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Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland

2021
978-3-8233-9304-7
Gunter Narr Verlag 
Csaba Földes

Der Band geht auf die gleichnamige Tagung zurück, die als dritte Konferenz der ,German Abroad'-Reihe (nach Wien 2014 und Austin/Texas 2016) im März 2018 an der Universität Erfurt stattfand. Der inhaltliche Schwerpunkt der Beiträge liegt auf aktuellen Kontaktkonstellationen, in denen Varietäten des Deutschen mit anderen Sprach(varietät)en außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets koexistieren und interagieren. Ein zentrales Ziel ist es, charakteristische Merkmale solcher Kontaktvarietäten der deutschen Sprache aufzuzeigen, zu beschreiben und zu interpretieren, wobei der Aspekt der Interkulturalität eine vorrangige Rolle spielt. Somit kommt z. B. dem Kommunikationsverhalten deutschsprachiger Gruppen/Minderheiten in traditionellen "Sprachinseln" und in sonstigen inter- bzw. transkulturellen Konfigurationen wie in Migrationskontexten eine hohe Relevanz zu. Fokussiert wird dabei sowohl auf Sprachstrukturen und Sprachverwendungsaspekte als auch auf sozialpsychologische Faktoren.

Csaba Földes (Hrsg.) Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland S AMM E L BÄN D E BEITRÄGE ZUR INTERKULTURELLEN GERMANIstIK | BAND 14 HERAUSGEGEBEN VON CSABA FÖLDES Csaba Földes (Hrsg.) Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland www.fsc.org MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen FSC ® C083411 ® Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: Fa. Corrigenda, Daniela Kranemann, Erfurt CPI books GmbH, Leck ISSN 2190-3425 ISBN 978-3-8233-8304-8 (Print) ISBN 978-3-8233-9304-7 (ePDF) Inhalt Vorwort des Herausgebers .................................................................................................... IX Aspekte von Deutsch im nicht-deutschsprachigen Ausland unter Berücksichtigung von Kontaktvarietäten im Bereich der Mündlichkeit Christiane Andersen | Morphosyntaktische Variation bei der Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen in einem Korpus der gesprochenen Sprache ethnischer Deutscher in der sibirischen Region Krasnojarsk (Russland) ............ 3 Edgar Baumgärtner | „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“. Tendenzen der Regularisierung in der Verbalmorphologie der deutschen Sprachinsel in der Altai-Region Russlands .......................................................................... 21 Nina Berend/ Elena Frick | Russlanddeutsche Dialekte online. Dokumentation, Präsentation und Recherche deutscher Auslandsvarietäten im Internet am Beispiel des Russlanddeutschen ................................................................ 43 Hans C. Boas | Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten. Ein Plädoyer für eine „bottom-up“-Methodologie im Rahmen der Konstruktionsgrammatik und der Frame-Semantik ................................................... 63 Csaba Földes | Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache: am Material ungarndeutscher Dialekte bairischer Provenienz ........................................ 85 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer | Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen. Deutschbasierte Minderheitensprachen in Italien, der Ukraine und den USA .............. 121 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler | Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel. Die Realisierung des Schwa-Artikels bei Wiener Emigranten in London ...................... 145 Ralf Heimrath | „I zial äitza twenty four“. Nordbairisch trifft Englisch in Neuseeland ........................................................................ 163 Lucas Löff Machado | „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“. Sprachnorm und Mehrsprachigkeit in Südbrasilien .......................................................... 181 Alexander Minor | Der historische Lautbestand der wolgadeutschen Inselmundart von Marxstadt .............................................................................................. 205 VI Inhalt Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner | Die Dynamik des gesprochenen Deutschen bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien ............................................................................................... 215 Claudia Maria Riehl | Sprachkontakt und Spracherosion. Perspektiven der vergleichenden Sprachinselforschung ................................................. 239 Adam Tomas | Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon oder: Grammatikalisierung trotz Stigmatisierung? .................................................................... 255 Heike Wiese/ Yannic Bracke | Registerdifferenzierung im Namdeutschen. Informeller und formeller Sprachgebrauch in einer vitalen Sprechergemeinschaft ..... 273 Jan Wirrer | „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“. Niederdeutsch-englischer Sprachkontakt im Mittleren Westen der USA ..................... 295 Patrick Wolf-Farré | Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen .................. 315 Marianne Zappen-Thomson | Deutsch in Namibia - eine Sprache im Kontakt ............ 331 Aspekte von Deutsch im nicht-deutschsprachigen Ausland unter Berücksichtigung von Kontaktvarietäten im Bereich der Schriftlichkeit Sigita Barniškienė | Germanismen und Slawismen im preußisch-litauischen Dialekt im Roman „Šaktarpio metas“ von Astrida Petraitytė ........................................................ 343 Boris Blahak | Deutsch und Jiddisch im Kontakt. Jüdische Sprachvarietäten im Umkreis Franz Kafkas im Spannungsfeld von Ethnolekt, Literatur- und Lernersprache .................................................................... 353 Delia Cotârlea | Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien. Interferenzerscheinungen bei Schülern mit rumänischer Muttersprache ..................... 375 Nicole Eller-Wildfeuer | Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext. Mehrsprachigkeit als kultureller und ökonomischer Faktor bei bairischen und alemannischen Sprachsiedlungen im italienischen Alpenraum ..... 391 Matthias Fingerhuth | Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? ... 409 Elisabeth Knipf-Komlósi | Merkmale von geschriebenen dialektalen alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit ................................................................................ 425 Réka Miskei/ Márta Müller | Einstellungen von jüngeren und älteren Ungarndeutschen zur deutschen Sprache und zu ihren Sprechern .......... 445 Inhalt VII Henning Radke | Die Rolle computervermittelter Kommunikation und vernetzter Mehrsprachigkeit für die deutsch-namibische Diaspora und ihre Onlinecommunity ................................................................................................. 461 Aneta Stojić | Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft: Formen und Funktionen ..................................................................................................... 479 Michael Szurawitzki | Umworbene Flüchtlinge. Eine linguistische Analyse von Werbesprache im Shanghaier Exilperiodikum „Gelbe Post“ ..................................................................... 495 Herausgeber und Beiträger(innen) .................................................................................... 509 Vorwort des Herausgebers Unter dem Titel „Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland“ fand vom 8. bis 10. März 2018 an der Universität Erfurt die dritte „German Abroad“-Tagung statt, die vom Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft sowie der Forschungsstelle für Interkulturalität und Mehrsprachigkeit (FIM) - nicht zuletzt in Verbindung mit dem Forschungsprojekt Ungarndeutsches Zweisprachigkeits- und Sprachkontaktkorpus (UZSK) - veranstaltet wurde. 1 In den letzten Jahrzehnten ist auch die deutsche Sprache als Kontaktsprache vielfach in den Blickpunkt gerückt. Bedingt durch die spezifische Lage des deutschsprachigen Raums in Mitteleuropa und die lange zentraleuropäische Grenze ergaben und ergeben sich zahlreiche potenzielle Sprachkontaktsituationen zu verschiedenen Nachbarsprachen. Infolge von Auswanderungsbewegungen unterschiedlicher Art entstand zudem eine Vielzahl von Kontaktkonstellationen mit dem Deutschen als Kolonial-, Migranten- oder Minderheitensprache sowohl innereuropäisch (z. B. in Rumänien oder Ungarn) als auch weltweit (z. B. Texasdeutsch in den USA, Hunsrückisch in Brasilien oder Namdeutsch in Namibia). Außerdem birgt auch der deutsche Sprach- und Kulturraum Potenzial für Sprachkontakt, wie etwa die autochthone Minderheitensprache Sorbisch in Brandenburg und Sachsen oder das Vorhandensein von allochthonen Migrantensprachen wie Türkisch, Spanisch oder Arabisch innerhalb Deutschlands. In summa kann Deutsch damit als wohl kontaktfreudigste Sprache Europas charakterisiert werden. Diese Kontaktsituationen sind in der germanistischen Linguistik - auch in jüngerer Vergangenheit - immer wieder aufgegriffen worden. Um den Diskurs zwischen den Akteuren anzuregen, Erkenntnisse auszutauschen und Schritte in Richtung einer vergleichenden Sprachkontaktforschung zu unternehmen, wurde 2014 die Tagungsreihe „German Abroad“ ins Leben gerufen, die auf die deutsche Sprache und ihre Variationsbreite in Mehrsprachigkeitskonfigurationen außerhalb des deutschen Sprachraums fokussiert. Die Tagungen der Reihe finden alle zwei Jahre statt. Den Auftakt machte im Juli 2014 die erste German- Abroad-Tagung am Institut für Germanistik der Universität Wien. Unter dem 1 Der Gegenstandsbereich des Projekts ist eine Mehrsprachigkeitskultur mit spezifischen Ausprägungsstrukturen und Verwendungsmustern des Deutschen; es richtet sich zum einen auf die variations- und kontaktlinguistische Erforschung ungarndeutscher mündlicher Sprechhandlungen im interaktiven Alltag der Verständigung und zum anderen auf die Erstellung eines webbasierten Portals inklusive Datenbank für authentische ungarndeutsche Diskurse in Form von Tonaufnahmen, Transkripten und Texten. Projekthomepage: https: / / www.ungarndeutsch.de/ . X Vorwort des Herausgebers programmatischen Titel „Perspektiven der Variationslinguistik, Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung“ standen in erster Linie Varietäten des Deutschen in Nord- und Südamerika im Mittelpunkt, zudem wurden Einzelbeispiele aus Norditalien, Polen, Tschechien und dem Pazifikraum vorgestellt. 2 Zwei Jahre später war die University of Texas in Austin Gastgeber der zweiten Konferenz; Hauptschwerpunkt war ebenfalls der amerikanische Kontinent, ergänzt mit einzelnen Beiträgen zu Namibia, Ozeanien, Russland und Ostmitteleuropa. Der Komplexität und der Spezifität der linguistischen Annäherungen sollte auf der dritten German-Abroad-Tagung eine konstitutive Rolle zukommen. 3 Ein zentrales Ziel war es, charakteristische Merkmale von Kontaktvarietäten der deutschen Sprache aufzuzeigen und zu beschreiben, wobei der Aspekt der Interbzw. der Transkulturalität eine vorrangige Rolle spielte. Somit war z. B. das Kommunikationsverhalten deutschsprachiger Gruppen bzw. Minderheiten außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets in traditionellen „Sprachinseln“ und in sonstigen interbzw. transkulturellen Konfigurationen (etwa in Migrationskontexten) von hoher Relevanz - mit besonderem Blick auf Sprachstrukturen, Sprachverwendungsaspekte und sozialpsychologische Faktoren. Ebenso begrüßt wurde 4 die Beschreibung deutscher Lernervarietäten bzw. ihre Anwendungsmöglichkeiten im Deutsch-/ DaF-/ DaZ-Unterricht sowie die Betrachtung anderer Sprachen und deren Varietäten, die unter dem Kontakteinfluss des Deutschen stehen und in verschiedenen Interaktionssituationen, Medien usw. erscheinen. Im Erkenntnisinteresse der Konferenz lagen folglich Kontaktprozesse und -ergebnisse in diversen mündlichen oder schriftlichen Sprachverhaltensdomänen auf der morphosyntaktischen, lexikalisch-semantischen oder pragmatischen Ebene, d. h.: - Sprachkontaktsituationen und -phänomene sowie bilinguale kommunikative Praktiken in ihrer Dynamik mit Blick auf deutschsprachige Gruppen außerhalb des deutschen Sprachraums; - Kontaktinduzierte Variation bzw. Kontaktvarietät als Thema oder als Faktor im Deutsch-/ DaF-/ DaZ-Unterricht bzw. im deutschsprachigen Unterricht im Ausland; 2 Siehe zu den Details den Tagungsband von Alexandra N. Lenz (Hrsg.) (2016): German abroad. Perspektiven der Variationslinguistik, Sprachkontakt- und Mehrsprachigkeitsforschung. Göttingen (Wiener Arbeiten zur Linguistik; 4). 3 Vergleiche die ausführlichen Reflexionen von Csaba Földes (2019): Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland. Bausteine und Impulse für eine vergleichende Sprachinselforschung. In: Germanica Wratislaviensia 144 (Acta Universitatis Wratislaviensis; 3918). S. 161-173. 4 Eine andere Sache ist, dass dieses Themenfeld in der tatsächlichen Tagungsrealität deutlich weniger Raum einnahm. Vorwort des Herausgebers XI - Spracheinstellungen und Sprachperzeptionen im Hinblick auf Kontaktvarietäten des Deutschen. Die Tagungsreihe konnte mit unserer Konferenz in Erfurt hinsichtlich des Betrachtungsraums ausgebaut werden: Zum einen sollte der analytische Fokus auf das gesamte Verbreitungsareal des Deutschen und seiner spezifischen Ausprägungen erweitert werden, sodass u. a. auch die traditionellen „Hochburgen“ des deutschen Sprachkontaktgeschehens im östlichen (Mittel-)Europa vertieft in den Blick gerieten. Zum anderen war es ein prominentes Anliegen, einer weitgehend multi- und interdisziplinären Auseinandersetzung mehr Reflexionsraum zu bieten, um das Kontaktverhalten der deutschen Sprache in diversen Interaktionskonfigurationen unter möglichst vielfältigen Gesichtspunkten und dadurch schließlich integrativ zu erschließen. Die Aufsätze des Bandes gehen größtenteils auf die Tagungsvorträge zurück: Das Buch präsentiert eine Auswahl der vorgetragenen Referate sowie einige einschlägige Aufsätze, die von Nicht-Teilnehmer(inne)n zum Tagungsthema eingereicht wurden. Unser Ziel ist es, mit dieser Veröffentlichung die angesprochenen Fragestellungen auf einem anspruchsvollen Niveau in einem Band mit hoher thematischer Konsistenz zu behandeln. Deshalb wurden alle Manuskripte von ausgewiesenen Expert(inn)en der gegebenen Themenfelder „doppelblind“ begutachtet. Hiermit danke ich folgenden Kolleg(inn)en, die freundlicherweise nicht nur die auch tatsächlich zur Publikation angenommenen Texte begutachtet haben: Anja Binanzer (Universität Erfurt, inzwischen: Leibniz-Universität Hannover), Bernhard Brehmer (Universität Greifswald), Katja Cantone (Universität Duisburg-Essen), Elmar Eggert (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel), Peter Ernst (Universität Wien), Zsuzsanna Gerner (Universität Fünfkirchen/ Pécs), Wilhelm Grießhaber (Westfälische Wilhelms-Universität Münster), Annelies Häcki Buhofer (Universität Basel), Markus Hartmann (Universität Erfurt), William D. Keel (The University of Kansas), Birte Kellermeier-Rehbein (Bergische Universität Wuppertal), Ulla Kleinberger (Universität Zürich), Alfred Lameli (Philipps-Universität Marburg, inzwischen Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Ioan Lazarescu (Universität Bukarest), Alexandra N. Lenz (Universität Wien), Mark L. Louden (University of Wisconsin-Madison), Attila Németh (Pädagogische Hochschule Oberösterreich), Stefan Michael Newerkla (Universität Wien), Stefan Rabanus (Universität Verona), Achim Rabus (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg), Anthony Rowley (Bayerische Akademie der Wissenschaften), Joachim Scharloth (Waseda-Universität Tokio), Regula Schmidlin (Universität Freiburg/ Schweiz), Matthias Schulz (Julius-Maximilians-Universität Würzburg), Johanna Stahnke (Bergische Universität Wuppertal), Dieter Stellmacher (Georg-August- Universität Göttingen) und Eva L. Wyss (Universität Koblenz-Landau). Worte des Dankes ergehen vor allem an die Tagungssekretärinnen, Frau Dr. Bianka Burka-Rauhut und Frau Renáta Péter-Szabó, M.A., für ihre kompetente Hilfe bei der Tagungsorganisation und -abwicklung sowie an Frau XII Vorwort des Herausgebers Lic. theol. Daniela Kranemann für die gründlichen Redaktionsarbeiten, einschließlich der sprachlichen Lektorierung, an diesem Band. Aufs Herzlichste sei nochmals allen Autorinnen und Autoren gedankt, dass sie mit ihren Beiträgen die Tagung und die Buchveröffentlichung bereichert haben. Schließlich sei dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) für den Druckkostenzuschuss aus Mitteln des Auswärtigen Amtes gedankt. Sowohl als Bandwie auch als Reihenherausgeber hoffe ich, dass die vorliegende Publikation ein - auch impulsgebender - Gewinn für eine vergleichende Sprachinsel- und Sprachkontaktforschung im Rahmen der internationalen - und besonders der interkulturellen - Germanistik sein wird. Erfurt, im Herbst 2020 Csaba Földes Aspekte von Deutsch im nicht-deutschsprachigen Ausland unter Berücksichtigung von Kontaktvarietäten im Bereich der Mündlichkeit Morphosyntaktische Variation bei der Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen in einem Korpus der gesprochenen Sprache ethnischer Deutscher in der sibirischen Region Krasnojarsk (Russland) Christiane Andersen (Göteborg) Zusammenfassung Die deutschen Siedlungen in Russland bildeten seit ihrer Entstehung kein sprachlich zusammenhängendes Gebiet, sondern sie waren durch sprachliche Vielfalt und Variation geprägt. Aus dem Korpus des heutigen gesprochenen Deutsch in der Region Krasnojarsk (SGC) sind in diesem Beitrag alle Vorkommen von Nominalphrasen (NP) mit einer substantivischen Verwandtschaftsbezeichnung nach morphosyntaktischer Variation untersucht worden. Die Fragestellung lautet: Welche Varianten treten in syntaktischen Positionen wie Subjektkasus, Possessiv und Komplementkasus (Verbergänzung) im untersuchten Korpus auf und gibt es möglicherweise eine plausible Erklärung für die Art der Variation? Die Fallstudie zeigt, dass im heutigen Sprachgebrauch der russlanddeutschen Kontaktvarietät die Morphosyntax der untersuchten Verwandtschaftsbezeichnungen durch hohe Variantenvielfalt geprägt ist - bei gleichzeitiger Reduktion lexikalischer Mittel und syntaktischer Funktionen. Dass dies an sprachtypologischen Prozessen anderer Kontaktvarietäten und an weiteren Spracherwerbsprozessen (z. B. bei Lernervarietäten mit den entsprechenden Kontaktsprachen als Erstsprache) überprüft werden sollte, ist ein Ergebnis des vorliegenden Beitrags. 1 Zum wissenschaftshistorischen Hintergrund: die ersten systematischen Datenerhebungen der deutschen Sprachinseln in Russland Für die gegenwärtige Erforschung des Deutschen in Russland sollte eine wissenschaftshistorische Quelle zu den wolgadeutschen Dialekten besonders aufschlussreich sein. Bereits im ersten Jahrgang der damals neu gegründeten „Zeitschrift für deutsche Dialektforschung und Sprachgeschichte (Teuthonista)“ wird ein Beitrag von Georg Dinges (1924/ 25) aufgenommen. Dinges, selbst Wolgadeutscher aus Saratow, gibt an dieser Stelle erstmals einen Überblick über die Erforschung der wolgadeutschen Mundarten. In der Tat sind die Dialekte der ethnischen Deutschen, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Russland leben, bereits Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre fast flächendeckend mithilfe der dialektgeografischen Methode erforscht worden. Viktor Schirmunski erfasste in nur fünf Jahren (1926-1931) den Sprachstand der deutschen Sprach- 4 Christiane Andersen inseln in Transkaukasien (heute Teile von Armenien, Georgien und Aserbaidschan), der Südukraine und am Dnjepr (Ukraine) (vgl. Schirmunski 1992 [1928, 1929], 1992 [1930] und 1992 [1931]). Schirmunski organisierte damals Geländefahrten in die deutschen Siedlungen, die er mit seinen Studierenden durchführte. Durch dieses Zeitfenster - die Feldarbeiten mussten eingestellt werden, weil sich die dialektgeografischen Verhältnisse durch die Zwangskollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft völlig verändert hatten (vgl. Vorwort von Hutterer in Schirmunski 1992: 10) - ist für die Erforschung der deutschen Dialekte in Russland bereits eine zuverlässige Systematik empirischer Daten vorhanden. Von besonderer Bedeutung für die Sprachinselforschung sind bis heute Schirmunskis Beobachtungen zum Verhältnis von Sprachwandel und geografischer Veränderung. Die deutschen Siedlungen in Russland bildeten von vornherein kein sprachlich zusammenhängendes Gebiet, sondern es waren zerstreute Sprachgebiete mit Kontakt zu Siedlerdialekten untereinander und zur fremdsprachlichen Umgebung (überwiegend zur russischen Sprache, aber auch kaukasische und andere asiatische Sprachen gehörten zum Sprachkontakt der Siedlerdialekte), d. h. sprachliche Vielfalt und Variation waren von Anfang an immanente Merkmale der deutschen Varietäten in Russland. Für die folgende Fallstudie sind Schirmunskis Forschungsergebnisse mit einem dazwischenliegenden Forschungsintervall von ca. 90 Jahren als Vergleichsmoment erneut aufschlussreich (siehe weiter unten Tab. 2). Das sprachliche Szenario der ethnischen Deutschen in Russland hat sich inzwischen drastisch verändert: Die ursprünglichen „Siedlungsgebiete“ sind im Prinzip nicht mehr vorhanden, und nur noch die Generation der Großeltern ist zum heutigen Zeitpunkt L1-Sprecher einer russlanddeutschen Varietät. 1 1 Im Jahre 2002 lebten in Russland noch 597.200 ethnische Deutsche, und zwar im Gebiet Altai 79.500, im Gebiet Omsk 76.300, im Gebiet Nowosibirsk 47.300, im Gebiet Krasnojarsk 36.900 und im Gebiet Kemerowo 36 . 000 Einwohner (vgl. Etnoatlas Krasnojarskogo kraja, 2006: 46). Die aktuellen Zahlen dürften deutlich geringer sein. Die im Weiteren untersuchten Sprecher(innen) sind an der Wolga geboren und während des Zweiten Weltkriegs nach Sibirien deportiert worden. Sie sprechen Wolgadeutsch (mit einer Dialektbasis des Schwäbischen und Oberhessischen), russische Umgangssprache (örtlicher dörflicher Dialekt) und zum Teil russische Standardsprache. Die deutsche Standardsprache ist ihnen nicht bekannt. Zum ausführlichen soziolinguistischen Hintergrund der Sprecher(innen) im Gebiet Krasnojarsk siehe Djatlova (2009); zu weiteren Metadaten des im Folgenden untersuchten Korpus siehe Andersen (2016c). Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 5 2 Theoretische und empirische Ausgangspunkte und Fragestellung Das Göteborger Forschungsprojekt „Syntax im Kontakt“ 2 ist bereits 2010 in Zusammenarbeit mit der Staatlichen Pädagogischen Universität V. P. Astafjev (Krasnojarsk) entstanden. Ziel dieses Projektes ist es, die Krasnojarsker Datenerhebungen sowohl ethnografisch 3 als auch kontaktlinguistisch 4 unter besonderer Berücksichtigung grammatischer Phänomene (vgl. Andersen 2016a; 2016b) auszuwerten. In Andersen (2016a) ist die Wortstellung des gesprochenen Deutsch im Krasnojarsker Gebiet bereits genauer untersucht worden. Dabei hat sich gezeigt, dass Verberststellung in Aussagesätzen wie in dem Beispiel hat nich gefunde weg (vgl. Andersen 2016a: 273) eine typische grammatische Erscheinung im Krasnojarsker Deutsch ist. Im Rahmen einer Variationsgrammatik des Deutschen hat die Verberststellung in Aussagesätzen des Russlanddeutschen auch in theoretischen Syntax-Modellen bereits Beachtung gefunden, und zwar aus „einem Zusammenspiel von syntaktischen und pragmatischen, textlinguistischen und soziologischen Faktoren“ (Fanselow 2017: 264). Die Morphosyntax von Nominalphrasen (NP) in deutschen Kontaktvarietäten ist bisher wenig zusammenhängend untersucht worden. Hingegen gibt es eine Reihe von Studien zum Phänomen des Kasusabbaus in der Nominalflexion, insbesondere zum Abbau des Dativs in deutschen Kontaktvarietäten in den USA, in Russland und in Südaustralien (vgl. dazu die ausführliche Forschungsübersicht in Riehl 2018). Man geht davon aus, dass die morphosyntaktischen Varianten reduziert wurden, indem die Formensysteme von Kontaktsprache und deutscher Kontaktvarietät einander angepasst und vereinfacht wurden. Solche Simplifizierungsprozesse betreffen besonders die Reduktion der Flexionsmorphologie und wirkten möglicherweise in den Kontaktvarietäten beschleunigend (vgl. Riehl 2018: 418). Rosenberg (2016) hat die interne Entwicklung der Kasusmorphologie im „Plautdietschen“, einer Kontaktvarietät in der Altai- Region, bereits in den 1990er Jahren genauer betrachtet. Im Rahmen von verschiedenen Abbauprozessen habe sich der Akkusativ als eine Art Einheitsform auf -n bei Artikelwörtern und Pronomen in der internen Entwicklung der Kon- 2 Vergleiche dazu die Projekthomepage der Universität Göteborg: https: / / sprak.gu.se/ infoglueDeliverWorking/ ViewPage.action? siteNodeId=580061&languageId=100000 &contentId=-1 (18.05.2018). 3 Siehe auch Projekthomepage der Universität Krasnojarsk: http: / / deu.kspu.ru/ ru/ foreignpartners.html (18.05.2018). 4 Der in dieser Fallstudie verwendete kontaktlinguistische Ansatz beschränkt sich auf die gegenwärtig gesprochene Varietät der Russlanddeutschen in Sibirien aus sprachsystematisch-typologischer und korpuslinguistischer Sicht. 6 Christiane Andersen taktvarietät herausgebildet (vgl. Rosenberg 2016: 188). Kasusabbau beobachtet auch Keel in „Volga-German dialects in West Central Kansas“ (vgl. Keel 1994: 97). Keel vermutet Ähnlichkeiten in der Entwicklung der Kasussysteme in deutschen Kontaktvarietäten, obwohl typologisch unterschiedliche Kontaktsprachen involviert sind, und empfiehlt „comparative studies of German dialect speech communities in America and the former Soviet Union“ (vgl. Keel 1994: 101). Völlig andere Beobachtungen legt Földes (2005) für die deutsche Kontaktvarietät in Ungarn vor. In ungarndeutschen Varietäten sind doppelte (bilinguale) Kennzeichnung des Plurals in NPs und zusätzliche Suffigierung des Nomens in Präpositionalphrasen keine Seltenheit. Diese Erscheinung sei ungemein spannend, wäre sie doch im Kontakt von zwei flektierenden indoeuropäischen Sprachen nicht denkbar (vgl. Földes 2005: 158). Vorerst kann daraus abgeleitet werden, dass Kasusabbauprozesse von Varietäten im Kontakt mit dem Englischen und Russischen offensichtlich im Gange sind: Daraus lässt sich aber nicht schlussfolgern, dass deutsche Kontaktvarietäten allein durch morphosyntaktische Vereinfachung bzw. Simplifizierung gekennzeichnet sind. Für die ungarndeutsche Kontaktvarietät trifft es offensichtlich nicht zu. Für das Barossadeutsche in Australien hat Riehl (2014) zwar eine Reduzierung der Dativ-Akkusativ-Unterscheidung beobachten können. Sie hat parallel dazu aber auch festgestellt, dass die Dativ-Markierung immer noch im Gebrauch ist, und zwar bei gleichzeitig hoher Variationsbreite, „so dass man davon ausgehen muss, dass der Input, mit dem die Teilnehmer der vorliegenden Studie konfrontiert wurden, verschiedene Varianten ein und desselben Schemas enthielt (z. B. Dativ- und Akkusativ-Markierung in ein und derselben Konstruktion wie auf der Erde vs. auf die Erde)“ (Riehl 2014: 23). Eine ganze Reihe von Ergebnissen der Studien zum Kasusabbau stützt damit auch die These, dass mit Abbauprozessen auch morphosyntaktische Variation einhergeht, und zwar unter folgenden Bedingungen: 1. Quantitative Analysen umfangreicherer Korpora haben gezeigt, dass ein typisches Merkmal sich auflösender Sprachgemeinschaften gerade die hohe Variation ist, sowohl bei ein und demselben Sprecher als auch zwischen den Sprechern (vgl. für das Texasdeutsche Boas 2009; für das Russlanddeutsche Berend 2013; 2014). 2. Je frequenter ein Lexem oder eine Konstruktion verwendet wird, desto weniger wird die Dativmarkierung abgebaut, was dazu führt, dass dadurch weitere Varianten entstehen (vgl. für das Barossadeutsche und Russlanddeutsche im Vergleich Riehl 2018). 3. In ungarndeutschen Varietäten ist zusätzlich Variation durch doppelte Kennzeichnung des Plurals und zusätzliche Suffigierung des Nomens in Präpositionalphrasen entstanden, hervorgerufen durch den synthetischen Sprachbau der Kontaktsprache (vgl. Földes 2005). Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 7 Im Korpus des gesprochenen Deutsch ethnischer Deutscher in der Region Krasnojarsk Siberian German und Siberian German Women 5 (im Weiteren SGC für Siberian German Corpus) ist ebenfalls eine auffällige morphosyntaktische Variationsbreite bei häufig verwendeten Verwandtschaftsbezeichnungen beobachtet worden. Zum Beispiel haben NPs mit MAMA als Kern allein in der Subjektposition (Nominativ) eine Vielzahl von Realisierungsmöglichkeiten im Korpus wie unser mama, mein mama, meine mama, Ø mama (ohne Artikel), die mama, nu mama usw., d. h. verschiedene Vorkommen mit MAMA in der Subjektposition konkurrieren 6 miteinander. Wie später noch zu zeigen sein wird, werden Varianten mit oder ohne Kasussuffix, bestimmtem Artikel oder russischem Lexem nebeneinander verwendet. Die Fragestellung der vorliegenden Fallstudie lautet daher: Welche morphosyntaktischen Varianten treten de facto in NPs mit Verwandtschaftsbezeichnungen in syntaktischen Positionen wie Subjekt, Possessiv und Komplement (Verbergänzung) im untersuchten Korpus auf, und gibt es möglicherweise eine Erklärung für Vielfalt und Art der Variation? 3 Methodischer Ansatz: Auswahl der Korpusdaten und Vergleichsparameter In der vorliegenden Studie wird ein sprachtypologischer und korpusbasierter Ansatz verfolgt, d. h. es sind durch lokale Feldforschung Stichproben gesprochener Sprache erhoben und transkribiert worden, um so weit wie möglich authentische Sprache zu erhalten. Diese Sprachdaten sind authentischer als bei z. B. sprachlichen Erhebungen mit Fragekatalogen (vgl. Velupillai 2012: 43). Die so gewonnenen Korpusdaten sind nach Lüdeling (2017: 140) eine gute Grundlage für Fragestellungen, die sprachliche Variation betreffen, denn sie unterliegen weniger dem Beobachterparadox, sie können annotiert und als Gebrauchsdaten auf allen Ebenen quantitativ untersucht werden. 5 Das Korpus (SGC) besteht aus transkribierten Gesprächen mit insgesamt acht Sprecher(inne)n (sieben weibliche und ein männlicher Sprecher) im Alter von 70 bis 85 Jahren. Der SGC ist teilannotiert (russische Lexik, finite und infinite Verbformen) und hat insgesamt 50.410 Tokens. Es ist in Zusammenarbeit mit Språkbanken (The Swedish Language Bank) entstanden und frei zugänglich unter: https: / / spraakbanken.gu.se/ korp/ ? mode=siberian_german#? lang=en&stats_reduce=word&cqp=%5B%5D&corpus= siberiangermanwomen (30.05.2018). 6 Hier und im Weiteren wird von Variation gesprochen, wenn die Konkurrenz zwischen zwei oder mehreren sprachlichen Phänomenen gemeint ist, die als Varianten betrachtet werden können (vgl. Fuß u. a. 2017: 318). 8 Christiane Andersen Aus dem SGC sind in einem ersten Schritt 544 Vorkommen von Verwandtschaftsbezeichnungen ermittelt worden, und zwar: mutter/ moder, mama, vater/ fader, papa, schwester, bruder, sohn, tochter/ schwiegertochter, kind/ kindr, tante, onkel, vetter, oma 7 , frau, mann 8 , enkel und junge, siehe Abbildung 1. Abb. 1: Verteilung der Vorkommen von Verwandtschaftsbezeichnungen im SGC Die häufige Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen im SGC hängt damit zusammen, dass die Sprecher(innen) größtenteils ihre Biografien erzählen. Die Nennung von Familienmitgliedern in den transkribierten Erzählungen und Gesprächen erscheint daher völlig natürlich. Sie gehören zu den narrativen Schlüsselwörtern des Korpus. 7 Das Lexem Opa ist im untersuchten Korpus nicht vorhanden. Eine mögliche Erklärung dafür könnte sein, dass die Sprecherinnen alle verwitwet waren. In den Gesprächen wurde daher häufig das Verhältnis der Mütter und Großmütter zu ihren Kindern und Enkelkindern thematisiert. 8 Hier sind nur die Verwandtschaftsbezeichnungen in der Bedeutung von ‚Ehemann‘ und ‚Ehefrau‘ einbezogen worden. Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 9 Alle Vorkommen wurden in einem zweiten Schritt nach NPs mit einer substantivischen Verwandtschaftsbezeichnung als Kopf herausgefiltert. NPs mit den Verwandtschaftsbezeichnungen TANTE und ONKEL sind z. B. kontextuell folgendermaßen repräsentiert: (1) Vorkommen tante (3) und onkel (1) (1a) nun mein onkel und tante und mein fader hat gekauft das Haus (1b) ja sie ist mei tante (1c) die rief mich nascha tante Da es sich wie in Beispiel (1a-c) um ein Korpus authentischer Sprache handelt, können mehrere Verwandtschaftsbezeichnungen sowohl in einem Satzglied gleichzeitig auftreten wie in (1a) als Subjekt und/ oder in anderen syntaktischen Positionen wie in (1b) als prädikativer Nominativ und in (1c) als prädikativer Akkusativ (vgl. Duden, Grammatik 2005: § 1236, § 1244), hier mit dem russischen Possessivpronomen nascha (feminin, Nominativ ‚unsere‘). In einem dritten Schritt wurden alle NPs nach ihren syntaktischen Funktionen sortiert, siehe Tabelle 1: Subjekt/ Prädikativ KASUS Nominativ Possessiv KASUS Genitiv, KASUS Dativ Komplement 1 KASUS Dativ Komplement 2 KASUS Akkusativ TANTE mein onkel und tante mei tante nascha tante, usw. Tab. 1: Sortierungsmuster nach morphosyntaktischen Funktionen Kasus wird in der vorliegenden Studie allgemein gefasst als Kategorisierung von Wortformen unterschiedlicher Wortarten, und zwar handelt es sich um die Einheitskategorien Nominativ, Genitiv, Dativ und Akkusativ (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1290). Der Vorteil einer Kategorisierung der NPs nach Kasus besteht darin, dass mit dieser Einteilung auch auf die Ergebnisse der früheren dialektgeografischen Untersuchungen von Schirmunski (1992) Bezug genommen werden kann, siehe Tabelle 2: 10 Christiane Andersen Newa-Gebiet (unbekannt) 1926/ 27 Transkaukasien, Südukraine (schwäbisch) 1928/ 29 Ukraine: Dnjepr (nordbairisch) 1931 Siberian German, Siberian German Women (SGC) (Mischdialekte, Krasnojarsk) 1990/ 2010 Nominativ SG/ PL 0/ -e, -s, -er Ø/ Ø, Umlaut, -r, -a, -na) Ø/ -e Ø/ Ø, -(e)n, -(e)r, -s Genitiv SG/ PL 0 0/ 0 0/ 0 0, (-s) / 0, (-s) Dativ SG/ PL 0 Ø: m fadr saen heus/ Ø, Umlaut, -r, -a, -na Ø: n pruede sa hauz/ -en Ø/ Ø, -(e)n, -(e)r, -s Akkusativ SG/ PL 0 Ø/ Ø, Umlaut, -r, -a, -na Ø/ -e Ø/ Ø, -(e)n, -(e)r, -s Tab. 2: Kasusendungen der Substantive nach Ström [1926, 1927] in Schirmunski (1992) und Schirmunski (1992) [1926, 1927] im Vergleich zu den Korpusdaten im SGC (0 = keine Angaben; Ø = Suffix fehlt) Die Ergebnisse von Schirmunski u. a. beruhen auf sehr umfangreichen dialektgeografischen Erhebungsdaten. „Im alten Rußland zählte man vor dem Kriege zirka 2 000 deutsche Dörfer mit rund 1 500 000 Einwohnern, doch sind die Zählungen sehr ungenau […]“, schreibt Schirmunski (1992 [1928]: 21). Die Daten zu Kasusendungen der Substantive im Newa-Gebiet, in Transkaukasien und in der Ukraine sind in Tabelle 2 mit den Daten des SGC verglichen worden, obwohl die Methodik der Untersuchungen völlig verschieden war. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Schirmunskis Untersuchungen auf dialektgeografischen Erhebungen 9 mit einer großen Anzahl von Informanten beruhen, während das SGC aus authentischen Gesprächen mit einer geringen Anzahl von Sprechern besteht. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Ergebnisse nicht wesentlich unterscheiden: Der possessive Genitiv ist sowohl in den alten Dialekten als auch im SGC bis auf wenige Ausnahmen nicht nachweisbar; die Pluralendungen stimmen in vielen Fällen überein; eine Ausnahme ist nur der schwäbische Plural mit -a und -na, der im SGC nicht nachweisbar ist. Im SGC tritt in allen 9 Die Erhebungen anhand der Wenker-Sätze wurden größtenteils von deutschsprachigen Lehrern mit den Bewohnern in den „deutschen Kolonien“ durchgeführt (vgl. Schirmunski (1992) [1928]: 17). Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 11 Kasus auch -s im Plural auf, während bei Schirmunski u. a. das Plural-s (Nominativ) nur im Newa-Gebiet erscheint. Diese Unterschiede sind wegen der unterschiedlichen methodischen Ansätze aber nur unter Vorbehalt verallgemeinerbar. Über ihre morphologische Uneinheitlichkeit hinaus sind Kasus außerdem syntaktisch polyfunktional (vgl. Zifonun u. a. 1997: 1291), d. h. sie können unterschiedliche syntaktische Funktionen erfüllen. In einer NP wird der Kasus „extern bestimmt und über das Kopfnomen an die flexionsfähigen Elemente weitergereicht“ (Zifonun u. a. 1997: 74). So kommen beispielsweise NPs mit mama und mam im SGC insgesamt 79 Mal vor, sie werden als Subjekt, Subjektnominativ (Prädikativ), possessives Attribut und Komplemente (Akkusativ-, Dativ- oder Präpositionsobjekt) realisiert. Alle NPs konnten somit einer der in Tabelle 1 vorgestellten morphosyntaktischen Gruppen zugeordnet werden. 4 Zur Verwendung von NPs mit Verwandtschaftsbezeichnungen Für die aktuelle Studie haben wir uns auf die Wortformen von FRAU (35), MUTTER (50), MAMA (79) und KIND (138) mit insgesamt 201 Wortformen (s. o. Abb. 1) konzentriert. Sie kommen als Verwandtschaftsbezeichnungen im SGC am häufigsten vor, und sie weisen auch die höchste Variation in den vorkommenden NPs auf. In Tabelle 3 und 4 sind die morphologischen Varianten eingetragen; jede Variante wird im SGC mehr als einmal verwendet. Im Folgenden interessiert uns in erster Linie die morphosyntaktische Variationsbreite der verwendeten Verwandtschaftsbezeichnungen und nicht die Frequenz der vorkommenden Varianten. Ins Auge fällt zuerst die geringe lexikalische Variation in allen untersuchten NPs. Sie werden in den häufigsten Fällen nur mit Possessiva erweitert. In den NPs mit FRAU und KIND sind einige wenige Adjektive wie deutsche, plezire, fremde, letzte, selbstdenkig, älteste (s. Tab. 3 und 4) enthalten, d. h. die lexikalische Variation innerhalb der NPs ist äußerst gering. Hingegen ist die morphosyntaktische Variantenvielfalt ausgesprochen auffällig. Es liegt Variation sowohl in den grammatischen Kategorien Genus und Kasus als auch im Artikelgebrauch und der Wortfolge vor. Ein einmaliger Beleg ist der Plural frauens in einem Präpositionalobjekt (Tab. 4) wie im folgenden Beispiel (2): (2) ich und die älder schwester hab selbst grab gemacht und mit fremde frauens, wo in dem dorf habe gewount Bei näherer Betrachtung des Kontextes von frauens fällt auf, dass in die älder schwester das Adjektiv flexionslos und in mit fremde frauens eine Art Einheitskasus beim Adjektiv in der Form des Nominativs (vgl. Rosenberg 2016: 185, Russlanddeutsch im Altai-Gebiet; ebenfalls bei Volga Germans in Kansas, USA, vgl. Khramova 2011: 61) verwendet wird. 12 Christiane Andersen SUBJEKT POSSESSIV FRAU Ø 10 frau e frau eine deutsche frau so plezire frau Ø deutsche frau die alte frau seine/ sein/ mai frau Ø frauen die frauen - - MUTTER Ø mutter, Ø alte mutter die mutter/ muder dere mutter unser/ mein mutter ihre/ meine/ deine mutter mein muttchen - meiner mutter kinder mein mann seiner muder - MAMA Ø mama, unser/ mein/ mei mama meine mama die mama u mama - allejungste schwester mei mam von ihn seine mama tu sai mama - KIND der letzte kind, großes kindchen das älteste kind die kind die kindchen Ø fremdes kind die kinder, die kind, kind unsere zwa kind/ e/ r vier kinder viele kind Ø kinder - - Tab. 3: Varianten von FRAU, MUTTER, MAMA und KIND in Subjektposition Der nominale Possessiv ist in den untersuchten NPs ebenfalls so gut wie nicht gebräuchlich. Belege für die possessive Funktion kommen nur bei MUTTER und MAMA, und zwar jeweils nur einmal vor (Tab. 3). Daraus lässt sich ableiten, dass die syntaktischen Funktionen der ausgewerteten NPs fast ausschließlich als Subjekt oder Komplement verwendet werden. In diesen syntaktischen Funktionen ist Variantenvielfalt besonders auffällig. 10 Das Zeichen Ø zeigt hier und im Folgenden an, dass die NP kein Artikelwort (der, die, das) enthält. Damit ist nicht der Nullartikel gemeint. Zu „Nullartikel“ oder „kein Artikel“ vgl. Gallmann (2018). Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 13 KOMPLEMENT 1 KOMPLEMENT 2 FRAU zum fremde frau vor selbstdenkig frau mit fremde frauens sein frau - MUTTER von/ bei deren mutter der mutter bei die groußmuder - die mutter über der mutter Ø moder sein/ mein mutterchen - MAMA bei meine mama von meiner mama der mama mein mama meine mama - Ø mama die mama meine mama ihre mama über ihre mama mamu 11 pa maine mama - KIND mit den kind an vier kinder mit zwei kinder mit kindern ihre kinderchen von meinen kindern mit ihren kinder ba mai kinder - finf kind finf kinder fünf oder sechs kinder sieben/ acht/ finzehn kinder für kinder Tab. 4: Varianten von FRAU, MUTTER, MAMA und KIND in Komplementposition Im Folgenden soll auf die Variation der NPs mit MAMA (Tab. 3 und 4) etwas genauer eingegangen werden. 11 Sprachmischung auf Wort- und Satzebene ist ein charakteristisches Merkmal der Sprecher(innen) des untersuchten Korpus. Bei der Verwendung des Lexems MAMA ist zu beachten, dass es sowohl im Deutschen als auch im Russischen als Wortform im SGC vorhanden ist und von den Sprecher(inne)n jeweils auf Russisch oder Deutsch flektiert wird. 14 Christiane Andersen 4.1 Besonderheiten der Variation bei MAMA Das deutsche Lexem MAMA stimmt in Form und Funktion weitgehend mit der russischen Wortform überein, die Aussprache 12 ist jedoch unterschiedlich (dt. / ´mama/ , russ. / máma/ ). Bei den NPs mit MAMA sind auch häufig Varianten mit Interferenzen aus dem Russischen gefunden worden: (3) ich kenn doch die schwester, mamu znala, fader ne znala, die muder hab ich gekennt (4) so dass ich vider pa maine mama var (5) A mein mama, sie hat kein wort verstanden In Beispiel (3) wird mamu znala, fader ne znala (dt. ‚die Mutter kannte ich, den Vater kannte ich nicht‘) im deutschen Kontext mit schwester und muder verwendet. Das russische Lexem mamu wird mit dem russischen Akkusativ (-u) regelhaft flektiert. Die untersuchten Sprecher(innen) verwenden MAMA sowohl mit der russischen als auch mit der deutschen Aussprache; u. a. dadurch ist die Anzahl der Varianten der NPs mit MAMA besonders hoch. Im Beispiel (3) liegt aber noch eine weitere Sprachmischung vor: mamu znala, fader ne znala. Das eingebettete deutsche Lexem fader 13 wird nicht flektiert und ohne Artikelform realisiert. In der russischen Morphologie fehlt der bestimmte Artikel, morphosyntaktisch ist fader daher adäquat in die russische Sequenz integriert worden. Der Wegfall des bestimmten Artikels ist mit großer Wahrscheinlichkeit durch das Russische hervorgerufen, denn der bestimmte Artikel fehlt auch häufig in den Positionen, wo ihn monolinguale Sprecher des Deutschen verwenden würden. Daher ist es in diesen Fällen auch nicht angebracht, vom Nullartikel zu sprechen (vgl. Gallmann 2018: 17f.). Es ist wohl eher so, dass die bilingualen Sprecher hier die morphosyntaktischen Systeme der deutschen Varietät mit dem Russischen vermischen, d. h. es liegt eine gewisse Unsicherheit bei den Sprechern vor, wie wir sie auch bei Deutschlernern mit Russisch als Erstsprache beobachten können. 14 Die Belege ohne Artikelrealisierung sind damit charakteristische Varianten der russlanddeutschen Varietät, worauf auch Riehl (2018) im Zusammenhang mit dem Kasusabbau hingewiesen hat: Die Sprecher lassen in einigen Fällen analog zum Russischen den Artikel völlig weg: mit Tochter […]. Mit dem Wegfall des Trägers der Flexionsendungen besteht keine 12 In den Audio- und Videoaufnahmen verwenden die Sprecher(innen) sowohl die deutsche als auch die russische Aussprache. 13 Die deutsche Wortform fader wird im SGC etwas häufiger als papa verwendet, siehe Abbildung 1. Sowohl MAMA als auch PAPA sind auch russische Lexeme, was auch eine Ursache dafür sein kann, dass diese Wortformen in beide Grammatiken mühelos integriert werden. 14 Hier liegen eigene Unterrichtserfahrungen zugrunde. Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 15 Möglichkeit mehr, den Kasus zu markieren, und daher fallen auch diese Beispiele unter fehlende Dativmarkierung (Riehl 2018: 398; vgl. dazu auch Andersen 2016a: 25). Es liegt hier offensichtlich ein Zusammenspiel von Sprachkontakt und Variation vor, und zwar handelt sich dabei um wenigstens drei morphosyntaktische Phänomene - (a) Artikellosigkeit, (b) fehlende Flexionsendung und (c) Unsicherheit bei der Genusbzw. Kasuszuweisung. In den Beispielen (4, 5) wird die russische Präposition pa (‚auf‘) und die Gesprächspartikel a (‚aber‘) in die NP eingebettet: pa maine mama, ‚bei meiner mama‘ und a main mama, ‚aber meine mama‘. Hier entspricht die Kasus- und Genuszuweisung weder den Regeln der deutschen noch der russischen Syntax. Vielmehr liegt ein typisches kontaktgrammatisches Phänomen der russlanddeutschen Varietäten vor. 4.2 Besonderheiten der Variation bei KIND Am variantenreichsten treten die NPs mit KIND auf (s. o. Tab. 3 und 4). Hier kommen in allen morphologischen Kategorien Varianten vor, und zwar in Genus (drei Genera), Kasus (Einheitskasus auf -n oder endungslos) und Numerus (endungslos oder -e, -er). Interessant ist auch, dass nur in der Subjektposition die NPs mit Adjektiven wie letzte, großes, fremde erweitert werden (Tab. 3), in den Komplementpositionen (Tab. 4) wird KIND nur im Plural verwendet (einziger Beleg im Singular: mit den kind, hier flektiert mit -n). Im Kontext treten die Varianten wie folgt auf: (6) finf kind haben wir (7) ich sag immer, der letzte kind ist der glücklichst (8) er hat das haus verkauft und das geld verteilt an vier die kinder (9) missen mir bezahlen kind unsere (10) das ist ja fremdes kind Die Pluralvarianten treten häufig mit weiteren morphosyntaktischen Besonderheiten auf (Bsp. 6, 8, 9). Die Sprecher lassen die bestimmten Artikel entweder ganz weg - häufig dann, wenn ein adjektivisches Attribut folgt (Bsp. 10) - oder der Artikel wird nach dem Zahlwort positioniert (Bsp. 8). Possessive Pronomen werden häufig nachgestellt (Bsp. 9). Für diese Variantenvielfalt scheint es keine einfache Erklärung zu geben, denn keine der Varianten ist durch hohe Frequenz geprägt. 16 Christiane Andersen 5 Zusammenfassung der Ergebnisse Anhand der untersuchten Korpusdaten konnte gezeigt werden, dass im heutigen Sprachgebrauch der ethnischen Deutschen in Krasnojarsk die Morphosyntax in NPs mit Verwandtschaftsbezeichnungen breite morphosyntaktische Variation aufweist - bei gleichzeitiger Reduktion der syntaktischen Funktionen und der lexikalischen Mittel innerhalb der NPs. Die vorkommenden morphosyntaktischen Varianten lassen sich am Beispiel KIND wie folgt zusammenfassen: Subjekt Possessiv Komplement 1 Komplement 2 Sg der/ die/ das ADJ/ POSS-e Kind Ø ADJ -es Kind die Kindchen - PREP den Kind - Pl die Kinder, die Kind, Kind POSS NUM Kind NUM Kind/ (e)r POSS-Ø Kinder viele Kind Ø Kinder - die Kinder PREP POSS Kinder PREP POSS Kindern NUM Kind, NUM Kinder Ø Kinder PREP Kinder Tab. 5: Morphosyntaktische Variation bei KIND Die Verwendung von KIND zeigt in der Subjektposition der Pluralformen eine sehr hohe morphologische Variationsbreite (Verwendung aller drei Genera, fehlender Artikel, verschiedene Kasussuffixe, verschiedene Pluralendungen oder ohne Pluralkennzeichnung usw., s. Tab. 5). In der Subjektposition können Possessiva zudem auch nachgestellt werden wie kind unsere (s. Bsp. 9). Hingegen werden Singularformen im Possessiv gar nicht und in den Komplementpositionen nur vereinzelt verwendet. Der Plural von KIND wird auch in den beiden Komplementpositionen stark variiert. Der Dativ mit -m tritt bei KIND nicht auf, ist aber im SGC als seltene Variante dennoch in NPs mit anderen Verwandtschaftsbezeichnungen nachweisbar wie in zum fremde frau, mit dem sohn, bei einem mann, mit meinem älste bruder. Solche Belege zeigen in der Regel weitere Variantenkombinationen wie bei frau Genusvariation und bei älste Kasus- und Komparationsvariation. Das Nebeneinander von unterschiedlichen Kasussuffixen hat bereits Jedig (1966) beobachtet. Er vermutete bei den „Mundartsprechern“ den Verlust der Rektionszuordnung von Präpositionen (vgl. Jedig Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 17 1966: 65). Rosenberg (2016) hat „eine breite Verwendung von den“ in verschiedenen Kasusfunktionen nachweisen können, während die Verwendbarkeit bei dem weitaus geringer ausgeprägt sei (vgl. Rosenberg 2016: 188). Auffällige morphosyntaktische Variation in NPs hat auch Khramova (2011) festgestellt, und zwar in der Sprache der Volga Germans in Kansas, die Ende des 19. Jahrhunderts von Russland nach Amerika ausgewandert waren. Possessivpronomen werden auch bei den Volga Germans in einigen Fällen nicht flektiert, u. a. auch NPs mit MAMA und vorangestellter englischer Präposition 15 : for dai mama (vgl. Khramova 2011: 61). Über die Stabilität der vorkommenden Varianten in der vorliegenden Fallstudie kann allerdings wenig ausgesagt werden. Für die Belege aus dem SGC lässt sich nur so viel sagen, dass es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen der Frequenz der verwendeten Verwandtschaftsbezeichnungen und ihrer morphosyntaktischen Vielfalt geben könnte. Genitiv-s und Dativ-m sind im Korpus nur in Ausnahmefällen vertreten. Die syntaktische Funktion „Possessiv“ wird von NPs mit Verwandtschaftsbezeichnungen bis auf wenige Ausnahmen nicht besetzt, während die Subjektposition am häufigsten verwendet wird. In Subjektpositionen tritt auch die größte Anzahl von Varianten auf, gefolgt von der Komplementposition (Akkusativ). Es sollte hier allerdings noch hinzugefügt werden, dass die Sprecher bei Themen, die nicht ihre Privatsphäre betreffen, gewöhnlich ins Russische switchen. Den Sprechern ist der Sprachwechsel häufig gar nicht bewusst. In der Kontaktvarietät fehlt häufig die Lexik, die die Welt außerhalb des Konkreten und Privaten bezeichnet (vgl. dazu Moskaljuk 2013). Das könnte auch erklären, warum die verwendete Lexik in den NPs wenig Variation zeigt, was sich weiter auf eine eingeschränkte Polyfunktionalität der syntaktischen Funktionen auswirkt. Es scheint so, als ob sich die morphosyntaktische Variation auf die syntaktischen Basisfunktionen ‚Subjekt‘ und ‚Komplement‘ reduzieren würde. Die NPs werden fast ausschließlich mit Possessivpronomen erweitert, und die Genuszuweisung ist variabel. Dies sind typische Phänomene, die auch in Lernervarietäten auftreten. 16 15 Hingegen wird das Possessivpronomen im SGC nach der russischen Präposition flektiert (s. Bsp. 4). 16 Riehl nimmt an, dass der Endpunkt der Entwicklung in einer Kontaktvarietät Prozessen ähnelt, die schon in der Interlanguage-Forschung beobachtet worden sind (vgl. 2014: 22). 18 Christiane Andersen 6 Schlussüberlegungen und Ausblick Die vorliegende Fallstudie hat die vermutete morphosyntaktische Variationsbreite bei der Verwendung von NPs mit frequenten Verwandtschaftsbezeichnungen in verschiedenen syntaktischen Positionen nicht nur bestätigt, sondern in ihrer auftretenden Vielfalt meine Erwartungen weit übertroffen. Für die am häufigsten verwendete Verwandtschaftsbezeichnung KIND sind allein in der Subjektposition mehr als acht verschiedene Varianten aufgetreten, und zwar in allen Nominalkategorien (Kasus, Numerus, Genus) und im Artikelgebrauch. Hohe morphosyntaktische Variation tritt auch bei MAMA und MUTTER auf. Vereinzelt wird die russische Nominalflexion bei MAMA verwendet. Das Weglassen des Artikels, möglicherweise hervorgerufen durch Sprachkontakt mit dem Russischen, erzeugt zusätzliche Varianten, und zwar in allen NPs mit Verwandtschaftsbezeichnungen. Gleichzeitig tritt eine Reduktion lexikalischer Mittel und syntaktischer Funktionen zutage. Die Possessivposition wird sehr selten genutzt, d. h. die morphologische Variantenvielfalt ist auf wenige syntaktische Strukturen begrenzt. Die russlanddeutsche Morphosyntax, wie sie im derzeitigen Gebrauchsrahmen untersucht worden ist, hat ein charakteristisches Nominalsystem für Verwandtschaftsbezeichnungen entwickelt, in dem deutsche Basisdialekte, russlanddeutsche Mischdialekte und russische Umgangssprache ihre Spuren hinterlassen haben. Einige Kontaktphänomene in den untersuchten NPs weisen aber auch Ähnlichkeiten mit anderen deutschen Kontaktvarietäten auf: Varianten mit Wegfall des bestimmten Artikels sind in dieser Studie mit dem Einfluss des Russischen erklärt worden. Sie sind aber auch im Texasdeutschen in Belegen wie ich muß nach Badezimmer beobachtet worden (vgl. Salmons 1994: 66). Warum diese Varianten bei typologisch unterschiedlichen Kontaktsprachen auftreten, ist jedoch noch ungeklärt. Ein bisher noch wenig beachtetes Erklärungsmuster schlägt Riehl (2015; 2018) vor. Sie argumentiert dafür, die von ihr untersuchte Kasusmorphologie im Barossa- und Russlanddeutschen mit Entrenchment-Prozessen aus der Spracherwerbsforschung zu erklären (vgl. Riehl 2018: 372). Dabei wird davon ausgegangen, dass auf die zuerst erworbenen konkreten Konstruktionen, die sich durch eine hohe token-Frequenz auszeichnen, länger zugegriffen werden kann als auf die später erlernten abstrakten Konstruktionen. Am besten würden Konstruktionen mit einer hohen Frequenz erhalten bleiben, die als kompakte Einheiten (sog. frozen units) separat gespeichert sind: wie zur Schule, zur Kirche (vgl. Riehl 2018: 373). Damit könnte morphosyntaktische Variation in Kontaktvarietäten, aber auch in anderen Sprachkontaktszenarien wie Mehrsprachigkeit und Fremdsprachenerwerb erklärt werden. Der Ansatz ist insofern fruchtbar, weil Entrenchment-Prozesse in Kontaktvarietäten mit typologisch unterschiedlichen Kontaktsprachen verglichen werden könnten. Morphosyntaktische Variation in der sibirischen Region Krasnojarsk 19 Solche Vergleichsuntersuchungen könnten erklären, warum z. B. bestimmte morphosyntaktische Muster seltener auftreten als andere. Des Weiteren könnte ermittelt werden, ob es ähnliche morphosyntaktische Muster gibt, die sich trotz unterschiedlicher Kontaktsprachen herausgebildet haben. Literatur Andersen, Christiane (2016a): Syntax in Contact. Word Order in a Contact Variety of German Spoken in Eastern Siberia. In: Journal of Language Contact 9. 2. S. 264-292. Andersen, Christiane (2016b): Nachfeld im Kontakt. Eine Korpusuntersuchung am Russlanddeutschen in Sibirien. In: Göteborger Arbeitspapiere zur Sprachwissenschaft 6. https: / / gupea.ub.gu.se/ bitstream/ 2077/ 52526/ 1/ gupea_2077_52526_1.pdf (23.05.2018). Andersen, Christiane (2016c): The Status of Russian German in Siberia. A Case Study of Four Women Living in the Region of Krasnoyarsk (Russia). 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Vor dem Hintergrund der prinzipiell geltenden sprachlichen Norminstabilität finden Prozesse der Regularisierung starker Verben statt, die natürlichkeitstheoretischen Voraussagen folgen und partielle Ähnlichkeit zur Regressionshypothese aufzeigen. Die Vereinfachungen unterliegen jedoch gewissen Schwankungen, für die der Beitrag (abschließend) sowohl sprachinterne als auch -externe mögliche Gründe anführen wird. 1 Einleitung und Fragestellung Wer im Erwachsenenalter eine Fremdsprache lernt, der sieht sich mit den verschiedensten Herausforderungen konfrontiert. Angefangen bei der authentischen Aussprache andersklingender Laute über das Memorieren unbekannter Vokabeln bis hin zum Erlernen neuer grammatischer Strukturen: Der Erwerb einer Sprache gestaltet sich in der Regel alles andere als einfach. Dies gilt erst recht, wenn man den Sekundärspracherwerb mit dem Erstspracherwerb eines Kindes vergleicht. Dieses eignet sich komplexe sprachliche Strukturen innerhalb von nur wenigen Jahren an. Einem Schwamm ähnlich saugt es den sprachlichen Input der Umwelt auf und gibt diesen schon sehr bald in wohlgeformten Sätzen wieder. Nach etwa vier bis fünf Jahren treten bei einem Kind alle für eine Sprache grammatikalisch relevanten Strukturen auf und werden auch überwiegend korrekt geäußert (vgl. Szagun 2006: 59ff.). Doch trotz der verschiedenen Erklärungsansätze, die die Spracherwerbsforschung und benachbarte Diszipli- 22 Edgar Baumgärtner nen bis heute hervorgebracht haben, ist man immer noch weit davon entfernt, das Wunder des Sprachenlernens umfassend erklären zu können. Als mindestens ebenso spannend erweist sich die Untersuchung eines Bündels von Phänomenen, die ontogenetisch zwar erst sehr viel später auftreten, phylogenetisch aber nur unerheblich jünger sind als Prozesse des Aufbaus von Sprachen selbst (vgl. Crystal 2000: 68). Damit ist das Verlorengehen von Sprachen gemeint. So unterschiedliche Prozesse wie Sprachabbau, language attrition, Sprachverlust oder Aphasie einerseits sowie Sprachwechsel und Sprachtod 1 andererseits unterscheiden sich zweifelsfrei stark voneinander. Die verschiedenen Forschungsbereiche lassen sich mit Kriterien wie individuell vs. kollektiv, intravs. intergenerationell oder pathologisch vs. nicht-pathologisch voneinander abgrenzen, um nur einige zu nennen. Ein bestimmtes Merkmal jedoch findet sich über die verschiedenen Theorieschulen hinweg immer wieder und kann mit Reduktion und Simplifizierung bzw. Regularisierung sprachlich komplexer Strukturen beschrieben werden. Zwar laufen in untergehenden Sprachinseln nicht zwingend nur Prozesse der Vereinfachung ab (vgl. etwa Huffines 1994). Tendenziell scheinen jedoch eher solche Sprachgemeinschaften zu sprachlichen Regelvereinfachungen zu neigen, deren Träger(innen) die eigene Sprache einst ins Ausland migrierten, dort seitdem und vor allem heute eine Minderheit darstellen und von einer dominanten Kontaktsprache umgeben sind, zu der sie aufgrund mangelnder dachsprachlicher Fixierung des Deutschen im Laufe der Zeit wechselten. 2 In diesem Artikel wird es um zwei (Kontakt-)Varietäten des Deutschen gehen, auf die die vorausgehende Beschreibung zutrifft. Es soll die Frage erörtert werden, welche Tendenzen der Vereinfachung sich in der Verbalmorphologie der beiden verschiedenen, teilweise konvergenten Dialekte beobachten lassen. Vor allem einige Formen des Partizip-II, der 2./ 3. Ps. Sg. Präsens sowie wenige For- 1 Wie Riehl in ihrer Klassifikation anmerkt, muss Sprachwechsel nicht zwangsläufig zu Sprachtod führen, was zweifellos für das Deutsche gilt, das „ja noch […] in anderen Ländern“ gesprochen wird (Riehl 2014: 185). Ob jedoch die lange Zeit isolierten und teilweise konvergenten Dialektvarietäten russlanddeutscher Sprecher(innen) nach deren Verschwinden außerhalb von Osteuropa und dem asiatischen Teil der ehemaligen Sowjetunion weiterhin gesprochen werden, ist stark zu bezweifeln. Insofern wäre auch in diesem speziellen Fall von Sprachtod die Rede, wie es z. B. Campbell (1994) für verschiedene Dialekte einer Sprachfamilie behauptet, die in Sprachinseln und somit außerhalb des ursprünglichen Territoriums (bald nicht mehr) gesprochen werden. 2 Inwiefern die Metapher der ‚Sprachinsel‘ die Realität noch treffend beschreibt oder ob in Bezug auf Russland, die postsowjetischen und die anderen Länder, in denen deutsche Varietäten gesprochen werden, vielmehr von Spracharchipelen die Rede sein müsste (für dieses Sprachbild vgl. Steffen/ Altenhofen 2014), kann und soll hier nicht geklärt werden. Für eine methodische und inhaltliche Verortung des Begriffs in der Forschungstradition vgl. Mattheier (1996) oder auch Wiesinger (1983; 2012). „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 23 men des Präteritums zeigen Regularisierungen auf, die an den frühkindlichen Spracherwerb erinnern. Bei diesem Vergleich drängt sich die oft diskutierte Frage auf, ob der Abbau sprachlicher Kompetenzen als Spiegelbild von Aufbauprozessen beschrieben werden kann. Übereinstimmungen mit sowie Abweichungen von dieser postulierten Symmetrie, die als Regressionshypothese bekannt ist und von Roman Jakobson stammt ([1944] 1969), werden im Laufe des Beitrags angerissen und am Ende des Artikels kurz diskutiert. Als empirische Grundlage für die Belege, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, dienen selbst erhobene Sprachdaten aus dem DNR, der sich in der Kulundasteppe der Altai-Region Russlands befindet. 3 Wie sich die Gewährsleute zusammensetzten, die ich im Frühjahr 2016 bat, die frog story im ortsüblichen Dialekt wiederzugeben, wird in einem Schritt zuvor ebenso erläutert wie die theoretischen Annahmen, auf denen die vorliegenden Überlegungen basieren. 2 Theoretische Auseinandersetzung und Grundannahmen Die Regressionshypothese wurde von Jakobson im Bereich der Phonologie für den Erwerb der Kindersprache sowie den pathologisch induzierten Sprachverlust entwickelt und erstmals auf Deutsch 1944 publiziert. Damit lassen sich einige der für den funktionalen Strukturalismus sowie die Natürlichkeitstheorie grundlegenden Annahmen illustrieren. Demnach spielt für die Wahrnehmung und somit das Erlernen der Phoneme einer Sprache deren Distinktion eine wesentliche Rolle. Aus dem maximal möglichen Abstand zweier Einheiten ergibt sich eine binäre Struktur von unmarkierten (natürlichen, einfachen) und markierten (spezifischen, differenzierten) Merkmalen, die sich aufgrund ihrer Funktionalität als Strukturprinzip von Kommunikationssystemen beschreiben lassen. Was laut einschlägiger Literatur alle Schulen des Strukturalismus teilen, „ist die Suche nach kleinsten klassifizierbaren Systemeinheiten und die strategische Trennung von Formen und Inhalt“ (Amborn 1992: 340). Doch eben diese Behauptung ist in Bezug auf Jakobson im Allgemeinen und die Markiertheitstheorie im Besonderen, wie sie ab den 1980er Jahren u. a. von Mayerthaler (1981) im Bereich der Morphologie entwickelt worden ist, stark zu hinterfragen. Sie postuliert eine „Relation zwischen Inhalts- und Ausdrucksseite“ (Ludwig 2001: 404), was im Widerspruch zur Vorstellung über die Arbitrarität von Zeichen und deren 3 Großer Dank gilt Larisa Moskaljuk, Tatjana Moskvina sowie Denis Ananin, die mir in Barnaul sowie vor Ort mit Rat und Tat zur Seite standen und durch ihren Einsatz diese Aufnahmen überhaupt erst möglich machten. Den Kontakt vermittelte Peter Rosenberg, dem ich ebenso danke wie der Studienstiftung des deutschen Volkes und der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die mich im Rahmen des Programms ‚Metropolen in Osteuropa‘ während dieser Zeit finanzierten. 24 Edgar Baumgärtner Bedeutung steht (vgl. Saussure u. a. [1916] 2001), wonach Formen keine natürliche Bedeutung besitzen. Diese werde vielmehr durch Gebrauch kollektiv konventionalisiert. Was in der modernen Linguistik als common sense bezeichnet werden könnte, wird in der Natürlichkeitstheorie in unterschiedlichem Maße infrage gestellt. 4 Aus Sicht der Natürlichkeitstheorie weisen mit Blick auf morphologische Strukturen in deutschen Sprachinseln die Arbeiten von Peter Rosenberg einen hohen Erkenntniswert auf. Er und sein Team verglichen die Kasusmorphologie vier verschiedener Dialektgruppen in zwei verschiedenen Ländern (Brasilien und Russland). In jedem Land entstammt jeweils ein Dialekt dem Niederdeutschen (Pomerano und Plautdietsch) sowie dem Oberbzw. Mitteldeutschen (Hunsrückisch und Katholisch). 5 Der darin verfolgte Ansatz der vergleichenden Sprachinselforschung macht es möglich, die Umgebungssprache als Einflussfaktor für Sprachwandel weitestgehend auszuklammern. Wenn übereinstimmende Entwicklungen in beiden Sprachinseln zu beobachten sind, sie also von den (dominanten) Strukturen der jeweiligen L2 unberührt bleiben, ist von strukturellen Entwicklungen auszugehen, die in der Dachsprache vermutlich aufgrund des hohen Normdrucks erst mit Verspätung auftreten. Genau das trifft auf den feststellbaren Kasussynkretismus in den Sprachinseln zu, der im Vergleich zum Standarddeutschen weiter vorangeschritten ist und Ähnlichkeiten zu Lernersowie dialektalen Varietäten in Deutschland aufzeigt (vgl. Rosenberg 2016: 203, FN 42). Dabei sind Nomina von den Abbauprozessen stärker betroffen als Personalpronomina, die wiederum eine höhere Resistenz aufweisen (vgl. Rosenberg 2016: 195). Was die Reihenfolge des Abbaus angeht, so fällt auf, dass dieser entlang einer „Achse der Markiertheit“ verläuft, an der zuerst der Genitiv abgebaut worden ist, der Dativ nur noch als „Empfängerkasus“ fortbesteht und schließlich der Akkusativ den „Objektkasus über alle Genera hinweg [vertritt]“ (Rosenberg 2016: 204). Es scheint kein Zufall zu sein, dass zuerst die stärker markierten Endungen abgebaut werden, die in der Ontogenese in Form einer analysierten Regel erst relativ spät erlernt werden, während die schwächer markierten Elemente, die in der „Ontogenese früher erworben und im Aphasiefall später verloren [werden]“ (Ludwig 2001: 402), als default-Kasus generalisiert werden (vgl. Rosenberg 2016: 182). Doch die implizite Gleichsetzung von früh erlernt und regulär einerseits sowie spät erlernt und irregulär an- 4 In einer starken Variante wird angenommen, dass selbst Allomorphe einen Rest an konkreter Bedeutung in sich tragen können. Für ein Beispiel dieser Lesart vgl. Leiss (1997). 5 Einige Ergebnisse des DFG-Projekts mit dem Titel ‚Irreguläre Morphologie in Sprachinseln‘ (2009-2016) sind bei Rosenberg (2003; 2005; 2016) zu finden. „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 25 dererseits stellt keine Universalie dar. 6 Zu sehen ist dies an der relativen Stabilität der Personalpronomina, von denen einige zwar früh erworben werden (vgl. Rosenberg 2016: 178), deren Bildung jedoch höchst irregulär erfolgt (Suppletion). Eine Erklärung dafür, warum diese so resistent gegenüber Abbau sind, sieht Rosenberg darin, sie als „residuale, lexikalisierte Formen“ sowie „geschlossene Klasse, die offenbar auf andere Weise lexikalisch gespeichert werden als offene Klassen“, zu beschreiben (vgl. Rosenberg 2016: 178, 198). Ähnlich gestaltet sich die Lage in der deutschen Verbalmorphologie starker und schwacher Verben. Partizipien etwa werden beim Lernen der deutschen Sprache schon sehr früh geäußert, und zwar „vor Abschluss des zweiten Lebensjahres […]. Diese ersten sehr seltenen Partizipien sind oft korrekte Formen, unabhängig davon, ob es reguläre oder irreguläre Formen sind“ (Rothweiler 2015: 274). Letztgenannte werden von Spracherwerber(inne)n vermutlich als chunks aus dem Input übernommen. Danach treten erste Fehlertypen auf (Auslassung von Prä- oder Suffix), bevor das Dentalsuffix -(e)t schwacher Verben bis ins vierte Lebensjahr hinein übergeneralisiert wird, und zwar auch auf ehemals korrekt gebildete starke Verben (zweiter Fehlertyp, vgl. Rothweiler 2015: 274). Schließlich wird im weiteren Verlauf die Ausnahme von der Regel neu erlernt. Nach Pinker (2000) verfügen Kinder über zwei verschiedene Mechanismen, die auch Rosenberg für die Erklärung seiner Personalpronomina heranzog und die mit Merk- und Kombinationsgedächtnis umschrieben werden können. Während beim Merkgedächtnis die hohe Gebrauchsfrequenz typenschwacher starker Verben zumindest deren frühe korrekte Bildung zu erklären vermag, ist beim Kombinationsgedächtnis noch unklar, wie Kinder reguläre Flexive und deren „Eigenschaften, die sie von irregulären unterscheiden, […] so früh erkennen können“ (Rothweiler 2015: 275) und in der Folge nicht etwa das -en Suffix übergeneralisieren. In der Forschung zum Spracherwerb sind derlei Übergeneralisierungen zwar tatsächlich belegt. Doch wie Bittner (1996: 68) anmerkt, ist vielmehr „die anhaltende Generalisierung der ‚schwachen‘ Bildungsweise für das Deutsche kennzeichnend“. Das Zitat stammt aus demjenigen Werk, das sich wohl am eingehendsten mit der Wanderung von Verben über Flexionsklassen hinweg auseinandersetzt. Die Schwächung starker Verben (mit Stammmodulation) wird darin als systematischer Abbau markierter Strukturen hin zu affigierenden Verfahren beschrieben, der in einer bestimmten Reihenfolge vonstatten geht. Die viel zitierte Implikationshierarchie nach Bittner (1996: 80, 183), die sich modifiziert bei Nübling u. a. (2013: 210) oder auch Nowak (2016: 130) wiederfindet, zeigt nicht nur, welche Merkmale dabei zuerst abgebaut werden, sondern 6 Vermutlich werden deshalb Behauptungen, die diesen Zusammenhang postulieren, in der Literatur eher vorsichtig formuliert, wie etwa bei Waugh/ Lafford (2000: 276), die von einer „association of marked terms with lesser universality and later learning by the child“ sprechen. 26 Edgar Baumgärtner auch, dass „eine rein dichotomische Einteilung in ‚maximal natürliche‘ und damit reguläre schwache Verben und ‚minimal natürliche‘ und damit (eher) irreguläre starke Verben sehr vergröbernd ist und weiter verfeinert werden kann“ (Nowak 2016: 130). Bittner erweitert die zugrunde liegenden natürlichkeitstheoretischen Annahmen um differenzierte Merkmale, die sich aus dem spezifischen Verhalten der Flexionsklassen ableiten lassen. 7 In diesem Zusammenhang geht er auch auf die Frage ein, warum das am stärksten markierte Verfahren der Suppletion nicht im Widerspruch zur Natürlichkeitstheorie stehen muss (vgl. Bittner 1996: 27, 195). Er bezeichnet die hohe Gebrauchsfrequenz sowie Kürze und Differenzierung suppletiver Formen nicht als Explanans, sondern Explanandum, also abgeleitetes Phänomen von „funktionaler bzw. semantisch-pragmatischer Relevanz“ der zu dieser Klasse gehörenden Verben, die dem „unmittelbaren Erfahrungsbereich des Menschen“ entstammen oder „spezifische Funktionen bei der grammatischen Strukturbildung […] erfüllen“ (Bittner 1996: 31). 8 Dieser Umstand erklärt auch die höhere Wandelresistenz stark suppletiver Verben, die nicht gruppierend-relational, sondern individuell symbolisieren (vgl. Bittner 1996: 28). Im Gegensatz zu nichtschwachen Verben, die gewissermaßen alle früher oder später fallen (vgl. Bittner 1996: 82, 210), werden Verben der engeren Suppletionsdomäne […] beim Spracherwerb des Kindes sehr früh erlernt und häufig gebraucht […]. Suppletion innerhalb ihrer Domäne entzieht sich auch im Spracherwerb nach anfänglichen Schwankungen einer weitgehenden ‚Regularisierung‘. Für sie werden lexikalischer Erwerb und Verwendung sehr bald als ‚Normalverfahren‘ akzeptiert. Sie sind von später einsetzenden Generalisierungs- und Regularisierungsprozessen nicht oder nur partiell betroffen, während außerhalb der Suppletionsdomäne auftretende suppletive und ‚irreguläre‘ Formen in den Flexionsparadigmen fast immer abgebaut werden […] (Bittner 1996: 82). Für den Abbau markierter Strukturen, den die Natürlichkeitstheorie mit grammatischem Wandel gleichsetzt (vgl. Bittner 1996: 38, 183, 195ff.), führt Bittner außersprachliche Faktoren wie „Normierung der Sprachentwicklung, die Überbewertung der Schriftsprache und damit des scheinbar statischen Charakters von Sprache und der doch überwiegend konservative Grundzug der germanistischen Linguistik in nhd. Zeit“ (Bittner 1996: 82) ins Feld. 7 Vergleiche Nowak (2016: 131, 145), die das Fehlen von Ablautalternanzen als Merkmalbestimmung von Flexionsklassen kritisiert und gleichzeitig in das Modell von Bittner integriert. 8 Auch Rosenberg (2016: 183) argumentiert mit hoher Frequenz, bezieht diese jedoch auf reguläre Strukturen (und meint damit vermutlich die Kategorienbzw. Typenfrequenz): „Frequenz scheint jedoch eher die Folge denn die Ursache von Unmarkiertheit zu sein.