen Nachteil bewerteten die Befragten, dass die Online-Ausgabe nur einen Teil der gedruckten Ausgabe enthält. Lediglich drei der beteiligten Verlage übernahmen das komplette Angebot des Print-Pendants. Weiterhin wurde als negativ gewertet, dass sich beim Lesen einer Online-Zeitung das klassische Leseerlebnis nicht einstelle und auch die Ladezeiten teilweise zu lang wären. Experiment 1 Menschen verfügen über verschiedene Lesegewohnheiten und -Erfahrungen. Sie können durch ein kleines Experiment selbst diese Unterschiede beobachten: Lassen Sie Ihre Freunde und Freundinnen entscheiden, ob Sie eine gedruckte Zeitung kaufen oder lieber eine Online-Ausgabe benutzen würden. Wie begründen sie ihre Auswahl? Berichten Sie über die Ergebnisse Ihrer Umfrage. Vergleichen Sie die Ergebnisse der Umfrage mit den Angaben im Abschnitt 8.2.3. Fallen die in der Umfrage genannten Vor- und Nachteile der gedruckten und Online-Zeitungen mit denen im Text zusammen? Welche Schlussfolgerungen können Sie ziehen? 8.2.4 Wie Nachrichten entstehen Korrespondenten beziehungsweise Korrespondentinnen und Reporter beziehungsweise Reporterinnen „recherchieren vor Ort“, wie es in der Fachsprache heißt. Gemeint ist: Sie gehen an Ort und Stelle einer Sache nach und sammeln möglichst viele Informationen darüber. Aber welche Zeitung könnte es sich leisten, überall Korrespondenten zu haben? Zuständig als Nachrichtenlieferanten sind daher große Agenturen, zum Beispiel dpa, die Deutsche Presse-Agentur. Sie wird von insgesamt 200 deutschen Verlagen und Rundfunkgesellschaften getragen. Fast alle tagesaktuellen Medien Deutschlands haben den Dienst von dpa abonniert. Ihren Hauptsitz hat die Deutsche Presse-Agentur in Hamburg. Knapp 1.100 fest angestellte Mitarbeiter arbeiten für dpa, hinzu kommen zahlreiche freie Mitarbeiter. Der bundesweit vertriebene Hauptdienst von dpa umfasst täglich circa 800 Meldungen mit 200 000 Worten. Die dpa ist stark regional gegliedert. Als Grundsätze ihrer Tätigkeit gibt die dpa Unabhängigkeit, Zuverlässigkeit, Schnelligkeit und Vollständigkeit an. Innerhalb der dpa werden spezielle Dienste, zum Beispiel zum Thema Forschung, angeboten. Ferner unterhält die dpa einen Audio-Dienst, aus dem sich vorwiegend private Rundfunkveranstalter bedienen (Hermann & Hilse 2001: 2). Die dpa hat ein weltweites Korrespondentennetzwerk und bietet den Zeitungen Nachrichten an, sie wirft sozusagen die Ware „Nachricht“ auf einen großen Nachrichtenmarkt, der noch von vielen weiteren Agenturen beliefert wird. Auswählen, weglassen oder ändern. Der dpa-Korrespondent oder die Korrespondentin sieht nur das, was er oder sie für berichtenswert hält. Das, was der Korrespondent oder die Korrespondentin für berichtenswert hält, sieht er oder sie aus einer persönlichen Sicht, sozusagen durch eine Brille. Ein Korrespondent oder eine Korrespondentin kann nicht alles vor Ort selbst recherchieren. Er oder sie ist daher auf Meldungen von Parteien, Verbänden und den lokalen Mitarbei- 212 8. Massenmedien in Deutschland tern und Mitarbeiterinnen angewiesen. Durch ihre eigene Erfahrung mit kulturellen, sozialen und sprachlichen Eigenheiten der Region bringen sie die Journalistinnen und Journalisten erst auf den richtigen Weg. Aber die Korrespondenten und Korrespondentinnen selbst müssen das Gespür für eine passende Geschichte und die Kenntnisse über die deutschen Medien mitbringen, sonst können ihnen die einheimischen Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen nicht helfen (Mohio 2018). Nachdem der größte Teil der Recherche erledigt ist, besteht die Hauptaufgabe der Journalisten und Journalistinnen darin, die Ereignisse aus den fremden Regionen und Kulturen anschaulich zu vermitteln, das heißt so zu formulieren, dass sie die deutschen Leser und Leserinnen verstehen. Nur eine von zehn Informationen gibt der Korrespondent oder die Korrespondentin als Meldung an seine oder ihre Zentrale weiter. Tag und Nacht kommen pausenlos Meldungen an die Zeitungsredaktionen. Die Zeitungen können nur einen kleinen Teil davon, bearbeitet und umgeschrieben, abdrucken. 8.2.5 Zusammenfassung ▶ Neue Medien und Kommunikationsformen werden in den Alltag der Mitglieder von Kommunikationsgemeinschaften integriert, wie es kommunikative Bedürfnisse und Normen erfordern. ▶ Die neuen Medien scheinen so neu nicht mehr, denn internet- und mobilfunkvermittelte Kommunikation ist in den modernen Informations- und Wissensgesellschaften so selbstverständlich wie Rundfunk und Fernsehen. ▶ Der Umbruch der Medienwelt ist in vollem Gang. Zeitungen schrumpfen und sterben, das Internet hat Hochkonjunktur und feiert Rekordzahlen. Die neuen interaktiven Möglichkeiten verändern das Bild der Medien. ▶ Die Zeitung und Zeitschrift, die seit nun mehr 500 Jahren existieren, stellen ein Medium dar, das in Inhalt, Form und Verbreitung zwar ständig modernisiert wurde, von der Grundstruktur her aber trotz immer neuer Medien relativ gleich geblieben ist. 8.2.6 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Was ist die elektronische Kommunikation? 2. Nennen Sie eines der wichtigsten Informations- und Kommunikationsmittel sowohl im persönlichen als auch im Berufsalltag. 3. Was ist das Internet? Wozu gebraucht man es? 4. Wer gehört zur Generation.de? 5. Nennen Sie die typischen Merkmale der Online-Zeitung. 6. Wie entsteht eine Nachricht? 213 8.3 Sprache der Massenmedien 8.3 Sprache der Massenmedien Die Printmedien bleiben heute eine maßgebliche Informationsquelle, trotz der Verbreitung neuer Medien, wie zum Beispiel des Internets. Die Zeitung hat mit einem heterogenen Massenleser zu tun und muss jeden Leser und jede Leserin inhaltlich und stilistisch befriedigen. Der Massenleser verlangt von der Zeitung eine ständige Vielfalt an Design-, Stil- und Genreverfahren. Unter den Genres in der Presse versteht man Organisationsformen des Materials, die Widerspiegelung von Tatsachen, Ereignissen, die Beleuchtung von Geschehnissen. Die Pressesorten haben sich über einen langen Zeitraum entwickelt und haben neben den allgemeinen Merkmalen auch einige national-traditionelle Besonderheiten. Aktuell erleben wir eine Zeit intensiver Entwicklung des Pressestils. Das Spektrum der Stilformen der Zeitungen hat sich erheblich erweitert-- es erfolgt eine weite Differenzierung der Zeitungen nach den stilistischen Merkmalen. Zudem gibt es heute radikale Veränderungen im Genresystem der Presse, zum Beispiel die Vertiefung und Erweiterung des Evaluierens sowie die Verwendung verschiedener Vokabularschichten. Damit ist die Bildung eines neuen lexikalischen Systems der Zeitung verbunden. In der vorliegenden Lerneinheit 8.3 beschäftigen wir uns mit den sprachlichen Besonderheiten der Pressesorten, die die bestimmten Formen der Einreichung von Materialien darstellen und die zur Attraktivität bei den Lesern und Leserinnen beitragen. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ massenmediale Darstellungsformen in ihren formalen und funktionalen Aspekten beschreiben; ▶ die Texte verschiedener journalistischer Genres verstehen und interpretieren können. 8.3.1 Journalistische Textsorten Grundsätzlicher Anspruch des Journalismus ist die Objektivität. Der Journalist oder die Journalistin muss zwischen Fakten (Nachrichten) und Meinung (Kommentar) unterscheiden. Eine subjektive Meinung sollte in Nachrichten keinesfalls einfließen. Wenn dies dennoch geschieht, so muss diese Meinung gekennzeichnet werden (zum Beispiel als Kommentar). Journalistische Textsorten gliedern sich zunächst in: ▶ tatsachenbetonte Textsorten: Die Nachricht, der Bericht, die Meldung, die Reportage, das Feature, das Interview etc.; ▶ meinungsbetonte Textsorten: Die Kritik, die Karikatur, der Kommentar, der Leitartikel, die Glosse, das Porträt etc.; ▶ fantasiebetonte Textsorten: Das Feuilleton, der Zeitungsroman etc. (Rubanjuk 2013: 131-144; Kwassow 2011: Teil II; Mokschina 2007: 3-32). 214 8. Massenmedien in Deutschland Das Interesse an der Sprache in den Massenmedien ergibt sich aus deren Verbreitung; allein schon die Fülle der Inhalte, die Vielfalt der Textsorten, die Breite der Produktions- und Rezeptionsbedingungen hat eine Vielfalt grammatischer und stilistischer Eigenschaften zur Folge. Die Nachricht: Die Nachrichtensprache ist sachlich und wertfrei (objektiv). In einer Nachricht werden W-Fragen beantwortet: Wer macht was, wann, wo, wie, warum und welche Quelle hat das der Zeitung mitgeteilt? Die Nachricht stellt dar, was in der Vergangenheit geschehen ist, gerade geschieht oder noch geschehen wird. Eine Kurznachricht nennt man Meldung, eine längere Nachricht Bericht. Die Journalisten und Journalistinnen unterscheiden dabei meist noch zwischen hard news und soft news, das heißt zwischen der sachlichen Wiedergabe politischer Meldungen und Informationen aus dem Human Interest-Bereich, also über Unglücksfälle und Naturkatastrophen, Verbrechen, Skandale, Prominentenklatsch. Auch die Textstruktur ist verschieden. Sie wird bei den hard news durch zunehmende Spezifikation beziehungsweise abnehmende Relevanz (das heißt zuerst das Wichtige, dann die Details), durch achronologische Darstellung der Ereignisse (das heißt nicht nach ihrer tatsächlichen Reihenfolge), durch neutrale Beschreibung der Fakten (keine persönlichen Meinungen und Wertungen) geprägt. Bei den soft news stehen am Anfang und Ende des Textes oft Aufmerksamkeitssignale (rhetorische Gags, Zitate, Pointen), die zum Lesen reizen sollen. In der Meldung selbst gibt es häufig Stilmittel, wie sie auch Erzählungen kennzeichnen (Zeitadverbiale, Partikeln, Präteritalformen), und Appellsignale an den Leser oder die Leserin (rhetorische Figuren, Sprachspiele, drucktechnische Hervorhebungen). Der Bericht: Der Bericht ist der Haupttyp informationsbetonter Texte. Er ist eine längere, sachlich-nüchterne, folgerichtige Darstellung eines Handlungsablaufs ohne ausschmückende Abschweifungen und deutende Reflexionen. Der Bericht ist klar strukturiert und hat drei Bausteine: Schlagzeile, fettgedruckter Vorspann (lead), Haupttext. Im Gegensatz zu der Nachricht darf der Bericht direkte Rede von Personen erhalten, die mit dem Geschehen zu tun haben. Der Sprachstil ist aufgelockerter als bei der Nachricht. Der Bericht ist oft