“ „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 27 Ob und inwiefern man den Sprachgebrauch im Altai als konservativ bezeichnen kann, ist fraglich. Doch sowohl das Fehlen einer Schriftlichkeit als auch sprachnormierender Instanzen lassen in der Sprachinsel des DNR eine Umgebung entstehen, in der Prozesse des Wandels gewissermaßen vorgespult betrachtet werden können. „Seit dem späten 19. Jahrhundert sahen sich zahlreiche Sprachinseln […] einem zunehmenden Eingliederungsdruck nationaler und lokaler Behörden ausgesetzt“ (Rosenberg 2003: 278), was in Verbindung mit steigender Mobilität zu einer starken Diglossie einerseits sowie Verlust von traditionellen, kulturellen und auch sprachlichen Normen andererseits führte. Nach Coseriu „[beginnt und entwickelt sich] Sprachwandel immer als ‚Verschiebung‘ einer Sprachnorm“ (1974: 119). In Anbetracht der zunehmend wichtigeren Rolle des Russischen in der jüngeren Generation und Verdrängung der (intendierten) hochdeutschen Standardsprache, die ehemals noch in den deutschen Schulen und Kirchen als normstabilisierender Gegenpol für die verschiedenen Dialekte diente, fungiert der kulturelle und damit auch sprachliche Kontakt mit dem Russischen als Katalysator für rapide ablaufende Wandelprozesse. Von eben diesem Umstand macht heute eine steigende Anzahl von Sprach(insel-)forscher(inne)n in ihren Untersuchungen Gebrauch, was sich unmittelbar in diesem Band und der zugrunde liegenden Konferenzreihe niederschlägt. 9 3 Datenerhebung und Vorgehensweise Im Laufe von zehn Tagen sind Sprachdaten aus verschiedenen Gemeinden im DNR gesammelt worden (Schumanovka, Podsosnova, Kusak, Kamyschi). Dabei sprach ich mit insgesamt 28 Gewährsleuten in 22 verschiedenen Formationen, was einen Gesamtumfang von sieben Stunden Gesprächsmaterial ergab. Im Vorfeld wurden drei verschiedene Settings vorbereitet: 1. Fragebogengestützte Interviews mit Informationen zu Alter, Geschlecht, (sprachlichem) Selbstverständnis, Dialektzugehörigkeit, Sprachgebrauch und Anwendungsbereich der Dialekte im Alltag, 2. Übertragung der Wenker-Sätze sowie 3. Wiedergabe der Froschgeschichte Frog, where are you? (Mayer 1969). Ausgewertet sind lediglich die Froschgeschichten (10 Aufnahmen, ca. 60 Gesprächsminuten), die sich als Erhebungsmethode in der Spracherwerbsforschung etabliert haben (vgl. Berman/ Slobin 1994). Bei der Instruktion der Froschgeschichten sind die Gewährsleute einleitend gefragt worden, ob sie selbst Kinder oder Enkel haben und, 9 Das u. a. von Hans Boas untersuchte Texasdeutsche ist „vom Aussterben bedroht“ (Boas 2016: 12), und auch in Australien ist für den Fall des Barossa-Deutschen von „Reliktvarietäten“ und „Spracherosion“ die Rede (Riehl 2016: 251ff.). Einzig das Namdeutsche, dessen sich zuletzt Wiese u. a. (2014) annahmen, scheint eine Ausnahme mit Blick auf die Vitalität der Sprache darzustellen. 28 Edgar Baumgärtner wenn ja, ob sie diesen Geschichten (zum Einschlafen) vorlesen. Die Erwartung, dass die meisten diese Frage bejahen würden, erwies sich fast ausnahmslos als korrekt. Diejenigen, die verneinten, konnten sich trotzdem vorstellen, die Froschgeschichte einer imaginierten (und in zwei Fällen tatsächlich vorhandenen) Person zu verzählen, wie es im Dialekt heißt. Zwei der zehn Froschgeschichten sind auf Katholisch (Mischvarietät aus westoberdeutschen Dialekten) und acht weitere auf Lutherisch (Mischvarietät aus westmitteldeutschen Dialekten) verfasst. Das Geschlechterverhältnis unter den Gewährsleuten ist alles andere als ausgewogen (neun Frauen und ein Mann). Ähnliches gilt für die soziale Struktur, denn sechs der insgesamt 15 beteiligten Sprecher(innen) sind Deutschlehrkräfte. 10 Im Folgenden sollen einige Zahlen zum Gebrauch der Tempora und Verbalmorphologie sowie einige Belege der Vereinfachung verschiedener Verbparadigmen vorgestellt werden. 4 Datenanalyse und Diskussion der Belege Bei der Wiedergabe der Froschgeschichte stellt das Perfekt das Standardtempus für Vergangenheitsformen dar, während das Plusquamperfekt zwar in seiner standardsprachlichen Funktion der Verortung vorvergangener Ereignisse bekannt ist, dafür jedoch kaum gebraucht wird. Es überrascht außerdem nicht weiter, dass das Präteritum nur noch in hochfrequenten lexikalisierten Suppletivformen (hatte, war), Modalverben (konnte, musste) sowie als geschwächte Form des starken Verbes kommen auftaucht (siehe weiter unten). 11 Es ergibt sich somit ein klares Bild, was den Gebrauch der Tempora angeht, das in Abbildung 1 nachvollzogen werden kann: 10 Die Aufnahmen wurden nach der orthografischen Methode in EXMARaLDA transkribiert und in eine alignierte Form nummerierter Abschnitte (events), die mit timecodes (TC) versehen sind, gebracht. Die Daten sind allerdings nicht annotiert, sondern lediglich händisch in Bezug auf die relevanten Bereiche getaggt worden. 11 Nach Abraham/ Conradie (2001) ist der oberdeutsche Präteritumschwund auf die Vorteile in der Diskursgrammatik hörerfreundlicher Sprechsprachen zurückzuführen, was Rosenberg (2016: 187) mit Verweis auf Pinker (2000) durch Hörerökonomie als Eigenschaft von Regularität beschreibt. „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 29 Abb. 1: Token- und Typenfrequenz des Präsens (Säulen mit diagonalen Streifen) sowie Vergangenheitstempora (gepunktete Säulen mittig) mit absoluter Typenfrequenz (karierte Säulen rechts) und prozentualem Anteil (schwarze Säulen links) Zwar wird die Geschichte nicht selten mit dem genretypischen es wor o mol begonnen, doch das einleitende Präteritum wird jenseits der schon genannten Formen für die Wiedergabe der Bildergeschichte nicht beibehalten. Stattdessen kontrastiert die „predominant tense form“ des Präsens (Bamberg 1994: 194) 12 mit dem Perfekt. Der Gebrauch dieser Strategie, die Bamberg als „prospective relevance“ (Bamberg 1994: 194; Hervorhebung im Original) bezeichnet, unterscheidet sich von dem der erwachsenen Sprecher(innen) darin, dass sie Ereignis und Folge auf Satzebene häufig in kontraikonischer Reihenfolge wiedergeben. Diese Art der Narration erfordert nicht nur temporale bzw. kausale Konjunktionen, sondern übt bei den Rezipient(inn)en auch einen erhöhten Interferenzdruck aus. Wenn temporale Konjunktionen im Froschkorpus überhaupt eingesetzt werden, dann nur ausgesprochen selten mit einer Verkehrung der ikonischen Satzreihung, wie im folgenden Beispiel zu sehen: 13 12 Bamberg vergleicht die Erzählungen von jeweils zwölf Kindern in den Altersgruppen 3, 5 und 9 mit denen von zwölf Erwachsenen. 13 Die Verwendung von wie im Sinne von als bzw. nachdem ist im Froschkorpus sehr verbreitet und bestätigt die Ergebnisse der Dissertation von Trubavina (2012), die den deutschsprachigen Sprecher(inne)n des Altais eine niedrige Formenvielfalt nebensatzeinleitender Konjunktionen attestiert, womit eine hohe Polyfunktionalität derselben einhergeht. 30 Edgar Baumgärtner (1) und dea MORrent wie die WAcker sont 'g'worren der HUND mit dem KEALsche ‚Und am Morgen, nachdem sie wach geworden sind, der Hund mit dem Kerlchen, hebbe se des лягушка net mea ge# geFUNna haben sie den Frosch nicht mehr gefunden.‘ (01-01NA, 37, w, L; event 53, TC 10: 26) 14 In Abbildung 1 beziehen sich die Frequenzen noch auf die angeführten Tempora, sodass ein und dasselbe Lexem in beiden Kategorien auftauchen kann. Wenn es darum geht, einen Überblick über die Typen- und Tokenfrequenz verschiedener Flexionsklassen zu erhalten, können intraparadigmatische Formen desselben Lexems nicht doppelt gezählt werden, sondern müssen nach deren Klassenzugehörigkeit gelistet werden. 15 Was eben diese Einteilung angeht, lehne ich mich an Bittners Klassifikation (1996: 84) an, bei der schwache Verben sowie Modalverben jeweils eine eigene Gruppe bilden. Anders als Bittner werden die verschiedenen (Teil-)Flexionsklassen starker Verben im Folgenden nicht differenziert. In dieser Gruppe findet sich außerdem das nicht nur „in der Umgangssprache und in den meisten Mundarten als Hilfsverb fungierende“ tun (Bittner 1996: 94), das im Froschkorpus nicht so häufig belegt ist wie in anderen russlanddeutschen Textarten (vgl. Moskaljuk 2012). Bittner zählt es ebenso zur Suppletionsdomäne wie das von einigen Charakteristika näher an den schwachen Verben verortete (Hilfs-)Verb haben, 16 welches hier wiederum in die Gruppe der irregulären Verben eingeordnet wird. Im Standarddeutschen zeigt es sehr viel weniger suppletive Züge als sein und werden, doch in den hier untersuchten Kontaktvarietäten ist es so stark gekürzt und differenziert (vgl. ich heb, er het, mir hen), dass ein solches Vorgehen legitim erscheint. Tabelle 1 soll 14 Die erste Zahl gibt die Reihenfolge der von mir geführten Gespräche an, die zweite wiederum, wie viele Gewährsleute daran teilnahmen sowie deren Namenskürzel. Danach folgen das Alter der Teilnehmer(innen) sowie Geschlecht und Dialektbezeichnung (L = Lutherisch, K = Katholisch). Die dann folgenden Angaben beziehen sich auf die Verortung des Belegs in der Transkriptionsdatei. Eine Interlinearglossierung wurde lediglich bei den zur Diskussion stehenden Verben vorgenommen, die in den Belegen unterstrichen sind. Bei den ebenfalls stark regularisierten (pro-)nominalen Kasusendungen wurde darauf verzichtet. Code-Switches sind fett gedruckt, was auch für die standardisierten Übersetzungen in einfachen Anführungszeichen gilt. 15 Ebenso wenig werden unterschiedliche Partikel- und Präfixverben, die semantisch kongruent sind (vgl. fortgehen und nausgehen), doppelt gezählt. 16 Zu dieser (Teil-)Flexionsklasse gehören solche Verben wie denken, kennen, bringen, die „dem Strukturbildungsprinzip der ‚schwachen‘ Verben [entsprechen], […] aber neben dem -(e)t-Suffix auch Ablaut im Präteritum und Umlaut im Konj.Prät. [haben].“ (Bittner 1996: 99). „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 31 einen Überblick über die Kategorien- und Gebrauchsfrequenz der im Korpus beinhalteten Verben geben: Tab. 1: Typen- und Gebrauchsfrequenz (ir-)regulärer Verben im Froschkorpus Wenn man sich an der Bittner-Skala von links nach rechts entlanghangelt, stehen geschwächte Imperativformen an erster Stelle. Die narrative Struktur der Froschgeschichte förderte jedoch nur zwei Imperativformen zutage, und zwar kuck! und wart! . An diesen lässt sich jedoch keine Schwächung demonstrieren. Dies ändert sich bei der Analyse unterschiedlicher Präsensformen. Insgesamt sieben verschiedene Verben werden 15 Mal ohne Vokalwechsel in der 2./ 3. Ps. Sg. gebildet: 32 Edgar Baumgärtner (2) dann FOLL-T de hund RUNnar fallen-PRS.IND.3SG hat die BONke 17 verSCHLAje ich krawwel raus bin BEJS ‚Dann fällt der Hund runter, (er) hat die Dose zerschlagen, ich klettere heraus, (und) bin böse.‘ (15-01HS, 37, m, L; event 30, TC 25: 35) Das Ausbleiben des Umlauts in der 2./ 3. Ps. Sg., der prototypisch für die starken Verben ist, unterliegt stellenweise einer gewissen Schwankung. Nach anfänglicher Vereinfachung von nehmen rutscht der eben angeführte Sprecher beispielsweise in das standarddeutsche Muster eines anderen Verbs zurück (‚ich lauf[e]‘), bevor er wieder auf den Umlaut verzichtet: 18 (3) NEHM-T mich uf die HERner und ich lauf-ø FORT und ich # nehmen-PRS.IND.3SG laufen-PRS.IND.1SG ‚(Er) nimmt mich auf die Hörner und ich laufe fort und ich …‘ der laf-t mit mich FORT und de HUND springt vorne WEG laufen-PRS.IND.3SG ‚Der läuft mit mir weg und der Hunde rennt vorne hinweg‘ (15-01HS, 37, m, L; event 57, TC 27: 15) Beim eigentlich kaum mehr belegten Präteritum fällt auf, dass das Dentalsuffix von drei verschiedenen Gewährsleuten auf das starke Verb kommen ausgeweitet wird, was nicht nur an Regularisierung, sondern auch an Übergeneralisierung im Spracherwerb des Deutschen erinnert (vgl. Dittmann 2010: 87): (4) KOMm-te sie in nem WALD kommen-PRÄT.IND.3SG ‚Sie kamen in einen/ zu einem Wald‘ (11-01IL, 38, w, L; event 22, TC 09: 46) Im Zuge des angedeuteten Vergleichs mit Strukturphänomenen des kindlichen Spracherwerbs ist die fast schon obligatorische Auslassung des ge-Präfixes in Partizip-II-Formen erwähnenswert (s. o., erster Fehlertyp), wie sie der nächste Beleg illustriert: 17 Es handelt sich bei ‚Bonke‘ (bzw. ‚Bonka‘ oder auch ‚Bonga‘) um eine phonologisch stark integrierte Entlehnung aus dem Russischen (банка), die meiner Einschätzung nach in den Dialekten nicht mehr als Fremdwort gewertet wird. 18 Diese Variation in der Wechselflexion wird übrigens auch von Moskaljuk/ Trubavina (2014) in der russischsprachigen Grammatik aller drei Dialekte, die im DNR gesprochen werden, beschrieben. „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 33 (5) jetzt kommt # jetzt isch=er her’KOMm-a to n обрыв sein-AUX.PRS.SG=er herkommen-PART.II ‚Jetzt kommt, jetzt ist er an einer Steilwand angekommen‘ (06-02RSIR, 58, 76, w, K; event 187, TC 25: 31) Obwohl oftmals ganz reduziert, wie etwa durchgehend im Falle des perfektiven Partizips gerettø, ist im vorliegenden Korpus die schon angesprochene Übergeneralisierung des -en Suffixes bei drei Verben belegt (gehoppsen, gekrawwen, økrieschen). Während kreischen tatsächlich einmal zur starken Gruppe gehörte (vgl. Bittner 1996: 103, 110) und seine starke Bildung somit leichter nachvollziehbar ist, tritt die schwache Form von krabbeln (gekrabbelt) mit einer Gebrauchsfrequenz von 24 token sehr viel häufiger auf als sein starkes Pendant. Anders sieht es bei hoppsen aus, welches zwei Mal schwach (gehoppst) und sechs Mal stark gebildet wird. Die Häufung von gehoppsen tritt jedoch bei lediglich einer Informantin auf, was das Phänomen der vermeintlichen Stärkung des schwachen Verbes zusätzlich relativiert. Wie sie selbst zugibt, fällt es ihr nicht so leicht, im Dialekt zu sprechen: на диалекте щас это сказать, щас я вспомню немножко это (‚gleich werde ich mich erinnert haben, wie man das im Dialekt sagt‘; event 34, TC 04: 48) bzw. zweifelt sie die Authentizität der von ihr im Dialekt wiedergegebenen Geschichte an: na das war nicht ganz Dialekt, Mundsprache, weil überhaupt, ich muss sagen … (event 117, TC 10: 25). Der Wunsch, besonders richtiges bzw. gutes Deutsch sprechen zu wollen, interferierte vermutlich mit dem Faktor der Unsicherheit in der eigenen Dialektkompetenz. Ähnlich ließe sich auch in Bezug auf die schon erwähnten Formen von komm-te(n) argumentieren, wobei der Versuch, das Präteritum zu bilden, die literatursprachlich korrekte Ebene repräsentiert, während mit dem Dentalsuffix die einzig verbliebene, produktive Strategie der Tempusmarkierung durch Affigierung gefahren wird. Diese ist nicht nur von den typenstarken schwachen Verben im Partizip-II bekannt, sondern kommt auch bei spontan entlehnten Fremdwörtern zum Einsatz: (6) NO und die faMIlje die hen all sche провоЖА-(j)et haben-AUX.PRS.PL провожать-PART.II ‚Nun, und die Familie, die haben alle schön (zum Abschied) begleitet (= sich verabschiedet).‘ (13-01NGe, 38, w, L; event 77, TC 05: 30) Ähnlich wie die Gruppe der regularisierten präsentischen Formen starker Verben verhält sich die der Partizip-II-Formen. Acht verschiedene Verben mit Dentalsuffix statt der Endung -en sind belegt, die insgesamt 16 Mal gebraucht werden, wie etwa im folgenden Beispiel: 34 Edgar Baumgärtner (7) henn se durchs FENster erscht kuckt ob noch koin g’seh-t hent gesehen-PART.II haben-AUX.PRS.PL ‚Sie haben erst durchs Fenster geschaut, ob sie noch niemanden gesehen haben (= ob sie schon jemanden gesehen haben).‘ (13-01NGe, 38, w, L; event 32, TC 02: 56) Die Formen von drei Wörterbucheinträgen sind im Korpus sieben Mal durchgehend schwach belegt, wobei sich für die Beispiele des wochst (‚das wächst‘) und getragt jeweils nur ein Beleg anführen lässt. Anders sieht dies beim Partizip von denken aus, welches in dieser Form schon sehr viel länger in Dialekten des Binnendeutschen belegt ist (vgl. Nübling u. a. 2013: 210) und deshalb nur schlecht als Argument für die Regularisierung starker Verben dient: (8) äh es hot geDENKT die лягушка wer DART abr dat wor nur äh nur äh ‚Äh, es hat gedacht, der Frosch sei dort, aber das war nur äh, nur äh …‘ (01-01NA, 37, w, L; event 67, TC 11: 46) Sehr häufig ist es der Fall, dass die verschiedenen Konjugationsformen eines Lexems schwanken, wie oben schon für den Vokalwechsel im Präsens gezeigt. (9) ELF ja ELCH jaja ELCH - üüü - isch ins WASser reigefall-t (…) sein-AUX.PRS.SG reinfallen-PART.II ins wassa neig’foll-e. und de HUND, ja wo is de HUND? reinfallen-PART.II der is auch ins WASsa g'fall-a sein-AUX.PRS.SG fallen-PART.II ‚Elf, ja Elch, jaja Elch. Ühh, der Junge ist ins Wasser reingefallen (…). Ins Wasser reingefallen. Und der Hund, ja wo ist der Hund? Der ist auch ins Wasser reingefallen.‘ (05-02ND, 77, ~50, w, L; event 81, 82 TC 30: 45) Derlei Schwankungen, die sich nicht nur auf den weit selteneren Fall der Wahl von Endungen (Dentalsuffix VS. -en) beschränken, finden sich interessanterweise auch beim Vergleich mit binnendeutschen Erwerbsdaten: (10) (…) die sind da weggelauft, sind weggelauft (…) da sind die hingelaufen (…) [G3d-3; 6] 19 (Bamberg 1994: 199; Hervorhebungen im Original) Um zu erklären, warum die identifizierten Regularisierungen einer solchen Variation unterliegen, lohnt sich ein Blick auf den attributiven Gebrauch des Partizips 19 Die letzte Angabe in eckigen Klammern bezieht sich auf das Alter der Person (Jahre; Monate). „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 35 als (nachgestelltes) Adjektiv, der vermutlich Prozesse der Regularisierung hemmt (vgl. dazu auch Nübling u. a. 2013: 212, FN 1): (11) liegt какой-то BOAM oamg'FALl-a umfallen-PART.II ‚Da liegt irgendein umgefallener Baum.‘ (06-02RSIR, 58, 76, w, K; event 216, TC 26: 45) Die folgende Abbildung 2 soll einen Überblick über die statistische Verteilung geschwächter starker Verben geben. Auf 11 verschiedene types von Verben, die im Lexikon standardsprachlich starke Bildungsweise, im Froschkorpus hingegen eine schwache Variante aufweisen, kommen insgesamt 34 token. Dieser vergleichsweise hohe Anteil relativiert sich etwas in den Zahlen zur Gebrauchsfrequenz solcher Verbformen: Abb. 2: Anteil geschwächter starker Verben an Gebrauchs- (gepunktete Säule) und Typenfrequenz (karierte Säule) Während in Abbildung 2 solche Lexeme, die in den verschiedenen Paradigmen eine schwache Formenbildung aufweisen, nicht doppelt gezählt wurden, 20 da es dabei allein um die Frage ging, wie hoch deren Anteil prinzipiell ausfällt, werden abschließend in Abbildung 3 alle 16 types aufgeführt, die irgendeine Form der Schwächung aufweisen, und in eine stark verkürzte Bittner-Skala einsortiert: 20 Nach einer solchen Zählweise wären es 14 Verben, was einen Anteil von etwa 31 % ausmacht. 36 Edgar Baumgärtner Abb. 3: Einordnung geschwächter Verben in vereinfachtes Stark-Schwach-Kontinuum nach Bittner (1996: 80) 21 5 Fazit Im Prozess der sprachlichen Erziehung wird die Dimension der „kindliche[n] Kreativität“ lange Zeit reguliert (Bittner 1996: 203). Noch bevor dann der Normierungsdruck einsetzt, werden im Spracherwerb, dessen strukturelle Ähnlichkeiten zum (hier beschriebenen) synchronen Sprachwandel unbestritten erscheinen (vgl. Bittner 1996: 203ff.), „weniger markierte Formen [generalisiert]“, auch wenn sie der Norm der Erwachsenensprache widersprechen. Über die Gründe dafür, warum die Schwächung starker Verben in der hier untersuchten Sprachinsel des Deutschen nicht im gleichen Maße zunimmt, wie sie im Zuge der Profilierung irregulärer Strukturen im Spracherwerbsprozess gehemmt wird, können an dieser Stelle nur Vermutungen angestellt werden. Trotz des angesprochenen Normverlustes in der Sprachinsel des Altai kann weiterhin (vor allem unter den Deutschlehrkräften) ein starker Wille zur Normloyalität beobachtet werden, der sicherlich auch kulturell bedingt ist. Dies gilt zwar nicht so sehr für die älteren Gewährsleute (> 50 Jahre), die einer Generation angehören, deren 21 Fett gedruckt sind in Abbildung 3 solche Lexeme, die zwei verschiedene Wandelcharakteristika aufweisen, und unterstrichen sind diejenigen, für die keine starke Variation belegt ist. Die Zahl in Klammern gibt schließlich die Gebrauchsfrequenz der Verben an. „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 37 Sprachgebrauch vermutlich am wenigsten standardsprachlich normiert ist. Die eingangs postulierte Norminstabilität wird aber im vorliegenden Korpus durch die Dominanz der sehr jungen Lehrkräfte, deren Sprachgebrauch oftmals stärker von ‚literatursprachlicher Orientierung‘ als von dialektsprachlicher Kompetenz geprägt ist, relativiert. Doch die Grenze im Bewusstsein von Zielnormen verläuft nicht allein zwischen solchen Sprecher(inne)n, die jung sind und sich professionell mit der deutschen Sprache auseinandersetzen, und solchen, die alt sind und sich mehr an ihren Dialekten als am Standarddeutschen orientieren. Auch in der Gruppe der Lehrkräfte selbst lassen sich Unterschiede erkennen, die vermutlich mit dem Sprachgebrauch zusammenhängen, von dem die Gewährsleute in den Interviews berichten. Die Informantin aus den Belegen (1) und (8) gibt etwa an, ausschließlich mit ihrer Mutter und zumeist am Telefon im lutherischen Dialekt zu sprechen, während sie mit ihrem Mann, der keinerlei Kenntnisse des Deutschen aufweist, nur Russisch spricht und mit deren gemeinsamen Kind, das Deutsch als Fremdsprache in der Schule lernt, gelegentlich Deutsch spricht. Im Bereich der Syntax schlägt sich dies in der äußerst standardnahen Verwendung von unmarkierten Hauptsätzen mit V2-Positionierung nieder (90 %), während die restlichen 10 % der geäußerten unabhängigen Sätze von der Informantin mit dem finiten Verb an erster Stelle realisiert werden. Ähnlich verhält es sich bei abhängigen Sätzen, von denen 95 % mit der gängigen V-letzt-Norm und nur 5 % mit V2 umgesetzt werden. Die ebenfalls Lutherisch sprechende Informantin aus den Belegen (6) und (7) hingegen, die nur ein Jahr älter ist, spricht laut Eigenaussage mit der ganzen Familie Dialekt und nur in ihrer Funktion als Lehrerin Standarddeutsch. In der von ihr wiedergegebenen Froschgeschichte weist knapp die Hälfte aller Hauptsätze V1-Struktur auf (47 %), und auch der Anteil der Nebensätze, die sich an der üblichen V2-Norm des Hauptsatzes orientieren, fällt mit 23 % erheblich höher aus. Grob formuliert lässt sich daraus die folgende Regel ableiten: Je älter die Informant(inn)en, je stärker deren Gebrauch des Dialekts im familiären Umfeld bzw. je seltener deren professionelle Auseinandersetzung mit der Standardsprache, desto wahrscheinlicher treten Vereinfachungen wie die Regularisierung starker Verben oder die Übergeneralisierung der Wortstellung von Hauptauf Nebensätze auf. Diese Vereinfachungen können als typologische Entwicklungen ökonomischer Art (sprachinterne Gründe) begriffen werden, die in Sprachgemeinschaften mit fehlenden Normierungsinstanzen und einer kleinen community schneller vorangetrieben werden (sprachexterne Gründe). 22 Wie genau die verschiedenen Faktoren im Einzelnen zusammen- 22 Wie die im Korpus festgestellte Variation erklärt werden kann, die in der vermehrten Verbspitzenstellung von Deklarativsätzen besteht und von standardnahen Typen, wie etwa Auer (1993) sie definiert, abweicht, bleibt an dieser Stelle ungelöst. Eine 38 Edgar Baumgärtner wirken, ist jedoch schwer exakt zu bestimmen und kann methodisch am besten durch den Vergleich ähnlicher Gruppen durchgeführt werden, in denen sich einzelne Variablen unterscheiden und damit isolieren lassen (vgl. wiederum den sprachinselvergleichenden Ansatz von Rosenberg 2003). In diesem Artikel lediglich angerissen wurde die Kritik von Nowak (2016), wonach man in die Implikationshierarchie der Schwächung starker Verben den Faktor der Ablautreihen integrieren müsste. Die Tatsache, dass die Bildungsweise des Präteritums lexikalisch gespeicherter Verben (war, hatte) sowie der starken Verben mit deren willkürlich erscheinender Vokalalternanz (Ablaut) weitestgehend opak ist, könnte einen weiteren Einfluss auf die Regularisierung starker Verben haben. Das mittlere Glied der Ablautreihe entfällt, und der damit einhergehende Zusammenfall des Ablautvokals in Präsens und Partizip-II könnte den Markiertheitsabbau fördern. 23 Die Tempusdifferenzierung von Präsens und Perfekt am Verb wird stark reduziert, womit ein Abbau synthetischer Mittel und eine Ersetzung durch analytische einhergehen. Dies schlägt sich nicht nur in der Wahl des periphrastischen Perfekts als Standardtempus nieder, sondern zeigt sich auch in der Bildung des Präsens, das vermehrt mit tun-Periphrasen geformt wird (vgl. Moskaljuk 2012). Schließlich bleibt zu sagen, dass trotz all der angedeuteten Ähnlichkeiten zum kindlichen Spracherwerb die eingangs angesprochene Regressionshypothese keine Bestätigung finden kann. Die festgestellten Abweichungen vom Prinzip des Last-In-First-Out, das auf Ribot (1883) zurückgeht, legen die Vermutung nahe, dass die Lagerhausmetapher zu einfach ist, um den Erwerb bzw. Verlust solch komplexer Systeme wie etwa Sprache zu erklären. Es lassen sich damit die Phänomene des Wandels sehr viel weniger systematisch erfassen als mit Hilfe der Klassifizierung starker und weniger stark markierter Morphologie, und zwar abhängig von individuellen und gruppenspezifischen Symbolisierungen. Mit diesen Gedanken erweiterte Bittner die Natürlichkeitstheorie in Bezug auf starke und schwache Verben (1996). Diese ist jedoch nicht nur auf die Struktur und den Wandel von Phonologie oder Flexionsmorphologie beschränkt. Schleifen sich Flexionsendungen in einer Sprache ab, wird wahrscheinlich ein Hypothese bestünde darin, die Möglichkeit der russischen Satzstruktur als Einflussfaktor anzunehmen, was jedoch der bisherigen Argumentation, sprachinterne und damit typologische Gründe für Wandelprozesse anzunehmen, entgegensteht. Auch die Tatsache, dass echte leere Vorfelder (und nicht etwa elliptische V1-Deklarativa) in deutschen Dialekten bestehen, spricht zumindest dafür, das syntaktische Potenzial deutscher Varietäten sowie funktionale Erklärungen anzunehmen. Für das Bairische tat dies Simon (1998), während das Kiezdeutsche von Wiese (2009) und genauer noch von Kizilkaya (2015) untersucht wurde. 23 In diese Argumentation passt die nur einmal belegte Partizip-II-Form geduen (‚getan‘), die auf den Präteritalablaut verzichtet und somit mit dem Präsensstamm übereinstimmt, dafür aber keine geschwächte Endung aufzeigt. „Henn se durchs Fenster erscht kuckt, ob noch koin gseht hent“ 39 anderer Bereich der Grammatik deren indexikalische bzw. deiktische Funktionen übernehmen. Eine sich in der Folge stabilisierende Syntax verteilt dann z. B. ikonisch die semantischen Rollen auf Satzebene (vgl. Bittner 1996: 25). 24 Abkürzungen AUX Auxiliarverb IND Indikativ PART.II Partizip II PL Plural PRÄT Präteritum PRS Präsens SG Singular Literatur Abraham, Werner/ Conradie, C. Jac (2001): Präteritumschwund und Diskursgrammatik: Präteritumschwund in gesamteuropäischen Bezügen: areale Ausbreitung, heterogene Entstehung, Parsing sowie diskursgrammatische Grundlagen und Zusammenhänge. Amsterdam/ Philadelphia. Amborn, Hermann (1992): Strukturalismus. Theorie und Methode. In: Fischer, Hans (Hrsg.): Ethnologie. Einführung und Überblick. 3., veränderte und erweiterte Aufl. Berlin/ Hamburg. S. 337-366. Auer, Peter (1993): Zur Verbspitzenstellung im gesprochenen Deutsch. In: Deutsche Sprache 21. 3. S. 193-222. Bamberg, Michael (1994): Development of Linguistic Forms: German. In: Berman, Ruth A./ Slobin, Dan I. (Hrsg.): Relating events in narrative: A crosslinguistic developmental study. Hillsdale, New Jersey. S. 189-238. Berman, Ruth A./ Slobin, Dan I. (Hrsg.) 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Mittlerweile stellt sich aber immer öfter die Frage der Nachhaltigkeit der erhobenen Spachinseldaten. Insbesondere in Bezug auf die vom Sprachtod bedrohten Varietäten, wie z. B. im Fall der russlanddeutschen Dialekte aus den noch intakten Sprachinseln der ehemaligen Sowjetunion, ist es äußerst wichtig, die existierenden Audioaufnahmen systematisch und dauerhaft zu archivieren. Aber nicht nur die Archivierung, sondern auch der freie und unkomplizierte Zugang zu diesen Materialien ist ein wesentlicher Aspekt im Konzept der Nachhaltigkeit. Wie sollte dieser Zugang aber gestaltet sein und in welcher Form sollen die Daten präsentiert werden? Auf genau diese Frage ist das Projekt „Elektronisches Wörterbuch. Ein Online-Informationsangebot zu Sprache und Dialekten der Russlanddeutschen“ eingegangen. In diesem Projekt wurden historische Tonaufnahmen russlanddeutscher Dialekte linguistisch aufbereitet und in Form einer strukturierten Russlanddeutschen Dialektdatenbank (RuDiDat) online veröffentlicht. Diese Datenbank ist frei verfügbar und ermöglicht die Recherche im Korpus des Russlanddeutschen. Der vorliegende Beitrag stellt die Datenbank vor und thematisiert Herausforderungen, die durch unterschiedliche Ausprägungsformen des Russlanddeutschen entstehen könnten, wenn man die im Internet freigegebenen Sprachinseldaten für vergleichende Analysen heranzieht. 1 Einleitung Russlanddeutsche Dialekte gibt es weltweit in unterschiedlichen Ausprägungen. In Russland bzw. der ehemaligen Sowjetunion, bis vor einigen Jahren noch dem Land mit den größten deutschen Sprachinseln der Welt, haben russlanddeutsche Dialekte einen plötzlichen Stillstand erfahren, indem die Sprecher im Laufe von nur wenigen Jahren in einer Massenauswanderung nach Deutschland ihre Wohnorte verließen und dadurch nahezu das Ende der Existenz der russlanddeutschen Sprachinseln herbeiführten. In diesem Land existieren gegenwärtig nur noch wenige einigermaßen gut funktionierende Sprachinseln, vor allem in den sogenannten „Deutschen Nationalrayons“ in den traditionellen Siedlungsgebieten der russlanddeutschen Minderheit (vgl. Berend 2011). In der 44 Nina Berend/ Elena Frick neuen soziolinguistischen Situation ist der Grad der Zweisprachigkeit sprunghaft angestiegen und die Dialektkompetenz gesunken, und die Heterogenität der ehemaligen Sprachinseln sowie die Verschiedenartigkeit der Sprachinselvarietäten wurden noch vielfältiger (vgl. Rosenberg 1994). Eine ganz andere Entwicklung haben die russlanddeutschen Varietäten auf dem amerikanischen Kontinent erlebt, so z. B. die Dialekte der Wolgadeutschen in Argentinien und in Kansas/ USA (siehe Schmidt 1997; Keel 1982; 2004) oder die zahlreichen Erscheinungsformen von niederdeutschen Dialekten der russlanddeutschen Mennoniten in Süd- und Nordamerika (siehe Kaufmann 1997; 2004, Rosenberg 2016). Bei diesen deutschen Auslandsvarietäten lässt sich noch eine gewisse „Standhaftigkeit“ beobachten, die sie bis jetzt noch vor dem völligen Untergang bewahrt. Gerade wegen ihrer Verschiedenartigkeit und der doch gemeinsamen russlanddeutschen sprachgeschichtlichen Entwicklungsphase bieten die Varietäten russlanddeutscher Provenienz äußerst interessantes Material für die Sprachkontaktforschung. Wie produktiv eine vergleichende Analyse der Sprachinselvarietäten sein kann und was sie zur Beschreibung der Sprachentwicklung und des Sprachwandels leistet, wurde in den letzten Jahren bereits an einigen Beispielen gezeigt (vgl. z. B. Berend 2003; Rosenberg 2003; 2016; Riehl 2012). Systematische vergleichende Analysen von Sprachinselvarietäten liegen jedoch bisher noch in einer sehr geringen Anzahl vor. Solche Vorhaben scheitern oft am Fehlen von Korpora, die vergleichbare Daten enthalten, bzw. daran, dass in einigen Fällen Korpora zwar vorliegen, sie aber für die Benutzung durch andere Forscher aus verschiedenen Gründen nicht zugänglich sind. Gerade für die Sprachinselforschung bzw. die „sprachinselbasierte“ Sprachkontaktforschung wären aber systematische vergleichende Analysen mit Zugang zu vorliegenden Daten aus mehreren Sprachinseln und Datenaustausch von allergrößtem Interesse. Die bisherige Vorgehensweise, wie sie in der Sprachinselforschung praktiziert wird, bringt nach der Meinung von Hans Boas mehrere Nachteile mit sich: Die bisher weit verbreitete Methode, nach der Forscher bzw. Forschergruppen in z. T. langjähriger Arbeit Daten für sich erhoben haben, um diese dann zu analysieren und die Ergebnisse zu veröffentlichen, trägt nur beschränkt zur produktiven wissenschaftlichen Diskussion bei, weil es Kollegen häufig unmöglich ist, Zugang zu bereits existierenden Daten zu erhalten (Boas 2016: 38). Er fügt hinzu, dass diese Vorgehensweise den wissenschaftlichen Austausch erschweren und eine systematische vergleichende Sprachinselforschung praktisch unmöglich machen würde. Dem ist generell zuzustimmen. Betrachtet man die Problematik etwas näher, so wären zunächst folgende Aspekte zu nennen: Erstens verringert der Online- Zugang zu bereits existierenden und im besten Fall transkribierten und annotierten Sprachdaten den Zeit- und Arbeitsaufwand, persönlich in die oft weit entfernt gelegenen Sprachinseln zu reisen, um Sprachdaten zu erheben, und Russlanddeutsche Dialekte online 45 diese anschließend in langjähriger Arbeit aufzubereiten. Zweitens würden die bereits erhobenen und mit der wissenschaftlichen Community geteilten Daten auch wesentlich zur Intensivierung der wissenschaftlichen Diskussion beitragen, denn Kollegen könnten dann die auf diesen Sprachdaten basierenden Untersuchungen besser nachvollziehen, überprüfen oder mit eigenen Daten vergleichen. Hinzuzufügen sei aus unserer Sicht noch, dass der Datenaustausch besonders wertvoll ist, wenn es sich um verschwindende oder bereits größtenteils nicht mehr existierende Varietäten handelt, wie z. B. im Fall russlanddeutscher Dialekte in den intakten Sprachinseln in der ehemaligen Sowjetunion. In gewissem Sinne handelt es sich hier um die Dokumentation bedrohter Sprachen. Aus diesem Grund wurde vor einiger Zeit am Leibniz-Institut für Deutsche Sprache (IDS) in Mannheim ein Projekt 1 mit dem Ziel gegründet, die Audioaufnahmen mit russlanddeutschen Sprachinseldialekten, erhoben in der Sowjetunion bis 1990, linguistisch aufzubereiten und allen Interessenten online zur Verfügung zu stellen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht das Ergebnis dieses Projekts - eine Russlanddeutsche Dialektdatenbank (RuDiDat). Im Folgenden werden zunächst die Zielsetzungen und Eckdaten des Projekts erläutert (Abschnitt 2) und das russlanddeutsche Dialektkorpus beschrieben, welches als Grundlage für die Erstellung der RuDiDat verwendet wurde (Abschnitt 3). Danach werden verschiedene Möglichkeiten zur Recherche in diesem Korpus vorgestellt, und es wird erklärt, wie das vorliegende Recherchetool genutzt werden kann (Abschnitt 4). Zum Schluss (Abschnitt 5) wird auf die Problematik einer vergleichenden Analyse der Sprachinselvarietäten eingegangen. Hier wird am Beispiel des Russlanddeutschen gezeigt, dass der Vergleich der Sprachinselvarietäten nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist und dass die Herausforderungen bereits bei der Dokumentation und Präsentation dieser Sprachinselvarietäten beginnen. 2 Hintergrund und Ziele des Projekts Das Projekt wurde durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) 2 gefördert. Erklärtes Ziel der Förderung durch diese Institution ist die dauerhafte Sicherung und öffentlichkeitswirksame Präsentation der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa. Besonders in Bezug auf 1 Der vollständige Titel des Projekts lautet „Elektronisches Wörterbuch. Ein Online- Informationsangebot zu Sprache und Dialekten der Russlanddeutschen“, Laufzeit: zwei Jahre. URL: http: / / www1.ids-mannheim.de/ prag/ abgeschlossen/ russlanddeutsch. html (19.05.2020). 2 https: / / www.bundesregierung.de/ breg-de/ bundesregierung/ staatsministerin-fuer-kulturund-medien (19.05.2020). 46 Nina Berend/ Elena Frick die Sprache der Russlanddeutschen bestand dringender Bedarf an wissenschaftlich fundierten Informationen über russlanddeutsche Dialekte und Sprachkorpora, die online zugänglich sind. An solchen Informationen besteht nach wie vor nicht nur von der wissenschaftlichen Seite her Interesse. Nicht zuletzt durch die Anwesenheit einer großen Gruppe von russlanddeutschen Aussiedlern in Deutschland lässt sich der verstärkte Bedarf an Wissen über diese Zuwanderer und ihre Sprache erklären. Das Thema war in den letzten Jahren in der universitären Lehre in Deutschland weit verbreitet (Sprachkontakt, Varietäten, Sprachinseln), und Korpora zum Russlanddeutschen - besonders aufbereitete Audioaufnahmen - sind dementsprechend gefragt. Auch bei den mit Aussiedlern in Kontakt tretenden Berufsgruppen (Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen etc.) sowie bei den Migranten selbst besteht großes Interesse an der Sprache der Russlanddeutschen. 3 Im Rahmen des Projekts wurde eine korpusbasierte Datenbank (RuDiDat) erarbeitet, die eine strukturierte Darstellung der Varietäten des Russlanddeutschen mit Schwerpunkt Wortschatz anbietet und auch erlaubt, sich diesen Wortschatz in Originaläußerungen der Sprecher aus dem Dialektkorpus anzuhören. Diese Datenbank wurde in eine Online-Plattform 4 integriert, die umfangreiche Informationen zur Geschichte, Verbreitung und zu den strukturellen Besonderheiten der deutschen Varietäten in Russland anbietet. (Die oben genannten wolgadeutschen und niederdeutschen Varietäten in Nord- und Südamerika und die deutschen Mischdialekte in Russland sind in der RuDiDat bisher nicht erfasst.) 3 Das russlanddeutsche Dialektkorpus: Datengrundlage der RuDiDat 3.1 Erhebung, Aufbau und Inhalte des Korpus Das Dialektkorpus, das der RuDiDat zugrunde liegt, ist eine Sammlung von Sprachaufnahmen deutscher Varietäten, die in Russland bis 1990 verbreitet waren. Dieses Korpus ist zu unterschiedlichen Zeitpunkten in verschiedenen Regionen 3 Am IDS waren im letzten Jahrzehnt zahlreiche Anfragen der genannten Berufsgruppen bezüglich der verschiedensten Aspekte des Russlanddeutschen eingegangen (Geschichte, Verbreitung, strukturelle Besonderheiten, Aussprachemerkmale etc.). Die Anfragen der russlanddeutschen Aussiedler konzentrierten sich vor allem auf Fragen der Identifizierung des eigenen Dialektes (bzw. des Dialektes der Eltern) und dessen regionale Zuordnung innerhalb Deutschlands. 4 Online Recherche- und Informationsangebot „Russlanddeutsch“. URL: http: / / pro wiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ Russlanddeutsch/ WebHome (19.05.2020). Russlanddeutsche Dialekte online 47 der ehemaligen Sowjetunion entstanden. Der Hauptteil der Daten stammt aus der großen Aufnahmeaktion „Deutsch in Sibirien“, die am Omsker Staatlichen Pädagogischen Gorki-Institut 5 Ende der 1980er Jahre durchgeführt wurde. In dieser Sprachaufnahmeaktion wurden die intakten deutschen Sprachinseln in den Hauptsiedlungsregionen der russlanddeutschen Sprachminderheit im Gebiet Altai und in mehreren Orten des Omsker Gebiets erfasst. Hinzu kamen noch weitere Datenkorpora, die im Rahmen einzelner Dissertationsprojekte entstanden sind und deutsche Varietäten in Zentral- und Südsibirien sowie in Nordkasachstan repräsentieren (siehe Jedig 1961; Kirschner 1984; Berend 1981; Kleim 1988). Die Entstehungsphase des Gesamtkorpus umfasst somit den Zeitraum von ca. 1960 bis 1990. Wie auch im deutschsprachigen Raum waren die deutschen Dialekte in Russland aus dialektgeografischer Sicht äußerst differenziert 6 . Die Datenbank enthält jeweils repräsentative Ausschnitte einer Variante eines jeden dialektgeografischen Typs, die im russlanddeutschen Sprachinselraum am meisten verbreitet waren: - Das Oberhessische aus dem Gebiet Omsk und das Westpfälzische aus dem Gebiet Altai repräsentieren den historischen deutschen Sprachraum an der Wolga in Russland vor dem Zweiten Weltkrieg. - Das Südfränkische aus dem Gebiet Altai wurde ursprünglich in der Ukraine und in mehreren anderen Regionen des westlichen Russlands gesprochen. - Das Bairische ist durch die nordbairische Varietät aus Südsibirien (Kulunda) repräsentiert und war ursprünglich um Sankt Petersburg und in der Nordukraine verbreitet. - Das Schwäbische aus Kasachstan (Pawlodar) veranschaulicht die zentralschwäbische Varietät, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Georgien und Armenien gesprochen wurde. - Die niederdeutsche Dialektvarietät, ursprünglich aus der Region um Danzig und später aus der Ukraine, ist durch die niederdeutschen Dialekte aus dem Gebiet Altai um die Stadt Slawgorod herum repräsentiert. - Beim Wolhyniendeutschen handelt es sich um eine vom Polnischen beeinflusste Varietät aus der West-Ukraine, die zuletzt in verschiedenen Regionen Westsibiriens, besonders bei Omsk, und in Nord- und Südkasachstan gesprochen wurde. 5 Heute Staatliche Pädagogische Universität Omsk. https: / / omgpu.ru/ de/ (19.05.2020). 6 Beispielsweise gab es wie in der Pfalz in Deutschland (vgl. Post 1992) auch in Russland die verschiedensten Varianten des Pfälzischen. 48 Nina Berend/ Elena Frick Jeder Dialekttyp ist durch kompetente Sprecher vertreten, die die entsprechende Mundart als Muttersprache erlernt und sie als Alltagssprache in und außerhalb der Familie verwendet haben. Bei den Sprachaufnahmen aus dem russlanddeutschen Dialektkorpus handelt es sich um Interviews und Gespräche. Die aufgezeichneten Dialektsprecher erzählen über ihr eigenes Leben, ihre Familien, ihre Arbeit und den Alltag. Besprochen werden der Tagesablauf, die Hauseinrichtungen, Freizeitgestaltung, Traditionen, Sitten und Bräuche, Feste und Feiern in Vergangenheit und Gegenwart. Die Gesprächsthemen umfassen aber vor allem die Erinnerungen der Russlanddeutschen an ihre schwere Arbeit in großen russischen Industriebetrieben und in sowjetischen Kolchosen und Sowchosen 7 sowie die Erfahrungen dieser deutschen Minderheit bei der Deportation, Aussiedlung und Zwangsberufung in die „Trudarmija“ (dt. Arbeitsarmee) während des Zweiten Weltkrieges. Im Korpus finden sich auch Informationen über Rezepte russlanddeutscher Gerichte sowie Beschreibungen der typischen Arbeiten in deutschen ländlichen Siedlungen vor mehreren Jahrzehnten (wie z. B. das Bauen eines Wasenhauses 8 , das Herstellen eigener Seife, das Wäschebleichen, die Anfertigung des Mistholzes 9 und vieles mehr). 3.2 Aufbereitung des Korpus für die RuDiDat Um eine strukturierte Darstellung der russlanddeutschen Dialekte in der RuDiDat zu ermöglichen, waren mehrere Arbeitsschritte nötig. Zunächst wurden die Audioaufnahmen mit russlanddeutschen Dialekten verschriftlicht und gleichzeitig in inhaltlich abgeschlossene Äußerungen segmentiert. Die Verschriftlichung erfolgte in Form einer phonetisch-literarischen, möglichst aussprachenahen Transkription 10 . Im zweiten Schritt wurde eine Übersetzung ins Hochdeutsche hergestellt. Um Wortlisten für die RuDiDat automatisch generieren zu können, war es besonders wichtig, die Übersetzung ins Hochdeutsche wortweise zu realisieren, damit sie die gleiche Anzahl der Token wie die Verschriftlichung selbst enthält. Dadurch wurde gewährleitstet, dass für jede Dialektwortform automatisch eine entsprechende hochdeutsche Übersetzung gefunden werden konnte. Die durch die Segmentierung entstandenen Äußerungseinheiten dienen in der RuDiDat als Beispiele für die Verwendung einzel- 7 Kolchosen und Sowchosen sind die zwei Typen sowjetischer landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften. 8 Erdhütten, bedeckt mit Rasenstücken (die übliche Bauweise bei den Russlanddeutschen in einigen Deportationsgebieten während der Kriegszeit). 9 Brennstoff, hergestellt aus getrocknetem Kuhdung. 10 Verschriftlichungskonventionen finden sich unter http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ Russlanddeutsch/ VerschriftlichungsKonventionen (19.05.2020). Russlanddeutsche Dialekte online 49 ner Dialektformen. Im nächsten Arbeitsschritt wurde eine Tokenisierung der Daten und eine Synchronisierung ausgewählter Wortformen mit dem Tonsignal vorgenommen, um diese Wortformen abspielen zu können. Auf der Basis der Tokenisierung erfolgten anschließend eine manuelle Wortartenannotation zur Erzeugung der Wortartenfilter in der RuDiDat und eine exemplarische, IPAbasierte phonetische Transkription zur Veranschaulichung der verschiedenen Aussprachevarianten. Die Aufbereitung des Korpus erfolgte in Praat 11 . Abbildung 1 zeigt die in Praat angelegten Transkriptions- und Annotationsebenen: 1. Phonetisch-literarische Transkription, 2. Hochdeutsche Übersetzung der Dialektäußerungen, 3. Wortsegmentierung, 4. Wortartenannotation, 5. IPA-basierte phonetische Transkription (als SAMPA 12 in Praat eingegeben). Abb. 1: Ausschnitt eines Audiotranskripts in Praat Der Verschriftlichung, Übersetzung und Annotation des Dialektkorpus folgte eine Korrekturphase, die u. a. das Ziel hatte, Inkonsistenzen der Verschriftlichungskonventionen aufzuspüren, orthografische Varianten zu vereinheitlichen und ggf. Äußerungsgrenzen zu korrigieren. Um diese Arbeit zu erleichtern, wurde ein User-Interface (Abb. 2) programmiert. Mithilfe dieses User-Interfaces konnten 11 http: / / www.fon.hum.uva.nl/ praat/ (19.05.2020). 12 SAMPA = Speech Assessment Methods Phonetic Alphabet. 50 Nina Berend/ Elena Frick verschiedene Wortlisten aus dem Korpus generiert und angezeigt werden, z. B. die Wortliste für das gesamte Korpus oder für einzelne Dialekte, auch nach Wortarten sortiert. Das Umschalten zwischen den hochdeutschen und dialektalen Wortvarianten sowie die Darstellung aller russischen Lexeme und der Code-Switching-Fälle waren ebenfalls möglich. Zudem wurden im User-Interface auch Hörbelege sowohl in der standardsprachlichen als auch in der dialektalen Form dargestellt. Diese waren mit den entsprechenden Textstellen im Audiotranskript verknüpft und konnten in Praat direkt aufgerufen werden, um Korrekturen am Text oder an den Segmentgrenzen vorzunehmen. In einem letzten Arbeitsschritt wurde der Wortschatz in Form von mehreren Wortlisten auf der Webseite der RuDiDat für die Nutzer präsentiert. Jede dieser Wortlisten stellt eine eigene Recherchemöglichkeit im Audiokorpus russlanddeutscher Varietäten dar. Abb. 2: User Interface für die Arbeit mit Wörterverzeichnissen, Übersetzungen und Hörbelegen 4 Zugang zum russlanddeutschen Dialektkorpus: Recherchemöglichkeiten in der RuDiDat Das russlanddeutsche Dialektkorpus liegt nun online und frei zugänglich vor. Die Recherche in diesem Korpus ist durch unterschiedliche Wortverzeichnisse möglich, die im Folgenden vorgestellt werden. Alle Recherchemöglichkeiten Russlanddeutsche Dialekte online 51 sind auch auf der Webseite der RuDiDat ausführlich beschrieben. 13 Dort finden sich außerdem entsprechende Hinweise für die selbstständige Recherche und Informationen über das Korpus und die Aufbereitung der Sprachaufnahmen sowie die in der RuDiDat verwendeten Verschriftlichungskonventionen. 4.1 Russlanddeutsches Stichwortverzeichnis Die erste Recherchemöglichkeit wird durch das russlanddeutsche Stichwortverzeichnis angeboten und steht in Form einer dreispaltigen Tabelle zur Verfügung (Abb. 3). Die erste Spalte der Tabelle enthält dialektale Wortformen in einer alphabetisch sortierten Reihenfolge. Bei der Recherche muss also von der Dialektform ausgegangen werden, d. h. von der Aussprache des Wortes. Abb. 3: Russlanddeutsches Stichwortverzeichnis Die zweite Spalte der Tabelle gibt Informationen zur dialektalen Herkunft und zeigt die Bedeutung bzw. die Übersetzung des angeklickten Stichwortes an. Recherchiert man z. B. nach dem Wort „Klaare“ so wird deutlich, dass dieses Wort im russischen Hessisch vorkommt und „Kleider“ bedeutet. In der dritten Spalte der Tabelle werden Belege aus dem Korpus in ihrem spontansprachlichen Kontext in einer KWIC-Form dargestellt. Durch den Klick auf das Lautsprechersymbol öffnet sich ein Fenster, in dem die entsprechende Äußerung abgespielt werden kann. Die Beispieläußerung wird auch in Dialekttranskription und in hochdeutscher Übersetzung angezeigt. 13 Vergleiche http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ Russlanddeutsch/ Recherche (19.05.2020). 52 Nina Berend/ Elena Frick 4.2 Hochdeutsches Stichwortverzeichnis Die zweite Recherchemöglichkeit, die RuDiDat anbietet, ist die Recherche im hochdeutschen Stichwortverzeichnis der einzelnen Dialekte. Durch den Klick auf ein Stichwort wird sichtbar, welche Entsprechungen für dieses Wort im russlanddeutschen Dialektkorpus nachgewiesen wurden. So werden beispielsweise für die hochdeutsche Bezeichnung „Großmutter“ im russlanddeutschen Bairisch zwei Wortformen verwendet: Babushka und Naadl (vgl. Abb. 4). Die Stichwortliste kann zusätzlich nach Wortarten gefiltert werden. Abb. 4: Hochdeutsches Stichwortverzeichnis Möchte man nachschlagen, wie ein standardsprachliches Wort in einem bestimmten russlanddeutschen Dialekt heißt, wie es ausgesprochen und im Kontext verwendet wird, so ist diese Art Recherche dafür gut geeignet. Bei der Recherche in den hochdeutschen Stichwortverzeichnissen wird deutlich, welche phonetischen, morphologisch-grammatischen oder syntaktischen Kontraste zum Hochdeutschen in den einzelnen Dialekten vorliegen. Außerdem kann dadurch auch festgestellt werden, welche russischen Einflüsse in den russlanddeutschen Dialekten vorhanden sind bzw. in welcher Form die entsprechenden Russizismen in den jeweiligen Dialekt integriert sind, d. h. ob das entsprechende hochdeutsche Wort in einer deutschdialektalen und/ oder einer russischen Form vorkommt, wie das Beispiel in Abbildung 4 zeigt (vgl. dazu auch Abschnitt 4.4). Russlanddeutsche Dialekte online 53 4.3 Kontrastive Darstellung von Dialektlexemen Eine weitere Recherchemöglichkeit bietet die exemplarische kontrastive Darstellung der Einzelvarietäten in Bezug auf ihren Wortschatz und ihre Aussprachebesonderheiten. Die Stichwortliste enthält 287 Lexeme, die nach der Relevanz der dialektgeografischen Merkmale und nach ihrer Belegung in mehr als vier verschiedenen Dialekten ausgewählt wurden. Jede dialektgeografische Variante ist mit einer IPA-Transkription und einem Tonbeleg dokumentiert. Der kontrastive Ansatz eignet sich für die Erforschung der Variationsvielfalt sowohl auf der lexikalischen als auch auf der phonetischen Ebene (vgl. die Lexeme „schnell“ und „müde“ in Abb. 5 und Abb. 6). Abb. 5: Dialektvergleich in der RuDiDat: kontrastive Darstellung des Lexems „schnell“ Abb. 6: Dialektvergleich in der RuDiDat: kontrastive Darstellung des Lexems „müde“ Der kontrastive Ansatz für die Präsentation der dialektgeografischen Varianten ist aus den „Sprechenden Sprachatlanten“ zu binnendeutschen Dialekt- und Regionalvarianten bekannt (vgl. z. B. Sprechender Sprachatlas von Bayerisch- Schwaben 14 ). Während in solchen Atlanten Belege meist als isolierte Lexeme erscheinen, werden die Beispiele in der RuDiDat im syntaktischen Kontext der spontansprachlichen Originaläußerungen dargeboten. 4.4 Russizismen Bei der vierten Recherchemöglichkeit stehen Russizismen im Vordergrund. Es handelt sich um Lexeme russischer Herkunft, die im russlanddeutschen Dialektkorpus vorkommen. Diese Lexeme werden oft phonetisch oder grammatisch an das Deutsche angepasst, wobei auch Zusammensetzungen aus russischen und deutschen Wörtern (wie z. B. Krolikwool 15 ) möglich sind. In der RuDiDat kann die Bedeutung solcher Wörter nachgeschlagen werden. Recherchiert man z. B. nach dem Wort Wedro, so erfährt man, dass es im schwäbischen 14 https: / / www.bayerische-landesbibliothek-online.de/ sprachatlas-schwaben (19.05.2020). 15 Russisch krolik (stspr. Kaninchen) + bair. wool (stspr. Wolle). 54 Nina Berend/ Elena Frick Dialekt vorkommt und „Eimer“ bedeutet. Schaut man sich das Wort im Kontext an, so stellt man fest, dass das russische Wort mit einem deutschen Artikel 16 versehen wurde (vgl. Abb. 7). Beim Anhören der Äußerung wird man feststellen, dass das Wort in der Aussprache geändert wurde. (Im Russischen wird das finale -o am Ende des Wortes betont, im Russlanddeutschen dagegen liegt die Betonung auf der ersten Silbe, wie im Deutschen üblich.) Abb. 7: Beispiel eines Russizismus aus dem russlanddeutschen Schwäbisch 4.5 Code-Switching Im Dialektkorpus kommen nicht nur Mischwörter oder einzelne russische Lexeme vor, sondern auch Code-Switching 17 . In der Code-Switching-Liste wurden in der RuDiDat längere Passagen erfasst, bei denen russlanddeutsche Sprecher aus dem deutschen Dialekt ins Russische wechseln. Beispiel (1) zeigt einen Ausschnitt aus dem russlanddeutschen Hessisch. Die Dialektsprecherin beginnt ihre Aussage zunächst auf Hessisch, wechselt innerhalb des Satzes jedoch immer wieder zu Russisch und fügt schließlich auch längere Formulierungen auf Russisch ein. (1) Haus hu mr e gruuses | is prawda ka neu Haus | kak-imejetsja-wwidu-nowowo-tipa | uns Haus is noch aalt planiet [Hessisch] Haus haben wir ein großes | ist allerdings kein neues Haus | wiegemeint-des-neuen-Typs | unser Haus ist noch alt geplant Die Auflistung von Code-Switching Passagen in der RuDiDat bietet eine praktische Möglichkeit, ohne langes Suchen sofort auf das Material zuzugreifen, um z. B. das Ausmaß, die Formen oder Funktionen des Switchens untersuchen zu können. 16 Das Russische ist eine artikellose Sprache. 17 Hier: Sprachwechsel mitten im Gespräch, wenn russlanddeutsche Sprecher plötzlich ins Russische wechseln und erst nach ganzen Phrasen oder Sätzen das Gespräch wieder im Dialekt fortführen. Russlanddeutsche Dialekte online 55 4.6 Russlanddeutsche Erzählungen Neben dem Recherchieren in Stichwortverzeichnissen der RuDiDat können sich Nutzer des Portals auch Passagen aus dem Dialektkorpus anhören. Das sind rund 40 bis ca. sieben Minuten lange, thematisch relativ abgeschlossene Ausschnitte, die in der Audioform und begleitend durch eine Zusammenfassung des Inhalts vorliegen. Diese Ausschnitte wurden nach inhaltlichen Gesichtspunkten sowie hinsichtlich ihrer technischen Qualität (Tonqualität, Lautstärke, Geräusche etc.) ausgewählt. Diese Erzählungen veranschaulichen die russlanddeutsche Sprache und vermitteln nicht nur einen allgemeinen Eindruck über den Klang einzelner russlanddeutscher Dialekte, sondern auch viele interessante Einzelheiten und bemerkenswerte Details aus der Alltagsrealität der Russlanddeutschen. 5 Diskussion und Ausblick Mit dem Online Recherche- und Informationsangebot „Russlanddeutsch“ 18 liegt nun ein TWiki 19 -basiertes Portal mit einer integrierten russlanddeutschen Dialektdatenbank vor. Die Datenbank - RuDiDat - bietet den Zugang zu einem historischen, linguistisch aufbereiteten und handannotierten Dialektkorpus an. Dieses Korpus ist für Recherchen jeglicher Art zum Thema „Russlanddeutsch“ geeignet. Neben der RuDiDat sind auch z. B. das digitale Portal Ungarndeutsches Zweisprachigkeits- und Sprachkontaktkorpus (UZSK) 20 oder das Texas-German Dialect Archive 21 Beispiele dafür, wie man Sprachdaten aus einer „German Abroad“- Varietät der wissenschaftlichen Community online zur Verfügung stellen kann. Mehrere Sprachinselkorpora sind auch im Archiv für Gesprochenes Deutsch (AGD) 22 enthalten und teilweise online durch die Datenbank für Gesprochenes Deutsch (DGD) 23 abrufbar (vgl. Gorisch u. a. [im Druck]). Wer jedoch die in diesen Portalen und Datenbanken bereitgestellten Daten nutzen und für einen Vergleich von Sprachinselvarietäten verwenden möchte, muss sich im Klaren sein, um welchen Typ von Daten es sich handelt. Nimmt man als Beispiel zunächst einmal nur das Russlanddeutsche unter die Lupe, so stellt sich heraus, dass Korpora, die das Russlanddeutsche dokumentieren, zum 18 http: / / prowiki.ids-mannheim.de/ bin/ view/ Russlanddeutsch/ WebHome (19.05.2020). 19 http: / / twiki.org/ (19.05.2020). 20 https: / / www.ungarndeutsch.de/ willkommen (19.05.2020). 21 https: / / tgdp.org/ dialect-archive-viewer/ #/ login (19.05.2020). 22 http: / / agd.ids-mannheim.de/ index.shtml (19.05.2020). 23 https: / / dgd.ids-mannheim.de/ dgd/ pragdb.dgd_extern.welcome (19.05.2020). 56 Nina Berend/ Elena Frick Teil ganz unterschiedliche Varietäten enthalten und dass Varianten der unter „Russlanddeutsch“ subsumierten Sprachformen bedeutende Differenzen aufweisen können. Unterschiede zwischen Varietäten sind nicht zufällig, sondern gehen jeweils auf die spezifische Entwicklung in den entsprechenden Sprachinseln zurück. Wie eine gegenwärtige Sprachinselvarietät, die als Russlanddeutsch bezeichnet wird, strukturiert ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Beispielsweise davon: - ob diese Varietät in einer noch intakten oder in einer „ehemalig intakten“ Sprachinsel existiert oder ob es sich bereits um eine „Restsprachinsel“ (Mattheier 1993) handelt; - welche die im Land herrschende Umgebungssprache und die erste Kontaktsprache ist und welche die weiteren Kontaktsprachen sind. So konnten allein für das Russlanddeutsche auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion Russisch, Kasachisch, Ukrainisch, Kirgisisch und andere Sprachen als Kontaktsprachen auftreten. Zieht man die russlanddeutschen Varietäten weltweit in Betracht, so kommen weitere Sprachen wie Englisch oder Spanisch dazu; - in welchem Ausmaß der Kontakt zum Standarddeutschen vorhanden ist. So sind z. B. russlanddeutsche Dialekte in Russland „dachlos“, d. h. nicht überdacht durch die hochdeutsche Standardsprache. In anderen Ländern, z. B. in Rumänien oder Ungarn, waren die deutschen Dialekte dagegen durch das deutsche Schulwesen im weit intensiveren Kontakt zum Standarddeutschen und weisen daher stärkere Einflüsse des Hochdeutschen auf, vgl. dazu z. B. Földes (2005). Bereits die drei genannten Faktoren begründen die Verschiedenartigkeit der russlanddeutschen Sprachgemeinschaften und wirken sich auf die Ausprägungen der jeweiligen Varietäten aus (siehe Rosenberg 1994). Aufgrund dieser Unterschiede lassen sich gegenwärtig weltweit zumindest folgende Auslandsvarietäten des Russlanddeutschen unterscheiden, für die unseres Wissens auch ansatzweise Sammlungen von Audiodaten vorliegen: Das sind erstens russlanddeutsche Varietäten, die als Basisdialekte in den bis 1990 intakten deutschen Sprachinseln existierten. Hier handelt es sich um die Dialekte der russischen Deutschen in der ehemaligen Sowjetunion, die im russlanddeutschen Dialektkorpus in der RuDiDat repräsentiert sind (vgl. oben Abschnitt 3). Davon unterscheiden sich zweitens die Dialekte in den „ehemalig intakten“ deutschen Sprachinseln. Hier handelt es sich um das Deutsche der russischen Deutschen im gegenwärtigen Russland und in allen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Daten für diese Varietäten wurden im Rahmen von verschiedenen Forschungsprojekten nach 1990 erhoben und liegen zum Teil Russlanddeutsche Dialekte online 57 bereits online vor, z. B. als Audiodateien auf der Webseite des Regionalen Dialektologischen Zentrums 24 an der Universität Krasnojarsk (vgl. Djatlova 2005) oder als in Korp 25 recherchierbare Transkripte an der Universität Göteborg (vgl. Andersen 2016 sowie den Beitrag von Christiane Andersen in diesem Band). Weitere Korpora zu russlanddeutschen Varietäten aus dieser Gruppe sind in verschiedenen Arbeitsstellen in Russland vorhanden, die sich mit der Erforschung russlanddeutscher Dialekte befassen, z. B. an der Barnauler Staatlichen Pädagogischen Universität (vgl. Moskaljuk 2006; 2010; Moskaljuk/ Trubavina 2011; Trubavina 2013) oder an der Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Kirow (vgl. Bajkova 2002). Genaue Informationen zu den vorhandenen Sprachaufnahmen in diesen und weiteren Arbeitsstellen finden sich im Projektbericht 26 von Elena Kaul (2006). Auch von Deutschland aus wurden in den „ehemalig intakten“ Sprachinseln Audioaufnahmen russlanddeutscher Sprachvarietäten durchgeführt, so z. B. im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts „Form und Gebrauch des Deutschen in Mittel- und Osteuropa“ 27 (vgl. Riehl 2009; 2014; 2017). Es ist zu beachten, dass es sich bei den Sprachaufnahmen dieser Gruppe auch um russlanddeutsche Mischdialekte in Kombination mit hochdeutschem Einfluss handeln kann. Sie sind in den Aufnahmen dokumentiert, die in Russland in Gesprächen mit hochdeutschen Interviewern entstanden sind. Und drittens existieren russlanddeutsche Basisdialekte, die seit Jahrzehnten mit anderen Umgebungssprachen außerhalb von Russland in Kontakt waren, wie z. B. russlanddeutsche Varietäten in den USA und Argentinien. Zum Wolgadeutschen in Kansas sind Audioaufnahmen im Linguistic Atlas of Kansas German Dialects 28 vorhanden. Zum Wolgadeutschen in Argentinien finden sich online zwar keine Sprachkorpora, aber diese Varietät wurde bereits wissenschaftlich untersucht und in Audioaufnahmen erfasst (vgl. Schmidt 1997; Ladilova 2013). Zu dieser Gruppe gehören ebenso Audioaufnahmen niederdeutscher Dialekte der Mennoniten russlanddeutscher Herkunft (Kaufmann 2004), die seit 2018 im IDS in Mannheim archiviert und über die DGD online zugänglich sind. In Bezug auf die eingangs angesprochene Perspektive des Datenaustausches und der systematischen vergleichenden Analyse stellt sich nun die Frage, welche Problematik für den Vergleich der Sprachinselvarietäten durch die vielfältigen 24 http: / / deu.kspu.ru/ ru/ media.html (19.05.2020). 25 https: / / spraakbanken.gu.se/ korp/ ? mode=siberian_german#? lang=en&stats_reduce= word&cqp=%5B%5D (19.05.2020). 26 Der Titel des Forschungsprojekts ist „Deutsch in Russland. Dokumentation des Forschungsstandes zur deutschen Sprache und ihren Dialekten in Russland“. https: / / www1. ids-mannheim.de/ prag/ deutsch-in-russland.html (19.05.2020). 27 Webseite des Projekts: https: / / www.daf.uni-muenchen.de/ forschung/ projekteriehl/ for schung_abg/ form/ index.html (19.05.2020). 28 http: / / www2.ku.edu/ ~germanic/ LAKGD/ Atlas_Intro.shtml (19.05.2020). 58 Nina Berend/ Elena Frick Erscheinungsformen des Russlanddeutschen entsteht. Hier bestehen generell unseres Erachtens drei Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen. Die erste Herausforderung besteht darin, dass zunächst viele verschiedene Kriterien zu berücksichtigen sind, wenn man diese Varietäten untereinander oder mit anderen Sprachinselvarietäten vergleichen möchte. Zweitens, auch wenn diese Varietäten teilweise bereits online verfügbar sind, sind wir von der Möglichkeit einer systematischen vergleichenden Analyse noch weit entfernt, und zwar deswegen, weil die oben genannten Korpora in unterschiedlichen Formaten vorliegen und keine vergleichbaren Rechercheanfragen ermöglichen. Drittens besteht eine weitere Schwierigkeit darin, dass nicht nur der Vergleich, sondern bereits das Vorhaben, diese Varietäten in eine ähnliche Form zu bringen, mit Herausforderungen verbunden ist. Das hat das Projekt RuDiDat gezeigt, in dem der Versuch unternommen wurde, mehrere russlanddeutsche Dialekte aus der ehemaligen Sowjetunion in einer Datenbank strukturiert unterzubringen. So war eine aufwendige und zeitraubende Korpusaufbereitung, Selektion und strukturierte Darstellung der Daten notwendig, um die verschiedenen Varietäten in der RuDiDat sachgemäß präsentieren zu können. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Selektion und strukturierte Darstellung grundsätzlich nicht minderen Arbeitsaufwand erfordern als die eigentliche Korpusaufbereitung (Transkription, Übersetzung, Annotation). Bei der strukturierten Darstellung hat sich vor allem die Schwierigkeit der Parallelisierung von Dialekten verschiedener Provenienz gezeigt. Trotz der strengen Auswahl der basisdialektalen Varietäten, die in das RuDiDat-Korpus aufgenommen wurden, erforderte in erster Linie die grundsätzliche interdialektale Variantenvielfalt im Sinne der dialektgeografischen Differenzierung spezielle Strategien des Vorgehens. Man stelle sich vor, ein Wörterbuchprojekt hätte die Aufgabe, alle einheimischen Basisdialekte (Schwäbisch, Hessisch, Niederdeutsch etc.) in einem Nachschlagewerk darzustellen. Die Arbeit in der RuDiDat hatte en miniature eben diese Aufgabe zu erfüllen, um das Russlanddeutsche in seiner basisdialektalen Substanz darzustellen und Nutzern ein bestmögliches Gesamtbild dieser Varietäten des Deutschen innerhalb der ehemaligen Sowjetunion zu geben. Will man weitere Erscheinungsformen des Russlanddeutschen, z. B. das Wolgadeutsche in Kansas oder die gegenwärtigen deutschen Mischdialekte in Russland, in die RuDiDat aufnehmen (zum Zweck des Vergleichs), wäre es möglicherweise notwendig, die oben genannten Arbeitsgänge unter Berücksichtigung anderer Voraussetzungen durchzuführen. Diese Frage bedarf weiterer Klärungen und muss leider vorerst offenbleiben. Russlanddeutsche Dialekte online 59 6 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: 1. Die Sprachdaten der wissenschaftlichen Öffentlichkeit online zur Verfügung zu stellen, ist eine zeitgemäße und - wie verschiedene Sprachdatenbanken zeigen - eine grundsätzlich realisierbare Aufgabe. Forschungsarbeiten gestalten sich dadurch weniger zeit- und arbeitsaufwendig, und es wird zugleich der Zugang zu historischen Aufnahmen ermöglicht und die wissenschaftliche Diskussion intensiviert. 2. Um jedoch eine systematische vergleichende Analyse verschiedener Sprachinselvarietäten mit Berücksichtigung aller relevanten Faktoren durchzuführen, ist es notwendig, streng methodisch reflektiert vorzugehen. Bereits bei der Erhebung der Daten, spätestens aber bei ihrer Aufbereitung bedarf es einer zielgerichteten Vorgehensweise in Bezug auf die Möglichkeit eines späteren Vergleichs. 3. Um eine systematische vergleichende Analyse überhaupt erst zu ermöglichen, müssen Sprachdaten in einer ähnlichen Struktur vorliegen, d. h. sie sollten nach gleichen Konventionen aufbereitet sein und die gleichen Recherchemöglichkeiten bieten, wie es am Beispiel der RuDiDat für die russlanddeutschen Basisdialekte in diesem Beitrag aufgezeigt wurde. Literatur Andersen, Christiane (2016): Nachfeld im Kontakt. Eine Korpusuntersuchung am Russlanddeutschen in Sibirien. In: Göteborger Arbeitspapiere zur Sprachwissenschaft 6. https: / / gupea.ub.gu.se/ bitstream/ 2077/ 52526/ 1/ gupea_2077_52526_1.pdf (19.05.2020). Bajkova, Olga (2002): Ob izučenii dialektovėtničeskich nemcev v Rossii. In: Vestnik Vjatskogo gosudarstvennogo gumanitarnogo universiteta 6. Kirov. Berend, Nina (1981): Morfologiceskie osobennosti i semanticeskij potencial glagol'nych kategorij v juznonemeckom jazykovom areale. Lwow. 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Dieser Beitrag zeigt, wie ein systematischer Vergleich von Sprachinseldaten im Rahmen der Konstruktionsgrammatik und Frame Semantik durchgeführt werden kann, um so die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen deutschen Sprachinseln besser bestimmen zu können. 1 Einleitung In den Untersuchungen zu deutschen Sprachinseln lassen sich in den letzten Jahrzehnten unterschiedliche Tendenzen erkennen. Neben den traditionell orientierten Sprachatlanten im Format der Marburger Schule (z. B. Gilbert 1972) gibt es zahlreiche Sammelbände (z. B. Berend/ Jedig 1991; Berend/ Mattheier [Hrsg.] 1994; Keel/ Mattheier [Hrsg.] 2003; Putnam [Hrsg.] 2011) und Monografien (z. B. Jedig 1966; Louden 1988; Altenhofen 1996; Kaufmann 1997; Boas 2009a; Keiser 2012), die sich z. T. recht unterschiedlichen Aspekten der Sprachinselforschung widmen. Um die Distribution von z. T. recht unterschiedlichen linguistischen Phänomenen erklären zu können, befassen sich die Untersuchungen u. a. damit, ein bestimmtes Inventar zu bestimmen und Muster und Entwicklungen zu beschreiben, um so zu einer Generalisierung zu kommen. Um Sprachwandel besser zu verstehen, verfolgen viele Untersuchungen das Ziel, zwischen externen und internen Faktoren zu unterscheiden (vgl. Rosenberg 2003; Thomason 2004; Boas 2009a; Salmons 2012; Boas 2016). Während die z. T. recht unterschiedlichen Analysen lexikalischer, phonologischer, morphosyntaktischer und anderer struktureller Phänomene häufig zu interessanten Ergebnissen kommen, lassen sie sich aber meistens nicht über die einzelnen Sprachinseln hinweg vergleichen bzw. generalisieren. Vor diesem Hintergrund beschränken sich die meisten strukturellen Analysen deutscher Sprachinseln also nur auf Einzelphänomene in einzelnen Sprachinseln, z. B. die Entwicklung des Lautinventars, des Kasussystems und der Wortstellung. Ein 64 Hans C. Boas deskriptiver Vergleich und eine systematische Analyse von Sprachkontaktphänomenen über mehrere Sprachinseln hinweg scheint somit sehr schwierig. Der vorliegende Beitrag diskutiert anhand ausgewählter Beispiele unterschiedliche Möglichkeiten, wie die Konstruktionsgrammatik und die Frame Semantik zum systematischen Vergleich von Sprachinseldaten im Rahmen einer gebrauchsbasierten „bottom-up“-Methodologie eingesetzt werden können. Der Beitrag ist wie folgt strukturiert: Abschnitt 2 präsentiert eine kurze Zusammenfassung der Konstruktionsgrammatik und der Frame Semantik. In Abschnitt 3 wird gezeigt, wie grammatische Konstruktionen und semantische Frames als Beschreibungs- und Analyseeinheiten zur Analyse einer Reihe von unterschiedlichen Sprachkontaktphänomenen angewandt werden können. Abschnitt 4 bespricht, wie vergleichende Sprachinseldaten im Rahmen der Konstruktionsgrammatik analysiert werden können, um so weitere systematische Vergleiche von Sprachinseldaten bzgl. der Einflüsse der unterschiedlichen Kontaktsprachen zu ermöglichen. Abschnitt 5 bietet eine abschließende Zusammenfassung. 2 Konstruktionsgrammatik und Frame-Semantik Dieser Abschnitt fasst kurz zusammen, wie die im Rest des Beitrags verwendeten Konzepte der Konstruktion (im Sinne der Konstruktionsgrammatik) und des semantischen Frames (im Sinne der Frame-Semantik) entstanden sind. Darüber hinaus wird gezeigt, wie Konstruktionen und Frames sich als Analyse- und Beschreibungsinventar für die Sprachkontaktforschung eignen, weil sie eine einheitliche Repräsentation sprachlichen Wissens innerhalb einer Sprache und über Sprachen hinweg erleichtern. Die Konstruktionsgrammatik (KxG) und die mit ihr verbundene Theorie der Frame Semantik (FS) haben ihre Anfänge in den Arbeiten von Charles Fillmore aus den späten 1960er und 1970er Jahren (siehe Boas/ Dux 2017 und Boas 2018 für einen Überblick). Im Gegensatz zu vielen anderen Grammatikmodellen geht die KxG u. a. davon aus, dass (a) grammatische Konstruktionen genauso wie „lexikalische Einheiten“ (Wortbedeutungen) sprachliche Zeichen, also konventionalisierte Form-Bedeutungspaarungen, sind, (b) grammatische Strukturen und sprachliche Zeichen einheitlich im Sprachwissen repräsentiert sind, nämlich als Konstruktionen, (c) die Grammatik einer Sprache ein strukturiertes Netzwerk von Konstruktionen, das sogenannte Konstruktikon, bildet und (d) es keine klare Trennung von Grammatik und Lexikon gibt (siehe Ziem/ Lasch 2013: 36f.). 1 In der Konstruktionsgrammatik gibt es außerdem keine Derivationen, 1 Es gibt unterschiedliche miteinander kompatible Versionen der KxG (z. B. Berkeley Construction Grammar, Cognitive Construction Grammar, Embodied Construction Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 65 unterschiedliche Repräsentationsebenen oder unsichtbare Spuren oder Kategorien, d. h. die Analyse linguistischer Phänomene orientiert sich an der sprachlichen Oberfläche (gebrauchsbasiert, siehe Barlow/ Kemmer [Hrsg.] 2000), was Goldberg (2003: 219) wie folgt auf den Punkt bringt: „What you see is what you get! “ Abbildung 1 zeigt die Paarung von Form und Bedeutung/ Funktion. Abb. 1: Beziehung zwischen Form und Bedeutung in der KxG (vgl. Croft 2001: 18) Ohne eine klare Trennung zwischen Lexikon und Grammatik ist es in der KxG möglich, denselben Formalismus zur Beschreibung und Analyse von Konstruktionen unterschiedlichen Abstraktionsgrades bzw. von Komplexitätsstufen zu benutzen, d. h. die Formseite einer Konstruktion kann sowohl syntaktische, morphologische als auch phonologische Aspekte umfassen, während die Bedeutungsseite parallel dazu aus unterschiedlichen semantischen, pragmatischen und diskurs-funktionalen Eigenschaften bestehen kann (vgl. Boas 2008; 2014). Abbildung 2 zeigt exemplarisch sprachliche Einheiten als Konstruktionen auf unterschiedlichen Abstraktionsgraden bzw. Komplexitätsstufen, die das gesamte Spektrum des Syntax-Lexikon-Kontinuums abdecken, wie z. B. Morpheme (z. B. -heit, be-), Wörter (z. B. teurer, wohl), halbproduktive und produktive idiomatische Redewendungen bzw. Phraseologismen (z. B. die Kurve kratzen), Argumentstruktur-Konstruktionen (z. B. Resultativ, Sie hustete die Serviette vom Tisch), das Passiv (z. B. Die Pizza wurde gegessen) sowie die Subjekt-Prädikats- Konstruktion (siehe Ziem u. a. 2014). Grammar, Radical Construction Grammar etc.) welche die hier dargestellten Grundannahmen teilen, sich aber in ihren Zielsetzungen bzw. Formalismen unterscheiden. Siehe für weitere Details Ziem/ Lasch (2013), die Beiträge in Hoffmann/ Trousdale (Hrsg.) (2013) und Boas (2014; 2017). 66 Hans C. Boas Abb. 2: Konstruktionen mit unterschiedlichem Abstraktionsgrad (Boas 2014) Einer der Vorteile der KxG ist es, Konstruktionen wie in Abbildung 2 mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden und Komplexitätsstufen einheitlich erfassen und analysieren zu können, da jede Konstruktion eine Paarung von Form und Bedeutung/ Funktion ist (siehe Abb. 1). Ein weiterer Vorteil der KxG ist es, dass konstruktionsgrammatische Analysen u. a. darauf abzielen, Konstruktionen zunächst sprachspezifisch bzw. mit den sprachinternen Kategorien der jeweiligen Einzelsprachen zu beschreiben, d. h. ohne unbedingt Rücksicht auf vermutete universelle Sprachstrukturen nehmen zu müssen (siehe Fillmore u. a. 1988; Croft 2001). Diese Methodologie erlaubt es, sich zunächst mit den typologischspezifischen Eigenschaften einzelner Sprachen eingehend zu beschäftigen und diese gründlich zu untersuchen, bevor irgendwelche Vergleiche mit anderen Sprachen angestellt werden oder Rücksicht auf mögliche universalgrammatische Prinzipien genommen wird („bottom-up“-Analyse sprachlicher Phänomene statt „top-down“). Die Ergebnisse sprachspezifischer konstruktionsgrammatischer Analysen können dann als Grundlage dienen, um sprachvergleichende Analysen von Konstruktionen zu ermöglichen, wie z. B. die Beiträge in Boas (Hrsg.) (2010) und Lyngfelt u. a. (Hrsg.) (2018) zeigen. Einer der Hauptpunkte, in dem sich die KxG von anderen gängigen Grammatikmodellen unterscheidet, ist, dass sie eng mit einer klar definierten The- Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 67 orie der Semantik, der sogenannten Frame-Semantik (Fillmore 1982), verbunden ist. Die Frame-Semantik zielt darauf ab, Bedeutungen von Wörtern (sowie Konstruktionen, siehe die Bedeutungsseite in Abb. 1 oben) mit einer einheitlichen Repräsentation zu erfassen, die verstehensrelevantes Wissen in die Beschreibung von Bedeutungsstrukturen mit einbindet (siehe Petruck 1996). Fillmores Frame-Semantik beruht u. a. auf der Idee, dass sich die Bedeutungen von Wörtern grundsätzlich auf in der Sprechergemeinschaft vorhandene Wissensstrukturen, sogenannte „Frames“ bezieht (vgl. Fillmore 1985; Boas 2005; Ziem u. a. 2013; Boas 2017). Das 1997 am International Computer Science Institute in Berkeley gegründete FrameNet-Projekt (http: / / framenet.icsi.berkeley.edu) hat sich zum Ziel gesetzt, das Lexikon des Englischen mit semantischen Frames zu erfassen, zu strukturieren und zu analysieren (vgl. Fillmore/ Baker 2010; Fillmore u. a. 2012). Die in der FrameNet-Datenbank enthaltenen Lexikoneinträge dokumentieren anhand von Korpusbelegen die semantische und syntaktische Valenz von „Lexikalischen Einheiten“ (LE) möglichst exhaustiv. 2 Als Beispiel sei hier der sogenannte Revenge (‚Rache‘)-Frame genannt. Dieser Frame setzt Kenntnis eines Ablaufs von zusammenhängenden Handlungen voraus, die sich mittels einer Prosabeschreibung der in Verbindungen stehenden sog. Frame-Elemente (FE) (in Kapitälchen) erfassen lassen (vgl. Boas 2013). Während des Ablaufs fügte eine Person (der sog. OFFENDER [der Missetäter]) einer anderen Person (der sog. INJURED_PARTY [dem Betroffenen]) eine Verletzung zu (INJURY). Als Reaktion auf diese Handlung fügt eine Person (der sog. AVENGER [Rächer]) dem OFFENDER Schaden zu, das sog. PUNISHMENT (Bestrafung). In (1) evoziert die Lexikalische Einheit avenged (rächte) (in kursiv) den Revenge (‚Rache‘)-Frame, die einzelnen Frame-Elemente sind entsprechend im Satz annotiert. (1) [ avenger Bubba] avenged [ Injured_Party the death of his cat] [ Punishment by killing] [ Offender the coyote]. Bubba rächte den Tod seiner Katze indem töten den Kojoten. ‚Bubba rächte sich für den Tod seiner Katze, indem er den Kojoten tötete.‘ (Boas 2013: 83) Frame-Elemente wie OFFENDER und AVENGER sind spezifische Instanziierungen abstrakter semantischer Rollen wie AGENT und PATIENT (siehe z. B. Van Valin/ Wilkins 1996; Fillmore/ Baker 2010). Der Lexikoneintrag einer lexikali- 2 Eine der Grundeinheiten in FrameNet ist die „Lexikalische Einheit“: Ein Wort mag eine oder mehrere Bedeutungen haben, und jede einzelne Wortbedeutung (vgl. Cruse 1986) evoziert einen speziellen semantischen Frame. Lexikalische Einheiten können auch Mehrworteinheiten wie Funktionsverbgefüge (z. B. in Schwierigkeiten geraten) und idiomatische Ausdrücke (z. B. auf den Putz hauen [für feiern]) sein (vgl. Ruppenhofer u. a. 2013, Fingerhuth/ Boas 2018). 68 Hans C. Boas schen Einheit im FrameNet besteht aus (a) einer Frame-Definition, (b) einer Valenztabelle, die aufzeigt, wie die unterschiedlichen Kombinationen von Frame-Elementen syntaktisch realisiert werden (siehe Abb. 3), und (c) einer Liste von annotierten Korpusbeispielen wie in (1), auf denen die Valenzinformationen beruhen. Abb. 3: Syntaktische Realisierung semantischer Frame-Elemente in der FrameNet Valenztabelle des Lexikoneintrags von to avenge (https: / / framenet2.icsi.berkeley.edu/ fnReports/ data/ lu/ lu6056. xml? mode=lexentry) Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 69 Im Januar 2019 bestand die FrameNet-Datenbank aus insgesamt 1.223 unterschiedlichen Frames (welche innerhalb einer Frame-Hierarchie miteinander auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen in einem Netzwerk verbunden sind) mit insgesamt 13.641 lexikalischen Einheiten (siehe Ruppenhofer u. a. 2017). Ab 2008 gab es erste Pilotstudien, die die englische FrameNet-Datenbank systematisch erweitert haben, um neben lexikalischen Einheiten auch grammatische Konstruktionen zu erfassen. Parallel zum lexikalischen FrameNet wurden so Konstruktionseinträge kompiliert, die u. a. die Konstruktionen und ihre Komponenten beschreiben, Erklärungen des semantischen Beitrags der Konstruktionen liefern und annotierte Korpusbeispiele enthalten (siehe Fillmore 2008; Fillmore u. a. 2012; Boas 2017). Warum sind semantische Frames für die vergleichende Sprachinselforschung relevant? Neben der lexikografischen Erfassung des englischen Wortschatzes gab es in den letzten 15 Jahren mehrere Parallelprojekte, die u. a. auf der Basis des Englischen entstandene semantische Frames erfolgreich für die Analyse der Lexika anderer Sprachen angewandt haben (siehe z. B. die Beiträge in Boas [Hrsg.] 2009b). Die Ergebnisse dieser Projekte zeigen, dass sich das Konzept des semantischen Frames sprachübergreifend und -vergleichend anwenden lässt, was, wie in Abschnitt 3 gezeigt wird, für die vergleichende Analyse unterschiedlicher Sprachinseldaten hilfreich ist. 3 Wie wir unten sehen werden, sind die miteinander verbundenen Konzepte der Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik und des semantischen Frames für die vergleichende Sprachinselforschung hilfreich, da sie es erlauben, sprachübergreifende Analysen vergleichbarer Daten in unterschiedlichen Sprachkontaktsituationen durchzuführen. 3 Konstruktionen und Frames für den Vergleich von Sprachinseldaten Ein zentrales Thema der Sprachinselforschung ist die Frage, welche Faktoren die Entwicklung von Sprachinselvarietäten beeinflussen. Dabei wird meistens zwischen internen und externen Faktoren unterschieden, deren jeweiligen Einflüsse jedoch nicht immer klar bestimmbar sind. So schlägt z. B. Eikel (1949; 1954) für das Texas-Deutsche vor, dass der Wegfall des Dativs durch den Einfluss des Englischen, welches außer im Personalpronomen keine Dativmarkierung hat, zu erklären ist. Im Gegensatz dazu argumentiert Boas (2009c), dass 3 Siehe auch die Beiträge in Lyngfelt u. a. (Hrsg.) (2018), die zeigen, wie multilinguale Konstruktikons (Datenbanken mit Konstruktionseinträgen) parallel zu multilingualen FrameNets kompiliert werden können. 70 Hans C. Boas Kasussynkretismus im Texas-Deutschen nicht nur auf externe Faktoren wie den Kontakt mit dem Englischen, sondern auf interne Faktoren (Konvergenz), die bereits in den Ursprungsdialekten des Texas-Deutschen vorhanden waren, zurückzuführen ist (siehe auch Gilbert 1972; Guion 1996). Dabei bezieht sich Boas (2009c) u. a. auf Rosenbergs (2003; 2005) Vergleich von Sprachinseldaten aus drei unterschiedlichen Gebieten, in denen deutsche Varietäten in Kontakt mit Russisch (Jedig 1966), Englisch (Louden 1988; Salmons 1994) und Portugiesisch (Altenhofen 1996) sind. Da sich auch in den Sprachinselvarietäten, die in Kontakt mit dem Russischen sind, Kasussynkretismus beobachten lässt, argumentiert Rosenberg, dass es wohl interne Faktoren sein müssten, die dem Prozess des Kasussynkretismus zugrunde liegen, und nicht externe Faktoren, da das Russische ebenfalls über einen Dativkasus verfügt. Aber wie lassen sich nun Daten unterschiedlicher Sprachinselvarietäten bzgl. des Kasussynkretismus systematisch miteinander vergleichen? Um dieses Problem zu lösen, schlage ich - wie bereits oben angedeutet - vor, Konstruktionen und Frames zur systematischen Analyse bzw. zum systematischen Vergleich zu benutzen. Als Fallbeispiel dient der in vielen deutschen Varietäten vorkommende Kasussynkretismus. Bevor wir die konkreten Daten zweier unterschiedlicher Sprachinselvarietäten miteinander vergleichen, bedarf es eines kurzen Überblicks, welche Paarungen von Form und Bedeutung/ Funktion die unterschiedlichen Kasus im Deutschen realisieren, d. h. wie sich diese konstruktionsgrammatisch erfassen lassen. 4 Aus Platzgründen beschränkt sich unser kurzer Überblick auf die Form und Bedeutung/ Funktion von Kasus auf die Artikel im Singular. Im Standarddeutschen ist der Nominativ der wohl am häufigsten gebrauchte Kasus der deutschen Grammatik und markiert das Subjekt des Satzes (Funktion), welches mit dem finiten Verb kongruiert. Die Formseite des Nominativs wird unterschiedlich markiert, je nachdem, ob es sich um Artikel, Adjektiv, Substantiv oder Pronomen handelt. So wird z. B. die Formseite des Artikels im Nominativ Singular als der (Maskulinum), die (Femininum) und das (Neutrum) markiert. Die Bedeutungsseite des Nominativs lässt sich (im Aktiv) im Sinne der Frame-Semantik als das Frame-Element AGENT definieren, d. h. desjenigen Aktanten eines Satzes, der über die vom Verb des Satzes ausgedrückte Handlung Kontrolle ausübt bzw. sie verursacht. Eine grob vereinfachte konstruktionsgrammatische Erfassung des Artikels im Nominativ lässt sich zusammenfassend wie folgt darstellen: [der/ die/ das ← → AGENT], wobei die Formseite der Nominativkasuskonstruktion auf der linken Seite des Doppelpfeiles steht und 4 Dieser kurze Überblick ist limitiert, da er sich primär auf das Standarddeutsche bezieht und nicht auf die unterschiedlichen Ursprungsdialekte, welche die Grundlage für die diversen Sprachinselvarietäten bildeten. Außerdem werden in diesem Abschnitt nur einige Verwendungen der Kasus exemplarisch besprochen. Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 71 die Bedeutungsseite auf der rechten Seite des Doppelpfeiles. 5 Aus Platzgründen sind die drei Genera auf der Formseite zusammengefasst, die schematische Repräsentation ist auch nur ein Teil der sie enthaltenen gesamten Nominalphrase. Der Akkusativ wird im Standarddeutschen am häufigsten zur Markierung eines direkten Objekts (Funktion) verwendet, und zwar auf der Satzebene durch die Rektion des Verbs. Die Formseite des Akkusativs Singular wird beim Artikel als den (Maskulinum), die (Femininum) und das (Neutrum) markiert. Die Bedeutungsseite des Akkusativs lässt sich (im Aktiv) im Sinne der Frame-Semantik als das Frame-Element PATIENT definieren, d. h. desjenigen Aktanten eines Satzes, der durch die Handlung beeinflusst oder affiziert wird. Eine grob vereinfachte konstruktionsgrammatische Erfassung des Artikels im Akkusativ lässt sich zusammenfassend wie folgt darstellen: [den/ die/ das ← → PATIENT]. Der Dativ wird im Standarddeutschen typischerweise benutzt, um auf der Satzebene das indirekte Objekt (Funktion) zu markieren, wobei es auch andere Bedeutungen wie den Dativus ethicus, den Dativus possessivus, den Dativus finalis und den Dativus commodi bzw. incommodi gibt. Die Formseite des Dativs Singular wird beim Artikel als dem (Maskulinum), der (Femininum) und dem (Neutrum) markiert. Die Bedeutungsseite des Dativs lässt sich typischerweise als RECIPIENT, d. h. als der Empfänger des Gegebenen bezeichnen. Eine grob vereinfachte konstruktionsgrammatische Erfassung des Artikels im Dativ lässt sich zusammenfassend wie folgt darstellen: [dem/ der/ dem ← → RECIPIENT]. Der Genitiv wird im Standarddeutschen typischerweise benutzt, um unterschiedliche Attribute zu markieren, z. B. um als possessives Objekt (Funktion) Eigentums- und Besitzverhältnisse auszudrücken. 6 Die Formseite des Genitivs Singular wird beim Artikel als des (Maskulinum), der (Femininum) und des (Neutrum) markiert. Die Bedeutungsseite des Genitivs lässt sich im Falle von Besitzverhältnissen typischerweise als POSSESSOR, d. h. als der Besitzer einer Sache bezeichnen (z. B. der Hut des Onkels). Eine grob vereinfachte konstruktionsgrammatische Erfassung des Artikels im Genitiv Singular lässt sich zusammenfassend wie folgt darstellen: [des/ der/ des ← → POSSESSOR]. Die bis jetzt besprochenen vier unterschiedlichen Kasuskonstruktionen des definiten Artikels im Standarddeutschen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die erste Zeile spezifiziert die Formseite der vier Konstruktionen, die Bedeutungsseite spezifiziert das jeweilige Frame-Element der Konstruktion, und die Funktionsangabe spezifiziert die grammatischen Funktion. 5 Aus Platzgründen wird hier nur die Kasusrealisierung bei definiten Artikeln besprochen. Eine Gesamtanalyse der Kasusrealisierung der deutschen Nominalphrase ist viel komplexer als hier dargestellt. 6 Andere Funktionen sind der Genitivus qualitatis, der Genitivus partitivus, der Genitivus subjectivus etc. 72 Hans C. Boas Nominativ Akkusativ Dativ Genitiv Form der/ die/ das den/ die/ das dem/ der/ dem des/ der/ des Bedeutung AGENT PATIENT RECIPIENT POSSESSOR Funktion Subjekt Direktes Objekt Indir. Objekt Attribut Tab. 1: Vier Kasuskonstruktionen des definiten Artikels (Singular) im Standarddeutschen Wir wenden uns nun der Frage zu, wie die Distribution von unterschiedlichen Kasuskonstruktionen in zwei Sprachinselvarietäten aussieht, die für mehr als 150 Jahre mit zwei unterschiedlichen Sprachen in Kontakt gestanden haben, bzw. der Frage, inwieweit sich diese Distribution auf der Basis von Konstruktionen und der mit ihr verbundenen Frames vergleichen lassen. Das brasilianische Hunsrückisch und das Texas-Deutsche entstanden beide in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Resultat deutscher Auswanderung nach Amerika. Das brasilianische Hunsrückisch ist eine Koiné, deren phonetische, morphosyntaktische, semantische und lexikalische Struktur sich direkt auf das rheinische Hunsrückisch zurückführen lässt, welches im Hunsrück zwischen Rhein, Mosel, Nahe und Saar gesprochen wird (vgl. Damke 1997: 45). Laut Altenhofen (1996) weist das brasilianische Hunsrückisch einen relativ hohen Grad an Homogenität auf. Im Gegensatz dazu ist das Texas-Deutsche eine sehr variable Mischvarietät (sowohl Intraals auch Intersprechervariation), deren Ursprung sich auf mindestens fünf unterschiedliche regionale Varietäten zurückführen lässt (siehe Gilbert 1972; Boas 2009a). Im Gegensatz zum brasilianischen Hunsrückisch wurde das Texas-Deutsche seit den 1950er Jahren nicht mehr an jüngere Generationen weitergegeben, weshalb es aller Wahrscheinlichkeit noch vor der Mitte des 21. Jahrhunderts aussterben wird (vgl. Wilson 1986; Boas 2006; Boas/ Fingerhuth 2017). Die Daten zur Kasusdistribution in den beiden Sprachinselvarietäten kommen für das brasilianische Hunsrückisch von Damke (1997: 111) und für das Texas-Deutsche von Salmons (1994: 60). Beide Sprachinselvarietäten fallen u. a. dadurch auf, dass der Genitiv - außer in einigen wenigen idiomatischen Redewendungen - nicht vorkommt, d. h. viele der Funktionen des Genitivs werden entweder durch den Dativ ausgedrückt oder es werden Paraphrasen benutzt (z. B. die Schuhe von die Mutter oder die Mutter ihre Schuhe). Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 73 Form Nominativ Akkusativ Dativ Brasilien Texas Brasilien Texas Brasilien Texas Masc. de der de den dem den Fem. die die die die de die Neutr. das das das den dem den Bedeutung AGENT PATIENT RECIPIENT Tab. 2: Konstruktioneller Vergleich brasilianisches Hunsrückisch (vgl. Damke 1997) und Texas-Deutsch (vgl. Salmons 1994) Die Daten in Tabelle 2 unterscheiden sich im Vergleich zu den Daten des Standarddeutschen in Tabelle 1 also dadurch, dass die Bedeutungen bzw. die Formen des definiten Artikels im Genitiv nicht enthalten sind, da diese z. T. durch den Dativ übernommen worden sind. Das in Tabelle 2 von mir entwickelte konstruktionelle Darstellungsformat fällt durch zwei wichtige Aspekte auf: 1.) Direkte Vergleichsmöglichkeit: Die Gegenüberstellung vergleichbarer Daten aus zwei Sprachinselvarietäten erlaubt den direkten Vergleich der formalen Kasusmarkierung der definiten Artikel. Der Vorteil dieses Vergleichsformats liegt darin, dass man unkompliziert Parallelen bzw. Unterschiede zwischen unterschiedlichen Sprachinselvarietäten erkennen kann. So sehen wir z. B., dass sich die Dativmarkierung des definiten Artikels im brasilianischen Hunsrückisch in allen drei Genera von der des Texas-Deutschen unterscheidet. Formseitige Übereinstimmung liegt dagegen im Nominativ femininum, Nominativ neutrum und Akkusativ femininum vor. Diese direkte Vergleichsmöglichkeit kann entsprechend erweitert werden, um z. B. festzustellen, ob andere Sprachinselvarietäten, die mit anderen Sprachen wie dem Ungarischen, Rumänischen, Russischen oder Spanischen in Kontakt stehen, ähnliche Parallelen oder Unterschiede aufweisen. 2.) Paarung von Form und Bedeutung: Im Gegensatz zu bisherigen Darstellungen von Kasusparadigmen erlaubt das neue konstruktionelle Darstellungsformat einen direkten Bezug zwischen Form und Bedeutung. Dies ermöglicht es u. a., einen expliziten Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Formaspekten herzustellen, die dieselbe Bedeutung zum Ausdruck bringen. Als Beispiel sei hier die typischerweise vom Dativ übernommene Bedeutung des RECIPIENTs einer Handlung genannt, wie z. B. beim Verb helfen, welches den Assistance- Frame evoziert, welcher im FrameNet wie folgt definiert ist (verkürzte Version). 74 Hans C. Boas Assistance Frame (FrameNet) A HELPER benefits a BENEFITED_PARTY by enabling the culmination of a GOAL that the BENEFITED_PARTY has. A FOCAL_ENTITY that is involved in reaching the GOAL may stand in for it. Die für uns relevanten Frame-Elemente (FE) sind der HELPER (eine spezifische Instanziierung von AGENT; FrameNet-Definition: The HELPER performs some action that benefits the BENEFITED_PARTY) und die BENEFITED_PARTY (eine spezifische Instanziierung von RECIPIENT; FrameNet-Definition: The BENEFITED_PARTY receives a benefit from the action of the HELPER). Der Assistance-Frame wird u. a. von Verben wie helfen, Substantiven wie Hilfe und Adjektiven wie hilfreich evoziert. Der Ausschnitt des Valenzrahmens von helfen in (2) zeigt eine der möglichen syntaktischen Realisierungen von helfen mit zwei Nominalphrasen (NPs) wie in Lena hilft dem Hund, nämlich einer mit Nominativ markierten NP, die das FE HELPER des Assistance-Frames syntaktisch realisiert, und einer mit Dativ markierten NP, die das FE BENEFITED_PARTY syntaktisch realisiert. (2) [ <HELPER> NP.Nom ] helfen [ <BENEFITED_PARTY> NP.Dat ] Während im Standarddeutschen das FE BENEFITED_PARTY wie in (2) durch den Dativ markiert wird, ist dies in vielen Varietäten, so auch im brasilianischen Hunsrückisch und im Texas-Deutschen, wie wir in Tabelle 2 oben sehen, nicht durchgehend der Fall. Die Daten in Tabelle 2 haben gezeigt, dass es im brasilianischen Hunsrückisch und im Texas-Deutschen unterschiedliche Varianten gibt, um das FE RECIPIENT (eine Mutterkategorie des FE BENEFITED_PARTY) formseitig zu realisieren. Mit anderen Worten, obwohl wir es mit unterschiedlichen (und zum Teil überlappenden) Formen zu tun haben, werden diese Formen im Kontext wie in (2) alle auf der Bedeutungsseite als FE BENEFITED_PARTY interpretiert. Die in Abbildung 4 formseitig dargestellte Variation der Kasusmarkierung des definiten Artikels im Singular maskulinum reicht von der dem Standarddeutschen entsprechenden Dativform über die Form des Akkusativs und Nominativs bis hin zu phonologisch reduzierten und stark reduzierten Varianten. Der springende Punkt ist, dass im spezifischen Kontext alle formseitigen Varianten bedeutungsseitig als das FE BENEFITED_PARTY im Assistance-Frame identifiziert werden können. Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 75 BEDEUTUNG Semantic Frame Assistance FE BENEFITED_PARTY FORM dem NP den NP der NP de NP d NP Abb. 4: Variable Kasusmarkierung zur Identifikation des FE BENEFITED_PARTY (Singular maskulinum) Die in Tabelle 2 und Abbildung 4 dargestellten formseitigen Varianten, wie das FE BENEFITED_PARTY realisiert werden kann, zeigen zwei wichtige Punkte: 1.) Das konstruktionelle Darstellungsformat erlaubt einen direkten Vergleich nicht nur zwischen unterschiedlichen formseitigen Realisierungen eines bestimmten Frame-Elements eines semantischen Frames einer Sprachinselvarietät, sondern auch über Sprachinselvarietäten hinweg. Solch ein Vergleich macht es möglich, eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Formen über Sprachinselvarietäten hinweg zu vergleichen, da diese alle, wie in Abbildung 3, mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft werden können. 2.) Das konstruktionelle Darstellungsformat vergleichender Sprachinseldaten ermöglicht es, explizite Aussagen über den Zusammenhang bzw. die gegenseitige Beeinflussung unterschiedlicher linguistischer Informationen zu machen. In vielen anderen linguistischen Modellen wird eine Trennung zwischen unterschiedlichen Repräsentationsebenen und sog. sprachlichen „Modulen“ wie Syntax, Semantik, Morphologie und Phonologie gemacht, damit linguistische Phänomene modulspezifisch analysiert bzw. durch die Interaktion zwischen unterschiedlichen Modulen erklärt werden können. Der hier vertretene konstruktionelle Ansatz folgt dagegen den Grundannahmen der KxG, welche ohne unterschiedliche Repräsentationsebenen und ohne Trennung unterschiedlicher linguistischer Module auskommt, da sie oberflächenbasiert vorgeht („what you see is what you get“). So liegt ein wichtiger Vorteil der in Abbildung 3 dargestellten gegenseitigen parallelen Beeinflussung semantischer, phonetischer und morphosyntaktischer Informationen darin, dass z. B. die in der Literatur bereits abstrakt beschriebenen Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen linguistischen Informationen in der Entwicklung des Kasussynkretismus konkret fassbar gemacht werden können. So identifizieren z. B. 76 Hans C. Boas Heine und Kutova (2005) das Zusammenspiel unterschiedlicher Arten von linguistischen Informationen als Trigger für Kasussynkretismus. Possible causes of case syncretism (Heine/ Kutova 2005: 148): a. Owing to phonetic processes, different case forms become formally indistinguishable. b. One case category C 1 extends its functional domain and takes over the function of another category C 2 , eventually replacing the latter. c. One of the case markers disappears and its functions are taken over by the other case marker. Die Analyse in Abbildung 3 zeigt, wie Kasussynkretismus konstruktionell durch das Zusammenspiel unterschiedlicher Formfaktoren (Phonetik/ Morphologie/ Syntax) mit derselben Bedeutung modelliert werden kann. Die hier vertretene konstruktionsgrammatische Analyse lässt sich als Blaupause auch auf andere Aspekte des Kasussynkretismus anwenden. So lässt sich eine parallele Analyse auch auf die anderen Teile der Nominalphrase hin ausbauen, d. h. außer dem definiten Artikel im Singular auch auf die Formen des definiten Artikels im Plural, des indefiniten Artikels, des Adjektivs und des Substantivs. Eine umfassende Analyse würde sich dabei nicht nur auf das FE BENEFITED_PARTY des Verbs helfen beschränken, sondern würde auch eine parallele Analyse der anderen Frame-Elemente des Verbs helfen vornehmen und dann auch andere Verben analysieren, um zu sehen, inwieweit der Umfang des Kasussynkretismus bei Verben gleich ist. Aus Platzgründen kann dies aber nicht im Rahmen dieses Beitrags geschehen. 4 Zur „bottom-up“-Methodologie in der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik In diesem Zusammenhang seien zwei weitere wichtige methodologische Punkte genannt. Der erste Punkt betrifft die Methodologie, anhand welcher Datenanalysen im Rahmen der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik formuliert werden. Viele Sprachinselstudien zum Kasussynkretismus stellen die Verteilung von Kasus als ein relativ homogenes Phänomen dar. So mag - wie in Tabelle 2 oben - der Eindruck entstehen, als ob sich die Verteilung von Kasus im brasilianischen Hunsrückisch und im Texas-Deutschen homogen verhält. Dies ist aber nicht der Fall. So zeigt z. B. Boas (2009a), dass es im Texas-Deutschen sehr wohl Kasussynkretismus gibt, dieser aber ein relativ ungleichmäßiges Phänomen ist, welches sich nicht einheitlich analysieren lässt. Auf der Basis von Transkripten von soziolinguistischen Interviews mit 52 Sprechern des Texas- Deutschen aus New Braunfels und Umgebung, welche über das Texas German Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 77 Dialect Archive öffentlich zugänglich sind (siehe http: / / www.tgdp.org und Boas u. a. 2010), analysiert Boas (2009a: 203) u. a. die Verteilung von Akkusativ und Dativ in Nominalphrasen, die von den Präpositionen neben, unter, auf und in regiert werden. Die Ergebnisse sind in Tabelle 3 zusammengefasst. Präposition Akkusativ Dativ Dat. erwartet Akk. erwartet neben 3 (75 %) 0 (0 %) 1 (25 %) 0 (0 %) unter 2 (50 %) 2 (50 %) 0 (0 %) 0 (0 %) auf 50 (74 %) 6 (8 %) 11 (14 %) 1 (4 %) in 112 (77 %) 31 (21 %) 0 (0 %) 3 (2 %) Tab. 3: Kasusverteilung mit Wechselpräpositionen im Texas-Deutschen (Boas 2009a: 203) Die Daten in Tabelle 3 zeigen, dass es für die Mehrheit der Texas-Deutsch- Sprecher keine klare Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ (mehr) gibt. Die Daten zeigen auch, dass Kasussynkretismus im Texas-Deutschen kein einheitliches Phänomen ist und dass sich die prozentuelle Verteilung von Akkusativ vs. Dativ von Präposition zu Präposition unterscheidet. Dieser Eindruck wird auch von komplementären Daten bestätigt, die die Verteilung von Akkusativ vs. Dativ in Nominalphrasen bzw. bei Pronomen in Kontexten, in denen eine Präposition im Standarddeutschen den Dativ regiert, darstellen. Tabelle 4 zeigt die Verteilung von Akkusativ und Dativ in Positionen, die von den Präpositionen aus, zu, bei und mit regiert werden. Präposition Akk. NP Akk. Pronomen Dat. NP Dat. Pronomen aus 36 (88 %) 0 (0 %) 4 (10 %) 1 (2 %) zu 44 (60 %) 18 (25 %) 10 (14 %) 1 (1 %) bei 91 (81 %) 9 (8 %) 7 (6 %) 5 (5 %) mit 263 (83 %) 26 (8 %) 16 (5 %) 11 (4 %) Tab. 4: Kasuszuweisung nach Präpositionen, die den Dativ regieren (Boas 2009a: 204) 78 Hans C. Boas Die Daten bzgl. der Präposition, die im Standarddeutschen den Dativ regieren, zeigen ebenfalls, dass, obwohl in der Mehrzahl der Fälle eine klare Akkusativmarkierung statt einer Dativmarkierung vorliegt, es keine einheitliche Kasusverteilung gibt. So unterscheiden sich die vier Präpositionen nicht unerheblich voneinander, wie viele Sprecher jeweils den Akkusativ oder den Dativ bevorzugen. Diese Daten lassen den Schluss zu, dass Darstellungen von Kasussystemen in Sprachinseldialekten - wie in Tabelle 2 oben - allzu vereinfachend sind. Stattdessen ist die Lage erheblich komplexer, d. h. die Kasusverteilung sollte in erheblich umfangreicherem Rahmen erfasst werden, um so zu empirisch fundierteren Analysen zu kommen. Geeignet erscheinen hierfür die im Rahmen der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik gemachten Vorschläge bzgl. einer Analyse von Daten im natürlichen Kontext. Bybee formuliert das Konzept von gebrauchsbasierten Ansätzen wie folgt: The basic premise of Usage-based Theory is that experience with language creates and impacts the cognitive representations for language (Langacker 1987: 2000; Kemmer and Barlow 2000). Cognitive representations are built up as language users encode utterances and categorize them on the basis of phonetic form, meaning, and context. As incoming utterances are sorted and matched by similarity to existing representations, units such as syllable, word, and construction emerge. Thus, grammar can be viewed as the cognitive organization of one’s experience with language (Bybee 2013: 49). Auf die hier besprochenen Daten zum Kasussynkretismus angewandt, bedeuten Bybees Vorschläge, dass, wie bereits oben angedeutet, ein systematisches „bottomup“-Verfahren entwickelt werden muss, um so den Kasussynkretismus (sowie andere Phänomene) systematisch zu erfassen, empirisch zu beschreiben und dann zu analysieren. So sollte anhand größerer Datenmengen in einem ersten Schritt eine systematische Beschreibung und Analyse aller Verben und Präpositionen, die bestimmte Kasus regieren, durchgeführt werden, um zu sehen, welche Arten von Kasuskonstruktionen ähnlich wie in Tabelle 2 und Abbildung 3 erfasst werden können. Dabei muss sehr feinkörnig vorgegangen werden, d. h. für jedes Verb bzw. jede Präposition sollte bei jedem Vorkommen zunächst die konstruktionelle Verteilung ermittelt werden, um so u. a. folgende Fragen zu beantworten: 1.) Welche Form (morphologische Markierung in der Nominalphrase) lässt sich welcher Bedeutung (z. B. einem bestimmten Frame-Element eines semantischen Frames) bzw. welcher Funktion zuordnen? 2.) Gibt es in komplexen Nominalphrasen (bestehend z. B. aus Artikel, Adjektiv und Substantiv) klare einheitliche Kasusmarkierungen? 3.) Gibt es eine klare Eins-zu-eins-Zuweisung zwischen Form und Bedeutung, zwischen unterschiedlichen Verben, Präpositionen, Frames und Frame-Elementen? 4.) Welche Generalisierungen lassen sich anhand der so gewonnenen feinkörnigen Beobachtungen machen, um so eine empirisch fundiertere Analyse von Kasussynkretismus zu erreichen? Eine Implementierung solch eines gebrauchsbasierten „bottom-up“-Ansatzes im Rahmen Zur Vergleichbarkeit von Sprachinseldaten 79 der Konstruktionsgrammatik scheint auf den ersten Blick sehr aufwendig zu sein, aber in Anbetracht der in diesem Abschnitt kurz besprochenen Daten scheint dies ein angemessenes Unterfangen zu sein, wenn es uns dem Ziel einer empirisch fundierteren Analyse näher bringt. Der zweite methodologische Punkt betrifft die Art und den Umfang von Sprachinseldaten für eine Analyse des Kasussynkretismus (sowie anderer Phänomene). Um eine wirklich empirisch basierte Analyse durchführen zu können, reichen einzelne Fallbeispiele bzw. Daten von nur wenigen Sprechern nicht aus. So zeigt z. B. Boas (2009a) auf der Basis von unterschiedlichen, mit 52 Sprechern aufgezeichneten Daten, dass Kasussynkretismus im Texas-Deutschen kein einheitliches Phänomen ist, welches sich anhand abstrakter Generalisierungen auf der Basis von Daten mit relativ wenigen Sprechern adäquat erfassen lässt (siehe z. B. Salmons 1994). Für die Datenerfassung bedeutet dies: Soweit es wegen der vielen akut vom Aussterben bedrohten Sprachinselvarietäten überhaupt noch möglich ist, sollten unterschiedliche Arten von primären Sprachinseldaten (z. B. Wenkersätze, soziolinguistische Interviews etc.) mit den dazugehörigen Metadaten, die relevante Hintergrundinformationen über die aufgenommenen Sprecher liefern, systematisch aufgenommen und archiviert werden. Boas und Fingerhuth (2018) zeigen z. B., wie unterschiedliche digitale Sprachinselkorpora wie die Datenbank Gesprochenes Deutsch (DGD) am Institut für Deutsche Sprache, der Audioatlas Siebenbürgisch-Sächsischer Dialekte an der Ludwig-Maximilians-Universität oder das Texas German Dialect Archive an der University of Texas at Austin benutzt werden können, um systematisch größere Datensätze unterschiedlicher Sprachinselvarietäten analysieren und vergleichen zu können. Ein wichtiger Vorteil dieser digitalen Spracharchive liegt darin, dass Forscher für ihre Analysen direkt auf größere Datensätze zugreifen können. Ein anderer Vorteil besteht darin, dass die Sprachinselforschung durch die Nutzung von digital archivierten Sprachinseldaten empirischer wird, da die jeweiligen Analysen von Sprachinseldaten direkt überprüft und so die Ergebnisse reproduziert, verifiziert bzw. falsifiziert werden können. Dieses Vorgehen hat - zusammen mit dem gebrauchsbasierten Ansatz, Konstruktionen im konstruktionsgrammatischen Sinn als Beschreibungs- und Analyseeinheiten zu verwenden - das Potenzial, die Sprachinselforschung systematischer und empirischer zu gestalten. 5 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag habe ich diskutiert, wie das Konzept der Konstruktion im Sinne der Konstruktionsgrammatik (und der mit ihr verwandten Frame- Semantik) für eine gebrauchsbasierte vergleichende Analyse von Daten unterschiedlicher Sprachinseln angewandt werden kann. Am Beispiel des Kasussyn- 80 Hans C. Boas kretismus im brasilianischen Hunsrückisch und im Texas-Deutschen habe ich gezeigt, dass es nützlich sein kann, wenn man größere Datensätze im „bottomup“-Verfahren analysiert. Nur so lassen sich feinkörnige Unterschiede, Muster und Generalisierungen feststellen. Die oben skizzierten Vorschläge bzgl. einer systematischeren „bottom-up“-Analyse des Kasussynkretismus lassen sich auch auf andere Phänomene - wie z. B. Wortstellung, Lautwandel und lexikalische Variation - übertragen, wobei immer das Konzept der Konstruktion (Paarung von Form und Bedeutung/ Funktion) als Grund- und Vergleichseinheit im Zentrum der Analyse steht. Die in diesem Beitrag programmatisch skizzierten Vorschläge sollten in Zukunft nicht nur im Rahmen der von Höder (2014; 2018) entwickelten diasystematischen Konstruktionsgrammatik, welche für mehrsprachige Phänomene die Ebene der einzelnen Konstruktionen, die miteinander in einem sprachübergreifenden Konstruktionsnetzwerk verbunden sind, als zentral betrachtet, weiter untersucht werden. Darüber hinaus sollten zukünftige Analysen von Sprachinseldaten auch im Rahmen eines übergreifenderen, kognitiv realistischen Ansatzes wie der kognitiven Kontaktlinguistik (vgl. Zenner u. a. 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Die Erschließung der Rohbzw. dann der Primärdaten erfolgt im übergreifenden Beschreibungs- und Explikationsrahmen einer interkulturell-linguistisch orientierten Kontaktlinguistik und Sprachdynamikforschung und diagnostiziert einen gewissen Umbau des Systems. Als dessen Konsequenz werden die Konturen restrukturierter, quasi als „postbairisch“ anzusehender, lokaler Dialektausprägungen aufgezeigt. 1 Thematischer Einstieg und Betrachtungsziele Sprachen bzw. ihre Varietäten befinden sich als Kommunikationsmittel bekanntlich ständig im Fluss, sie unterliegen permanenter Veränderung, mal in rascherem, mal in langsamerem Tempo. Dies entspricht dem Wesen jeder natürlichen Sprache und hat nicht zuletzt mit der kognitiven Anlage des Homo loquens zu tun, die eine fortwährende Hervorbringung, Formung und Verarbeitung von Sprache ermöglicht bzw. sogar voraussetzt. Diese Dynamik bildet den Gegenstand der vorliegenden Betrachtungen. Es werden zwei miteinander verbundene Ziele verfolgt: Zum einen soll der Aufsatz zur Diskussion über den Dynamik-Begriff in der Sprachwissenschaft beitragen und zum anderen eine evidenzbasierte Übersicht zur Dynamik der mehrsprachigkeits- und interkulturalitätsbedingten Variations- und Veränderungsprozesse im Deutschen als Minderheitensprache (in Ungarn) erarbeiten. Somit soll ein Einblick in die Dynamik des gesprochenen Deutschen als Interaktionssprache am authentischen Material rezenter ungarndeutscher (landläufig „donauschwäbisch“ genannter) Dialektdiskurse mit besonderer Rücksicht auf Prozesse und Manifestationen der Sprach- und Kulturkontakte geboten werden. Schließ- 86 Csaba Földes lich geht es auch um die Frage, ob bei den Dynamikphänomenen eher bairischspezifische Sprachausprägungen oder aber doch generell aufzufindende deutschungarische Kontakterscheinungen vorliegen. Den allgemeinen theoretischen und methodologischen Denk- und Darstellungsrahmen stellen dazu in einem triangulativen Verständnis die Sprachdynamikforschung, die Kontaktlinguistik und die Zweibzw. Mehrsprachigkeitsforschung bereit. 2 Was ist „Dynamik“? Desiderate, Divergenzen und Defizite „Dynamik“ geht auf das physikalische Prinzip von Kraft und Gegenkraft zurück. Dieses Prinzip liegt dem Konzept Dynamik zugrunde, das sich mit der Wirkung von Kräften beschäftigt. Der Name „Dynamik“ (von altgriech. dýnamis ‚Kraft‘) für die Lehre von den Kräften wurde von Gottfried Wilhelm Leibniz in seinem „Specimen Dynamicum“ eingeführt. 1 Dabei erfolgte die Begriffsprägung auch unter Rückgriff auf Aristoteles und den griechisch-antiken philosophischen Dynamis-Begriff (vgl. Ritter 1972: 491). 2 Heute gehört die ursprünglich in Bereichen wie Akustik, Musik, Physik und technischer Mechanik verwurzelte „Dynamik“ in linguistischen Forschungen der Gegenwart zu den populären Begriffen, die in kaum einer Publikation über Sprachwirklichkeit, Varietäten und Sprechlagen fehlen dürfen. Sie ist gleichsam zu einem linguistischen Topos geworden. Es fällt dabei auf, dass „Dynamik“ meist undefiniert und ohne weitere Erläuterungen verwendet wird. Ein Beispiel aus der angelsächsischen Forschung ist die renommierte Monografie von Clyne (2003), welche den Terminus „Dynamik“ im Titel führt, ihn aber im Band nicht definiert. Aus der germanistischen Wissenschaftslandschaft ist z. B. der Aufsatz von Knipf-Komlósi (2012) zu nennen, der von „Wortschatzdynamik“ - sonst informationsreich - handelt, jedoch den Dynamik-Begriff nicht expliziert. 3 In Publikationen, in denen überhaupt eine Reflexion stattfindet, kommen durchaus heterogene Konzepte vor. In der Frankophonie wird Sprachdynamik z. B. von Noyau (2001: 1) als „diachrone Evolution, Pidginisierung und Kreolisie- 1 Unter „Kraft“ verstand Leibniz allerdings - in Anlehnung an die Lehre von Aristoteles - eine dem jeweiligen Körper innewohnende Materieeigenschaft (vgl. Ritter 1972: 491). 2 „Dynamis“ (lat. potentia ‚Potenz‘) gilt, wie Ritter (1972: 491) expliziert, als ein für die philosophische Tradition maßgeblicher Terminus und figuriert in Gegenüberstellung zu „Energeia“ (lat. actus ‚Akt‘). 3 Aus dem Verwendungszusammenhang lässt sich darauf schließen, dass damit vor allem Veränderungen im Gebrauch der Minderheitensprache Deutsch in Ungarn gemeint sind. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 87 rung und Sprachkontakte“ 4 expliziert. Bulot/ Blanchet (2013) verstehen darunter interne Vielfalt und soziolinguistische Entwicklungen in der Sprache. In einem etwas ähnlichen Herangehen versteht Mackey (2000: 1) darunter Sprecherzahl, Verbreitung der Sprache, Standardisierung und Bereicherung einer Normsprache, ökonomische und kulturelle Stärke der Sprecher, Status und Amtssprachen- Charakter. In der Slavia meint hingegen z. B. Roždestvenskij (1990: 247): „Die Dynamik der Sprache untergliedert sich in drei Prozesse: Evolution der Sprache, Entwicklung der Sprache und Vervollkommnung der Sprache“. Aus der germanistischen Forschung ist vor allem der kompakte Band von Schmidt/ Herrgen (2011) zu erwähnen, der ausführlich über die moderne Regionalsprachenforschung informiert und das gesamte Spektrum regional geprägten Sprechens, welches das gesprochene Gegenwartsdeutsch prägt und welches sich mitten in einem massiven Veränderungsprozess befindet, thematisiert. Hier wird auf Seite 20 eine explizite Definition gebracht: Unter Sprachdynamik [Hervorhebung im Original - C. F.] verstehen wir daher die Wissenschaft von den Einflüssen auf die sich ständig wandelnde komplexe Sprache und von den sich daraus ergebenden stabilisierenden und modifizierenden Prozessen. 5 Inhaltlich trifft das wohl tatsächlich zu, aber m. E. liegt hier ein Ebenenproblem vor; denn Sprachdynamik ist eine Eigenschaft von Sprache, sie ist quasi ein Realitätsobjekt, sie verkörpert also die Objektebene. Die „Wissenschaft“, von der in der Definition die Rede ist, stellt dagegen eine Metaebene dar, sodass die Explikation von Schmidt/ Herrgen (2011: 20) nicht wirklich die Sprachdynamik definiert, sondern die Sprachdynamikforschung. Der einfachen Operationalisierbarkeit halber wird dem vorliegenden Aufsatz die allgemeine Begriffsbestimmung aus der dynamischen Systemtheorie zugrunde gelegt, nämlich: The term dynamic as it is used in DST [Dynamic Systems Theory] has a fairly straightforward meaning and refers to the changes that a system undergoes due to internal forces and to energy from outside itself (De Bot u. a. 2013: 200). Mithin verändern sich Systeme sowohl durch die Interaktion mit ihrer Umwelt als auch infolge interner Reorganisation. Somit wird - wie bei Lenz (2003: 37) - dem Konzept der Sprachdynamik gegenüber Termini wie Sprachwandel und Variation der Vorzug gegeben. Denn der Begriff „Variation“ beschränkt sich eigentlich nur auf die rein sprachliche Ebene, 6 während das Konzept „Dynamik“ 4 Die Übersetzung aller nicht-deutschsprachigen Originalzitate erfolgt im vorliegenden Beitrag von mir - C. F. 5 Diese Definition wird auch von Bülow (2017: 109) wortgetreu übernommen. 6 Außerdem resultiert, wie z. B. bereits Weinreich u. a. (1968: 188) erkannt haben, nicht aus jeder Variation ein Sprachwandel. 88 Csaba Földes sprachliche Tendenzen und makrobzw. mikrosoziolinguistische Umstrukturierungen gleichermaßen berücksichtigt. 3 Sprachdynamik und Zugänge ihrer Erfassung Für die Beschreibung sprachdynamischer Prozesse speziell in Mehrsprachigkeitssettings stellt die Forschung mehrere Theorieangebote und Zugriffsmöglichkeiten bereit. Zu diesen gehören u. a. (1) die klassische Dialektologie/ Dialektgeografie (z. B. die Arbeit von Márkus 2014); (2) die herkömmliche Sprachinselforschung (z. B. Barabas/ Piringer 2015); (3) das aktuell viel diskutierte Konzept der Herkunftssprache (engl. heritage language, vgl. hierzu zusammenfassend Montrul 2016); (4) die nicht immer unproblematisch abgrenzbaren Ansätze bzw. Begriffe „Sprache(n) im Exil“ und „Diasporavarietäten“ (z. B. Bischoff u. a. 2014); (5) die gegenwärtig zunehmend betriebene Migrationslinguistik (z. B. Peterson 2015); (6) die Interface-Hypothese (z. B. Sorace 2011) und (7) die - teilweise auch durch die Sprachdynamikforschung inspirierte - Kontaktlinguistik im Rahmen einer Interkulturellen Linguistik (z. B. Földes 2005 und 2016a). Angesichts des Forschungsanliegens scheinen im gegebenen Kontext die Ansätze (6) und (7) - im Verbund mit der Sprachdynamikforschung, wie in Abschnitt 1 erwähnt - am produktivsten zu sein; die beiden schließen sich gegenseitig nicht aus. Bei der Interface-Hypothese handelt es sich darum, dass nicht alle Bereiche gleichermaßen für kontaktbedingte Veränderungen anfällig sind und dass Transfereffekte bei mehrsprachigen Sprechern vorrangig an grammatikinternen Schnittstellen 7 angesiedelt sind und zum Beispiel die Interaktion von Pragmatik und Syntax betreffen. Nach Sorace (2011: 1-2) soll die Interface- Hypothese Abweichungen (non-convergence) im Spracherwerb bilingualer Personen erklären, die durch sprachliche Interferenzen in den späten Phasen des Zweitspracherwerbs entstehen und vor allem an den sog. interfaces (Schnittstellen) auftreten. 8 Die Hypothese sagt hierzu aus, dass sprachliche Strukturen, 7 Schnittstellen (interfaces) werden allgemein als syntaktische Strukturen, die von bestimmten Bedingungen aus anderen Domänen (z. B. Pragmatik) abhängig sind, definiert (Sorace 2011: 6). Dies impliziert wiederum, dass die Strukturen nur dann grammatisch oder sinnvoll sein können, wenn die erwähnten Bedingungen erfüllt werden, d. h. wenn das Wissen um diese (pragmatischen) Eigenschaften vorhanden ist. 8 Syntaktische Optionalität wird als Beispiel für eine derartige Abweichung genannt. In Sprachen, die Null-Subjekte erlauben (z. B. Italienisch), sind z. B. dennoch Satzstrukturen mit overten Subjekten (oder Subjektpronomen) möglich, die den Satz inhaltlich nicht verändern. Im Englischen werden jedoch immer overte Subjekte benötigt. Hier zeigte sich, so Sorace/ Filiaci (2006: 361-363), dass monolinguale Italienisch- Sprecher Null-Subjekte bzw. Null-Subjektpronomen bevorzugen, während bilinguale Sprecher (Italienisch-Englisch) overte Subjekte eher akzeptieren. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 89 die sich an einer Schnittstelle zwischen der Syntax und anderen kognitiven Bereichen (meist: Pragmatik) befinden, im Vergleich zu Strukturen ohne Schnittstelle schwierig und unter Umständen auch nicht gänzlich erlernt werden können (vgl. Sorace 2011: 1). Dies trifft allerdings nicht nur auf den Zweitspracherwerb zu, sondern ist auch auf die intermediäre Phase des bilingualen Erstspracherwerbs sowie - was für die Beitragsthematik Relevanz hat - auf die frühen Phasen des Erstsprachabbaus (L1 attrition) übertragbar (vgl. Sorace 2011: 1). 9 Innerhalb des zugrundeliegenden Projekts (siehe ausführlich in Abschnitt 4) und somit auch des vorliegenden Beitrags kommt der interkulturell-linguistisch ausgerichteten Sprachkontaktforschung die zentrale erkenntnisleitende Rolle zu (vgl. Földes 2016a und 2016b). Denn das sprachlich-kommunikative Verhalten ungarndeutscher Sprecher unterscheidet sich aufgrund ihrer durch diskursive Mehrsprachigkeit geprägten Lebenswelt grundlegend von der Kommunikationskultur einsprachiger Deutsch-Sprecher z. B. im zusammenhängenden deutschen Sprachraum: Als Reflex auf die veränderten soziokulturellen Rahmenbedingungen ist die Schaffung neuer kommunikativer und sprachlicher Formen unumgänglich. Als Ergebnis konstituieren sich u. a. spezifische Zwischenformen und (kreative) Verbindungen aus den verfügbaren Kodes. So entstehen idealtypisch drei verschiedene Ausprägungsformen sprachkommunikativer Kontaktphänomene: (a) Prozesse interlingualer Transfers/ Übernahmen, (b) zwischensprachliche Kopien und (c) Sprachalternierungen. Die ersten beiden Manifestationsarten ordne ich (siehe Földes 2016b: 325) der Kategorie Hybridität zu, während Typ (c) als Synkretismus betrachtet wird. Dabei muss klar sein, dass im Hinblick auf die reale Sprachwirklichkeit eine strikte Unterscheidung nicht oder zumindest nicht immer möglich ist. Als Hyperonym könnte man in Anlehnung an Muysken (2005: 23) von sprachlichen Interaktionsphänomenen (language interaction phenomena) sprechen. Die durchgeführte, theoriegeleitete korpusbasierte Studie operierte grundsätzlich mit empirisch-induktiven Methoden, im Rahmen derer das Datenmaterial in einem Bottom-up-Verfahren erfasst wurde. 10 Die Korpusarbeit beruhte dabei auf dem Prinzip des sog. „Analyseparadigmas“ 11 im Sinne von Steyer (2004: 93). Sprachliche Merkmale wurden auf der Basis idiolektaler Repräsentationen 9 Analog stellen Tsimpli u. a. (2004: 258, 263 und 274) fest, dass syntaktischer Erstsprachabbau auftritt, wenn nicht nur rein syntaktische Eigenschaften (z. B. Kasus oder Kongruenz) betroffen sind, sondern auch semantische bzw. pragmatische Interpretationen gefordert werden, sobald man sich für eine der syntaktischen Optionen entscheidet. 10 Im Sinne der modernen Korpuslinguistik: „Linguists in this line of research typically observe patterns in bilingual corpora and aim to explain these patterns by paying close attention to factors such as frequency and priming“ (Adamou 2019: 643). 11 Diese Vorgehensweise entspricht etwa dem sog. korpusgesteuerten („corpus-driven“) Ansatz von Tognini-Bonelli (2001: 65-100). 90 Csaba Földes erschlossen sowie interpretiert und dabei Sprachkontakterscheinungen und spezielle Phänomene der Mehrsprachigkeit auf ihre formalen und funktionalen Merkmale hin analysiert. 4 Kontextrahmen und Datenerhebung der Untersuchung Die vorliegende explorative Untersuchung erfolgte im Rahmen eines drittmittelfinanzierten Forschungs- und Dokumentationsprojekts mit dem Titel „Digitales Portal ,Ungarndeutsches Zweisprachigkeits- und Sprachkontaktkorpus‘“ (UZSK), das momentan vor dem Abschluss steht. 12 Das Vorhaben konzentriert sich - im Sinne einer Doppelperspektive - auf die Untersuchung und Dokumentation zweisprachiger Rede im sog. bilingualen Diskursmodus am Material des Deutschen als Minderheitensprache in Ungarn. Mithin richtet sich das Projekt zum einen auf die kontakt- und variationslinguistische Erforschung ungarndeutscher mündlicher Sprechhandlungen im interaktiven Alltag der Verständigung und zum anderen auf die Erstellung eines webbasierten Portals inklusive Datenbank für authentische ungarndeutsche Diskursrealisationen in Form von Tonaufnahmen, Transkripten und Texten. 13 In der Projektdatenbank sind im Augenblick 139 Audiodateien und 70 Transkripte aus 19 ungarndeutschen Ortschaften enthalten. Davon wurden bereits 117 Audiodateien auf der Internetpräsenz öffentlich zugänglich gemacht; weitere 22 sind (noch) verborgen. Die Datenbank enthält ferner 58 Transkripte, davon acht (noch) unsichtbar. Die Abspielzeit beträgt 34 Stunden und 21 Minuten (davon 25 Stunden und 35 Minuten öffentlich zugänglich). Die Datenbasis speziell für den vorliegenden Beitrag bilden 15 Gespräche (authentische Ingroup- Unterhaltungen und halbgesteuerte Interviews mit älteren Noch-Dialektsprechern) aus zwei ausgewählten Orten: Pußtawam/ Pusztavám 14 und Iklad/ Iklad, wobei aus der erstgenannten Gemeinde neun und aus der zweiten sechs Gespräche stammen. Beide Orte zeichnen sich durch oberdeutsche Dialektvarietäten aus: Die Basismundart ist in Pußtawam ein donaubairischer ui-Dialekt und in Iklad ein donaubairischer ua-Dialekt. Für die Auswahl gerade dieser Orte sprechen mehrere Gründe. Zum einen liegen sie geografisch weit voneinander ent- 12 Mit ausführlichen Informationen dient die Projekt-Webseite unter https: / / www. uzsk.de bzw. https: / / www.ungarndeutsch.de. Für die Förderung sei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und für die freundliche Mitwirkung den Projektmitarbeitenden Uschi Schmidt, M.A. und Johannes Steudel, M.Ed. herzlich gedankt. 13 Über Inhalts- und Zielstruktur sowie über das Methodeninventar des Projekts wird u. a. in Publikationen von Földes berichtet (vgl. 2016a; 2016b). 14 Zuerst wird die (ungarn-)deutsche, dann die ungarische Ortsnamenvariante genannt. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 91 fernt, was einer größeren Repräsentativität zuträglich ist. Zum anderen weist Iklad nicht nur eine deutsch-ungarische Zweisprachigkeit auf, sondern ist eine dreisprachige Gemeinde, in der neben der ungarischsprachigen Mehrheit eine deutsch- und eine slowakischsprachige Minderheit seit Langem in einem engen Miteinander leben. Der zeitliche Umfang des ausgewerteten Materials beträgt 05: 43: 37, wobei 02: 48: 49 auf Pußtawam und 02: 54: 48 auf Iklad entfallen. Verschriftlicht wurde dies auf 310 Transkriptseiten: Dabei ist Pußtawam mit 159 und Iklad mit 151 Seiten vertreten. Karte 1 zeigt die Topografie der einzelnen Erhebungspunkte. Karte 1: Topografie der Erhebungspunkte Pußtawam/ Pusztavám und Iklad/ Iklad Den lebensweltlichen Hintergrund des Projekts bildet in Bezug auf die sprachliche Binnen- und die Außenstruktur eine besondere sprachkommunikative Situation mit spezifischen Dynamik- und Heterogenitätsmustern des Deutschen (vgl. Földes 2016b: 323-325). 15 Die Sprachlichkeit der gegenwärtigen deutschen „Sprachinseln“ in Ungarn dürften sich wohl - vereinfachend ausgedrückt - durch vier Hauptmerkmale charakterisieren lassen: (1) Dialektalität, (2) Lokalismus, (3) Formen von Zweibzw. Mehrsprachigkeit und (4) generationenbedingte sukzessive Sprachumstellungstendenzen (language shift) zugunsten der Umgebungssprache Ungarisch. Die Dialektalität bezieht sich auf sog. Siedlungsmund- 15 Detaillierte Auskünfte über Geschichte, Kommunikationsprofil und Sprachgebrauchsstrukturen von Ungarndeutschen finden sich z. B. in den Arbeiten von Erb (2010) und Knipf-Komlósi/ Müller (2018). 92 Csaba Földes arten vor allem fränkischer, bairischer und seltener schwäbischer Provenienz 16 in ihrer nähesprachlichen oralen Form mit gravierenden Mischungs- und Ausgleichsvorgängen; der vorliegende Aufsatz fokussiert, wie bereits erwähnt, gezielt auf Dialekte bairischer Herkunft. Am prägnantesten treten heute ein durchdringender soziokultureller und zwischensprachlicher Austausch sowie in der Konsequenz diverse Manifestationen von - immer instabiler werdender - Mehrsprachigkeit und Interbzw. Transkulturalität in Erscheinung. Ungarndeutsche kommunizieren heute sprachübergreifend, sie praktizieren einen translingualen deutsch-ungarischen Sprachgebrauch, indem sie zwei (gelegentlich mehr) Sprachen parallel, aber auch ineinander verschränkt bzw. gemischt verwenden. Folglich kommt es regulär zu Überlappungen, Verschiebungen, Verschränkungen und Überkreuzungen heterogener Art; die oralen Varietäten der Ungarndeutschen übernehmen Elemente, grammatische Strukturen, Textbzw. Diskurstraditionen und kommunikative Handlungsmuster in großem Umfang aus der omnipräsenten Kontaktsprache Ungarisch. In den verschiedenen Kommunikationszusammenhängen wird produktiv wie rezeptiv im Wesentlichen auf drei sprachliche Kodes und ihre subtilen Übergangsbzw. Mischformen zurückgegriffen, und zwar auf die jeweilige ungarndeutsche Ortsmundart, auf die ungarische Standardvarietät und - deutlich seltener - auf die deutsche Standardvarietät. Damit liegt eine (rezessive) Zweibzw. Mehrsprachigkeit strukturell unähnlicher Sprach(varietät)en mit ungleichwertigem Status und Prestige vor, was zu einem asymmetrischen Charakter des Sprachkontaktes - eigentlich eher: S p r e c h kontaktes - führt. Da die Forschungsliteratur keinen etablierten Terminus bereithält, schlage ich die Formulierung „bilinguale Dialekt-Standard-Diglossie“ vor, während ich den in der mündlichen Ingroup-Kommunikation verwendeten besonderen, bilingual-transkulturell geprägten Varietätentyp als Kontaktdeutsch bezeichne (vgl. Földes 2005: 37). Dabei sind die sprachlichen Formen und ihre Diskursrealisierungen durch eine außerordentlich hohe Dynamik gekennzeichnet, mitunter zeigen sich sogar Ansätze von Fluktuation. Folglich ist Okkasionalität ein immanentes Merkmal ungarndeutscher Redeweise: Ungarndeutsche praktizieren einen spezifischen, ausgesprochen kontextgebundenen bilingual-oszillierenden Sprechbzw. Gesprächsstil, der in Abhängigkeit von den kommunikativen Bedingungen variiert wird und der sogar für die Symbolisierung sozialer Identität (und Alterität) eine Rolle spielt 17 (siehe Földes 2016b: 325 und Földes 2020b). 16 Es handelt sich letztlich um „dachlose“ Mischmundarten, für welche die Überdachung inzwischen weitgehend das Ungarische übernommen hat. 17 Die Entstehungsgeschichte dieses „Kontaktdeutschen“ scheint überaus komplex zu sein und ist bislang noch nicht ausreichend erforscht. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 93 5 Empirische Befundsituation 5.1 Gesamteindruck Es konnte eine Vielfalt an vor allem einander bedingenden mehrsprachigkeits- und sprachkontaktinduzierten Auffälligkeiten aufgedeckt werden, was davon zeugt, dass der analysierten Varietät ausdrücklich das Potenzial eines „Kontaktinkubators“ (Földes 2020b) zufiel. Sämtliche im Beitrag angeführten Belege werden nach der Originaltranskription der Projektarbeit wiedergegeben, sie entstammen allesamt der im Internetauftritt veröffentlichten Datenbasis. Neben der Nennung des Erhebungsortes steht (in Klammern) das Kennzeichen der Datei, unter dem sie in der Datenbank auffindbar ist. Über Anlage und Vorgehensweise des eigens für das Projekt entworfenen Notationssystems, das auf dem Minimaltranskript von GAT 2 basiert, wurde im Aufsatz von Földes (2016a: 176-178) detailliert berichtet. Beleg (1) aus Pußtawam (UZSK_E_0029): 18 (1) 18 Da alle im Aufsatz vorgestellten Diskursproben aus dem Projekt stammen, soll im Weiteren auf die Angabe des Datenbanknamens UZSK verzichtet werden. 94 Csaba Földes Ähnliches zeigt auch Beleg (2), der aus Iklad stammt (E_0052): (2) Aus diesen Gesprächsausschnitten mit einem asymmetrischen Kommunikationsszenario, wie auch aus zahlreichen anderen, ist ersichtlich, dass Ungarndeutsche heute fortlaufend zwischen Sprachen und Sprechweisen flanieren. 5.2 Objektkategorie „Transferenzen“ Im Sinne des in Abschnitt 3 angesprochenen terminologischen Apparats und ordnenden Prinzips sind an erster Stelle Hybriditätsmanifestationen, vor allem verschiedene Ausprägungstypen von Transferenzen, zu erwähnen; im vorliegenden Aufsatz werden aus Umfangsgründen exemplarisch ausgewählte Beispiele aus der Beleg-Vielfalt herausgegriffen und fokussiert. In der internationalen Literatur weist z. B. Matras (2009: 146-148) nach, dass in Situationen kultureller Überschneidung nicht nur konkretes Sprachmaterial (z. B. Wortschatzelemente), sondern auch abstrakte Modelle, Regeln, Bedeutungen und Gebrauchskontexte für Wörter oder Strukturen transferiert werden können, was auch unser Projekt empirisch bezeugt. Das Untersuchungskorpus ist besonders reich an lexikalisch-semantischen Transferenzen 19 mit unterschiedlichem Status, ob als ad-hoc-Übernahmen oder bereits als Systemelemente. Wie in anderen Sprachkontaktsituationen beginnt auch in den beschriebenen Orten das Kontaktgeschehen im Spezialvokabular. 19 Auf die ebenfalls zahlreichen phonologischen Transferenzerscheinungen wird in diesem Aufsatz nicht eingegangen. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 95 Dazu gehören hauptsächlich Kulturwörter und „Sachmodernismen“, 20 die mittlerweile teilweise zum festen Vokabular der Ungarndeutschen gehören und als Komponenten ihres mentalen Lexikons nicht mehr wegzudenken sind. Beispielsweise Beleg (3): injekció: ,Injektion‘ (Iklad, E_0059), Beleg (4): gyár: ,Fabrik‘ (Iklad, E_0057), 21 Beleg (5): *rendőrségtiszt: ,Polizeioffizier‘ (Pußtawam, E_0029) und Beleg (6): *pulóvering: ,Pulloverhemd‘ (Pußtawam, E_0035). Die mit Sternchen versehenen Belege (5) und (6) sind wegen ihrer doppelgesichtigen Hybridität von besonderem Interesse, da sie vom Sprachmaterial her wie einfache ungarische Transfers aussehen, in ihrer Konzeptualisierung aber deutschen Nominationsmustern folgen: Das Kompositum rendőrségtiszt (wörtlich: „Polizeioffizier“) entspricht nicht der ungarischen Standardform, nach ihr müsste es rendőrtiszt (also wörtlich: „Polizistoffizier“) heißen. Ähnlich verhält es sich auch mit pulóvering (wörtlich: „Pulloverhemd“), wobei die usuelle ungarische Form ingpulóver (wörtlich: „Hemdpullover“) lautet. In der Datenbasis sind auch retroaktive Transfers aus dem Kernlexikon vertreten, was ein Indiz für ein hohes Maß des Sprachkontakts bzw. für eine fortgeschrittene Stufe der Sprachumstellung sein kann, beispielsweise Beleg (7): varrni: ,nähen‘ (Pußtawam, E_0031), Beleg (8): ajándék: ,Geschenk‘ (Pußtawam, E_0029), Beleg (9): pontosan: ,genau‘ (Pußtawam, E_0035) und Beleg (10): bánya: ,Grube‘ (Iklad, E_0057). In Iklad finden sich durch die Juxtaposition dreier Sprachen reichlich Belege nicht nur für deutsch-ungarische, sondern auch für deutsch-slowakische Sprachkontakte, mitunter auch für dreisprachigkeitsgeprägte Hybridität, wie in Beleg (11) (E_0059): (11) In diesem sprachlichen „Patchwork“ finden sich innerhalb einer dominant deutschsprachigen Äußerung die Wörter ručka (,Eimer‘) und ovládať (,können‘) 20 Sie können auch als Bedürfnisentlehnungen zur Schließung von Bezeichnungslücken betrachtet werden. Mit allgemeinen Aspekten der Sachmodernismen hat sich in der wissenschaftlichen Literatur über Ungarndeutsche u. a. Erb (2010: 127 und 132) eingehend beschäftigt. 21 Auch im Pußtawamer Material vorhanden (vgl. E_0029). 96 Csaba Földes aus dem Slowakischen und mondom (,ich sage‘) sowie hát (Diskurspartikel zum Redeeinstieg ,nun‘, ,ja‘) aus dem Ungarischen. Die Transfers betreffen sowohl Inhaltsals auch Funktionswörter. Neben Substantiven ist vornehmlich der Anteil pragmatisch-kommunikativer Elemente auffällig, beispielsweise findet sich als Beleg (12) die Diskurspartikel hát im Pußtawamer Teilkorpus in der Audioaufnahme (E_0033) bei einer Gesprächsdauer von 16 Minuten und 23 Sekunden 35-mal und in der Datei (E_0034) bei 26: 56 nicht weniger als 62-mal. Außerdem enthält das Material eine Reihe von Junktionen, z. B. als Beleg (13) aus Pußtawam (E_0033) die konsekutive Subjunktion úgyhogy (,sodass‘), und Satzäquivalente, z. B. die expressive Interjektion als Beleg (14) aus Iklad (E_0052) jaj (,au‘). Ebenfalls werden metasprachliche Einschübe und narrative Strukturierungen ungarischer Provenienz verwendet. Ein eingespieltes Duo ergeben die hybriden Komposita wie z. B. (Beleg 15) mellhártyagrip (,Rippenfellgrippe‘, eigentlich: Rippenfellentzündung) aus Pußtawam (E_0029) oder Beleg (16) gulyássuppe (,Gulaschsuppe‘) in demselben Dialog. Letzteres Item demonstriert den öfter beobachtbaren schwankenden oder mitunter gar fluktuierenden Sprachgebrauch, denn dieselbe Sprecherin bediente sich wenige Sekunden später der ungemischten Form (Beleg 17) Gulaschsuppe. Eine noch stärkere Verflechtung der beiden Sprachen äußert sich in den Kompromissformen, wie z. B. in Beleg (18) aus Pußtawam (E_0029), im Fall des Substantivs kukriza aus deutsch-dialektal Kukuruz und ungarisch kukorica (,Mais‘). Ferner findet man in den ausgewerteten Diskursen u. a. hybride Wortgruppen (Adjektiv-Substantiv-Verbindungen), wie z. B. in Beleg (19) aus Iklad (E_0057): (19) Hier folgt die Nominalgruppe katasztrális joch einem ungarischen Strukturschema katasztrális hold, in dem das österreichische Feldmaß Katastraljoch [< Kataster und Joch]: 5755 qm, enthalten ist. Dabei dürfte die sog. Schemasteuerung (vgl. Herrmann/ Grabowski 1994: 356-358) eine Rolle spielen: Der Sprecher greift auf schematisiert vorliegendes prozedurales Wissen darüber zurück, wie in einer bestimmten Kommunikationssituation zu sprechen ist. Sogar der Signifikanten-Transfer 22 von ganzen Nominalgruppen kommt vor, wie in Beleg (20) aus Iklad (E_0057) im Falle des Ausdrucks rendes katona (,normaler Soldat‘): 22 Nach dem Begriffsapparat von Sakel (2007: 15-16) und Gardani (2019: 104): „MATborrowing“. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 97 (20) In Beleg (21) aus Iklad (E_0057) fällt eine Modelltransferenz aus dem Ungarischen auf: (21) Während man im Deutschland-Deutschen die Jahreszahlen bis 2000 beim Sprechen nach Hundertern zusammenfasst, also neunzehnhundertsiebenundvierzig, gestaltet der Iklader Sprecher die Aussprache von 1947 - wie im Ungarischen üblich - in Tausenderschritten. Bemerkenswert ist hier noch die Wortverbindung malinka robot, eigentlich: malenkij robot, die als substanzieller Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zu den identitätssensiblen kulturellen Schlüsselwörtern der Ungarndeutschen zählt. Der Ausdruck russischer Provenienz (korrekt: маленькая работа, transliteriert: malen’kaja rabota) stammt aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bedeutet auf Deutsch ,kleine Arbeit‘. Es ist nicht ausgeschlossen, wenngleich nicht sehr wahrscheinlich, dass der Sprecher auch durch die mögliche slowakische Form malá rabota beeinflusst worden war. Der Ausdruck umschreibt die Deportation von Hunderttausenden Donauschwaben, die mit Gewalt aus dem Karpatenbecken in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit in Gulag-typische Straf- und Arbeitslager verschleppt wurden. 23 23 Zu den ereignishistorischen Einzelheiten und ihrer Einordnung vgl. den Aufsatz von Spannenberger (2014). 98 Csaba Földes Ein Kontaktphänomen offenbart sich darin, dass besonders Fremdwörter, die in beiden Sprachen fast homophon sind, in den meisten Fällen lautlich nicht angepasst, sondern nach der ungarischen Aussprache realisiert werden, wie z. B. autóbusz 24 in Beleg (22) aus Pußtawam (E_0029) oder rádió in Beleg (23) aus Iklad (E_0059): (22) (23) Für metakommunikative Kommentare (z. B. Beleg 35) zur narrativen Strukturierung oder für metasprachliche Einschübe wird fast immer und auch zum Markieren von Korrekturen sehr oft Ungarisch eingesetzt. 25 Neben Transfers von Sprachmaterial bietet die Datengrundlage auch ein breites Spektrum von Modelltransferenzen, vgl. die zwischensprachliche Kopie der Rektionsbeziehung in Beleg (24) aus Iklad (E_0059): (24) Das transferierte ungarische Verb - bzw. die Infinitivform törődni (,sich kümmern‘) - gelangte zusammen mit seiner ungarischen formalen Valenzstruktur in den deutschsprachigen Kontext: Die im Deutschen übliche Rektionsform sich um jmdn. kümmern wich der Rektionsbeziehung des ungarischen Verbs als Regens, 26 das regulär mit einem Instrumentalsuffix steht (törődik valakivel). Folglich erschien im deutsch-dialektalen Satz analog die Präpositionalergänzung als sich mit jmdm. kümmern. Slowakisch als Partnersprache kann hier keine Rolle gespielt haben, da die betreffende Rektionsstruktur des Slowaki- 24 Dem ungarisch geformten Substantiv wird offenbar ein Pluralsuffix -e in Deutsch beigefügt. 25 Ähnliches bilanzieren z. B. Lattey/ Tracy (2005: 371) über Deutsch in den USA. 26 Mit dem (eher strukturalistisch ausgerichteten) Begriffssystem von Henn (1978: 141- 142) kann man diesen Transferenztyp „Kontrastnivellierung“ nennen. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 99 schen (stará sa o niekoho) mit der des Deutschen (und nicht mit der des Ungarischen) übereinstimmt. Die identifizierten Transferenzphänomene reichen also weit über die Lexik im engeren Sinne hinaus; oft liegt ein Ineinandergreifen der verschiedenen Sprachebenen vor. In Beleg (25) aus Pußtawam (E_0034) wird die komplexe grammatische Natur des ungarischen Transferats végig deutlich: (25) Dieses ungarische Wort (,längs bis zum Ende‘ und ,gänzlich, bis ins Einzelne‘) kann in einer hybriden deutsch-ungarischen Konstellation - laut seiner Einordnung in der ungarischen Grammatik - sowohl als Adverb wie auch als Verbpräfix vorkommen. Hier steht es als Adverb. In den Belegen (26) und (27) aus demselben Gespräch (Pußtawam, E_0034) bzw. Iklad (E_0049) 27 tritt es jedoch als Verbpräfix auf: (26) (27) Eine große - sogar intraindividuelle - Schwankung bzw. Variation zeigt sich z. B. in folgenden Belegen aus Iklad (E_0059), in denen dieselbe Sprecherin dieses végig einmal als untrennbares (vgl. 28) und einmal als trennbares Präfix (vgl. 29) einsetzt: 27 In diesem Iklader Beleg kommt das Adverb vraj (,angeblich‘) aus der anderen Kontaktsprache Slowakisch. 100 Csaba Földes (28) (29) Oft liegen hybride Formen grammatischer Provenienz vor, vgl. Beleg (30) aus Iklad (E_0057): (30) In diesem Diskurssegment wurde das ungarische Modaladverb hogyne (im vorliegenden Falle in zustimmendem Sinne als ,freilich‘, ,gewiss‘, ,und ob‘) transferiert und mit einer Negationspartikel ned (,nicht‘) kombiniert, wodurch letztlich eine doppelte Negation entstand, was allerdings im Ungarischen an dieser Stelle nicht notwendig bzw. nicht üblich gewesen wäre. Die formalgrammatische Anpassung der ungarischen Transferate fällt unterschiedlich aus, was auch in ihren Flexionsbesonderheiten zum Ausdruck kommt. Im nachfolgenden Iklader Beleg (31) (E_0061) wird das Nomen osztrákok (,Österreicher‘) mit ungarischem Pluralsuffix, jedoch ohne die im Ungarischen notwendige Akkusativendung 28 übernommen: 28 Die kanonisierte ungarische Form wäre osztrákokat gewesen. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 101 (31) In Beleg (32) erhält das Substantiv bomba (,Bombe‘) die ungarische Akkusativendung nicht, sondern wird einfach im Nominativ eingesetzt. Da die Form des deutschen Pendants Bombe im Nominativ und im Genitiv identisch ist, lässt sich annehmen, dass die Sprecherin in Iklad (E_0059) das Element in grammatischer Hinsicht als deutsch behandelte: 29 (32) Das nächste Item aus Pußtawam (E_0029) ist ein Beispiel dafür, dass ungarische Transferenzwörter beim interaktiven Gebrauch den Bauregeln des Deutschen unterliegen können: Das Lexem tanú (,Zeuge‘) steht nach dem Kardinalzahladjektiv zwei ohne Pluralzeichen (also im Singular). Dies scheint durch das Konzept des Ungarischen motiviert zu sein, da dort die Bezugswörter nach einem (bestimmten oder unbestimmten) numeralischen Attribut immer im Singular verwendet werden. (33) Komplexe hybride Wortgruppen kommen auch oft vor, vgl. z. B. Beleg (34) aus Pußtawam (E_0029): 29 Das slowakische Äquivalent von Bombe heißt ebenfalls bomba, eine Deutung aus der Richtung Slowakisch kommt wohl trotzdem nicht infrage, da dort die Akkusativform bombu ist, also sich vom Nominativ unterscheidet. 102 Csaba Földes (34) Die bilingual-hybride Präpositionalphrase in de nyugdíj gange (,in die Rente gegangen‘) zeigt eine enge Symbiose der beiden Sprachen. Gleichzeitig erkennt man auch die ausgeprägte sprecherseitige Sprachsensibilität und Sprachreflexion in der Form einer Reparatur, durch welche die Sequenz mit dem Transferenzlexem anschließend im einsprachig-deutschen Modus wiederholt wird. Beleg (35) aus Iklad (E_0061) operiert mit drei Sprachen: (35) Das slowakische Substantiv nevesta bedeutet ,Schwiegertochter, Braut‘ und wird im deutsch-ungarisch-slowakischen Gesprächssegment in der Form njevesti (orthografisch korrekt: nevesty) im Plural auf Slowakisch flektiert. Im Objektbereich der Morphosyntax ist folgender Beleg aus Pußtawam (E_0029) im Hinblick auf seinen zweiteiligen Infinitiv Perfekt von Interesse: (36) Diese Konstruktion kann man auf zweierlei Weise deuten: (1) Transfer der normativen Vergangenheitsform des ungarischen Verbs intézkedik (,anordnen‘, ,disponieren‘, ,Maßnahmen ergreifen‘) und ihre Verbindung mit dem deutschen finiten Hilfsverb haben; (2) das ungarische Verb wird deutsch flektiert (Partizip II mit dem Dentalsuffix), was ein Präsensperfekt ergibt. Es handelt Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 103 sich um eine Widerspiegelung bilingualer Verarbeitungsprozesse, 30 indem vorhandene Wissensschemata und -routinen zu neuen kognitiven Einheiten im Mehrsprachenspeicher werden. Dank produktiver interkultureller Allianzen entsteht eine plurilinguale Grammatik als materielle Basis der mehrsprachigen Sprachkompetenz. Beleg (37) aus Iklad (E_0063) ist nach der Terminologie von Sakel (2007: 15- 16) und Gardani (2019: 104) ein „PAT-borrowing“ und weist außerdem die Besonderheit auf, dass eine Funktion doppelt markiert wird: (37) Es handelt sich einerseits um die deutsche Präposition mit, andererseits um den ungarischen Komitativ mit dem Suffix -val. Den Regeln der ungarischen Sprache gemäß verschmilzt der v-Anlaut des Suffixes mit dem Konsonanten des Wortauslautes und verdoppelt ihn. Zweifache Markierungen stellen bei intensivem Kontaktgeschehen in verschiedenen Sprachenkonstellationen keine Rarität dar. Das Besondere ist aber im vorliegenden Fall, dass sich typologisch disparate Sprachen in einer Kontaktstellung befinden, sodass die Kennzeichnung nicht einfach nur doppelt, sondern mit jeweils anderen kategorialen Mitteln ausgedrückt wird: zuerst, wie es im Deutschen üblich ist, mit einem Wortgruppenlexem, also einer Präpositionalphrase (mit zehntausend Forint), dann noch einmal, wie im Ungarischen, als suffigiertes Wort, also mit einem Einwortlexem (forinttal). Belege (38) und (39) aus Pußtawam (E_0034) demonstrieren in Konsekutivsätzen nach der aus dem Ungarischen transferierten Konjunktion úgyhogy (,sodass‘) eine hochgradige Labilität in der Syntax bezüglich der Satzgliedstel- 30 Aus rezenten neuro-physiologischen Studien (vgl. z. B. Della Rosa u. a. 2013: 605 und 607) geht hervor, dass Mehrsprachigkeit als kognitive Ressource eigener Qualität anzusehen ist: Es werden strukturelle Veränderungen in einer bestimmten Gehirnregion, dem linken unteren Parietallappen, festgestellt, die in der frühen Kindheit beginnen und funktionale Potenziale im Erwachsenenalter mit sich bringen. 