durch Hintergrundinformationen, Zitate, pointierte Zwischenüberschriften und Stellungnahmen ergänzt. Er orientiert sich an den Fragen: Wer, was, wann, wie lange, wo, wie, warum, wozu. Dies gilt auch für die Hörfunkreportage, aus der der Bericht hervorgegangen ist. Die Meldung: Die Meldung ist die kürzeste, einfachste und am stärksten faktenorientierte Textsorte, die man im Fernsehen, Radio oder in der Zeitung mitteilt. In der Meldung wird gesagt, was sich ereignet hat; wo, wann, wie, weshalb es sich ereignet hat; wer an dem Ereignis beteiligt war. Ein Autor oder Autorin tritt nicht in Erscheinung. Der Text wird sachlich verfasst, vom Wichtigen zum Unwichtigen (damit die Redaktionen von hinten kürzen können). Die Meldung kennzeichnet sich durch die einfache und verständliche Sprache, enthält keine Gefühle und Wertungen und ist in der Vergangenheit verfasst. Die Reportage: In der Reportage schildert der Reporter oder die Reporterin ein selbst erlebtes Ereignis. Er oder sie stellt nicht nur Fakten, sondern auch seine Gefühle (Emotionen) und Eindrücke (Impressionen) dar. Dadurch bekommen Leser und Leserin das Gefühl, live dabei zu sein. Die Reportage ist in der Regel im Präsens geschrieben. Sie ist die klassische Form des Augenzeugenberichtes des vor Ort recherchierenden Journalisten beziehunsgweise der vor Ort recherchierenden Journalistin. Sprachlich wirkt sich das so aus: Anschaulich- 215 8.3 Sprache der Massenmedien keit, konkrete Details, präzise Orts- und Zeitangaben, authentische Eindrücke. Das macht die Reportage besonders geeignet für das Fernsehen. Das „Dabei sein“ kann durch den Film plastisch und aktuell eingefangen werden. Das Feature: Das Feature als journalistischer Text ist mit der Reportage verwandt, da es dieselben Stilmittel einsetzt. Beim Feature tritt der äußere Rahmen eines Ereignisses in den Vordergrund. Hauptaugenmerk liegt auf der Schilderung von Atmosphäre und Stimmung. Informelles und Randerscheinungen werden wahrgenommen. Fakten werden nicht sachlich dargestellt, sondern in Bildern und sprachlichen Eindrücken aufgelöst. Das Feature ist die freieste der journalistischen Textsorten. Nahezu alles ist erlaubt, was das vorgegebene Thema dem Publikum näherbringt. Wichtig beim Feature ist der rote Faden. Der Autor oder die Autorin muss den Leser oder die Leserin mit den unterschiedlichsten Methoden an das Thema heranführen. Ein gutes Feature weckt die Neugier und stillt sie schließlich auch. Das Interview: Ein Interview ist eine Befragung, ein informatives Gespräch. Interviews in Zeitungen sind meist Wortlaut-Interviews. Die direkte und ausführliche Meinungswiedergabe eines Befragten oder einer Befragten ermöglicht es dem Leser oder der Leserin, Standpunkte des Interviewten genauer kennenzulernen und sich damit auseinanderzusetzen. Vor dem eigentlichen Interview muss man einige Fragen vorbereiten, jedoch eher offene Fragen, damit die Person viel spricht. Beim Wortinterview ist es üblich, den Fragesteller entweder mit Namen oder mit der Nennung des jeweiligen Mediums vor den jeweiligen Fragen aufzuführen. Vor den Antworten steht dann wiederum der Name des oder der Befragten. Wenn ein Interview in Schriftform veröffentlicht wird, sollte es sich durch eine lebendige Sprache vom nüchternen Bericht unterscheiden. Häufig kommt es dagegen in audiovisuellen Medien vor. Die Kritik: Eine Kritik oder Rezension ist die Besprechung von Büchern, Filmen, DVD s, Konzerten, Veranstaltungen etc. Sie spiegelt immer die subjektive Meinung des Autors oder der Autorin. Die Sprache orientiert sich an den Zielgruppen: Die Kritik eines Popkonzerts hat in der Regel einen anderen Stil als die eines klassischen Theaterstücks. Die Kritik verwendet auch Elemente anderer journalistischer Darstellungsformen: Bericht (Nachricht), Reportage, Kommentar, gegebenenfalls Interview (Zitate), Feature, Essay, Glosse. Sie verbindet Meinung und Information und hat oft einen konkreten Nutzwert. Die Karikatur: Die Karikatur ist eine gezeichnete Meinungsäußerung. Sie zeigt ein Thema in übertriebener Form und oft witzig. Um sie zu verstehen, muss der Betrachter oder die Betrachterin den Kontext kennen (also zum Beispiel einen Artikel in der Zeitung über das Thema gelesen haben). Der Kommentar: In Kommentaren nehmen Journalisten und Journalistinnen Stellung zu politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ereignissen. Kommentare sind die subjektive, oft analysierende Darstellung einer Meinung, die der Journalist oder die Journalistin zu einem Thema vertritt. Sie sollen den Leser oder die Leserinnen zur Bildung einer eigenen Meinung anregen (stimulieren). Typische Sprachmittel sind Metaphern, Hyperbeln, Reizwörter, Anspielungen, Ironiesignale, rhetorische Fragen. Der Leitartikel: Der Leitartikel ist der wichtigste, meist auf der Titelseite befindliche und oft vom Chefredakteur oder von der Chefredakteurin verfasste Artikel einer Tages- oder Wochenzeitung zur Erörterung politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Tagesfragen. Der 216 8. Massenmedien in Deutschland Leitartikel ist ein analysierender Kommentar zu einem Thema mit besonderer Aktualität. Er ist in seiner Darstellung abwägend und kommt schließlich zu einer klaren Entscheidung. Der Leitartikel gibt nicht nur die Meinung eines einzelnen Verfassers oder einer einzelnen Verfasserin wieder, sondern (basierend auf der Grundtendenz des jeweiligen Publikationsorgans) auch die Meinung der Mehrheit der Redaktion. Die Glosse: Die Glosse ist ein witziger, oft auch polemischer oder satirischer Kommentar. Ihre satirische Bedeutung ist „spöttische Randbemerkung“. Daher ist ihr Umfang kurz. Die Glosse führt kein Thema aus, sondern greift einen entscheidenden Punkt auf und spitzt ihn zu. Entfernt scheinende Aspekte werden grotesk aufeinander bezogen. In der Glosse häufen sich Stilmittel und rhetorische Figuren. Eine gute Glosse besticht durch sprachliche Eleganz und die Verwendung literarischer Stilmittel wie Alliteration, Anapher oder Peripher sowie Chiasmen und Wortspiele. Sie verwendet Metaphern und eine bildhafte Sprache. Beim Lesen muss die Glosse Freude bereiten. Sie darf witzig und ironisch sein oder auch die Gedanken des Lesenden mit feinsinnigen Andeutungen anregen. Das Porträt: Im Porträt wird eine Person in ihrem Umfeld, bei ihren Tätigkeiten und ihrem Wirken dargestellt. Es vereint in sich Elemente von Interview, Reportage und Feature, dabei werden Fakten, Stimmungen, Eindrücke und Gefühle gemischt. Das Feuilleton: Dieses ist eine eigene Zeitungsrubrik für die kulturellen Bereiche Theater, Film, Literatur und Musik. Im engeren Sinn ist das Feuilleton eine von alltäglichen Begebenheiten oder aktuellen Vorkommnissen ausgehende, die unsympathisch-assoziativ umspielende, geistreich, verallgemeinernde und pointiert zugespitzte Betrachtung des Menschlichen. Feuilletonbeiträge zeichnen sich häufig durch eine meinungsbetonte Schreibweise aus. Meist wird hier subjektiv beurteilt oder interpretiert, der Autor oder die Autorin legt seine Sichtweise dar. Der feuilletonistische Stil ist literarisch, im Plauderton oder auch humorvoll gehalten. Er bedient sich rhetorischer Figuren sowie Wortfiguren. Einige Beispiele hierfür sind Metaphern, Parallelismus, Anaphern, Epiphern, Antithesen, Klimax, Hyperbel, Ironie. Der Zeitungsroman: Darunter versteht man Fortsetzungsgeschichten (Fortsetzungsromane) in Periodika sowie Publikumszeitschriften. Das sind aufeinanderfolgende Abschnitte literarischer Werke, die fortlaufend veröffentlicht werden. Der Leser oder die Leserin kann so regelmäßig das Thema oder die Geschichte verfolgen. In der Regel sind Fortsetzungsgeschichten in kleinen Spannungsbögen so aufgebaut, dass jeweils zum Ende jeder Folge ein sogenannter Cliffhanger auftritt, ein Spannungshöhepunkt, der das Interesse des Lesers auf die Fortsetzung wecken soll. So ist gewährleistet, dass der Leser oder die Leserin letztlich das ganze Buch liest und der Autor beziehungsweise die Autorin oder das Thema einer größeren Leserschaft bekannt wird. Häufig wird nach Abschluss einer Fortsetzungsgeschichte diese ebenfalls in Buchform als kompletter Roman gedruckt. Die Fortsetzungsgeschichte geht auf den Hamburger Herausgeber und ersten Zeitungsredakteur der Pressegeschichte Georg Greflinger (1618-1680) zurück. 217 8.3 Sprache der Massenmedien 8.3.2 Der optimale Aufbau einer Pressemitteilung Nachrichten und Berichte zu schreiben, ist das journalistische Kernhandwerk. Die Auswahl der Themen erfolgt nach dem Nachrichtenwert, der sich zusammensetzt: a) aus der Aktualität und b) aus dem Wissens-, Unterhaltungs- und Nutzwert. Mehr als alle anderen Darstellungsformen sind Nachrichten und Berichte am Ziel der Objektivität orientiert; sie müssen sich jeder Wertung enthalten. Journalistisch korrekte Pressemitteilungen folgen einer klaren Struktur und haben einen vorgegebenen Aufbau. Das Prinzip der umgekehrten Pyramide: Wer seine Leser und Leserinnen nicht gleich zu Beginn abholt, verliert sie! -- Die Kernaussage von Nachrichten und Berichten sollte deshalb immer am Anfang des Textes stehen. Diese journalistische Regel ist alt, aber noch immer aktuell. So wird sie richtig angewandt. Abbildung 8.1: Prinzip der umgekehrten Pyramide (Zesinger 2013) Redaktionelle Nachrichten und Berichte sollten nach dem journalistischen Prinzip der umgekehrten Pyramide (auch Trichterprinzip) aufgebaut sein. ▶ Das Wichtigste zuerst: Der Text beginnt mit der Hauptinformation (Kernaussage) und endet mit weniger wichtigen Zusatzinformationen (Hintergrund). ▶ W-Fragen zum Einstieg: Die sechs W-Fragen-- Wer? Was? Wann? Wo? Warum? Wie? --, die die Grundlage jeder journalistischen Recherche bilden, sollten als Erstes beantwortet werden. In der Regel lassen sich aber Antworten auf die „vier harten Ws“ finden: Was, Wer, Wann, Wo? Antworten auf die weiteren Fragen lassen sich nur von Fall zu Fall ausmachen. Dieser Aufbau ermöglicht es dem Leser und Leserinnen, den Text problemlos von hinten nach vorne zu kürzen, ohne dass das Wesentliche der Nachricht oder des Berichtes dabei verloren geht. Der Ursprung des Pyramidenprinzips: Das Prinzip der umgekehrten Pyramide wird im Amerikanischen auch als climax first form oder top