104 Csaba Földes lung selbst bei ein und derselben Sprecherin, was wohl mit dem Phänomen der „cross language cue competition“ 31 in Verbindung gebracht werden kann: (38) Im obigen Segment liegt topologisch ein Spannsatz vor, die Satzgliedstellung ist also als deutsch zu qualifizieren. In Beleg (39) hingegen folgt die Satzstruktur den ungarischen Stellungsregeln, die einen Kernsatz ergeben: (39) In Beleg (40) aus Pußtawam (E_0035) wird das ungarische Adverb hátha (,und wenn‘, ,wenn aber‘) re-etymologisiert in die Bestandteile hát (als pragmatische Partikel) + ha (als Konjunktion wenn) zerlegt, woraus das hybride hát wenn entsteht: (40) Dem ungarischen Ganzwort-Konzept steht hier ein Wortbildungskonzept ungarndeutscher Provenienz gegenüber. In der Sphäre des formelhaften Sprechens liefert das Datenkorpus ebenfalls zahlreiche und vielgestaltige Belege, die in einem anderen Aufsatz besprochen worden sind (vgl. Földes 2020a). Der vorliegende Beitrag soll sich daher exemplarisch auf nur einige wenige Facetten beschränken. Wortgruppen mit unterschiedlichem Grad an Idiomatizität können mit ihrem Originalwortlaut aus dem Ungarischen übernommen werden. Frequent ist beispielsweise die umgangssprachlich verkürzte Form der ungarischen Routineformel 31 Zum Inhalt dieses aus der Psycholinguistik stammenden Begriffs vgl. De Houwer (2009: 277-279). Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 105 hála Istennek (wörtlich: ‚Dank sei Gott‘), vgl. Belege (41) und (42) in demselben Dialog aus Pußtawam (E_0029): 32 (41) (42) Das Iklader Material (E_0059) beinhaltet auch Wendungen mit dem slowakischen Äquivalent von Gott, vgl. (43): (43) Somit liegt ein trilinguales Item vor: Die zweimal ausgesprochene Fokuspartikel nur ist deutschen, die Interjektion jajj (‚oh‘) ungarischen (vgl. Beleg 14) und der Ausdruck bože moj (,mein Gott‘, mit genauer Orthografie: bože môj) slowakischen Ursprungs. Beleg (44) aus Pußtawam (E_0029) enthält ein stark idiomatisches Phrasem: (44) Dabei wird die ungarische Redewendung le a kalappal (‚Hut ab‘) in eine deutschsprachige Sequenz harmonisch eingefügt. 32 In anderen Gesprächen kommen indes deutschsprachige Versionen mit Gott vor (z. B. Pußtawam, E_0035). 106 Csaba Földes In demselben Gespräch wurde an einer Stelle ein deutscher Inhalt auf Ungarisch ausgedrückt. (45) Der Konstruktion liegt wohl die deutsche Formulierung es ist noch ein Glück zugrunde; die normgerechte Variante des Ungarischen hieße einfach - also ohne Kopulaverb - még szerencse (,noch Glück‘), sodass letztlich ein deutsches Konzept mit ungarischen Sprachmitteln wiedergegeben wurde. Die Dynamik des analysierten Sprachkontaktfeldes manifestiert sich auch darin, dass es auch umgekehrte Beispiele gibt, wie in Beleg (46) aus Pußtawam (E_0035): (46) Der phraseologische Verbalkomplex des Ungarischen kimegy a divatból (wörtlich: ,aus der Mode gehen‘) wurde hier mit deutschem Sprachmaterial ausgedrückt, wobei die deutsche Standardversion aus der Mode kommen lautet. Stolberg/ Tracy (2008: 22) nennen derartige Fälle „Crossover-Phänomene“, wenn also die lexikalische Realisierung aus der einen Sprache und die Syntax mit den entsprechenden grammatischen Regeln aus der anderen Sprache stammt. 5.3 Objektkategorie „Synkretismen“ Auf dem Gebiet der kommunikativen Synkretismen konnte in erster Linie eine Bandbreite von Kode-Umschaltungsphänomenen (code-switching) als Äußerungsformat bzw. als bilingualer Gesprächsstil mit verschiedenen interaktionalen Funktionen ermittelt werden. Der multifaktorielle Phänomentyp Kode- Umschaltung lässt sich, wie auch z. B. „The Cambridge Handbook of Linguistic Code-switching“ einräumt (Bullock/ Toribio 2012: 2), „schwer definitiv charakterisieren“. Bullock/ Toribio (2012: 1) formulieren: „Im weitesten Sinne ist codeswitching die Fähigkeit von Zweisprachigen, mühelos zwischen ihren beiden Sprachen zu wechseln“. Dabei ist diese Begriffsbestimmung insofern zu spezifizieren, als damit nicht nur ein Wechsel zwischen Einzelsprachen, sondern auch zwischen Varietäten einer Sprache gemeint sein kann. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 107 Im ausgewerteten Material überwiegen, ähnlich der Datenlage in Sprachkontaktstudien über andere Sprachenrichtungen (vgl. Muysken 2005 und Myers- Scotton 2010), die Manifestationen intersententialen Wechsels, wenn also die Umschaltung an Satzgrenzen geschieht. Dabei gibt es auch viele Fälle intrasententialer Umschaltung. Die ermittelten Kode-Umschaltungssequenzen sind als kulturelles Handeln unterschiedlich zu bewerten. Manche verlaufen offenkundig reibungslos, obwohl vor allem die intrasententialen Wechsel intakte sprachkommunikative Fertigkeiten in beiden Gebrauchssprachen voraussetzen, da hier an den Schaltstellen die syntaktischen Strukturregularitäten beider Sprachsysteme weitgehend eingehalten werden müssen. In anderen Fällen zeigen die Umschaltungen jedoch kein so harmonisches Bild. Viele Umschaltungen konversationellen Typs sind eigentlich strategische Mittel und haben z. B. den Charakter von Zitaten, die ein Verfahren zur Inszenierung und Stilisierung fremder Rede verkörpern. Dadurch tritt eine Stimmenvielfalt im Diskurs mit polyphonen Effekten auf (vgl. zum Terminus Günthner 2002: 60), wie in Beleg (47) aus Iklad (E_0059): (47) Als Reflexionsgrundlage und Interpretationsrahmen kann eine Differenzierung zwischen (a) extern - soziolinguistisch - und (b) intern - psycholinguistisch - bedingter Kode-Umschaltung dienen, wobei auch (c) eine Überlappung der beiden, d. h. eine extern-interne Kode-Umschaltung, möglich ist (zur Problematik vgl. Földes 2005: 220-230). Fall (a) geht auf äußere (d. h. nicht-sprachliche) Faktoren zurück, wenn also eine Änderung in einer Diskurskonstituente oder in mehreren Konstituenten wie Partner, Thema oder Situation eintritt. Für die mit (b) bezeichnete Sprachkontaktrealisierung ist das sprachkommunikative Repertoire bzw. die Kompetenz des Sprechers verantwortlich. Clyne sprach in 108 Csaba Földes seinen früheren Werken von „triggering“ (1997: 313), in den späteren von „facilitation“ (2003: 159-179): Bestimmte Elemente - sog. Auslösewörter, z. B. Eigennamen, Titel, homophone Diamorphe etc. - rufen im bilingualen Diskurs oft, jedoch nicht zwingend, eine Kode-Umschaltung hervor. 33 Im Sinne der Version (b) liegt ein anderes, häufig anzutreffendes externes Auslösemotiv in der Adressatenorientierung vor, vgl. Beleg (48) aus Iklad (E_0057): (48) Der Sprecher wendet sich an der betreffenden Stelle einer anderen Person zu. Für (b) soll auch Beleg (49) aus Pußtawam (E_0033) stehen, bei dem die Nominalanrede atya (,Pater‘) den Wechsel hervorgerufen haben dürfte: (49) Ein anderer interner Grund liegt in der (momentanen) Wortnot der Sprecherin, wie in Beleg (50) aus Pußtawam (E_0029): 34 33 Eine Studie von Długosz (2015: 63) zur empirischen Überprüfung von Hypothesen zu grammatischen Beschränkungen in Kode-Umschaltungen wies nach, dass sie größtenteils unzutreffend sind, während die „Triggering“-Hypothese eher bestätigt werden konnte. Eine ähnliche Beobachtung findet sich auch bei Földes (2005: 217-218 und 222). 34 Außerdem kann man anmerken, dass eine Sprecherin im deutschen Sprachraum in diesem Fall wohl kaum Fleischsuppe, sondern eher Hühnersuppe gesagt hätte. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 109 (50) Als ein Sonderfall der Kode-Umschaltung kann die bilinguale Dopplung angesehen werden, wie in Belegen (51) und (52) aus Iklad (E_0052 und E_0057): (51) (52) Diese Belege dokumentieren ein Sprecherverhalten, bei dem die Mitteilung oder ein Teil von ihr nacheinander in der anderen Sprache wiederholt wird. Bechert/ Wildgen (1991: 3) sowie Appel/ Muysken (2005: 129-131) bezeichnen es als „Neutralitätsstrategie“, während Ziegler (1996: 70) von „zwischensprachlicher Dopplung“ spricht. Da man dabei nicht in einem „zwischensprachlichen“ Bereich operiert, sondern mit einer Wiederholung desselben in zwei Sprachen zu tun hat, nenne ich das Phänomen „bilinguale Dopplung“. 5.4 Sonstige Objektkategorien Wichtig ist, dass Gruppen-Mehrsprachigkeit nicht lediglich zu den von (1) bis (52) illustrierten Sprachverwendungsmustern, wie overte sowie coverte Transferenzprozesse und diverse Sprachalternierungen, führt, sondern auch mit bi- 110 Csaba Földes lingualen (polyglotten) Dialogen, mit z. T. recht subtilen Vermeidungsstrategien, Übergeneralisierungen u. a. zu rechnen ist. Kontaktlinguistisch relevant ist nicht nur, w a s der mehrsprachige Sprecher sagt und w i e er das sprachlich formuliert, sondern auch was und warum er etwas n i c h t sagt, also warum er sich bestimmter Zeichen(kombinationen) der einen Sprache gar nicht oder nur kaum bedient (vgl. Földes 2005: 239-241). 35 6 Fazit und Ausblick Die zentrale Voraussetzung für die natürliche Existenz von Sprache ist die Veränderung. Diese Veränderung ist ein komplexer und mehrdimensionaler Prozess, der eng mit dem Begriff der Dynamik verbunden ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich Dynamik als soziale Praxis betrachten, für die der vorliegende Aufsatz empirische Befunde zu einer gleichzeitigen Prozessierung zweier - genetisch nicht verwandter und typologisch sehr verschiedener - Sprachen vorgeführt hat. Auch wenn es aus Umfangsgründen nur einige selektive Kontaktbeispiele waren, die lediglich stichpunktartig kommentiert werden konnten, kam dabei das kooperative Potenzial koexistierender Varietäten zum Tragen, das sich teilweise in einem Kontinuum von Mischformen realisierte. Das (bairisch geprägte) Kontaktdeutsch ist eine Art Amalgam: Es verwandelt, saugt auf, verknüpft und verschmilzt. Es ist deutlich geworden, dass sich im mehrsprachigkeitsbezogenen kommunikativen Handlungszusammenhang aufgrund exogener Stimulierungs- und Steuerungsfaktoren sprachkommunikative Systeme einander angenähert bzw. angepasst haben; eine Überlagerung von Systemstrukturen einer Sprache/ Varietät durch Systemstrukturen einer anderen fand statt: Ungarndeutsche verwenden regulär ungarische Systematik, z. B. in der Wortstellung (etwa Positionsveränderung in Nebensätzen) oder in der Metaphorik. Als Ergebnis kristallisierte sich zum einen eine hochgradige Elastizität in Wortschatz sowie Satzbau heraus; man findet Manifestationen müheloser Wortbildung, mitunter faszinierender Wortkombinationen sowie flexibler Satzgliedstellung sowie diverse nichtkanonische Muster. Zum anderen kann die behandelte, von Diskontinuitäten geprägte, unstete Varietät aufgrund intensiver Sprachveränderungsprozesse, die gleichsam einen gewissen Umbau des Systems herbeigeführt haben, als eine restrukturierte, quasi „postbairische“, Dialektausprägung angesehen werden. Als analytischer Zugang hat sich ein inter- 35 Mithin kann sich eine Sprache auch auf die sprecherseitige Bevorzugung oder Vermeidung von Elementen, Strukturen und Modellen der anderen Sprache auswirken, was nur recht schwierig, z. B. durch aufwendige Frequenzuntersuchungen etc., fassbar ist. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 111 kulturell-kontaktlinguistisches Herangehen als fruchtbar erwiesen, z. B. bei Belegen, die sowohl Sprachals auch Kulturkontakt dokumentieren, 36 wobei vielfach auch Aspekte der Interface-Hypothese bestätigt werden konnten, z. B. anhand der Schnittstelle von Grammatik und Phraseologie. Die Dynamik und in diesem Rahmen die Mehrsprachigkeitsphänomene können verschiedene Teilprozesse umfassen, die zugleich auch Bezeichnungen von analytischen Paradigmen sein können. Wenn man eine prototypische „Chronologie“ der Transkulturalitätsdynamik aufstellen möchte, ließen sich u. U. folgende Etappen herausstellen: (1) Konvergenz (als länger anhaltende Strategie), als Weg zur (2) Akkomodation, dann (3) (Makro-/ Meso-)Synchronisierung mittels Neutralisierung und (4) Diffusion. Die begriffssystematischen Hintergründe von (1) und (2) können wie folgt zusammengefasst werden: „Konvergenz“ bezeichnet im linguistischen Diskursfeld der Communication Accommodation Theory (kurz: CAT) 37 u. a. eine von mehreren akkommodativen Strategien, bei der sich Interaktanten - z. B. Sprecher unterschiedlicher Varietäten oder bilinguale Sprecher - an das kommunikative Verhalten ihrer Gesprächspartner annähern (siehe Giles u. a. 1991: 7). Diese Annäherung kann, wie Giles und Ogay (2007: 295) nachweisen, sowohl auf sprachlicher (z. B. Akzent, Sprechgeschwindigkeit), paralingualer (z. B. Pausen, Länge der Äußerungen) oder aber nonverbaler Ebene (z. B. Lächeln) stattfinden. Konvergierende kommunikative Handlungen sollen interpersonelle Unterschiede zwischen den Gesprächspartnern reduzieren und zu einer gegenseitigen Anpassung des kommunikativen Verhaltens führen (= Akkommodation) (vgl. Giles u. a. 1991: 8; Giles/ Ogay 2007: 294-295). Akkommodation lässt sich u. a. als eine ständige Bewegung bzw. eine Veränderung des kommunikativen Verhaltens der Gesprächspartner beschreiben, die anzeigt, wie die Sprecher zueinander stehen, z. B. bezüglich ihrer gesellschaftlichen Stellung (vgl. Giles/ Ogay 2007: 294-295). Die Konvergenz und auch das Gegenteil, die Divergenz, können entweder asymmetrisch (z. B. nur ein Sprecher passt sich an) oder symmetrisch (z. B. beide Sprecher passen sich an) verlaufen (siehe Giles u. a. 1991: 12-13). 38 Konvergenz kann im Rahmen sog. Kurzzeit-Akkommodationen (short- 36 Ein Beispiel ist Beleg (21) mit der kultursensiblen malinka robot-Transferenz. 37 Dieser Ansatz basiert auf dem früheren Konzept der Speech Accomodation Theory (SAT), das bis dato nur spezifisch Sprachliches in der interpersonellen Interaktion beleuchtete. Durch die Erweiterung auf nonverbale sowie diskursive Aspekte entstand schließlich die weiter gefasste CAT (vgl. Coupland/ Giles 1988: 176; Giles u. a. 1991: 7). 38 Auch lassen sich verschiedene „Bewegungsrichtungen“ bei der Konvergenz ausmachen: Im Falle einer face-to-face-Interaktion zwischen Sprechern verschiedener Varietäten können sich die Gesprächspartner beispielsweise - je nach Kontext (z. B. formell/ informell) - entweder für die prestigeträchtigere Varietät (= upward, z. B. Mehrheitssprache) oder für eine Varietät mit niedrigerem Prestige (= downward, z. B. 112 Csaba Földes term accommodations) immer wieder individuell in Interaktionen auftreten; eine konstante Rekurrenz dieser Kurzzeitakkommodationen ergibt u. U. schließlich Langzeitakkommodationen (long-term accommodations) und kann neue Varietäten ohne markierte Formen einer der früheren Varietäten entstehen lassen (siehe Kerswill 2003: 224). Zum Hintergrund von (3) „Synchronisierung“ ist ein in der Sprachdynamiktheorie (vgl. z. B. Schmidt/ Herrgen 2011) verwurzelter Begriff. Der Begriff steht in enger Verbindung mit dem Konzept der Akkommodation und wird gelegentlich synonym zu diesem verwendet (Edlund u. a. 2009: 2779). Die beiden Konzepte unterscheiden sich jedoch darin, wie Stoeckle (2013: 81) erklärt, „dass bei der Akkommodation unterschiedliche Aspekte wie z. B. die soziale Bedeutung, d. h. die Anpassung an die Sprechlage, die als prestigereicher betrachtet wird, eine wichtige Rolle spielen, während die wesentliche Triebfeder bei der Synchronisierung der Ausgleich von Kompetenzdifferenzen ist“. 39 Bei der Synchronisierung können drei Typen unterschieden werden: Die Mikrosynchronisierung läuft punktuell in einer Einzelinteraktion ab und bezieht sich auf die Modifizierung des individuellen Sprachwissens der beteiligten Personen (vgl. Schmidt/ Herrgen 2011: 29). Die Mesosynchronisierung tritt bei Interaktionen in größeren Gruppen auf und umfasst „gleichgerichtete Synchronisierungsakte“ (Schmidt/ Herrgen 2011: 31). Auf der Ebene der Makrosynchronisierung spielt sich dieser Prozess zwischen Mitgliedern eines Sprecherkollektivs ab, die sich alle nach einer gemeinsamen sprachlichen Norm ausrichten (vgl. Schmidt/ Herrgen 2011: 32). „Synchronisierung findet also auf unterster Ebene in der einzelnen Interaktion statt und kann, bei ausreichender Gleichgerichtetheit, letztendlich Sprachwandel bewirken“ (Stoeckle 2013: 81). Im Sinne der germanistischen Sprachdynamikforschung (vgl. Schmidt/ Herrgen 2011: 31; Knipf-Komlósi/ Müller 2018: 61) stellt die sprachliche Synchronisierung von Kommunikationsakten auf einer Mesoebene einen Vorgang dar, in dessen Rahmen die Kommunikanten aufgrund von sprachexternen Settings Optimierungsstrategien herausbilden und einsetzen: Unter Nutzung ihrer einschlägigen Kommunikationserfahrungen und -praktiken aktivieren sie eine (partielle) Übereinstimmung ihres sprachlichen Wissens. Gewinnbringend scheint auch der integrative Sprachdynamikentwurf von Bülow (2017) zu sein, der den Idiolekt und die Sprache als dynamische und komplexe Systeme modelliert, indem er dafür plädiert, sowohl soziale als auch innersprachliche und kognitive Faktoren bei der Dialekt) entscheiden (vgl. Giles u. a. 1991: 11; Kerswill 2002: 680). Konvergenz muss nicht auf allen genannten Ebenen stattfinden und kann außerdem auch zusammen mit Divergenzen auftreten (d. h. Konvergenz in manchen Bereichen, Divergenz in anderen), vgl. Giles u. a. (1991: 11f.). 39 Die Synchronisierung kann laut Edlund u. a. (2009) auch völlig ohne vorherige Konvergenz stattfinden. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 113 Beschreibung von Konvergenzvorgängen mit einzubeziehen. 40 Derartige Systeme sind, wie Bülow (2017: 104) betont, adaptiv im evolutionären Sinne, da sie auf Feedback reagieren und Regelmäßigkeiten aufgrund von Umweltdaten erkennen, was zu Schemata führt; diese bilden sich zunächst durch Mikrosynchronisierungen heraus. Dabei geht es um die „Aushandlung und Tradierung gemeinsamen kulturellen Wissens, das immer auch Teil des individuellen Wissens ist“ (Bülow 2017: 175). Die Explikation zu (4) lautet: Sprachwandel kann nur stattfinden, wenn sich die durch Synchronisierung veränderten sprachlichen Innovationen im Sprecherkollektiv durchsetzen. Durch (geografische) Diffusion werden die genannten Innovationen beispielsweise in einem areal definierten Dialektraum verbreitet (vgl. Kerswill 2003: 224). 41 Im Allgemeinen werden mit sprachlicher Diffusion die Veränderung und Ausbreitung einzelner neuer sprachlicher Merkmale (z. B. Modifikation in der Aussprache eines Wortes) durch Kontakt verschiedener Sprach(varietät)en (vgl. Prochazka 2019: 170) gemeint. Ein derartiger Ausbreitungsprozess kann mitunter zu einer Sprachumstellung führen, sodass Sprachumstellungsvorgänge u. U. auch als Diffusion modelliert werden können. Auch angesichts der unter (1) bis (4) dargelegten Teilprozesse gilt, dass bei dynamikgesteuerten Innovationen in Kommunikation und Sprache eine angemessene methodische Erfassung und eine adäquate Explikation der Veränderungen in System und Gebrauch (nebst deren Ursachen) nur im Ensemble makro- und mikrosoziolinguistischer Faktoren möglich ist. Die im Projekt erfassten ungarndeutschen Alltagsdiskurse aus Nähe-Kommunikation als autonomer Handlungsraum bestätigten sich als ideales Forschungslabor für das Studium von Sprachdynamik. Dieses hat in der narrativen Welt von Ungarndeutschen dynamische Vorgänge und zugleich ungeheure Instabilität zutage gefördert, wobei sich die um sich greifende Leitvarietät Ungarisch allenthalben als konstante Größe, im Sinne eines permanenten Kontrastbzw. Bezugssystems für die Sprecher, erwies. Insgesamt wurde die dynamische und volatile Verfasstheit sowohl der bilingualen Handlungskompetenz der Sprecher als auch der mentalen Repräsentation der beiden Kodes - bzw. noch eher des dritten, hybridisierten, Kodes - deutlich. Daraus folgt, dass für deren Deskription und Deutung statt der traditionell eher statischen und systemorien- 40 „Die Rückbindung idiolektalen Sprachwissens an neuronale Prozesse erlaubt zudem eine dynamische Konzeption von Sprachwandel, die Reproduktion, Variation und Selektion sprachlicher Strukturen systemisch erklärt“, stellt Bülow (2017: 115) fest. 41 Auf der individuellen (Sprecher-)Ebene funktioniert dies u. a. über einen direkten Kontakt zwischen Sprechern, welche die Innovation bereits übernommen haben, und Sprechern, die durch den Kontakt dazu motiviert werden, diese Innovation ebenfalls zu adaptieren (vgl. Kerswill 2003: 223). 114 Csaba Földes tierten Zugriffe eher prozessorientierte Beschreibungskonzepte auf der makrotheoretischen Basis poststrukturalistischer Ansätze notwendig sind. Nach De Bot u. a. (2013: 200-201), die die „Dynamic Systems Theory“ auf die Mehrsprachigkeit angewendet haben, lässt sich feststellen: Dynamik kann (a) von äußeren Konstellationen 42 oder (b) durch kognitive Bedingungen bestimmt sein. Dabei bestehen Sprachwissen und Sprachkompetenz nicht aus getrennten bzw. trennbaren Subsystemen (L1, L2 …), sondern sie bilden ein holistisches dynamisches System (vgl. De Bot u. a. 2013: 207 und 213), in dem jede Veränderung Auswirkungen auf alle Subsysteme hat. Erwirbt ein Mehrsprachiger ein bestimmtes Konzept oder sprachliches Muster, hat das Konsequenzen auf seine andere(n) Sprache(n), auf sein sprachkommunikatives Gesamtrepertoire, innerhalb dessen gegenseitige Interaktionen stattfinden. Insofern handelt es sich bei den eruierten Besonderheiten meist nicht um irgendwelche Fehler, sondern um systematische, in sich schlüssige, sprachkommunikative Veränderungen. Im ausgewerteten Material, wie wahrscheinlich auch in anderen Konfigurationen natürlicher diskursiver Mehrsprachigkeit, kam Dynamik über ihre herkömmlichen Erscheinungsformen hinaus in mehrfacher spezifischer Hinsicht zum Ausdruck: (1) Die Daten legen die Betrachtung nahe, sowohl die jeweiligen realitären Idiolekte wie auch die abstrakten Varietäten als dynamische und komplexe adaptive Systeme aufzufassen. (2) Durch massive Sprachkontakte und ausgeprägte Transkulturalität eröffnen sich zusätzliche, qualitativ andere, sprachlich-kommunikative Dynamikvorgänge und -resultate als unter Einsprachigkeitsbedingungen. 43 (3) Viele translinguale Praktiken, wie z. B. die zwischensprachlichen Turns im Gesprächsverlauf, strahlen schon an sich einen Eindruck von einer Art Dynamik aus. (4) Im Horizont von Mehrsprachigkeit und Transkulturalität verlaufen dynamische Prozesse deutlich schneller. (5) Dynamik kennzeichnet auch die sprachkommunikativen Kompetenzstrukturen der bilingualen Interaktanten. (6) Zudem ist vonseiten der Minderheitengemeinschaft oft eine Dynamik von Spracheinstellungen beobachtbar. 44 42 Zurückkommend auf die eigentliche Herkunft der Metapher „Dynamik“ (vgl. Abschnitt 2), kann man an dieser Stelle erwähnen: In der Physik ist nicht mehr oder zumindest nicht mehr so unkritisch von äußeren und inneren Kräften die Rede; in Bezug auf Sprachkontakt (und Sprachveränderung) kann man jedoch sinnbildlich von äußeren und inneren Kräften sprechen, da „Kraft“ hier kein fester Fachbegriff ist, der dadurch falsch gebraucht werden würde. 43 Ein dynamisches sprachkommunikatives Milieu ist grundsätzlich ein potenzieller Antrieb für sprachliche Innovationen. 44 Beispielsweise lieferte Németh (2010) unter Einsatz der matched-guise-Technik empirische Evidenz dafür, dass in bilingualen ungarndeutschen Sprecherkollektiven (ebenfalls mit bairischer Grundlage) auf dem Wege der Sprachumstellung divergierende Einstellungen zur Sprachmischung gleichzeitig existent sind. Aktuelle Dynamiken im Deutschen als Minderheitensprache 115 Die durchgeführte Studie ergab, dass die stattgefundenen komplexen, kontaktinduzierten Restrukturierungen (und teilweise Simplifizierungen) am behandelten ungarndeutschen Material bairischer - eigentlich in gewisser Weise „(post-)bairischer“ - Prägung sich nicht wesentlich von den Befunden unterscheiden, die an anderen ungarndeutschen Dialekttypen schwäbischer (vgl. Földes 2005) und fränkischer (vgl. Földes 2020b) Herkunft festgestellt wurden. Gleichwohl war die Ausbeute am hier besprochenen (Post-)Bairisch-Korpus nicht so ergiebig wie die in den anderen beiden Studien. Alles, was an diesem bairischbasierten Datenkorpus erfasst und beschrieben werden konnte, war auch in den Untersuchungen zu Schwäbisch und Fränkisch enthalten, nicht aber umgekehrt: Einige der dort ermittelten Objektkategorien sind im Datensatz der hier ausgewerteten Orte nicht vertreten. Ob das mit der jeweiligen Dialektbasis zu tun hat, müsste an weiteren Sprachdaten eruiert werden. Es ist wohl eher anzunehmen, dass für die hier erschlossene geringere Typenvielfalt der sprachlichen Interaktionsphänomene eher korpusbezogene Gründe, wie etwa die nicht sehr große Anzahl der Gewährspersonen und/ oder ihre Sprachkompetenzstrukturen, verantwortlich sind. Angesichts der feststellbaren weitgehenden Ähnlichkeiten ist wohl zu postulieren, dass der Typ des Dialekts bei den sprachlichen Dynamik- und Kontaktprozessen weniger den Ausschlag zu geben scheint als die übergeordneten Sprachsysteme Deutsch und Ungarisch. Literatur Adamou, Evangelia (2019): Corpus linguistic methods. In: Darquennes, Jeroen/ Salmons, Joseph C./ Vandenbussche, Wim (Hrsg.): Language Contact. An International Handbook. Berlin/ Boston (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 45.1). S. 638-653. Appel, René/ Muysken, Pieter (2005): Language Contact and Bilingualism. 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Ausgehend von narrativen Interviews aus den Jahren 2017 und 2018 werden Entwicklungstendenzen bei der Ausbildung eines hybridsprachlichen Identitätskonzepts vorgestellt und die Rolle der Minderheitensprachen in den Aussagen zur Identität herausgearbeitet. 1 Einleitung Für die Bewohner der in diesem Beitrag untersuchten deutschsprachigen Siedlungen 1 in Italien (Sappada/ Pladen/ Plodn, Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia), in der Transkarpaten-Ukraine (Шенборн/ Schönborn, Барбово/ Barthaus, Синяк/ Sinjak, Мукачево/ Munkatsch) und in den USA (Castroville, Texas) ist ein mehrsprachiger Raum kommunikationskonstituierend: Die deutschsprachigen Einwohner Sappadas (Eigenbezeichnung Plodar) leben in den Karnischen Alpen mit einer romanischsprachigen Bevölkerung zusammen, die sich selbst als Schwoben bezeichnenden deutschsprachigen Bewohner in Transkarpatien sind von einer mehrsprachigen Umwelt umgeben (v. a. Ukrainisch, Ruthenisch, Ungarisch, Russisch), und für die deutschen Minderheiten in den USA begründet das Englische eine mindestens zweisprachige Welt. Laut Oppenrieder/ Thurmair (2003: 41) sind kommunikative Beziehungen wesentlich an der Ausbildung und Aufrechterhaltung der Identität einer sozialen Gruppe beteiligt. Eine Zunahme interkultureller und interethnischer Kontakte, 2 wie sie in den letzten beiden Jahrhunderten in den Siedlungen mit 1 Bei zweisprachigen Ortsnamen erfolgt die Angabe der offiziellen Bezeichnung an erster, die deutschsprachige an zweiter Stelle. Bei Sappada/ Pladen/ Plodn wird an dritter Stelle noch die Bezeichnung in der Minderheitensprache angegeben. 2 Damit soll jedoch nicht behauptet werden, dass davor, also vor dem 20. Jahrhundert, keine oder kaum Kontakte mit anderen (Sprach-)Gemeinschaften bestanden. 122 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer deutschbasierten Minderheitensprachen weltweit zu beobachten ist, kann für die Sprechergemeinschaft durchaus zur Auseinandersetzung mit der Frage ‚Wer sind wir (nicht)? Wer wollen wir (nicht) sein? ‘ führen. Zu solchen Aushandlungsbzw. Positionierungsprozessen zwischen mehrsprachigen sozialen Gruppen hinsichtlich der eigenen Identität schreibt Lüdi (1990): Identity markers are acquired and conveyed within a framework of communicative networks. The breaking of social relationships through migration destroys this environment. The migrant sees her/ himself confronted with a twofold problem: • constructing the opposition between ‚we‘ and ‚others‘ • redefining and interpreting for this purpose the borders between social groups as well as choosing the group to which one belongs • marking this group membership by the use of identity, identity idioms, emblems, stereotypes […]. (Lüdi 1990: 9, hier zit. nach Rosenberg 1993: 135) Für Lüdi (1990) kommt der Herausbildung von Identitätsmarkern durchaus ein wesentlicher Anteil bei der ‚sozialen Standortfindung‘ zu. Diese Auslotung des eigenen Platzes im mehrsprachigen Umfeld kann folgendermaßen beschrieben werden: Sprecherinnen und Sprecher (re-)konstruieren Räume, die als soziale Orientierungspunkte fungieren können (vgl. grundlegend zur Vorstellung der Räume z. B. Bhabha 1994 oder die Anmerkungen von König 2014: 40ff.). Bei der Ausgestaltung des eigenen Raumes kann z. B. die Minderheitensprache von den Sprecherinnen und Sprechern als selbstkonstituierend interpretiert werden; in diesem Fall fungiert die Minderheitensprache unserer Meinung nach zugleich als deutlichster Unterscheidungsmarker von den anderen und als bedeutendes Symbol für den eigenen Raum. Die Suche nach der eigenen Identität ist als reziprok zu beschreiben, als Wechselspiel aus Stabilisierung der Gruppe nach innen und Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen nach außen. Frieben-Blum und Jacobs (2000) konstatieren hierzu: Es besteht ein Spannungsverhältnis zwischen einem privat möglichen ‚Sowohl-Alsauch‘ [sic! ] und einem gesellschaftlich erwarteten ‚Entweder-Oder‘. Darin manifestiert sich auf der Ebene sozialer Prozesse eine ungleichzeitige Entwicklung von individuellen und gesellschaftlichen Integrationswünschen und -leistungen (Frieben-Blum/ Jacobs 2000: 12). Mit Blick auf die Situation der deutschbasierten Minderheitensprachen findet dieser dynamische Aushandlungsprozess z. B. dann einen konkreten Reflex, wenn sich die Sprecherinnen und Sprecher Fragen stellen wie diese: Welche Sprache - Minderheitensprache oder Kontaktsprache - spreche ich mit Personen, die ich auf der Straße treffe? Auf Basis welcher Kriterien - z. B. bekannte oder unbekannte Person - fälle ich diese Entscheidung? Antworte ich auf eine Frage meiner Tochter/ meines Sohnes in der Minderheitensprache oder in der Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 123 dominierenden Mehrheitssprache - gebe ich somit die Minderheitensprache an meine Kinder weiter? Die beobachtbaren kulturellen und gesellschaftlichen Annäherungen und kontaktsprachliche Erscheinungen geben Anlass, darüber nachzudenken, ob und inwiefern die sprachliche Identität dadurch eine Veränderung erfährt. Krumm (2009), der die identitätsstiftende Funktion der Erstsprache(n) betont, bilanziert, was sprachliche Assimilation anbelangt: [S]ie sind häufig verbunden mit einer Bedrohung der bisherigen sprachlichen Identität, da die Sprachdominanz der Zweitsprache eine Dominanz auf Dauer ist und sie in die Familienstruktur eindringt - die Zweitsprache wird Berufssprache, Behördensprache, Lernsprache der Kinder, Sprache von Partnerinnen und Partnern usw. (Krumm 2009: 238). Die Situation, die er für Migranten beschreibt, lässt sich auf die sprachlichen Minderheiten übertragen, wobei man dann statt von Zweitsprache besser von Mehrheitssprache(n) sprechen sollte. 3 Neben Krumm (2009) vermutet etwa auch Melika (1994: 289) eine Veränderung der sprachlichen Identität bei zunehmenden interethnischen, interkulturellen Sprachinteraktionen. An diese Vorüberlegungen anknüpfend, will der vorliegende Beitrag die Fragen beantworten, ob und wie sich die mehrsprachigen Lebenswelten im Identitätskonzept der Minderheiten widerspiegeln (Kapitel 2) und welche Rolle die Minderheitensprache in den Selbstaussagen zur Identität einnimmt (Kapitel 3). Die dazu verwendeten Sprachdaten wurden in mehrstündigen narrativen Tiefeninterviews bei Aufenthalten in den Siedlungen in den Jahren 2017 und 2018 erhoben. Zur Datenerhebung wurde ein sprachbiografischer Zugang entwickelt, der eine Sichtbarmachung der Konzepte der jeweiligen Gewährsperson zum Ziel hat und - neben sprachbiografischen Daten - die Bezeichnungen der Minderheitensprache und damit verbundenen Assoziationen auch Fragen zu Identität, Sprachdomänen und sprachlicher Selbsteinschätzung beinhaltet (vgl. ausführlich Franz 2018). An dieser Stelle ist explizit darauf hinzuweisen, dass sich Identität im Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse anbahnt. Die Minderheitensprache, um die es im Folgenden geht, stellt nur einen identitätsstiftenden Faktor dar (siehe dazu Haarmann 1996: 219). Weitere Faktoren, die zur Identitätskonstituierung in den besprochenen Siedlungen beitragen können, sind z. B. kulturelle Gepflogenheiten, jährlich wiederkehrende kirchliche Feste, Speisen, Baustile und Besiedlungsmythen. Die oben genannten Forschungsfragen werden nachfolgend dreigliedrig bearbeitet: Eingangs wird allgemein auf das Potenzial von Sprache bei der Identi- 3 Häufig ist die Mehrheitssprache in deutschsprachigen Siedlungen zur Erstsprache oder zumindest zur parallel erworbenen Varietät geworden. 124 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer tätsausbildung im Kontext von deutschbasierten Minderheitensprachen eingegangen (Kapitel 2). Im Anschluss daran folgt eine erläuternde Darstellung von erhobenen Daten, sortiert nach Siedlungen (Kapitel 3). Am Schluss steht ein Fazit, das die Bedeutung der Minderheitensprachen als Baustein der Identität in den untersuchten Siedlungen herausstellt (Kapitel 4). 2 Potenzial von Sprache bei der Identitätsbildung Folgt man Haarmann (1996: 219), so setzt sich Identität aus individuell unterschiedlich gewichteten Konstituenten zusammen, worunter die Sprache eine Konstituente darstellt. Thim-Mabrey (2003) hält mit Blick auf das Wechselspiel von Sprache und Identität fest, da s s Identität durch S pra che und S pra chidentität zusammengedacht werden sollten: S p r a c h i d e ntit ä t meint „Identität einer Person in Bezug auf ihre - oder auf eine - Sprache“ (Thim-Mabrey 2003: 1). I d e n tit ä t d u r c h S p r a c h e lenkt den Blick „auf die Identität von Personen, soweit diese durch Sprache und Sprachverwendung konstituiert oder mitkonstituiert wird“ (Thim-Mabrey 2003 2). Für die in der aktuellen Forschung vertretene konstruktivistische Vorstellung einer auch durch Sprache konstituierten Identität hält Kresić (2013) wesentliche Punkte fest: Identität ist keine kontinuierliche und konstante Größe, sondern vielmehr ein flexibles Konstrukt. Identität wird zu einem wesentlichen Teil sprachlich konstruiert, insbesondere durch den Gebrauch verschiedener Sprachvarietäten, Register, Einzelsprachen etc. Identität wird von den jeweiligen Kommunikationsteilnehmerinnen und -teilnehmern in verschiedenen kommunikativen Kontexten interaktiv konstruiert, sie kann von Kontext zu Kontext variieren bzw. durch bestimmte Kontexte ihre spezifische Prägung erhalten […]. Identität ist daher multipel und heterogen. Identität ist in jedem kommunikativen Kontext ein relevanter Faktor, ungeachtet dessen, ob ihm die Beteiligten Beachtung schenken oder nicht. Mehrere Identitäten einer Sprecherin bzw. eines Sprechers werden häufig in ein und demselben Kontext zur gleichen Zeit ko-konstruiert (z. B. die Identität als Frau und als Sprecherin deutscher Herkunft) (Kresić 2013: 41f.). Mit Blick auf deutschbasierte Sprachminderheiten konnte in bisherigen Untersuchungen festgestellt werden, dass der Minderheitensprache eine identitätsstiftende Funktion zugewiesen wird. 4 Warum ist dies so? Die Gemeinschaft 4 Eine umfassende Darstellung von Forschungspositionen kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Nachfolgend steht deshalb eine lose Auswahl an Veröffentlichungen, die das Thema Sprache und Identität bei deutschbasierten Minderheitensprachen in den Blick nehmen: Di Luzio/ Auer (1986), Brunner (1987), Pedrazza (1991), Kugler (1992), Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 125 trägt mit der Minderheitensprache einen salienten Sozialzugehörigkeitsausweis auf der Zunge: Die Fragen, wer bin ich (nicht) und zu welcher Sprechergruppe gehöre ich (nicht), werden auch über die verfügbaren individuellen Sprachressourcen mit beantwortet. Zieht man als Erklärungsansatz Kochs Modell der sprachsymbolischen Konturierung von Identität heran (vgl. Koch 2013), so ist der Verwendung der Minderheitensprache ein sprachgruppenstabilisierender Mythos zuzuschreiben: Abb. 1: Verdoppelung der Signifikate nach Nissen (2010: 90) (entnommen aus: Koch 2013: 19) Für Koch (2013: 20) wird der die Sprachverwendung überlagernde Mythos zu einem - metaphorisch gesprochen - ‚Identitätsband‘ zwischen den Sprecherinnen und Sprechern einer Varietät ausgebaut. Die Sprachverwendung generiert somit einen Mythos, welcher mit dem Sem ‚Ich bin einer von Euch‘ versehen ist. Für Minderheitensprachen hält Koch zudem fest: „Im Kontext der Minderheitensprachen im engeren Sinne als auch bei Migranten dürfte der Mythos ‚Heimat‘ eine ausgeprägte Semantisierung erfahren […]“ (Koch 2013: 20). Mit der Minderheitensprache ist damit ein möglicher, bedeutender Faktor für die Ausbildung und Aufrechterhaltung eines Ingroup-Zusammenhalts gegeben. Unserer Meinung nach wird die Minderheitensprache außerdem als Symbol der eigenen Identität aufgefasst. Neben der Herstellung von Gruppenkohärenz geschieht durch das Identitätssymbol der deutschbasierten Minderheitensprache gleichermaßen eine Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Gruppen: Die Seewann (1992), Rosenberg/ Weydt (1992), Rosenberg (1993), Križman (1998), Riehl (2000), Deminger (2004), Gerner (2003/ 2006), Schulze u. a. (2008), Eller-Wildfeuer (2013), Rowley (2013), Dück (2014), Shengelia-Manos (2016), Neuber (2017), Wildfeuer (2017), Franz (2018). 126 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer Minderheitensprache wird, wenn eine Abgrenzung gewünscht ist, nicht selten als Anzeiger für das Anderssein genutzt. Wird eine Sprache als Zugehörigkeitsmarker einer sozialen Gruppe instrumentalisiert, kann diese Sprachvarietät gleichermaßen ‚Anbindungspunkt‘ für Idiome, Embleme und Stereotype sein (siehe hierzu das Zitat von Lüdi 1990, oben S. 122) und möglicherweise auf die Ausbildung von Einstellungen gegenüber Sprache(n) einwirken (vgl. Križman 1998: 291; Schröder/ Jürgens 2017: 23). Deshalb aber pauschal ein Identitätskonzept zu vermuten, das auf einer nur sprachlich konstituierten Abgrenzung von Minderheit und Mehrheit basiert, ist für die hier im Fokus stehenden Siedlungen allerdings nicht beschreibungsadäquat (siehe Anmerkungen in Kapitel 3). Aufgrund von Kontaktsituationen auf unterschiedlichen Ebenen (das umfasst auch den Bereich der Sprache) ist vielmehr eine hybride, neue Form der Identität anzunehmen. Auer (2007) hält hierzu fest: However, collectivities other than nations may also use language in order to establish their identity (and many equally fall into the essentialist trap). Bilingual minorities are an example. Instead of the national standard varieties, it is now the specific ways in which the majority and/ or the minority language are spoken, as well as the various mixing and switching styles, which are considered to be the straightforward, ‚natural‘ expression of the bilinguals’ identity. Frequently, a simple iconic relationship between ‚mixed‘ or even ‚hybrid identities‘ and ‚mixed‘ (or fragmented? ) languages and an equally iconic relationship between fuzzy language boundaries and fuzzy group boundaries is assumed (Auer 2007: 2). In der täglichen Kommunikation ist die verwendete und situationspassend ausgehandelte Sprachlichkeit als a c t o f i d e n tit y (vgl. Le Page/ Tabouret-Keller 1985: 14 sowie Mair 2003: 195) zu bestimmen: Die Sprecher deutscher Minderheitensprachen können durch Sprachenwahl, Akkommodation und auch durch die Ausbildung von kontaktsprachlichen Strukturen ihre Position innerhalb einer Gemeinschaft aus Minderheiten- und Mehrheitssprache aushandeln, einnehmen und behaupten, letztlich auch symbolisieren und markieren. Da Identität in der heutigen Forschung nicht mehr als ein einmalig erworbener und konservierter Zustand angenommen wird, ist diese Positionsfindung als dauerhafter Aushandlungsprozess zwischen den sozialen Gruppen und den Einzelpersonen zu beschreiben: „Today it is a commonplace in social psychology to think of identity as the processual and never-ending task of each person“ (Spreckels/ Kotthoff 2007: 416). Ellis (2001) hat diese situationsbedingte Möglichkeit, Identität sprachlich auszuhandeln, im Kontext des Zweitsprachenlernens folgendermaßen formuliert: Learners need to make an ‚affective investment‘ in the target language by drawing on their symbolic and material ‚resources‘. Such investment does not take place in a vacuum but is connected to the ‚ongoing production of a language learner’s social identity‘. Sometimes ‚investments may conflict with a desire to speak‘ (Ellis 2001: 77). Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 127 Die von Ellis beschriebene Situation lässt sich gut auf die Situation in den Siedlungen übertragen: Eine durch bestimmte Sprachverwendung (mit-)begründete Identität lässt Sprache zu einem Anzeiger der sozialen Zugehörigkeit werden (vgl. Gumperz 1982; Tabouret-Keller 1997: 319; Oppenrieder/ Thurmair 2003: 41; Bucholtz/ Hall 2005: 586). Je nach Kommunikationssituation und -partner entscheiden die Sprecherinnen und Sprecher in den Siedlungen darüber, ob und wann sie die Minderheiten- oder die Mehrheitssprache(n) wählen. Mit der Sprachverwendung können die Beteiligten schließlich ihre sprachliche Identität und damit auch ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft markieren bzw. symbolisieren. Die beobachtbare, zunehmende sprachliche Assimilation seitens der Minoritäten in Richtung Mehrheitssprache(n) führt zur Überlegung, ob und inwiefern Erscheinungen des Sprachverlusts Einfluss auf die Identität bzw. das Identitätsgefühl haben. Renn (2004: 73) merkt in diesem Kontext für die Dialekte im deutschen Binnenraum an, dass gerade nähesprachliche und identitätsstiftende Erstvarietäten bei zunehmendem Assimilationsdruck Auslöser für einen Identitätskonflikt sein können. Ähnlich sehen dies auch Krumm (2009: 238) oder Melika (1994: 289). In der Situation, in der sich die Sprecherinnen und Sprecher befinden, wäre Folgendes ein Beispiel für einen solchen sprachlichen Identitätskonflikt: Die deutsche Minderheitensprache wird als defizitär oder weniger funktional eingeschätzt, sodass die domänenspezifische Trennung der Sprachen verstärkt wird oder gar so weit geht, dass nur noch die Mehrheitssprache statt der deutschbasierten Varietät gesprochen wird. Der Assimilationsdruck ist dann als ein Auslöser für eine Veränderung der sprachlichen Identität zu interpretieren. Studien, wie z. B. die von Deminger (2004), Eller-Wildfeuer (2013) oder Dück (2014), werten die Identitätskonzepte ihrer Probanden mit Berücksichtigung der abnehmenden Sprachkompetenz in der Minderheitensprache aus. Ihre Ergebnisse weisen darauf hin, dass das Identitätsgefühl bezüglich einer Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe häufig fester verankert ist als die mit dem Identitätsgefühl verbundene Sprachlichkeit bzw. vorhandene Sprachkompetenz: Eine abnehmende Sprachkompetenz muss also nicht unmittelbar eine Veränderung im Zughörigkeitsgefühl evozieren. 3 Sprecherinnen und Sprecher deutschbasierter Minderheitensprachen und ihre sprachliche Identität Das nachfolgende Kapitel stellt ausgewählte Aussagen zur sprachlichen Identität von Sprecherinnen und Sprechern deutschbasierter Minderheitensprachen in Italien, der Ukraine und den USA zusammen. Datengrundlage bilden 27 Interviews aus dem Korpus Wildfeuer/ Franz, die im Rahmen des laufenden Forschungsprojekts S p r a c h e u n d I d e n tit ä t i n d e u t s c h s p r a c h i g e n S i e d l u n g e n in den Jahren 2017 und 2018 geführt wurden: 14 Interviews in Sappada/ 128 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer Pladen/ Plodn, zehn in den deutschsprachigen Siedlungen in Transkarpatien (Шенборн/ Schönborn, Барбово/ Barthaus, Синяк/ Sinjak, Мукачево/ Munkatsch) und drei in der Siedlung Castroville. Die ausgewählten Interviewausschnitte sind nach Meinung der Verfasser mit Blick auf das Identitätskonzept der befragten Sprecherinnen und Sprecher aussagekräftig und für das Korpus repräsentativ. Unter dem Terminus S p r a c h li c h e I d e n tit ä t wird das Identitätskonzept mit Blick auf Sprache erhoben, das ausgehend vom sprachlichen Repertoire die damit verbundenen Einstellungen in einem weiteren Sinne sichtbar macht, z. B. Sprachwissen, emotionale Bindung an Sprache bzw. Haltung gegenüber der/ einer Sprache, Sprachbewusstsein, situationsbezogene Sprachverwendung, Sprachloyalität, an Sprache gebundene Stereotypie, sprachliche Ideologien etc. (vgl. hierzu ausführlicher Franz 2018). 3.1 Beispiele aus Norditalien: die Sprachsiedlung Sappada/ Pladen/ Plodn Sappada/ Pladen/ Plodn ist eine auf ca. 1.220 Höhenmetern gelegene Siedlung in den Karnischen Alpen (Karte 1). In den letzten Jahren haben sich die Bewohner erfolgreich für die Angliederung an Friaul-Julisch Venetien/ Regione Autonoma Friuli Venezia Giulia eingesetzt, die im Jahr 2017 vollzogen wurde (vgl. den Zeitungsbeitrag [N. N.] in: D o l o m it e n vom 23.11.2017). Das Gebiet südlich des Monte Peralba/ Hochweißstein (Plodarisch: Jochkouvl) war wohl ab dem 13. Jahrhundert Auswanderungsziel von Sprecherinnen und Sprechern einer südbairischen Varietät (vgl. Kranzmayer 1963: 162; zu einer versuchten früheren Datierung siehe Peratoner 2006: 177-178). Das Plodarische wird - neben Varietäten der italienischen Mehrheitssprache - von einem Teil der Bewohner bis heute gesprochen. Vor Ort trifft man auf eine Mehrsprachigkeitssituation in der Alltagskommunikation. Hornung beschreibt die Mehrsprachigkeit als „eingespieltes Stimmungsbarometer“ (1981: 127). Sie beobachtet in ihrer Studie den wechselseitigen Gebrauch von deutschen und romanischen Synonymen und stellt den stark identitätsstiftenden Charakter der Sprache heraus, wenn sie resümiert, dass die Sprachverwendung das „Zünglein an der derzeit in Schwebe befindlichen Waage ‚deutsch - romanisch‘ [ist]“ (Hornung 1981: 127). In einer jüngeren Untersuchung zu autochthonen ethnolinguistischen Minderheiten in den italienischen Alpen schreiben Walder u. a. (2010) über das Identitätsgefühl der deutschen Minderheit in Sappada/ Pladen/ Plodn: In Timau/ Tischlwang und Sauris/ Zahre in Friaul-Julisch Venetien sowie - in abgeschwächtem Maße - in Sappada/ Pladen (Prov. Belluno, Veneto [seit 2017 ebenfalls Friaul-Julisch Venetien]) schlägt sich die ethnische Identität der Sprachinseldeutschen in der Bezogenheit zum eigenen Dorf nieder, nicht jedoch in der Einschätzung, zum deutschen Kulturkreis zu gehören oder Vertreter der deutschen Kultur in Italien zu sein. Die Bewohner fühlen sich in erster Linie als Italiener bzw. Friulaner und wollen in diesem Sinne nicht die deutsche Sprache, sondern ihren eigenen Dialekt bewahren (Walder u. a. 2010: 185). Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 129 Karte 1: Sappada/ Pladen/ Plodn in den Karnischen Alpen Wie Walder u. a. annehmen, gilt die oben beschriebene These nur „in abgeschwächtem Maße“ (2010: 185) für die Pladener. Bei unseren Erhebungen haben sich die Befragten selbst als Plodar oder auch Plodarer (z. B. L. K. * 1939) bezeichnet, ihre Minderheitensprache nennen sie Plodarisch. Bei der Benennung der Varietät und der Identität wird eine stark ausgeprägte lokale Verbundenheit der Sprecher deutlich, die konstituierend für deren Identität ist. In den geführten Interviews bezeichnen sie sich nur in wenigen Fällen oder nur auf Nachfrage als Italiener (z. B. P. P. (* 1942): italiener sind wir a schon). Die Bezeichnung Friulaner o. Ä. taucht in den Interviews nicht auf, obwohl sie durchaus eine historische und nun wieder ganz aktuelle Berechtigung hätte. Aus den erhobenen Daten lässt sich folgende soziale Abgrenzungspraxis rekonstruieren: Auf die direkte oder nähere Umgebung bezogen, grenzen sich die Plodar bzw. Plodarer von der italienischsprachigen Bevölkerung vor Ort ab, indem sie auf ein Konzept zurückgreifen, das die Ingroup der Plodar bzw. Plodarer der Outgroup der Welschen 5 gegenüberstellt. Eine Identifizierung eher auf globaler Ebene zeigen folgende Konzepte: Italiener, einfach Europäer (A. CF. * 1948). 5 Welsch trägt die Bedeutung ‚fremd‘ bzw. steht allgemein für ‚Romanisch‘ (vgl. Kluge 2011: 981). In einigen Interviews trifft man auch auf die synonym verwendete Bezeichnung Walsch. 130 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer Einmalig wird auf Nachfrage der Exploratoren die nationale Bezeichnung auch Deutscher (L. K., * 1939) genannt. 6 Was die sprachliche Identität betrifft, so ist davon auszugehen, dass die Probanden in der mehrsprachigen Umgebung ein sprachintegratives bzw. mehrsprachiges Identitätskonzept entwickelt haben, wie exemplarisch aus diesen drei Aussagen deutlich wird: 7 (1) P. P. (* 1942): plodn ist meine heimat und plodarisch meine sprache (.) italienisch gehört aber auch dazu (2) L. K. (* 1939): ich bin zweisprachig aufgewachsen (…) beide sprachen gehören für mich dazu (…) plodarisch is ein teil unserer kultur (3) T. P. (* 1942): plodarisch is meine muttersprache (.) auch das italienische miass man sprechen kennen sonst ists hier schwer Die Plodarer verstehen sich selbst als mehrsprachig und fassen ihre Mehrsprachigkeit als Komponente der eigenen Identität auf. Ihre sprachliche Identität basiert auf dem individuellen Sprachenrepertoire. Der jeweilige Idiolekt setzt sich aus Varietäten des Deutschen (z. T. Standardsprache, Plodarisch) sowie des Italienischen (Standardsprache, Ortsvarietät[en]) zusammen. Dieses Repertoire ist es, das sie mit ihrem Konzept Plodar verbinden. Die Sprecherinnen und Sprecher der ältesten und mittleren Generation schreiben der heute vor allem noch in der Familie gesprochenen Minderheitensprache eine emotionale Sonderstellung zu. Das Plodarische wird zu einer Projektionsfläche für die folgenden individuellen Schemata: (unsere) Kultur (C. F./ C. K., beide * 1945, L. K., * 1939), Zufriedenheit, Vertrautheit (P. P., * 1942), Heimat (T. P., * 1942, C. K., * 1967), Sicherheit, Geborgenheit (C. K., * 1967), Sprache des Herzens (P. K., * 1972). Die Varietäten des Italienischen binden sie dagegen seltener an nähesprachliche Konzepte, wie diese Beispiele exemplarisch zeigen: Lernen, Kultur, Ausbildung (C. K., * 1967), Walsch (P. P./ T. P., * 1942). 8 6 Die Bezeichnung Deutscher findet sich nur bei der Gewährsperson L. K. (* 1939). Die Aussage ist auch vor dem Hintergrund zu interpretieren, dass die Gewährsperson mehrere Jahre in Deutschland arbeitete, sodass sich deshalb eventuell ein individuelles Zugehörigkeitsgefühl zum deutschen Raum ausgebildet hat. 7 Die Belege sind folgendermaßen kodiert: Nach den Initialen der Gewährsperson folgt das Geburtsjahr in Klammern. Bei der Transkription fiel die Entscheidung auf eine vereinfachte Umschrift. 8 In gemischtsprachlichen Ehen nimmt das Italienische in der Kommunikation mit dem Ehepartner/ der Ehepartnerin aber durchaus nähesprachlichen Rang ein. Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 131 Das Plodarische wird in der ältesten und mittleren Generation als wesentliches Unterscheidungsmerkmal zur italienischsprachigen Bevölkerung aufgefasst und damit zum Symbol für den Ausdruck der eigenen Identität: Die Minderheitensprache versteht man als Identitätsmarker, den man auf der Zunge trägt. In der jüngsten Generation sowie bereits in Ansätzen in der mittleren Generation ist die an Sprachlichkeit gebundene soziale Abgrenzung als eher rückläufig zu beschreiben. Anstelle der Sprachlichkeit werden zunehmend andere Identitätsmarker zur Unterscheidung herangezogen. Ihre Wahrnehmung einer solchen Veränderung beschreibt die Gewährsperson C. K. (* 1967) im untenstehenden Ausschnitt. Sie antwortet folgendermaßen auf die Frage, ob die Identität des Dorfes auch dann erhalten bleibt, wenn die Sprache nicht mehr gesprochen wird: (4) (…) äh ja es isch anderschter wie mira hotn gedenkt durch de sproche oder a so °h (.) aber s_plodn is plodn und deham is dehame und de leit (.) da sein aufgwachsen (.) und seind_äh °h (-) äh jo äh und haben gern äh ihre hame ihr land (.) und de sproche net wal se se ni kennent aber (…) wenn sie se hätten gekennt no denk ich hätten sie_se_lei gern ghodn. 9 Für die Gewährsperson, die mit ihren Kindern vor allem Italienisch und gelegentlich noch Plodarisch spricht, bleibt die Identität des Dorfes trotz abnehmender Sprachkompetenz bestehen - an anderer Stelle des Interviews spricht sie in diesem Kontext von einer bestimmten manier (C. K., * 1967), die ihrer Meinung nach die jüngste Generation der Plodar auszeichnet. Sappada/ Pladen/ Plodn wird sowohl von der Sprecherin selbst als auch in ihrer Prognose für die jüngste Generation mit der Vorstellung von Heimat verbunden. Dass die Minderheitensprache im Identitätskonzept der Jugendlichen als Identitätsmarker für das Plodarsein wenig Relevanz aufweist, führt sie auf die nicht (mehr) oder nur noch wenig vorhandene Sprachkompetenz der jüngsten Generation zurück. 3.2 Beispiele aus Transkarpatien: Шенборн/ Schönborn, Барбово/ Barthaus, Синяк/ Sinjak, Мукачево/ Munkatsch In der Westukraine finden sich im Oblast Transkarpatien (Закарпатська область) Siedlungen mit deutschbasierten Minderheitensprachen. Karte 2 zeigt die Verteilung der deutschen Siedlungen in Transkarpatien und gibt Informati- 9 Übertragung ins Standarddeutsche: (…) Äh ja, es ist anders wie wir hatten gedacht, durch die Sprache oder auch so. Aber das Plodn ist Plodn und daheim ist daheim und die Leute, da sind aufgewachsen und sind äh äh jo und haben gern äh ihre Heimat, ihr Land - und die Sprache nicht, weil sie sie nicht können, aber (…) wenn sie sie hätten gekonnt, dann, so denke ich, hätten sie sie nur gerne gehabt. 132 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer onen über die am Ort gesprochene Varietät. Die Befragten der Sprachsiedlungen bezeichnen sich als Schwoben/ Schwab(ka) ‚Schwaben‘, die deutschbasierte Varietät wird als Schwobisch ‚Schwäbisch‘ benannt. Es handelt sich bei der Eigenbenennung nicht um eine geografisch motivierte Rückbindung an das einstige Auswanderungsgebiet, sondern um eine von der Minderheit übernommene Pauschalbezeichnung. Sie sind „Nennschwaben“, keine „Abstammungsschwaben“ (vgl. z. B. Wolf 1975: 21), und sie sprechen vor allem Varietäten, die auf dem Mittelbairischen und Ostfränkischen basieren. Ihre Vorfahren wanderten ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die Region ein, sie stammten vor allem aus Main- und Ostfranken, aus Westböhmen und anderen Teilen Österreichs (siehe ausführlich Melika 2002: 26-37). Karte 2: Deutsche Sprachminderheiten in Transkarpatien (basierend auf Melika 2002: 48) Über ihre (Sprach-)Identität geben die Sprecherinnen und Sprecher der Minderheit folgende Auskunft: (5) M. H. (* 1951, Синяк/ Sinjak): i bin schwobin (.) schwabka (-) i bin schwobin (.) das ganz sicher (…) das was im herz drin ist (.) im blut (-) das kann man net vergessen Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 133 (6) T. L. (* 1978, Шенборн/ Schönborn): also ich bin (.) eigentlich ein schwob (.) auf jeden fall (-) ich habe eine schwobische familie (.) ich bin geboren in schwobischen dorf (-) also ich bin schon ein schwob (7) M. K. (* 1951, Шенборн/ Schönborn und Wendelstein): [Schwobisch, A. W./ S. F.] is meine wiege (.) des is mir in die wiege gelegt und aufgeben des (.) des schwer (.) höchstens (…) auf die letzte stund (.) wenns musst abgeben (…) ne ne wir bleiben daitsch und waren daitsch und bleiben daitsch (…) (8) A. A. (* 1930, Шенборн/ Schönborn): wir sprechen hier kein daitsch sondern (.) schwäbisch. ich lasse mich nicht ukrainisch ungarisch verkaufen (.) ich bin geboren als schwäbin (9) M. W. (* 1936, Мукачево/ Munkatsch): ich hab schon mein passport (.) dass ich bin a schw (.) a daitsche Die Sprecher der deutschbasierten Minderheitensprache verstehen sich entsprechend der übernommenen Kollektivbezeichnung als Schwoben. Die fünf Aussagen zur Identität lassen auf ein sprachliches Identitätskonzept schließen, das mit dem Hyperonym Schwob - oder mit dem Konstrukt schwobische Identität - beschrieben bzw. kategorisiert werden kann. Für sie stellt das Schwobische eine nähesprachliche und identitätsstiftende Varietät dar, die auch zur sozialen Abgrenzung eingesetzt wird (vgl. Beispiel 8) und in mehreren Fällen als Symbol für gemeinsame Herkunft, Tradition und Geschichte angesehen wird (vgl. Beispiele 5, 6, 7). Die Befragten in Transkarpatien wissen um die Herkunft ihrer Vorfahren. Während sich das Selbstkonzept Schwabe als deutlich ausgebaut erweist, taucht die Selbstbezeichnung daitsch in den Interviews weniger in Verbindung mit der schwobischen Identität auf. Beispiel 7 stellt hier insofern eine Ausnahme dar: Die Probandin lebt mit ihrem Ehemann seit vielen Jahren hauptsächlich in Deutschland und bezeichnet ihre Wohnorte in Franken und Schönborn als ihre Heimat (M. K. * 1951, Шенборн/ Schönborn und Wendelstein). Im Gespräch mit der Gewährsperson T. L. (* 1978, Шенборн/ Schönborn) gibt diese an, einen deutschen Taufschein, aber einen ukrainischen Pass zu haben. Für sie gehören das Schwobsein und die deutsche Varietät eng zusammen; mit Daitsch assoziiert die Gewährsperson in erster Linie eine in der Schule gelernte hochsprachliche Form des Deutschen. Wie Beleg 9 zeigt, kann damit aber auch die nationale Zugehörigkeit ausgedrückt werden. Aus der Outgroup-Perspektive der in unmittelbarer Umgebung lebenden Ukrainer und Ungarn wird die Minderheit laut Auskunft der Gewährspersonen als Daitsch angesehen. In den sprachbiografischen Abschnitten der Interviews geben die Befragten an, auch die Kontaktsprache(n) - Ukrainisch und/ oder Ruthenisch und/ oder Ungarisch und/ oder Russisch - zu sprechen. Zudem nehmen sie an, dass die deut- 134 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer schen Varietäten immer weniger gesprochen werden. An die Stelle des Schwobischen treten vermehrt die Mehrheitssprachen. Bereits Melika (1994: 289 sowie 298) beschreibt diesen allmählichen Wechsel von der Minderheitensprache hin zur Mehrheitssprache und vermutet einen damit einhergehenden Identitätswechsel, worunter er den Wechsel der Volksvertretung versteht. In den erhobenen Daten konnten trotz einer tendenziellen Zunahme der Kommunikation in der Mehrheitssprache keine Anzeichen für einen „Wechsel der Volksvertretung“ (Melika 1994: 289) in der ältesten und mittleren - für Мукачево/ Munkatsch auch jüngeren - Generation festgestellt werden. Es herrscht in der ältesten und mittleren Generation eine soziale Abgrenzungspraxis vor. Die Abgrenzung von anderen ethnischen Gruppen erfolgt nicht unbedingt nur über die unterschiedliche Sprachkompetenz (Abgrenzungsmuster: spricht [kein] Schwobisch), sondern auch durch stereotype Vorstellungen, wie die des arbeitswilligen, rechtschaffenen Schwoben (persönliche Mitteilung von M. O., * 1950, Шенборн/ Schönborn). Dass trotz des beobachtbaren Verlusts der Sprachlichkeit eine - zumindest konstruierte - soziale Abgrenzung weiterbesteht, ist auch darauf zurückzuführen, dass die Befragten in ihrer Wahrnehmung Opfer von Stigmatisierung aufgrund ihrer deutschen Varietät wurden. Dies illustrieren diese beiden Ausschnitte, die auf Erfahrungen während der Schulzeit Bezug nehmen: (10) T. L. (* 1978, Шенборн/ Schönborn): einmal hab ichs mitbekommen da ich (.) hab ich dreihundert mal müssen schreiben (.) ich werde nicht reden daitsch (.) ich werde nicht reden daitsch (11) M. K. (* 1951, Шенборн/ Schönborn): des war verboten (.) oh (-) des war ganz schlimm (.) man hat ohrwatschel bekommen wenn man schwobisch geredt hat Über gemeinschaftliche Erfahrungen, Geschichte und Herkunft konstituieren die Sprecher ein ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein, das z. B. in der Pflege des jährlichen Kirchweihfestes in Барбово/ Barthaus sichtbar wird. In einem freien Gespräch berichtet J. K. (* 1956) von dieser etablierten Kirchweihtradition, bei der viele Schwoben (auch einige der nach Deutschland ausgewanderten) nach Барбово/ Barthaus für das gemeinsame Feiern kommen. Über das sprachliche Miteinander zwischen den deutschsprachigen Minderheiten bzw. deren Varietäten bilanziert er jedoch: (12) J. K. (* 1956, Барбово/ Barthaus): die franken aus schönborn und pausching versteht man nicht gut Die Aussage von J. K. kann dahingehend gedeutet werden, dass die (Sprach-) Gemeinschaft der Schwoben wiederum in sozialen Untergruppen organisiert ist; für diese These spricht auch, dass er selbst seine Muttersprache nicht Schwobisch Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 135 nennt, sondern dafür den Ausdruck Barthäuser Dialekt (J. K., * 1956, Барбово/ Barthaus) benutzt. 10 Bei der internen Unterscheidung von Subgruppen werden sprachliche Unterschiede einbezogen. Zur Abgrenzung der jeweils lokal organisierten deutschsprachigen Siedlung von einer benachbarten wird damit die (ursprünglich) dialektale Basis der deutschbasierten Minderheitensprache (Ostfränkisch, Mittelbairisch etc.) entscheidend (Abgrenzungsmuster: die sagen so, wir sagen so). 11 Allgemein formuliert: Unterschiede im linguistischen System zwischen den Varietäten der Schwoben sowie generell die Kompatibilität der oberdeutschen Varietäten können innerhalb der Ingroup als sozialraumunterscheidendes Symbol interpretiert und beschrieben werden. Zum Abschluss der Darstellung der Daten aus Transkarpatien soll noch auf ein von den bisherigen Identitätskonzepten abweichendes eingegangen werden. Die Gewährsperson G. N. (* 1950, Шенборн/ Schönborn) hat Schwobisch als junge Erwachsene als Zweitsprache erlernt (Erstsprache Ungarisch), nach ihrer Heirat und Umzug nach Шенборн/ Schönborn. Über ihre sprachliche Identität bilanziert sie: (13) G. N. (* 1950, Шенборн/ Schönborn): schwob (.) ich sag net so na (…) [schwobisch fühlen, A. W./ S. F.] so schon mittelmäßig ja (…) kei ukrainerin nit nein (…) na ungarin auch so mittelmäßig (…) russin nur so auch (.) ich weiß die sproch und fertig Die Probandin, die die deutsche Minderheitensprache während ihrer Zeit in Шенборн/ Schönborn erwarb, beantwortet die Frage nach der Zugehörigkeit unter Verwendung ihres individuellen Sprachrepertoires, vgl. die Aussage ich weiß die sproch und fertig. Aus ihrer Erstsprache Ungarisch, der als Nähevarietät erfahrenen Familienbzw. Intimsprache Schwobisch und der im Schulunterricht erlernten Sprachen Russisch und Ukrainisch setzt sich das sprachliche Identitätskonzept von G. N. zusammen. Sie spricht zwar Schwobisch, lehnt eine Identifizierung mit den Schwoben ab, nicht aber grundlegend das Identitätsgefühl, zur Sprechergemeinschaft dazuzugehören. 10 Die Aussagen von J. K. (* 1956, Барбово/ Barthaus) entstammen einer spontanen Mitschrift der Exploratoren aus einem freien Gespräch. 11 Das an Sprache gebundene Abgrenzungsmuster lässt sich auch in den Daten aus dem Banater Bergland (Rumänien) finden, worauf in diesem Aufsatz aber nicht näher eingegangen werden soll. 136 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer 3.3 Beispiele aus den USA: Castroville/ Texas Die Stadt Castroville im Medina County (siehe Karte 3) gehört zum sogenannten ‚German Belt‘ 12 in Texas (vgl. Boas 2016: 13). Der Ort war ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Ziel von Auswanderern aus dem Elsass. Der deutschsprachigen Siedlung kommt innerhalb des German Belt eine Sonderstellung zu: Während aufgrund der Einwanderung aus verschiedenen deutschsprachigen Regionen in den anderen Siedlungen meist unterschiedliche Mischvarietäten entstanden (Texasdeutsch), ist für Castroville keine Ausgleichsvarietät anzunehmen (vgl. Roesch 2012 sowie Boas 2016). Heute leben in der Stadt nur noch wenige Sprecherinnen und Sprecher des Elsässischen. Diese Bezeichnung der Varietät wird von ihnen, deren Vorfahren aus dem oberen Rheintal stammten (vgl. Roesch 2012), selbst verwendet. Die intrafamiliäre Weitergabe ist jedoch schon vor Jahrzehnten in den Familien aufgegeben worden. Allerdings wird in Castroville in den letzten Jahren versucht, im Rahmen von Elsässischkursen den Verlust der Varietät aufzuhalten und zumindest passive Kenntnisse an die nachfolgenden Generationen zu vermitteln. Auch ein seit vielen Jahren bestehender Austausch mit der Herkunftsregion im Elsass kann als retardierendes Element bezüglich des Sprachtodes interpretiert werden. Unterstützend für die Bemühungen um den Erhalt des Elsässischen ist auch das im Jahr 1981 erschienene, von interessierten Sprechern verfasste E ll s a s s e r W o r d b u c h (Tschirhart/ Tschirhart 1981). Über das Elsässische als Minderheitensprache und über ihre eigene Sprachidentität sagen die Befragten Folgendes: (14) J. J. (* 1939, Castroville): I come from Texas (.) [A. W.: So, you’re a Texan? ] (-) Yeah (-) first. [A. W.: and second? ] (.) Alsatian. (15) H. B. (* 1944, Castroville)/ T. B. (* 1941, Castroville) it’s part of our heritage, our history, our ancestry. (16) P. T. (* 1942, Castroville)/ L. T. (* 1939, Castroville) it’s sad, that it’s getting lost Für J. J. (* 1939) stellt die elsässische Herkunft seiner Vorfahren noch einen Teil seiner Identität dar, er bezeichnet sich jedoch an erster Stelle als Texaner. J. J. ist in seiner Primärfamilie zunächst nur mit der deutschen Minderheitensprache aufgewachsen, seine Eltern sprachen ausschließlich Elsässisch. Erst während der Zeit des Zweiten Weltkriegs sind die Eltern zum Englischen als Familiensprache übergegangen. P. T. (* 1942) sieht im Zweiten Weltkrieg eine Ursache für 12 Der ‚German Belt‘ umfasst nach Boas (2016: 13) das Gebiet von Gillespie und Medina County im Westen, Bell und Williamson County im Norden, Burleson, Washington, Austin und Fort Bend County im Osten und DeWitt, Karnes und Wilson County im Süden der USA. Sprachliche Identität in mehrsprachigen Räumen 137 die Aufgabe der deutschen Varietät: what killed the Alsatian language here was the war. Karte 3: Castroville und weitere deutschsprachige Siedlungen in Texas (USA) J. J. hat Englisch erst mit Eintritt in die Schule erlernt. Seine Kinder wurden fast ausschließlich im Englischen sozialisiert, sie verstehen nur wenig Elsässisch. Die Varietät hat für ihn aber insofern noch eine Bedeutung, als er z. B. immer noch in Elsässisch zählt, rechnet und meist auch denkt. Für das Gebet benutzt er meist Englisch und fügt hinzu: God knows all languages. Seine Kompetenz im Elsässischen bewertet J. J. als hoch, und er hat auch persönliche Vorteile aufgrund seiner Mehrsprachigkeit erfahren: I’ve profited from. I’ve been to places where not many people from Castroville have ever been (er war z. B. im Elsass). Das wahrscheinlich baldige Verschwinden der deutschen Varietät Castrovilles sieht J. J. dennoch eher gelassen: It happens with every language. Im Gegensatz zu J. J. wurden die anderen befragten Personen in Castroville von ihren Eltern bereits meist oder ausschließlich auf Englisch erzogen, das Elsässische haben sie eher im familiären Umfeld passiv erworben, wenn z. B. die Eltern untereinander die Minderheitensprache gebrauchten. Ihre Sprachkompetenz schätzen sie - auch im Vergleich zum aus ihrem Blickwinkel prototypischen Sprecher J. J. - als eher gering ein. Eine emotionale Bindung an die Sprache ist aber insofern vorhanden, als P. T. (* 1942) und L. T. (* 1939) das Verschwinden bedauern, während J. J. (* 1939) dies pragmatisch und unsentimental betrachtet 138 Sebastian Franz/ Alfred Wildfeuer (it happens with every language). Als Teil der Identität ist das Elsässische vor allem für H. B. (* 1944) und T. B. (* 1941) bedeutend: it’s part of our heritage, our history, our ancestry. 4 Fazit: Minderheitensprachen als Baustein von Identität Im vorliegenden Aufsatz ist den Fragen nachgegangen worden, ob und wie sich die mehrsprachigen Bedingungen der lokalen Umgebung im Identitätskonzept der Minderheiten widerspiegeln und welche Rolle die Minderheitensprache in den Selbstaussagen zur Identität einnimmt. Die Beobachtungen und subjektiven Aussagen lassen sich folgendermaßen interpretieren: 1. Beziehungen zwischen sozialen Gruppierungen mit unterschiedlichen Sprachen tragen zur Ausbildung eines mehrsprachigen Identitätskonzepts bei. 2. Für die soziale Standortfindung und Ausbildung der Identität spielt der unmittelbare Bezug zum mehrsprachigen Lebensraum eine entscheidende Rolle: Die Minderheitensprache wird erst im Kontext von Mehrsprachigkeit zum Identitätssymbol. 3. Auch wenn die Rolle der Minderheitensprache in den Interviews durchaus individuell gewichtet wird, fassen die meisten Befragten ihre Mehrsprachigkeit als Baustein ihrer Identität auf. Die häufig als Erstsprache erworbene, (stark) identitätsstiftende deutschbasierte Minderheitensprache erzeugt aber - mit Ausnahme des Elsässisch-Sprechers J. J. (* 1939, Castroville) - eine besondere emotionale Haltung. Nicht selten wird die Sprache von den Sprecherinnen und Sprechern als Symbol und Ausdruck kulturellen Erbes angesehen und als besonders nähesprachlich empfunden. Literatur Auer, Peter (2007): Introduction. In: Auer, Peter (Hrsg.): Style and Social Identities. Alternative Approaches to Linguistic Heterogeneity. 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Als Kontrollmaterial dienen vergleichbare Aufnahmen von monolingualen Sprechern des Wiener Deutsch und des Londoner Englisch. Die Erwartung phonetisch konvergierter Schwa-Realisierungen bestätigt sich zwar nur teilweise, doch zeigen die Ergebnisse unterschiedliche Strategien der Fremdsprachenaneignung (L1-Transfer bzw. target overshoot) sowie Anzeichen von Spracherosion bei Teilen der analysierten Sprecher. Dies spricht für die sprachliche Heterogenität von Migranten-Communitys und für den Einbezug außersprachlicher Informationen bei der Interpretation phonetischer Messdaten. 