heavy form bezeichnet. Erstmals Anwendung fand das Prinzip der umgekehrten Pyramide im amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865). Die Telegraphenverbindungen waren sehr störungsanfällig, sodass die Redaktio- 218 8. Massenmedien in Deutschland nen oft nur den Anfang eines Gefechtsberichts empfangen konnten. Bei einem chronologisch aufgebauten Bericht konnte daher oft Wichtiges nicht mehr übermittelt werden. Die wichtigste Information fehlte häufig. Deshalb gingen die Berichterstatter dazu über, die Nachricht in zwei Teilen zu schicken und das Wichtigste an den Anfang zu setzen, im weiteren Verlauf des Textes dann Zusatzinformationen zu liefern (Kwassow 2011: Teil II ) Die Überschrift- - informativ, prägnant, interessant: Man muss in der Überschrift klar und unmissverständlich benennen, worum es in der Meldung geht. Kein Journalist und keine Journalistin haben die Zeit, sich mit verbalen Rätseln aufzuhalten oder Anspielungen zu interpretieren. In der Regel reicht hier eine Zeile. Ideal sind etwas mehr als 60 Zeichen. Ist das Thema sehr komplex, ergänzt man dann die Headline um eine Subline, das heißt um eine zweite Zeile, in der sie die Überschrift näher erläutern oder gleich weitere, zentrale Informationen übermitteln, die als Leseanreiz dienen. Zum Beispiel: „Tagesgeld bei vergleich. de gefragt wie nie-- Nachfrage steigt um 60 %“ ( VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG 2012). Der erste Absatz-- das Wichtigste zuerst: Der erste Absatz, der sogenannte lead, enthält alle wichtigen Informationen. Damit man diese komprimiert hier zusammentragen kann, sollte man für sich und die Leser und Leserinnen die zentralen W-Fragen beantworten, soweit dies möglich ist: Wer hat was wann wo warum wie und mit welchem Ergebnis gemacht? Ein Beispiel: Die Wala Heilmittel GmbH wurde am 20. September 2011 auf der Internationalen Automobil Ausstellung ( IAA ) mit dem GreenFleet® Award 2011 ausgezeichnet. Den Preis bekommen Unternehmen verliehen, die sich in besonderer Weise um die umweltgerechte Gestaltung ihres Fuhrparks verdient machen. Kriterien sind unter anderem die innerhalb eines Jahres erreichte CO 2 -Reduktion sowie der Vorbildcharakter beziehungsweise die Übertragbarkeit der Maßnahmen für andere Unternehmen. ( VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG 2012). Meistens beginnt der Journalist oder die Journalistin den ersten Absatz mit dem Ort und dem Datum. So kann er oder sie sofort zuordnen, von wo die Meldung kommt und von wann sie ist. Eine Pressemitteilung-- ein Thema: Jede Pressemeldung hat nur ein Thema. Gibt es noch ein weiteres spannendes Thema, schreibt man dann eine zweite Meldung und verschickt diese am nächsten Tag. Gebot der Sachlichkeit und Aktualität: Pressemitteilungen sollten so tagesaktuell sein wie Nachrichten und genauso sachlich. So wird Ihre Pressemitteilung lebendig: Da die Meldung selbst sachlich ist, kann man Zitate nutzen, um sie lebendiger zu machen. Man hält das Zitat kurz und knackig. Manche Journalisten und Journalistinnen nehmen das Zitat auch gern als Headline. Fassen Sie sich kurz: Eine Pressemitteilung sollte nicht länger sein als eine DIN -A4-Seite. Hat man mehr zu sagen? Dann sollte man diese Informationen zusätzlich anbieten (vergleiche VNR Verlag für die Deutsche Wirtschaft AG 2012). 219 8.3 Sprache der Massenmedien 8.3.3 Zusammenfassung ▶ Journalistische Darstellungsformen gelten für alle Medien, also Zeitungen, Zeitschriften, Hörfunk, Fernsehen und Internet. Kennzeichnend für die bundesdeutschen Massenmedien ist die Trennung von Information und Meinung (Trennungsregel). ▶ Unterschiedliche journalistische Darstellungsformen kennzeichnen sich durch ihre sprachlichen Besonderheiten, die aber helfen, zwischen den einzelnen Textsorten in den Medien zu unterscheiden und ihre formalen und funktionalen Aspekte zu beschreiben. ▶ Eine Pressemitteilung zu verschicken, ist das beliebteste Mittel, um in den Medien ein Thema zu bewegen. Das gilt für klassische Medien wie auch für das Internet. Eine Pressemitteilung ist eine Möglichkeit, einen bestimmten Text mit einer genau formulierten und gewünschten Aussage an möglichst viele Medien und andere Empfänger zu verteilen. 8.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. In welche Gruppen gliedert man die journalistischen Textsorten? 2. Nennen Sie die möglichen Untersuchungskriterien für Analyse und Vergleich von verschiedenen Pressetexten. 3. Was ist das Prinzip der umgekehrten Pyramide? 4. Nennen Sie die „vier harten Ws“, das heißt die W-Fragen, die zum Einstieg wichtig sind. 5. Wie ist eine Pressemitteilung aufgebaut? 221 8.3 Sprache der Massenmedien 9. Rechts- und Politikwissenschaften Irina Nesteruk In Kapitel 7 im Band »Kultur- und Literaturwissenschaften« haben wir Ihnen theoretische Grundlagen zum Thema „Interkulturelle Landeskunde“ sowie „Stereotype und Nationalbilder“ vermittelt. Dieses theoretische Fundament soll als Basis für die möglichen Anwendungsbereiche im handlungsorientierten DaF-Unterricht sowie in der realen Kommunikation dienen. Im Rahmen des vorliegenden Kapitels sollen Studenten und Studentinnen in den Bereich des modernen gesellschaftspolitischen Lebens Deutschlands eingeführt werden und die hier vermittelten fachspezifischen und linguistischen Kenntnisse zur differenzierteren Analyse von Lernertexten nutzen können. Die im Kapitel dargestellte zusammenfassende Übersicht über den Staatsaufbau (Lerneinheit 2) und die Parteienlandschaft anhand der authentischen Texte samt der Europäischen Union (Lerneinheit 3) soll zusammen mit der Beschreibung der Staatsordnung (Lerneinheit 1) als eine Orientierungs- und Vertiefungsstufe aufgefasst werden, und die Kursteilnehmer zu selbständiger Beschäftigung mit der Diskursproblematik anregen und damit wichtige landeskundliche Einblicke vermitteln. Ziel des vorliegenden Kapitels ist die Entwicklung und Vervollkommnung der linguistischen und der interkulturellen Kompetenz bei den Kursteilnehmern und-teilnehmerinnen, die Entwicklung von praktischen Fertigkeiten, den politischen Diskurs fachdidaktisch und lerngerecht interpretieren zu können. Dabei treffen zwei Ebenen zusammen: Einerseits soll eine kognitionslinguistische Untersuchung der Sprache im politischen Diskurs unternommen werden, andererseits wird die Analyse des aktuellen öffentlich-politischen Lebens Deutschlands durchgeführt. Gerade der Sprachgebrauch veranschaulicht, auf welche Weise in aktuellen (oder auch vergangenen) Diskursen Identitäten, Handlungen und Ereignisse sprachlich konstruiert, also konzeptualisiert werden. Dabei sollen folgende Kommunikationsverfahren trainiert werden: Benennen, definieren, beschreiben, erklären, vergleichen, begründen, präzisieren. 222 9. Rechts- und Politikwissenschaften 9.1 Staatsordnung Deutschlands Das Studium des politischen Diskurses liegt am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen und ist mit der Analyse der Form, Aufgaben und Inhalte verbunden. Der politische Diskurs kann aus mindestens drei Sichtweisen betrachtet werden: Rein philologisch (wie auch jeder andere Text), soziopsycholinguistisch (bei der Messung der Effektivität, um implizite oder explizite politische Ziele erfolgreich erreichen zu können), individuell hermeneutisch (wenn die persönliche Meinung des Autors oder der Autorin unter bestimmten Umständen offengelegt wird). Da der Verkehr im Rahmen des politischen Diskurses konkret sachbezogen ist, gilt die Sachlichkeit als eine der Hauptqualitäten der Sprache. Sie bedingt hauptsächlich den Wortschatz und Konstruktionen. Die Sprache des politischen Diskurses unterscheidet sich von den anderen Diskursen durch folgende Merkmale: ▶ Politisches Vokabular, das terminologisch aufgebaut ist und nicht immer in der gleichen Weise wie in gewöhnlicher Sprache verwendet wird; ▶ eine spezifische Diskursstruktur, die das Ergebnis manchmal sehr eigentümlicher Sprechtechniken ist; ▶ spezifische linguistische Struktur und verschiedene Realisationsmöglichkeiten. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ die erworbenen Sprachkenntnisse und Kompetenzen im politischen Diskurs vertiefen; ▶ sich über die Grundlagen der Staatsordnung äußern können; ▶ mit den Materialien im Rahmen des politischen Diskurses reflektierend umgehen können. 9.1.1 Das Grundgesetz Das Grundgesetz ( GG ), die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, wurde vom Parlamentarischen Rat, dessen Mitglieder von den Landesparlamenten gewählt worden waren, erarbeitet und am 8. Mai 1949 mit 53 zu 12 Stimmen beschlossen. Es wurde am 23. Mai 1949 verkündet und trat am 24. Mai 1949 in Kraft, nachdem es von den Parlamenten der Bundesländer mit Ausnahme Bayerns gebilligt worden war. Das Grundgesetz war nicht als endgültige Verfassung, sondern als Provisorium gedacht. Mit dem Begriff Grundgesetz sollte vor dem Hintergrund der deutschen Teilung auf den provisorischen Charakter dieser Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland hingewiesen werden. Im Einigungsvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten (1990) wurde die Aufhebung und Änderung von Teilen des Grundgesetzes (Präambel und Schlussartikel) vereinbart, die sich durch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands als überholt erwiesen hatten. Am 3. Oktober 1990 wurde das Grundgesetz auch in den neu gebildeten Ländern der bisherigen DDR in Kraft gesetzt. Das Grundgesetz setzt sich aus einer Präambel, den Grundrechten und einem organisatorischen Teil zusammen. Es steht im Rang über allen anderen deutschen Rechtsnormen. Für 223 9.1 Staatsordnung Deutschlands eine Änderung des Grundgesetzes ist die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages sowie des Bundesrates erforderlich. Es ist jedoch nach Artikel 79 Absatz 3 DD unzulässig, die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 des Grundgesetzes niedergelegten Grundsätze zu ändern. In Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur legte der Parlamentarische Rat größten Wert auf die Verankerung der Grund- und Menschenrechte in der Verfassung. So beginnt das Grundgesetz in Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (Bundestag 2017) So sind die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland die Basis, auf der dieser Staat aufgebaut ist. Für jeden Bürger und jede Bürgerin dieses Staates sind sie vor den Gerichten einklagbar. Die Grundrechte im Grundgesetz lassen sich folgendermaßen einteilen: ▶ Klassische individuelle Freiheitsbereiche, wie Menschenwürde, Persönlichkeitsrecht, körperliche Integrität, Gewissensfreiheit, Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Freizügigkeit, Wohnungsfreiheit, Rechtsgleichheit, kurz: Persönliche Freiheit; ▶ Ökonomische Entfaltungsrechte, wie Vertragsfreiheit, Garantie des Eigentums und Erbrechts, Berufsfreiheit, kurz: Ökonomische Freiheit; ▶ Politische Mitwirkungsrechte, wie Wahlrecht, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Petitionsfreiheit, Parteifreiheit, Zugang zu öffentlichen Ämtern, kurz: Politische Freiheit; ▶ Justizielle Grundrechte, wie Justizgewährung, Unabhängigkeit der Gerichte, gesetzlicher Richter, rechtliches Gehör, Verbot von Ausnahmegerichten und willkürlicher Verhaftung, keine Strafe ohne Gesetz, Waffengleichheit im gerichtlichen Verfahren, kurz: Justizielle Garantien. Das Grundgesetz legt die staatliche Grundordnung fest, indem es die Staatsform, die Aufgaben der Verfassungsorgane und die Rechtsstellung der Bürger und Bürgerinnen regelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer, parlamentarischer, sozialer und föderativer Rechtsstaat. Die Republik ist eine Staatsform, bei der ein auf Zeit gewähltes Staatsoberhaupt an der Spitze des Staates steht. Sie bildet damit den Gegensatz zur Monarchie. Die republikanische Form des deutschen Staates findet ihren Ausdruck in der Bezeichnung Bundesrepublik Deutschland. Die Bundesrepublik ist eine Demokratie. Dies ist eine Staatsform, in der das Volk Träger der Herrschaftsgewalt ist. Kennzeichen der Demokratie sind unter anderem Gleichheit, Mehrheitsherrschaft, Herrschaftslimitierung und -kontrolle sowie das Mehrparteiensystem und freie, gleiche und geheime Wahlen. Die Bundesrepublik Deutschland ist eine repräsentative 224 9. Rechts- und Politikwissenschaften Demokratie, in der das Volk durch gewählte Volksvertreter „herrscht“. Diese bilden die Volksvertretung (der Bundestag), die das einzige demokratisch gewählte Verfassungsorgan ist. Sie erlässt die Gesetze stellvertretend für das Volk. Ein Bundesstaat ist die Vereinigung von Gliedstaaten (Länder) zu einem Gesamtstaat (Bund). Das politische Prinzip des Bundesstaates ist der Föderalismus. Dieser steht für das einheitliche Auftreten nach außen und die Verteilung der Staatsgewalt zwischen Bund und Ländern im Inneren. Die Aufteilung der Bundesrepublik in Länder ist ein unabänderlicher Grundsatz. Es ist aber möglich, die Anzahl der Länder und ihre Grenzen zu verändern. Der föderative Aufbau Deutschlands bedeutet, dass nicht nur der Bund, sondern auch die 16 einzelnen Bundesländer Staaten sind. Sie haben eine eigene, auf gewisse Bereiche beschränkte Hoheitsgewalt, die sie durch eigene Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung wahrnehmen. Der Sozialstaat ist darauf gerichtet, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit herzustellen und zu erhalten. Der Staat ist mitverantwortlich für den Ausgleich sozialer Unterschiede zwischen den Bürgern und Bürgerinnen und verpflichtet, in sozialen Notlagen Hilfe zu leisten. Die Rechtsstaatlichkeit wird aus dem Gebot der Gewaltenteilung und der Bindung aller Staatsgewalt an Recht und Gesetz hergeleitet. Alle staatlichen Maßnahmen sind durch unabhängige Gerichte prüfbar. Rechtsstaatlichkeit bedeutet ferner Sicherung der Bürgerfreiheit und Gerechtigkeit. Die Gewaltenteilung ist Kernstück des Rechtsstaatsprinzips. Die Funktionen der Staatsgewalt sind in Deutschland den voneinander unabhängigen Organen der Gesetzgebung (Legislative), der vollziehenden Gewalt (Exekutive) und der Rechtsprechung (Judikative) übertragen. Verfassungsorgane mit vorwiegend legislativen Aufgaben sind der Bundestag und der Bundesrat. Die exekutiven Aufgaben nehmen die Bundesregierung mit dem Bundeskanzler oder der Bundeskanzlerin an der Spitze und der Bundespräsident oder die Bundespräsidentin wahr. Die Funktion der Rechtsprechung kommt auf Verfassungsebene dem Bundesverfassungsgericht zu (vergleiche Pötzsch 2009: 18-21). 9.1.2 Zusammenfassung ▶ Fünf Prinzipien prägen die staatliche Ordnung der BRD , diese sind im Grundgesetz verankert: Deutschland ist Republik und Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat. ▶ Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland wurde 1949 geschaffen, um dem staatlichen Leben „für eine Übergangszeit“ eine neue, freiheitlich-demokratische Ordnung zu geben. ▶ Die Grundlage der demokratischen Staatsform ist das Prinzip der Volkssouveränität. ▶ Die Gewaltenteilung als Kernstück des Rechtsstaatprinzips besagt, dass die Funktionen der Staatsgewalt voneinander unabhängigen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung anvertraut sind. 225 9.1 Staatsordnung Deutschlands 9.1.3 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche und wie viele Prinzipien bestimmen die Staatsordnung der BRD ? 2. Wie übt das Volk die Staatsgewalt aus? 3. Was ist Kernstück des Rechtsstaatsprinzips? 4. Welche sozialen Grundrechte besitzen die Bürger und Bürgerinnen der BRD ? 5. Wo manifestiert sich die rechtliche Ordnung der BRD ? 6. Wie sind die Grundrechte, die im Artikel 1 des Grundgesetzes dargestellt sind? 7. Was bedeutet die Volkssouveränität? 8. Was gehört zu den Formen unmittelbarer Demokratie? 9. Wie wird das Rechtsstaatprinzip zum Ausdruck gebracht? 226 9. Rechts- und Politikwissenschaften 9.2 Staatsaufbau Deutschlands In der Lerneinheit 9.1 haben Sie Informationen über die Grundlagen der Staatsordnung bekommen. In dieser Einheit besprechen wir die Funktionen der Bundesorgane, die als Teil des Staatsapparats betrachtet werden. Der Begriff und die Merkmale der staatlichen Organe sind aus dem Prinzip der Gewaltenteilung abgeleitet, das wir auch in Lerneinheit 9.1 erwähnt haben. Die Staatsorgane gelten als ein organisierter und eigenständiger Teil des Staatsapparates, sind mit eigener Kompetenz ausgestattet und üben öffentliche Funktionen aus. In einem demokratischen Staat handeln sie im Namen der juristischen und natürlichen Personen und bilden eine öffentliche Weltanschauung, Orientierungen und Prinzipien. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ fachspezifische Texte verstehen und interpretieren können; ▶ die Funktionen und die Rolle der Staatsorgane im politischen Diskurs bestimmen können; ▶ die erworbenen Sprachkenntnisse und Kompetenzen im politischen Diskurs vertiefen. 9.2.1 Der Bundespräsident Das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland ist der Bundespräsident beziehungsweise die Bundespräsidentin. Er wird von der Bundesversammlung gewählt, einem Verfassungsorgan, das nur zu diesem Zweck zusammentritt. Es besteht aus den Bundestagsabgeordneten sowie einer gleich großen Zahl von Delegierten, die von den Länderparlamenten gewählt werden. Bisweilen werden auch angesehene und verdiente Persönlichkeiten für die Bundesversammlung nominiert, die nicht einem Länderparlament angehören. Gewählt wird der Bundespräsident (Wählbarkeit vom vollendeten 40. Lebensjahr an) mit der Mehrheit der Stimmen der Bundesversammlung für eine Amtszeit von fünf Jahren, im dritten Wahlgang genügt die relative Mehrheit. Eine einmalige Wiederwahl ist zulässig. Der Bundespräsident vertritt die Bundesrepublik Deutschland völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes Verträge mit ausländischen Staaten ab; er beglaubigt und empfängt die Botschafter. Die Außenpolitik selbst ist Sache der Bundesregierung. Der Bundespräsident ernennt und entlässt die Bundesrichter, die Bundesbeamten, die Offiziere und Unteroffiziere. Er kann Straftäter begnadigen. Er prüft das verfassungsmäßige Zustandekommen von Gesetzen, anschließend werden sie im Bundesgesetzblatt verkündet. Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten bedürfen der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers oder des zuständigen Bundesministers. Er schlägt dem Bundestag (unter Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse) einen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers vor und ernennt und entlässt auf Vorschlag des Kanzlers die Bundesminister. Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung des Bundestags, kann der Bundespräsident auf Vor- 227 9.2 Staatsaufbau Deutschlands schlag des Kanzlers den Bundestag auflösen. Der Bundespräsident verkörpert die Einheit des politischen Gemeinwesens in besonderer Weise. Er steht für das über alle Parteigrenzen hinweg Verbindende in Staat und Verfassungsordnung. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben bedient sich der Bundespräsident des Bundespräsidialamtes, der obersten Behörde, die von dem Chef des Bundespräsidialamtes geleitet wird. Er berät den Bundespräsidenten und unterrichtet ihn über die Fragen der allgemeinen Politik und über die Arbeit der Bundesregierung und der gesetzgebenden Organe. Der Chef des Bundespräsidialamtes nimmt an den Sitzungen des Bundeskabinetts teil. Trotz seiner vorwiegend repräsentativen Aufgaben kann der Bundespräsident als ausgleichende, neutrale Kraft über den politischen Tageskampf eine große persönliche Autorität gewinnen. Mit grundlegenden Stellungnahmen zu Themen der Zeit vermag er über das politische Tagesgeschäft hinaus Maßstäbe für die politische und moralische Orientierung der Bürger und Bürgerinnen zu setzen. 9.2.2 Der Bundestag Die Bundesrepublik Deutschland ist eine parlamentarische Demokratie. Die wichtigste parlamentarische Einrichtung ist der Bundestag. Der Deutsche Bundestag ist die Volksvertretung der Bundesrepublik Deutschland. Er wird vom Volk auf vier Jahre gewählt. Eine (vorzeitige) Auflösung ist nur ausnahmsweise möglich und liegt in der Hand des Bundespräsidenten. Der erste Bundestag wurde am 14. August 1949 gewählt. Die wichtigsten Aufgaben des Bundestages sind die Gesetzgebung, die Wahl des Bundeskanzlers und die Kontrolle der Regierung. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Seit 2002 hat der Bundestag 598 Abgeordnete. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich. Sie haben also ein freies Mandat. Entsprechend ihrer Parteizugehörigkeit schließen sie sich zu Fraktionen oder Gruppen zusammen. Zur Fraktionsbildung sind mindestens 5 % der Abgeordneten erforderlich. Gewissensfreiheit und politische Solidarität zur eigenen Partei können gelegentlich miteinander kollidieren. Die Mitglieder einer Bundesfraktion können bei Verstoß gegen die Fraktionsdisziplin aus der Fraktion beziehungsweise aus ihrer Partei ausgeschlossen werden. Doch selbst, wenn ein Abgeordneter seine Partei verlässt, behält er sein Bundestagsmandat. Hier zeigt sich die Unabhängigkeit der Abgeordneten in aller Deutlichkeit. Die Arbeit des Bundestags vollzieht sich zum Teil im Plenum, hauptsächlich aber in den Ausschüssen, deren Zusammensetzung der Stärke der einzelnen Fraktionen entspricht. Der Präsident des Bundestags wird nach altem deutschem Verfassungsbrauch aus den Reihen der stärksten Fraktion gewählt. Der Bundestag verhandelt öffentlich, soweit nicht mit Zweidrittelmehrheit die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Der Bundestag und seine Ausschüsse können die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen. Der Bundestag ist grundsätzlich beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist oder bis seine Beschlussunfähigkeit auf Antrag ausdrücklich festgestellt wird. Er entscheidet mit der Mehrheit 228 9. Rechts- und Politikwissenschaften der abgegebenen Stimmen (relative Mehrheit), soweit im Grundgesetz nicht die Mehrheit der Mitglieder (absolute Mehrheit) oder eine qualifizierte Mehrheit (Zweidrittelmehrheit wie bei Grundgesetzänderungen) vorgeschrieben ist. Der Bundestag wählt einen Präsidenten, die Vizepräsidenten (zurzeit fünf) und die Schriftführer. Präsident und Vizepräsidenten bilden das Präsidium. Der Präsident, die Vizepräsidenten und 23 weitere Abgeordnete bilden den Ältestenrat, der den Präsidenten bei der Führung der Geschäfte des Bundestags unterstützt. Der Bundestagspräsident leitet die Sitzungen, übt das Hausrecht und die Polizeigewalt im Bundestag aus und vertritt den Bundestag nach außen. Eine vorzeitige Auflösung des Bundestags ist nur zulässig, wenn im ersten und zweiten Wahlgang kein Bundeskanzler gewählt wird oder wenn der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags findet. Zu einer Auflösung des Bundestags ist es bisher zweimal gekommen, als 1972 die von Bundeskanzler Willy Brandt und Ende 1982 die von Bundeskanzler Helmut Kohl gestellte Vertrauensfrage keine Mehrheit gefunden hatte. Der Bundestag beschließt die Bundesgesetze (Gesetzgebungsverfahren), wählt den Bundeskanzler und entscheidet über eine Vertrauensfrage des Bundeskanzlers und einen Misstrauensantrag gegen diesen. Er kann den Bundespräsidenten mit Zweidrittelmehrheit anklagen, wählt die Hälfte der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, kann dieses in bestimmten Fällen anrufen, ist an der Wahl der Mitglieder der anderen Bundesgerichte beteiligt und kann aus seiner Mitte Untersuchungsausschüsse einsetzen. Er ist zuständig für die Ausübung der parlamentarischen Kontrolle gegenüber der Bundesregierung und den einzelnen Bundesministern, die im Bundestag für die Leitung ihres Geschäftsbereichs verantwortlich sind. Der Bundestag und der Bundesrat wirken zudem in Angelegenheiten der Europäischen Union mit. Alle Abgeordneten genießen prozessuale Immunität (Strafverfolgungsfreiheit). Danach darf kein Abgeordneter ohne Genehmigung des Bundestags zur Untersuchung gezogen oder verhaftet werden. Eine Genehmigung ist nicht erforderlich, wenn ein Abgeordneter bei der Ausübung der Tat oder spätestens im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird. Außerdem dürfen die Abgeordneten nicht wegen ihrer Abstimmung oder sonstiger Äußerung im Bundestag durch die öffentliche Gewalt zur Verantwortung gezogen werden. Diese Indemnität (Rede- und Äußerungsfreiheit) genießen die Abgeordneten lebenslang. Die finanzielle Unabhängigkeit der Abgeordneten wird durch eine Entschädigung (Diäten) gewährleistet, die der Bedeutung des Abgeordnetenamts entspricht. Wer mindestens acht Jahre lang dem Parlament angehört hat, erhält nach Erreichen der Altersgrenze eine Pension. Der Bundestag ist nach dem Grundgesetz das stärkste Verfassungsorgan. Durch das System der Gewaltenteilung ist aber seine Macht vielfältig begrenzt und gehemmt: Durch die starke Stellung des Bundeskanzlers, durch die ausgedehnten Mitwirkungs- und Zustimmungsrechte des Bundesrates und durch die Entscheidungsbefugnisse des Bundesverfassungsgerichts. Die vornehmste Aufgabe des Bundestags besteht in der Repräsentation, das heißt der Verkörperung des Volkes und seines Willens. 229 9.2 Staatsaufbau Deutschlands 9.2.3 Der Bundesrat Der Bundesrat, die Vertretung der 16 Bundesländer, wirkt bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit. Den Bundesrat bilden Mitglieder der Landesregierungen oder deren Bevollmächtigte. Je nach Einwohnerzahl haben die Länder drei, vier, fünf oder sechs Stimmen; sie können nur einheitlich abgegeben werden. Jedes Land hat mindestens drei Stimmen, Länder mit mehr als 2 Millionen Einwohnern haben vier, Länder mit mehr als 6 Millionen Einwohnern fünf, Länder mit mehr als 7 Millionen Einwohnern sechs Stimmen. Der Bundesrat ist ein Verfassungsorgan des Bundes, aber er besteht aus Vertretern der Länder. So erhalten die Länder einen gewissen Ausgleich für den weitgehenden Verlust eigener Gesetzgebungszuständigkeiten und eine Mitsprache beim Zustandekommen von Verwaltungsvorschriften. Über den Bundesrat können die Länder auch in Angelegenheiten der Europäischen Union mitwirken. Der Präsident des Bundesrates wird im Turnus auf ein Jahr gewählt, er vertritt den Bundespräsidenten bei dessen Verhinderung. Der Bundesrat hat im Gesetzgebungsverfahren eine starke Stellung. Mehr als die Hälfte aller Gesetze benötigt die Zustimmung des Bundesrats, das heißt sie können nicht ohne oder gegen den Willen des Bundesrats zustande kommen. In den Gegenständen der konkurrierenden Gesetzgebung ist er befugt, Einspruch einzulegen, den der Bundestag zurückweisen kann. Der Bundesrat wählt ein Drittel der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses und die Hälfte der Bundesverfassungsrichter. Die Organisation und Geschäftsordnung des Bundesrats sind dem Geschäftsgang des Bundestags angeglichen. Die eigentliche Arbeit wird in den Ausschüssen geleistet, in die jedes Land ein Mitglied entsendet. Es sind die jeweils zuständigen Fachminister, die sich in der Regel durch Ministerialbeamte vertreten lassen. Jedes Land hat eine Stimme. Beschlüsse werden mit einfacher Mehrheit gefasst. Allerdings besitzen die Mitglieder des Bundesrats nicht das Recht der Immunität. Plenarsitzungen des Bundesrats finden in der Regel alle zwei bis vier Wochen an Freitagen statt. Seine Beschlüsse kann der Bundesrat nur mit absoluter oder mit Zweidrittelmehrheit der Mitglieder fassen. Der Bundesrat hat keine Wahl- und Amtsperiode. Er ist ein „ewiges“ Bundesorgan, dessen Zusammensetzung sich nur dann ändert, wenn in einem Bundesland ein Regierungswechsel eintritt oder Regierungsmitglieder wechseln. Der Bundesrat wurde als Vertretung der Länder neben dem Bundestag in das Regierungssystem eingebaut und fungiert quasi als zweite Kammer, obgleich dies im Grundgesetz so nicht vorgesehen ist. Als den wahrscheinlich „originellsten deutschen Beitrag zum Föderalismus“ hat man den Bundesrat bezeichnet. Er ist in der Tat nach Struktur, Organisation und Aufgabenstellung im Vergleich zu anderen Zweiten Kammern eine einmalige Erscheinung und letztlich nur voll erklärbar, wenn man die lange Verfassungstradition berücksichtigt, die in ihm aufgehoben ist. 230 9. Rechts- und Politikwissenschaften 9.2.4 Die Bundesregierung Die Bundesregierung, das Kabinett, besteht aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern. Der Bundeskanzler wird vom Bundespräsidenten vorgeschlagen und vom Bundestag gewählt. Die Bundesminister werden auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen. Der Bundeskanzler nimmt innerhalb der Bundesregierung und gegenüber den Bundesministern eine selbstständige, hervorgehobene Stellung ein. Er führt im Bundeskabinett den Vorsitz. Ihm allein steht das Recht zur Kabinettsbildung zu: Er wählt die Minister aus und macht den für den Bundespräsidenten verbindlichen Vorschlag ihrer Ernennung oder Entlassung. Der Kanzler entscheidet außerdem über die Zahl der Minister und legt ihre Geschäftsbereiche fest. Einzelne Ministerien sind im Grundgesetz erwähnt: Das Auswärtige Amt, die Bundesministerien des Inneren, der Justiz, der Finanzen und der Verteidigung. Diese klassischen Ministerien bilden den Kern der Regierung. Die starke Stellung des Kanzlers beruht vor allem auf seiner Richtlinienkompetenz: Er bestimmt die Richtlinien der Regierungspolitik (Kanzlerprinzip). Die Bundesminister leiten im Rahmen dieser Richtlinien ihren Geschäftsbereich selbstständig und in eigener Verantwortung (Ressortprinzip). In der politischen Praxis muss der Kanzler innerhalb von Regierungskoalitionen auch auf Absprachen mit dem Koalitionspartner Rücksicht nehmen. Politische Fragen von grundlegender Bedeutung werden von der Bundesregierung gemeinsam beschlossen, besonders Gesetzesvorlagen (Kollegialprinzip). An der Gesetzgebung ist die Bundesregierung vor allem durch das Recht der Gesetzinitiative und durch die Befugnis zum Erlass von Rechtsverordnungen beteiligt. Die Bundesregierung bleibt im Normalfall während der Wahldauer des Bundestags, also vier Jahre, im Amt. Die Amtsdauer der Bundesregierung endet vorzeitig mit dem Rücktritt (oder Tod) des Bundeskanzlers, mit dem Zusammentreten eines neuen Bundestags und durch das erfolgreiche Misstrauensvotum. Dabei muss der Bundestag, der dem Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen will, zugleich seinen Nachfolger wählen. Der Bundeskanzler kann seinerseits die Vertrauensfrage stellen und damit in kritischen Situationen seine Mehrheit im Parlament möglicherweise konsolidieren. Denn spricht der Bundestag dem Kanzler das Vertrauen nicht aus, kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers den Bundestag auflösen. Der Bundestag kann nur dem Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen, nicht der Bundesregierung oder einzelnen Bundesministern. Die Mitglieder der Bundesregierung dürfen nicht zugleich Mitglieder einer Landesregierung, wohl aber Abgeordnete sein. Nicht zu Unrecht wird das deutsche Regierungssystem auch als „Kanzlerdemokratie“ bezeichnet. Der Bundeskanzler ist das einzige vom Parlament gewählte Kabinettsmitglied, und er oder sie allein ist ihm verantwortlich. 