1 Einleitung „Im Augenblick, da wir gerettet im Exil ankamen, waren wir bereits in die neue Gefahr hineingeraten, in die Gefahr, auf ein niederes Niveau des Sprechens abzusinken und Stammler zu werden“ (Anders 1964: 73). In seinem für den von Egon Schwarz und Mattias Wegner herausgegebenen Band „Verbannung - Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil“ (Hamburg 1964) verfassten Beitrag „Lebenserlaubnis“ nimmt der 1902 in Breslau geborene und in den dreißiger Jahren über Paris in die USA emigrierte Dichter und Philosoph Günther Anders Bezug auf den in letzter Zeit vermehrt zum Forschungsthema gewordenen Verlust der Muttersprache (L1) und damit eines Teils der Sprecheridentität im Exil (vgl. Bischoff u. a. 2014; Hofmann-Wellenhof 2016). Zugleich benennt er mit dem Erwerb der neuen Umgebungssprache einen der Gründe für diese Gefahr: „Denn während wir unser Französisch, Englisch oder Spanisch noch nicht gelernt hatten, begann unser Deutsch bereits Stück für Stück abzubröckeln“ (Anders 1964: 73). Für Kulturschaffende, deren Lebensunterhalt sich auf die 146 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler professionelle Verwendung von Sprache gründet, ist die mit dem Exil verbundene doppelte sprachliche Herausforderung des Erwerbs einer zweiten Sprache auf der einen und des Bewahrens oder zumindest partiellen Verlusts der L1 auf der anderen Seite existenziell. Dennoch gilt dies - auch wenn von den Betroffenen in der Regel weniger wortgewaltig artikuliert - für jeden Menschen, der sich dauerhaft in einem anderssprachig dominierten Gebiet aufhält. In den letzten Jahrzehnten hat auch die Sprachwissenschaft ein verstärktes Interesse an Phänomenen der Veränderung der L1 unter dem Einfluss von gelernten Fremdsprachen entwickelt und Ergebnisse aus Forschungen zur sog. Spracherosion (engl. language attrition) mit entsprechenden Resultaten aus der Zweitspracherwerbsforschung kontrastiert (vgl. Schmid 2002 und Duran Eppler 2010 zum Deutschen im anglophonen Umfeld, Montrul 2012 zum Spanischen in den USA und Schmid 2011 für einen allgemeinen Überblick). Das Interesse galt dabei zunächst vornehmlich dem morphosyntaktischen Bereich, während Phänomene der Aussprache erst in jüngerer Zeit untersucht wurden (vgl. Bergmann u. a. 2016 zum Deutschen und Rao/ Ronquest 2015 zum Spanischen). Im vorliegenden Beitrag wird ein Korpus historischer Aufnahmen von aus Wien nach London übersiedelten jüdischen Emigranten erstmals hinsichtlich eines spezifischen phonetischen Phänomens ausgewertet. Es handelt sich dabei um das sog. Emigranto-Korpus, das von der dritten Autorin dieses Beitrags Mitte der 1990er Jahre auf Basis selbst erhobener Daten zusammengestellt wurde (vgl. Duran Eppler 2010 und https: / / biling.talkbank.org/ access/ Eppler.html [17.02.2020]). Ausgangspunkt ist die folgende Überlegung: Da Bilinguale in gemischtsprachigen Konversationen häufig innerhalb der Nominalphrase zwischen Artikelwort und Nomen die Sprache wechseln (sog. Code-Switching [CS]; vgl. Duran Eppler u. a. 2017) und bei der Realisierung von in beiden Sprachen vergleichbaren phonologischen Kategorien oft Tendenzen der wechselseitigen Angleichung (Konvergenz) beobachtet wurden, sollte man annehmen, dass die hier im Mittelpunkt stehenden Bilingualen, die mit dem Wiener Deutsch und dem Englischen über zwei Sprachen verfügen, in denen der unbestimmte Artikel im unmarkierten Fall als Schwa [ ə ] realisiert wird (vgl. a bisserl, a bit), hinsichtlich der Schwa- Realisierung (‚konvergierte‘) Kompromisswerte für den ersten und zweiten Formanten (F1, F2) aufweisen. Die hieraus resultierende Konvergenz-Hypothese soll mithilfe von Formanten-Messungen der als Schwa realisierten Artikelwörter im genannten Korpus überprüft werden. 1 1 Beispiele für solche CS-Kontexte aus unserem Korpus (vgl. Abschnitt 4.1), die den (sprachlich ambigen) Schwa-Artikel (unterstrichen) als syntaktisches ‚Scharnier‘ aufweisen, lauten wie folgt: „… die Hungarians, die Czechs, die haben immer a worse accent than we have …“ (Richtung: Deutsch → Englisch; DOR, ibronb, Zeile 206f.); „I told you at least a Stund(e)“ (Richtung: Englisch → Deutsch; LIL, jen3a, Zeile 660). Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 147 2 Typen von Spracheneinfluss Fälle von Übertragung lautlicher Merkmale von einer Sprache auf eine andere lassen sich in allen Situationen von Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit beobachten. Die Relevanz des Themas für die lebensweltliche Realität fast aller Menschen tritt deutlich zutage, wenn man sich klarmacht, dass durch das schulische Fremdsprachenlernen auch traditionell als ‚monolingual‘ bezeichnete Personen strenggenommen nicht einsprachig sind. Die beim Fremdsprachenlernen eher den Regelfall als die Ausnahme darstellende Übertragung von Aussprachespezifika der L1 und die Ausbildung eines fremdsprachigen Akzents wird im Allgemeinen mit dem Begriff des (negativen) T r a n s f e r s erfasst, den wir mit Odlin (2003) als Übertragung struktureller Merkmale aus einer zuvor gelernten oder erworbenen Sprache auf die Zielsprache aufgrund wahrgenommener Ähnlichkeiten verstehen. Beispiele hierfür sind die Übertragung der Aspiration stimmhafter Verschlusslaute aus dem Deutschen in die Fremdsprache Französisch (vgl. u. a. Laeufer 1997 und Gabriel u. a. 2018) oder die nicht-zielsprachliche Übernahme des englischen r [ ɹ̠ ] ins Spanische als Fremdsprache (vgl. Face 2006). 2 Weiterhin wurde in der Literatur zum Fremdsprachenerwerb gezeigt, dass nicht nur gewisse Merkmale aus der L1 irrtümlich in die L2 übertragen werden (negativer Transfer), sondern dass von den Lernern als für die Fremdsprache typisch wahrgenommene Eigenheiten in der L2-Produktion übertrieben werden. Beispiele für dieses Phänomen, das wir unter dem im Englischen geläufigen Terminus t a r g e t o v e r s h o o t führen, sind etwa die übertrieben steilen F0-Anstiege, die Willems (1982) im L2-Englischen niederländischer Lerner konstatiert hat, oder auch der (im Vergleich zu den zielsprachlichen Kontrolldaten zu hohe) Gesamtanteil vokalischen Materials im von englischen Muttersprachlern produzierten L2-Spanisch (vgl. Mattys/ White 2007: 514, sowie De Leeuw 2019 für einen Überblick). Derartige Befunde lassen sich im Sinne von Lindbloms (1986, 1998) Adaptive Dispersion Theory als Polarisierungseffekt interpretieren, d. h. als (intuitives) Bedürfnis der Sprecher, zwischen verschiedenen Sprachen zu differenzieren. Wenn eine nach Abschluss des L1-Erwerbs hinzugekommene Sprache im Lebensalltag eines Sprechers einen Stellenwert einnimmt, der deutlich über den akzidentiellen Einsatz von Fremdsprachenkenntnissen hinausgeht, oder die Zweitsprache gar zur dominanten Sprache wird, kann sich die Richtung des Spracheneinflusses umkehren, d. h. die gelernte (oder auch ungesteuert erwor- 2 Neben negativem Transfer sind auch Übertragungen mit zielsprachlichem Ergebnis möglich. Ein solches Beispiel positiven Transfers ist etwa die Übernahme der nichtaspirierten Verschlusslaute aus den Herkunftssprachen Russisch oder Türkisch durch deutsch-russische oder deutsch-türkische Französischlerner (vgl. Gabriel u. a. 2018). Im weiteren Verlauf dieses Beitrags spielt positiver Transfer jedoch keine Rolle. 148 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler bene) Zweitsprache beeinflusst die Muttersprache. Dies ist insbesondere der Fall bei Exilierten oder Migranten, die in der neuen Umgebungssprache dominant geworden sind, ihre L1 aber weiterhin als sog. community language nutzen (Clyne 1991). Bei massiver Veränderung der Muttersprache unter dem Einfluss des dominanten Idioms und insbesondere dann, wenn dies mit gewissen Einbußen hinsichtlich der allgemeinen Kommunikationsfähigkeit einhergeht, spricht man auch von Spracherosion oder engl. language attrition (Schmid 2011). Neben der unidirektionalen Beeinflussung (Transfer) können sich Sprachen auch gegenseitig beeinflussen, d. h. in einem bestimmten Merkmal eine Zwischenposition zwischen zwei Sprachen einnehmen. Derartige Effekte, die wir mit dem Begriff K o n v e r g e n z erfassen, 3 lassen sich insbesondere bei durch graduelle Übergänge gekennzeichneten Phänomenen beobachten, wie z. B. die Länge der Stimmeinsatzzeit bei der Produktion von Verschlusslauten (vgl. Gabriel u. a. 2018 zu deutsch-russischen und deutsch-türkischen Bilingualen), der Sprachrhythmus (vgl. Fischer u. a. 2014 zu judenspanisch-bulgarischen Bilingualen) oder Vokalrealisierungen (vgl. Mayr u. a. 2012 zu niederländisch-englischen Bilingualen oder Cychosz 2019 zur Annäherung mehrerer Sprachen im multilingual beeinflussten français des banlieues). 3 Realisierung des unbestimmten Artikels im Englischen und im Wiener Deutschen Im Englischen wird der unbestimmte Artikel a als Schwa [ ə ] realisiert, wobei in vorvokalischer Position die allomorphische Variante an [ ə n] auftritt und bei Betonung Diphthongierung zu [e ɪ̯ ] eintreten kann. Den Regelfall stellt der Diphthong hingegen beim indefiniten Artikel ein des Standarddeutschen dar ([a ɪ̯ n]), wobei dieser im nähesprachlichen Register zum silbischen [ņ] reduziert wird (’n Dach [ņ.dax]). Der dem Standarddeutschen zugrunde liegende mittelhochdeutsche Diphthong / ei ̯ / wurde in denjenigen bairischen Varietäten, zu denen der Wiener Dialekt zählt, zu / a/ monophthongiert (vgl. Moosmüller 1991; Moosmüller/ Vollmann 2001). In betonter Position wird er als kompensatorisch gelängtes (vorderes oder hinteres) [a ː ] bzw. [ ɑː ] realisiert („mit Ersatzdehnung“, Moosmüller 1991: 42), im unbetonten (unmarkierten) Fall als [a] bzw. [ ɑ ] oder als sog. a-Schwa [ ɐ ] (vgl. Koekkoek 1955; Schuster/ Schikola 1984). Darüber hinaus verwendet das Wiener Deutsch unter dem Einfluss des Standarddeutschen eine (weniger dialektal markierte) Variante des Artikels mit hörbarem auslauten- 3 Es sei darauf hingewiesen, dass einige Autoren wie z. B. Myers-Scotton (2002) den Begriff Konvergenz abweichend hiervon im Sinne von Transfer, d. h. zur Bezeichnung unidirektionalen Einflusses verwenden; vgl. auch Höder (2014). Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 149 dem Nasalkonsonanten [æ( ː )n]. Diese ist in den im vorliegenden Beitrag analysierten Daten mit 84,3 % die am häufigsten auftretende Variante, während der Wiener Dialektartikel (ohne auslautendes [n]) vorwiegend in festen Wendungen auftritt. 4 4 Empirische Studie 4.1 Sprecher und Daten Die Studie beruht auf einem Vergleich historischer Sprachaufnahmen von drei Sprechergruppen, wobei neben den wienerdeutsch-englischen „Emigranto“- Daten der jüdischen Auswanderer auch Vergleichsdaten von monolingualen Sprechern herangezogen wurden. Wichtigstes Kriterium für die Auswahl dieser Daten war es, hinsichtlich des Datentyps und des sozioökonomischen Status der Gesprächsteilnehmer eine möglichst große Vergleichbarkeit mit den Daten der Zielgruppe zu gewährleisten. Diese umfassen eine Auswahl von sechs ca. 45-minütigen Gruppengesprächen und -interviews, die im Januar 1993 von Eva Duran Eppler in London aufgenommen wurden und an denen insgesamt zehn spät-bilinguale 5 Sprecher des Wiener Deutsch (L1) und des Englischen (Londoner Varietät; L2) beteiligt waren (3 männliche, 7 weibliche Personen; vgl. Tab. 1). Berücksichtigt wurden die Redebeiträge von insgesamt neun Personen, von denen acht zwischen 1912 und 1924 in Wien geboren wurden und seit ihrer Emigration 1939 in London lebten (Kürzel: EAR, SOP, DOR, LIL, TRU, MEL, ALA, FRI) sowie eine in London geborene und somit der zweiten Einwanderergeneration angehörende Sprecherin (Kürzel: VIV, Tochter von DOR). Der Gesprächsteilnehmer NIC (VIVs Sohn und DORs Enkel) wurde als Sprecher der dritten Generation nicht in die Untersuchung einbezogen; zudem hatte er in seinen ohnehin nur kurzen Redebeiträgen keine unbestimmten Artikel verwendet. Alle Gesprächsteilnehmer verfügten über eine höhere Schulbildung (Sekundarstufe bzw. Gymnasium), übten jedoch keine akademischen Berufe aus. Sie zählten zum „assimilierten“ Teil der Wiener Juden, die in mittelständischen Bezirken wie dem 1. (Innere Stadt) oder dem 9. (Alsergrund) zuhause waren, betrachteten sich im nationalen Sinne als Österreicher und sprachen Wiener (Standard-)Deutsch. In Interviews bekundeten einige explizit, eher das in Wien übliche, standardisierte „Burgtheaterdeutsch“ zu verwenden als den (bairischen) 4 Es handelt sich um die Wendungen a bisserl, a Stückerl, a Mal, a paar, so a X, wie a X und des is a X, wovon die letztgenannte wiederum ca. 60 % der Vorkommen ausmacht. 5 Unter spät-bilingualen Sprechern verstehen wir Individuen, die ihre Zweitsprache nach Abschluss der Pubertät erworben haben; vgl. auch Meisel (2011: 202ff.). 150 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler Wiener Dialekt, wobei sie vermutlich in der Lage waren, ihre Sprechweise entlang dem diaphasischen Kontinuum zwischen österreichischem Standarddeutsch und Wiener Dialekt situationsspezifisch zu akkommodieren (vgl. Duran Eppler 2010: 72, 77). Wichtig ist vor allem, dass sie kein Jiddisch sprachen und sich darin dezidiert von den sog. Ostjuden abhoben, die sich als Folge massiver Pogrome in Polen und Russland Ende des 19. Jahrhunderts in Wien angesiedelt hatten. Nach ihrer Ankunft in London nahmen sie ihre Wohnungen auch nicht in den „traditionellen“ Wohngebieten der Ostjuden im Londoner East End, sondern bewusst in den bürgerlichen Mittelklassevierteln des Nordwestens, so etwa in Hampstead. Wie aus Selbstzeugnissen hervorgeht, ist bei den Emigranto-Sprechern von Beginn an ein starkes Bedürfnis zu konstatieren, die neue Umgebungssprache auf hohem Niveau zu erlernen. Neben ökonomischen Gründen, sprich dem Zwang zur Erwerbstätigkeit, spielte auch das Verbot des Deutschen im öffentlichen Raum eine Rolle, was über die Zeit bei einigen Sprechern unseres Samples zu einer Umkehrung der Sprachdominanz führte. 6 Vor allem in den späteren Jahren trafen sich einige Sprecher des Emigranto-Korpus mehrmals wöchentlich in einem Tagesheim (engl. day centre) des Jüdischen Flüchtlingsverbandes (engl. Association of Jewish Refugees, AJR), wo sie Deutsch sprechen oder zwischen beiden Sprachen code-switchen konnten - eine Art späte Rückkehr zu den deutschsprachigen Wurzeln (vgl. Duran Eppler 2010: 85f.). Die folgende Tabelle fasst die Grunddaten des analysierten Korpus zusammen. Nummer Dateinamen Datentyp Situation Teilnehmer/ in (Kürzel) Alter zum Zeitpunkt der Aufnahme (bei Ankunft) Schulbildung Berufstätigkeit 1. alfred1, alfred2 soziolinguistisches Interview Afternoon tea Alfred (ALA) 81 (27) Gymnasium Geschäftsmann Edith (EAR) 73 (19) Gymnasium Hausfrau 2. hogan1, hogan2 soziolinguistisches Interview Afternoon tea Sophie (SOP) 73 (18) Sekundarstufe Hausfrau Fritz (FRI) 70 (20) Gymnasium Ingenieur 6 Dies betrifft die Sprecher ALA, EAR, FRI und SOP (vgl. Tab. 1). Die Gebrauchsfrequenz (token frequency) englischer bzw. deutscher Wörter wurde als Kriterium zur Bestimmung der Sprachdominanz verwendet (vgl. Duran Eppler 2010: 123). Zur Messung von Sprachdominanz vgl. auch Kupisch (2008). Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 151 Nummer Dateinamen Datentyp Situation Teilnehmer/ in (Kürzel) Alter zum Zeitpunkt der Aufnahme (bei Ankunft) Schulbildung Berufstätigkeit 3. ibrona, ibronb soziolinguistisches Interview Afternoon tea Dorit (DOR, Großmutter) 74 (20) Gymnasium Hausfrau/ Ladenbesitzerin Vivien (VIV, Mutter) 43 (-) Gymnasium (brit. A-level) Verwaltungsangestellte Nicolas (NIC, Sohn) 17 (-) Schüler 4.-6. jen1a, jen1b, jen1c, jen2a, jen2b, jen2c, jen3a, jen3b freie Konversation Kartenspiel Dorit (DOR) 74 (20) Gymnasium Hausfrau/ Ladenbesitzerin Lilly (LIL, TRUs Schwester) 75 (20) Sekundarstufe Hausfrau Trude (TRU, LILs Schwester) 74 (19) Sekundarstufe Hausfrau Melly (MEL) 69 (15) Sekundarstufe Gelegenheitsarbeiten Tab. 1: Daten und Sprecher des Emigranto-Korpus (vgl. https: / / biling.talkbank.org/ access/ Eppler.html [17.02.2020]). Da die untersuchten Aufnahmen vor gut einem Vierteljahrhundert entstanden sind und ein Großteil der Aufgenommenen inzwischen verstorben ist, ist bei der Bewertung der mithilfe der entsprechenden Daten gewonnenen Ergebnisse zu bedenken, dass es sich um singuläre historische Daten handelt, die weder in ihrer Aufnahmequalität verbessert noch durch weitere Erhebungen mit denselben Gewährspersonen ergänzt werden können. Die Qualität der Rohdaten ermöglichte es jedoch, die für die Analyse der Vokalqualität notwendigen Parameter (erster und zweiter Formant) zu extrahieren; zum Ausschluss nicht analysierbarer Datenpunkte vgl. Abschnitt 4.2. Als Vergleichsmaterial wurden Daten von lebensweltlich monolingualen Sprechern des Englischen (Londoner Varietät) und des Wiener Deutschen herangezogen. Wichtigstes Auswahlkriterium dabei war es, hinsichtlich des Datentyps und des sozioökonomischen Status der Aufgenommenen eine möglichst hohe Vergleichbarkeit mit dem Emigranto-Korpus zu gewährleisten. Die Londoner Kontrolldaten wurden dem London-Lund Corpus of Spoken English (LLC) entnommen, das zahlreiche Unterhaltungen „between equals“ beinhaltetet (Aufnahmen: 1975 und 1976; Veröffentlichung der Transkripte in Svartvik/ Quirk [Hrsg.] 152 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler 1980). Die ausgewählten Daten umfassen vier Aufnahmen von Gruppengesprächen zwischen insgesamt 13 educated speakers (6 männl., 7 weibl.), die zwischen 1915 und 1936 geboren wurden und zum Zeitpunkt der Aufnahmen unterschiedlichen mittelständischen Berufen nachgingen (Gesamtdauer der ausgewerteten Aufnahmen: 139 Min.). Für die Wiener Vergleichsdaten wurde auf soziolinguistische Interviews zurückgegriffen, die von Sylvia Moosmüller in den späten 1980er Jahren mit zehn gebildeten Wiener Sprechern durchgeführt wurden (vgl. Moosmüller 1987; Gesamtdauer der ausgewerteten Aufnahmen: 182 Min.). Die zwischen 1917 und 1945 in Wien 7 geborenen Sprecher (5 männl., 5 weibl.) waren zum Zeitpunkt der Aufnahmen in unterschiedlichen Berufen tätig (z. B. Steuerberater, Beamter/ -in, Hausfrau, Techniker) oder befanden sich bereits im Ruhestand. 4.2 Methodisches Vorgehen Zunächst wurden in den Audiodateien alle indefiniten Artikel identifiziert 8 , in Praat-TextGrids (Boersma/ Weenink 2018) entsprechend markiert und jeweils den folgenden Kategorien zugeordnet: (A) englische unbestimmte Artikel (a), (B) wienerdeutsche Dialekt-Artikel (a), (C) Artikel in CS-Kontexten (unabhängig von ihrer Realisierung), (D) wienerdeutsche Artikel mit auslautendem [n]. Bei Kategorie A wurden sowohl die allomorphe Form an als auch alle betonten Artikel ([e ɪ̯ ]) ausgeschlossen. In Kategorie D wurden nur einsilbige Formen aufgenommen ([æ( ː )n]), zweisilbige Varianten wie einem jedoch ausgeschlossen. Nicht einbezogen wurden weiterhin alle Vorkommen von Artikelwörtern, deren Schwa aufgrund von Nebengeräuschen oder gleichzeitigem Sprechen mehrerer Gesprächsteilnehmer hinsichtlich der Formantenstruktur nicht analysierbar war. Die in CS-Kontexten realisierten (und entsprechend weder eindeutig dem Englischen noch dem Wiener Deutsch zugeordneten) Vorkommnisse (Kategorie C) wurden in einem nächsten Schritt als Schwa-Artikel (vgl. Kategorien A und B) oder mit auslautendem [n] realisierte Formen kategorisiert (vgl. Kategorie D). Im Folgenden wurden für alle Items der Kategorien A und B sowie für die Schwa-Artikel der Kategorie C mithilfe der Praat-Funktion Formant Track und eines Praat-Skripts die Hertz-Werte von F1 und F2 bestimmt. Da es sich um natürliche Sprachdaten handelt, die hinsichtlich der dem Schwa vorangehenden und folgenden Konsonanten nicht kontrolliert werden konnten, wurden zur Vermeidung von Koartikulationseffekten jeweils nur diejenigen Werte be- 7 Eine der Personen stammt aus der unmittelbaren Umgebung (Baden bei Wien). 8 Im Falle der Emigranto- und der Londoner Daten geschah dies auf der Basis der vorliegenden Transkripte (vgl. https: / / biling.talkbank.org/ access/ Eppler.html [17.02.2020] und Svartvik/ Quirk [Hrsg.] 1980). Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 153 rücksichtigt, die in der Mitte des Vokals, d. h. während der stabilen Phase, gemessen wurden. In Anlehnung an das von Rathcke u. a. (2017) vorgeschlagene Vorgehen - Formantenbestimmung mithilfe der Praat-Standardeinstellungen und automatisiertes Entfernen von auf Messfehlern beruhenden Extremwerten - wurden 27 Items des Emigranto-Korpus und 25 der Londoner Vergleichsdaten sowie zwei aus dem Wiener Korpus von der weiteren Analyse ausgeschlossen (F1-Werte unter 200 Hz bzw. über 800 Hz, F2-Werte unter 500 Hz und über 2200 Hz). 9 Die statistische Analyse der Unterschiede zwischen den Schwa- Produktionen der drei Sprechergruppen erfolgte mit SPSS (Kruskal-Wallismit Post-hoc-Dunn-Bonferroni-Test für paarweisen Vergleich bei nicht-normalverteilter Stichprobe). 4.3 Ergebnisse Für eine erste Übersicht wurde für die drei Sprechergruppen jeweils der Mittelwert aller realisierten Schwa-Artikel berechnet. Tabelle 2 und die Kastendiagramme in Abbildung 1 zeigen, dass sich die F2-Werte aller Gruppen relativ ähnlich sind und die Emigranto-Sprecher mit ihrem Wert zwischen den beiden Kontrollgruppen liegen. Bei F1 hingegen fällt auf, dass die für die Emigranto- Gruppe ermittelten Werte deutlich höher sind als diejenigen der Kontrollgruppen. F1 F2 Wien (n=55) 493 1544 Emigranto (n=381) 545 1598 London (n=341) 443 1625 Tab. 2: F1- und F2-Werte für drei Sprechergruppen (Mittelwerte in Hz). 9 Da wir von allen Sprechern nur den zentralen Oralvokal [ ə ] analysieren, konnten die ermittelten Werte nicht gemäß Lobanov (1971) normalisiert werden. 154 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler Abb. 1: Verteilung der F1- (links) und F2-Werte (rechts) nach Sprechergruppen; von links nach rechts jeweils: Wien, Emigranto, London. Die statistischen Analysen bestätigen diesen Befund: Während der Kruskal- Wallis-Test kein signifikantes Ergebnis für F2 ergab (Abb. 1, rechts) und folglich auch keine Paarvergleiche möglich waren, unterscheiden sich die Gruppen in Bezug auf F1 hoch signifikant (.000). Auch im Paarvergleich konnte gezeigt werden, dass alle Gruppen signifikant voneinander unterschiedlich sind (London - Wien: .006, London - Emigranto: .000, Wien - Emigranto: .002). Unterscheidet man die von den Emigranto-Sprechern produzierten Schwa- Artikel gemäß den Kategorien A, B und C (vgl. Tab. 3), zeigt sich, dass die Werte für die englischen Artikel (A) näher an den Werten der Londoner liegen, insbesondere was F2 betrifft: F1 F2 A (Englisch; n=268) 537 1616 B (Deutsch; n=77) 561 1558 C (CS; n=36) 570 1551 Tab. 3: F1- und F2-Werte in den Emigranto-Daten nach Kontext A, B bzw. C (Mittelwerte in Hz). F1 weist jedoch in allen Kategorien deutlich höhere Werte auf, als es bei den Kontrolldaten der Fall ist. Das heißt, die Emigranto-Sprecher verwenden in allen Kontexten ein tieferes Schwa als die Wiener und Londoner Kontrollsprecher - ein Befund, der auf den ersten Blick schwer zu interpretieren scheint. Betrachtet man die Mitglieder der Emigranto-Gruppe einzeln und bezieht auch außersprachliche Daten mit ein, wird das Bild insofern klarer, als sich zwei Untergruppen von Emigranto-Sprechern ausmachen lassen: Während die Sprecher ALA, EAR, FRI, SOP und MEL eher lose miteinander verbunden sind (Gruppe A), Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 155 bilden DOR, VIV (= DORs Tochter), LIL und TRU (LILs Schwester) ein enges Netzwerk aus Familie und Freunden (engl. close-knit network, vgl. Milroy/ Wei 1995; Eppler 2009). Wie aus Tabelle 4 hervorgeht, liegen die für Emigranto-A ermittelten F1- und F2-Werte nahe an denen des Wiener Deutschen, während die Emigranto-B-Sprecherinnen ihre Schwa-Produktion zwar in Bezug auf F2 dem Wert der Umgebungssprache (Londoner Englisch) angepasst haben, hinsichtlich F1 jedoch deutlich höhere Werte produzieren. Dies bedeutet, dass ihre Schwa-Artikel in Bezug auf die Dimension vorne - hinten des Vokaltrapezes entsprechend der Zielsprache nach vorne verschoben wurden, dass sie jedoch hinsichtlich der Dimension offen - geschlossen (bzw. hoch - tief) zu weit unten liegen. F1 F2 Wien (n=55) 493 1544 Emigranto A (n=134) 517 1493 Emigranto B (n=247) 560 1654 London (n=341) 443 1625 Tab. 4: F1- und F2-Werte nach Sprechergruppen bei Aufteilung der Emigranto- Gruppe in A und B (Mittelwerte in Hz). Die statistische Analyse belegt, dass sich die Gruppen A und B sowohl bei F1 als auch bei F2 hoch signifikant unterscheiden (jeweils .000). In Bezug auf F1 sind, abgesehen von Wien - Emigranto A (.511), alle Paarvergleiche signifikant (London - Wien: .012, Emigranto A - Emigranto B: .013) oder sogar hoch signifikant (London - Emigranto A, London - Emigranto B, Wien - Emigranto B jeweils .000). Die Emigranto-A-Sprecher verwenden also in allen Kontexten - d. h. unabhängig davon, ob sie Deutsch oder Englisch sprechen oder code-switchen - für ihre Schwa-Produktion die gleichen F1-Werte wie die Wiener Kontrollsprecher. Die Sprecher der Gruppe B unterscheiden sich hingegen von allen anderen Gruppen. In Bezug auf F2 sind die Paarvergleiche Emigranto A - London (.000), Emigranto A - Emigranto B (.000) und Wien - Emigranto B (.001) hoch signifikant, während die zwischen Emigranto A - Wien (.654), Wien - London (.095) und Emigranto B - London (.068) nicht signifikant sind. Dies bedeutet, dass die Emigranto-A-Sprecher nicht nur in ihren F1-, sondern auch in ihren F2-Werten denjenigen des Wiener Deutsch gleichen (ebenfalls in allen Kontexten). Die Sprecherinnen der Gruppe Emigranto B verhalten sich jedoch in Bezug auf F2 wie die Londoner, wodurch sie sich wiederum von den monolingualen Wienern unterscheiden; vgl. die Darstellung in den Kastendiagrammen in Abbildung 2. 156 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler Abb. 2: Verteilung der F1- (links) und F2-Werte (rechts) nach Sprechergruppen bei Aufteilung der Emigranto-Gruppe in A und B (Mittelwerte in Hz); jeweils von links nach rechts: Wien, Emigranto A, Emigranto B, London. Tabelle 5 zeigt schließlich die von den Emigranto-B-Sprecherinnen produzierten F1- und F2-Werte entsprechend den unterschiedlichen Kontexten (Kategorien A, B und C). F1 F2 A (Englisch; n=157) 554 1658 B (Deutsch; n=64) 574 1566 C (CS; n=26) 581 1605 Tab. 5: F1- und F2-Werte Emigranto B nach Kontexten (Mittelwerte in Hz). Die Anpassung der Emigranto-B-Sprecherinnen an die Umgebungssprache hinsichtlich F2 tritt hier noch deutlicher zutage: Die Werte ihrer englischen Schwa-Artikel (Typ A) sind höher als diejenigen ihrer im wienerdeutschen Kontext produzierten unbestimmten Determinanten (Typ B), was mit dem Unterschied zwischen den beiden monolingualen Kontrollgruppen übereinstimmt (vgl. Tab. 4). Für die in CS-Kontexten produzierten Items (Typ C) ergibt sich ein zwischen dem Wiener Deutsch und dem Englischen liegender Kompromisswert (Konvergenz), auch wenn diese Tendenz aufgrund der geringen Fallzahlen mit gewisser Vorsicht zu betrachten ist. Die F1-Werte liegen unabhängig vom Kontext über den wienerdeutschen und englischen Vergleichswerten (vgl. Tab. 4). In Abbildung 3 stellen wir die Ergebnisse zusammenfassend dar. Die durch die Mittelwerte der F1- und F2-Werte definierten Punkte zeigen für die vier Sprechergruppen (Wien, London, Emigranto A, Emigranto B) jeweils die Position der Schwa-Realisierung im Vokaltrapez an. Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 157 Abb. 3: Schwa-Realisierungen (Mittelwerte für F1 und F2) nach Sprechergruppen und Positionen im Vokaltrapez. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Schwa-Realisierungen der Emigranto-B-Sprecherinnen deutlich von denen der Personen der Gruppe A unterscheiden, deren Aussprache des Schwa-Artikels hinsichtlich F1 und F2 den Werten der Wiener Kontrolldaten entspricht. 4.4 Diskussion Ausgangspunkt der Studie war die Annahme, dass der Schwa-Artikel des Wiener Deutschen und des Englischen, der sich als syntaktisches ‚Scharnier‘ zum Sprachenwechsel beim CS anbietet, bei den Emigranto-Sprechern phonetische K o n v e r g e n z der Schwa-Realisierung ausgelöst haben könnte. Diese Erwartung hat sich jedoch nur hinsichtlich der F2-Werte der Schwa-Realisierungen durch die Sprecher der Gruppe B in CS-Kontexten bestätigt - und das auf nur geringer Datenbasis (n=26). Allerdings haben die Ergebnisse deutlich gemacht, dass sich die Schwa-Realisierungen dieser Gruppe von Bilingualen grundlegend von denen der beiden monolingualen Kontrollgruppen unterscheiden, und zwar insofern sich die Sprecherinnen dieser Gruppe bezüglich der F2-Werte (Dimension vorne - hinten) der Umgebungssprache Englisch angepasst haben, in Bezug auf F1 jedoch im Vergleich zu allen anderen Gruppen deutlich höhere Werte produzieren. Damit liegen die von ihnen produzierten Schwas gemessen an der Umgebungssprache im Vokaltrapez zu tief. Auch wenn es sich hierbei nicht im Wortsinne um ein ‚Über-das-Ziel-Hinausschießen‘ handelt, wollen wir 158 Christoph Gabriel/ Jonas Grünke/ Eva Duran Eppler diesen Befund als einen Fall von t a r g e t o v e r s h o o t interpretieren, insofern, als der Versuch, die Schwa-Produktion der Zielsprache anzupassen, zumindest teilweise geglückt ist. Dass dies nicht nur im Englischen eintritt, sondern auch die Realisierungen des Schwa-Artikels in der Muttersprache betrifft, lässt sich wiederum als Fall von Spracherosion oder l a n g u a g e a ttriti o n unter dem Einfluss der Umgebungssprache bzw. - neutraler ausgedrückt - als kontaktbedingter Wandel interpretieren. Bei den der Gruppe A zugehörigen Emigranto-Sprechern liegen die Dinge anders: Da ihre F1- und F2-Werte denen der wienerdeutschen Kontrolldaten entsprechen, ist anzunehmen, dass sich ihre Schwa-Realisierung auch im Exil, d. h. als das Wiener Deutsch zur Diasporasprache wurde, nicht geändert hat. Die Charakteristika des wienerdeutschen Schwa wurden von diesen Sprechern auch in ihre L2 Englisch übernommen, was sich als negativer Transfer aus der L1 interpretieren lässt. Gezeigt hat unsere Untersuchung aber vor allem eines: Die Interpretation von Sprachdaten - wie in unserem Fall anhand von phonetischen Messungen - bedarf der Rückkopplung an die Sozialdaten der Sprecher. So lässt sich das unterschiedliche Verhalten der beiden Untergruppen von Emigranto-Sprechern - zumindest für den von uns untersuchten Bereich der Schwa-Realisierung - als Fall von Akkommodation innerhalb eines close-knit network interpretieren. Dies zeigt weiterhin, dass bei aller Ähnlichkeit - hier: gleiche Kombination von Varietäten (Wiener Deutsch und Londoner Englisch), vergleichbarer soziokultureller Hintergrund, gleicher Zeitpunkt der Übersiedlung nach London - die sprachliche Heterogenität innerhalb von Migranten-Communitys groß ist. 5 Ausblick In der eingangs zitierten Passage hat Anders (1964) zwei sprachliche ‚Gefahren‘ benannt, denen Exilanten ausgesetzt sein können: Zum einen die Schwierigkeiten des L2-Erwerbs, verbunden mit der Möglichkeit, zumindest partiell daran zu scheitern, und zum anderen der drohende Verlust der Muttersprache. Auch wenn man den von uns untersuchten Emigranto-Sprechern mit Sicherheit nicht attestieren kann, dass sie - um mit Anders zu sprechen - zu „Stammlern in beiden Sprachen“ (1964: 73) geworden seien, konnten sich doch die angeführten Phänomene anhand der Schwa-Realisierung nachvollziehen lassen. Einerseits liefern unsere Befunde Evidenz für einen nicht vollständig gelungenen Erwerb des Englischen als Zweitsprache - sei es im Sinne von negativem L1-Transfer wie bei Gruppe A oder in Form von target overshoot wie bei Gruppe B; andererseits lassen sich bei den Emigranto-Sprechern der Gruppe B auch Anzeichen von Sprachverlust (language attrition) ausmachen. Zu betonen ist jedoch, dass der von uns untersuchte Bereich nur einen bescheidenen Ein- Zwischen Sprachbewahrung und kontaktbedingtem Wandel 159 blick in die komplexe Interaktion zwischen lautsprachlichen Systemen in der Diasporasituation geben konnte - nicht zuletzt weil die von uns analysierten historischen Daten zum ersten Mal überhaupt einer phonetischen Untersuchung unterzogen wurden. Das neuerlich verstärkte Interesse der Forschung an Spracherosion lässt jedoch darauf hoffen, dass weitere Studien dieser Art folgen und das Bild komplettieren. Literatur Anders, Günther (1964): Lebenserlaubnis. 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Die Zahl der Sprecher wurde allerdings immer kleiner, und mittlerweile kann man diese Inselsprache als beinahe ausgestorben betrachten, denn zu Beginn des Jahres 2019 war nur noch eine einzige Person bekannt, die den Dialekt als Muttersprache beherrscht. Die Nachkommen der ersten Siedler sind längst dazu übergegangen, miteinander und mit der Umgebung in englischer Sprache zu kommunizieren. 1 Zielsetzung Die vorliegende Abhandlung präsentiert anhand von Aufnahmen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Beispiele für das Zusammentreffen des deutschsprachigen Dialekts von Puhoi mit dem Englischen als dominanter Sprache in Neuseeland. Es handelt sich dabei um einen empirischen Beitrag 1 zur Dokumentation einer Minderheitensprache, die sich durch Migration einen Platz in einem fremdsprachigen Umfeld geschaffen hat, deren Gebrauch durch den Kontakt mit der herrschenden Landessprache Veränderungen erfahren hat und die gegenwärtig den Sprachtod erleidet. Einen ähnlichen beobachtenden Ansatz hat beispielsweise Nina Behrend mit einer Beschreibung von Sprachinselvarietäten in Ellis County, Kansas, aus der Sicht der russlanddeutschen Dialekt- und Varietätenforschung verfolgt (vgl. Berend 2003). Im Mittelpunkt des Beitrags wird ein Korpus mit einer authentischen Gesprächssituation stehen, das 1 Zu den Ansätzen und Methoden in der Sprachkontaktforschung vgl. Riehl (2014: 43- 62), Mattheier (2003: 15) und ganz kurz Scherer (2014: 1). 164 Ralf Heimrath sowohl Sprachmischungen (code mixing) als auch Sprachwechsel (code switching) enthält und das exemplarisch für den schrittweisen Übergang der Bewohner von Puhoi aus ihrem nordbairischen Dialekt in die englische Sprache stehen kann. 2 Die Anfänge der deutschböhmischen Siedlung Puhoi in Neuseeland Die gegenwärtige Gesellschaft von Neuseeland setzt sich aus indigenen Maori- Stämmen und überwiegend aus Europa stammenden Einwanderern zusammen. Davon haben etwa 5.000 Immigranten deutsche Wurzeln (Heller 2005: 6, nach Braund 2003: 15). Der Inselstaat ist Mitglied im britischen Commonwealth of Nations, und die Lingua franca ist Englisch. Zu den 1863 vom europäischen Festland Eingewanderten gehörte eine Gruppe von 83 Personen, die alle aus neun eng beieinanderliegenden Dörfern zwischen Mies (tschechisch: Stříbro) und Pilsen (tschechisch: Plzeň) in Westböhmen 2 stammten. Ihr Herkunftsgebiet liegt im Süden des damals deutschsprachigen Egerlands unweit der sprachlichen Kontaktzonen zum Böhmerwald und zum tschechischen Sprachraum. Bezogen auf den Dialekt gehört es zur nordbairischen Sprachlandschaft der bayerischen Oberpfalz zusammen mit der östlich davon angrenzenden Region jenseits der deutsch-tschechischen Grenze (vgl. König 2011: 231; Droescher 1974: 234). Die Auswanderer waren durch den von dorther stammenden österreichischen Offizier Martin Krippner zur Ausreise motiviert worden. Krippner war mit der Tochter eines britischen Diplomaten verheiratet, deren Bruder bereits nach Neuseeland emigriert war. Diese deutschböhmischen Auswanderer gründeten am Fluss Puhoi nördlich von Auckland die gleichnamige Siedlung Puhoi, die mit vier weiteren großen Personengruppen aus ihrer Herkunftsregion erweitert wurde. 1876 lebten bereits 209 Egerländer aus demselben, mittlerweile auf 19 Dörfer ausgeweiteten Ausgangsgebiet (vgl. Karte bei Heller 2005: 2). Die Einwohnerzahl wuchs bis zum Jahr 1913 auf 600. Die Vorgeschichte und der Verlauf der Entwicklung Puhois als deutschböhmische Siedlung in Neuseeland sind in der Literatur ausreichend dargestellt (vgl. Heller 2005: 9-12; Williams 1998; Heimrath 2015a: 13f.; 2015b: 66; Buckton 2013: 102-122) und soll hier nicht in weiteren Details beschrieben werden. Die Neuankömmlinge integrierten sich, leisteten unter dem Befehl Martin Krippners als „the German Company“ Militärdienst und gründe- 2 Gelegentlich wird das Herkunftsgebiet fälschlicherweise als nordböhmisch bezeichnet (z. B. Wildfeuer 2010: 487; Eller-Wildfeuer 2013: 89) und geschrieben, dass die Auswanderer „aus verschiedenen, oft weit auseinanderliegenden Ortschaften“ gekommen seien (Wildfeuer 2017: 8). „I zial äitza twenty four“ 165 ten Tochtersiedlungen in Ohaupo und Te Rore (vgl. Heller 2005: 13-15; Buckton 2013: 102-122). 3 Puhoi als historische Sprachinsel Innerhalb ihrer Siedlung verwendeten die Immigranten lange Zeit ihren nordbairischen Heimatdialekt aus dem südlichen Egerland als allgemeine Umgangssprache. Martin Krippner war ihr Übersetzer bei den Behörden und im Kontakt mit den englischsprachigen Leuten der Umgebung (vgl. Buckton 2013: 118). Heller stellt für die ersten 15 bis 20 Jahre die Kriterien zusammen, die Puhoi als „ethnische Kolonie“ charakterisieren: ein zusammenhängendes Siedlungsgebiet, eine lokale Selbstorganisation mit ökonomischen und sozio-kulturellen Strukturen, ein gemeinsames Herkunftsgebiet, eine gemeinsame Sprache, 3 die sich von der der Umgebung unterschied, und die katholische Religion, mit der sich die Bewohner von Puhoi ebenfalls von der Umgebung unterschieden (Heller 2005: 16-19). Linguistisch kann Puhoi für diese Zeit als echte Sprachinsel bezeichnet werden. Martin Krippner hat bis zu seinem Tod 1884 die Kinder in der Schule auf Deutsch unterrichtet. Ab 1869 gab Krippners Ehefrau Unterricht in Englisch als Fremdsprache, ab 1884 wurden die Kinder nur noch in englischer Sprache ausgebildet. Gleichwohl blieb der Egerländer Dialekt bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts die Muttersprache in den Familien und innerhalb der örtlichen Kommunikation. 4 Am 04.12.2018 ergab sich für den Verfasser die Möglichkeit, sich in Puhoi mit einer 1940 geborenen Einwohnerin zu unterhalten. Der Versuch, von Englisch auf Standarddeutsch zu wechseln, misslang, aber nach dem Einstieg in den Dialekt antwortete die Gesprächspartnerin (GH) in einer Mischung aus Nordbairisch und Englisch. Zur Frage nach dem Dialektgebrauch erzählte sie: For me it would be sixty Gåua 5 - ah, o sorry, just forgot - I kua(n) niat richtig gout Daitsch riadn, but - Mam and Dad all the time, and I would say I would sometimes, but I could understand everything […]. Yeah, all the time, the families talked among them- 3 Die Siedler standen dezidiert nicht „in Kontakt mit anderen Varietäten des Deutschen“, wie Wildfeuer schreibt (2017: 9). 4 Auch wenn die Siedler aus verschiedenen Bauerndörfern kamen und individuelle oder familienbedingte Sprachvarietäten möglich sind, so handelt es sich bei ihrer Sprache nicht um eine Dialektmischung (Wildfeuer 2013: 61), sondern ganz eindeutig um die Mundart des südlichen Egerlands, wie sie bei Gütter (1971) und König (2011: 230f.) beschrieben wird. 5 Gåua ist Egerländisch für Jahre. Die Schreibung å versucht, das dumpfe a der ersten Silbe wiederzugeben. 166 Ralf Heimrath selves. […]. They didn’t call it German, we called that Egerländisch, but they spoke at home that all the time 6 (GH). Ob sich im Zusammenhang mit den Anfängen der Siedlung deutsche Sprachkontakte zur Sprache der benachbarten einheimischen Maori ergeben haben, ist nicht nachweisbar. Immerhin waren es die Ureinwohner mit ihrem Häuptling Te Hemera, die den in ihrer Heimatregion tangata whenua nördlich von Auckland nun ansässigen Bewohnern von Puhoi zu überleben und sich einzurichten halfen. Schon die wenigen Egerländer, die sich auf Krippners erster Reise 1860 nach Neuseeland in Waiwera unweit von Puhoi niedergelassen hatten, waren von Te Hemera großzügig unterstützt worden. Ruth Schmidt zitiert eine Beschreibung der Beziehungen zu den Maori aus dem Jahr 1862: While circumstance forced the settlers to make use of edible recources of the bush such as berries, nikau palm, tree ferns, birds and eels, fruit and vegetable supplies from Te Hemera would have provided a welcome change. Time and again he loaded their trading boat almost to sinking point with peaches, kumaras and melons, gifts which must have relieved the distress of the settlement (Schmidt 1933: 30 [zit. nach Buckton 2013: 110f.]). Und in der Zeitung Auckland Weekly News vom 17. Februar 1872 wird anlässlich der Amtseinführung von William Pomare in der Kirchengemeinde von Puhoi weit ausschweifend von einem großen Fest im neuseeländischen Sommer mit christianisierten Ureinwohnern berichtet: A great native festival was held here on January 30, at the well known residence of the native chief Te Hemera Tauhia, on the Puhoi River. […] I think that there cannot be anyone, whether pakeha 7 or Maori, who will not heartly welcome the advent of William Pomare to his gown in that church the doctrines whereof he has so long and so steadfastily adhered to. […] The Puhoi is the river on which the German settlement in these islands is situated (and which this time shows signs of great prosperity) (zit. nach Buckton 2013: 111-113). Der Korrespondent beschreibt das gemeinsame Mahl mit neuseeländischen Spezialitäten, zu dem Te Hemera eingeladen hatte, und das anschließende Grußwort des Häuptlings in der Sprache der Maori. „Te Hemera’s speech was long, fluent, and eloquent, and seemed to produce a great effect on his hearers“ (zit. nach Buckton 2013: 113). Nach einer entsprechenden Antwort durch William Pomare folgten noch ein oder zwei weitere Grußworte durch Eingeborene. Der Abend mündete schließlich in eine Tanzveranstaltung, die bis tief in die Nacht andauerte (vgl. Buckton 2013: 113). 6 I kua(n) niat richtig gout Daitsch riadn = Ich kann nicht richtig gut Deutsch reden. Das (n) in kua(n) steht für eine leichte Nasalierung des vorhergehenden Vokals. 7 Fremder, Neuseeländer mit europäischer Herkunft, vgl. https: / / maoridictionary.co. nz/ search? idiom=&phrase=&proverb=&loan=&histLoanWords=&keywords=pakeha (22.08.2019). „I zial äitza twenty four“ 167 Obwohl der Berichterstatter betont, dass er „no great Maori linguist“ sei, bezeugen seine Ausführungen eine gute Kenntnis der Maori-Sprache. Leider verliert er kein Wort darüber, ob und wie gut die deutschsprachigen Siedler den Worten der Maori folgen konnten. Der Sprachkontakt zu den Sprachen der Maori ist im ganzen Inselstaat in den Orts- und Gewässernamen nachweisbar. Der Flussname Puhoi beschreibt beispielsweise das langsam fließende Wasser 8 , an dem die Siedlung gleichen Namens gegründet worden ist. Andere Verknüpfungen als die mit topografischen Bezeichnungen sind für die Sprache der deutschböhmischen Siedler nicht bekannt. Für die Zukunft der Einwanderer war es wichtig, sich von Beginn an mit der englischen Sprache auseinanderzusetzen, auch wenn die Dorfbewohner von Puhoi untereinander ihren Dialekt noch lange Zeit mit nachlassender Intensität beibehielten. Es gibt mehrere Gründe, die den allmählichen Niedergang der aus dem Egerland tradierten nordbairischen Mundart und den Übergang zur englischen Sprache erklären (zum Folgenden vgl. Heller 2005: 18-20 und Heimrath 2015a: 18-21): - Die Sprecher standen nicht in regelmäßigem Kontakt zu ihrem Herkunftsland in Westböhmen, und nach 1876 kamen keine weiteren Einwanderer mehr von dorther. - Das Streben nach einer guten Zukunft in Neuseeland verlangte die englische Sprache. - Obwohl die deutschsprachige Enklave bis 1913 auf ca. 600 Bewohner anwuchs, war die Zahl der Sprecher zu klein, um ein Nebeneinander beider Sprachen gewährleisten zu können. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten zahlreiche Familien von Puhoi ab. In der Folge reduzierte sich die Zahl der Bewohner auf 200 im Jahr 1967 und 150 im Jahr 1980. - Dabei ist zu berücksichtigen, dass zu dieser Mobilität in Puhoi auch ein Zuzug von Bewohnern gehört, die nicht der Sprachgemeinschaft angehören und mit denen vom Beginn ihres Zuzugs an auf Englisch kommuniziert werden musste. Die Zahl der Mundartsprecher war 1980 also deutlich kleiner als 150. - Die Umstellung der Unterrichtssprache in der Schule von der Mundart auf das Englische beförderte bei den nachwachsenden Generationen die Nichtverwendung des Dialekts. 8 Puhoi bedeutet langsam, träge (https: / / maoridictionary.co.nz/ search? idiom=&phrase= &proverb=&loan=&histLoanWords=&keywords=Puhoi [11.04.2019]). Buckton bringt in diesem Zusammenhang den neuseeländischen Ausdruck up the Boohai im Sinne von out in the country, way off - perhaps lost ins Gespräch (vgl. Buckton 2013: 9). 168 Ralf Heimrath - Neue technische und zivilisatorische Errungenschaften fanden über die englische Sprache Eingang in die Sprache der Bewohner, z. B. car anstelle von Auto und showern anstelle von duschen. - Die religiöse Gemeinschaft wurde von Anfang an durch englischsprachige Geistliche betreut. - In der Zeit vom Ersten bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg war es im englischsprachigen Umfeld in Neuseeland von Nachteil, als Deutsch sprechende Person wahrgenommen zu werden. Die deutschsprachigen Länder waren der erklärte Feind der englischsprachigen Welt. Es war deshalb besser, die ethnische Herkunft zu verbergen. - Die Verbesserungen in der Verkehrs- und Infrastruktur des Landes erleichterten die Mobilität der Menschen. Die zunehmenden Kontakte nach außen führten zu einem vermehrten Gebrauch der englischen Sprache. - Nicht zuletzt trugen auch familiäre Verbindungen zu englischsprachigen Bewohnern des Landes zum Niedergang des deutschen Dialekts bei. Vor dem Hintergrund dieser für das Überleben der Sprache widrigen Bedingungen kann die Agonie des deutschen Dialekts als gradual death und das Sprachverhalten der Bewohner von Puhoi als language shift bezeichnet werden, als Übergang von einer monolingualen Phase mit deutschem Dialekt in eine bilinguale deutsch-englische und dann (fast) ausschließlich englische Phase, wie von Klaus Mattheier beschrieben (vgl. 2003: 19f.). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man bei Puhoi sicher nicht mehr von einer Sprachinsel sprechen. Heinz Kloss schrieb 1973, dass die in Neuseeland entstandenen deutschen Siedlungen „voll verenglischt“ seien (Kloss: 545), doch das Beispiel Puhoi zeigt das Gegenteil. Der Dialekt blieb dort auch nach 1973 noch lange als Muttersprache erhalten. Es wird berichtet, dass bis in die Generation der um 1930 Geborenen (also der heute theoretisch etwa 90-Jährigen) die Unterhaltungen untereinander auf Deutsch geführt wurden, wobei die Jüngeren dies als besonderes Merkmal betrachteten, das sie selbst nicht hatten (vgl. Heller 2005: 29). Aus dieser Generation gibt es Audio-Aufnahmen aus den 1970er bis 1990er Jahren, auf die hier noch einzugehen sein wird. Dass der Dialekt damals L1 war, bezeugt auch die Erzählung einer Informantin bei einer Befragung im Jahr 2007 über einen Vorfall während ihrer Schulzeit, als der Lehrer sie auf ihr schmutziges Gesicht (englisch face) aufmerksam machte, sie aber zu ihren Füßen (nordbairisch Feiß) hinunterblickte, weil sie das englische Wort face nicht kannte: Yes. Wäi ma dahuam worn, hama Deitsch gredt die ganze Zeit. Wenn i bin started to go to school […] Schoul that’s school, isn’t it? Yeah. Ich hon nit amal […] da teacher, da Lehrer, he […] der hat zu me gsogt: […] „Look at your dirty face.“ And of course Feiß is Deitsch. Und ich ho do oegschaut auf mai Feiß. „Look at your dirty face.“ Ich ho oegschaut auf mai Fäiß. Ich ho net amal gwisst, wos des hoist (OL, zit. nach Eller- Wildfeuer 2017: 401f.). „I zial äitza twenty four“ 169 Ja. Als wir zu Hause waren, haben wir die ganze Zeit Deutsch geredet. Als ich in die Schule kam […] Schoul“ 9 heißt Schule, nicht wahr? Ja. Ich habe nicht einmal […] der Lehrer, er […] hat zu mir gesagt: Look at your dirty face. Und natürlich, Feiß ist Deutsch. Und ich habe zu meinen Füßen hinuntergeschaut. Ich habe nicht einmal gewusst, was das heißt. Während die Gewährsperson als ca. sechsjähriges Mädchen demnach noch nicht Englisch konnte und nur Deitsch sprach, ist ihre Sprachkompetenz für den Dialekt im Jahr 2007 nicht mehr als hoch einzustufen. Das zeigen nicht nur die englischsprachigen Einmischungen. Mittlerweile war ihr beispielsweise das Wort Schöll für Schule bereits fremd. In der Einordnung von Sprechern einer aussterbenden Sprache nach Nancy Dorian ist sie ein semi-speaker: Die linguistische Kompetenz in der Minoritätensprache ist schon deutlich eingeschränkt, die soziokommunikative Kompetenz jedoch noch voll entwickelt, indem extensiver Gebrauch von Entlehnungen gemacht wird (vgl. Dorian 1981: 107-110; Mattheier 2003: 22). Zum Zeitpunkt des geschilderten Ereignisses war ihr Deitsch noch eindeutig ihre Muttersprache. Der englischen Sprache war sie damals noch nicht mächtig. Mit dem Eintritt ins Schulleben veränderte sich ihr Sprachgebrauch zugunsten des Englischen bis zu seiner Verwendung als L1. 4 Sprachwandel im Kontakt mit der englischen Sprache Das genannte Beispiel ist symptomatisch für den Werdegang des Egerländer Dialekts in Puhoi. Er befindet sich mit der Generation der genannten Sprecherin bereits in der Verfallsphase mit Assimilierung an das Englische. Die nächste und letzte Etappe in diesem „Sprachinsel-Lebenslauf“ ist dann der Sprachinseltod. 10 Der Wechsel zu Englisch als allgemeiner Verkehrssprache bringt zwangsläufig Sprachvermischungen (code mixing) wie oben gezeigt mit sich. Die Substratsprache hat auch in Puhoi Entlehnungen aus der Superstratsprache aufgenommen, bevor sie aus dem allgemeinen Gebrauch verschwand. Alfred Wildfeuer ist der Frage nachgegangen, ob aufgrund des Sprachkontakts mit dem Englischen in der Sprache von Puhoi „Vereinfachungen in den morphologischen und syntaktischen Strukturen“ festzustellen sind oder ob sie „ihre mitgebrachte basisdialektale Komplexität im Großen und Ganzen bewah- 9 Richtigerweise würde es Egerländisch Schöll heißen. 10 Klaus J. Mattheier hat ein anschauliches Modell eines Sprachinsel-Lebenslaufs entworfen. Nach der Ausgangskonstellation kommt eine Konstituierungsphase, abgelöst von einer Konsolidierungsphase und einer Stabilitätsphase. Dann kommt es zu einer „soziokulturellen Wandlung“ mit dem Umschlag zur Superstratsprache. Dieser als Assimilationsphase bezeichnete Abschnitt zieht den Sprachinselverfall nach sich und mündet in den Sprachinseltod (vgl. Mattheier 2003: 27-30). 170 Ralf Heimrath ren“ konnte (Wildfeuer 2016: 62). Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass „in den Bereichen der Morphologie als auch der Syntax“ die Varietät „als stabil zu bewerten“ ist (Wildfeuer 2016: 75), d. h. dass sie sich im Vergleich zum Herkunftsgebiet kaum geändert hat. 11 Dagegen lassen sich im Bereich der Lexik mehrere Einflüsse feststellen. Beispiele dazu sind schon in den bereits aufgeführten Zitaten deutlich geworden. Im Folgenden seien einige weitere vorgestellt: Da sind zunächst die Grußformen Wäi gäiht’s? (Wie geht es? ) und Gäiht’s gout? (Geht es gut? ) (Heimrath 2015a: 15 und 2015b: 67 aus den Audio- Aufzeichnungen von Gerard Straka), die lange Zeit als „tradierte böhmische Dialektformen“ (Eller-Wildfeuer 2013: 90) gesehen wurden. Die Egerländer verwenden jedoch solche Grußformen nicht. Vielmehr handelt es sich hier um Formulierungen nach dem Vorbild der englischen Phrasen How are you? und Are you okay? als Übernahmen in den Sprachgebrauch. Eingedeutscht ist auch schlecht in der Bezeichnung bad cough - schlechter Husten (Heimrath 2015a: 15). Auf Egerländisch wäre es wie im Standarddeutschen ein schlimmer, böser oder arger Husten. Ebenso verhält es sich mit Zähne waschen für Zähne putzen (Heimrath 2015a: 16). Es sind noch eine Reihe weiterer Transferbildungen bekannt (vgl. Wildfeuer 2013: 71-73). 12 Wie diese Sprachmischungen in der Sprachpraxis aussahen, zeigt ein kleines Korpus in Form eines Gesprächsmitschnitts aus der bereits genannten Sammlung von Aufnahmen aus den 1970er bis 1990er Jahren an einem Weihnachtstag „in the late 1970“ 13 . Der 1907 geborene BS spielt während dieser Aufnahme mit dem 1899 geborenen JW das aus England stammende Kartenspiel Cribbage. Mit am Tisch sitzen die Ehefrauen MW und IS. Später kommt ES dazu, der mit den Anwesenden verwandt ist. Manchmal ist das Gesprochene von anderen Geräuschen überdeckt oder wurde vom Mikrofon nicht richtig erfasst und ist deshalb stellenweise nicht verständlich. Die englischsprachigen Passagen werden in der vorliegenden Ver- 11 Andererseits schreibt er 2017 über die von ihm untersuchten deutschböhmischen Siedlungen in den USA und in Neuseeland, dass sie „sprachlich im Vergleich zum Herkunftsland oft […] weniger konservativ erscheinen“ (Wildfeuer 2017: 8). 12 Nicht dazu gehört allerdings das dort aufgeführte Wort [ ʃ woatsbi ɐ l ɐ ] in der angeblichen Bedeutung Schwarzbeeren = Brombeeren (Wildfeuer 2013: 72); [ ʃ woatsbi ɐ l ɐ ] oder [ ʃ woats ɐ bi ɐ l ɐ ] (www.puhoidialect.net.nz/ egerlander-words.html [03.04.2019]) ist diminutiv Schwarzbeerlein oder schwarze Beerlein und steht im Egerländer Dialekt für Heidelbeeren (Braun 2004: 2,577). Der ['go: dfo: d ɐ ] Gottvater (Wildfeuer 2013: 73) ist eine bairisch-englische Mischung: God oder Gott ist im Bairischen der Tauf- oder Firmpate (vgl. Zehetner 2018: 154; Schmeller 1985, I,2: 962). Schmeller vermerkt als englische Entsprechung god-father (1985, I,2: 962). 13 Die Audio-Datei mit dem Vermerk der Aufnahmezeit wurde dem Verfasser 2017 vom Aufzeichner Gerard Straka zugesandt. „I zial äitza twenty four“ 171 schriftlichung durch Fettdruck hervorgehoben. Da es in diesem Beitrag nicht um phonetische oder phonologische Fragestellungen geht, wird auf die Wiedergabe mit dem internationalen phonetischen Alphabet IPA verzichtet. Auf die Aussprache wird aber durch die Zeichen Å oder å für das dumpfe, dem O angenäherte A Rücksicht genommen. Ein (n) steht dann, wenn der Vokal oder Diphthong davor leicht (nicht so stark wie im Französischen oder Spanischen) nasaliert wird, und ein Doppelpunkt hinter einem Vokal markiert wie im IPA die Länge des Vokals. Zeile Gesprochene Sprache Standarddeutsche Wiedergabe 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 BS: Vreckat Katn! JW: I wenn kannt ålla håltn, häit i wos. BS: Åffa häit i fimf Katn - seks Katn MW: Bschaissn! BS: Nou, Manna bschaissn ma niat. BS: No dea Pfail sågt: - JW: Ma(n) Ki: dl häit a hålt solln sa: (n). BS: Jå: knallt eine Karte auf den Tisch döi olda Waiwa, däi kemma a: vakaffn. JW: Däi a: . BS: So olwat, ha, ha, ha. JW: Äh - zwoarazwånzich. BW: Ho, ha, wås wird’n de: s? BS: klopft eine Karte auf den Tisch Seksazwånzich. JW: Dra: isich with kl. Pause zwoa - BS: Gäih! Sän uinadra: sg JW: zwoi - mäiara - JW: dra: , häiar a: f. BS: Ba dea: ra is gout murmelt unverständlich. JW: Åchta how e. BS: Ho: st da duat - JW: Duatn, håst - BS: Dau san se. Leise zählend: Zwoa - JW: dazwischen, leise Åchta, dats glånga? BS: Väiara - JW: Åchta - BS: Seksa. Geräusch: Karten zusammenlegen, BS: Verreckte Karten! JW: Ich wenn alle halten könnte, hätte ich etwas. BS: Dann hätte ich fünf Karten - sechs Karten. MW: Bescheißen! BS: No (nein), Männer bescheißen wir nicht. ES: Nun, der Pfeil sagt: - JW: Mein Kittel hätte er halt sein sollen. BS: Ja: knallt eine Karte auf den Tisch die alten Weiber, die können wir auch verkaufen. JW: Die auch. BS: So albern/ dumm, ha, ha, ha. JW: Äh - zweiundzwanzig. BW: Ho, ha, was wird denn das? BS: klopft eine Karte auf den Tisch Sechsundzwanzig. JW: Dreißig with kl. Pause zwei - BS: Geh! (Das) sind einunddreißig, JW: zwei - mehr - JW: drei, höre auf. BS: Bei dieser da ist es gut murmelt unverständlich. JW: Acht habe ich. BS: Hast du dort - JW: Dort, hast (du) - BS: Da sind sie. Leise zählend: Zwei - JW: dazwischen, leise Acht, würde es reichen? BS: Vier - JW: Acht - BS: Sechs. Geräusch: Karten zusammenlegen, 172 Ralf Heimrath Zeile Gesprochene Sprache Standarddeutsche Wiedergabe 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 Karten auf der Oberfläche des Tisches stoßen. BS: Dou se niat dazou. ES: Gan fräia z Nåcht ålla? BW lachend: Åhå … unverständlich Geräusch: Karten mischen, währenddessen: BS: Nå: (n), d ’ Ka: slinga håmma öitz scho lång unverständlich. MW: I suppose before long they’ll have house built - wird unterbrochen. JW: Ou: wa: l äitzta hai(n)t a setta scheina Do: ch - They’ll hang off a bit. Geräusch mit Karten BS: No. JW: Dao: - wird unterbrochen BS: Hast´n noch daham n Kohokistn 14 a boa zea dao? JW mit den Karten beschäftigt: Dåo san scho a båa nu: ch, niat sua vüll. JW Karten zählend: Vöia, seks. Geräusch mit Karten BS tief seufzend: Hööeeaaa. Well, däi Kattn san narrisch. JW: Kemma mit fimf spüln? BW lacht. BS: Well, schau hea. BW lacht. BS: Dumm wäi ̒n Schåof! MW lacht. BS: Wos dout oina? BW: Well, you can’t have luck all the time, can you? BS: Wos dou i? BW: Öitz - JW: Hm, hm, hm - ghupft wäi gschprunga. BS: Da: ifl, un koina haod’s gseng. JW dazwischenrufend: No: håst ̒n a dao - Karten auf der Oberfläche des Tisches stoßen. BS: Tu sie [die abgelegten Karten, R. H.] nicht dazu. ES: Gehen (sie) alle früher zur Nacht? BW: lachend: Oho … unverständlich Geräusch: Karten mischen, währenddessen: BS: Nein, die Kaslinger haben wir jetzt schon lange unverständlich. MW: I suppose before long they’ll have house built - wird unterbrochen. JW: Oh, weil jetzt heute ein solch schöner Tag - They’ll hang off a bit. Geräusch mit Karten BS: Nun. JW: Da - wird unterbrochen BS: Hast du denn daheim noch einige zehn Kuchenkisten da? JW mit den Karten beschäftigt: Da sind schon noch ein paar, nicht so viele. JW Karten zählend: Vier, sechs. Geräusch mit Karten BS tief seufzend: Hööeeaaa. Well, die(se) Karten sind närrisch. JW: Können wir mit fünf spielen? BW lacht. BS: Well, schau her. BW lacht. BS: Dumm wie ein Schaf! MW lacht. BS: Was macht man? BW: Well, you can’t have luck all the time, can you? BS: Was tue ich? BW: Jetzt - JW: Hm, hm, hm - gehüpft wie gesprungen. BS: Teufel, und keiner hat es gesehen. JW dazwischenrufend: Nun, hast du denn auch da - 14 Koho (nordbairisch koucha) ist eine in der Käsefabrik von Puhoi hergestellte Käse- Quark-Torte, vgl. Mooney (1980: 39). „I zial äitza twenty four“ 173 Zeile Gesprochene Sprache Standarddeutsche Wiedergabe 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 BS laut: Und ho: en wida kräigt, ha, ha. BW lacht. BS nach einer kurzen Pause: Åchta. JW: Hå, sechzeahna BS: He(n), he(n), he(n). bring äitza sixteen for two at six - for six. JW: I zial äitza twenty four. BS: Zwischenruf unverständlich JW: Twenty nine. BS: I bet you haven’t got the other bugger - Go! I got him. Look another eight here. BW: You haven’t? BS: Yes, I have. BW: Sorry? JW: It is - sixteen - BS: Zwoarazwånzich. JW: Mh, näiks bessas. BS: Schao hea, ond ho e mäin an Väiara asse dou(n) und look - fai(n) - kat o: vatri: a und kinnt widar a vöia ra: s. Fifteen - two - for - six, a Dutzat. JW: Two, four, zeah, näix. BS: I ho da da Fi(n)fa. Geräusch des Kartenzusammenlegens BS: Sou is des. Tschu: ch 15 , hä? JW: Fifteen two, fifteen four, fifteen six - and a pair is eight. BS unterbricht: Ja: mei(n) Väia - JW: Måcht ållawail Two JW zählt still: Eight, twenty fife six to eight. BS zählt still: Fife nine, I’ll never catch it. BS: Jå: am End san däi dortn wou untn vagriffn wos is? JW: Hä? Geräusch mit Karten BS laut: Und habe ich ihn wiederbekommen, ha, ha. BW lacht. BS nach einer kurzen Pause: Acht. JW: Ho, sechzehn. BS: He, he, he, (ich) bringe jetzt sixteen for two at six - for six. JW: Ich zähle jetzt twenty four. BS: Zwischenruf unverständlich JW: Twenty nine. BS: I bet you haven’t got the other bugger - Go! I got him. Look another eight here. BW: You haven’t? BS: Yes, I have. BW: Sorry? JW: It is - sixteen - BS: Zweiundzwanzig. JW: Mh, nichts Besseres. BS: Schau her, und habe ich einen Vierer heraustun müssen und look - fein, (die) Karte abvertrieben (abgelegt, ausgesondert) und kommt wieder eine Vier heraus. Fifteentwo - four - six, ein Dutzend. JW: Two, four, zehn, nichts. BS: Ich habe dir den Fünfer. Geräusch des Kartenzusammenlegens BS: So ist das. Schwein, nicht wahr? JW: Fifteen two, fifteen four, fifteen six - and a pair is eight. BS unterbricht: Ja: meine Vier - JW: Macht immer Two. JW zählt still: Eight, twenty fife six to eight. BS zählt still: Fife nine, I’ll never catch it. BS: Ja, vielleicht sind die dort, wo unten etwas vergriffen ist? JW: Wie bitte? Geräusch mit Karten 15 Egerländisch Tschuucherl ist ein Schweinchen (Braun 2004, Bd. 2: 685). Hier liegt offenbar die nicht diminutive Form des Nomens vor. 174 Ralf Heimrath Zeile Gesprochene Sprache Standarddeutsche Wiedergabe 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162 JW zu sich selbst: Yeah. BS: No däi woa äitza - däi mäin - kumm åffå oe -mit ’n - ES: Fifteen two, sixteen two. BW gähnt laut. BS unverständlich. BW: Bin schlaofrich jå doch. Zwei Männerstimmen: Jå, jå, äitza woat. BS: Mia sän äitza bå: l fertich, JW: Yeah, ich kennt a oadntlich schlaofn. BS: I: ch a: . Geräusch von Karten BS: Da: ifl nu må: l, is jå noch a Two dao. Geräusch von Karten JW überlegend: Jå. BS: Four JW: Ha, ha, BS: Väiara und väiara san åchta, JW: Ha, ha, ha, BW: unverständlich im Hintergrund JW: und väiara san seksa. BS, während BW im Hintergrund ständig redet: Daifl. JW: Twenty one und eight is twenty nine. BS: Thirty, thirty one. JW: Uinadra: isich, not quite - Geräusch von Karten - BS: unverständlich. JW: leise, unverständlich. BS: Is de: s a gouda Katn! - Fifteen two, fifteen four, fifteen six, sixteen two are eight. BW im Hintergrund: Do you know any of these German sayings? JW: Zwoaranainzich. BS: A Dutzat ho e. JW: Seksa ho e. BS: Du, du håst an olda Kåtz. JW: Zwoa. Geräusch von Karten JW: Sin ållas fimf. JW zu sich selbst: Yeah. BS: Nun, die war jetzt - die müssen - komm dann herunter - mit dem - ES: Fifteen two, sixteen two. BW gähnt laut. BS unverständlich. BW: (Ich) bin ja doch müde. Zwei Männerstimmen: Ja, ja, jetzt warte. BS: Wir sind jetzt bald fertig. JW: Yeah, ich könnte auch ordentlich schlafen. BS: Ich auch. Geräusch von Karten BS: Teufel noch mal, ist ja noch eine Two da. Geräusch von Karten JW überlegend: Ja. BS: Four JW: Ha, ha, BS: Vier und vier sind acht, JW: Ha, ha, ha, BW: unverständlich im Hintergrund JW: und vier sind sechs. BS, während BW im Hintergrund ständig redet: Teufel. JW: Twenty one und eight ist twenty nine. BS: Thirty, thirty one. JW: Einunddreißig, not quite - Geräusch von Karten BS: unverständlich. JW: leise, unverständlich. BS: Ist das eine gute Karte! - Fifteen two, fifteen four, fifteen six, sixteen two are eight. BW im Hintergrund: Do you know any of these German sayings? JW: Zweiundneunzig. BS: Ein Dutzend habe ich. JW: Sechs habe ich. BS: Du, du hast eine alte Katze. JW: Zwei. Geräusch von Karten JW: Es sind alles fünf. „I zial äitza twenty four“ 175 Zeile Gesprochene Sprache Standarddeutsche Wiedergabe 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 BS: Kinnt koina nao? BS: Na: - setta schäina Do: ch, unverständlich Geräusch von Karten BS: Jå, wenn da z’ Nåcht unverständlich, wenns asse gäiht, wennst d’ Dierla a: fmåchst, d’ Moidla däi kenna s a: f d’ Puppn 16 niat a: f - JW: Gäih. Geräusch von Karten BS: Blos da Jimmy und da Jackie - Geräusch von Karten - unverständlich. Geräusch von Karten. JW: Mh, mh, väiara, fimfa, seksa. Geräusch von Karten BS: Däi Katn san vahekslt. JW seufzt: Daifl nuch a mål. Hundegebell. BS: Kommt keine nach? BS: Nein - solch ein schöner Tag, unverständlich Geräusch von Karten BS: Ja, wenn dir zu Nacht unverständlich, wenn es hinausgeht, wenn du die Türlein aufmachst, die Mädchen können es auf die Puppen nicht auf - JW: Geh. Geräusch von Karten BS: Nur der Jimmy und der Jackie - Geräusch von Karten - unverständlich. Geräusch von Karten. JW: Mh, mh, vier, fünf, sechs. Geräusch von Karten BS: Die Karten sind verhext. JW seufzt: Teufel noch einmal. Hundegebell. Nach dem Hundegebell betreten andere Personen den Raum und die Leute sprechen durcheinander. Die weitere Unterhaltung wird ausschließlich auf Englisch geführt. Aus dem Durcheinander ist herauszuhören: MW: Do you remember, Ben, when they used to say the rosary going back to the cemetry? BS: Oh, yes, never missed him and do you know, who was the last one, they carried back? Mehrere Stimmen durcheinander … BS: Good day, Ed […] Mehrere Stimmen durcheinander. - How are you? - ES: Merry Christmas to you all. Stimmengewirr … ES: All my relations here. Who was sitting there now? Stimmengewirr. BS: Haven’t you had your porriage yet? 16 Biis in d ’ Puppm = sehr weit, sehr lang (Braun 2004, Bd. 1: 476); aus Berlin zur Zeit Friedrichs II. (18. Jh.) stammende Redensart (Grimm/ Grimm, DWB Bd. 13, 2244. http: / / woerterbuchnetz.de/ cgi-bin/ WBNetz/ wbgui_py? sigle=DWB [22.08.2019]). 176 Ralf Heimrath ES: No. - BS: Oh well. BW: unverständlich ES: We are caused to interrupt you […] BS: Oh, no. We have had it. ES: Who won? BS: I won. And Jack won. You wouldn’t believe it? Yeah, yeah, two all. Stimmengewirr … ES: That’s great […] (unverständlich) How is everybody? Nicht identifizierte Stimme: Not bad. ES: Marvellous bit rain before Christmas. That was the best Christmas present we could ever […]. BS: Good for the garden too. Ausblenden der Aufnahme. Dieses Korpus lässt einige für den Sprachkontakt wichtige Beobachtungen zu. 17 Die Person ES spricht nicht Deitsch. Dagegen beweisen die Kartenspieler BS und JW eine hohe Sprachkompetenz. Für sie ist der nordbairische Dialekt L1. Beispielsweise entspricht die Syntax in Z. 10 Ma(n) Ki: dl häit a hålt solln sa: (n) der gängigen dialektalen Praxis im nordostbayerischen Grenzgebiet zu Böhmen. Das Kartenspiel wird überwiegend auf Deitsch kommentiert, vermischt mit den Partikeln yeah, oh und well, was nach Riehl in allen Sprachkontaktsituationen schon in einem frühen Stadium des Kontakts stattfindet (vgl. Riehl 2014: 99). Zu den frühen Übernahmen gehört vermutlich auch die Phrase Well, you can’t have luck all the time, can you? (Z. 68f.) Einmal wird spontan die englische Präposition with ins Deutsche eingemischt (Z. 20). Das Zählen der erreichten Punkte erfolgt anfangs in der Mundart mit dialektkonformen Variationen zur Zahl Zwei (zwoa Z. 20, 29 und 160 und zwoi Z. 22) und wechselt später ins Englische. Die Numerale haben in diesem Kartenspiel eine bewertende Funktion. Als die Rede auf nicht im Raum anwesende Personen (Kaslinga) kommt, wechselt das Gespräch zwischen Deitsch und Englisch (Z. 46-51). Bezüglich der anwesenden Ehefrauen versteht MW Deitsch, antwortet aber auf Englisch (Z. 46f.). Sie ist passiv bilingual und würde von Cambell und Muntzel als „rememberer“ bezeichnet werden (Cambell/ Muntzel 1989, zit. nach Mattheier 2003: 22). IS be- 17 Bezüglich der Auswertung wird betont, dass das Korpus zu klein und zu wenig repräsentativ ist, um allgemeingültige Aussagen treffen zu können. Dennoch ist es eine gute Quelle, denn das darin wiedergegebene Gespräch ist authentisch, spontan und nicht von einer fremden Person aufgenommen. Zu diesem Aspekt vgl. Riehl (2014: 52). „I zial äitza twenty four“ 177 teiligt sich nicht an dem Gespräch. Vielleicht ist an sie die Frage Do you know any of these German sayings? (Z. 154f.) gerichtet. Mit dem Eintreten anderer Personen am Ende des Kartenspiels wechselt die Unterhaltung vollständig ins Englische. Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass code mixing und code switching hauptsächlich im Bereich der Partikeln, Numerale und einzelner Phrasen sowie bei der reellen und gedanklichen Einbeziehung anderer Personen zu erkennen sind. 18 5 Das Ende des nordbairischen Dialekts in Puhoi Das Gespräch ist ein anschauliches Dokument für die Phase der Sprachmischung zwischen dem Nordbairischen und dem Englischen mit einem weitaus überwiegenden Anteil des Deitschen als L1. Es ist zu erwarten, dass die Auswertungen weiterer Korpora aus verschiedenen Zeiträumen ein genaueres Bild für den zeitlichen Ablauf des Sprachwechsels ergeben. Für eine objektive Beurteilung wirkt sich nachteilig aus, dass es nur von sehr wenigen Sprechern solche Dokumente gibt. Nach der Jahrtausendwende ist insgesamt noch eine kleine und biologisch bedingt immer kleiner werdende Zahl von Sprechern festzustellen. Als 2007 die oben zitierte Erzählung mit der Verwechslung von face und Feiß aufgezeichnet wurde, gab es angeblich noch fünf aktive Sprecherinnen und Sprecher, der jüngste 80 und der älteste 95 Jahre alt (vgl. Lehner 2008; Wildfeuer 2010: 488). 2013 wurde bei der Feier zum 150jährigen Jubiläum der Ortsgründung die Zahl von angeblich vier Sprechern genannt, die von den aus Deutschland und Österreich angereisten Festbesuchern jedoch nicht angetroffen wurden (vgl. Heimrath 2015a: 22). Dem Verfasser dieser Zeilen ist es gelungen, im Dezember 2018 ein etwa einstündiges Gespräch mit dem vermutlich letzten Sprecher in seiner angestammten Mundart zu führen. Er wohnt mittlerweile nicht mehr in Puhoi, sondern bei seiner Tochter in Orewa. Damit ist der nordbairische Dialekt als lebende Sprache in Puhoi nicht mehr vorhanden. Der letzte Sprecher ist vom Ort weggezogen. Als konservierte Sprache ist das nordbairische Deitsch von Puhoi mit seinen englischsprachigen Einmischungen jedoch erhalten. Schriftliche und digitale Audio-Aufnahmen aus vergangenen Zeiten werden als Substrate und kulturelles Erbe in der örtlichen Historical Society aufbewahrt und sind auch im Internet zugänglich. 19 Es handelt sich dabei um einige Dutzend kleinerer Korpora, deren Auswertung in 18 Partikeln und Phrasen finden sich allgemein in allen Sprachkontaktsituationen, und zwar schon in einem recht frühen Stadium des Kontaktes (vgl. Riehl 2014: 99). 19 http: / / www.puhoidialect.net.nz/ more-egerlander-phrases.html (23.01.2013). Weitere Adressen s. Heimrath (2015a: 25f.). 178 Ralf Heimrath weiteren Arbeiten vorgesehen ist. Sie sind neben den tradierten Familiennamen „quasi archäologische Reste“ (so Mattheier 2003: 29) der nordbairischen Sprachinsel in Puhoi. Literatur Bade, James N. (Hrsg.) (1998): Eine Welt für sich. Deutschsprachige Siedler und Reisende in Neuseeland im neunzehnten Jahrhundert. Bremen [Englischsprachige Version: Bade, James N. (Hrsg). (1993): The German Connection - New Zealand and German- Speaking Europe in the Nineteenth Century. Auckland.] Berend, Nina (2003): Zur Vergleichbarkeit von Sprachkontakten: Erfahrungen aus wolgadeutschen Sprachinseln in den USA und Russland. In: Keel, William D./ Matteier, Klaus (Hrsg.): German Language Varieties Worldwide: Internal and external Perspectives. Deutsche Sprachinseln weltweit: Interne und externe Perspektiven. Frankfurt a. M. u. a. S. 239-268. Braun, Hermann (2004): Nordbairisches Wörterbuch des Sechsämter-, Stift- und Egerlandes. 2 Bde. Gießen. Braund, James (2003): The Involvement of German Settlers in the New Zealand Wars. 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Andererseits können die Sprecher(innen) je nach Sprachrepertoire die jeweiligen Sprachvarietäten unterschiedlich perzipieren. In diesem Zusammenhang werden die folgenden Forschungsfragen angegangen: 1) Was wird als Sprachnorm konzipiert und wie positionieren sich Sprecher(innen) gegenüber dem Konzept? 2) Welche Rolle spielen Kontaktsituationen für die Perzeption des Hochdeutschen? Die Grundlage der vorliegenden Methode beruht auf der pluridimensionalen Dialektologie sowie auf der perzeptiven Dialektologie. Die auszuwertenden Daten stammen aus 2017/ 2018 durchgeführten Interviews und werden phonetisch und lexikalisch anhand von drei Variablen ausgeführt, nämlich Samstag, Pferd und Mais. Die ersten Analysen weisen darauf hin, dass das Konzept der Sprachnorm über die sprachkodifizierte Norm hinausgeht und dynamisch im Laufe der Einwanderung geprägt wird. Die Bewertungen der Sprecher(innen) zeigen vielfältige Normorientierungen, die mit der Sprachbiografie der Gewährspersonen sowie mit der Sprachkontaktsituation zusammenhängen. 1 Einleitung 1 Der südbrasilianische Raum erfährt seit der deutschen Einwanderung ab 1824 eine dynamische Entwicklung seiner Mehrsprachigkeit. Neben den Varietäten des Deutschen, die auf unterschiedliche Herkünfte im deutschsprachigen Raum zurückgehen, werden die Sprachrepertoires der meisten Sprecher(innen) allmählich durch das Portugiesische erweitert. Die innere und äußere Mehrsprachigkeit ist insofern nach beinahe 200 Jahren der Einwanderung je nach Situation 1 Ich danke Bettina Lindner (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt), Olha Dutka (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Sebastian Kürschner (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt) für Kommentare und die Durchsicht des Artikels. 182 Lucas Löff Machado ein Alltagsphänomen für viele der deutschen Nachfahren (vgl. Auer u. a. 2007). In diesem mehrsprachigen Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Konzept der Sprachnorm, worauf Sprecher(innen) zurückgreifen, wenn die Rede vom Hochdeutschen ist. Wie positionieren sie sich demgegenüber? Weiterhin lässt sich fragen, welche Rolle Kontaktsituationen zwischen den verschiedenen Sprachgruppen für die Perzeption des Hochdeutschen spielen. Den Forschungsfragen liegen historische und sprachliche Faktoren zugrunde. Wie im nächsten Kapitel diskutiert wird, ist die Norm nicht nur im Rahmen der klassischen Kodifizierungsformen zu verstehen. Orientierungspunkt für die Sprachnorm können Kontaktphänomene sein. Ansiedlungen mit einem mitteldeutschen und niederdeutschen Hintergrund weisen sprachliche Kontakte auf, die auch die Konzipierung der Norm beeinflussen können. Weiterhin spielen individuelle sprachliche Lebensläufe eine Rolle für den Normhorizont der Sprecher(innen). Schriftsprachliche Kompetenz hängt beispielsweise von Familientraditionen ab, aber auch von sozialen Kategorien wie der Religionszugehörigkeit. Familie und Kirche lassen sich als Räume verstehen, in denen während der ersten und zweiten Sozialisation Normen ausgehandelt und praktiziert werden. Diese Faktoren legen eine erweiterte Definition der Sprachnorm in Südbrasilien nahe, die sich von der bundesdeutschen Definition von Standardsprache unterscheidet und auf eine allgemeinere Auffassung der Sprachnorm verweist. Zunächst werden im Folgenden die historischen und theoretischen Rahmen der Forschung abgesteckt, daran anschließend wird auf das Untersuchungsdesign eingegangen. Die vorliegende Studie erfolgt exemplarisch und analysiert die Perzeption von deutschsprachigen Gewährspersonen in Beurteilungssituationen aus synchroner Perspektive. Ziel ist jedoch nicht die detaillierte Quantifizierung der Sprachkompetenz im Hochdeutschen, sondern ein Einblick ins Sprachrepertoire der Gewährspersonen. Das Sprachrepertoire und die metasprachlichen Überlegungen der Sprecher(innen) werden in der Analyse aufgegriffen. Die Überlegungen münden am Ende in ein Fazit. 2 Einwanderung nach Südbrasilien In Rio Grande do Sul haben sich die ersten Einwanderer zunächst in den ‚Alten Kolonien‘ angesiedelt (vgl. Roche 1969) und die letzten weiter südlich in der Umgebung von Pelotas. Dazu kamen bis zum 19. Jahrhundert weitere Gruppen wie beispielsweise Westfalen und Böhmer. Ab 1890 werden die Neuen Kolonien im Nordwesten von Rio Grande do Sul gegründet. Dorthin sind Nachfahren der ersten Kolonien sowie direkte Migranten wie beispielsweise Deutsch-Russen zugewandert. Später wird auch eine mennonitische Kolonie im südlichsten Gebiet an der Grenze zu Uruguay gegründet. „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 183 Zwischen 1824 und 1864 liegt noch keine beziehungsweise kaum eine Institutionalisierung des Deutschen vor. Innerhalb der Gemeinschaften übernehmen die Einwohner(innen) selbst die Rolle des Pfarrers oder des Lehrers (vgl. Dreher 1978). Ab 1864 breiten sich öffentliche Kanäle wie Zeitung (vgl. Gertz 2004) und öffentliche Räume wie die Schule (vgl. Kreutz 2000) aus, in denen die schriftsprachliche Kompetenz im Deutschen vermittelt wird. Sowohl Kirche als auch Schule fungieren als steuernde Institutionen der Weitergabe des Hochdeutschen. In diesen Institutionen wird metasprachliches Wissen explizit durch Normautoritäten wie den Pfarrer oder die Lehrer(innen) sowie den Gesang verarbeitet. Währenddessen war allerdings das Senden von privaten Briefen innerhalb oder außerhalb Brasiliens nicht selten (vgl. Thun 2013; Steffen 2016). Insofern war die standardnahe Anwendung der Schriftlichkeit sowohl durch Distanzsprache (Schule, Zeitung) als auch Nähesprache (Brief) vertreten. Diese Zeit weist zudem den größten Zustrom von Einwanderern nach Brasilien auf, und es bildete sich eine vielschichtige Bevölkerung heraus, deren Spektrum sowohl Handwerker und Landwirte umfasst als auch intellektuelle Eliten im urbanen Raum (vgl. Dreher 1978: 59). Mit dem nationalistischen Regime Brasiliens zwischen 1937 und 1945 wurde in Südbrasilien eine Reihe von gesetzlichen Maßnahmen erlassen, deren Ziel eine kulturelle und sprachliche Durchsetzung des Portugiesischen im ganzen Land war. Diese Zeit wird als Zäsur im sprachlichen Leben der deutschsprachigen Gemeinschaften betrachtet. Die Ortsvarietäten waren zwar im familiären Bereich von den politischen Maßnahmen ausgespart, die institutionelle Funktion jedoch praktisch komplett auf das Portugiesische umgestellt. Das Deutsche beschränkt sich somit vor allem auf die familiäre Domäne. Trotz dieser kommunikativen Verschiebung in vielen Domänen bleibt die Präsenz der Sprachnorm des Deutschen ein mehrdimensionales Problem (vgl. Altenhofen 2016: 111ff.). Im Laufe dieser Prozesse ändern und entwickeln sich unterschiedliche Konzepte der Sprachnorm, die im Folgenden zu diskutieren sind. 3 Die Stellung der Sprachnorm während der Einwanderung In der Sprachgeschichte des Deutschen in Brasilien wird meistens der Basisdialekt, beziehungsweise das Ergebnis der Sprachmischungen mit dem Portugiesischen, fokussiert. Das Konzept der Sprachnorm wird zunächst mit dem Ideal der variationsfreien Nationalsprache verknüpft. Dem Hochdeutschen werden die für die Ortschaften jeweils charakteristischen Intonationsänderungen gegenübergestellt (vgl. Fausel 1959: 10). Gleichzeitig wird zunehmend dem Portugiesischen die Rolle der Bildungssprache zugeschrieben. Die früher ziemlich autarke Struktur dieser Gemeinschaften wird aufgeschlossener und ermöglicht den Erwerb des Portugiesischen bei praktisch jedem deutschsprachigen Sprecher (Auer u. a. 2007). Die Sprecher(innen) lassen negative Einstellungen erkennen, die die 184 Lucas Löff Machado Standardsprachen des Deutschen und des Portugiesischen häufig als richtiger betrachten als die eigene Ortsvarietät (vgl. Pupp Spinassé 2016: 87). Über die standardsprachlichen Formen hinaus weisen Sprachvarietäten innerhalb des Deutschen unterschiedliche Normkräfte auf. Das bereits im 19. Jahrhundert im Herkunftsland schriftorientierte landschaftliche Hochdeutsche (vgl. Ganswindt 2017: 22) setzt sich in Brasilien fort (vgl. Altenhofen 2016) 2 . Die Bewertung einer sprachlichen Form als normkonform im deutschsprachigen Südbrasilien fällt insofern nicht unbedingt mit der kodifizierten Standardsprache zusammen, sondern auch mit - der subjektiven Einstellung „wie gut kann ich Deutsch oder Portugiesisch? “ (vgl. Schmidlin 2017: 51); - dem Ansehen gewisser Varietäten, die als prestigeträchtig von anderen Sprecher(inne)n betrachtet werden. Das Hunsrückische selbst wird von den Sprecher(inne)n Deutsch oder Deitsch - je nach Sprachkompetenz - benannt. Dem Hunsrückischen des Typus Deutsch wird eine vorrangige Position vor anderen Gruppen zugewiesen (vgl. Altenhofen 2016: 115; Díaz 2004); - sozialen Faktoren wie dem Vorbildcharakter der jeweiligen Gruppen, der geografischen Lage und der Religionszugehörigkeit (katholisch vs. evangelisch). 3 Als potenzielle Sprachnorm ist daher das gesamte Variationsspektrum des Deutschen und des Portugiesischen zu betrachten. Je nach Sprachrepertoire können die Sprecher(innen) auf eine überregionale (z. B.: Bundesdeutsch), regionale (z. B.: Hunsrückisch, vor allem Typus Deutsch) sowie lokale Varietät (z. B.: Ortsvarietät) des Deutschen oder des Portugiesischen zurückgreifen. 4 Ortspunktnetz und Mehrsprachigkeit Deutschsprachige Gemeinschaften in Südbrasilien weisen eine deutliche innere Mehrsprachigkeit auf (vgl. Altenhofen 2013). Die heutigen Ortsvarietäten basieren meistens auf den mitgebrachten Sprachrepertoires und siedelten je nach geografischer Lage neben anderen Sprachvarietäten des Deutschen sowie neben 2 Unter „Hochdeutsch“ versteht Altenhofen „die lokal intendierte ‚Oralisierungsnorm‘ des Deutschen, die aufgrund phonologischer, morphologischer und lexematischer, zum Teil auch syntaktischer Merkmale, von diesen Sprechern als gehobene Normsprache bewertet wird, die sie jedoch mit einem ‚Regionalakzent‘ realisieren und vorwiegend mit partieller Kompetenz beherrschen“ (Altenhofen 2016: 104). 3 Für weitere Parameter des standardnahen Sprachgebrauchs des Deutschen in Brasilien vgl. Altenhofen (2016: 111). „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 185 dem Italienischen und dem Polnischen an (vgl. Altenhofen 1996: 52f.). Diese Mehrsprachigkeitssituation dient als Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag. Die untersuchten Ortschaften sowie deren Munizipium und deren Gründungsjahr werden tabellarisch in Tabelle 1 zusammengefasst 4 : Ortschaft (Munizipium) Einwanderungsjahr Batatenberg, Stadt (Alto Feliz) 1849 Linha Imperial, Linha Nove Colônias (Nova Petrópolis) 1872 Linha Imhoff (Imigrante) 1882 Stadt, Linha Sao José (Sinimbu) 1857 Stadt von Arroio do Padre 1858 Vila Sete de Setembro (Santa Rosa) 1891 Colônia Nova (Aceguá) 1951 Tab. 1: Ortspunkte mit Angabe des Munizipiums und des Einwanderungsjahres Aus den Einwanderungsjahren lässt sich herauslesen, dass die Sprechergruppen historisch unterschiedlich ausgeprägt sind. Während Alto Feliz (1849) der ältesten Ansiedlungsregion zugeordnet werden kann, wird Colônia Nova von Mennoniten gegründet, welche - nach einem Aufenthalt in Santa Catarina - um 1951 in den Süden von Rio Grande do Sul einwanderten. Die Zeit der Einwanderung verweist nicht nur auf unterschiedliche Kontexte in Europa, sondern auch auf die Konfiguration des Sprachrepertoires. Es wird davon ausgegangen, dass spätere Einwanderer eine höhere schriftsprachliche Kompetenz mitgebracht haben (vgl. Altenhofen 2016). Weiterhin lassen sich soziale Faktoren identifizieren, welche sämtliche Gruppen betroffen haben. Die nationalistische Unterdrückung durch das Regime Estado-Novo (1937-1945) sowie politische Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in Brasilien gingen mit dem Sprachverbot der Einwanderersprachen einher. Mit Blick auf die Identität in den jeweiligen Ortschaften wurde die folgende Karte erstellt. Die Selbstbenennung der Sprache, die man zu Hause gelernt hat, sowie der Verweis auf die Herkunft der Vorfahren im Laufe des Interviews (in Klammern angegeben) stellen relevante Merkmale für die Identität der Gewährspersonen dar: 4 Innerhalb eines Munizipiums wurden nach Möglichkeit mehrere Ortschaften besucht. Der sprachliche Zusammenhang der einzelnen Ortschaft wurde am Anfang des Interviews von dem Explorator sowie mit einer Übersetzungsaufgabe in die Ortsvarietät überprüft. 186 Lucas Löff Machado Abb. 1: Karte mit der Selbstbenennung der Sprache und der von den Gewährspersonen genannten Herkunft Dem Benennungssystem der jeweiligen Gruppen liegt eine bereits im Herkunftsraum existierende Unterscheidung zugrunde. Die meisten Gruppen mit einer mitteldeutschen Basis bedienen sich des Begriffes Deutsch (Nova Petrópolis, Sinimbu, Santa Rosa) oder Deitsch (Alto Feliz), während bei den niederdeutschen Gruppen die Begriffe Platt (Imigrante) oder Plattdeutsch (Colônia Nova) zum Tragen kommen. Hunsrückische Varietäten, die eine westmitteldeutsche Herkunft aufweisen, kennen übrigens beide Begriffe. 5 Durch die Benennungen der Sprachen werden die Varietäten im sozialen Raum positioniert. Zum einen durch die Unterscheidung Platt vs. Deutsch wie in Imigrante, zum anderen auf der Basis der Unterscheidung Dialekt vs. Hochdeutsch/ grammatikalisches Deutsch. Letztere Bezeichnung dürfte eine Übertragung aus dem Portugiesischen sein, 5 Der Atlas zur deutschen Alltagssprache zeigt, dass eine regionale Gefälle der Sprachbenennungen bis heute in Deutschland existiert: http: / / www.atlas-alltagssprache.de/ runde-1/ f20/ (27.04.2020). „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 187 die mit der Wertung gramatical in der Alltagssprache des Portugiesischen häufig vorkommt (vgl. Faraco/ Zilles Stahl 2017: 194). 5 Methode Die Grundlage der vorliegenden Untersuchung beruht auf der pluridimensionalen Dialektologie (vgl. Radtke/ Thun 1996). Die Sprachvariation in großflächigen und kontaktreichen Räumen wie in Lateinamerika stellt den Schwerpunkt dieser Methode dar. Dafür werden Dimensionen mit einer sozialen und sprachlichen Zuordnung herangezogen. Diese Dimensionen können je nach Parameter variieren. Nach der Festlegung des Ortspunktnetzes in sieben Ortschaften (diatopische Dimension), wurde nach vier Gruppen gesucht, welche verschiedene Altersgruppen (diagenerationelle Dimension) und Bildungsniveaus (diastratische Dimension) abbilden. In den Ortspunkten wurden insgesamt 59 Gewährspersonen befragt, 6 und der Fragebogen war in Anlehnung an das Projekt Sprachkontaktatlas der deutschen Minderheiten im La Plata-Becken (ALMA) 7 folgendermaßen strukturiert: (1) soziale Daten; (2) Übersetzung aus dem Portugiesischen ins Hochdeutsche (42 Variablen); (3) Leseaussprache im Deutschen (sieben Wenker-Sätze); (4) Übersetzung aus dem Hochdeutschen in die Ortsvarietät (sieben Sätze); (5) Sprachbiografie, Einstellungen zu Sprachgebrauch, Variation und Sprachkontakt. Die Auswertung der vorliegenden Daten gliedert sich in zwei Teile: (a) exemplarische Analyse der Sprachkompetenz anhand der Übersetzung dreier Variablen (Samstag, Pferd und Mais) aus dem Portugiesischen ins Hochdeutsche 8 . Nach 6 Die Interviews dauerten von 45 Minuten bis zu zwei Stunden und wurden hauptsächlich in den Häusern der jeweiligen Gewährspersonen und zuweilen auch in Gruppen durchgeführt. Die meisten Gewährsleute wurden mithilfe einer in der Gemeinde gut vernetzten Bezugsperson kontaktiert. Vor den Interviews wurden zudem in jedem Ortspunkt Gespräche mit Mitgliedern der Gemeinschaften und öffentlichen Personen wie Pfarrern oder Lehrer(inne)n geführt. 7 Vergleiche https: / / www.ufrgs.br/ projalma/ (19.05.2020). 8 Die Auswahl dieser Variablen für die vorliegende Auswertung liegt zum einen an der Salienz der lexikalischen Ebene. Zum anderen sind diese drei Variablen wohl aufgrund des familiären Registers in mehreren Grundstudien wie dem Sprachkontaktatlas der Deutschen Minderheiten im La Plata-Becken - Hunsrückisch sowie dem Atlas der 188 Lucas Löff Machado der Transkription werden die Varianten kartografisch dargestellt; (b) Analyse von Positionierungen der Gewährspersonen in elizitierten Beurteilungssituationen. Den Gewährspersonen werden mehrere Varianten zur Auswahl angeboten (s. dreischrittige Methode unten). In den Antworten geht es letztendlich nicht darum, den Korrektheitsgrad zu messen, sondern das metasprachliche Wissen zu erwecken beziehungsweise die Positionierung gegenüber den betreffenden Varianten zu vergleichen. Positionierungen stellen alltägliche diskursive Praktiken, in denen bestimmte Positionen im sozialen Raum zugewiesen werden, dar (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004: 168). In Beurteilungssituationen wird die Sprachnorm des Deutschen anhand der Selbst- und Fremdpositionierungen bewertet. Zudem besteht stets die Möglichkeit, dass während des Interviews im Rahmen der sprachbiografischen Erzählungen weitere Positionierungen vollzogen werden (vgl. Schröder/ Jürgens 2017; Wolf-Farré 2017: 74) 9 . Die vier Gruppen der Untersuchung entsprechen den folgenden Abkürzungen (CaGII, CaGI, CbGII und CbGI), welche höhere (Ca)/ geringere (Cb) Ausbildung und ältere (GII)/ jüngere (GI) Generation bezeichnen: CaGII höhere Ausbildung ältere Generation ab 49 Jahre CaGI höhere Ausbildung jüngere Generation 17-38 Jahre CbGII geringere Ausbildung ältere Generation ab 49 Jahre CbGI geringere Ausbildung jüngere Generation 17-38 Jahre Tab. 2: Profile der Gewährspersonen Im Folgenden werden die Übersetzungen der einzelnen Variablen kartografisch dargestellt. In Anschluss werden die Sprecherkommentare analysiert. Zum Vergleich wird zunächst der Status der Varianten anhand sprachkodifizierender Normen aus dem deutschsprachigen Raum erläutert. 10 Der Einblick in die Sprach- Deutschen Umgangssprache (vgl. Eichhoff 1977; 1978) bereits erforscht, was wiederum auf ihre Aussagekraft und ihr Vergleichbarkeitspotenzial hinweist. 9 In Bezug auf die Befragung ist von punktuellen Effekten des sozialen Vergleichs beziehungsweise der sozialen Erwünschtheit zwischen Interviewer und Gewährspersonen auszugehen. Während der Interaktion können bestimmte Sprecher aus Verlegenheit oder als Echo auf die Formulierung des Interviewers eine Variante willkürlich als hochdeutschkonformer bewerten. 10 Die Grundlage des Vergleichs stellen die folgenden dialektologischen Quellen dar: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart (Adelung 1970 [1793]), Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1971 [1854-1961]), die Wortgeographie der hochdeutschen Umgangssprache von Kretschmer (1969 [1918]), „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 189 kodifizierung dieser Varianten soll die Kategorisierung der subjektiven Bewertungen der südbrasilianischen Gewährspersonen unterstützen. 6 Auswertung der Daten 6.1 Form: Samstag Die oberdeutsche Form Samstag (ahd. samba ʒ tag [9. Jahrhundert]) geht (neben der mittel- und niederdeutschen Form Sonnabend (ahd. Sunnūnāband [9. Jahrhundert]) auf eine regionale Variation des Deutschen zurück (vgl. Variantenwörterbuch des Deutschen nach Ammon u. a. 2016: 680). Beide Varianten lassen sich in der Standardsprache des deutschsprachigen Raums antreffen und als ‚explizit Hochdeutsch‘ bezeichnen (Kretschmer 1969 [1918]: 460). Die meisten wertenden Attribute beziehen sich auf ihre regionale Verteilung beziehungsweise räumliche Begrenztheit: Samstag: ‚gemeindeutsch‘ 11 (Ammon u. a. 2016: 615); ‚spezifisch oberdeutsch‘ (Grimm 1971 [1854-1961] Bd. 16: 1589); ‚übliche Benennung, vorzüglich im Oberdeutschen‘ (Adelung 1970 [1793] Bd. 4: 144); Sonnabend: ‚regional, besonders norddeutsch und mitteldeutsch‘ (Duden online) 12 . Trotz dieser relativ neutralen Kategorisierung lässt sich fragen, wie sie durch deutschsprachige Sprecher(innen) in Südbrasilien bewertet werden. Dafür wurden die ersten Antworten auf die Frage „wie sagt man sábado (dt. Samstag) auf Hochdeutsch? “ kartografisch zusammengefasst. Abbildung 2 zeigt die Korrelation zwischen der Sprachkompetenz der Sprecher(innen) und den standardsprachlichen Formen Samstag und Sonnabend auf. Das Wissen über eine normkonforme Form des Deutschen wird nicht besonders diatopisch markiert. Deutsches Wörterbuch von Hermann Paul (Paul 2002), Duden online (https: / / www. duden.de/ ) und das Variantenwörterbuch des Deutschen (Ammon u. a. 2016). 11 Gemeindeutsch = Im ganzen deutschen Sprachgebiet gebräuchlich (vgl. Ammon u. a. 2016: XVIII). 12 https: / / www.duden.de/ rechtschreibung/ Sonnabend (27.12.2018). 190 Lucas Löff Machado Abb. 2: Karte zur Form Samstag in der Sprachkompetenz der Sprachnorm des Deutschen Eine Markierung der Sprachkompetenz taucht in der diagenerationellen Dimension auf. Einerseits nennen die Jüngeren in Alto Feliz (Hunsrück) sowie in einer der Gruppen aus Nova Petrópolis (Böhmen) die Variante mit s-Palatalisierung als erste Antwort. Auf die Markierung dieser Variante als normabweichend in Nova Petrópolis (Böhmen) wird beispielsweise von einem Sprecher der älteren Generation verwiesen: CbGII aus Nova Petrópolis (Böhmen): „und jetzt dann gesacht in Dialekt Samschtach [ "zamStaX ]“ (lachen). Andererseits antworten die Jüngeren in Arroio do Padre ebenso mit der lokal existierenden Variante (Sennowend). Im Anschluss an die erste Antwort wurde nach dem Normstatus von zusätzlichen Varianten gefragt. Eine vollständige Akzeptabilität von Samstag beziehungsweise Sonnabend als zusätzliche normgerechte Variante ist nicht nachzuweisen. Nichtsdestotrotz wird Samstag (Arroio do Padre [Pommern], Santa Rosa [Russland] und Aceguá [Mennoniten]) häufiger als Sonnabend als normkonforme Variante angenommen. Die letztgenannte Variante wird eher in der Gruppe CaGII akzeptiert, was auf das breitere Sprachrepertoire der älteren Generation mit höherer Ausbildung hinweist. Nun lässt sich fragen, wie sich die Gewährspersonen gegenüber den Varianten positionie- „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 191 ren. Die Bewertungen bilden Einstellungen ab, die auf die Bewertung der beiden Formen hindeuten: 13 Orientierung am Bundesdeutschen: Mennoniten - CaGI w: Sonnabend dann wäre. Aber wir sagen immer Samstag (lachen) i: und wo hast du dieses Wort gehört? w: also mein Onkel wohnt in Deutschland, dann haben sie/ Onkel Paulo, er ist der Sohn von Dietrich Orientierung am Bundesdeutschen mit Betonung der Schriftlichkeit: Böhmen - CaGII m: Sonnabend, das ist ein Begriff, der wir so an sich nie benutze. Sonnabend, das ist wie/ ich glaube das Samstag ein hoch Ausdruck. Aber bei uns ist das do hier immer Samstach gewes und das ist genauso ein hoher Ausdruck, nur in verschiedenen Gegend. Selbst in Deutschland. Wir haben das do hier immer als Samstag gekennt und wenn du das schreibst, ist das immer als Samstach geschrieben. Das ist immer als Samstag. Kirche als Raum der Normvermittlung: Mennoniten - CaGII i: und hast du schon gehört Sonnabend? Sonnabend w: a: : ja, das stimmt. Sonnabend und Samstag ist dasselbe. Ja, sábado. Ja, und ich habe überhaupt nicht mehr daran gedacht i: und wo hast du schon das gehört, Sonnabend? w: ah Sonnabend, wo habe ich das gehört? In der Kirche wird es wohl möglich sein. Oder bei der Frauenstunde am Sonnabend, wollen wir Übestunde haben für Sonntag im Chor singen. Schön, [unverständlich] da habe ich es gehört Normtoleranz mit altersbezogener Differenzierung: Russland - CbGI m: Samstag sagen auch de alte, wesst. Die sagen i: und was ist mehr Hochdeutsch? Oder das ist/ m: das bleibt so [unverständlich] eingal so Explizite Begründungen für die Bewertung einer Variante als normkonform werden deutlich häufiger von der älteren Generation geäußert. Sprecher(innen) 13 Kursivschrift entspricht im Folgenden dem Portugiesischen, wurde aber ins Standarddeutsche übertragen. 192 Lucas Löff Machado dieser Gruppe weisen in den Beispielen eine breite Palette von Orientierungsmustern auf. Drei Begründungsformen werden von den Sprecher(inne)n herangezogen: erstens die Orientierung am Bundesdeutschen, indem die familiäre Vernetzung oder die Schriftlichkeit aufgegriffen wird; zweitens die Orientierung am institutionellen Bereich der Kirche. Die Kirche stellt in der mennonitischen Gemeinschaft einen Raum dar, in dem normative Handlungen in Bezug auf die Sprache stattfinden. Frauenstunde am Sonnabend bzw. am Samstag, Übungsstunde und Chor repräsentieren für die Sprecherin aus Colônia Nova Bezugspunkte zu diesen Normen; drittens lässt sich die Fremdpositionierung der älteren Generation durch den Sprecher der Gruppe CbGI aus Santa Rosa (Russland) feststellen. Samstag wird zwar akzeptiert, aber den älteren Mitgliedern der Gemeinschaft zugeschrieben. Dadurch grenzt sich der Sprecher selbst von der anderen Gruppe ab. 6.2 Form: Pferd Bei dem nächsten Beispiel handelt es sich um eine Variation des Lexems Pferd in den vorliegenden Varietäten des Deutschen in Brasilien. Im deutschsprachigen Raum stellt diese Variante die standardnähere dar, während Gaul als regional und gemeindeutsch als negativ bewertet wird (vgl. Ammon u. a. 2016: 264). 14 Neben beiden Varianten ist die niederdeutsche Form Piad im südbrasilianischen Raum noch anzutreffen, die vor allem in den niederdeutschen Varietäten des Platt aus Imigrante, des Pommerischen aus Arroio do Padre und des Plattdeutschen aus Colônia Nova vorkommt. In den nachgeschlagenen Sprachkodices seit dem Anfang der Einwanderung finden wir folgende Hinweise auf die Wertigkeit dieser Varianten: Pferd: ‚gewöhnliches Wort in der Schriftsprache‘ (vgl. Paul 2002: 743). Gaul: ‚mittel- und süddeutsch‘ (Ammon u. a. 2016: 264); ‚eher landschaftlich (vgl. Paul 2002: 743)‘, ‚noch mundartlich und veraltend. Heute aber auch neutral in Mittel- und Süddeutschland‘ (vgl. Paul 2002: 372). 15 Auf der Karte (Abb. 3) lässt sich die erste Antwort auf die Frage nach der hochdeutschkonformen Variante ablesen: 14 ‚Im Hochdeutschen ist es gemeiniglich nur von mittelmäßigen und schlechten Pferden üblich, und gebraucht man es ja für ein Pferd überhaupt, so geschiehet es nur im Scherze. Daher ein Ackergaul, Karrengaul, Müllergaul u. s. f.‘ (Adelung 1970 [1793]: Bd. 2: 438f.). 15 Zum diachronen Vergleich: Roß ist in der schwäbisch-bairischen Mundart, Gaul in mitteldeutschen Mundarten gewöhnliche Bezeichnung des Pferdes (Kretschmer 1969 [1918]: 61). „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 193 Abb. 3: Karte zur Form Pferd in der Sprachkompetenz der Sprachnorm des Deutschen Die Karte spiegelt eine ähnliche Sprachkompetenz wie bei Samstag wider. Die Variante Pferd ist der Mehrheit der Sprecher(innen) bekannt und zeigt somit keine große diatopische Unterscheidung. Bis auf zwei Gruppen der jüngeren Generation im Deitschen aus Alto Feliz (Hunsrück) und im Pommerischen aus Arroio do Padre (Pommern) wird Pferd als erste Antwort von allen angegeben. Der Kontrast in den Gruppen hängt wiederum mit der diagenerationellen Variation zusammen. Jüngere Sprecher(innen) kennen in diesem Fall entweder Gaul (Alto Feliz) oder Piad (Arroio do Padre). Die Verwendung von Pferd geht allerdings je nach Ort auf unterschiedliche Funktionen der Sprachnorm zurück. Einerseits greifen diejenigen, die in der Umgangssprache eine standardferne Variante wie Gaul oder Piad aufweisen, auf die überregionale oder regionale Variante Pferd zurück. Andererseits bleiben die anderen Gruppen an der lokalen Ortsvarietät orientiert, welche bereits Pferd enthält. Die folgenden Positionierungen gegenüber den Varianten zeigen, wie mit der Variation umgegangen wird. 194 Lucas Löff Machado Orientierung an der überregionalen Norm durch Selbstpositionierung: Hunsrück - CaGII w: Ferd, ein Ferd i: und Gaul? w: das sprechen mia so gewöhnlich Orientierung an der lokalen Norm durch Selbstpositionierung: Russland - CbGII m2: Ferd i: Ferd? m2: Ferd i: und Gaul ist auch Hochdeutsch? m1: auch. Ist auch m2: aber das [unverständlich] bei uns schon ein alter (lachen) das ist ein alter Gaul Orientierung an der überregionalen Norm durch Fremdpositionierung: Böhmen - CbGII m: Ferd i: und Gaul? m: das ist Dialekt … Gaul das ist Dialekt. Das ist hier meist benutzt. „Ah da hat ich [unverständlich] ein Gaul gekauft“ i: und deine Großeltern haben auch Gaul gesagt? m: ne: in, na: o. i: wie haben die gesagt dann? m: ein Ferd m: Oder die, die hatten Ziegelfabrik gehat, weil mein Großvater né. Das war kein Motor, né. Das musste mit ferd getrieben werden, ja der Zucker [unverständlich], weißt du noch [unverständlich]. Das hat er mit Maultier getrieben. Dann waren nicht richtig Ferde, dann waren die Maultiere. Orientierung an der überregionalen Norm durch Betonung der Sprachmischung: Böhmen - CaGII m: wir nennen das als ein Gaul. Das kommt vom Ausdruck cavalo her. Der richtige Name ist Pferd. Ein Pferd. Das ist ein cavalo Orientierung an sprachlichen Vorbildern: Pommern - CaGII m: Ferd, Ferd. Ich glaube, das hat meine Oma gesagt. Cavalo „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 195 In den vorliegenden Kommentaren zur Akzeptanz von weiteren Varianten als normkonform lässt sich eine höhere Beurteilungsdivergenz feststellen. Sprecher(innen) der älteren Generation des Deitschen aus Alto Feliz (Hunsrück) und des Deutschen aus Nova Petrópolis (Böhmen) orientieren sich an der überregionalen Varietät, indem sie die Variante Pferd der Ortsvarietät gegenüberstellen. Die lokale Variante Gaul wird unterschiedlich in den drei Beispielen positioniert. Die erste Sprecherin CaGII aus Alto Feliz ordnet Gaul der gewöhnlichen Sprache pt. ‚comum‘ zu und schließt sich gleichzeitig an die lokale Gruppe durch das Pronomen mia dt. ‚wir‘ an. Der zweite Sprecher CbGII aus Nova Petrópolis grenzt nicht nur die lokale Variante vom Hochdeutschen ab, sondern auch sich selbst, indem er den eigenen Gebrauch von Gaul nicht explizit zusagt und das als Dialekt bewertet. Der dritte Sprecher CaGII, ebenso aus Nova Petrópolis, korreliert mit der ersten Sprecherin, allerdings mit einer zusätzlichen Information über die lokale Variante. In seiner Bewertung stellt Gaul keine hochdeutsche Variante dar, weil es aus dem Portugiesischen stammen würde (Gaul < cavalo). Er scheint auf das Konzept der Sprachmischung zurückzugreifen, um die dialektale Form als abweichendes Merkmal zu bestimmen. Der Sprecher aus der Gruppe CbGII aus Santa Rosa (Russland) verweist auf eine semantische Ausdifferenzierung, die mit Bezug auf den lokalen Ort formuliert wird und sich gleichzeitig der überregionalen Norm des Deutschen annähert. Gaul wird der gemeindeutschen Bedeutung ‚altes, gebrechliches Pferd‘ zugeordnet (vgl. Ammon u. a. 2016: 264). Im letzten Beispiel greift der Sprecher des Pommerischen aus Arroio do Padre (Pommern) auf seine Erinnerung an die Großmutter zurück, die als eine Normautorität angesehen wird. 6.3 Form: Mais Die Variable Mais (seit dem 16. Jahrhundert im Deutschen geläufig, vgl. Kluge 2011 [1883]: 594) weist eine dialinguale Variation seit der früheren deutschen Einwanderung nach Brasilien auf. Laut den bisherigen Untersuchungen zur Schriftlichkeit taucht bereits in Briefen des 19. Jahrhunderts die Entlehnung Milho auf (vgl. Steffen 2016: 140f.; Díaz 2004: 135ff.). Die Variante Mais ist im deutschsprachigen Raum am Anfang des 20. Jahrhunderts überall - vor allem in Städten - bekannt, aber nicht volkstümlich (vgl. Kretschmer 1969 [1918]: 329f.). Heute wird sie als standardsprachlich im Vergleich zu weiteren Varianten wie Welschkorn, Türkischer Weizen und Türkisch Korn bezeichnet, welche als landschaftlich gelten (vgl. Pfeifer 1993: 826). Neben der gemeindeutschen Variante Mais bilden Kukuruz und Türken in Österreich den Grenzfall des Standards (vgl. Ammon u. a. 2016: 423, 758). Nun lässt sich fragen, welche Variationsmöglichkeiten in der Sprachkompetenz der Sprecher(innen) aufgegriffen werden, wenn man in Südbrasilien versucht, sich am Hochdeutschen zu orientieren. Die nächste Karte (Abb. 4) gibt einen Überblick darüber. 196 Lucas Löff Machado Abb. 4: Karte zur Form Mais in der Sprachkompetenz der Sprachnorm des Deutschen Hinter der Karte stecken zwei deutliche Orientierungsmuster an der Norm des Deutschen. Zum einen wird Bezug auf die deutsche normkonforme Variante Mais genommen. Zum anderen greifen die meisten Gruppen auf die Ortsvarietät zurück. Diatopisch betrachtet sticht ein Punkt hervor, nämlich Colônia Nova (Mennoniten): Hier kennen alle Gewährspersonen die überregionale Variante. Die sonstigen Ortspunkte verweisen wiederum auf eine diagenerationelle Variation. Meistens kennt ein Mitglied der älteren Generation die gemeindeutsche Form. Über den Altersunterschied hinaus ist auch eine diastratische Tendenz festzustellen. Bildungsferne Gruppen aus fünf Ortspunkten (s. Sprachkarte oben Abb. 4) sind diejenigen, die die normkonforme Variante kennen. Dies legt die Hypothese nahe, dass deren Sprachwissen auf einer literalen Kompetenz basiert, welche nicht direkt durch die Schulbildung erworben wurde, sondern durch weitere sprachliche Praxis wie die Kirche oder den Kontakt zu Normvermittlern der älteren Generation. Der interindividuellen Markierung der Sprachkompetenz auf der Karte liegen verschiedene Orientierungsmuster zugrunde. Die relativ wenig bekannte gemeindeutsche Form Mais weist eine überregionale Funktion auf, an der sich „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 197 hauptsächlich ältere Sprecher(innen) ausrichten. Die aus dem Portugiesischen entlehnte Form Milje ist in der lokalen Varietät der meisten Orte vorhanden. Sie wird selbst oft als Deutsch und nicht als Portugiesisch wahrgenommen. In Imigrante (Westfalen) wird allerdings Milje im Gegensatz zu der Variante des Platt Mülgen als normkonformer von Sprecher(inne)n des Platt (Westfalen) empfunden (vgl. Horst 2014: 102). Dies liegt wohl am Prestige des Deutschen im Kontakt mit dem Platt in der Region (vgl. Horst 2014; Díaz 2004). Wie die Interviewten sich selbst gegenüber der Variation Milje-Mais positionieren, wird in den folgenden Kommentaren gezeigt. Überregionale Orientierung durch Selbstpositionierung: Russland - CbGII m2: Milje m1: wir sagen Milje, aber richtich der Name is Mais i: Hochdeutsch wäre Mais? m2: ja w: ja Regionale Orientierung an der Kontaktsprache: Westfalen - CaGI w: milho, Mulgen, Mulgen denke ich ist Platt und Milje steht ehr für das Deutsche, gell. Ehr Hoch i: mehr Hochdeutsch? w: ja, Milje. Milje soon Orientierung an der überregionalen Norm durch Betonung der Sprachmischung: Böhmen - CaGII m: Milho sind die Mais i: und Milje? m: Milje ist ein verbrasilianisierter Dialekt (Frau): verbrasilianisiert m: weil es von miLHO kommt [unverständlich] ist so geblieben (Frau): aber das Grammatikalische ist Mais m: Mais ist das Grammatikalische 198 Lucas Löff Machado Orientierung an sprachlichen Vorbildern: Böhmen - CbGII m: weil ich weiß auch wie Milje, das ist net Milho auf Deutsch richtich. Ich weeß die Joohre wor enne dorichkomm, en von driber, en alemao. Und do hore er [unverständlich], hamma gezackert dorum, hama dann von Woize [unverständlich] fo/ Unne dorum gezacker fo de [unverständlich] und hot er gefroo, ob mia wollde Moise planze. Ich wusste auch net, was das Moise. Ich sahte „nein, mia tun die Weeze [unverständlich]“ und sahte er „Moise is Milje uf Deutsch richtich“. i: aham m: ja, und dodorich Weize wees ich net, wie sie richtich druf saan tun, aber fo die milho uf Deutsch richtich Deutsch is Moise. i: und Milie auch Mais. m: ja, Mais wees ich nicht [unverständlich] Orientierung an der überregionalen Sprachnorm durch Kontakt mit Medien Westfalen - CaGI i: Und Mais? m: ja, Mais, Mais also das schon/ niemand spricht hier. Ich weiß, weil in Deutschland, der Vater wusste schon, dass man in Deutschland nicht milho sagt, Milje. Ich weiß, dass er weiß. i: ah m: wie er gestern gesagt hat. Aber eher deswegen. Maizena. Mais von Maizena. Ich weiß nicht. Ich/ wenn ich Videos ab und zu Silageherstellung schaue, sie reden von Mais, nicht von Milje. Aber jetzt weiß ich, was das ist. Niemand spricht Mais hier. Die Variable Mais bildet verschiedene Konzepte der Sprachnorm in Südbrasilien ab. Die metasprachlichen Überlegungen der Gewährspersonen greifen auf mehrere Ebenen der Normorientierung zurück. Erstens wenden sich sowohl Russland CbGII als auch Böhmen CaGII an die überregionale Norm und bezeichnen die lokale Variante Milje als normabweichend beziehungsweise nicht richtig. Böhmen CaGII unternimmt zudem eine doppelte Bewertung. Laut ihm stellt Milje gleichzeitig ein dialeto (dt. ‚Dialekt‘) und eine ‚verbrasilianisierte‘ Form (pt. abrasileirado) dar. Zweitens lässt sich bei Westfalen CaGI, jüngere Generation mit höherer Ausbildung, eine regionale Präferenz feststellen. Die Variante der Nachbarn - Milje - wird als normkonformer im Vergleich zu Mulgen im Platt bevorzugt. Die Gewährsperson Böhmen CbGII verweist auf den Kontakt mit einem bundesdeutschen Sprecher, der in seiner Erinnerung als Normautorität angesehen wird. Im Rahmen der Erzählung vollzieht der Deutsche eine explizite normative Wertung: sahte er „Moise is Milje uf Deutsch richtich“. Trotz der deutlich dialektal geprägten Form Moise - dt. Mais - wird der bundesdeutsche Sprecher nicht hinterfragt, sondern als Normautorität positioniert. Eine weitere „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 199 Vermittlung des Normkonzepts erscheint bei Westfalen CbGI, dessen Vater bereits in Deutschland gelebt hat und ebenso als Normautorität betrachtet wird. Außerdem behauptet der jüngere Interviewte, durch Videos im Internet der Variante Mais begegnet zu sein. 7 Fazit Die dargestellten Beispiele beziehen sich auf die Positionierungen, die die deutschsprachigen Gewährspersonen in der betreffenden Beurteilungssituation vollziehen. Zum Umgang mit Variationen der Sprachnorm werden unterschiedliche Orientierungsmuster konstruiert. Die folgenden Muster konnten anhand der Analyse der Variablen Samstag, Pferd und Mais ermittelt werden: (1) Normorientierung durch Positionierung der Ortsvarietät: Bei der Bewertung der jeweiligen Varianten werden die normkonforme und die lokale Variante asymmetrisch positioniert. In diesem Kontext kommen Selbstbenennungen für die Ortsvarietät wie gewöhnlich oder Dialekt zum Tragen, welche eine zusätzliche Markierung zur Abgrenzung der Norm darstellen (z. B.: Pferd CaGII Hunsrück). (2) Normorientierung durch Betonung der Sprachmischung: Die Ablehnung von bestimmten Varianten als abweichend wird auf den Einfluss des Portugiesischen beziehungsweise der Sprachmischung zurückgeführt (z. B.: Mais CaGII Böhmen). (3) Selbst- und Kontaktsprachenorientierung: Varietäten des Hunsrückischen, welche standardnahe Merkmale aufweisen, können je nach Kontaktkonstellation einen höheren normativen Charakter übernehmen. Je nach Sprachgruppe wird die hunsrückische Variante als normgerecht betrachtet (z. B.: Mais CaGI Westfalen). (4) Orientierung am Gemeindeutschen: Die Bewertung der Sprecher(innen) wird von Erfahrungen im deutschsprachigen Raum, die selbst erlebt oder durch ein Familienmitglied überliefert werden, beeinflusst (z. B.: Mais CaGI Westfalen). (5) Kirche als Raum der Normvermittlung: Gewisse Räume innerhalb der Kirche stehen in enger Verbindung mit dem Konzept von Sprachnorm. Praxen wie Frauenstunde und Chor werden als soziale Räume verstanden, in denen die Verwendung der Sprachnorm gerechtfertigt ist und zugleich vermittelt wird 16 (Samstag CaGII Mennoniten). 16 Protestanten wird oft von anderen Sprechergruppen eine höhere Sprachkompetenz im Hochdeutschen im Vergleich zu Katholiken zugetraut (vgl. Altenhofen 2016: 112). 200 Lucas Löff Machado (6) Normorientierung an Vorbildern: Die intergenerationelle Variation wird oft von den Gewährspersonen thematisiert. Ältere soziale Gruppen weisen in der Regel mehr sprachliches Prestige als Normautorität im Deutschen auf (z. B.: Pferd CaGII Pommern). Diese Orientierungsmuster stellen Bestandteile des Sprachwissens dar, das sowohl Erinnerungsformen als auch Kontaktvarianten des Deutschen umfassen. Insofern liegt ein vielfältiges Sprachrepertoire vor, das auf drei räumliche Ebenen der Sprachvariation zurückgreift: Überregionale Orientierung Die Orientierung am deutschsprachigen Raum beziehungsweise die Distanzierung von der lokalen und der regionalen Ebene liegt seltener vor, ist aber keine Ausnahme im Sprachrepertoire der analysierten Gruppen. Die Auflösung der herkömmlichen diglossischen Situation Hochdeutsch - Dialekt führt dazu, dass in Südbrasilien die überregionale Orientierung (am Gemeindeutschen) auf die Gruppen mit einer höheren schriftsprachlichen Kompetenz beschränkt wird. Dieses Muster vertreten meistens Sprecher(innen) der älteren Generation. Darunter befinden sich weiterhin Sprecher(innen), deren häufigste Varietät während des Interviews ziemlich standardnah war. Einige interviewte Personen gehen mit der Schriftsprache in ihrem Alltag um - so etwa ein Chorleiter und ein Prediger. Diese Gruppe zeigt sich besonders sensibel gegenüber Sprachmischung durch den Einfluss des Portugiesischen und bewertet solche Fälle häufiger als normabweichend. Anstelle des kodifizierten Normbewusstseins im Deutschen nimmt die Orientierung am Portugiesischen im Laufe des 20. Jahrhunderts zu. Das Portugiesische stellt heute die Norm dar, welche die meisten Funktionen in der Öffentlichkeit Brasiliens aufweist. Damit könnte das Phänomen zusammenhängen, dass etliche Gewährspersonen der älteren Generation mit Kenntnissen einer standardnahen Form des Deutschen trotzdem vorwiegend Portugiesisch im Interview sprechen. Die meisten Gruppen bevorzugten entweder die Ortsvarietät oder das Hochdeutsche während des Interviews. Regionale Orientierung Die regionale Orientierung zeigt sich vorwiegend bei Sprechergruppen der niederdeutschen Varietäten. Westfalen, die im Kontakt mit dem Hunsrückischen des Typus Deutsch sind, bedienen sich der mitteldeutschen Varietät, um sich Eine der Gewährspersonen führte im Interview aus, dass die evangelische Kirche bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts den Gottesdienst noch auf Deutsch gehalten habe, während die katholische Kirche im Gottesdienst weiterhin bei der lateinischen Sprache geblieben sei. Später seien dann beide zum Portugiesischen übergegangen. „die Johre wor enne dorichkomm, enne von driber, en alem-o“ 201 regional beziehungsweise überregional anzupassen. Im Rahmen des Interviews in Imigrante (Westfalen) wurde nicht selten das Kontaktdeutsch von den Gewährspersonen verwendet. Lokale Orientierung Die Orientierung an der lokalen Norm findet am häufigsten und vor allem unter Jüngeren statt (vgl. Variable Mais). Selbst die Mennoniten aus Colônia Nova, welche die stärkste Orientierung an den sprachkodifizierten Varianten des Deutschen aufweisen, beziehen ihre Antworten auf die lokale Praxis in der Frauenstunde oder im Chor. Woran die Häufigkeit der lokalen Orientierung liegt, beruht auf zwei Annahmen. Erstens ist von einer Unsicherheit der Gewährspersonen aufgrund des Mangels an Sprachkompetenz in einer standardnahen Varietät des Deutschen auszugehen. Zweitens sind manche Sprecher(innen) so selbstbewusst, dass sie ihre Sprachkompetenz für normkonform halten. Die Ortsvarietät wird insofern auch in oberen Ebenen eingesetzt. Dieses Einstellungsmuster kann auch vom Selbstvergleich der Sprecher(innen) zu Kontaktvarietäten beeinflusst werden, die als standardferner gesehen werden. In den Ortschaften Nova Petrópolis (Böhmen) und Santa Rosa (Russland), wo die Sprache selbst Deutsch genannt wird, wird den Varietäten des Hunsrückischen weniger Normkonformität zugeschrieben. Der Vorbildcharakter der Ortsvarietät ist größer als der der Kontaktsprache. Saliente sprachliche Merkmale wie die s-Palatalisierung und Verständnisschwierigkeiten aufgrund des Dialektalitätsgrades sind Beispiele für diese Wahrnehmung. Andererseits kommt in der Ortschaft Imigrante dem Deutschen mit hunsrückischer Ausprägung eine übergeordnete Rolle als normkonformes Deutsch zu. 17 Sprecher(innen) des Platt schreiben dem regionalen Deutsch mit hunsrückischer Ausprägung ebenso eine Normfunktion zu. Trotz des exemplarischen Charakters der Untersuchung konnten erste Orientierungsmuster festgestellt werden. Diese lassen sich in drei Ebenen einteilen, die der lokalen, regionalen und überregionalen Funktion der Sprachnorm unterliegen. Zudem nehmen auch sprachliche Varietäten im Kontakt an der Perzeption der Sprachnorm teil. Die Daten weisen darauf hin, dass das Konzept des Hochdeutschen beziehungsweise der Sprachnorm kontinuierlich im Laufe der Immigration angereichert wird. Nicht nur durch Sprachkodierung wird die Perzeption der Sprachnorm aktualisiert, sondern auch durch Kontaktsituationen mit weiteren sprachlichen Gruppen, Normautoritäten sowie unter kirchlicher Beteiligung. Die theoretische Annahme einer vollständigen Sprachumstellung und eines Abbaus der Standardsprache könnte schließlich ein verzerrtes 17 Diese Varietät wird - auch in Rahmen anderer Arbeiten - Inselstandarddeutsch genannt (vgl. Diaz 2004). 202 Lucas Löff Machado Bild des Sprachrepertoires in Südbrasilien vermitteln und bereits existierende negative Vorurteile verstärken. In Anlehnung an das Konzept von Coseriu (vgl. Coseriu 1977: 41), das Norm als konstant gebrauchte Variante eines Sprachsystems annimmt, lässt sich die Sprachnorm flexibler betrachten. Die Gewährspersonen zeigen pluriareale und mehrsprachige Normorientierungen, welche auf der Basis der Sprachbiografie und mithilfe der normalen Varietäten des alltäglichen Sprachgebrauchs konstruiert werden. 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Die Hauptzüge dieser Mundart weisen sie als eine ostmitteldeutsche Mundart aus, jedoch verfügt sie auch über oberdeutsche Merkmale und ist keiner modernen innerdeutschen Mundart völlig ähnlich. Das zeugt davon, dass sich unter Sprachinselbedingungen durch Mischung und Ausgleich nach den inneren Gesetzen der deutschen Sprache sowie durch Einfluss des Schriftdeutsch eine neue wolgadeutsche Sprachvarietät herausgebildet hat. 2 1 Einleitung Die deutsche Sprachinseldialektologie in Russland, die sich mit den in der Isolierung von dem muttersprachlichen Kerngebiet und in mündlicher Form funktionierenden Mundarten befasst, stützt sich auf die Forschungen von G. Dinges, V. Ž irmunskij, A. Dulson und die Publikationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind. Das sind vor allem die Arbeiten von H. Jedig, N. Berend, L. Moskalyuk, O. Baikowa, Z. Bogoslowskaja, O. Alexandrow, A. Minor, V. Merkurjewa, V. Djatlowa und anderen. Da die russlanddeutschen Mundarten heute ihren Kommunikationsradius sehr deutlich einschränken, ist es wichtig, die Personen zu ermitteln, die heute noch die alten Mundarten der Wolgadeutschen sprechen, und diese Mundarten zu dokumentieren. Die wissenschaftliche Erforschung und Beschreibung der 1 Historisches Staatsarchiv der Wolgadeutschen = OGU GIANP. 2 Im Rahmen eines Forschungsprojekts wurde in den Jahren 2015 bis 2016 das Wörterbuch der wolgadeutschen marxstädter Mundart (vgl. Diesendorf: 2015 ‒ 2016) in zwei Bänden herausgegeben, in dem der historische Zustand der Mundart fixiert ist. 206 Alexander Minor Systeme der Mundarten erlaubt vor allem, historische Prozesse zu rekonstruieren, die für der deutschen Sprache eigen waren und die sich in der Entwicklung der Mundarten z. B. bei der Bildung von neuen Namen für die neuen Gegenstände und Begriffe in der Wahlheimat manifestieren. Das heißt, die russischen Germanisten versuchen, „die Gesetzmäßigkeiten der autonomen Entwicklung von Sprachzweigen als selbstständig funktionierende Systeme zu ergründen“ (Bogoslovskaya/ Alexandrov: 2009). Außerdem lassen sich die Ergebnisse der Mischung und des Ausgleiches am Material der Inselmischmundarten genauer beobachten und beschreiben. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Beschreibung des Lautbestandes der Mundart der ehemals zahlenmäßig größten und einflussreichsten Kolonie der Wolgadeutschen. 2 Zur Entstehung der Siedlung Die deutsche Kolonie Katharinenstadt musste im Laufe ihrer Existenz viele Umbenennungen erleben, die vor allem politisch motiviert waren. Seit ihrer Entstehung führte die Kolonie zwei Namen: Baronsk und Katharinenstadt, im Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Komponente -stadt durch die russische -grad ersetzt: Ekaterinengrad (1915 ‒ 1920). Später wurde die Stadt nach Karl Marx in Marxstadt umbenannt und zur Hauptstadt der neugegründeten Autonomie der Wolgadeutschen erklärt (https: / / ru.wikipedia.org/ wiki/ Marx). Heute trägt sie schlicht den Namen Marx. So hat man versucht, das deutsche Element aus der Erinnerung der Menschen zu streichen. Die Siedlung wurde im Laufe der ausländischen Kolonisation der brachliegenden Gelände an der Unteren und Mittleren Wolga gegründet. Die Kolonisten folgten der Einladung der russischen Kaiserin Katharina II., die durch beide Manifeste von 1763 und 1764 in vielen europäischen Ländern verbreitet und bekannt gegeben wurde. Die wichtigste Leistung, die man von den Ausländern erwartete, war die Kultivierung der freien, brachliegenden Gelände in Russland. Dem Aufruf der Kaiserin folgten vor allem die Deutschen, die durch den Siebenjährigen Krieg am stärksten leiden mussten. Nach den Angaben von Stummp (2004: 20) waren 23.216 Deutsche und Vertreter einiger anderer Völker an die Wolga gekommen. Insgesamt wurden in der Wolgaregion in den Jahren 1764 ‒ 1767 106 deutsche Siedlungen gegründet (http: / / wolgadeutsche.net/ history/ tabl_mutterkolonien.htm). Der historische Lautbestand der wolgadeutschen Inselmundart von Marxstadt 207 3 Herkunft der ersten Einwohner der Kolonie Katharinenstadt Nach Angaben des Pastors Samuel Keller, die aus dem Kirchenbuch der Kirche in Katharinenstadt stammen, das im Staatlichen Archiv der Wolgadeutschen in Engels aufbewahrt wird (HSA der WD: S. 52/ Umschlag), wurde diese Kolonie 1766 von Auswanderern aus 44 deutschen Orten gegründet. Die größte Anzahl der Kolonisten kam aus Hessen und Hanau (61), sie sprachen den hessischen Dialekt. Das Sächsische, das zu Ostmitteldeutsch gehört, wurde von den Auswanderern aus Sachsen, Anhalt (Dessau und Zerbst) und Thüringen vertreten ‒ 79 Personen oder 22 % der ersten Kolonisten. Außerdem sprachen die Kolonisten auch niederdeutsche Mundarten aus den Regionen Brandenburg, Mecklenburg, Magdeburg, Hamburg, Lübeck, Bremen, Hannover, Westfalen, Lippe, Holstein, Münster, Pommern, Preußen, Braunschweig. Zu dieser Gruppe gehören auch die Mundarten der Auswanderer aus den Niederlanden und höchstwahrscheinlich die aus Kurland. Die anderen Kolonisten sprachen Oberdeutsch und kamen aus Bayern, Franken, der Schweiz, Böhmen, Mainz, der Pfalz, Nassau, dem Elsaß, Luxemburg, Baden, Österreich, Schwaben, Trier, Württemberg und Lothringen. Außerdem kamen Auswanderer aus den deutschen Sprachinseln in Frankreich, Schlesien, Ungarn, Mähren, und Polen und sogar aus England hinzu. Insgesamt wurden im Kirchenbuch 401 Kolonisten angeführt, darunter 290 Personen aus den deutschsprachigen Ländern und 111 aus anderen europäischen Ländern. Leider ist der Liste nicht zu entnehmen, welche Sprachen die Letztgenannten sprachen. Man könnte aber annehmen, dass sie auch des Deutschen mächtig waren, denn die Liste enthält nur typisch deutsche Namen. Für die Entwicklung der Mundart von Katharinenstadt war die Tatsache ausschlaggebend, dass unter den ersten Siedlern viele Auswanderer aus den ostmitteldeutschen Gebieten waren (HSA der WD: S. 21 ‒ 30). Diese Gruppe hat eventuell das Ostmitteldeutsche gesprochen, also eine der vier Regionalsprachen, die im 18. Jahrhundert in deutschen Ländern einander Konkurrenz machten. Für die Bestimmung der Herkunft der Mundart von Marxstadt ist der quantitative Faktor ausschlaggebend, denn jeder fünfte Einwohner der Kolonie, der an der Herausbildung der neuen kolonialen Mundart beteiligt war, sprach das Ostmitteldeutsche. Ein anderer Faktor, der sich auf die Mundart in den neuen, sprachlich heterogenen Siedlungen an der Wolga ausgewirkt hat, waren nach Zhirmunski (1931) und Dulson (1941: 97 ‒ 98) die primären und sekundären Dialektmerkmale. Die primären Merkmale sind auffallend und werden am schnellsten abgelegt, die sekundären Merkmale halten sich dagegen länger und werden in vielen Fällen zur Basis für eine neue Sprachvarietät, die dann sehr oft von den meisten Dialektsprechern anerkannt und gesprochen wird. Im Falle der Mundart von Marxstadt war die Gruppe, die die Mundart mit den weniger auffallenden Dialektmerkmalen sprach, also die Auswanderer aus den ostmitteldeutschen Gebieten, die zahlenmäßig stärkste. 208 Alexander Minor Die zweitgrößte Kolonistengruppe waren die Auswanderer aus Hessen (66 Personen oder fast 17 %). Sie sprachen westmitteldeutsche Mundarten, deren Lautbestand dem der ostmitteldeutschen Mundarten sehr ähnlich war. Deshalb haben sie auch die Herausbildung der neuen kolonialen Mundart wesentlich beeinflusst. Auswanderer aus anderen deutschen Gebieten haben die Aussprache der neuen Mundart nicht besonders stark beeinflusst, da sie zahlenmäßig nicht so stark waren. Außerdem stammten sie aus ganz unterschiedlichen Gebieten, sodass sie nur als Einzelvertreter der Mundarten betrachtet werden können. Oft enthielten ihre Mundarten niederdeutsche oder oberdeutsche (bairische, alemannische) Sprachformen, die viele primäre Dialektmerkmale aufwiesen. Zusammenfassend könnte man behaupten, dass die marxstädter Mundart vom Ostmitteldeutschen stark geprägt ist. Davon zeugen unverschobene Formen pp > b im Wortinlaut: r ᾱ b ǝ - Rabe, ɛ bl - Äpfel. Außerdem ist pf zu f verschoben: feffer anstatt Pfeffer. Eines der gemeinsamen Merkmale, das die marxstädter Mundart und das Neuhochdeutsche aufweisen und diese Mundart zugleich von anderen Mundarten unterscheiden, ist die Tatsache, dass sie das mittelhochdeutsche lange a behalten hat ( ᾱ ): šl ᾱ f (Schlaf), f ᾱ l (fahl), ᾱ mnt (Abend), w ᾱ r (war), šl ᾱ w ǝ (schlafen), n ᾱ dl (Nadel), ᾱ dr (Ader), br ᾱ d ǝ (Braten), fr ᾱɣ r (Freier) usw. Die Mundarten der Nachbarsiedlungen haben an dieser Stelle ein langes ō. So lauten dieselben Wörter in Beauregard: nōdl, fōl, wōr, sōf, šlōw ǝ , brōd ǝ . Noch ein Merkmal der marxstädter Mundart, das sie gemeinsam mit dem Neuhochdeutschen hat, ist das Vorhandensein des langen ō anstatt des mittelhochdeutschen ᾱ in den Wörtern ōn ǝ (ohne), dōl ǝ (tolle). Laut dem Wolgadeutschen Sprachatlas (1997) und den Archivmaterialien (HSA der WD: S. 21 ‒ 30) tendiert die Mundart zum Kasussynkretismus, d. h. Ausgleich zwischen dem Dativ und dem Akkusativ: hait helfs d ǝ miç (mich) šlaxd ǝ , morje helf iç diç šlaxd ǝ (Heute hilfst du mir schlachten, morgen helfe ich dir schlachten); iç hab miç ǝ nai ǝ s ḏ ux g ǝ kouft (Ich habe mir ein neues Tuch gekauft). Die Form des Personalpronomens im Dativ ist den Dialektsprechern unbekannt. Aber manchmal wird wahrscheinlich unter dem Einfluss der Literatursprache anstatt der Akkusativform die Dativform gebraucht: er hat mir ksēn (Er hat mich gesehen). 4 Vokalische Eigenschaften der marxstädter Mundart Im Vokalsystem kann man einige Erscheinungen konstatieren, die diese Mundart von anderen wolgadeutschen Sprachvarietäten unterscheiden. Dem mittelhochdeutschen kurzen а in geschlossenen Silben entsprechen in der Mundart einige Phoneme: Erstens ist es das kurze offene а, das für diese Mundart typisch ist: bald (bald), an (an), ald ǝ (alte), man (Mann), kald ǝ (kalte), wazr (Wasser), Der historische Lautbestand der wolgadeutschen Inselmundart von Marxstadt 209 gfal ǝ (gefallen), štark (stark), gants (Gans), šwarts (schwarz), salts (Salz), haw ǝ (habe), gsaxt (gesagt), af (Affe), flas ḏ r (Pflaster), waks ǝ (wachsen), š ḏ at (Stadt), faf (Pfaffe), flaš (Flasche), naxt (Nacht), glat (glatt), sat (Saat), rat (Rad), hawr (Hafer), nawl (Nabel), tsawl ǝ (zappeln), fadr (Vater), blat (Blatt), arm (Arm), darm (Darm), warm (warm), šarf (scharf), hart (hart), gramf (Krampf), damf (Dampf), flandz ǝ (Pflanze). Zweitens kommt in einigen Fällen das mittelhochdeutsche lange а in offenen Silben vor: s ᾱ j ǝ (sagen), kl ᾱ j ǝ (klagen), b ǝ ts ᾱ l ǝ (bezahlen), j ᾱ j ǝ (jagen), n ᾱ j ǝ l (Nagel), š ᾱ w ǝ (Schafe), šn ᾱ w ǝ l (Schnabel), w ᾱ j ǝ (Wagen), gr ᾱ d (grad), š ᾱ d ǝ (schade), l ᾱ d ǝ (laden), l ᾱ m ǝ (lahme), n ᾱ m ǝ (Name), gr ᾱ w ǝ (Graben), h ᾱ n (Hahn), š ᾱ l (Schal), n ᾱ s (Nase), r ᾱ p (Rappe), g ᾱ rn (Garn), b ᾱ rt (Bart), k ᾱ l (kahl), šm ᾱ l (schmal), ts ᾱ m (zahm), ts ᾱ n (Zahn), gr ᾱ s (Gras), gl ᾱ s (Glas), šlax (Schlag). Drittens kommt manchmal das mundartliche lange о (ō) vor: bōrç (Borch). Dem mittelhochdeutschen kurzen а entspricht das mundartliche lange а ( ᾱ ): š ᾱ fbok (Schafbok), f ᾱ l (Pfahl), ᾱ mnt (Abend), w ᾱ r (war), šl ᾱ w ǝ (schlafen), n ᾱ dl (Nadel), ᾱ dr (Ader), br ᾱ d ǝ (Braten), fr ᾱ j ǝ (fragen). Dem mittelhochdeutschen langen а entspricht in der Mundart das lange о (ō): ōn ǝ (ohne), mhd.: ᾱ n ǝ . Dem mittelhochdeutschen kurzen offenen е entspricht das lange е (ē): bēz ǝ (böse), wēdr (Wetter), dēn (denn), sēks (sechs), g ǝ brēnt (gebrannt), šlēçd ǝ (schlechte), šwēsdr (Schwester), gēnts (Gänse), lēvl (Löffel). Außerdem wird in der marxstädter Mundart das offene е (ä) vor r gesprochen: härts (Herz), bärx (Berg), färdiç (fertig), härbst (Herbst), ärbär ǝ (Erdbeere), ärbse (Erbsen), gärn (gern), wäre (werden). In offener Silbe wird das lange е (ē) gesprochen: frtsēl ǝ (erzählen), wēç (Weg), lēw ǝ (leben), rēj ǝ (Regen), flēj ǝ (Flegel), mēl (Mehl), šdēl ǝ (stehlen). In der Mundart wird auch das überoffene lange е gesprochen, das dem ä ähnlich ist. Des Öfteren kommt es in Artikelwörtern, Pronomen und in anderen Fällen in betonten Silben vor: färt (fährt), šär (Schere), wär (wäre), är (er), där (der). Anstatt des mittelhochdeutschen kurzen ȇ wird im Dialekt das lange ē gesprochen: wē (weh), bēn ǝ (Beine), šnēi ɤ (schneien), šlē ǝ (Schlee), ēwiç (ewig), gēn (gehen), štēn (stehen). Vor r spricht man das lange offene a ( ᾱ ): ᾱ ršt (erst), m ᾱ r (mehr), in geschlossener Silbe ‒ das kurze offene o: sorj ǝ (Sorgen), morj ǝ (Morgen). In offener Silbe und bei Dehnung wird das lange o (ō) gesprochen: hōf (Hof), kōl ǝ (Kohle). Dem mittelhochdeutschen kurzen o ( ȏ ) entspricht in der Mundart das lange ō: dōt (tot), rōt (rot), hōx (hoch), brōt (Brot), blōs (blos), grōs (groß), štrō (Stroh). Dem mittelhochdeutschen kurzen ŭ entspricht in geschlossener Silbe das kurze ŭ: lŭft (Luft), rŭm (rum, herum), ŭn ǝ (unten), ŭm (um), dŭ (du), šŭldr (Schulter), šbug ǝ (spuken), šdump (stumpf), šŭmp (Sumpf), g ǝ bun ǝ (gebunden), g ǝ fun ǝ (gefunden), šdrump (Strumpf), lŭmb ǝ (Lumpen). 210 Alexander Minor Vor r wird in der Mundart das kurze ȏ gesprochen: w ȏ ršt (Wurst), w ȏ rm (warm), k ȏ rts (kurz), g ȏ rk (Gurke), d ȏ rç (durch), d ȏ ršt (Durst), r ȏ b ǝ (rupfen). In den Pluralformen wird anstatt des ö ein е gesprochen: bok - bek (Bock - Böcke), štok ‒ štek (Stock ‒ Stöcke), dop - dep (Topf ‒ Töpfe), ōw ǝ - ēw ǝ (Ofen ‒ Öfen), hōf - hēf (Hof ‒ Höfe). Anstatt des ü wird i gesprochen: flūx - fliç (Pflug ‒ Pflüge), fūs - fīs (Fuß ‒ Füße), krūx - krīç (Krug ‒ Krüge). Vor Nasalen (n, m, ŋ) werden alle Vokale genäselt gesprochen: ᾶ mnt (Abend), ĩn (in), ᾶ ŋg ǝ bũn ǝ (angebunden). Die Umlaute ü, ö werden entrundet und lauten wie ī bzw. ē: fīl ǝ (fühlen), mīl (Mühle), frī (früh), bēz ǝ (böse), mēi ǝ (Mühe), nēi ǝ (nähen), fēj ǝ l (Vögel). Der Diphthong eu wird zu ai entrundet: lait (Leute), hait (heute), ai ǝ r (euer), haizr (Häuser), fai ǝ r (Feuer). 5 Konsonantische Eigenschaften der Mundart Dem mittelhochdeutschen b entspricht in der Mundart im Wortinlaut in der intervokalen Position und vor sonoren Lauten das bilabiale w: k ɛ rwits (Kürbis), blaiw ǝ (bleiben), traiw ǝ (treiben), līw ǝ s (liebes), haw ǝ (haben), krawel ǝ (krabbeln), tsawel ǝ (zappeln), knawr ǝ (knabbern), nawl (Nabel), hawr (Hafer), graw ǝ (graben), šnawl (Schnabel), š ᾱ w ǝ (schaffen), gsdorw ǝ (gestorben). Im Wortanlaut und zwischen Konsonanten wird das mittelhochdeutsche b in der Mundart wie b gesprochen: ɛ rbs ǝ (Erbse), šafbok (Schafbok), bart (Bart), härbst (Herbst), b ɛ rx (Berg), bezr (besser), bledr (Blätter), bīn ǝ (Biene), g ǝ broj ǝ (gebrochen), bin (bin), blat (Blatt), bēz ǝ (böse), blaiw ǝ (bleiben), baiz ǝ (beißen), bärn (Bären), brī (Brüh), b ɛ rsd ǝ (Bürste). Im Wortauslaut wird das b wie stimmloses explosives p gesprochen: korp (Korb), blaip (bleib), di rap (die Raben). Das mittelhochdeutsche d weist auch drei Varianten auf. Erstens wird es im An- und Inlaut und vor r, l als stimmloser Lenes gesprochen: n ᾱ dl (Nadel), odr (oder), šuldr (Schulter), doršt (Durst), dorç (durch), damp (Dampf), darm (Darm), lad ǝ (laden), š ᾱ d ǝ (Schaden), därfst (darfst), gr ᾱ t (gerade), gūd ǝ (gute). Zweitens wird im Auslaut das d zum stimmlosen t: gr ᾱ t (gerade), gūt (gut), šnūt (Schnut), blēt (blöd). Drittens ist das d in der Lautverbindung nd assimiliert: un ǝ (unten), hinr (hunter), kinr (Kinder), fin ǝ (finden), gšdan ǝ (gestanden). Anstatt der mittelhochdeutschen f und v wird im Inlaut zwischen Vokalen in der Mundart das bilabiale w gesprochen: šlawe (schlafen), kouw ǝ (kaufen), louw ǝ (laufen), lewl (Löffel), ow ǝ (Ofen), seiw ǝ (Seife). In anderen Fällen wird das mundartliche f gesprochen: färdiç (fertig), gfune (gefunden), flaš (Flasche), flīj ǝ (fliegen), fīr (vier). Das mittelhochdeutsche g im Anlaut und zwischen Vokalen wird in der Mundart als stimmloses g (ĝ) gesprochen: ĝr ᾱ w ǝ (Graben), ĝšär (Geschirr), ĝlaiç (gleich), ĝ ǝ nuk (genug), ĝūd ǝ (gute). Nach den Velaren (a, o, u) wird das g als Der historische Lautbestand der wolgadeutschen Inselmundart von Marxstadt 211 stimmhafter Spirant ɤ gesprochen: ma ɤǝ r (mager), kla ɤǝ (Klage), j ᾱɤǝ (jagen), n ᾱɤǝ l (Nagel), g ǝ lō ɤǝ (gelogen), ou ɤǝ (Auge), w ᾱɤǝ (Wagen). Nach palatalen Lauten und r wird das g als j gesprochen: flējē (Pflege, g ǝ lēj ǝ (gelegen), mōrj ǝ (Morgen), s ȏ rj ǝ (Sorge), fējlj ǝ r (Vögelchen). Im Auslaut und vor t nach velaren Lauten wird g als x gesprochen: gsaxt (gesagt), g ǝ nux (genug), flūx (Pflug). Im Auslaut nach den palatalen Vokalen und vor ç wird das g als ç gesprochen: flīç (flieg), štīç (stieg), weç (Weg), bärç (Berg). Im Auslaut wird das g zum stimmlosen k: tsik (Ziege). Für die Konsonanten p, t, k hat die Mundart stimmlose Lenes ḇ , ḏ , ḡ vor r und l: trugn ǝ (trockene), ḡ leid (Kleid), ḡ lumb ǝ (Klumpen), ḡ raw ǝ l ǝ (krabbeln), ḏ ring ǝ (trinken), ḏ raiw ǝ (treiben), šul ḏ r (Schulter), fa ḏ r (Vater), mu ḏ r (Mutter), ble ḏ r (Blätter), win ḏ r (Winter), ḏ oxdr (Tochter), we ḏ r (Wetter), flas ḏ r (Pflaster), šwes ḏ r (Schwester). In der Verbindung st, sp weist die Mundart anstatt t, p stimmlose Lenes ḏ , ḇ : š ḏ el ǝ (stehlen), š ḏ ēn (stehen), frš ḏ ē ǝ (verstehen), ḇ š ḏ el ǝ (bestellen), š ḏ rump (Strumpf), ḡ š ḏ orw ǝ (gestorben), š ḇ īl ǝ (spielen), š ḇ u ḡǝ (spuken), š ḇ atsīr ǝ (spazieren), š ḇ ūlj ǝ (Spulchen). Ch wird nach palatalen Vokalen als ç (ich-Laut) gesprochen: gšiç ḏǝ (Geschichte), iç (ich), miç (mich), dorç (durch), miliç (Milch), fliçt (Pflicht), nach den velaren Vokalen aber als ach-Laut (x) gesprochen: naxt (Nacht), hōx (hoch), buxt (Bucht). Im Inlaut nach palatalen Vokalen wird ch als mundartliches j gesprochen: nij ǝ mär (nie mehr), šēfj ǝ r (Schäfchen). Im Inlaut nach velaren Vokalen wird ɤ gesprochen: kū ɤǝ (Kuchen), g ǝ bro ɤǝ (gebrochen), wo ɤǝ (Woge), amrma ɤǝ r (Eimermacher). Dem mittelhochdeutschen s entspricht das mundartliche s im In- und Auslaut, sowie nach den Konsonanten: saj ǝ (sage), sorj ǝ (Sorge), saxt (sagt), sump (Sumpf), flasdr (Pflaster), ärbse (Erbse), härbst (Herbst). Im Inlaut wird das s stimmhaft gesprochen (z): wiz ǝ (Wiese), g ǝ wēz ǝ (gewesen), b ǝ zr (besser), bēz ǝ (böse), drauz ǝ (draußen), baiz ǝ (beißen), haizr (heißer), wazr (Wasser). Vor den Konsonanten t, p, w, l, m, n wird s zu š (sch): štark (stark), š ḏ at (Stadt), š ḏ ilj ǝ (Stühlchen), š ḏ ūt (Stute), bärš ḏǝ (Bürste), šwarts (schwarz), šlex ḏǝ (schlechte), šl ᾱ x (Schlag), šl ᾱ v ǝ (schlafen), š ḇ u ḡǝ (spuken), šmal (schmal), šn ᾱ wl (Schnabel), šnēi ǝ (schneien). Im Auslaut lautet das s wie ts: gents (Gänse), kärwits (Kürbis), umēts (Ameise). Den mittelhochdeutschen l, m, n, r entsprechen in der Mundart dieselben Laute, jedoch wird das l nach velaren Vokalen velar: solt (sollte), walt (Walt), šult (Schuld), alt (alt). Das r ist nur als Vorderzungenlaut vertreten. Der mittelhochdeutschen Affrikata pf entspricht in der Mundart f im Anlaut: f ᾱ l (Pfahl), f ǟ rt (Pferd), fat (Pfad), flanz ǝ (Pflanze), f ǝ fr (Pfeffer), flūx (Pflug), flīj ǝ (fliegen), faif (Pfeife), flaum ǝ (Pflaume). Im Auslaut wird p oder f gesprochen: šarf (scharf), gramf (Krampf), damf (Dampf), dap (Dapf), kump (Kumpf), š ḏ rump (Strumpf), š ḏ ump (stumpf), sump (Sumpf). Im Inlaut ist das mittelhoch- 212 Alexander Minor deutsche pf nicht verschoben; p wird als abgeschwächtes b ( ḇ ) gesprochen: še ḇǝ (schöpfen), šlū ḇǝ (schlupfen), hō ḇǝ (Hopfen), š ḏ ō ḇǝ (stopfen). Im Inlaut spricht man in der Mundart den stimmhaften Spiranten sh, der dem russischen ж ähnlich ist: dīж ǝ (Tische), fiж ǝ (Fische), flaж ǝ (Flasche). Im Allgemeinen muss hervorgehoben werden, dass für b, d, g stets die stimmlosen Lenes ḇ , ḏ , ḡ erscheinen. 6 Herkunftsbestimmung der Mundart Abschließend könnte man noch auf die historische Stellung des Dialekts eingehen. So deuten angesichts der mitteldeutschen Prägung insbesondere die ausbleibende Koronalisierung (ch = [ç]) sowie die Verwendung des apikalen / r/ auf hohes Alter der Dialekte hin, die sich an der Herausbildung der marxstädter Mundart beteiligt haben, da sich die rezenten mitteldeutschen Dialekte des Binnenlandes von diesen Eigenschaften weithin gelöst haben. Versuchen wir nun zu ermitteln, zu welcher Dialektgruppe die marxstädter Mundart gehören könnte. Die Hauptzüge dieser Mundart sind: 1. Die vollständige Verschiebung des t zu z im Anlaut und im Auslaut nach Vokalen, sowie im Inlaut in der intervokalen Stellung. 2. k ist zu ch im Inlaut zwischen Vokalen und im Auslaut nach einem Vokal und nach r, l verschoben. 3. Die Verschiebung des p zu f im Anlaut zeugt davon, dass es eine oberdeutsche Mundart ist. 4. Das unverschobene pp im Inlaut ist ein Merkmal der mitteldeutschen Dialekte. 5. Die Verschiebung des p zu f im Anlaut lässt die Mundart von Marxstadt als eine Mundart mit überwiegend ostmitteldeutschen Merkmalen bestimmen. Diese Erscheinung ist nach Behaghel (1958: 28) das wichtigste Merkmal, welches die westmitteldeutschen Mundarten, in denen das p nicht verschoben wurde (perd - penning ‒ pund), von den ostmitteldeutschen Mundarten, in denen das p zu f oder pf verschoben wurde, unterscheidet: ferd (Pferd) - fenning (Pfenning) - fund (Pfund). Es sei bemerkt, dass auch in anderen wolgadeutschen Mundarten, wie z. B. in der Mundart von Preuss, diese Erscheinung vorkommt (vgl. Minor 2011: 9). Leider lässt sich die Mundart nicht näher bestimmen, denn sie hat im Laufe ihrer Entwicklung einen langen Weg der Mischung von verschiedenen Dialekten durchmachen müssen, die von den ersten Siedlern der Kolonie mitgebracht worden sind. Im alltäglichen Gebrauch hat sich die Mundart zum wichtigsten Der historische Lautbestand der wolgadeutschen Inselmundart von Marxstadt 213 Kommunikationsmittel der Einwohner der einflussreichsten deutschen Kolonie an der Wolga entwickelt. Da Katharinenstadt in kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen ein Vorbild für die anderen deutschen Siedlungen war, wurde auch seine Mundart zu einem Muster, dem die Nachbarkolonien gerne folgten. Literatur Behaghel, Otto (1958): Die deutsche Sprache. 13. Aufl. Halle a. d. Saale. Bogoslovskaya, Zoya/ Alexandrov, Oleg (2009): Deutsche Inselmundarten in Sibirien. In: Unterfränkisches Dialektinstitut Würzburger Sendbrief vom Dialektforschen Nr. 20 (Dezember). S. 3-9. http: / / bibliothek.rusdeutsch.eu/ pdf/ pdf.php (20.06.2018). Diesendorf, Viktor (2015 ‒ 2016): Wörterbuch der wolgadeutschen marxstädter Mundart. In zwei Bänden. Hrsg. von Alexander Minor. Saratow. Dulson, Andreas (1941): Problema skreščenija dialektov po materialam jazyka povol’žskich nemcev. In: Izvestija Akademii nauk Sojuza SSR. Otdelenie literatury i jazyka. H. 3. S. 82 ‒ 96. Eisfeld, Alfred (Hrsg.)/ Pleve, Igor (Bearb.) (2001): Einwanderung in das Wolgagebiet: 1764 ‒ 1767. Bd. 2. Kolonien Galka - Kutter. Göttingen. Minor, Alexander (2011): Andreas Dulsons ethnolinguistische Studien. Saratow. Stumpp, Karl (2004): Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862. 8. Aufl. Stuttgart. Wolgadeutscher Sprachatlas [WDSA] (1997): Aufgrund der von Georg Dinges 1925 ‒ 1929 gesammelten Materialien. Bearb. und hrsg. von Nina Berend. Unter Mitwirkung von Rudolf Post. Tübingen/ Basel. Žirmunskij, Viktor (1931): Processy jazykovogo smeščenija v franko-švabskich govorach južnoj Ukrainy. In: Jazyk i literatura 7. Leningrad. S. 93 ‒ 109. (Internet-)Quellen Historisches Staatsarchiv der Wolgadeutschen, Archivbestand 1821, Liste 1, Akte 64, Einheit 14, S. 21 ‒ 30. Historisches Staatsarchiv der Wolgadeutschen. Archivbestand 1821, Liste 2, Einheit 14, Seite 52/ Umschlag. https: / / ru.wikipedia.org/ wiki/ Marx (19.06.2018). http: / / wolgadeutsche.net/ history/ tabl_mutterkolonien.htm (12.05.2018). Die Dynamik des gesprochenen Deutschen bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien Angélica Prediger (Bamberg)/ Sebastian Kürschner (Eichstätt-Ingolstadt) Zusammenfassung Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit Sprachkonstellationen in böhmischen Migrationsgebieten in Rio Grande do Sul (RS), Brasilien. Die Sprachkonstellationen ergeben sich aus der Interaktion des vor Generationen nach Brasilien „importierten“ nordböhmischen Dialekts mit Kontaktsprachen und -varietäten. Untersucht wird die Sprache der Nachfahren repräsentativer Einwanderergruppen aus Nordböhmen, die ab 1870 in größeren Zahlen nach Brasilien einwanderten. Ziel des Aufsatzes ist es, einen Einblick in die Dynamik des gesprochenen Deutschen in den drei Sprechergemeinden Imigrante, Venâncio Aires und Agudo zu geben. Hierzu werden drei Faktoren näher betrachtet: 1.) die Bewahrung dialektaler Merkmale; 2.) der Sprachkontakt zum Hunsrückischen als regionaler deutscher Ausgleichssprache; 3.) die Übernahme von Merkmalen der deutschen Standardsprache. Es zeigt sich, dass die Gewährspersonen über ein breites Varietätenspektrum verfügen. Der nordböhmische Dialekt spielt dabei noch als Reliktvarietät eine Rolle, die v. a. von der älteren Generation in Erinnerungsformen hervorgerufen wird, während die allgemeine Entwicklung - von Ort zu Ort in unterschiedlichem Maße - in Richtung der Durchsetzung hunsrückischer und standardnaher Formen geht. 1 Einführung Der Beginn der deutschsprachigen Auswanderung nach Brasilien wird auf das Jahr 1824 datiert. Als wichtige Motive gelten auf europäischer Seite durch Missernten und Kriege bedingter Hunger sowie mangelnde Religionsfreiheit, auf brasilianischer Seite die Erfordernis von Arbeitskräften (v. a. nach der Abschaffung des Sklavenhandels) und Soldaten, die die brasilianische Unabhängigkeit verteidigen sollten (vgl. Cunha 2006). Aufgrund hoher Staatsausgaben im Reich Dom Pedros II. sowie interner Konflikte - wie der Farrapen-Revolution in der Provinz S-o Pedro do Rio Grande do Sul (1835-1845), die eine Trennung des Bundeslandes vom Rest Brasiliens forderte - ebbte die deutschsprachige Einwanderung in Brasilien zwischen 1831 und 1840 auf ein Minimum ab. Nach 1851 nahm die Einwanderung wieder zu und ging nun mit einer großflächigen Besiedlung und Bebauung unbewohnter Grundstücke einher. Im vorliegenden Artikel wollen wir uns auf die Auswanderung aus Böhmen konzentrieren. Die böhmische Auswanderung nach Brasilien erfolgte hauptsächlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Besiedlung vollzog sich 216 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner in den drei südlichsten Bundesländern Brasiliens - Rio Grande do Sul (RS), Santa Catarina (SC) und Paraná (PR) - in Form einer „horizontalen Territorialisierung“ (Altenhofen 2014), also der Besiedlung gar nicht oder wenig besiedelter Orte durch eine Sprechergemeinschaft. 1 Wir beschäftigen uns im Folgenden mit drei Ortspunkten in RS. Die böhmische Einwanderung nach RS begann um 1872. Die Herkunftsorte der Einwanderer liegen in Nordböhmen, insbesondere in den damaligen Bezirken Gablonz und Reichenberg. In Brasilien liegen die ersten Siedlungsorte in der Nähe der Hauptstadt von RS, Porto Alegre, sowie in den Gebirgen, die bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich von Auswanderern aus dem Hunsrück besiedelt wurden. Migration aus Böhmen war bis Ende der 1880er Jahre zu verzeichnen und zog sich in Rio Grande do Sul somit über ca. zwanzig Jahre hin. Die ersten Böhmer ließen sich im Caí- und im Paranhanatal nieder. Einige Siedler zogen in den 70er Jahren desselben Jahrhunderts weiter in Richtung Westen des Bundeslandes, z. B. ins Taquarital, ins Pardotal und ins Jacuítal. Daneben waren diese Regionen auch für Hunsrücker aus der Nähe von Porto Alegre sowie für weitere Einwanderer attraktiv, die direkt aus Westfalen, Pommern, Sachsen und anderen Regionen kamen, sodass mehrere unterschiedliche Sprechergemeinschaften entstanden. Die vor 1850 von deutschen Einwanderern besiedelten Orte bildeten schließlich gemeinsam mit den nach 1850 gegründeten Siedlungen die sogenannten ‚Alten Kolonien‘ in RS. Der beschriebene ‚Migrationszirkel‘ (Altenhofen 2014) wiederholte sich im Anschluss sowohl bei hunsrückischen als auch bei böhmischen Auswanderern. Aus Berichten von an dieser Studie beteiligten Gewährspersonen (GPs) über ältere Verwandte wird deutlich, dass es böhmische Einwanderer selbst jenseits der Staatsgrenze in den paraguayischen Städten Obligado sowie Bella Vista und im argentinischen Eldorado gab. 2 Abbildung 1 zeigt das Ortspunktnetz der bekannten böhmischen Besiedlung im La Plata-Becken. Im Gegensatz zu anderen Sprachgruppen, etwa der hunsrückischen oder der pommerschen (zur Übersicht vgl. Rosenberg 2018), ist über die Sprache der böhmischen Sprachgruppe in RS kaum etwas bekannt. 