231 9.2 Staatsaufbau Deutschlands 9.2.5 Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht ist das oberste Organ der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland (Bundesverfassungsgerichtsgesetz vom 12. März 1951). Der Sitz ist in Karlsruhe. Es ist ein Verfassungsorgan und ein allen übrigen Verfassungsorganen (insbesondere dem Bundestag und der Bundesregierung) gegenüber selbstständiger und unabhängiger Gerichtshof. Seine Entscheidungen binden die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden, in bestimmten Fällen haben sie Gesetzeskraft. Das Bundesverfassungsgericht überwacht die Einhaltung des Grundgesetzes, ist also „Hüter der Verfassung“. Es entscheidet in Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern oder zwischen einzelnen Bundesorganen über den Umfang ihrer Rechte und Pflichten. Nur das Bundesverfassungsgericht darf feststellen, ob eine Partei die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährdet und deshalb verfassungswidrig ist. In diesem Fall ordnet es die Auflösung der Partei an. Das Bundesverfassungsgericht prüft Bundes- und Landesgesetze auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz. Diese Normenkontrolle basiert auf dem Grundsatz, dass ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung mit der Verfassung übereinstimmen muss. Erklärt das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz für verfassungswidrig, so darf dieses nicht mehr angewendet werden. Von seinen Befugnissen macht das Bundesverfassungsgericht nur dann Gebrauch, wenn es von bestimmten Organen wie Bundesregierung, Landesregierungen, mindestens einem Drittel der Abgeordneten des Bundestages oder von Gerichten angerufen wird. Darüber hinaus hat jeder Bürger und jede Bürgerin das Recht, eine Verfassungsbeschwerde einzulegen, wenn er sich durch den Staat in seinen Grundrechten verletzt fühlt. Zuvor muss er allerdings in der Regel die zuständigen Gerichte erfolglos angerufen haben. Das Bundesverfassungsgericht besteht aus zwei Senaten mit je acht Richtern beziehungsweise Richterinnen, die die Fähigkeit zum Richteramt besitzen, das 40. Lebensjahr vollendet haben und zum Deutschen Bundestag wählbar sein müssen. Sie dürfen keine andere berufliche Tätigkeit als die eines Rechtslehrers an einer deutschen Hochschule ausüben und können weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch den entsprechenden Organen eines Landes angehören. Drei Richter oder Richterinnen jedes Senats müssen von einem obersten Bundesgericht stammen. Die Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat gewählt sowie vom Bundespräsidenten ernannt und vereidigt. Zu ihrer Wahl ist eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Ihre Amtszeit dauert einheitlich zwölf Jahre, längstens bis zur Erreichung der Altersgrenze (68 Jahre). Eine Wiederwahl ist ausgeschlossen. Den Vorsitz in den beiden Senaten führen der Präsident und der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Die Verteilung der Zuständigkeit zwischen erstem und zweitem Senat ist im Bundesverfassungsgerichtsgesetz geregelt. Der 1. Senat entscheidet über die Normenkontrolle und die meisten Verfassungsbeschwerden. Der 2. Senat entscheidet überwiegend über die Fragen der Staatsorganisation. Will ein Senat in einer Rechtsfrage von der Rechtsprechung des anderen Senats abweichen, entscheidet das Plenum der Richter und Richterinnen. 232 9. Rechts- und Politikwissenschaften 9.2.6 Zusammenfassung ▶ Zum politischen System der BRD gehören die politischen Institutionen, die die politischen Entscheidungen und öffentliche Prozesse beinflussen können. Sie bündeln und repräsentieren die Interessen der Bürger und Bürgerinnen. ▶ Das ganze politische System ist bundesstaatlich und wird als parlamentarische Demokratie organisiert. ▶ Jedes Bundesland hat seine legislative, exekutive und judikative Gewalt. ▶ Die Verteilung der Kompetenzen ist streng durch das Grundgesetz geregelt. Alle Teilnehmer des politischen Lebens sind an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden und dazu verpflichtet, sich an diese zu halten. 9.2.7 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Organe gehören zu den gesetzgebenden Organen? 2. Welche Organe erfüllen die Funktionen der vollziehenden Gewalt? 3. Welchen Organen kommt die Funktion der Rechtsprechung zu? 4. Wie kommt der föderative Aufbau der BRD zum Ausdruck? 5. Was bedeutet das Prinzip des Vorrangs des Gesetzes? 233 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union In der modernen Demokratie kann der Bürger oder die Bürgerin den politischen Entscheidungsprozess auf sich allein gestellt kaum beeinflussen. Politische Beteiligung vollzieht sich in erster Linie über die Mitarbeit in Parteien. Unbestritten ist, dass die Parteien im politischen System eine zentrale Rolle spielen. Im Rahmen des politischen Diskussionsprozesses bringen die Parteien die politischen Positionen, Wünsche und Bedürfnisse ihrer Mitglieder und / oder Wähler beziehungsweise Wählerinnen zum Ausdruck, sie führen Vermittlungsarbeit zwischen der politischen Bürgerschaft und den Akteuren des Regierungssystems. Die fortschreitende europäische Integration beeinflusst die Parteilandschaft und bringt neue Themen und Ideen für die politische Zusammenarbeit. Welchen Stellenwert und welchen Einfluss die Parteien auf den gesellschaftlich-politischen Diskurs haben und wie die EU die nationalen Parteiensysteme verändert, versuchen wir in der vorliegenden Lerneinheit 9.3 zu beschreiben: Erstens, wie sieht der organisatorische Aufbau der Partei aus? ; zweitens, inwieweit hat die europäische Integration eine Veränderung des nationalen Parteiensystems mit sich gebracht? Der dritte Aspekt behandelt schließlich die Rolle und Positionen der einzelnen Parteien in der politischen Arena in Deutschland sowie ihre Rolle bei der europäischen Integration. Lernziele In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie ▶ sich die Parteilandschaft in Deutschland vorstellen können; ▶ sich über die politische und gesellschaftliche Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen äußern können; ▶ einen Eindruck bekommen, inwieweit die europäische Integration das Format der nationalen Parteiensysteme beeinflusst hat. 9.3.1 Parteienlandschaft in Deutschland Die Partei ist eine Gruppe von Gleichgesinnten, die auf staatlicher Ebene nach Einfluss und Macht streben, um dort die politische Willensbildung zu bestimmen und gemeinsame politische Vorstellungen zu verwirklichen. Die Parteien spielen eine maßgebliche Rolle bei der Gestaltung der Politik, indem sie ▶ die unterschiedlichen politischen Vorstellungen und Interessen in der Gesellschaft artikulieren, sie zu politischen Konzepten und Programmen bündeln und Lösungen für politische Probleme suchen; ▶ in der Öffentlichkeit für ihre Vorstellungen werben und die öffentliche Meinung und die politischen Ansichten der einzelnen Bürger und Bürgerinnen beeinflussen; ▶ den Bürgerinnen und Bürgern Gelegenheit bieten, sich aktiv politisch zu betätigen und Erfahrungen zu sammeln, um politische Verantwortung übernehmen zu können; 234 9. Rechts- und Politikwissenschaften ▶ die Kandidaten für die Volksvertretungen in Bund, Ländern und Gemeinden sowie das Führungspersonal für politische Ämter stellen; ▶ als Regierungsparteien die politische Führung unterstützen; ▶ als Oppositionsparteien die Regierung kontrollieren, kritisieren und politische Alternativen entwickeln. Für eine bestimmte Zeit gewählt, erfüllen sie also politische Führungsaufgaben und Kontrollfunktionen. Das Grundgesetz und das Parteigesetz legen für das Parteisystem eine Reihe von Grundsätzen fest: ▶ Mehrparteienprinzip: Das Grundgesetz schließt das Einparteiensystem aus. ▶ Parteienfreiheit: Jeder Bürger und jede Bürgerin kann eine Partei gründen. ▶ Chancengleichheit: Jede Partei kann an Wahlen teilnehmen und Wahlwerbung betreiben. Dafür muss sie Sendezeiten im öffentlichen Fernsehen erhalten, auf Sichtwänden plakatieren und öffentliche Räume für Wahlveranstaltungen nutzen können. ▶ Innerparteiliche Demokratie: Alle Entscheidungen müssen von den Parteimitgliedern oder durch von den Parteimitgliedern gewählten Delegierten in Wahlen und Abstimmungen getroffen werden. Parteiämter müssen jeweils für zwei Jahre in geheimer Wahl besetzt werden. Alle Mitglieder haben gleiches Stimmrecht. ▶ Finanzielle Rechenschaftslegung: Parteien müssen über ihre Einnahmen und Ausgaben öffentlich Rechenschaft ablegen. Parteien brauchen zur Erfüllung ihres Auftrages erhebliche Finanzmittel. Sie müssen eine weitverzweigte Organisation von der Gemeinde bis zum Bund mit zahlreichen hauptamtlichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen haben, Veranstaltungen durchführen, Informations- und Werbematerial herstellen und verteilen sowie Wahlkämpfe bestreiten. Ihre Einnahmen setzen sich im Wesentlichen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Steuermitteln zusammen. Mit den Mitgliedsbeiträgen können die Kosten, vor allem bei den kleineren Parteien mit verhältnismäßig wenigen Mitgliedern, nicht bestritten werden. Spenden sollen möglichst begrenzt bleiben, um eine Einflussnahme von Interessengruppen auf die Parteien zu verhindern. Seit 1996 gilt der Grundsatz, dass eine direkte Finanzierung der Parteien unzulässig ist, dass aber die Kosten eines „angemessenen Wahlkampfes“ erstattet werden dürfen. Die Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf abzielen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Die Entscheidung, ob eine Partei verfassungswidrige Ziele verfolgt, kann nur das Bundesverfassungsgericht treffen. Es sind nur zwei Parteien verboten worden, die rechtsextreme Sozialistische Reichspartei ( SPR ) 1952 und die Kommunistische Partei Deutschlands ( KPD ) 1956. Interessenverbände sind freiwillige Zusammenschlüsse von Personen und Körperschaften, um die gleich gerichteten oder ähnlichen Belange ihrer Mitglieder zu regeln und zu vertreten. Sofern die Interessenverbände auf die Gesetzgebung und andere politische Akte Einfluss zu 235 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union nehmen suchen, nennt man sie auch pressure group. 