3 Aus diesem Grund soll sie im Rahmen der vorliegenden Arbeit anhand von Tonaufnahmen aus drei 1 Der Begriff „vertikale Territorialisierung“ wird dagegen verwendet, wenn eine neue Sprachgemeinschaft bereits bestehenden Sprachgemeinschaften des übernommenen Gebietes übergeordnet wird. 2 Vermutlich haben böhmische Auswanderer der ‚Alten Kolonien‘ hier denselben Weg genommen wie einige Nachkommen der ersten hunsrückischen Einwanderer. Sie wanderten Ende des 19. Jahrhunderts in den Nordwesten von RS (die ‚Neuen Kolonien‘) und überschritten die Grenzen nach Argentinien und Paraguay. 3 Vergleiche zu böhmischen Gruppen weltweit Eller-Wildfeuer (2017) unter Einbezug von S-o Bento do Sul in Santa Catarina (maßgeblich südböhmisch-bairische Auswanderung) sowie Wildfeuer (2017). Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 217 Ortspunkten in RS charakterisiert werden, nämlich Colinas & Imigrante (Bo 0 4), Venâncio Aires (Bo 0 6) und Agudo (Bo 0 7). Abb. 1: Ortspunktnetz der böhmischen Besiedlung im La Plata-Becken; RS_Bo 0 4, RS Bo 0 6 und RS Bo 0 7 sind die für die aktuelle Analyse herangezogenen Ortspunkte Ziel der Studie ist es, einen Überblick über die Dynamik der Variations- und Wandelprozesse der Sprache zu geben, indem folgende drei Tendenzen näher 218 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner betrachtet werden: 1.) die Erhaltung dialektaler Merkmale; 2.) die Übernahme von Merkmalen des Hunsrückischen durch Dialektkontakt; 3.) die Übernahme von Merkmalen der deutschen Standardsprache. Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung ist die Annahme, dass die Sprecher(innen) über ein sprachliches Varietätenspektrum verfügen, das ihnen nähe- (eher dialektale) und distanzsprachliche (eher standardsprachliche) Varietäten zur Verfügung stellt. Eine wichtige Rolle spielt dabei neben den portugiesischen und deutschen Standardvarietäten auch das Hunsrückische, das in RS stark verbreitet ist und von zahlreichen Sprechergemeinschaften als standardnah aufgefasst wird. Es handelt sich um eine brasilianische Koiné mosel- und rheinfränkischer Dialekte - also aus den Varietäten, die die Mehrzahl der Einwanderer nach Brasilien mitgebracht hat. Hunsrückisch hat den Charakter einer Gemeinschaftssprache vieler aus dem deutschsprachigen Gebiet eingewanderter Brasilianer gewonnen (vgl. Altenhofen 1996; Auer 2005). Die Mehrsprachigkeit Südbrasiliens ist somit nicht nur durch den Kontakt zwischen dem dominanten Portugiesischen und weiteren Einwanderersprachen geprägt, sondern beinhaltet auch Elemente einer „inneren Mehrsprachigkeit“ (Wandruszka 1979) innerhalb der Einwanderersprachen. Der vorliegende Beitrag will hier ansetzen, indem bei böhmisch geprägten Sprechergemeinschaften in RS Sprachkontaktprozesse zu anderen deutschen Sprachvarietäten untersucht werden. Ferner soll versucht werden, das Profil der Sprecher(innen), ihre räumliche Verteilung und ihre Statusposition in der Sprachkonstellation zu erfassen. Damit sollen auch mögliche Wege zu einer Sprachpolitik der Mehrsprachigkeit aufgezeigt werden: Eine mehrsprachige Gesellschaft stellt besondere Anforderungen an die Sprachpolitik, die nicht nur den unterschiedlichen Sprechergemeinschaften eine Stimme geben, sondern auch absichern sollte, dass diese Stimme von der Mehrheit der Gesellschaft wahrgenommen werden kann (vgl. Altenhofen 2013). Das erfordert sowohl, dass die Minderheitssprachgemeinschaften sich ihrer Sprachen und ihres Status bewusst sein müssen, als auch eine offene Haltung gegenüber den Minderheitensprachen bei der vorherrschenden Mehrheit der Gesellschaft - hier der dominierenden portugiesischen Sprachgemeinschaft. Damit sich eine solche Politik durchsetzen kann, die in Brasilien aus einer langen Kultur hervorgeht, in der portugiesische Einsprachigkeit politisch gefördert wurde, sind Kenntnisse zur Struktur und Dynamik der Sprechergemeinschaften von Minderheitensprachen vonnöten, wie sie im vorliegenden Beitrag ermittelt werden sollen. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 219 2 Methode In Südbrasilien haben zahlreiche Sprachkontakte stattgefunden, die neben der Mehrheitssprache Portugiesisch und deutschen Varietäten u. a. auch indigene Sprachen und Varietäten des Italienischen umfassen. Dieses Sprachkontaktgebiet ist Teil eines größeren, gleichermaßen durch Sprachkontakt geprägten Gebiets im gesamten La Plata-Becken und umfasst auch Argentinien und Paraguay mit der Mehrheitssprache Spanisch. Aufgrund täglicher Migration und der Nutzung neuer Medien sind hochdynamische Sprachkontakte auch heute noch aktuell und zeichnen eine Gesellschaft aus, in der Einsprachigkeit die Ausnahme darstellt (vgl. Altenhofen 2017). Neuere Forschungsansätze versuchen daher, die hohe Komplexität der Sprachkontaktkonstellationen und ihrer ständigen Neuformierung zu berücksichtigen. Eine Forschungsmethode, die dieser Komplexität besser gerecht zu werden versucht als die traditionell-dialektologischen Methoden, ist die sog. Pluridimensionale Dialektologie (vgl. Thun 2010), die den hier vorliegenden Daten und ihrer Bearbeitung zugrunde liegt. Während traditionelle Ansätze der europäischen Dialektologie - etwa in zahlreichen großen Sprachatlasprojekten - darauf abzielten, ein Bild von einem ‚reinen‘ Dialekt zu zeichnen, der abseits der Städte fast frei von Kontakten zu anderen Sprachen oder Varietäten über Generationen hinweg bewahrt wurde, will die Pluridimensionale Dialektologie der soziolinguistischen Komplexität besser gerecht werden, indem „der mobile, topodynamische Sprecher, der migriert und seinen Wohnort im Laufe des Lebens wechselt“, 4 erfasst wird (Altenhofen/ Thun 2016: 2). Mischvarietäten, Prozesse des Sprachkontakts zwischen Minderheits- und Mehrheitssprachen, regionale Oralisierungsnormen und die Variation hinsichtlich unterschiedlicher Sprechstile werden in der Pluridimensionalen Dialektologie genauso einbezogen wie „das sprachliche Verhalten der topodynamischen (demografisch mobilen) Gruppen in Kontrast zu den topostatischen (wenig mobilen) Gruppen“ 5 (Thun 1998: 706). Die Methode eignet sich daher besonders, um der Dynamik von Sprachkontaktgebieten gerecht zu werden. Im Rahmen der Pluridimensionalen Dialektologie können die in Tabelle 1 zusammengefassten Dimensionen berücksichtigt werden: 4 „[O] falante móvel, topodinâmico, que migra e muda de lugar na sua vida“ (Übersetzung durch die Autoren). 5 „[E]l comportamiento lingüístico de los grupos topodinámicos (demográficamente móviles) contrastando com el de los grupos topostáticos (poco móviles em el espacio)“ (Übersetzung durch die Autoren). 220 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner Dimension Parameter Diatopisch Topostatisch (Sprecher mit festem Wohnsitz) Diatopisch-kinetisch Topodynamisch (Sprecher mit Wohnsitzwechsel im Kontrast zu topostatischen Sprechern) Diastratisch Ca = hoher soziokultureller Status Cb = niedriger soziokultureller Status Diagenerationell GII = ältere Generation (> 50 J.) GI = jüngere Generation (18-36 J.) Diasexuell Männliche versus weibliche Sprecher Dialingual Einsprachige versus zwei- oder mehrsprachige Sprecher Diaphasisch Stilistische Variation (Fragebogenerhebung versus Vorlesesprache versus freies Gespräch) Diareferentiell Sprache als Objekt versus Metasprache Diareligiös Katholisch versus protestantisch Tab. 1: Dimensionen und Parameter der Pluridimensionalen Dialektologie Um möglichst viele dieser Dimensionen bei der Erhebung zu berücksichtigen, wurden a) mehrere Personen pro Ort in die Erhebung einbezogen sowie b) unterschiedliche Erhebungsformen genutzt, um stilistische Variation abbilden zu können. Durch Einbezug mehrerer GPs aus je zwei Altersspannen und je zwei Bildungsniveaus soll die Repräsentativität der Daten erhöht werden. An jedem Ortspunkt wurden dazu jeweils vier Interviews durchgeführt, wobei immer zwei Personen gleichzeitig befragt wurden. Die Informant(inn)en wurden so ausgewählt, dass Variation bezüglich der sozialen Faktoren Geschlecht [ein Mann/ eine Frau], Alter [ältere Generation/ jüngere Generation] und soziokulturelle Schicht [niedriges Bildungsniveau/ hohes Bildungsniveau] gegeben war. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die Auswahlkriterien: CaGII [mindestens 50 Jahre alt] [höhere Schulbildung (über Sekundarstufe hinaus)] [ein Mann und eine Frau] CaGI [zwischen 18 und 36 Jahre alt] [höhere Schulbildung (über Sekundarstufe hinaus)] [ein Mann und eine Frau] CbGII [mindestens 50 Jahre alt] [niedrigere Schulbildung (bis Sekundarstufe)] [ein Mann und eine Frau] CbGI [zwischen 18 und 36 Jahre alt] [niedrigere Schulbildung (bis Sekundarstufe)] [ein Mann und eine Frau] Tab. 2: Einteilung der Gewährsleute Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 221 Das Schema ist von links nach rechts nach absteigendem Alter und von oben nach unten nach absteigendem Bildungsniveau strukturiert. Die Einordnung „über Sekundarstufe hinaus“ umfasst im aktuellen Kontext Berufs- und Fachschulausbildungen bis hin zu Hochschulstudien. Die Interviews wurden anhand eines Fragebogens durchgeführt, dessen Struktur und Inhalt sich am Fragebogen des ALMA-H-Projekts 6 orientiert und sechs Teile umfasst: A) Soziologische Informationen; B) Charakterisierung des Gebiets; C) Lexikalische Daten; D) Phonologische Daten; E) Grammatische Daten; F) Lektüre (Vorlesen). In Teil A werden Fragen zu Lese- und Schreibfertigkeiten, zu einer möglichen Existenz anderer Sprechergruppen am Ortspunkt und zu Schibboleths anderer deutscher Sprachvarietäten im Kontakt gestellt. In Teil B wird der Sprecher um Informationen zur Verteilung seiner Sprechergruppe sowie zur Geschichte des Ortes gebeten. Teil C enthält Fragen zur lexikalischen, Teil D zur phonologischen und Teil E zur weiteren grammatischen Variation. In Teil F lesen die GPs einen standarddeutschen Text vor. Unterschiedliche Sprechstile werden erhoben, indem das Interview zwischen Frage-Antwort-Sequenzen, freien Gesprächen, Übersetzungs- und Lektüreaufgaben variiert. Durch die Beteiligung mehrerer GPs pro Interview wird eine günstige Atmosphäre geschaffen, um spontane Sprache zu erheben. Die Antworten können z. B. von beiden Informant(inn)en diskutiert, ergänzt und abgegrenzt werden, wodurch unterschiedliche Varianten zutage treten können. Außerdem werden die Befragungen in den Teilen C, D und E in drei Stufen durchgeführt: Zunächst wird die Frage offen gestellt (Stufe 1), um eine spontane Antwort hervorzurufen. Dadurch wird sichergestellt, dass die meistgesprochenen Sprachvarianten der Befragten erhoben werden können. Die zweite Stufe (Insistieren) dient der Erhebung weiterer ortsüblicher Varianten zur gleichen Frage - der Interviewer bittet hier um Angabe von Varianten zu der in Stufe 1 genannten spontanen Antwort, die den Informant(inn)en bekannt sind. Schließlich suggeriert der Interviewer in der dritten Stufe Sprachvarianten aus unterschiedlichen Varietäten (Standardvarietät, nordböhmischer Dialekt, andere Kontaktvarietäten), damit identifiziert werden kann, welche rezeptiven Kenntnisse über die bereits genannten Varianten hinaus vorhanden sind. Solche rezeptiven Kenntnisse können wichtige Hinweise zu der anfangs am Ort vorhandenen Varietät und zu ihrem Wandel geben. Durch diese breit angelegte Erhebungsmethodik wird versucht, der Varietätenvielfalt an den Erhebungsorten gerecht zu werden. 6 Sprachatlas der deutschen Minderheiten im La-Plata Becken - Hunsrückisch (https: / / www.ufrgs.br/ projalma/ ), koordiniert von Cléo Vilson Altenhofen (Universidade Federal do Rio Grande do Sul) und Harald Thun (Universität Kiel). Im Projekt werden die hunsrückischen Sprachvarietäten in Brasilien, Argentinien und Paraguay im Kontakt zu anderen deutschen Sprachvarietäten und zum Portugiesischen, Spanischen und Guaraní untersucht. 222 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner 3 Daten und Erhebungsorte Die vorliegenden Daten stammen aus drei Ortspunkten, die den sogenannten Alten Kolonien in RS angehören. Für jeden Ortspunkt wurden acht Gewährsleute ausgewählt. Insgesamt nahmen somit 24 GPs an 12 Interviews teil. Die ersten zwei Gebiete, Imigrante (3.152 Einwohner laut IBGE 7 2016) im Taquarital und Venâncio Aires (69.859 Einwohner laut IBGE 2010) im Pardotal, liegen ungefähr 130 Kilometer von der Hauptstadt von RS, Porto Alegre (mit fast 1,5 Millionen Einwohnern laut IBGE 2016), entfernt. Am dritten Ort, Agudo (17.102 Einwohner laut IBGE 2016) im Jacuítal, beträgt die Entfernung zu Porto Alegre 243 Kilometer. Die drei ausgewählten Orte waren vor der deutschen (ab 1850) und italienischen (ab 1880) Einwanderung neben der indigenen Bevölkerung von Azorern, Portugiesen und Menschen afrikanischer Abstammung besiedelt, die entlang der Taquari-, Pardo- und Jacuíflüsse lebten. RS war Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts Bühne der Auseinandersetzung der portugiesischen und spanischen Kronen um die Besitzung des Territoriums, das damals Província de S-o Pedro do Rio Grande do Sul hieß. Ende des 18. Jahrhunderts wurde dem portugiesischen Heer unbebautes Land (portugiesisch sesmarias) des Taquaritals zur Verteidigung des Territoriums vor den Spaniern übergeben (vgl. Christillino 2004). Das Taquarital diente daraufhin der portugiesischen Krone als strategischer Ausgangspunkt, um Vila do Rio Pardo und das gesamte unter spanischer Macht stehende Territorium um die Pardo- und Jacuíflüsse herum zu erobern. Einer Auseinandersetzung an der Taquari- und Pardotalgrenze folgte der Sieg der portugiesischen Krone und die Übernahme des Territoriums. Die weitere Verteidigung des Territoriums war nun aber durch weitere Übergaben von Sesmarias an das Heer nicht ausreichend gewährleistet. Daher wurde die Region zum Ende des 18. Jahrhunderts durch Azorer besiedelt, die von der portugiesischen Krone große Grundstücke erhielten und dadurch das unbevölkerte Land der Província de S-o Pedro do Rio Grande do Sul weiter nutzbar machen sollten (vgl. Laroque u. a. 2016). Das Ziel der portugiesischen Krone bestand darin, durch stärkere Besiedlung von Rio Grande do Sul, das im La Plata-Becken in der Besitzung der spanischen Krone lag, den Spaniern die wirtschaftliche Macht in diesem Gebiet zu nehmen (vgl. Ahlert/ Gedoz 1999). Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Grundstücke dann in kleinere Grundstücke (portugiesisch lotes) geteilt und an europäische Einwanderer verkauft. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden in den genannten Regionen Menschen afrikanischer Abstammung versklavt. Laut Christillino (2004) waren von allen 7 Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (Brasilianisches Institut für Geografie und Statistik). Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 223 Sklaven im Bundesland Rio Grande do Sul (insgesamt 70.697 Sklaven) 7 % (2.701 Sklaven) im Taquarital zu finden. Die indigene Bevölkerung lebte, soweit sie nicht von portugiesischen Expeditionsmitgliedern verhaftet worden war, im 18. und 19. Jahrhundert zumeist abgeschieden im Wald. Die drei Orte, die im vorliegenden Beitrag besprochen werden, wurden erst ab 1850 von Einwanderergruppen aus deutschsprachigen und italienischen Herkunftsgebieten besiedelt. Deutschsprachige Einwanderer stammten aus dem damaligen deutschen Staatsgebiet (v. a. aus Pommern sowie den heutigen Bundesländern Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern) und aus Österreich. Imigrante wurde 1872, Venâncio Aires 1873 und Agudo 1876 durch böhmische Einwanderer besiedelt. Daneben gab es Einwanderung aus Dänemark, Belgien, den Niederlanden und Polen. Einflussreich ist überdies die italienische Sprachgruppe, die sich ab 1880 niederließ und einzelne Orte nördlich des Taquari- und des Jacuítals gründete. Insgesamt sind die Regionen, in denen sich die Orte befinden, also durch die Diversität unterschiedlicher Einwanderergruppen geprägt. In diesem vielfältigen Siedlungskontext lassen sich folgende Mehrheitsgruppen erkennen: in Imigrante Hunsrücker, Westfalen und Italiener; in Venâncio Aires Hunsrücker, Pommern und Italiener; in Agudo Hunsrücker, Pommern, Sachsen und Italiener. Die drei Orte sind somit gemeinsam durch die Anwesenheit von Hunsrückern geprägt. Die Mehrheit der Hunsrücker nutzt eine relativ standardnahe Varietät des Hunsrückischen, die Altenhofen (1996) mit dem „Typus Deutsch“ kennzeichnet. Dabei ist nicht auszuschließen, dass Sprecher auch Zugriff auf eine stärker dialektale Varietät des Hunsrückischen haben und hatten, die als „Typus Deitsch“ bezeichnet wird (Altenhofen 1996). Dies ist insbesondere in Imigrante und Venâncio Aires der Fall (s. u.). Die drei Orte liegen im Einflussgebiet verschiedener Großstädte: Imigrante liegt in der Nähe von Lajeado, wo sich der „Typus Deitsch“ des Hunsrückischen aufgrund einer Binnenmigration von hunsrückischen Nachfahren aus den ältesten Kolonien durchsetzen konnte. Venâncio Aires liegt in ungefähr gleicher Entfernung zu Lajeado und zu Santa Cruz do Sul, wo vor allem der „Typus Deutsch“ gesprochen wird. Agudo liegt in der Nähe von Santa Maria, wo die deutschsprachige Einwanderung keine wichtige Rolle spielte. Die großen Zentren besitzen ein ausgeprägtes kulturelles Leben, Hochschulen, große Einkaufszentren sowie renommierte Unternehmen. Viele böhmische Nachfahren der jüngeren Generation pendeln täglich in die Großstädte, um ihre Arbeitsstellen oder private Schulen in den jeweiligen Zentren zu besuchen, Ärzte und Geschäfte oder Kulturveranstaltungen aufzusuchen. Die Dominanz des Portugiesischen, die die Städte prägt, hat infolge der ausgebauten Infrastruktur und der weiten Verbreitung von Kommunikationsmedien auch Einfluss auf die kleinen Ortschaften. 224 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner 4 Fallstudien Im Folgenden soll die Variation an den drei Untersuchungsorten anhand einiger ausgewählter Variablen beispielhaft dargestellt werden. Wir präsentieren hier erste Ergebnisse einer größer angelegten Untersuchung und begrenzen uns daher auf wenige Stichproben. Verschiedene Sprechstile sollen dabei beispielhaft anhand unterschiedlicher Erhebungstechniken dargestellt (zwei Frage-Antwort- Sequenzen, eine Übersetzung, ein freies Gespräch, metasprachliche Kommentare zur Ergänzung) und ihre Nutzung zur Erhebung der breiten sprachlichen Variation am Ort verdeutlicht werden. Die vier ausgewählten Fallstudien geben einen Einblick in die Rolle unterschiedlicher Varietäten im Sprachrepertoire der Gewährspersonen. Durch qualitative Studien von Ausschnitten aus dem Datenmaterial soll untersucht werden, ob dialektale Varianten in spontanen Gesprächen verwendet werden oder nur noch als Reliktformen in spezifischen Sprechstilen auftauchen. Der Schwerpunkt liegt dabei im Folgenden auf Varianten, die dem nordböhmischen Dialekt der ursprünglichen Zuwanderer entstammen, und ihrer Abgrenzung von hunsrückisch und standardsprachlich geprägten Varianten. Der nordböhmische Dialekt liegt im Kontinuum ostmitteldeutscher Dialekte mit thüringischen, obersächsischen und schlesischen Varietäten. Zur Ermittlung relevanter Varianten wurden Nachschlagewerke (Dialektwörterbücher, Sprachatlanten) zu diesen drei Dialektgebieten herangezogen. Da Böhmen der Habsburger-Monarchie angehörte, ist daneben auch bairischer Einfluss nicht ausgeschlossen. Wir beginnen mit einer lexikalischen Variable, die das Lexem barfuß behandelt. Die Variation wird anhand von Ausschnitten aus den Interviews mit der älteren Generation dargestellt. Im Ausschnitt wird die dreistufige Erhebungsmethode deutlich: offene Frage (Z. 01-04), Insistieren (Z. 05-09), Suggerieren (Z. 10- 21). Die Transkription folgt einer vereinfachten Basistranskription nach GAT 2 (vgl. Selting u. a. 2009), bei der die Standardsprache zugrunde gelegt wird und Abweichungen von der Standardsprache durch Abweichungen von der Orthografie (sowie bei Notwendigkeit durch IPA-Symbole) markiert werden. Die Interviewerin wird durch I, männliche Sprecher durch M und weibliche Sprecher durch F markiert. Wir beginnen mit der Sequenz aus Imigrante. ((1. Abfrage Lexem barfuß in Imigrante, CbGII, 00: 01: 23)) 01 I: unn wennme nIx an die FIIS hat, dann isme? 02 M: [BARfisich ]. 03 F: [BARfusich]. 04 M: BARfusich; BARfisich. (…) 05 I: unn kamme das noch ANnerste sahn? 06 M: in deutsch wisst ich NET. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 225 07 F: das BARfusiche, 08 der hat kein SCHLAPpe an die fiis: ; 09 M: kein SCHUHzeuch. 10 F: hat kein SCHUHzeuch an. 11 I: SCHUHzeuch? 12 F: <<lachend> jo; SCHUHzeuch>. 13 I: unn hat ihr schon gehert bOrFUsich? 14 M: oh ja, STIMMT; 15 BORfusich ja. 16 F: ja. 17 gehert AUCH schon, jo. (.) 18 guck, der hat das AUCH schon selber gesacht [aber]: 19 I: [ore ] borFISich? 20 M: dAa noch NET. 21 F: borfisich NET. 22 I: un BORBS? 23 F: BORBS, jo: ; 24 das hab ich schon geHERT ja. 25 die MUTter hat das immer gesaht= 26 =war wieder BORBS gang, ja=guck. 27 <<lachend> die alt alVIna mutter>. 28 dort die SCHLAPpe anziehen; 29 net immer BORBS gehen. 30 I: un BOURBS? 31 F: ((verneint)) 32 I: BOURBS net (.) 33 dann BORBS; 34 F: BORBS ja. In Imigrante erscheinen als spontane Antworten für „barfuß“ zwei Sprachvarianten, nämlich „barfisich“ und „barfusich“, die aber hinsichtlich der diasexuellen Dimension variieren. Es handelt sich um Ableitungen der standardsprachlichen Form barfuß, die mit Umlaut (und Entrundung) bzw. ohne Umlaut realisiert werden und auch im Hunsrückischen vorkommen. In der Suggerierstufe wird eine Variante der genannten Form mit velarisiertem a vorgeschlagen. „Borfusich“ wird hier akzeptiert, „borfisich“ hingegen abgelehnt. Als weitere Suggeriervariante wird daraufhin borbs genannt. Diese Variante geht auf die nordböhmische dialektale Varietät zurück. 8 Die Variante „borbs“ wird von der weiblichen GP 8 Vergleiche Sudetendeutsches Wörterbuch (Bd. II, Engels/ Ehrismann 1984: 82f.) neben barbs und bourbs und Thüringisches Wörterbuch (Bd. I: 561) neben barbs und barfüßig. 226 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner sofort akzeptiert, „bourbs“ hingegen abgelehnt. Die männliche GP kennt diese lexikalische Variante gar nicht. Der Ausschnitt zeigt, dass dialektales Wissen zum nordböhmischen Dialekt zum Teil noch vorhanden ist, jedoch in diesem Fall nur bei einer GP, lediglich als rezeptiv bekannte Variante und unter Rückgriff auf die Sprache der älteren Generation (hier: Mutter). ((2. Abfrage Lexem barfuß in Venâncio Aires, CbGII, 00: 00: 58)) 01 I: wemme nIchts an die fIIs hat(.) dann IS me? 02 M: BORfisich; 03 BARfisich. 04 I: wie sachst DU? 05 AUCH barfisich? 06 F: JA. 07 I: hat ihr auch schon mal ein ANdres wott dafor dafür gewählt- 08 für BARfisich? 09 F: BARfisich. 10 M: BORBS. 11 F: borbs un BARfisich. 12 I: kennt ihr auch BORfuß? 13 M: BORfuß; 14 DOT ist der borfuß. ((lacht)) 15 F: ah=JA. 16 I: oder bOrFIsich? 17 M: borfisich JA. 18 bOrfuß is wie singuLAR? 19 un borfisich wie pluRAL. 20 ZWEI fiise. 21 so versteh ICHS. In Venâncio Aires wird die böhmisch-dialektale Variante borbs nicht erst in der letzten Stufe, sondern bereits als zweite spontane Antwort in der Insistierstufe genannt. Das deutet darauf hin, dass borbs teilweise noch produktiv genutzt wird - hier ohne Unterschied zwischen den Geschlechtern. Gleichwohl werden auch an diesem Ort die bereits im ersten Beispiel genannten Ableitungen in der ersten Stufe erwähnt, „borfisich“ und „barfisich“. Der Unterschied zwischen „borfuß“ und „borfisich“ wird vom männlichen Informanten am Numerus festgemacht. ((3. Abfrage Lexem barfuß in Agudo, CbGII, 00: 01: 39)) 01 I: unn wemme nIx an die FIIS hat dann isme? 02 M: BARfiisich (.) 03 F: <<lachend> BARfiisich>. 04 M: der alte Edmund tät sahn (.) me geht BAABS. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 227 05 F: BARBS ja. (.) 06 BARBS gihen. (-) 07 ich tu BARBS gihen. 08 (-) 09 I: BARBS gehen? (.) 10 M: BARBS gehen. 11 I: WER hat das gesaht? 12 M: hier, der NACHbar. 13 F: mein paba sein ONkel (.) hat das gesaht. (.) 14 mein vater=mein paba sein ONkel. 15 I: (…) 16 F: BARBS gihen. 17 M: kann net BARBS gehen. 18 F: bei die REni gehen; (.) 19 DÄser esse. 20 I: AHA. 21 F: hab ich geHERT; 22 wollt DÄser esse; 23 DOSS esse. 24 I: unn kamme das noch ANnerste ausspreche? 25 (-) 26 F: BARfisich gehen. 27 M: weiter WEISS ich nich; 28 I: so=wie BORfuß. 29 F: BARfuß ja. 30 M: NAUN. 31 das WETT nich so gesproch. 32 F: das HERTme hier nich mehr. 33 das is denk weit brasiLIAnisch. 34 I: unn BARfuß? 35 M: das wett geSPROCH. 36 I: unn baaFUsich? 37 M: ((verneint)) 38 I: oder borFUsich? 39 M: AUCH nich. 40 I: borFIsich? 41 F: ((verneint)) 42 I: BORBS? 43 M: BARBS=oja, barbs. 44 I: aber net BORBS? 45 M: Ich hab gehert BARBS. 228 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner In Agudo wird eine weitere böhmisch-dialektale Variante für borbs erwähnt, nämlich „baabs“. Diese erscheint als erste spontane Antwort neben der Variante „barfüsich“. Dies lässt allerdings kaum darauf schließen, dass diese Variante noch aktiv im Alltag angewandt wird, da die GPs die Variante sogleich mit dem Sprechen ihres Großonkels in Zusammenhang bringen. Dennoch bleibt festzustellen, dass diese Variante mindestens rezeptiv vorliegt. Im Übrigen wird die entrundete Variante „barfisich“ akzeptiert, während „barfusich“, „borfusich“ und „borfisich“ abgelehnt werden. Im Vergleich der drei Beispiele lässt sich die böhmisch-dialektale Variante durchgehend (außer bei der Imitationsform in Agudo) frühestens auf der zweiten Befragungsstufe (d. h. beim Insistieren) erkennen, in Imigrante sogar erst auf der dritten Stufe (hier als akzeptierte Suggerierform). Verbreitet ist die hunsrückische Form barfisich/ barfusich. Daneben ist die standardsprachliche Form barfuß zwar bekannt, wird aber wenig genutzt. Es sei darauf hingewiesen, dass die böhmisch-dialektale Variante in erster Linie bei der älteren Generation genannt wird, kaum jedoch bei der jüngeren Generation. Offenbar ereignet sich ein Wandel, bei dem die böhmisch-dialektalen Varianten verloren gehen. Dieser Wandel vollzieht sich an den drei Orten in unterschiedlicher Geschwindigkeit. In der folgenden Fallstudie soll exemplarisch gezeigt werden, wie GPs der jüngeren Generation mit höherer Bildung den Satz „Wir sind müde und haben Durst“ in die Sprachvarietät ihres Alltags übersetzen. ((4. Übersetzung von Durst in Imigrante, CaGI, 00: 00: 39)) 01 I: wir sind müde und haben DURST. 02 M: wir sind mid und haben DOSCHT [ ḍɔʃ t] 03 F: DOSCHT [ ḍɔʃ t]? 04 durst [d ʊɾ st], DOSCHT [ ḍɔʃ t]. 05 M: eu ia dizer mir sin mid und hann DOSCHT [ ḍɔʃ t]. [ich würde sagen] 06 F: wir sin mid und hann DOSCHT [ ḍɔʃ t]. 07 I: fo durst, dOscht und wie NOCH? 08 F: DASCHT [ ḍ α ʃ t]. 09 M: DOSCHT [ ḍɔʃ t]. 10 F: DASCHT [ ḍ α ʃ t]. 11 I: DASCHT? 12 F: ja, DASCHT [ ḍ a ʃ t], ! huns! rickich. 13 M: eu n-o me LEMbro. [ich erinnere mich nicht] 14 F: DOSCHT [ ḍɔʃ t]. 15 I: un DUSCHT? 16 F: DASCHT [ ḍ α ʃ t]. 17 M: ore DOSCHT [ ḍɔʃ t]. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 229 In Imigrante werden in der ersten Phase zwei phonologische Varianten für Durst erwähnt, nämlich „Doscht“ [ ḍɔʃ t], die im Hunsrückischen vorkommt, sowie die standardnahe Variante „Durst“ [d ʊɾ st]. In der zweiten Phase tritt eine andere Variante auf, „Dascht“ [ ḍ α ʃ t], die nur von der weiblichen GP genannt wird. Hier handelt es sich um eine böhmisch-dialektale Form. 9 Bei späterer Anbringung als Suggerierform wird auch die Variante mit zentralem / a/ [da ʃ t] akzeptiert, und zwar wieder nur von der Informantin, die diese Form dem Hunsrückischen zuschreibt. Es könnte sein, dass diese Variante noch als Reliktform bei ihren älteren Verwandten vom Nachbarort Arroio do Meio erscheint, die sich ans Hunsrückische angepasst haben. Darauf deutet der folgende Ausschnitt aus einem Interview mit ihrer Tante (CaGII) hin: A família quase toda ficou lá (in Arroio do Meio), is dott ingewozelt, in Hunsrickisch. Aber mein Paba is gleich hier hinkomm. Der hat annerste gesproch, ich hann das schon immer estranhiert. Fast die ganze Familie ist dort geblieben (in Arroio do Meio), ist dort eingewurzelt ins Hunsrückische. Aber mein Vater ist sofort hierhergekommen. Er hat anders gesprochen, ich habe das schon immer komisch gefunden. Dass die Familie als mit dem Hunsrückischen fest verwurzelt empfunden wird, der Vater diese Anpassung aber offenbar nicht erfahren hat, weil er schon früh weggezogen ist, deutet darauf hin, dass in der Familie anfangs eine andere deutsche Varietät gesprochen wurde. Dascht erscheint nun noch als Erinnerungsform der ursprünglich gesprochenen Varietät. ((5. Übersetzung von Durst in Venâncio Aires, CaGI, 00: 00: 56)) 01 I: wir sind mÜde und haben DURST. 02 M: (-) WIE? 03 I: wir sind mÜde und haben DURST. 04 M: (-) ((verneint)) 05 I: KEIN wott? 06 M: kein WOTT. 07 F: <<Im Hintergrund> alem-o é um pouco compliCAdo>. [Deutsch ist ein bisschen kompliziert] 08 I: estamos cansAdos e temos [SEde]. [wir sind müde und haben Durst] M: [ah: : ] I: wie täst du das SAHN? 09 M: (.) mir sinn MIID unn hann ! doscht! [ ḍ o ʃ t]. 10 I: fo ! doscht! kamme noch ANneste sahn? 11 M: DUSCHT [ ḍ u ʃ t]. 9 Vergleiche Schlesischer Sprachatlas (Bd. I, Schmitt 1967: Karte 14). 230 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner 12 duscht [ ḍ u ʃ t]; ich hann DUSCHT [ ḍ u ʃ t]. 13 I: kenntme auch sahn äh DURSCHT? 14 M: ((verneint)) 15 I: oder DORSCHT? 16 M: ((verneint)) 17 I: unn DASCHT? 18 M: DOSCHT ja. 19 DOSCHT. 20 I: aber DASCHT? 21 M: dascht (.) äh: KENNT sinn; 22 I: wett NET=so gesproch? 23 M: NEE. In Venâncio Aires wird die dialektale Variante „Dascht“ von den GPs nicht mehr erkannt. Stattdessen treten Doscht [ ḍ o ʃ t] und Duscht [ ḍʊʃ t] 10 auf. Diese Formen liegen auch im örtlichen Hunsrückischen vor. Dies deutet darauf hin, dass Varianten, die das Nordböhmische und das Hunsrückische gemein haben, eine höhere Chance zur Bewahrung haben als Formen, die nur im Nordböhmischen vorkommen (vgl. Dascht). ((6. Übersetzung von Durst in Agudo, CAGI, 00: 00: 51)) 01 I: wir sind mÜde und haben DURST. 02 F: wir sind mid und haben DORSCHT [ ḍ oř ʃ t]. 03 M: wir sind mid und haben DURSCHT [ ḍʊ ř ʃ t]. 04 I: durst, wie kamma das NOCH sahn? 05 F: DORSCHT [ ḍ oř ʃ t]. 06 I: gibs nOch n ANdres wott? (…) 07 I: un DOSCHT [ ḍɔʃ t] (.) schon mo gehert? 08 F: doscht [ ḍɔʃ t] JA. 09 I: un DASCHT [ ḍ a ʃ t]? 10 M: NEIN. In Agudo wird die dialektale Variante Dascht von den GPs nicht als solche identifiziert. An ihre Stelle treten Dorscht [ ḍ oř ʃ t] und Durscht [ ḍʊ ř ʃ t], wobei der Retroflex auch als Schibboleth des Obersächsischen angesehen werden kann. Die Variante Dascht ist somit zugunsten der standardnäheren Varianten Dorscht [ ḍ oř ʃ t] und Durscht [ ḍʊ ř ʃ t] nicht mehr bekannt. 10 Die Varianten mit u- und o-Lauten können als Normalformen in Nordböhmen gelten, vgl. Wenkerkarte 340 zu Durst auf Regionalsprache.de (REDE; Schmidt u. a. 2008) und Thüringisches Wörterbuch (Bd. I: 1429). Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 231 Unter den drei Orten lässt sich vor allem in Venâncio Aires feststellen, dass dialektal-böhmische Varianten noch bekannt sind. Hauptsächlich werden sie von der älteren Generation niedriger Bildung (CbGII) als Reliktformen genannt. Wir gehen abschließend auf zwei weitere Beispiele aus dieser Sozialgruppe in Venâncio Aires ein, um der Beobachtung weiter nachzuspüren. Das nachfolgende Beispiel bezieht sich auf das Thema „Zahlen“: ((7. Abfrage von Zahlen in Venâncio Aires, CbGII, 00: 02: 20)) 01 I: kennt ihr bis ZWELF zehle? 02 M: DOCH: . 03 I: dann: fängt mal AN. 04 jede saht ein NUMmer. 05 M: EINS; 06 F: ZWEI; 07 M: DREI; 08 F: VIER; 09 M: FIMF; 10 F: SECHS; 11 M: SIEben; 12 F: ACHT; 13 M: NEUne; 14 F: ZEHN. 15 I: noch ZWEI. 16 M: ELF; 17 F: ZWELF. 18 I: un wie wäre QUINze? (.) [fünfzehn] 19 wie saht ihr QUINze? [fünfzehn] 20 M: FINFzehn. 21 F: FEMFzehn jo. 22 M: fEmfzehn, oder FIMFzehn. 23 I: hab ihr kennt ihr ein ANdes wott noch fo quinze? [fünfzehn] 24 (-) 25 F: <<ganz leise> FUFFzehn>. 26 M: FUFFzehn jo: . 27 fimfzehn, femfzehn un FUFFzehn. 28 I: fo sEte kennt ihr auch SIEwe? [sieben] 29 M: SIEben? 30 I: SIEwe. 31 M: siewe, ja=die sahn AUch manchma SIEwe, sechs SIEwe. 232 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner 32 sech sIEben sechs SIEwe. 33 I: fo dois kennt ihr auch ZWEU? [zwei] 34 M: jo, zweu oder ZWEI. 35 I: ore ZWEE? 36 M: zwee odern ZWIEne; 37 ZWÄÄ; 38 zwää, ich hobe ZWÄÄ äier (.) gekauft.= 39 =ich hobe ZWÄÄ äier gekauft. (.) 40 [anstatt ] 41 [SAHST d]u so? 42 M: ICH sah zwää. (.) 43 aber das is mEhr bEhmisch das ZWÄÄ. 44 F: JO. 45 I: unn ENS? 46 M: äis, das is BEHmisch. 47 eins wett so geSPROchen= 48 =eins unn ÄIS. 49 I: HUM: = 50 M: =ob ich gald hob ore KÄIS, 51 bleibt sich alles ÄIS. 52 ((lachen)) (…) 53 I: unn EEN: ? 54 M: EEN: ; 55 ENner. 56 EEn: oder ENner. 57 das is ÄIS, 58 ÄIS. 59 I: unn fo nove hat ihr schon [NEIN] gehert? [neun] 60 M: [NEUN]; 61 F: NEUN; 62 I: NEIN? 63 M: NAUN, n-o é conhecida. [ist nicht bekannt] 64 aber hier wett nur NEUN. 65 NEUne (.) 66 jo NEUne. 67 nEUn oder NEUne. 68 I: unn cinQUENta? [fünfzig] 69 (.) 70 M: fEmfzich fEnnefzich un FUFFzich. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 233 Böhmisch-dialektale Merkmale erscheinen hier hauptsächlich in der Suggerierphase, interessanterweise nicht auf Hinweis der Interviewerin, sondern indem die suggerierten Lexeme zu anderen Erinnerungsvarianten führen. Entsprechend werden für zwei nach „zwee“ dann „zwiene“ und „zwää“ genannt, 11 für eins nach „een“ „äis“ 12 und bei Abfrage von fünfzig „fuffzich“. 13 Bei den spontanen Antworten benutzen die Gewährsleute standardnahe Varianten, die gleicherweise in der Umgebung vorhanden sind - die durchgehende Entrundung bei fünf zeigt jedoch regionalsprachliche Merkmale auf. Überdies treten drei weitere böhmisch-dialektale Varianten auf, nämlich Äier ‚Eier‘ 14 sowie käis ‚keins‘ im Reimspruch „Ob ich Gald hot ore käis, bleibt sich olles äis“ und Gald ‚Geld‘. 15 Diese dialektalen Varianten erscheinen allerdings nur als Erinnerungsformen und werden in erster Linie von der männlichen GP genannt. Aus der Integration dialektaler und standardnaher Varianten lässt sich folgern, dass die Informanten über ein ausgeprägtes Varietätenspektrum verfügen, das dialektale Merkmale aus den ursprünglichen Herkunftsdialekten, dialektal-ausgeglichene Merkmale maßgeblich auf hunsrückischer Grundlage und standardnahe Merkmale gleichermaßen umfasst. Durch die dreistufige Abfragemethode konnten böhmisch-dialektale Varianten beobachtet werden, die in Form von Relikten noch Teil des Repertoires der böhmischen Sprecher(innen) sind und in spezifischen Sprechsituationen auftauchen können. Nachfolgend bieten wir nun noch einen Einblick in ein freies Gespräch, das - durchgeführt bei dem männlichen Vertreter der älteren Generation mit niedrigerem Bildungsniveau in Venâncio Aires - den Umgang mit sprachlichen Varietäten früher und heute in der Familie zum Thema hat. ((8. Freies Gespräch in Venâncio Aires, CbGII, 00: 01: 40)) 01 M: aber wenn dIE geSPROCH honn; 02 wenn die beiSAMme wan. 03 oje do is 04 so VIEL viel viel. 05 I: un ähm (.) dehemm hann die SO gesproch, so (.)- 06 mehr BEHmisch? 07 I: aber (…) [in die KErich ]., 08 M: die gAnz [alde mehr BEHmisch.] 11 Vergleiche Thüringisches Wörterbuch (Bd. V: 1367f.). 12 Vergleiche Thüringisches Wörterbuch (Bd. II. 36) neben ää, än und äins. 13 Vergleiche Thüringisches Wörterbuch (Bd. II: 393), vgl. auch fufzehn und finf. Hier kann natürlich auch der Einfluss der allgemeinen Umgangssprache zugrunde liegen. 14 Vergleiche Thüringisches Wörterbuch (Bd. I: 17) mit den Varianten Äre, Ää, Ee und Aa. 15 Vergleiche Sprachatlas von Nordostbayern (Hinderling [Hrsg.] 2004, Bd. I: Karten 79; 95). 234 Angélica Prediger/ Sebastian Kürschner 09 hä? 10 I: in die KErich. 11 [in die SCHUL. ((unverständlich)) ] 12 M: [nein da musstense nocher schon bissche ÄNder=] 13 dann musstense schon ANnerste 14 I: s’war ANners- 15 M: dann hammse DEUTSCH necher gesproch. 16 hm 17 die hamm noher sogar richtig dEUtsche SCHUL gehat,= 18 nEt BEHmisch. 19 I: dann behmisch nur so [zu haus deHEMM] 20 M: [nur gesproch ] weil was die ALde wan, (.) 21 die hamm=so unnichnaner gesprOch [des BEHmische jo.] (.) 22 I: [ah ja ja ] 23 M: nachher das (.) die hann dann mehr das DEUtsche; - 24 do wan dann schon LEHrer auch gewes (..) [mit die DEUTsche 25 I: hm [und dann hat das 26 M: sprache. ] 27 I: behmische] sich mehr (.) [verLOR so.] 28 M: bis jahr[gang fünf; ]= 29 ja das is dann mehr var=aber mir (.) 30 mir machen unser SPASS immer; 31 mir LAchen dann; 32 I: JA. 33 M: setzen uns beiSAme; (.) 34 trinken ein bissel BIER unn dann tun- 35 fangen mir AN. 36 aber was EIner net weiß weiß der ANdere. Der männliche Informant nutzt kaum noch Merkmale der böhmischen Varietät. Vielmehr verwendet er Varianten, die mit anderen deutschen Varietäten im Kontakt, vor allem der (im Vergleich der Dialekte relativ standardnahen) Varietät des Hunsrückischen, übereinstimmen, wie z. B. „dehemm“, „nocher“, „annerste“, „waan“, Endungsausfall im Partizip wie in „gesproch“, „gewes“, Fehlen auslautenden Schwas wie in „Schul“. Die Endung in der 1. Person Plural Präsens wurde beibehalten, z. B. in „machen“, „lachen“, „setzen“, „trinken“, „fangen an“ - ein Merkmal, das mit der Standardsprache übereinstimmt. Während also Varianten der böhmisch-dialektalen Varietät hauptsächlich bei der gezielten Abfrage von Varianten (Fragebogen) auftreten, sind freie Gespräche durch Merkmale eines Varietätenausgleichs mit Elementen des Hunsrückischen und der Standardsprache charakterisiert - wiederum ein Zeichen, dass böhmisch-dialektale Merkmale hauptsächlich noch als Erinnerungsformen existieren. Deutsch bei Nachfahren böhmischer Auswanderer in Südbrasilien 235 5 Fazit Die Fallstudien konnten zeigen, dass das Deutsche an allen Erhebungsorten starke Variation aufweist. Die Daten weisen darauf hin, dass die böhmisch-dialektale Varietät noch als Reliktvarietät vorhanden ist, inzwischen aber fast ausschließlich rezeptiv über Erinnerungsformen zugänglich ist - dies vornehmlich bei der älteren Generation und mit Unterschieden nach Erhebungsort. Trotzdem ist sie noch Teil des Sprachrepertoires einiger GPs, denn sie taucht in spezifischen Sprechsituationen auf, z. B. in einem Interview und in Gesprächen über die Vergangenheit. Die Daten machen deutlich, dass es sich bei dem gesprochenen Deutsch der böhmischen Nachfahren heute um einen Varietätenkomplex (vgl. Thun 2010) handelt, der sich aus dem Kontakt mit unterschiedlichen deutschen Einwanderervarietäten, der deutschen Schriftsprache und ihren Oralisierungsnormen sowie dem Portugiesischen herausbildete. Die GPs verfügen über ein breites Spektrum an Merkmalen aus unterschiedlichen Varietäten und können zu gewissen Graden situationell zwischen Nähe- und Distanzsprache wechseln. Geht man von einer ursprünglichen Diglossiesituation aus, in der die böhmischdialektale Varietät zunächst den nähesprachlichen Pol ausgeformt hat, so wurde dieser alltagssprachliche Pol mehr und mehr durch Formen des Hunsrückischen und der Standardsprache geprägt und überlagert. Vergleicht man die Ergebnisse der Fallstudien mit denen, die sich aus einer ersten breiteren Durchsicht der Daten ergeben, so ergibt sich folgendes Bild des aktuellen Wandels: Während in Imigrante und Venâncio Aires eher ein Ausgleich in Richtung des Hunsrückischen zu beobachten ist, setzen sich in Agudo mehr und mehr standardnahe Varianten durch. In Venâncio Aires scheinen die Informanten noch stärker als an den anderen Orten auf Erinnerungsvarianten des nordböhmischen Dialekts zurückgreifen zu können, selbst wenn dieser nicht mehr produktiv verwendet wird. Dass Merkmale des Hunsrückischen eine große Rolle in der Alltagssprache spielen, deutet darauf hin, dass der Sprachwandel in Richtung einer durch Dialektausgleich geprägten Varietät verläuft. Diese Varietät befindet sich im Zentrum des Kontinuums zwischen Standardsprache und ursprünglichem Dialekt und bildet so evtl. eine ideale alltagssprachliche Kompromissform. Literatur Ahlert, Lucildo/ Gedoz, Sirlei T. (1999): Povoamento e desenvolvimento econômico na regi-o do Vale do Taquari, Rio Grande do Sul - 1822 a 1930. Vorgestellt beim Symposium zu Historias subregionales de Rio Grande do Sul y Uruguay: ocupación territorial, inmigraciones y desarrollo socioeconómico, im Rahmen der Segundas Jornadas de Historia Económica. Montevideo, Uruguay. 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Sprachkontakt und Spracherosion Perspektiven der vergleichenden Sprachinselforschung Claudia Maria Riehl (München) Zusammenfassung Der Beitrag diskutiert einige grundlegende Aspekte der vergleichenden Sprachinselforschung. Dazu wird zunächst ein kurzer Überblick über die historische und aktuelle Situation sog. Sprachinseln des Deutschen gegeben und eine Typik möglicher Sprachkontaktphänomene präsentiert. Im Anschluss daran werden einige Entwicklungsprozesse im Sprachvergleich analysiert: Anhand von generationenübergreifenden Studien zu Sprachinselvarietäten in Südaustralien, Südbrasilien und Russland werden die Entwicklungen im Bereich von Sprachvereinfachungsprozessen am Beispiel des Kasusabbaus aufgezeigt. Dabei stellt sich heraus, dass der Kasusabbau in der Nominalphrase in allen Gruppen ähnlichen Entwicklungspfaden folgt, im Pronominalsystem dagegen unterschiedliche Verläufe auszumachen sind. Schließlich werden anhand zweier Kontaktphänomene (Wegfall des Artikels und Verwendung der am-Periphrase) Beispiele des Transfers aus der Kontaktsprache diskutiert. Ausgehend von diesen Beobachtungen kann gezeigt werden, dass die vergleichende Sprachinselforschung wichtige Impulse für die Entwicklung des Deutschen einerseits und die Sprachkontaktforschung im Allgemeinen andererseits liefern kann. 1 Einleitung Die meisten deutschsprachigen Gemeinschaften außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums gehen auf Wanderbewegungen im Mittelalter oder in der frühen Neuzeit zurück, wobei sich häufig geschlossene Gruppen in bestimmten Territorien niederließen. Diese Kolonien wurden in der germanistischen Forschung als „Sprachinseln“ bezeichnet, da sie über Jahrhunderte relativ isoliert vom Mutterland existierten, dort aber die Minderheitensprache bewahrten und ein kulturelles Eigenleben in ihrem relativ kleinen, geschlossenen Siedlungsgebiet führten (vgl. Wiesinger 1980; Protze 1995; Mattheier 1996; Riehl 2010). Die deutschen Sprachinseln lassen sich in zwei Gruppen unterteilen: die alten Sprachinseln aus der Zeit des Mittelalters, die vom 12. bis 14. Jahrhundert besiedelt wurden, und neuere Siedlungen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Aus der ersten Siedlungswelle im Mittelalter gibt es noch einige Restgruppen jenseits der Alpen in Oberitalien sowie im südöstlichen Mitteleuropa und in Südosteuropa (Ungarn, Slowakei, Rumänien). Die zweite Siedlungswelle setzte Ende des 17. Jahrhunderts ein und erstreckte sich bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Viele der neuzeitlichen Siedlungen entstanden nach Beseitigung der Türken- 240 Claudia Maria Riehl herrschaft in Südost- und Osteuropa. In diese Zeit fällt auch die Kolonisation deutschsprachiger Gebiete in Russland. Zeitlich etwas später begann die Besiedlung überseeischer Gebiete, in Nord- und Südamerika und Australien. Diese Besiedlung hat ihren Schwerpunkt in der Mitte des 19. Jahrhunderts, hier besonders durch die Siedlungsangebote in Lateinamerika (s. Riehl 2010). Das Konzept der Sprachinsel, das ursprünglich für die Kolonien in Osteuropa entwickelt worden war, wurde in der Folge auch auf die deutschsprachigen Gebiete in Übersee übertragen, die wesentlich jünger sind als die Gebiete in Osteuropa und auch unter anderen Bedingungen entstanden sind. In den überseeischen Kolonien waren häufig die Siedlungen bereits in Auflösung begriffen, bevor sich eine spezifische Sprachinselvarietät ausbilden konnte. Hinzu kam ein Nachzug von deutschen Auswanderern aus dem Mutterland, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, der zur ständigen Spracherneuerung führte. Aber auch in den traditionellen Sprachinseln des Deutschen haben sich aufgrund der politischen und ökonomischen Veränderungen infolge des Zweiten Weltkriegs radikale Veränderungen ergeben, die zur Auflösung der ehemaligen dialektalen Gemeinschaften und zur Entstehung heterogener Kommunikationsgemeinschaften führten, in denen die Umgebungssprache eine immer größere Rolle spielt. Die heutigen deutschsprachigen Gemeinschaften sind daher „nicht mehr durch eine insulare Abgeschiedenheit, sondern vielmehr durch Zwei- und Mehrsprachigkeit und Sprachenbzw. Kulturenkontakte bestimmt“ (Földes 2006: 330). Der sich verstärkende Einfluss der jeweiligen Umgebungssprache(n) auf die Sprachinselvarietät zieht auch einen Umbau des Sprachsystems nach sich. Damit eröffnet sich eine neue Blickweise auf die jeweiligen Sprachgemeinschaften und ihre Entwicklung; sie liefert wichtige Grundlagen für den Vergleich verschiedener Konstellationen: Durch Beobachtungen von gemeinsamen und unterschiedlichen Entwicklungen des Sprachkontakts in den unterschiedlichen Sprachinselgebieten lassen sich einerseits typologische Entwicklungen des Deutschen aufzeigen, andererseits aber auch generelle Prozesse des Sprachkontakts von individuellen, durch eine bestimmte Kontaktsprache ausgelöste Entwicklungen trennen. 2 Sprachkontakt- und Sprachvereinfachungsprozesse Im Sprachkontakt treten in der Regel unterschiedliche Prozesse auf: Einer der wichtigsten ist dabei der sog. Transfer, ein Prozess, in dem ein bestimmtes sprachliches Element (z. B. ein Wort, ein Laut oder ein Morphem), eine abstrakte sprachliche Struktur (z. B. Aspektmarkierung oder Auslautverhärtung) oder eine Regel (z. B. wann man Futur verwendet) von einer Sprache in die andere übertragen wird. Das bedeutet, man kann konkretes Sprachmaterial, abstrakte Struk- Sprachkontakt und Spracherosion 241 turmuster oder Bedeutungen bzw. Gebrauchskontexte für Wörter oder Strukturen von einer Sprache in die andere transferieren (vgl. Matras 2009; Riehl 2014). Neben diesen Transferprozessen können in Sprachkontaktkonstellationen weitere Phänomene beobachtet werden, die auf die gleichzeitige Prozessierung mehrerer Sprachen zurückzuführen sind: Da hierbei mehr Ausdrucksvarianten aufgerufen werden als bei der Prozessierung von nur einer Sprache, versuchen die Sprecher, die Varianten zu reduzieren, indem sie entweder die sprachlichen Systeme aneinander anpassen (sog. Konvergenz) oder aber morphosyntaktisch komplexe Strukturen in einem sprachlichen System vereinfachen. Diese Vereinfachungsprozesse sind von den eigentlichen Sprachkontakterscheinungen zu unterscheiden, da sie unabhängig von der typologischen Nähe und Distanz der Kontaktsprache zu beobachten sind. Dennoch wirkt der Sprachkontakt insofern ein, dass hier in der Sprache bereits angelegte Prozesse beschleunigt werden (vgl. Clyne 1991). Sprachvereinfachungsprozesse sind auch dadurch bedingt, dass das Normbewusstsein in der Sprachgemeinschaft abnimmt (vgl. Rosenberg 2003). Dabei spielen Prozesse der Spracherosion (aus Sicht des individuellen Sprechers) und des Sprachabbaus (aus Sicht der Sprachgemeinschaft) ineinander: Durch mangelnden Gebrauch kommt es in einer Generation zu Vereinfachungsprozessen, aber es besteht noch eine hohe Variation zwischen regulären und irregulären Formen. Die nächste Generation lernt bereits eine Varietät mit einer hohen Zahl von Varianten. Aufgrund des eingeschränkten Gebrauchs kommt es zu einem weiteren Abbau der Konstruktionen (vgl. dazu Riehl 2015). Dies kann auch zu einer Restrukturierung des Systems führen, z. B. von einem Drei-Kasus-System bei den Pronomina zu einem Zwei-Kasus-System. Simplifizierungsprozesse finden vor allem im Bereich der Morphologie statt. 1 Ein sehr bekannter Vereinfachungsprozess in diesem Bereich, der in unterschiedlichsten Konstellationen des Deutschen im Kontakt mit anderen Sprachen auftritt, ist der Abbau der Kasusmarkierung, namentlich der Abbau der Dativmarkierung. Dieser wurde bereits in zahlreichen Kontaktvarietäten des Deutschen belegt (vgl. Salmons 1994; Louden 1994; Born 2003; Rosenberg 2003; 2016; Boas 2009; Riehl 2015; Yager u. a. 2015 u. v. m.). Ein Vergleich des Kasusabbaus in verschiedenen Kontaktvarietäten des Deutschen kann nun zeigen, ob die Prozesse des Kasusabbaus in verschiedenen Varietäten trotz typologisch verschiedener Kontaktsprachen ähnlichen Pfaden folgen oder nicht (vgl. Riehl 2018). Dies soll nun im Folgenden anhand dreier Kontaktvarietäten, Barossa- Deutsch in Südaustralien (Sprachkontakt Deutsch - Englisch), Wolgadeutsch in 1 In diesem Fall spielt auch die Lernbarkeit der jeweiligen Strukturen eine Rolle (vgl. dazu die Diskussion bei Rosenberg 2003: 299ff.); zum Zusammenhang zwischen Intensität des Sprachkontakts und morphosyntaktischer Komplexität einer Kontaktvarietät vgl. Maitz/ Németh (2014). 242 Claudia Maria Riehl Russland (Sprachkontakt Deutsch - Russisch) und Blumenau-Deutsch in Südbrasilien (Sprachkontakt Deutsch - Portugiesisch), gezeigt werden. 3 Entwicklungsprozesse im Vergleich: Eine generationenübergreifende Vergleichsstudie zum Abbau der Dativmarkierung 3.1 Soziolinguistische Hintergründe Die hier untersuchten Kontaktvarietäten des Deutschen unterscheiden sich nicht nur durch unterschiedliche Sprachpaarungen, sondern auch durch unterschiedliche soziolinguistische Bedingungen. Diese werden daher im Folgenden kurz beleuchtet. 3.1.1 Barossa-Deutsch Barossa-Deutsch ist eine sog. Reliktvarietät, da es nur noch von wenigen Sprechern der ältesten Generation gesprochen und nicht mehr als Kommunikationsmedium in der Sprachgemeinschaft verwendet wird (vgl. Riehl 2012; 2015). Die ursprünglichen Siedler stammten hauptsächlich aus Nordschlesien sowie der Lausitz und der Region um Posen (vgl. dazu Paul 1965). Allerdings wurden in der Sprachgemeinschaft bereits in den 1960er Jahren keine Dialekte mehr gesprochen, sondern eine auf dem Standarddeutschen basierende Regionalvarietät (vgl. Paul 1965). Die Sprachgemeinschaft hatte bis 1918 Schulunterricht auf Deutsch, danach nur noch im Rahmen der religiösen Erziehung (Möglichkeit des Besuchs einer Sonnabendschule, vgl. Clyne 1981). Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges konnte Deutsch nicht mehr im öffentlichen Kontext verwendet werden, und sogar der private Gebrauch wurde eingeschränkt. Dies führte dazu, dass die Verwendungskontexte immer mehr abnahmen und sich ganz auf die Familie und Gespräche mit der älteren Generation beschränkten. Eine besondere Einschränkung bestand auch darin, dass die deutsche Sprache nicht mehr als Schriftsprache gelernt werden konnte (vgl. Riehl 2016). 3.1.2 Russlanddeutsch (Wolgadeutsch) Sprecher der russlanddeutschen Koiné, des sog. Wolgadeutschen, einer auf dem Mitteldeutschen basierenden Ausgleichs- oder Mischmundart (vgl. Berend 2011), wurden nach Kriegsausbruch 1941 nach Sibirien und Mittelasien deportiert. Da das Deutsche infolge des Krieges nicht nur einen völligen Prestigeverlust erlitt, sondern teilweise sogar verboten und der soziale Aufstieg der Minderheiten an die vollkommene Beherrschung der Landessprache gebunden war, gingen viele Deutschsprachige auch in der Familie zur Landessprache über und Sprachkontakt und Spracherosion 243 gaben das Deutsche (bzw. den deutschen Dialekt) nicht mehr an die Kinder weiter. Doch auch dann, wenn die primäre Sozialisation noch im Dialekt erfolgte, wurde in der zweiten Generation durch die sekundäre Sozialisation die Landessprache zur primären Varietät. Dennoch wird das Wolgadeutsche weiterhin in der zweiten und dritten Generation gesprochen und ist noch nicht zur Reliktvarietät geworden wie das Barossa-Deutsche. Nach 1990 wurde zwar die Position des Deutschen in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion gestärkt (mit verstärktem Unterricht und neu gegründeten kulturellen Institutionen und Verbänden), allerdings erfolgte parallel dazu eine massenhafte sog. Spätaussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland oder nach Österreich. Diese Faktoren führen dazu, dass die deutsche Sprachgemeinschaft in vielen Gebieten ebenfalls in Auflösung begriffen ist (vgl. Berend/ Riehl 2008; Rosenberg 2016). 3.1.3 Brasiliendeutsch in Blumenau Im Gegensatz zu den beiden in Auflösung befindlichen Sprachinseln ist die deutsche Sprache im Gebiet von Blumenau (Santa Catarina) noch stärker lebendig und wird sogar in der jüngsten Generation (wenngleich mit starken Erosionserscheinungen) gesprochen. Bei den ursprünglich aus der Gegend um Braunschweig und Niedersachsen stammenden Siedlern hat sich analog zum Barossa-Deutschen ebenfalls keine eigene Koiné herausgebildet, sondern eine auf dem Standarddeutschen basierende regionale Umgangssprache. Nur die vor dem Krieg geborene Generation hatte Deutsch als Unterrichtssprache, seit 1985 gibt es wieder Deutschunterricht in der Sekundarstufe, seit 2005 auch in einigen Grundschulen (2 Std./ Woche) (vgl. Pereira Fritzen 2008). Der Erhalt der Minderheitensprache erklärt sich vor allem dadurch, dass viele Deutschsprachige in abgeschiedenen Gegenden um Blumenau siedelten und dort nur vier Jahre die Primarschule besuchten, sodass auch der Kontakt zum Portugiesischen relativ gering war. 3.2 Der Dativabbau in den verschiedenen Sprachkontaktkonstellationen Sprachabbau ist in der Regel ein langfristiger Prozess, der über mehrere Generationen vor sich geht. Auch die ursprünglichen Siedlervarietäten sind schwer zu rekonstruieren - wie in 3.1 gezeigt, basieren das Barossa-Deutsche und Blumenau-Deutsch auf einer dem deutschen Standard nahen Varietät, sodass hier ein Vergleich mit dem Standarddeutschen durchaus möglich ist. Das Wolgadeutsche beruht dagegen auf einer mitteldeutschen Ausgleichsvarietät, in der die Tendenz zum Gebrauch eines Einheitsartikels (de) besteht, an dem folglich keine Kasusmarkierungen mehr festgemacht werden können (vgl. Berend 2011). Um diesem Dilemma zu entgehen, wird hier eine generationenübergreifende Studie vorgeschlagen, die den Sprachwandel in apparent time aufdeckt. Dabei spielt eine untergeordnete Rolle, ob die Tendenz bereits in der Ausgangsvarie- 244 Claudia Maria Riehl tät angelegt war oder nicht. Daher wird im Folgenden allen drei Konstellationen das System der Kasusmarkierung im Standarddeutschen als Vergleichsgröße zugrunde gelegt und analysiert, wie weit die Kasusmarkierung in den Sprachinselvarietäten quantitativ und qualitativ von den im Standard üblichen Dativmarkierungen abweicht. Vorkommnisse, die den Dativ analog zum Standarddeutschen markieren, werden daher als „regulär“ und die, die statt des Dativs Nominativ oder Akkusativ verwenden, als „irregulär“ bezeichnet. 2 Um den Sprachwandel nachzeichnen zu können, wurden in den jeweiligen Sprachkontaktkonstellationen Daten von zwei Generationen (älteste Generation und nachfolgende Generation) miteinander verglichen. Da im Falle des Barossadeutschen nur mehr die älteste Generation das Deutsche beherrscht, ist eine generationenübergreifende Analyse hier nicht mehr möglich. Deshalb wurden historische Aufnahmen von Michael Clyne aus dem Jahre 1967 (vgl. https: / / dgd. ids-mannheim.de/ ) und Daten aus der von Paul (1962; 1965) durchgeführten Studie (Abfrage der Wenkersätze) herangezogen. 3 Eine Übersicht über die analysierten Daten findet sich im Anhang. 4 In allen Sprachkontaktkonstellationen beginnt der Abbau der Kasusmarkierung in Nominalphrasen, und zwar in Abhängigkeit von bestimmten, gebrauchsbasierten Konstruktionen (vgl. Riehl 2015). Dabei wird der Kasus zunächst bei vom Verb zugewiesenen Nominalphrasen (wie jemandem zeigen) und dann bei Präpositionalphrasen (wie mit dem Kind) abgebaut und entweder als Akkusativ oder als Nominativ realisiert. Den besten Erhalt der Dativmarkierung zeigen in allen drei Sprachkontaktkonstellationen Konstruktionen, bei denen die Präposition mit dem Artikel verschmilzt, z. B. zur (= zu der) Schule, im (= in dem) Krieg. So weist etwa ein brasiliendeutscher Sprecher (OR) zwölf Vorkommnisse von im auf, aber kein Vorkommnis mit in der (vgl. im Verein vs. in die Klinik 2 Zur Verdeutlichung sei hier angemerkt, dass ich grundsätzlich davon ausgehe, dass der Dativ als semantische Kategorie durchaus weiter besteht, nur lediglich nicht mehr mit der typischen Markierung für Dativ versehen wird und daher an der Oberfläche nicht mehr von Akkusativ oder Nominativ unterschieden werden kann. Daher spreche ich auch nicht von ‚Dativabbau‘, sondern von ‚Abbau der Dativmarkierung‘. 3 Aufgrund der soziolinguistischen Situation in den jeweiligen Gebieten ist die Altersverteilung in den verschiedenen Generationen etwas unterschiedlich. Bei unseren Untersuchungen zum Russlanddeutschen war unter der Generation I die Generation derjenigen Sprecher gefasst, die noch vor dem Krieg den Deutschunterricht besuchen konnten (vgl. Berend/ Riehl 2008). Im Falle der Sprecher aus Blumenau umfasst sie die heutige Großelterngeneration. Hierzu ist auch zu bemerken, dass die Daten zum Russlanddeutschen ca. zwölf Jahre früher als die Daten zum Barossa-Deutschen und zum Blumenau-Deutschen erhoben wurden (s. Anhang). 4 Die Daten aus Brasilien sind derzeit noch in Bearbeitung. Daher können für die Analyse bisher nur die Daten von zehn Sprechern herangezogen werden. Diese werden jedoch ergänzt durch qualitative Daten aus teilnehmender Beobachtung sowie durch Übersetzungsaufgaben von sechs weiteren Sprechern der aktuellen Erhebung 2018. Sprachkontakt und Spracherosion 245 [lokale Bedeutung]), sowie ausschließlich vom, aber nur zwei Mal von der, und zwar mit Eigennamen (von der Jutta, von der Renate), also in hochfrequenten Einheiten. Die Kontaktvarietäten befinden sich vor allem aufgrund unterschiedlicher soziolinguistischer Bedingungen in einem unterschiedlichen Stadium des Vereinfachungsprozesses. Im Russlanddeutschen wird die Sprache noch mindestens in zwei Generationen als L1 gesprochen, daher gibt es auch mehr Kommunikationssituationen, in denen noch Deutsch verwendet werden kann. Im Barossa- Deutschen ist das Deutsche bereits eine Reliktvarietät (vgl. Riehl 2015), d. h. es wird nicht mehr als Kommunikationsmedium in der Gruppe verwendet. Hier gibt es in der letzten Sprechergeneration nur noch einen ganz geringen Prozentsatz an Dativmarkierungen in der Nominalphrase (13 %). Im Russlanddeutschen dagegen verwendet die älteste Generation noch zu 66 % und die zweite Generation noch zu 44,8 % die reguläre Dativmarkierung. Interessant ist, dass ein ähnlicher Wert für das Blumenau-Deutsche erzielt wird, nämlich 44,9 % in der ersten und 43,5 % in der zweiten Generation (Tab. 1). Das bedeutet, dass der Abbau des Dativs in vergleichbaren Altersgruppen im Blumenau-Deutschen bereits stärker vorangeschritten war als im Russland-Deutschen, dass aber die Varietät insgesamt stabiler ist. Interessant ist auch, dass sich die historischen Daten aus dem Barossa-Deutschen mit der zweiten Generation der Russlanddeutschen und Brasiliendeutschen decken. Das zeigt, dass das Barossa-Deutsche als Reliktvarietät in seiner Entwicklung wesentlich weiter vorangeschritten ist. Barossa- Deutsch (histor. Daten) Barossa- Deutsch (Daten 2009- 2014) Russlanddeutsch Generation I Russlanddeutsch Generation II Blumenau- Deutsch Generation I Blumenau- Deutsch Generation II regulär irregulär regulär irregulär regulär irregulär regulär irregulär regulär irregulär regulär irregulär 44,8 55,2 13,8 86,2 66,0 34,0 44,8 55,2 44,9 55,1 43,5 56,5 Tab. 1: Dativmarkierung im Vergleich (Zahlenangaben in %) Neben den dargestellten soziolinguistischen Aspekten können aber auch die typologischen Unterschiede zwischen den Kontaktsprachen eine Auswirkung haben, nämlich darauf, mit welcher Geschwindigkeit der Abbauprozess vor sich geht: Das Englische und das Portugiesische markieren keinen Kasus, das Russische dagegen hat ein sehr ausgeprägtes Kasussystem. Das könnte darauf einwirken, dass im Kontakt mit dem Russischen der Abbau langsamer vor sich geht (vgl. dazu Clyne 1991). Ein Unterschied zwischen den Gruppen besteht allerdings darin, dass im Russlanddeutschen der Artikel öfter einfach weggelassen wird (z. B. mit Tochter, von Wolga, aus Krieg). Dies ist ein typisches Beispiel für Transfer: Die Artikellosig- 246 Claudia Maria Riehl keit wird hier aus dem Russischen übertragen. Damit besteht aber in diesen Fällen (außer im Dativ-Plural) keine Möglichkeit zur Kasusmarkierung (in der Studie betrifft dies 5 % der Beispiele mit fehlender Dativmarkierung in der ersten Generation und 11,6 % in der zweiten Generation). Während die Abbauprozesse der Dativmarkierung in der Nominalphrase vergleichbare Pfade in allen drei Konstellationen verfolgen, unterscheiden sich die Entwicklungsprozesse im Bereich des Pronominalsystems: Denn im Russlanddeutschen weist das System der Personalpronomina noch weitgehend die Unterscheidung von Dativ- und Akkusativpronomen wie im Standarddeutschen auf. Allerdings treten auch hier verschiedene Variationen auf: einige Sprecher verwenden gelegentlich die Dativpronomina mir, dir für den Akkusativ (das hat mir vieles gekostet, JH), drei Sprecher zeigen gewisse Idiosynkrasien: Allerdings ist die Verwendung in den von Präpositionen zugewiesenen Fällen noch sehr stabil (86,5 % der Dativmarkierungen sind hier regulär, und zwar in beiden Generationen! ). Im Barossa-Deutschen dagegen ist die Reduktion auf ein Zwei-Kasus- System (mir/ dir für Dativ und Akkusativ in der 1. und 2. Ps. Sg. und sie/ ihn für Dativ und Akkusativ in der 3. Ps. Sg. und Pl.) fast abgeschlossen (Tab. 2): Singular Dat./ Akk. Plural Dat./ Akk. 1. Ps. mir uns 2. Ps. dir euch 3. Ps. ihn/ sie sie Tab. 2: Pronominalsystem im Barossa-Deutschen Im Blumenau-Deutschen zeichnet sich dagegen eine andere Tendenz ab: Hier findet sich häufig der Gebrauch des Akkusativpronomens der 1. und 2. Ps. Sg. (mich, dich) in Dativpositionen, die Unterscheidung mit Dativ- und Akkusativpronomen in der 3. Ps. (ihr/ sie vs. ihm/ ihn) bleibt dagegen erhalten. Im Gegensatz zum Barossa-Deutschen gibt es aber eine hohe Variation in der Verwendung, und zwar nicht nur zwischen den Sprechern, sondern auch bei ein und demselben Sprecher (bei mich/ bei mir, AA; stell dich mal vor, stell dir mal vor, MB, beide 2. Generation). Die Streuung reicht hier von 100 % reguläre Markierung bis zu 50 % reguläre Markierung. 5 Für diese Unterschiede sind v. a. die Faktoren Bildung (bzw. Lesekompetenz in Deutsch) und Kontakt zu Deutschsprachigen außerhalb von Brasilien entscheidend. So finden sich bei einem Sprecher (DW), der Deutsch nicht in der Schule gelernt hat, aber sehr viel mit 5 In den Übersetzungsaufgaben wird bei Präpositionen, die den Dativ fordern, fast durchgehend der Akkusativ verwendet. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Sprecher sich in freien Gesprächen stärker an den Interviewer als Sprecher des Standarddeutschen anpassen. Sprachkontakt und Spracherosion 247 Deutschland zu tun hat (auch im Emailverkehr), im Interview öfter auch Dativstatt Akkusativpronomen, was als Hyperkorrektur gedeutet werden könnte (hat er mir gebeten, hat er mir gefragt). Wie die Daten zeigen, gibt es beim Abbau der Kasusmarkierung in der Nominalphase eine sehr vergleichbare Entwicklung in allen drei Konstellationen. Der Vergleich kann zeigen, dass der Abbau den gleichen Pfaden folgt. Die Geschwindigkeit der Abbauprozesse ist allerdings unterschiedlich und unterliegt eher außersprachlichen Faktoren wie Sprachgebrauch und Literalität. Im Pronominalsystem finden dagegen unterschiedliche Prozesse statt, die aber nur teilweise durch die Herkunftsvarietäten erklärt werden können, da einmal die Dativ- und einmal die Akkusativform als Obliquus verwendet wird (Barossa-Deutsch). Das Russlanddeutsche zeigt in beiden Generationen sehr stabile Verhältnisse im Bereich des Pronominalsystems. Im Blumenau-Deutschen ist zwar die Tendenz, ein obliques Pronomen in der 1. und 2. Ps. Sg. zu verwenden, und zwar das Akkusativpronomen, sehr deutlich, aber insgesamt zeigt sich hier noch eine sehr hohe Variation zwischen den Sprechern und bei ein und demselben Sprecher. 6 Während also der Vereinfachungsprozess in der Nominalphrase in allen drei Kontaktvarietäten in eine Richtung geht, folgt er im Pronominalsystem unterschiedlichen Pfaden, die nicht direkt erklärt werden können. Insgesamt erweist sich aber das Pronominalsystem als wesentlich stabiler gegen Abbau (vgl. dazu auch Rosenberg 2003; 2016). Der hier vorgeführte Ansatz einer generationenübergreifenden Vergleichsstudie, die neben unterschiedlichen Wortarten vor allem auch die unterschiedlichen Kontexte, in denen der Kasus verwendet wird, und verschiedene Konstruktionstypen berücksichtigt, erweist sich hiermit als fruchtbar für weitere Untersuchungen zur Funktionsweise von Sprachabbauprozessen in Sprachkontaktkonstellationen. 4 Transferprozesse im Sprachvergleich Neben den dargestellten Vereinfachungsprozessen finden sich auch vergleichbare Transferprozesse in den unterschiedlichen Sprachkonstellationen: Dabei können zum einen Konstruktionen der Kontaktsprache ausschlaggebend sein, zum anderen aber das Vorhandensein bestimmter Konstruktionen in der Ausgangsvarietät des Deutschen. Dies soll im Folgenden anhand von zwei Sprachkontaktphänomenen im Überblick diskutiert werden. 6 Dass im Portugiesischen bei den Personalpronomen der 3. Ps. Sg. direktes vs. indirektes Objekt markiert wird, könnte den Erhalt der Formen in der 3. Ps. Sg. stützen. 248 Claudia Maria Riehl 4.1 Kontaktphänomen 1: Artikelabbau im Kontakt mit artikellosen Sprachen Ein Fall von direktem Transfer, der in einer Reihe von Kontaktvarietäten des Deutschen gezeigt werden kann, ist der oben im Falle des Russlanddeutschen bereits aufgeführte Wegfall des bestimmten Artikels. Dieses Phänomen, dass analog zur Kontaktsprache der bestimmte oder unbestimmte Artikel im Deutschen entfällt und Nomina ohne Determinierer verwendet werden, kann nun in allen Konstellationen des Sprachkontakts des Deutschen mit Sprachen, die nicht über ein Artikelsystem verfügen (slawischen Sprachen und Ungarisch), gezeigt werden (dazu die Beiträge in Eichinger u. a. [Hrsg.] 2008), vgl.: 1 a) Und die Mutter hat Kommandant gefragt. (Russlanddeutsch) b) Das waren einzige Worte, die ich kenne. (Tschechiendeutsch) c) Sie ist krank, sie hat Fuß gebrochen. (Ukraine-Deutsch) Neben systematischen Untersuchungen zu den Gebrauchskontexten, in denen der Artikel nicht gesetzt wird, stehen hier auch generationenübergreifende Analysen aus. Allerdings lassen die in 3.2 beschriebenen Zahlen zum fehlenden Artikelgebrauch in den Dativphrasen im Russlanddeutschen vermuten, dass auch hier aufgrund des stärkeren Einflusses der Kontaktsprache in der zweiten Generation ein stärkerer Rückgang der Artikelverwendung stattfindet. 4.2 Kontaktphänomen 2: Entstehung einer Progressiv-Konstruktion Während es sich nun im Falle des Artikelabbaus um eine sprachkontaktinduzierte Erscheinung handelt, die von verschiedenen Sprachen mit dem gleichen Phänomen ausgehen (Fehlen der Markierung von Determination), lassen sich beim Vergleich von sprachkontaktinduzierten Phänomenen beim Kontakt mit ein und derselben Kontaktsprache ebenfalls interessante Tendenzen feststellen. Hier eignet sich besonders der Vergleich mit der Kontaktsprache Englisch, da damit eine große Zahl von Kontaktvarietäten des Deutschen in Nordamerika, Australien, Südafrika und Namibia eingeschlossen ist. In diesem Zusammenhang ist interessant zu beobachten, inwiefern die grammatische Kategorie des Progressivs aus dem Englischen in das Deutsche entlehnt wird. Denn während im Deutschen die Markierung des Verlaufs einer Handlung fakultativ ist und meist mit Adverbien wie gerade (z. B.: er arbeitet gerade) oder aber einer Periphrase (z. B. er ist am Arbeiten) zum Ausdruck gebracht wird, wird der Verlauf einer Handlung im Englischen durch die Konstruktion to be + -ing bezeichnet (he is working, sog. Progressiv-Konstruktion). Bereits Louden (1994) hatte festgestellt, dass der Sprachkontakt mit dem Englischen im Pennsylvania-Deutschen dazu führt, dass die optionale Umschreibungsform ist am X-en als morphosyntaktische Markierung der Kategorie Sprachkontakt und Spracherosion 249 Aspekt allmählich grammatikalisiert wird. Damit wird eine in der Kontaktvarietät des Deutschen bereits vorhandene Ausdrucksweise genutzt, um eine grammatische Kategorie der Replikasprache auszudrücken. Den Anstoß von einer Kontaktsprache, um eigene Formen zu grammatikalisieren, haben schon viele Sprachen genutzt. Heine/ Kuteva (2005) sprechen daher von einer sog. Replikakonstruktion. Allerdings sind diese Konstruktionen in der Regel weniger stark grammatikalisiert (d. h. sie kommen in weniger Kontexten vor) als das Pendant in der Kontaktsprache (Heine 2012). In einer neueren Untersuchung zum Pennsylvania-Deutschen konnte Tomas (2018) zeigen, dass die am-Periphrase nicht nur in allen Tempusformen gebraucht (Bsp. 2a und b), sondern sogar ins Passiv gesetzt werden kann (Bsp. 2c), was einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Grammatikalisierung entspricht: 2 a) D Anne is am Äppl schäla.[wörtl. ‚Die Anne ist am Äpfel schälen‘] b) Die Anne is am Äppl schäla gwesn. [wörtl. ‚Die Anne ist am Äpfel schälen gewesen‘] c) Fiel Haisa sind am ufgeduhn warra do in d letscht Zeet. [wörtl. ‚Viele Häuser sind am aufgebaut werden in der letzten Zeit‘] (Tomas 2018: 166f.) Weiter zeigt eine aktuelle Studie zum sog. Unserdeutsch, einer deutschbasierten Kreolsprache in Papua-Neuguinea und Australien, dass die am-Periphrase hier ebenfalls zur Progressiv-Markierung verwendet wird, vgl. Bsp. 3: 3 a) wi war am leben in alle plantation wo er war am arbeiten [‚Wir haben an den Pflanzungen gelebt, wo er gearbeitet hat.‘] b) du bis am sprechen von frühere zeit [‚Du sprichst von früher.‘] (Bsp. aus Schmidtkunz [im Erscheinen]) Allerdings ist hier die Grammatikalisierung noch nicht so weit fortgeschritten wie im Pennsylvania-Deutschen, da es noch keine Formen im Passiv gibt. Umso erstaunlicher ist es, dass eine Kontaktvarietät wie das Barossa-Deutsche, das sich bereits in einem sehr fortgeschrittenen Stadium des Sprachkontakts befindet (s. o. 3.1.1), oder auch das Texas-Deutsche (persönliche Kommunikation H. C. Boas) diese Konstruktion nicht verwenden. Es besteht auch keine andere Umschreibungsform der Konstruktion (so fehlt etwa auch eine Umschreibung mit bei). Die tun-Periphrase, die sich evtl. als Konstruktion anbieten würde, wird etwa im Barossa-Deutschen für gewohnheitsmäßige Handlungen (engl. would + Inf.) verwendet. 7 Es ist daher davon auszugehen, dass die Sprecher des Pennsylvania-Deutschen die Periphrase aus ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet (Südwestdeutschland) mitgebracht haben. Ähnliches gilt für Unserdeutsch, das 7 Außerdem grammatikalisiert sich die tun-Periphrase auch immer mehr zu einem Präteritumsmarker (vgl. Riehl 2012). 