58 Millionen der über 14-jährigen Deutschen gehören einem oder mehreren Vereinen an. Politische Interessen verfolgen über 5000 Verbände, die eigentlichen Interessenverbände. Interessenverbände stehen oft einer Partei nahe und unterstützen sie vor allem in Wahlkämpfen. Sie drängen darauf, dass ihre Ziele im Parteiprogramm berücksichtigt werden. Neben den Parteien und Interessenverbänden sind seit Anfang der 1970er Jahre Bürgerinitiativen entstanden. Die Bürgerinitiativen sind locker organisierte, meist zeitlich und räumlich begrenzte, von politischen Parteien und Verbänden unabhängige Zusammenschlüsse von Bürgern und Bürgerinnen zur Verfolgung von Interessen ihrer Mitglieder, bestimmter Bevölkerungsgruppen oder in bestimmten Fällen auch der Bevölkerung insgesamt. Sie setzen sich für Umweltschutz, für Kindergärten und Spielplätze oder für bürgerfreundliche Lösungen von Verkehrsproblemen ein. Die Gewerkschaften bilden eine starke Gegenmacht in erster Linie zu den Unternehmen, aber auch zu den Parteien. Sie vertreten die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen gegenüber den Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen. Ihre hauptsächlichen Anliegen sind bessere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitbestimmung für die Arbeitnehmer in allen Belangen ihrer Arbeit. Knapp ein Drittel der Arbeitnehmer ist gewerkschaftlich organisiert. Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft ist nicht zwingend. Experiment Suchen Sie sich eine Behörde aus und besuchen Sie diese im Internet. Notieren Sie die Adresse, Telefonnummer und Öffnungszeiten. Was brauchen Sie für Ihre Situation (Unterlagen, Antrag-…)? 9.3.2 Europäische Union Die Europäische Union (Abkürzung EU ) ist ein politischer und wirtschaftlicher Zusammenschluss der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften ( EG ). Die EU trat mit dem Vertrag von Maastricht am 1. November 1993 in Kraft. Das ist ein aus 28 europäischen Staaten bestehender Staatenverbund. Die Bevölkerung in den Ländern der EU umfasst derzeit rund eine halbe Milliarde Einwohner. Grundziele der EU sind die Wahrung des Friedens und die Förderung von Demokratie und Wohlstand. In den EU -Ländern sollen sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt gefördert werden. Europa soll ein Raum der Demokratie, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden. Auch die europäische Identität soll gestärkt werden. Der Aufbau der heutigen EU beruht auf drei Säulen: Die 1. Säule, die Europäische Gemeinschaft: Die Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ( EG ), der Montanunion (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Abkürzung EGKS ) und der Europäischen Atomgemeinschaft ( EAG ) bilden die erste Säule. Die EG ist ein gemeinsamer Wirtschaftsraum, in dem der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist- - die sogenannten vier Grundfreiheiten. So 236 9. Rechts- und Politikwissenschaften dürfen Personen jederzeit von einem Mitgliedstaat in den anderen reisen, dort arbeiten, studieren und sich niederlassen, genau so wie in ihren Heimatländern. Es können Waren von einem Land ins andere transportiert werden, ohne dass man sie verzollen muss. Zur ersten Säule gehören auch die Landwirtschaft, die Bildung, der Verkehr, die Einwanderungspolitik oder die Umwelt. Seit 1999 besitzt die EG zudem Handlungskompetenzen in den Bereichen Einwanderung und Asyl sowie der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen. Zum besseren Funktionieren des gemeinsamen Marktes wurde auch eine einheitliche Währung, der Euro, eingeführt. Seit dem 1. Januar 2002 gilt in der EU mit Ausnahme von Großbritannien, Schweden, Dänemark und den neuen Ländern der Euro als Zahlungsmittel. Die erste Säule ist als einziger Bereich supranational, d. h. überstaatlich, organisiert. Das bedeutet, dass alle wichtigen Entscheidungen in den zu diesem Pfeiler gehörenden Politikbereichen von den EU -Organen und nicht mehr von den einzelnen Staaten gefällt werden. In allen oben aufgelisteten Politikfeldern kann die EG Gemeinschaftsrecht erlassen, welches für die Mitgliedstaaten verbindlich ist und auf ihrem Territorium angewendet werden muss. Die 2. Säule, Außen- und Sicherheitspolitik: Seit 1993 gibt es in der EU eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ( GASP ). Vor dem Hintergrund der Balkankriege und der erfolglosen Bestrebungen der EU , eine politische Lösung dieser Konflikte zu vermitteln, wurde 1999 im Rahmen der GASP auch eine europäische Sicherheits-und Verteidigungspolitik ( ESVP ) in die Wege geleitet. Die ESVP erlaubt heute, Militär- oder Polizeikräfte in Krisenregionen zu entsenden, um humanitäre Einsätze, friedensstörende Maßnahmen und Einsätze zur Krisenbewältigung durchzuführen. Die ersten derartigen Einsätze haben 2003 in Bosnien und Herzegowina sowie Mazedonien begonnen. Die GASP und ESVP sind intergouvernemental, d. h. zwischenstaatlich geregelt: Es entscheiden nicht EU -Organe, sondern die Regierungen der Mitgliedstaaten gemeinsam. Die 3. Säule, Justiz und Polizei: Seit 1999 existiert eine engere Zusammenarbeit der EU - Staaten in den Bereichen Justiz und Polizei. Es geht vor allem um die Abwendung und Bekämpfung von Kriminalität, Terrorismus, Menschenhandel, Straftaten an Kindern, Drogen- und Waffenhandel sowie Betrug. Falls ein Kriminalfall mehr als zwei Staaten betrifft, kümmert sich Europol, das Europäische Polizeiamt in Den Haag, darum. Seit 2002 verbessert und koordiniert Eurojust, ein Netzwerk von Justizbehörden, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit bei schweren Straftaten. Auch die dritte Säule ist intergouvernemental geregelt. 237 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union DIE EUROPÄISCHE UNION die 1. Säule die 2. Säule die 3. Säule Europäische Gemeinschaften Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Zusammenarbeit innere Sicherheit und Justiz ▶ Binnenmarkt mit den 4 Grundfreiheiten (Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen) ▶ Zollunion ▶ Asyl- und Einwanderungspolitik ▶ Wirtschafts- und Währungsunion ▶ Agrarpolitik ▶ Verkehr ▶ Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen Gemeinsame Außenpolitik: ▶ Wahrung der gemeinsamen Werte und Interessen ▶ Förderung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ▶ Wahrung der Menschenrechte Gemeinsame Sicherheitspolitik: ▶ Gemeinsame Verteidigungspolitik ▶ Krisenbewältigung ▶ friedensunterstützende Optionen Abwendung und Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere: ▶ Terrorismus ▶ Organisierte Kriminalität ▶ Menschenhandel ▶ Waffenhandel ▶ Bestechung und Betrug ▶ Schaffung von Europol ▶ Rechtshilfe in Strafsachen Tabelle 9.1: Die Säulen der Europäischen Union Aufbau der EU Ähnlich wie ein Nationalstaat hat die EU Institutionen wie eine Regierung, ein Parlament und ein oberstes Gericht. Das Europäische Parlament ist ein gemeinsames parlamentarisches Organ der Europäischen Gemeinschaften. Seinen Hauptsitz hat es in Straßburg, tagt aber auch in Brüssel und Luxemburg. Die Abgeordneten des Parlaments werden seit 1979 alle fünf Jahre direkt gewählt und vertreten dabei proportional die EU -Bürger und -Bürgerinnen. Die Anzahl der Abgeordneten pro Land richtet sich nach dessen Bevölkerungsstärke, wobei einem Mitgliedstaat mindestens fünf und höchstens 99 Sitze verliehen werden. Wahlberechtigt sind all jene Unionsbürger und -bürgerinnen, die ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, unabhängig davon, ob sie auch die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaates besitzen. Im Europäischen Parlament schließen sich die Abgeordneten aufgrund ihrer politischen Zugehörigkeit und nicht ihrer nationalen Herkunft zu Fraktionen zusammen. Das Europäische Parlament nimmt folgende wesentliche Funktionen wahr: Gesetzgebung, Haushalt (zusammen mit dem Rat der Europäischen Union verabschiedet das Europäische Parlament jährlich den Gesamthaushalt), Kontrolle (es kann die Geschäftstätigkeit anderer Organe mittels der Untersuchungsausschüsse und Misstrauensverträge überprüfen). Der Rat der EU (Ministerrat) ist das wichtigste gesetzgebende und Entscheidungs- und Rechtsetzungsorgan der Europäischen Gemeinschaften mit Sitz in Brüssel. Jeder EU -Mitgliedstaat ist nach Sachgebiet durch seinen zuständigen Fachminister oder -ministerin vertreten: Werden zum Beispiel Verkehrsfragen behandelt, treffen sich die Verkehrsminister und -ministerinnen in Brüssel. Beschlüsse werden einstimmig oder mit qualifizierter Mehrheit gefasst. Bei der qualifizierten Mehrheit haben die Länder je nach Bevölkerungsgröße mehr oder weniger Stimmenanteile im Ministerrat, Deutschland hat 29 Stimmen. Der Rat hat folgende wesentliche Befugnisse: Gesetzgebung (er kann nur Rechtsakte erlassen, welche die Kommission vorschlägt), Durchführung (er ist verantwortlich für die Durchführung der von ihm erlassenen Rechtsakte), Wirtschaftspolitiken, Haushalt, Abkommen mit Drittstaaten. 238 9. Rechts- und Politikwissenschaften Der Europäische Rat: Seit 1975 institutionalisierte Tagungen (zweimal jährlich) der Staats- und Regierungschefs der EU -Staaten sowie des Präsidenten oder der Präsidentin der Europäischen Kommission, der obersten Institution der EU . Der Europäische Rat bestimmt Grundsätze und Leitlinien der Gemeinschaft und kann rechtsverbindliche Beschlüsse fassen. Die Europäische Kommission ist ein gemeinsames Organ der Europäischen Gemeinschaften in Brüssel und ist vergleichbar mit der Regierung eines Landes. Jeder Mitgliedstaat ist durch einen Kommissar oder eine Kommissarin vertreten. Die Kommissare werden von den Regierungen der EU -Staaten nach Zustimmung durch das Europäische Parlament für fünf Jahre ernannt und sind nicht weisungsgebunden. Die Europäische Kommission unter Vorsitz ihres Präsidenten verfügt über ein Initiativrecht beim Rechtssetzungsverfahren, achtet auf die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts („Hüterin der Verträge“), verfügt über exekutive Befugnisse (im Rahmen des Haushaltsplans und des Kartellrechts) und handelt Abkommen mit Drittstaaten und internationalen Organisationen aus. Kontrollgremium der Europäischen Kommission ist das Europäische Parlament. Der Europäische Gerichtshof ist ein Organ der Europäischen Gemeinschaften. Sein Sitz ist in Luxemburg. Der Europäische Gerichtshof dient der einheitlichen Anwendung, Auslegung, Fortbildung des Europarechts. Er nimmt Vertragsverletzungsklagen bei Straffällen entgegen, an denen Mitgliedstaaten, Unternehmen oder Einzelpersonen beteiligt sind. Dieses System gewährleistet, dass das EU -Recht in der gesamten EU auf die gleiche Art und Weise interpretiert und angewendet wird. Der Eu GH umfasst einen Richter oder Richterin pro Mitgliedstaat, welche von den einzelstaatlichen Regierungen im gegenseitigen Einvernehmen für eine Amtszeit von sechs Jahren ernannt werden. Der Europäische Rechnungshof kontrolliert, ob die EU -Gelder korrekt verwendet werden und ist somit das „finanzielle Gewissen“ der EU . Der Sitz ist in Luxemburg. Er prüft die Rechnungen über alle Einnahmen und Ausgaben der Gemeinschaft und überzeugt sich von der Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung. Zudem unterstützt er den Rat und das Europäische Parlament in Budget- und Rechnungsfragen. Nach Abschluss eines jeden Haushaltsjahres erstattet er einen Haushaltbericht, der den anderen Organen der Gemeinschaft vorgelegt wird. Geschichte und Entwicklung der EU Ursprung der heutigen Europäischen Union waren die 1951 und 1957 gegründeten Europäischen Gemeinschaften: Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl ( EGKS ), Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ( EWG ) und Europäische Atomgemeinschaft (Euratom). Ihre Mitgliedstaaten waren Belgien, West-Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die EGKS , auch Montanunion genannt, regelte, förderte und kontrollierte die Kohle- und Stahlproduktion dieser sechs Länder. Das sollte die Wirtschaft ankurbeln und Deutschland helfen, wirtschaftlich wieder stark zu werden. Mit der EGKS war die Vorläuferorganisation der heutigen Europäischen Union entstanden. Die Regierungen der sechs EGKS -Länder gaben erstmals gewisse Zuständigkeiten im Bereich der Kohle- und Stahlpolitik an überstaatliche Behörden ab. Mit der EWG sollte die in der EGKS erprobte Zusammenarbeit auf alle Wirtschaftsbereiche ausgedehnt werden. Die Grundidee war folgende: Über 239 9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union den Weg der wirtschaftlichen Verflechtung sollte ein Krieg zwischen den Mitgliedstaaten vermieden werden. Besonders wichtige Ziele waren der Abbau der Zölle, die Förderung des Handels von Waren und Dienstleistungen zwischen den sechs Ländern und eine gemeinsame Agrarpolitik. Das sollte zu einem gemeinsamen Markt führen. Mit dieser wirtschaftlichen Integration hoffte man, die europäische Wirtschaft zu stärken und sie für den weltweiten Wettbewerb konkurrenzfähiger zu machen. Euratom sollte Aufbau, Nutzung und Kontrolle einer europäischen Atomindustrie gemeinsam fördern. Drei Gründungsmitglieder der EWG - - Belgien, die Niederlande und Luxemburg- - beschlossen 1958 mit dem Benelux-Vertrag eine nochmals intensivierte Wirtschaftsgemeinschaft, die dem 1993 verwirklichten Europäischen Binnenmarkt als Vorbild dienen konnte. Das Vertragswerk der EU Das Ende des Ost-West-Gegensatzes führte zu einem Schub in der europäischen Integration. 1992 wurde in Maastricht (Niederlande) die Europäische Union ( EU ) gegründet: Die bisherige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sollte durch eine Einheitswährung gestärkt und zu einer politischen Union erweitert werden. Der Vertrag von Maastricht trat 1993 in Kraft und schuf die Drei-Säulen-Struktur der Union. Inhaltlich erwähnte der Vertrag von Maastricht die Wirtschafts- und Währungsunion, welche mit der Einführung einer gemeinsamen Währung bis 1999 verwirklicht werden sollte. Der Vertag von Maastricht wurde im Mai 1999 durch den Vertrag von Amsterdam abgeändert. Mit diesem neuen Reformpaket sollten zum einen die Entscheidungsstrukturen der EU vereinfacht, ihre Transparenz erhöht und ihre demokratische Legitimation gestärkt werden. Zum anderen sollten die Kompetenzen zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten besser verteilt werden. Der Handlungsspielraum der EU wurde zudem in einigen Angelegenheiten im Bereich Justiz und Inneres erhöht. Der Vertag von Nizza ist seit Februar 2003 in Kraft. Er wurde mit Blick auf die Erweiterung der EU von 15 auf 27 Mitgliedstaaten ausgearbeitet. Er bringt insbesondere institutionelle Änderungen, damit die Entscheidungsfähigkeit der EU -Organe gewährleistet bleibt. Gleichzeitig wurde die Europäische Charta der Grundrechte durch feierliche Proklamation verabschiedet. Diese beinhaltet bestimmte politische, wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Rechte der europäischen Bürger und Bürgerinnen. 9.3.3 Zusammenfassung ▶ Deutschland ist eine Parteiendemokratie. Die Parteien erfüllen eine Reihe wichtiger Aufgaben im politischen System und im gesellschaftlich-politischen Diskurs. ▶ Parteien sind die Schulen der politischen Verantwortung. So bieten sie Bürgerinnen und Bürgern Gelegenheit, sich aktiv politisch zu betätigen und Erfahrungen zu sammeln, um politische Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv am politischen Leben beteiligen zu können. ▶ Die Parteien sind auch dazu da, den Bürgerinnen und Bürgern die im Rahmen des Regierungssystems getroffenen politischen Entscheidungen direkt oder mithilfe der Medien zu vermitteln. ▶ Die EU ist ein aus 28 europäischen Staaten bestehender Staatenverbund. ▶ Die Bevölkerung in den Ländern der EU umfasst derzeit rund eine halbe Milliarde Einwohner. ▶ Grundziele der EU sind die Wahrung des Friedens und die Förderung von Demokratie und Wohlstand. ▶ In den EU -Ländern sollen sozialer und wirtschaftlicher Fortschritt gefördert werden. ▶ Europa soll ein Raum der Demokratie, der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts werden. ▶ Auch die europäische Identität soll gestärkt werden. Die EU soll eine Brücke schaffen für die tägliche Praxis der Interaktion von Gesellschaft und Politik in und unter den Mitgliedstaaten. 9.3.4 Aufgaben zur Wissenskontrolle 1. Welche Rolle spielen die Parteien bei der Gestaltung der Politik? 2. Worin besteht die Besonderheit im Funktionieren der Parteien in der BRD ? 3. Wie können die verfassungswidrigen Parteien aufgelöst werden? 4. Wie finanzieren sich die Parteien? 5. Nennen Sie die wichtigsten Parteien in Deutschland und ihre Programme. 6. Wie beeinflussen die Interessenverbände und Bürgerinitiativen das öffentlich-politische Leben in der BRD ? 7. Welche Staaten haben die Europäische Gemeinschaft gegründet? 8. Welche Staaten gehören heute der Europäischen Union an? 9. Nennen Sie die Grundziele der Europäischen Union. 10. Welche wichtigen Organe der Europäischen Union kennen Sie? 241 10. Literaturverzeichnis 10. Literaturverzeichnis AGF (2017a), Sehdauer [Online unter https: / / www.agf.de/ daten/ tvdaten/ sehdauer/ . 6. 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Register Adverbial 172 Akronym 189 Antagonist 48 BBehaviourismus 132 Bericht 214 Bewusstseinsstrom 60 Bezahlfernsehsender 202 Bildlichkeit 69 Boulevardzeitung 201 Bundesrepublik Deutschland 223 CCliffhanger 216 Ddemokratisch 223 Denotat 68 denotative Bedeutung 68 Derivation 161 Deutscher Presserat 198 direkte Charakterisierung 47 dpa 211 Drama 50 dynamische Figur 47 dynamische Konstrukte 74 Eeinfache Figur 46 Ekphrase, Ekphrasis 105 elegisches Distichon 34 Entlehnung 153 Epik 50 Ereigniskette 46 erster Absatz 218 Erzähler 52 Erzählperspektive 52 EU 235 Europäische Kommission 238 Europäischer Gerichtshof 238 Europäischer Rat 238 Europäischer Rechnungshof 238 Europäisches Parlament 237 Europäische Union 235 externer Konflikt 45 extra-diegetisch 56 F falsche Freunde 156 Fanfiktion 122 Feature 215 Feuilleton 216 Fiktionalitätspakt 51 Flexion 159 föderativer Rechtsstaat 223 Fokalisierung 59 Framing 143 Funktionalismus 141 GGattung 50 Gebot der Sachlichkeit und Aktualität 218 Gewaltenteilung 224 Glosse 216 Graphem 148 Grundgesetz 222 Grundziele 235 HHandlung 44 Handlungskette 46 hetero-diegetisch 56 Hintergrundinformationen 214 homo-diegetisch 56 Humankapital 138 Hypermedialität 122 Hypertextualität 122 Iindirekte Charakterisierung 47 instabile Situation 45 Instinktreduktion 138 Internationalismus 156 interner Konflikt 44 Internet 207 Intertext 35 Interview 215 intra-diegetisch 56 Intramedialität 105 Isotopiekette 189 KKarikatur 215 Kommentar 215 Komplement 172 komplexe Figur 46 256 12. Register Komposition 161 Konnotat 68 konnotative Bedeutung 68 Konversion 189 Kritik 215 Kurzwort 189 Kybernetik 130 LLautschrift 188 Layout 209 lead 214 Lehnwort 155 Leitartikel 215 lokale Tageszeitung 200 Lyrik 50 MMassenmedien 196 Meldung 214 Metapher 68 Minimalpaar 187 Mobilfunk 206 modernes Kommunikationsmittel 206 Morphem 188 Morphosyntax 165 Multimedia 209 NNachricht 214 nicht-rhotische Aussprachevariante 149 Nominalklammer 171 Oobjektive (dramatische) Erzählperspektive 58 Ödipus Mythos 33 öffentlich-rechtlicher Sender 197 öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt 202 PPerformanz 105 Perspektive in erster Person 57 Phon 186 Phonem 186 Plot 44 Podcast 207 pointiert 214 Porträt 216 Prätext 35 Pressemitteilung 218 Prinzip der umgekehrten Pyramide 217 privater Sender 197 Protagonist 48 RRadio als Begleitmedium 205 Rat der EU 237 Rechtsstaat 223 Referenz 105 regionale Tageszeitung 200 Reportage 214 rhotische Aussprachevariante 149 Roman 50 SSatzglieder 172 Schauplatz 63 Schlagzeile 214 Sendung 203 Setting 63 Sozialstaat 224 stabile Situation 46 statische Figur 47 SV-Sprache 174 TTextkohäsion 177 tragischer Fehler 30 Transmedialität 105 Uüberregionale Zeitung 201 Überschrift 218 unzuverlässiger Erzähler 58 User 208 VV2-Sprache 174 Verbalklammer 174 verbal music 114 Verbvalenz 173 Vergleich 69 Vergleichende Literaturwissenschaft 22 Vorspann 214 WWeltliteratur 20 World Wide Web 207 Wort 159 Wortbildung 159 Wortstellung 174 ZZeitungsroman 216 Zollunion 237