250 Claudia Maria Riehl nordwestdeutsch-westfälisch geprägt ist (vgl. Maitz/ Lindenfelser 2018). Dies bestätigt nun, was Hickey (2010: 155) mit einem Beispiel aus dem Irischen gezeigt hat, nämlich dass der Transfer einer grammatischen Kategorie offensichtlich nur dann möglich ist, wenn die Nehmersprache auch die formalen Möglichkeiten hat, diese auszudrücken. Die aus dem Nordosten stammenden Siedler im Barossa-Valley kannten dagegen diese Umschreibungsform nicht, und daher konnte in dieser Sprachkontaktkonstellation kein Progressiv entstehen. 8 5 Schlussfolgerung und Perspektiven für die zukünftige Forschung Wie in dem Beitrag gezeigt wurde, gibt es gemeinsame Entwicklungstendenzen der deutschen Sprache in Sprachkontaktsituationen, vor allem was Simplifizierungs- und Restrukturierungsprozesse angeht. Diese folgen in einigen Bereichen den gleichen Pfaden (Dativabbau in der NP), in anderen werden eigene Wege beschritten (Umstrukturierung des Pronominalsystems). Insgesamt zeigt sich, dass durch den schwindenden Gebrauch der Sprache die Prozesse vorangetrieben werden. Der mangelnde Gebrauch und der variable Input führen dabei zu einem immer stärkeren Abbau von Kasusmarkierung. Die Abbauprozesse sind damit abhängig von außersprachlichen Faktoren. Rein kontaktinduzierter Wandel ist dagegen entweder abhängig von der Kontaktsprache (Typologie der Sprache im Falle des Artikelabbaus) oder vom Vorhandensein einer bestimmten Konstruktion in der Nehmervarietät. Hier zeigt sich, dass bestimmte regionale Varianten im Gebrauch (wie die am-Periphrase in bestimmten Varietäten des Deutschen) kontaktinduzierte Grammatikalisierungsprozesse hervorrufen können. Die vorgestellten Beispiele konnten darüber hinaus zeigen, dass die vergleichende Sprachinselforschung nicht nur bestimmte Prozesse der Entwicklung des Deutschen im Sprachkontakt aufzeigen kann, sondern auch wichtige Impulse für die Sprachkontaktforschung insgesamt liefern kann. Dabei erweisen sich v. a. pseudolongitudinale oder generationenübergreifende Studien als wegweisend, da sie den Zusammenhang von individueller Spracherosion und gesellschaftlichem Sprachverlust aufzeigen können. Darüber hinaus ist für die Interpretation eines Sprachkontaktphänomens in einem bestimmten Stadium oder auch für individuelle Unterschiede in den einzelnen Sprachgemeinschaften der Einbezug außersprachlicher Faktoren unerlässlich. Weiter erweist es sich als wichtig, zwischen sprachübergreifenden Reduktionsprozessen, die aufgrund von Sprachabbau entstehen, und eigentlichen Sprachkontaktprozessen zu unterscheiden. Bei Sprachkontaktprozessen kann der Ver- 8 Beispiele, die diese Annahme stützen, finden sich auch in Kontaktvarietäten des Deutschen in Italien (vgl. die Beiträge in Rabanus [Hrsg.] 2018). Sprachkontakt und Spracherosion 251 gleich innerhalb von Sprachfamilien (z. B. Typika von Sprachkontakt mit slawischen Sprachen oder romanischen Sprachen im Vergleich) ebenfalls entscheidende Aufschlüsse geben. Weiter kann gezeigt werden, dass auch das Vorhandensein einer bestimmten Konstruktion in der Ausgangssprache erst die Übernahme von Konstruktionen im Sinne einer Replika-Konstruktion möglich macht. Auch hier können vertiefende Analysen interessante Aufschlüsse über Mechanismen des Sprachkontakts geben. Anhang: Übersicht über die Daten Sample Barossa Russland Blumenau Erhebungszeitraum 2010-2014 (Clyne 1967; Paul 1962) 2000-2002 2012; 2018 Gesamtzahl Sprecher 37 (+ 67) 40 20 Alter der Sprecher 72-96 J. 50-82 J. 37-85 J. Art der Studie pseudolongitudinal (Vergl. mit histor. Material) generationenübergreifend (2 Generationen) generationenübergreifend (2 Generationen) Teilkorpus (annotiert) 20 (+ historisch) 19 10 Datentyp narr. Interviews Übersetzungstest narr. Interviews narr. Interviews (Übersetzungstest) Literatur Bentz, Christian/ Winter, Bodo (2013): Languages with more second language learners tend to lose nominal case. In: Language Dynamics and Change 3. 1. S. 1-27. 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Durch den Gebrauch der Sprache bedienen wir uns einer Selektion von Wörtern, und diese spezifische Wortwahl bzw. Selbstreflexion prägt auch unsere Identität. Die innere Identität und die Sprache eines Menschen sind untrennbar miteinander verwoben, zumal das soziale Umfeld primär sprachlich vermittelt wird. Somit ist die eigene Sprache in hohem Maße mit individuellen Erlebnissen verbunden, und bei der Erforschung der Sprachidentität kann und muss also immer auf die sprachliche Oberfläche zugegriffen werden. Im Fokus meiner derzeitigen Untersuchungen steht der Zusammenhang zwischen Sprache und ethnischer Identität, insbesondere aus der Perspektive der Sprachkontaktforschung und der Sprachinselforschung. Essenziell erscheint mir herauszufinden, welche Erfahrungen bilinguale Sprecher mit ihrer Sprache/ ihren Sprachen machen und wie sich ihre Haltung zu ihrer Sprache bzw. zu den Varietäten in ihrem Umfeld verändern. Dies soll anhand der Geschichte des Pennsylvaniadeutschen dargestellt werden. 1 Einleitung Es ist nicht verwunderlich, dass dem Pennsylvaniadeutschen (PeD), der Sprache der deutschstämmigen und deutschsprachigen Amischen und Mennoniten in den USA, schon sehr früh und allzu oft der soziale Sprachtod vorausgesagt wurde. Das PeD als Sprachinselphänomen galt schon immer und gilt auch heute noch als fast ausschließlich orales Kommunikationsmedium einer in sich geschlossenen und isolierten Gesellschaft und ist seit seiner Entstehungsgeschichte im 18. Jahrhundert nie standardisiert bzw. normiert worden. Umso bemerkenswerter erscheint es, dass genau hier die paradoxe Geschichte des Pennsylvaniadeutschen beginnt, welches sich nämlich als ein selbstständiges und zukunftsfähiges Diasystem etabliert hat (vgl. Louden 2016). Als einfaches Beispiel dieser linguistisch paradoxen Situation kann das äußerst facettenreiche Paradigma des am-Progressivs (sog. Verlaufsform) nach dem Muster sein F INITUM +am+V I NF angesehen werden. Sätze wie Egon ist am schlafen oder Egon war gerade ein Buch am lesen, als es an der Tür klingelte ermöglichen die aspektaffine Perspektivierung einer imperfektiven Verbalsituation und eröffnen somit dem Standarddeutschen (StD) den Bereich der verbalen Aspektualität, die als eine kognitive Funktion zu verstehen ist, welche die zeitliche Kodierung von 256 Adam Tomas Verbsituationen als abgeschlossen oder unabgeschlossen perspektiviert (vgl. Leiss 1992: 45). Dennoch ist ihre Anwendung im schriftsprachlichen Sprachgebrauch im StD stark sanktioniert und durch die normativen Regelwerke ausgeschlossen (vgl. Elspaß 2005: 34). Mein angestrebter Ansatz nähert sich diesem morphosyntaktischen Phänomen aus der Perspektive der Sprachinselforschung, da in dieser oft normative Standards fehlen, sodass eine Koexistenz von unterschiedlichen grammatischen Parallelformen begünstigt wird. Die Beispiele aus dem PeD zeigen unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten der am-Progressiv-Konstruktionen: (1) D Ann is Eppl am schaela. [am-Progressiv mit einem Akk-Obj.] [StD: ? Die Anna ist am Äpfel schälen.] (2) Sei am schaffa, wenn d Paepp heem kummt! [am-Progressiv als Imperativ] [StD: ? Sei am arbeiten, bis/ wenn der Vater zurückkommt! ] (3) Sie misste am Quilts mache sei! [am-Progressiv mit MV] [StD: ? Sie müssten am Quilts (Stickerei) machen sein! ] (4) Viel Haisa sind am gebaut werra dorum. [am-Progressiv im Passiv] [StD: *? Viele Häuser sind hier am gebaut werden.] (5) Es letsche Mol, ass ich dich gsehna hab, waar dei Haas am uffgeduhn werra. [StD: *? Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, war dein Haus am aufgebaut werden.] Die oben angeführten Beispiele lassen sicherlich den Schluss zu, dass der Gebrauch von am-Progressiven im PeD deutlich geringeren Restriktionen unterliegt als im StD. Dies legt den Schluss nahe, dass es sich bei der „verhinderten Grammatikalizität“ dieser Formen um sozio-linguistische Gründe handeln muss und nicht um morphosyntaktische, wie oft angenommen wurde. In diesem Artikel gilt es, das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon hervorzuheben: Das PeD, eine oft marginalisierte Sprache, entstanden als Sprachinselphänomen, vom Englischen als Superstrat umschlossen, entwickelt entgegen vieler Erwartungen ein produktives (sogar passivfähiges) am-Progressiv-Paradigma, welches es in keiner anderen westgermanischen Sprache (außer im Englischen) gibt. 2 Eine kurze Geschichte der Amischen und Mennoniten in den USA Das Pennsylvaniadeutsche steht als Sammelbegriff für ein eigenständiges sprachliches Kontinuum, das von mehreren deutschstämmigen Entitäten in Nordamerika als Muttersprache gesprochen wird. Diese in mehreren nordamerikanischen Bundesstaaten gesprochenen Siedlungsmundarten werden oft als Hyperonym Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 257 bezeichnet, welche ihren Ursprung in einigen Varietäten der Vorderpfalz, Süd- Deutschlands und der Nord-Schweiz haben. Die Anfänge dieser religiösen Gemeinschaft gehen auf das 16. Jahrhundert zurück, nämlich auf die frühneuzeitliche Täuferbewegung in West- und Süddeutschland, in der Schweiz und in Teilen Österreichs. Die Amischen (auch Amish geschrieben) gehen auf Jakob Amann (1644-1730) zurück, der ein aus der Schweiz stammender Gemeindeältester war. Die Mennoniten berufen sich auf Menno Simons (1496-1561), der ebenfalls als Prediger in der frühen niederländischen Täuferbewegung tätig war. Durch die sozialen und religiösen Umbrüche im frühneuzeitlichen Europa angestoßen und zur Auswanderung in die religiös viel toleranteren USA ermutigt, ist die Einwanderung der deutschstämmigen Siedler in mehreren Etappen verlaufen, sodass sich von etwa 1680 bis zum Unabhängigkeitskrieg in den USA 1776 mehrere hunderte Familien dort niederließen (vgl. Kraybill 1998: 4; Schulze 2008: 133; Nolt 2003: 73). Anfangs in Pennsylvanien in Germantown (PeD: Deitscheschteddel, 1683 gegründet) niedergelassen, haben sich die unterschiedlichen dialektalen Sprechergruppen allmählich vermischt und ausgeglichen und über das Territorium der USA verteilt, indem die Siedler viele neue deutschsprachige Tochtersiedlungen gründeten. Die heutige Anzahl der amischen und mennonitischen Sprechergemeinde in den USA wird auf ca. 315.000 geschätzt, wobei die Sprecher in unterschiedlich große und dicht besiedelte Gemeinden bzw. church districsts 1 unterteilt werden (dazu mehr in Louden 2006: 92; Keiser 2012: 174; Kraybill 2018). Das PeD wird somit seit über drei Jahrhunderten in den USA von den einst deutschstämmigen Einwanderern gesprochen sowie an die nächste Generation als Muttersprache weitergegeben und gilt in den USA bis heute als eine wachsende und aktive sprachliche Minderheit. 3 Die paradoxe Lage des Pennsylvaniadeutschen Durch diese spezielle Sprachkontaktsituation mit dem Englischen in den USA ergibt sich für das PeD eine Reihe von interessanten, teilweise auch paradoxen sozio-linguistischen Forschungsperspektiven, welche hier kurz dargestellt und kritisch beleuchtet werden sollen. 3.1 Die soziale Stellung der Sprecher Entgegen vielen Befürchtungen und Annahmen von Linguisten (vgl. Huffines 1991: 496) hat sich die Sprache und die Kultur der Pennsylvaniadeutschen über die Jahrhunderte stabilisiert und ist zu einem konstanten Begriff in der Spra- 1 Quelle: http: / / groups.etown.edu/ amishstudies/ statistics/ population-2017/ (Jan. 2019). 258 Adam Tomas chenpolitik der USA geworden. Grundsätzlich kann in der deutschstämmigen Population in den USA zwischen zwei großen Gruppen von Einwanderern unterschieden werden. Einerseits sind viele der heutigen Nachkommen der Siedler zugleich Angehörige einer der zahlreichen religiösen Gemeinden bzw. der sog. sectarians, (wobei das Wort sect im Englischen dem dt. Ausdruck kirchliche Gemeinde entspricht und nicht mit dt. „Sekte“ zu verwechseln ist), die ihre Religiosität offen leben und dadurch eine besondere Stellung sowohl in ihrer eigenen Gemeinde, aber auch im sozialen Umfeld haben. Diese Glaubensgemeinschaften tragen teilweise unterschiedliche Namen (wie Old-Order-Amisch und Old-Order-Mennoniten oder New-Order-Mennoniten etc.), sie alle verbindet aber eine tiefe, religiöse Weltanschauung. Innerhalb dieser Gruppe gibt es natürlich viele Differenzen, welche durch unterschiedliche Herkunft oder religiöse Überzeugungen zu erklären sind (vgl. Nolt 2003: 157). Die zweite Gruppe der pennsylvaniadeutschen Sprecher sind die Nachfahren der deutschstämmigen Einwanderer (auch unter non-sectarians bekannt), die sich selbst manchmal auch als Deitsche bezeichnen, aber nicht den streng religiösen Gemeinschaften der Täuferbewegung angehören. Fast 50 Millionen der heutigen US-Bürger berufen sich immer noch auf ihre deutschstämmige Herkunft, was auch aus dem Zensus 2 von 2000 und 2009 hervorgeht. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass sich diese zwei Sprechergruppen, die in der modernen PeD-Forschung aufgrund ihrer unterschiedlichen Weltanschauung oft gesondert behandelt werden, am Anfang der Übersiedlung im 18. Jahrhundert kulturell und sprachlich wohl viel näher standen (siehe dazu insbesondere Louden 2016: 63). Hier beginnt das eigentliche demografische Paradoxon: Gerade diese zweite und moderate Einwanderergruppe hat im Laufe ihrer Übersiedlung von Europa in die USA eine grundlegende Veränderung und Umwandlung erlebt, sie stellte nämlich die überwiegende Mehrheit (über 85 %) der deutschstämmigen Emigranten im 17. und 18. Jahrhundert. Die schon in Europa sehr religiös und auch abgeschieden lebenden Amischen und Mennoniten hingegen stellten auf dem amerikanischen Boden nach der Umsiedlung eine klare Minderheit der europäischen Emigranten dar (< 15 %). Paradoxerweise ist jene große Gruppe von deutschstämmigen Emigranten in den letzten zwei Jahrhunderten rapide geschrumpft. Sie bilden auch zugleich diejenige Gruppe, die am wenigsten die Sprache ihrer aus dem deutschsprachigen Europa stammenden Vorfahren benutzt, und sie steuern eine weitgehend kulturelle wie sprachliche Assimilierung an. Schätzungen 2 Für 2000: http: / / www.census.gov/ population/ www/ cen2000/ censusatlas/ pdf/ 9_Ancestry. pdf; 2009: http: / / www.census.gov/ compendia/ statab/ 2012/ tables/ 12s0052.pdf (Jan. 2019). Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 259 zufolge gibt es heute nur ca. 40.000 deutschstämmige Amerikaner, die auch heute noch des Pennsylvaniadeutschen kundig sind. Oft entstand fälschlicherweise in den ersten Studien über die Amischen und Mennoniten der Eindruck, dass die Pennsylvaniadeutschen in großen Gruppen und als sehr religiös bereits in die USA übergesiedelt seien und dass sie sich deshalb über Jahrhunderte als Sprachgemeinschaft so stabil gehalten hätten. Dieses Bild der religiösen Aussiedler als dominante Gruppe ist wissenschaftlich nicht belegbar. Die strenggläubigen Amischen und Mennoniten haben erst im Nachhinein den Status der größeren Sprechergruppe erlangt (vgl. Louden 2016: 65), zumal sie kulturelle und identitätsstiftende Gemeinschaften bildeten, und haben somit das Überleben ihrer Sprache und Entität ermöglicht. Teilweise ist die heutige Überzahl der Amischen und Mennoniten neben der sehr hohen Geburtenraten aber auch damit zu erklären, dass die weniger religiösen Sprechergruppen ihre kulturelle Identität eher in der pionierhaften „neuen Welt“ gesehen haben als in dem Kulturerbe ihrer deutsch-europäischen Vorfahren. Auch vom demografischen Standpunkt her muss festgehalten bzw. berichtigt werden, dass die amische und mennonitische Population entgegen vieler Behauptungen nicht vom Aussterben bedroht ist oder als Substrat von dem englischen Superstrat an der Entwicklung gehindert wird. Die Pennsylvaniadeutschen sind die einzige Minderheit in den USA, deren Sprecherzahl sich in 25 Jahren regelrecht verdoppelt hat und somit einem Sprachtod oder Suizid aktiv entgegenwirkt, indem sie die Sprache und Kultur an neue Muttersprachler weitergeben (vgl. Keiser 2012: 174; Louden 2016; Kraybill 2018). Vom Standpunkt der Sprachpflege konnte auch oft gelesen werden, dass es bei den Pennsylvaniadeutschen einen inneren Sprachkonflikt geben könnte, da sie oft kein akzentfreies Englisch sprechen oder keinen großen Kontakt zu den Englisch Sprechenden suchen. Auch diese Sicht ist fachlich nicht vertretbar, zumal Linguisten und Soziologen in etlichen Forschungen beweisen konnten, dass nahezu alle erwachsenen Sprecher stabil bilingual (L1 = Pennsylvaniadeutsch, L2 = Englisch, vgl. Louden 1994: 286) sind und sie selber großen Wert auf kompetentes Englisch legen, da ihre guten Geschäftsbeziehungen mit dem Englisch sprechenden Umfeld überlebenswichtig sind (vgl. Louden 1994: 87; Keiser 2012: 173). Weiterhin verläuft auch die Schulausbildung der amischen und mennonitischen Kinder überwiegend auf Englisch, wie es von der landesspezifischen Schulbehörde vorgeschrieben wird. Die Amischen und Mennoniten erkennen diese Schulbehörden sowie deren Lehrpläne an und erteilen Unterricht überwiegend auf Englisch, mit geringen, für die amischen und mennonitischen Schulklassen zugelassenen Änderungen im Lehrplan. Von dem sogenannten individualisierten Heimunterricht (home-schooling) nehmen sie grundsätzlich aus ideologischen Gründen Abstand und fördern den gemeinsamen Unterricht in von ihnen selbst geleiteten Gesamtschulen, was wiederum von einer hohen sozialen und 260 Adam Tomas bilingualen Kompetenz der Glaubensgemeinschaft zeugt. Grundsätzlich werden die Luther-Bibel, ein paar Lesebücher und Schreibschrifttrainer auf Hochdeutsch für den Deutschunterricht verwendet. Dies variiert aber von Gemeinde zu Gemeinde (vgl. Fisher/ Stahl 1997: 40: Nolt 2003: 277). Schriftliche Unterlagen in PeD werden nur vereinzelt als Lehrmaterial benutzt. Dadurch gewährleistet man allen Amischen und Mennoniten bzw. deren Kindern eine gleichberechtigte Teilnahme an der sozialen Interaktion in den USA. Wichtig ist auch der Hinweis, dass die Pennsylvaniadeutschen ein sehr gut funktionierendes und solidarisches Krankenversicherungssystem (Amish Hospital Aid) haben, welches in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts freiwillig eingeführt wurde, Jahrzehnte vor dem Beschluss des US-Kongresses 2010 zu dem Patient Protection and Affordable Care Act, auch als „Obama-Care“ bekannt (vgl. Wenger-Zimmermann 1995: 14; Igou 1999: 293; Kraybill 2008). Durch diese soziologischen Hintergründe sowie die dargestellten Beispiele aus dem Leben der Pennsylvaniadeutschen sollte das in der Gesellschaft leider oft verzerrt vorherrschende Bild über die Amischen und Mennoniten als asozial und rückständig lebende Gemeinschaft korrigiert und richtiggestellt worden sein. Meine linguistischen Untersuchungen richten sich also auf diese Gruppe der deutschen Emigranten, die ihre deutschstämmigen Bräuche pflegen sowie den aktiven Gebrauch ihrer pennsylvaniadeutschen Muttersprache praktizieren. 3.2 Pennsylvaniadeutsch als Literatursprache Im linguistischen Bereich ergeben sich gleichwohl interessante wie auch paradoxe Forschungsperspektiven, welche in den letzten Jahren von Sprachinselforschern über Varietätslinguisten bis hin zu Historikern untersucht wurden. Hier sollten die wichtigsten Erkenntnisse kurz zusammengetragen werden. In den letzten Jahrzehnten wurde in der allgemeinen Varietätenlinguistik über den Status des PeD diskutiert, und inzwischen herrscht der Konsens vor, dass es sich bei dem PeD nicht um einen an das Deutsche angelehnten Dialekt mit englischen lexikalischen Einschüben handelt, sondern um eine eigenständige und vollfunktionsfähige Sprache (vgl. Louden 2003: 124). Hierfür spricht erstens die Tatsache, dass sich im Laufe der letzten drei Jahrhunderte das PeD von den zur Zeit der Auswanderung gesprochenen deutschen Varietäten stark distanzierte, was teils durch die physische Distanz und teils durch die religiöse Abgeschiedenheit mancher Sprechergruppen zu erklären ist. Zweitens hat sich ein eigenständiges Diasystem des PeD etabliert, was auf seinen diatopischen und diaphasischen Ausprägungen basiert (vgl. Pottelberge 2004: 295; Hans- Bianchi 2013: 114). Hinzu kommt auch eine sehr spezielle, dem StD unbekannte Lexik, die teils durch Sprachkontakt mit dem Englischen, teils auch mit dem Lebensstil der Sprecher selbst zu begründen ist. Dies erschwert eine Kommunikation vom Standpunkt eines StD-Sprechers erheblich oder lässt diese erst gar Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 261 nicht mehr zustande kommen. Das wohl wichtigste Merkmal einer eigenständigen Sprache ist schließlich ihre eigenständig funktionierende Paradigmatisierung von authentischen morphosyntaktischen Merkmalen (Pluralformen, Flexionsendungen etc.). So sind Sätze im PeD auffindbar wie: (6) Unsereens sin die Guckbax am watcha. [engl. watch] [StD: Wir gucken gerade Fernsehen/ Wir sind Fernsehen am gucken.] (7) Die Kieh sin iwwe di Fens [engl. fence] getschumpt. [engl. jump] [StD: Die Kühe sind über den Zaun gesprungen.] (8) Was hast du fir es Breakfast ghatt? I hab e Karsche-Boi [engl. pie] ghatt! [StD: Was hast du zum Frühstück gehabt? Ich habe einen Kirsch- Kuchen gehabt.] Englische Lehnwörter bilden einen allgemein akzeptierten Teil des Wortschatzes, dennoch ist nach wissenschaftlichen Berechnungen und jüngsten Studien zufolge nur etwa 20 % der Lexik im PeD aus dem Englischen übernommen (vgl. Bowie 1997: 4; Louden 2016: 28). Auch wenn solche Sätze merkwürdig klingen oder nach einer Korrektur verlangen, ist der Weg der lexikalischen Lehnbildung eine akzeptierte Konstante in Sprachkontaktsituationen, und auch in der heutigen medial vernetzten Kommunikation sind solche Lehnwörter nicht nur möglich, sondern üblich und völlig verständlich: (9) Ich habe zuerst nach einem Patch gegoogelt, dann habe ich ihn gedownloadet/ downgeloadet und ihn dann gehackt. Voll cool! Weiterhin ist im PeD noch hervorzuheben, dass der oft vorausgesagte Sprachtod der Sprachinselsprache nicht nur ausgeblieben ist, sondern sich die Sprache als eigenständiges Kommunikationsmittel für eine eigenständige Entität etabliert hat. Die Sprachgemeinschaft der PeD-Sprecher hat erkannt, dass alleine durch die aktive Anwendung und die Weitergabe an die nächste Sprechergeneration eine Sprache vor dem Sprachtod nicht bewahrt werden kann, sondern dass das Überleben der Sprache auch durch deren Verschriftlichung und Festigung im Schulalltag und in den Medien gesichert werden muss (vgl. Dorian 1978: 415; Huffines 1994: 58). Im Umkehrschluss sind daher nicht allzu viele Lehnprägungen auch als ein Zeichen zu sehen, dass die Sprache stabil ist und dass nicht übermäßig viele fremde Strukturen und Lehnwörter transferiert werden müssen, um den Sprachgebrauch zu gewährleisten und die Sprache selber attraktiver zu machen (vgl. Dorian 1989: 353; Myers-Scotton 1992: 32; Sasse 1992: 8). Genau dies ist im PeD gelungen, nämlich eine sukzessive Verschiebung des Sprachgebrauchs aus dem mündlichen in den schriftlichen Bereich. Die Sprachinselforschung konnte seit den letzten Jahrzehnten eindeutig belegen, dass sich das PeD von einem fast ausschließlich oralen Kommunikationsmedium einer in 262 Adam Tomas sich geschlossenen und isolierten Gesellschaft zu einer schriftlichen Kultur verändert hat, was durch zahlreiche Schrifterzeugnisse zu dokumentieren ist. Von den unzähligen Werken pennsylvaniadeutscher Schriftsteller und Dichter sind besonders die unzähligen Quellen der deutschstämmigen Emigranten zu nennen, die ihre Deitscherei bereits seit der ersten Einwanderungswelle dokumentieren. 3 Haag (1982; [Hrsg.] 1988) hat hierzu in seiner Pennsylvania German Anthology eine vielschichtige Zusammenstellung von Gedichten und Prosawerken zusammengetragen, welche eine breite Bevölkerungsschicht der Deutschstämmigen in den USA umfasst. Nennenswert sind unter anderem die Gedichte und prosaischen Werke von Henry Harbaugh (1817-1867; Der Piewie), Henry L. Fischer (1822-1909; Elbedritsch Fange), David B. Brunner (1835-1903; Die Mary Hot En Lämmel g’hat) und das Gedicht America von John Birmelin (1873-1950; [erste Strophe]): (10) America Mei Land, ich sing vun dir, Siess iss die Freiheet mir, Do will ich sei; So wie die alde Leit, So fiehl ich aa noch heit, Bin dir zu yedre Zeit Immer gedrei. Es wurden auch zahlreiche literarische Werke ins PeD übersetzt, 4 wie beispielsweise Antoine de Saint-Exupérys Der glee Prins, Heinrich Hoffmanns Der Schtruwwelpitter und Wilhelm Buschs Max und Moritz, was zur Festigung der Sprache und zur Verbreitung der Druckerzeugnisse führte. Zu den grundlegenden Errungenschaften diesbezüglich zählt aber die Bemühung der PeD-Sprecher, selbst dieser Sprache eine schriftliche Gestalt zu geben und somit den Übergang von der Mündlichkeit zur Verschriftlichung zu ebnen. Zweifellos als das wichtigste Werk dieser Transition ist die Übersetzung der Bibel ins PeD, die Di Heilich Shrift, zu bewerten: (11) Lukas 2: 46: Si henn drei dawk gegukt fe een, no henn sie een kfunna im tempel. [Sie suchten nach ihm für drei Tage, und sie fanden ihn im Tempel.] Zahlreiche und sehr beliebte Blogs und Internetpräsentationen (wie z. B. Your PA Dutch Minute von Doug Madenford 5 oder Toad Creek Music von Keith 3 Dazu mehr in Elspaß (2005: 26) oder Costello (1989: 4). 4 Mehr zu den pennsylvaniadeutschen Publikationen unter http: / / www.verlag-tintenfass.de (Juni 2018). 5 Doug Madenford: https: / / www.youtube.com/ watch? v=DTHyYuP5cb8 (Juni 2018). Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 263 Brintzenhoff 6 ) zeugen ebenfalls von einem revitalisierenden Effekt der neuen Medien und zugleich auch von dem Nutzen dieser sozialen Medien bei der Bekämpfung von Sprachtod. Auch die anfangs in Deutschland initiierte und in Kutztown (PA) publizierte Zeitschrift Hiwwe wie Driwwe 7 vereint mit Erfolg als einzige in PeD gedruckte Zeitschrift die Leser aller Schichten und sozialer Zugehörigkeiten und bringt Neuigkeiten über das Leben der Deutschen in den USA in pennsylvaniadeutscher Sprache. An diesem Prozess beteiligten sich anfangs die strenggläubigen amischen und mennonitischen Gemeinden aus religiösen Überzeugungen tatsächlich eher zögerlich (vgl. Tomas 2018: 105). Mit über 300.000 Sprechern aber geht es hierbei gerade um die Sprache und Kultur dieser religiösen Gruppen, welche die eigentliche Mehrheit der Sprachgemeinschaft der Pennsylvaniadeutschen bilden und deren Sprachtod es zu verhindern gilt. Dieser drohenden Tatsache sind sich die religiösen Gemeinschaften in den letzten Jahrzehnten immer bewusster geworden (vgl. Pottelberge 2004: 235). Ihrer spürbar toleranteren Haltung zu Sprachforschern und dem Interesse anderer Mitglieder der Sprachgemeinde, die teilweise auch keine Muttersprachler (also L2-Sprecher) sind, ist es wohl zu verdanken, dass jede Gruppe auf ihre Weise zum Erhalt und zur Verbreitung der pennsylvaniadeutschen Sprache beigetragen hat. Durch die oben angeführten Beispiele ist ersichtlich geworden, dass sich die pennsylvaniadeutsche Sprachgemeinschaft, sowohl die der sectarians wie auch die der non-sectarians, über Jahrzehnte mit guter Sprachpolitik und viel Engagement in Schulen und Medien für ihre eigenen Interessen eingesetzt hat und somit ein Bild einer Sprachminderheit zeichnet, die keineswegs rückständig, ignorant oder unmündig agiert, sondern ihre Identität in der Kultur und Sprache erkannt hat und rechtzeitig für deren Erhalt die nötigen Weichenstellungen eingeleitet hat. 3.3 Auswirkungen von Sprachkontakt Durch die bilinguale Spracherziehung nahezu fast aller pennsylvaniadeutschen Sprecher und die alltäglichen Überlagerungen vom PeD und Englisch ergeben sich daraus typische Sprachkontaktauswirkungen wie Diglossie, Code-Switching und Transferenz. Bei Sprachkontaktsituationen, in denen eine bestimmte Aufteilung in Nutzungsbereiche oder Domänen von zwei Sprachen vorliegt, sprechen wir von Diglossie (Riehl 2004: 15). Das PeD bildet bei den religiösen amischen und mennonitischen Gemeinden in fast allen Alltagssituationen wie im familiären Um- 6 Keith Brintzenhoff: http: / / www.toadcreekmusic.com (Juni 2018). 7 https: / / hiwwewiedriwwe.wordpress.com/ (Juni 2018). 264 Adam Tomas kreis, bei der Arbeit oder im Gottesdienst ausnahmslos die dominante Muttersprache (L1) und ist gefolgt vom bilingualen Gebrauch des Englischen (L2), welches meistens als Schulsprache, Behörden- und Umgangssprache mit den nicht-amischen Mitbürgern verwendet wird. In solchen Konstellationen kann zweifelsohne von Sprachaufteilung gesprochen werden, und diese getrennten Domänen werden von den Sprechern des PeD auch strikt eingehalten. Der Gebrauch der jeweiligen Sprache bzw. die Bevorzugung einer der beiden Sprachen ist jedoch nicht als eine Wertung der Sprecher oder Abneigung gegenüber der Zweitsprache zu verstehen, sondern ist aus rein sprachökonomischen und situationsbedingten Anlässen entstanden (vgl. Louden 1994: 87), sodass das Private vom Öffentlichen bzw. das familiäre Gespräch von der geschäftsbezogenen Unterhaltung getrennt werden kann. Unter Code-Switching ist die Alternation zwischen zwei Sprachen innerhalb ein und derselben sprachlichen Interaktion zu verstehen, was wiederum auch davon zeugt, dass der Sprecher beide Sprachen beherrschen muss, um sie während eines interaktiven Kommunikationsaktes bei Bedarf gesprächsfördernd einzusetzen. Der Auslöser für einen internen Sprachwechsel ist grundsätzlich in einem intentionalen Diskurs- oder Strategiemittel zu sehen, wenn beispielsweise ein neues Thema eingeleitet wird, wenn sich eine neue Gesprächssituation ergibt oder neue Gesprächspartner ohne pennsylvaniadeutsche Sprachkenntnisse hinzukommen (vgl. Clyne 2003: 172). Häufiger ist aber der nicht intentionale, spontane Übergang zu einer anderen Sprache zu beobachten. Hierbei wäre die Erklärung für das Code-Switching aber darin zu sehen, dass man nicht zweifelsfrei alle lexikalischen oder morphosyntaktischen Einheiten aus der „Anfangssprache“ beenden kann; daher switcht man in die komfortablere oder kompatiblere „Endsprache“: (12) Bloss net zu hatt, der Balloon kann … it will burst. (fehlendes lexikalisches Element „platzen“) [StD: Blass nicht zu fest, der Ballon könnte platzen! ] (13) Sie sind in dr Scheier am … hayda. (fehlendes lexikalisches Element für „verstecken“, engl. hide) [StD: Sie sind in der Scheune und verstecken sich/ ? sich am verstecken.] (14) Viel Haisa sind … being built recently! (fehlende grammatische Struktur für Passiv-Progressiv) [StD: Viele Häuser werden gebaut/ ? sind am gebaut werden.] Die häufigste Art von Sprachkontakt aber stellt sicherlich der Transfer von Lexik oder sogar von gesamten grammatischen Strukturen aus einer Sprache in die andere dar, sodass die gerade gesprochene Sprache in bestimmten Gesprächssituationen nach dem Muster der anderen beherrschten Sprache verändert und zum festen Bestandteil der Sprache wird. Hierbei handelt es sich um die linguistische Transferenz (Clyne 1991: 160). Diese unterschiedlichen Qualitäten von Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 265 Sprachalternation und Austausch von Lexik, Morphologie und Prosodie sieht Stößlein (2009: 71) als eine Art Kontinuum und somit auch als logische Folge von Sprachen im Kontakt. Zuerst werden nur vereinzelte Wörter oder Phrasen spontan alterniert, danach ganze Strukturen, und zum Schluss werden diese geliehenen Strukturen aus der einen Sprache zum Standardrepertoire der anderen. Zu unterscheiden ist dabei, von welcher der beiden verwendeten Sprachen (L1 oder L2) der dominante Einfluss kommt und auf welchen Bereich der Sprache sich die Transferenz auswirkt. Normalerweise ist es häufiger zu beobachten, dass die L1 mehr Einfluss auf die L2 im Bereich der Phonetik, Prosodie und Syntax hat. So ist es allgemein bekannt, dass die Pennsylvaniadeutschen aus der Sicht der englischen Muttersprachler das Englische mit einem nur für die Amischen typischen Akzent sprechen, da die dominante Prosodie (Wortakzent, Intonation, Sprechrhythmus) auf das Englische unbewusst übertragen wird. Hingegen betrifft der Einflussbereich der L2 auf die L1 bei den pennsylvaniadeutschen Sprechern die Auswahl von gesprächsrelevanten Substantiven oder Verben, welche aus dem Englischen transferiert werden. Einige Überlagerungsbereiche aus der Lexik zeigen diese Beispiele: (15) I bin in dr Schtor [engl. store] ganga und hob ebbas gkauft fir Breakfast. [engl. breakfast] [StD: Ich bin in den Laden gegangen und habe etwas gekauft fürs Frühstück.] (16) Bloos net so hatt, d Balloon waerd verpoppa. [engl. to pop = dt. platzen] [StD: Blas nicht so hart, der Ballon wird platzen.] Der etwas komplexe Transfer vollzieht sich auf der morphosyntaktischen Ebene, weil man für die korrekte Alternierung zweier Sprachsysteme gute bilinguale Kenntnisse benötigt, um beispielsweise englische Lexik an das deutsche Flexionssystem anzupassen: (17) Was isch g’heappent? [dt. PII-Endung zum engl. Verb to happen] [StD: Was ist passiert? ] (18) Mir hen di Sichl geyust fir’s Graas schneida. [dt. PII-Endung zum engl. Verb to use] [StD: Wir haben die Sichel benutzt, um Gras zu schneiden.] (19) Sarah is ihre Heemarewet am duhn, kumm schpaeder fir schpiela. [vgl. engl. for playing] [StD: Sarah macht ihre Hausaufgaben, komm später, um zu spielen.] (20) Ich bin am gucka fir di Kinna. [vgl. engl. I am looking for the children.] [StD: Ich suche die Kinder.] Schließlich werden auch bei lang anhaltenden und intensiven Sprachkontaktsituationen vollständige, anfangs fremdartige grammatische Strukturen aus einer 266 Adam Tomas Sprache in die andere repliziert und werden somit ein Teil des Lexikons (Matras 2009: 29; Riehl 2014: 105). (21) Wie bischt du heit? [vgl. engl.: How are you today? ] [StD: Wie geht es dir heute? ] (22) Ich bin guud! [vgl. engl.: I am good! ] [StD: Mir geht es gut.] (23) Ich duh dei Kaffi gleicha! [vgl. engl.: to like] [StD: Mir gefällt/ schmeckt dein Kaffee.] Durch diese replizierten Strukturen und die unterschiedlichen Lehnprägungen (z. B. Fens = Zaun; Karsche-Boi = Kirsch-Kuchen; gleicha = mögen, gefallen), welche im PeD allmählich Eingang in das mentale Sprachlexikon gefunden haben und nun als fester Bestandteil der Sprache gelten, hat sich die Sprache der amischen und mennonitischen Sprachgemeinschaften in den USA endgültig von allen kontinentaldeutschen Varietäten und Dialekten losgelöst und sich von der irrtümlichen Annahme entfernt, diese Sprache sei lediglich eine Mischung aus deutschen Dialekten und englischen Wörtern. Die Eigenständigkeit dieser Sprache wird gerade durch die einzigartigen morphosyntaktischen Elemente bestätigt, die sehr produktiv, sehr einfach erlernbar und nachweislich weiträumig im Sprachgebrauch aller amischen und mennonitischen Sprechergemeinden eingesetzt werden. 4 Das morphosyntaktische Novum im Pennsylvaniadeutschen Es wurden schon viele morphosyntaktische Merkmale des PeD skizziert und beschrieben, um einen Einblick zu geben, welche grammatischen Neuerungen im PeD auftreten. So wurde beispielsweise der fortschreitende Kasus-Synkretismus detailliert aufgezeigt (vgl. Keel 1994: 99; Salmons 2003: 111; Ness 2003: 188; Louden 2005: 265; Riehl 2013: 168; Tomas 2018: 200). Die Vielseitigkeit der tun- Periphrasen in den germanischen Sprachen, in einigen deutschen Varietäten wie auch dem PeD (duhn) wurde ebenfalls empirisch aufgearbeitet (Abraham/ Fischer 1998; Langer 2001; Schwarz 2009; Tomas 2017: 76). 4.1 Der am-Progressiv als Verbalparadigma Zweifelsohne gilt als die wichtigste morphosyntaktische Neuerung im PeD die Entstehung einer neuen aspektaffinen Verbalkategorie mit Hilfe der am-Progressiv-Konstruktion (sein F INITUM +am+V I NF ). Durch diese sog. Verlaufsform mit dem am-Progressiv kann eine im Verlauf befindliche Verbalsituation präziser fokussiert werden, und das ermöglicht eine eindeutig imperfektive Perspektivie- Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 267 rung einer Verbalsituation. Kaum ein grammatisches Phänomen im Bereich des Sprachwandels hat in den letzten Jahren so viele linguistische Beiträge hervorgebracht, was von einer gestiegenen Wahrnehmung zeugt (vgl. Reimann 1996; Krause 2002; Pottelberge 2004; Tomas 2016), sodass laut Klosa (1999: 137) das gesamtdeutsche Sprachkontinuum „sich am verändern“ ist. Der am-Progressiv stellt im PeD ein äußerst produktives morphologisches Ausdrucksmittel dar, welches dazu dient, ein Inzidenzschema oder eine sich im Verlauf befindliche Handlung darzustellen. Die Distribution der am-Progressive ist nahezu in ganzem Tempusparadigma darstellbar: (24) D Ann is am Eppl schaela. (Präsens) [StD: Die Anna ist am Äpfel schälen.] (25) Ich waar d ganza Nochmiddaag dr Schteeg am budza. (Präteritum) [StD: Ich war den ganzen Nachmittag den Steg/ die Treppe am putzen.] (26) Sie hat gsaat, es is am reahra gwesn d ganza Daag. (Perfekt) [StD: Sie hat gesagt, es ist am regnen gewesen den ganzen Tag.] (27) Er waar der ganze Daag am Frucht schneide gwesn. (Plusquamperfekt) [StD: Er war den ganzen Tag am Früchte/ Ernte schneiden gewesen; aus Hiwwe wie Driwwe 8 .] Die obigen Beispielsätze verdeutlichen, dass der am-Progressiv im PeD ein produktives und funktionsfähiges Tempusparadigma gebildet hat. Paradoxerweise sind diese oder ähnliche am-Formen in vielen deutschen Varietäten und Dialekten ebenso präsent, die weiträumige Distribution der Verlaufsform wird aber nur dadurch gehindert, dass der Gebrauch im StD bislang durch schulische Regelwerke und Medien als eine nicht normkonforme Ausdrucksweise behandelt wird ( ? * Egon ist/ war/ muss am spielen/ gewesen sein etc.). Für eine solche Sanktionierung bestehen weder morphosyntaktische noch kommunikativ-pragmatische Hindernisse, welche das Verständnis oder die Anwendung der am-Progressive beeinträchtigen würden (vgl. Tomas 2016: 59). 4.2 Der am-Progressiv und das Passiv Aus der Sicht des Autors etabliert sich gerade im PeD ein morphosyntaktisches Novum in der Aspektforschung. In den frühen Studien über das PeD galt es als schwer, die Passivfähigkeit der am-Progressive nachzuweisen (vgl. Costello 1989: 4; Louden 2005: 257), und die Produktivität dieser Formen blieb in der germanistischen Linguistik weitgehend unbeachtet. Die 2014 in Pennsylvania und Ohio durchgeführte empirische Studie offenbart jedoch Neuigkeiten auf diesem 8 http: / / issuu.com/ hiwwewiedriwwe/ docs/ hwd_2.11.pdf__e-paper (Juni 2018). 268 Adam Tomas Gebiet, da sich im PeD durch die nachgewiesenen passivfähigen am-Progressive eine linguistische Besonderheit etabliert. Konstruktionen nach dem Muster sein F INITUM +am+PII+werden I NF gelten im PeD unter den beiden beobachteten Sprechergruppen, den amischen Gemeinden wie unter den anderen deutschstämmigen Sprechern, als allgemein verständlich und produktiv: (28) A few Haisa sind am gebaut werra dorum. [StD: ? Ein paar Häuser sind am gebaut werden hier/ werden hier gebaut.] (29) Es sind viel Haisa am gebaut werra lately. [StD: ? Es sind viele Häuser am gebaut werden in letzter Zeit./ Es wurden kürzlich viele Häuser gebaut.] (30) Es letschde mol, ass ich eich gesehna hab, waar eiha Haas am gebaut werra. [StD: ? Das letzte Mal, dass/ als ich euch gesehen habe, war euer Haus am gebaut werden.] (31) Hello, dei Bois sind alleweil am gewickeld werra, hock dich doch hi fer en Minutt. [StD: ? Hallo, deine Kuchen sind am eingewickelt werden, hock dich hin für eine Minute.] (32) Ich kann dich unsr neie Pony weisa, derweel ass die Kieh am gemolka werra sin. [StD: ? Ich kann dir unser neues Pony zeigen, solange die Kühe am gemolken werden sind.] Im StD wie auch in den regionalen deutschen Varietäten wäre der Satz ? Viele Häuser sind am gebaut werden mit großer Wahrscheinlichkeit als miss- oder unverständlich zu werten. Die am-Progressiv-Konstruktionen sind in der Sprache der Amischen und Mennoniten in den USA sehr lange präsent und sind auf dem Weg, neuwertige grammatische Ausdrucksmittel zu produzieren und sogar eine vollwertige Passiv-Konstruktion zu erschließen. Dadurch, dass sie weder durch eine präskriptive Selektion behindert noch durch sozio-linguistische Faktoren wie Schulregeln oder Mediensprache bewertet werden, haben sie im Grammatikalisierungsprozess im Vergleich zum StD eine bessere Ausgansposition erzielt und sichern somit dem PeD ein sehr stabiles und zukunftsträchtiges Diasystem. Hier muss nochmal die irreführende Annahme korrigiert werden, derzufolge die Grammatikalisierung der Progressivformen im PeD mit dem Sprachkontakt mit dem Englischen einhergegangen sei, zumal das Englische ein funktionsfähiges und passivfähiges Progressiv-Paradigma vorweisen kann. Durch viele bereits veröffentlichte diachrone Studien kann zweifelsfrei belegt werden, dass viele dieser am-Progressiv-Konstruktionen grundsätzlich schon vor der Auswanderung in die USA benutzt wurden und nicht erst nach der Umsiedlung (vgl. Elspaß Das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon 269 2005: 26). Hinzu kommt auch die Tatsache, dass auch die Bauweise dieser Konstruktionen im Englischen und PeD grundlegend differiert, was darauf hindeutet, dass die Grammatikalisierung der Progressivformen im PeD durch den Sprachkontakt mit dem Englischen nicht initiiert worden ist, sondern lediglich dadurch begünstigt wurde (vgl. Tomas 2018: 253). 5 Fazit Worin spiegelt sich das Pennsylvaniadeutsch-Paradoxon wider? Einerseits ist es dem PeD, einer in die USA „entstandenen“ Sprache, der so oft der kulturelle Niedergang prophezeit wurde, dennoch gelungen, zu einer eigenständigen Sprache und etablierten Kultur zu werden. Dazu beigetragen haben über die letzten drei Jahrhunderte alle Sprecher der diversen Sprachgemeinschaften mit ihrer kulturellen, sozio-linguistischen und demografischen Präsenz. Andererseits hat es das PeD auch erfolgreich geschafft, als eine Sprache ohne normgebende Institutionen gewisse sprachliche Neuerungen und Tendenzen beizubehalten. Die Kodifizierung eines sprachlichen Phänomens erfolgt meistens nur langsam über institutionalisierte Instanzen, welche einem neuen grammatischen Ausdruck oder einem neuen Lexem den Eingang in das kanonische Regelwerk der Sprache ermöglichen. Diese Regelwerke bzw. sprachfördernden Institutionen bewahren eine Sprache zugleich auch vor einem drohenden Sprachverfall. Das PeD besitzt diese normativen Instanzen nicht oder zumindest nicht so ausgeprägt wie das StD (vgl. Tomas 2018: 268), hat aber dennoch die oben beschriebenen linguistischen Neuerungen bzw. eine Koexistenz von unterschiedlichen grammatischen Parallelformen ohne sozio-linguistische Stigmatisierung zugelassen. Dies führte dazu, dass sich im PeD über Jahre hinweg neue grammatische Ausdrucksmittel und eine eigenständige Lexik unabhängig vom Kontinentalgermanischen entwickelt haben und festigen konnten. Die oben beschriebenen, sich etablierenden passivfähigen Progressiv-Konstruktionen sind ein einmaliger Nachweis einer paradigmatisierten grammatischen Einheit, welche es in keiner westgermanischen Sprache in dieser Form gibt - außer im Englischen. Im Niederländischen und im Afrikaans hat diese Entwicklung noch nicht stattgefunden (vgl. Tomas 2018: 195); im StD wurden diese und noch weitere Entwicklungen durch Sprachnormierungen behindert (vgl. Langer 2001: 98; Busch 2003: 16). Der Grund hierfür liegt in den eliminativen Normierungsprozessen der Standardisierung von Sprache, und diese Stigmatisierungen beruhen mehrheitlich auf prestigeträchtigen und präskriptiven Grammatiken (vgl. Riehl 2004: 163). Paradoxerweise werden gerade im normfernen PeD diese am-Konstruktionen präferiert, und sie entwickelten in den letzten Jahrzehnten ein vollständiges Progressiv-Paradigma, welches bei allen Bevölkerungsschichten und nahezu allen 270 Adam Tomas Altersgruppen der Amischen und Mennoniten belegbar ist; durch die Verschriftlichung dieser einst oralen Kultur bahnen sich diese neuen Formen nun den Weg ins mentale Lexikon der pennsylvaniadeutschen Sprachgemeinschaft. Dies erklärt auch den momentanen Stand der am-Progressive im StD, zumal diese Konstruktionen nach wie vor durch die oben beschriebenen Normierungsprozesse stigmatisiert werden und ihre Grammatikalisierung „verhindert“ wird (vgl. Tomas 2017: 73). 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Während es ursprünglich auf Kolonisierung zurückgeht, wird es von einer Sprachgemeinschaft mit deutschen Wurzeln gesprochen, die heute noch in Namibia lebt. Es unterscheidet sich damit von typischen (post-)kolonialen Varietäten und ähnelt eher „Sprachinsel“-Varietäten des Deutschen. Anders als diese beiden Typen - und in diesem Punkt dem Deutschen in Europa ähnlicher - ist das Deutsche in Namibia jedoch linguistisch vital, wird als Erstsprache von Kindern erworben und wird auch in Bereichen des öffentlichen Lebens verwendet. Entsprechend finden sich nicht nur zahlreiche interessante Sprachkontaktphänomene, sondern auch systematische Registerdifferenzierungen. In unserem Aufsatz vergleichen wir den Sprachgebrauch in informellen und formellen Situationen, untersuchen den Status informeller Register im linguistischen Repertoire der Sprecher(innen) und diskutieren die Rolle von Standardsprachideologien in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem Deutsch nicht die nationale Majoritätssprache ist und sie mit der soziolinguistischen Markierung einer lokalen, namibischen Identität interagieren. 1 Sonderfall Namdeutsch In Namibia findet sich eine etwa 20.000 Sprecher(innen) umfassende deutsche Sprechergemeinschaft, die Deutsch muttersprachlich verwendet und dabei eigene, namibia-typische Charakteristika im Sprachgebrauch entwickelt hat, die durch die Mehrsprachigkeit der Sprechergemeinschaft befördert werden. Sprecher(innen) sind typischerweise mindestens dreisprachig und beherrschen neben dem Deutschen noch Afrikaans und Englisch; darüber hinaus finden sich teilweise unterschiedlich stark ausgeprägte Kompetenzen in autochthonen afrikanischen Sprachen, die in Namibia verbreitet sind, etwa Oshiwambo oder Nama/ Damara. Unter den deutschen Varietäten, die durch Emigration und Kolonialisierung in außereuropäischen Regionen entstanden sind, nimmt das Namdeutsche eine besondere Stellung ein (vgl. Wiese u. a. 2017). Wie im Fall von Sprachinselvarietäten (hierzu etwa Rosenberg 2003; Boas 2009a) handelt es sich um eine Sprechergemeinschaft ursprünglich deutscher Herkunft. Die Wurzeln liegen hier jedoch, anders als das bei Sprachinselvarie- 274 Heike Wiese/ Yannic Bracke täten typischerweise der Fall ist, in der Kolonialisierung. Unter dem Namen „Deutsch-Südwestafrika“ bestand hier von 1884 bis 1915 eine Kolonie des Deutschen Reiches, die im Gegensatz zu anderen Kolonien nicht als reine Ausbeutungs-, sondern als Siedlungskolonie konzipiert war, d. h. die Immigration aus Deutschland wurde aktiv unterstützt (vgl. etwa Kellermeier-Rehbein 2016; Böhm 2003). Damit ähnelt Namdeutsch vielen (post-)kolonialen Varietäten, die zur Entstehung von Kreols etwa des Englischen oder Französischen geführt haben, unterscheidet sich jedoch vom Unserdeutschen, das als (einziges) deutschbasiertes Kreol im heutigen Papua-Neuguinea entstand (vgl. Maitz 2016). Anders als das Unserdeutsche und auch die meisten Sprachinselvarietäten ist das Deutsche in Namibia nicht moribund (vgl. Mattheier 2003 zum Sprachtod im Fall von Sprachinseln), sondern weiterhin äußerst vital (vgl. Pütz 1991; Ammon 2015; Zimmer 2019). Es wird innerhalb der Sprechergemeinschaft als Erstsprache erworben und regelmäßig in der Kommunikation in Familie und Freundeskreis verwendet. Während man solche Verwendungen in einigen Fällen auch in Sprachinselvarietäten noch beobachten kann, insbesondere für relativ isolierte religiöse Minderheiten (vgl. Johannessen/ Salmons 2015 zu den USA), ist das Deutsche in Namibia jedoch nicht auf solche informellen Kontexte beschränkt: Deutsch wird nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch in öffentlichen Domänen verwendet; es erhält institutionelle Stützung durch private deutsche Kindergärten und Schulen, durch deutschsprachige Gottesdienste und durch Medien wie die „Allgemeine Zeitung“ (die einzige deutschsprachige Tageszeitung Afrikas) oder das „Hitradio Namibia“, und es wird auch als Arbeitssprache verwendet, insbesondere im Tourismus, der einen wichtigen Wirtschaftsfaktor Namibias ausmacht, aber auch in einigen anderen Bereichen der Wirtschaft (zur Verwendung des Deutschen in Namibia vgl. ausführlich Shah/ Zappen- Thomson 2018). Das Deutsche in Namibia ist daher nicht nur durch Kontaktphänomene charakterisiert (hierzu etwa Shah 2007; Wiese u. a. 2014), wie wir sie vergleichbar auch in anderen, infolge von Emigration und Kolonialisierung entstandenen Varietäten des Deutschen finden, sondern zeichnet sich zudem durch eine Registerdifferenzierung für formelle und informelle Kontexte aus, die diese Varietät besonders interessant macht. Wir verstehen dabei unter „Register“ allgemein einen situativ bestimmten und lexikalisch und/ oder grammatisch ausdifferenzierten Sprachgebrauch, der systematisch für unterschiedliche kommunikative Zwecke eingesetzt wird (vgl. etwa Biber/ Conrad 2009). Die Ausdifferenzierung bedeutet, dass sprachliche (lexikalische und/ oder grammatische) Merkmale identifiziert werden können, die sich systematisch in verschiedenen kommunikativen Situationen unterscheiden und damit ein sprachliches Register begründen, dass diese charakterisiert. Für unsere Untersuchung reicht zunächst eine grobe binäre Unterscheidung solcher Situationen nach ihrer Formalität, die auf die Beziehung der Kommu- Registerdifferenzierung im Namdeutschen 275 nikationspartner(innen) untereinander abhebt: Wir unterscheiden informelle vs. formelle Situationen danach, ob es sich um eine Kommunikation innerhalb der Peer-Group, d. h. insbesondere im Freundeskreis, oder aber mit einem/ einer Außenstehenden handelt. Dabei stützen wir unsere Analysen des Sprachgebrauchs in beiden Situationstypen durchgehend auf mündliche Daten; dies erlaubt uns einen fokussierten Vergleich in Bezug auf das konzeptionelle Merkmal „informell vs. formell“, ohne dass mediale Unterschiede (gesprochen/ geschrieben) im Sinne von Koch und Oesterreicher (1985) mit einfließen. Die Sprachbeispiele in (1) und (2) geben einen ersten Eindruck von dieser Differenzierung im namdeutschen Sprachgebrauch. Es handelt sich um Transkripte von Äußerungen derselben Sprecherin, einer Jugendlichen aus Windhoek, die (in einer Elizitation mit simulierten Gesprächen) einen Verkehrsunfall zwei unterschiedlichen Kommunikationspartnerinnen beschreibt, nämlich einmal einer Freundin in einer informellen Peer-Group-Situation (1) und einmal einer Lehrerin in einer formelleren Situation (2) (zur Datenerhebung s. u. Abschnitt 2): (1) toe ist dieser eine Oukie, der fährt rückwärts und sieht diese Frau nicht da mit diese Trolley laufen, da fährt er die über (2) dann hat der Mann den - hat der Mann die nicht gesehen, und dann ist der gegen den Einkaufswagen gefahren Diese ersten Illustrationen geben bereits einen Eindruck von der deutlichen Differenzierung im Sprachgebrauch. Auf lexikalischer Ebene finden sich im informellen Kontext eine Reihe von Entlehnungen aus den Kontaktsprachen Afrikaans und Englisch, die im formellen Kontext deutsche Entsprechungen haben: informell toe (Afrikaans) vs. formell dann; informell Oukie (zurückgehend auf Afrikaans ou ‚Typ‘/ ‚Mann‘, umgangssprachlich) vs. formell Mann; 1 informell Trolley (Englisch) vs. formell Einkaufswagen. Auf grammatischer Ebene fällt im informellen Beispiel unter anderem eine nichtkanonische Trennung des Partikelverbs überfahren auf (mit Verbleib der Partikel in der rechten Satzklammer bei Finitumvoranstellung im Verb-zweit-Satz), während das formelle Beispiel auch grammatisch dem standardnahen gesprochenen Deutschen in Europa entspricht. Eine ähnliche kontaktsprachliche Registerdifferenzierung ist in Deutschland im Sprachgebrauch im urbanen Raum belegt, etwa unter jugendlichen Sprecher(inne)n, die in informellen Peer-Group-Situationen kontaktsprachliche Entlehnungen und nichtkanonische grammatische Muster verwenden, wie sie für Kiezdeutsch charakteristisch sind (vgl. Wiese 2013). Wie Wiese und Pohle (2016) für das Beispiel nichtkanonischer bloßer Lokalangaben zeigten, sind solche Mus- 1 Vergleiche hierzu etwa auch die Erklärung zu „Ou“ und „Oukie“ in Sell (2011: 130), ein informelles „NAM Släng“-Wörterbuch des deutschnamibischen Sängers EES: „so wie die Jerries [Deutschlanddeutschen, H. W./ Y. B.] ‚hey Alter‘ sagen“. 276 Heike Wiese/ Yannic Bracke ter registergebunden; sie stellen eine situative Wahl für informelle Kontexte da und können auf soziolinguistischer Ebene als Peer-Group-Marker dienen. Für das Namdeutsche liefern solche Befunde einen interessanten Hintergrund für Untersuchungen zur Registerdifferenzierung; dies nicht zuletzt deshalb, weil wir auch auf soziolinguistischer Ebene Parallelen zum urbanen Raum in Deutschland finden. Auf der gesellschaftlichen Makro-Ebene ist Deutschland zwar durch einen ausgeprägt monolingualen Habitus geprägt (vgl. etwa Gogolin 2008) und unterscheidet sich damit deutlich von Namibia, das durch eine breite gesellschaftliche Mehrsprachigkeit charakterisiert ist (auch wenn seit der Unabhängigkeit 1990 Englisch einzige offizielle Amtssprache ist) 2 . Eine vergleichbare breite - und auch horizontale - Mehrsprachigkeit findet sich in Deutschland jedoch im urbanen Raum, wo auf der Meso-Ebene lokaler Sprechergemeinschaften Kontaktdialekte wie Kiezdeutsch in ethnisch und sprachlich diversen Kontexten entstanden sind. Solche lokalen urbanen Räume in Nordwest-Europa weisen damit interessante Parallelen zu gesellschaftlich mehrsprachigen Kontexten in Subsahara-Afrika auf (vgl. Wiese [im Erscheinen] für eine komparative Analyse). Wie wir an anderer Stelle gezeigt haben, stützt ein solcher mehrsprachiger Kontext nicht nur kontaktsprachliche Entlehnungen, sondern begünstigt auch die Aufnahme und den Ausbau binnenstruktureller Tendenzen (vgl. Wiese 2013). Der mehrsprachige Kontext erweist sich hier als besonders offen für Sprachvariation und damit auch für laufende Sprachwandeltendenzen, was unter anderem zu grammatischen Parallelen zwischen Kiezdeutsch und Namdeutsch führen kann (Wiese u. a. 2014; Wiese [im Erscheinen]). Das Deutsche in Namibia nimmt somit durch seine Vitalität und Ausdifferenzierung eine Sonderstellung innerhalb außereuropäischer deutscher Kontaktvarietäten ein und weist zugleich Parallelen zu Kontaktdialekten im urbanen Raum innerhalb Deutschlands auf. Vor diesem Hintergrund stellt sich Namdeutsch als besonders interessante Domäne für die Untersuchung von Registerdifferenzierung im Sprachkontakt dar. Im Folgenden stellen wir eine erste Studie hierzu vor, die zunächst den Sprachgebrauch Jugendlicher aus der deutschsprachigen Gemeinschaft Namibias untersuchte und dabei von folgenden Fragen geleitet war: Finden wir (signifikante) Unterschiede zwischen informellen und formellen Kontexten? Falls ja, auf welchen sprachlichen Ebenen sind diese belegbar und wie ist der Zusammenhang mit kontaktsprachlichem Transfer und binnenstrukturellen Tendenzen des Deutschen? In welchen einstellungsbezogenen und sprachideologischen Kontext ist die Registerdifferenzierung eingebettet, wie ist der Bezug zu sozialen Identitäten und Gruppenbildung? 2 Für eine Diskussion der namibischen Sprachenpolitik vgl. etwa Harlech-Jones (1995); Shah/ Zappen-Thomson (2018). Registerdifferenzierung im Namdeutschen 277 2 „Sprachsituationen“: Elizitation registerdifferenzierter Produktionen zum Namdeutschen Als Datengrundlage für die Untersuchung von Registerdifferenzierungen dienten Sprachproduktionsdaten, die mit Hilfe der „Sprachsituationen“-Methode gewonnen wurden, einer Methode zur Elizitation naturalistischer Sprachdaten in unterschiedlichen Gesprächssituationen, die parallele - und damit systematisch vergleichbare - Produktionen für formelle ebenso wie für informelle Register liefert (vgl. ausführlich Wiese 2020). Diese Elizitation registerdifferenzierter Sprache basiert auf simulierter Kommunikation. Den untersuchten Sprecher(inne)n werden hierzu zunächst nonverbale Stimuli gezeigt, die eine bestimmte Begebenheit darstellen, beispielsweise in Form einer Foto-Geschichte. Sie sind aufgefordert, sich vorzustellen, sie wären gerade Zeugin/ Zeuge dieser fiktiven Begebenheit gewesen, und berichten davon dann verschiedenen Gesprächspartner(inne)n. Die „Sprachsituationen“-Methode hat sich zur Elizitation mündlicher und schriftlicher formeller und informeller Sprachdaten in einer Reihe unterschiedlicher ein- und mehrsprachiger Settings bewährt, etwa mit Jugendlichen im mehrsprachigen urbanen Raum Deutschlands (vgl. Wiese 2013; Wiese/ Pohle 2016), mit mehrsprachigen Erwachsenen aus der Yup’ik-Sprechergemeinschaft in Alaska (vgl. Gallardo 2017) und mit jugendlichen Heritage-Sprecher(inne)n des Türkischen, Russischen und Griechischen in Deutschland und den USA und vergleichbaren einsprachigen Sprecher(inne)n der jeweiligen Majoritätssprache in Deutschland, den USA, der Türkei, Griechenland und Russland (vgl. RUEG- Gruppe [„Research Unit Emerging Grammars“]; vgl. Wiese u. a. 2019). In früheren Studien konnte gezeigt werden, dass mit Hilfe der „Sprachsituationen“- Methode systematische Registerdifferenzierungen erfasst werden können. Analysen der Produktionen in den informellen Bedingungen belegten zudem, dass sie authentischen Spontandaten aus Peer-Group-Situationen vergleichbar sind; die „Sprachsituationen“-Methode liefert somit naturalistische Daten, die natürlicher, spontan produzierter Sprache sehr nahekommen (vgl. Wiese/ Pohle 2016; Wiese 2020). Für die „Sprachsituationen“-Erhebungen in Namibia erstellten wir als Stimuli eine Fotogeschichte, die einen Unfall auf einem Supermarkt-Parkplatz zeigte, in den ein Autofahrer, eine Frau mit Einkaufstaschen, die telefonierend über den Parkplatz läuft, und ein Passant involviert sind. Bei dem Unfall fährt der Autofahrer die Frau an; diese stürzt, lässt ihre Taschen fallen, und der Inhalt verteilt sich auf dem Boden; der Passant hilft ihr und sammelt gemeinsam mit ihr ihre Einkäufe wieder ein. Die Geschichte wurde auf zehn Fotos dargestellt; Abbildung 1 zeigt eine illustrative Auswahl der verwendeten Fotos. 278 Heike Wiese/ Yannic Bracke Abb. 1: Stimuli-Fotos für die „Sprachsituationen“-Erhebung zum Namdeutschen (Auswahl) Die Teilnehmer(innen) sahen die vollständige Fotogeschichte, stellten sich vor, sie hätten den Vorfall von Weitem beobachtet, und taten dann so, als ob sie zunächst eine Freundin oder einen Freund anrufen würden, um davon zu berichten, und dann eine Lehrerin, der sie erklärten, dass sie sich wegen des Unfalls zu einem vereinbarten Termin verspäteten. Dies etablierte zwei unterschiedliche mündliche Kommunikationssituationen: eine informelle Peer-Group-Situation (Gespräch mit Freund[in]) und eine formellere Situation mit einer Autoritätsperson (Gespräch mit Lehrerin). Beide Gespräche wurden im Beisein einer Freundesgruppe erhoben, sodass jeweils ein/ eine anderer/ andere Sprecher(in) als Gesprächspartner(in) agieren konnte. Zudem konnte eine Authentizitätsprüfung gemacht werden, indem andere Gruppenmitglieder jeweils bewerteten, ob der/ die Sprecher(in) so gesprochen hatte, wie sie das auch sonst von ihm/ ihr kannten (vgl. hierzu Wiese/ Pohle 2016). Als empirische Basis für die hier vorgestellte erste Studie zur deutschsprachigen Gemeinschaft Namibias dienten Erhebungen mit jugendlichen Sprecher(inne)n, da diese eine sprachlich besonders dynamische Gruppe darstellen, in der Innovationen und Sprachwandel besonders deutlich zu beobachten sind (vgl. hierzu etwa Kerswill 1996; Eckert 2000). Die Daten stammen von 63 Sprecher(inne)n (30 weiblich, 33 männlich) im Alter von 14 bis 18 Jahren (Durchschnittsalter: 16,1 Jahre), die über deutsche Schulen in Windhoek, Swakopmund und Otjiwarongo kontaktiert wurden. Für die vorliegende Untersuchung konnten wir erste Korpusdaten nutzen, die zunächst 100 Datensätze aus formellen (13.358 Tokens) und informellen (13.446 Tokens) Kommunikationssituationen erfassten. Die Erhebung wurde im Rahmen des DFG-Projekts „Namdeutsch“ durchgeführt (WI 2155/ 9; Projektleitung: Heike Wiese, Universität Potsdam/ Humboldt- Registerdifferenzierung im Namdeutschen 279 Universität zu Berlin, und Horst Simon, Freie Universität Berlin; in Zusammenarbeit mit Marianne Zappen-Thomson, University of Namibia at Windhoek; externer Kooperationspartner: Hans Boas, University of Texas at Austin). Ein Ertrag des Projekts ist das Korpus „Deutsch in Namibia“ (DNam, Zimmer u. a. [im Erscheinen]). Es enthält neben den hier zugrunde gelegten „Sprachsituationen“- Erhebungen noch entsprechende Produktionen von Erwachsenen sowie Daten aus soziolinguistischen Interviews und freien Gesprächen mit Jugendlichen und Erwachsenen. Das DNam-Korpus ist über die IDS-Datenbank für Gesprochenes Deutsch online frei zugänglich. Darüber hinaus gibt es ein ergänzendes „Wenker- Namdeutsch“-Korpus mit Übertragungen der „Wenker“-Sätze, die über eine Online-Plattform erhoben wurden, die sich an deutschnamibische Sprecher(innen) richtete; dieses Korpus steht ebenfalls online zur Verfügung. 3 Wie auch in „Sprachsituationen“-Erhebungen in Deutschland lieferten die Elizitationen Produktionen, die auf natürliche informelle und formelle Kommunikationssituationen hinweisen. So findet sich in der informellen Bedingung eine Reihe umgangssprachlicher Wendungen, die auch in vergleichbaren Produktionen Jugendlicher in Deutschland auftreten. Beispiele hierfür sind etwa die Anredeform Alter oder Aussagen im Sinne von „Du glaubst mir nicht, was gerade passiert ist“, die häufig als Einleitung einer emotional aufgeladenen Erzählung eines ungewöhnlichen Vorfalls - hier ein Verkehrsunfall - dienen. (3) gibt ein Beispiel aus den Namdeutsch-Daten, (4) bis (6) illustrieren vergleichbare Muster in den Produktionen jugendlicher Sprecher(innen) in Deutschland (vgl. Wiese u. a. 2019). 4 (3) Alter, NAM072M1, du wirs das hier nich glaubn, was jetzt passiert is, Alter [NAM069M1] (4) Alter du weißt nicht was grad passiert is [DEbi03FR] (5) oh mein Gott, DebiFT, du kannst mir nich glaubn, was grad passiert is [DEbi03FT] (6) du glaubst gar nich, was mir grade passiert is [DEmo01FD] In den Produktionen aus der formellen Bedingung finden sich demgegenüber lexikalische Gehobenheitsmarker wie somit [vgl. (7), Geschehnis, eskaliert (beide 3 Zugänglich unter folgender URL: https: / / www.linguistik.hu-berlin.de/ de/ institut/ professuren/ multilinguale-kontexte/ Projekte/ Namdeutsch/ Korpusdaten/ NamDeutsch- Wenker (29.05.2020). 4 Sprechernamen wurden durch Siglen ersetzt, etwa NAM072M1 oder DEbi03FT; bei den Namdeutsch-Daten geben die letzten beiden Positionen im Sigle das Geschlecht (M/ W) und die Altersgruppe an (1: < 20 Jahre, 2: 21-40, 3: 41-60, 4: > 60). (3), (5) und (6) sind Transkripte informell-mündlicher Produktionen, (4) ist eine informell-schriftliche WhatsApp-Nachricht; die Beispiele in (4) und (5) stammen von mehrsprachigen Sprecherinnen mit Russisch bzw. Türkisch als Heritage-Sprache, (6) ist von einer einsprachig deutschen Sprecherin. 280 Heike Wiese/ Yannic Bracke in (8)] oder Dame [in (9) und (10)] sowie Korrekturen, in denen Entlehnungen aus Kontaktsprachen wie stampen (von Afrikaans stamp, ‚stoßen‘) (9) oder Tannie (Afrikaans ‚Tante‘) (10) durch standardnähere Lexeme (anfahren, Dame) ersetzt werden. Dies weist auf eine stärker kontrollierte Sprache in den formellen Situationen hin, in der namibiatypische Entlehnungen vermieden werden. Im Fall des Lexempaares Tannie vs. Dame, dessen Elemente häufig zur Bezeichnung der angefahrenen Frau verwendet werden, ist die registerspezifische Distribution besonders auffällig (s. a. ausführlich unten 3.1, zur Registerdifferenzierung bei Entlehnungen): Dame tritt fast ausschließlich in den formellen Produktionen auf (33 von insgesamt 36 Verwendungen von Dame sind aus den formellen Bedingungen), Tannie ist dagegen in unseren Daten ausschließlich auf informelle Produktionen beschränkt (18 Verwendungen). (7) und alles, was da drin war, is rausgefalln und somit auch ihr Telefon [NAM022W1] (8) das Geschehnis is dann eskaliert, als der Fahrer weggefahrn ist [NAM012M1] (9) wie eine ältere Dame (0.4) ähm von nem Auto gestampt wurde, also angefahrn wurde [NAM123M1] (10) ja da war n alte Ta/ Dame, die jetz auf_n Handy war [NAM071W1] Ein interessantes weiteres Beispiel für eine registerspezifische Distribution ist die Verwendung von halt als Modalpartikel. In den formellen Produktionen ist halt hochfrequent, es tritt 121 Mal auf, was einer normalisierten Frequenz von 9,1 pro 1.000 Wörtern entspricht. In den informellen Produktionen findet sich die Modalpartikel halt dagegen nur 49 Mal, d. h. mit einer Frequenz von 3,6 pro 1.000 Wörtern. Der Unterschied erweist sich im χ 2 -Test als hochsignifikant (χ 2 = 31,2; p < 0,00001). Dies ist zunächst ein überraschender Befund angesichts früherer Arbeiten, die davon ausgingen, dass die Häufigkeit des Gebrauchs von halt und verwandten Partikeln (ja, doch, eben) mit dem Grad der Informalität steigt (Hentschel 1986). Ähnliche Verteilungen wie in den namdeutschen Daten fanden sich jedoch auch in den oben erwähnten „Sprachsituationen“-Erhebungen mit ein- und mehrsprachigen Jugendlichen in Deutschland (vgl. Wiese u. a. 2019), in denen die Modalpartikel halt ebenfalls auffällig häufig auftritt, und ebenfalls in erster Linie in formellen Produktionen. (11) gibt ein Beispiel aus den RUEG-Daten aus Deutschland; halt findet sich hier vier Mal innerhalb von 23 Sekunden. (11) wir hattn beide halt Grün […] und im nächstn Moment ist halt ein Autofahrer einfach weitergefahrn […] und sie ist dann halt kopfüber gestürzt […] und der Autofahrer hingegn ist halt zum Glück schnell zu ihr gegangn [Debi01FT] Eine mögliche Erklärung könnte im dialektalen Ursprung der Produktionen liegen. Wie Elspaß (2005) zeigt, ist halt ursprünglich vor allem im süddeutschen Registerdifferenzierung im Namdeutschen 281 Raum verankert und hat sich erst seit dem 20. Jahrhundert stärker im Norden (zunächst in Westdeutschland) ausgebreitet, wo es z. T. das semantisch/ pragmatisch verwandte eben ersetzt. Gegenüber eben markiert halt propositionale bzw. illokutionäre Aspekte der Äußerung als stärker der handelnden Kontrolle des/ der Sprechenden entzogen (vgl. Thielmann 2015). Diese Reduktion der Sprecherverantwortung könnte im norddeutschen Raum möglicherweise eine stärkere Bindung von halt an formelle Register begünstigen. Zur Untersuchung dieser Hypothese ist sicher noch eine breitere Datenbasis nötig; die vorhandenen Daten aus der RUEG-Studie und den Namdeutsch-Erhebungen würden sie aber stützen: Die RUEG-Studie wurde mit Sprecher(inne)n in Berlin, d. h. im norddeutschen Sprachgebiet, durchgeführt, und die Wurzeln der deutschen Sprechergemeinschaft in Namibia liegen ebenfalls dominant im norddeutschen Raum, wenn es auch durch den Einfluss unterschiedlicher Hintergrunddialekte zu einer dialektalen Ebnung und Angleichung an das Standarddeutsche kam (vgl. hierzu etwa Böhm 2003). 3 Registerdifferenzierung und Sprachkontakt: nichtkanonische Muster im Namdeutschen In den Daten aus Namibia findet sich eine Reihe nichtkanonischer Phänomene, die vom Standarddeutschen in Deutschland abweichen. Für die vorliegende Untersuchung greifen wir im Folgenden eine exemplarische Auswahl an Mustern heraus, die geeignet ist, unterschiedliche sprachliche Domänen zu beleuchten, und analysieren mögliche Registerunterschiede. 3.1 Lexik: Entlehnungen aus Afrikaans und Englisch Im Bereich der Lexik findet sich, wie auch in anderen Arbeiten zum Deutschen in Namibia belegt (vgl. etwa Nöckler 1963; Shah 2007; Kellermeier-Rehbein 2016; Radke 2017), eine Reihe von Übernahmen aus dem Afrikaans und dem Englischen. 5 Interessanterweise sind diese Entlehnungen jedoch nicht gleichmäßig verteilt, sondern verweisen auf eine klare Differenzierung zwischen informellen und formellen Bedingungen. Tabelle 1 gibt eine entsprechende Übersicht über die Anzahl der Funde für die zwölf häufigsten Entlehnungen. 6 5 Vergleiche auch Poplack (2018: Kap. 1) generell zur Dominanz lexikalischer Entlehnungen im Sprachkontakt. 6 Oukie und net gehören auch in Radkes (2017) Korpusstudie zu einer (Online-)Glosse der Allgemeinen Zeitung zu den häufigsten Entlehnungen. 282 Heike Wiese/ Yannic Bracke Lexem (Type) Gebersprache Funktion/ Bedeutung Häufigkeit (token- Anzahl) in beiden Bedingungen Anteil der Funde in den formellen Bedingungen informell formell like Englisch Diskurspartikel 81 0 0 % net Afrikaans ‚nur‘ 67 4 5,6 % toe Afrikaans ‚dann‘, ‚da‘ 49 2 3,9 % Oukie Afrikaans (von ou) ‚Typ‘, ‚Mann‘ 32 1 3,0 % stampen Afrikaans ‚(an)stoßen‘ 25 7 21,9 % alright Englisch ‚in Ordnung‘ 28 1 3,4 % checken Englisch ‚prüfen‘, ‚anschauen‘ 20 2 9,1 % Phone Englisch ‚Telefon‘, ‚Handy‘ 19 0 0 % Tannie Afrikaans ‚Tante‘, ‚(ältere) Frau‘ 18 0 0 % Bra Englisch (von brother) Anrede 17 0 0 % aweh unklar 7 Begrüßung 16 0 0 % Trolley Englisch ‚Einkaufswagen‘ 12 3 20,0 % Tab. 1: Auftreten häufigster afrikaanser und englischer Entlehnungen in informellen und formellen Bedingungen. Wie Tabelle 1 verdeutlicht, sind die namibiatypischen Entlehnungen insbesondere mit informellen Gesprächssituationen assoziiert und treten in den formellen Bedingungen kaum auf. Insgesamt finden sich die zwölf häufigsten Types von Entlehnungen 384 Mal in Produktionsdaten aus den informellen Situationen (Gespräch mit Freund[in]) was einer normalisierten Anzahl von 28,6 Tokens pro 1.000 Wörtern entspricht, gegenüber 20 Entlehnungen in den Daten aus den formellen Situationen (Gespräch mit Lehrerin), einer normalisierten Anzahl von lediglich 1,5 Tokens pro 1.000 Wörtern entsprechend. Der Unterschied in den absoluten Häufigkeiten erweist sich im χ 2 -Test als hochsignifikant (χ 2 = 330,6; p < 0,00001). Dieser deutliche Unterschied weist auf eine klare Registerdifferenzierung für lexikalischen Transfer, der hier informelle Gesprächssituationen charakteri- 7 In Sell (2011) wird die Partikel Awee geschrieben und auf das englische awesome zurückgeführt. Im crowd-source-basierten „Urban Dictionary“ (https: / / www.urban dictionary.com/ [21.04.2020]) erscheint es als aweh und ohne Bezug zu awesome. Registerdifferenzierung im Namdeutschen 283 siert. Auf zwei mögliche Ausnahmen deuten die Korpusdaten für stampen (häufig als Partizip gestampt morphologisch ins Deutsche integriert) und Trolley hin, die zu jeweils über 20 % auch in den formellen Bedingungen produziert werden. Dies könnte auf eine stärkere Integration in den Sprachgebrauch insgesamt hinweisen, die auch formellere Register umfasst (wenn auch grundsätzlich in geringerem Umfang als in der informellen Domäne). Dies wäre allerdings noch an umfangreicheren Korpusdaten zu überprüfen, da es sich jeweils nur um sehr geringe absolute Fallzahlen, mit lediglich 7 bzw. 3 Vorkommnissen in den formellen Bedingungen, handelt. 3.2 Lexikon/ Pragmatik: spät kommen/ sein Vor diesem Hintergrund ist eine nichtkanonische Verwendung von spät kommen/ sein besonders interessant, die an der Schnittstelle von Lexikon und Pragmatik angesiedelt ist. (12) und (13) geben zwei Beispiele für das betreffende Muster: (12) ich will mich entschuldign, dass ich (0.4) spät gekomm bin [NAM035M1] (13) tut mir echt leid, dass ich spät war [NAM072M1] Bei dieser Verwendung wird jeweils die Überschreitung eines zulässigen Maßes ausgedrückt: Die betreffenden Sprecher entschuldigen sich dafür, dass sie nicht zum verabredeten Zeitpunkt, sondern später erscheinen: Es geht also um die Überschreitung eines zulässigen Grades. Dennoch wird, anders als es im Standarddeutschen in Deutschland zu erwarten wäre, nicht die Gradpartikel zu verwendet, sondern spät wird in bloßer Form mit kommen bzw. sein kombiniert. Zu diesem Muster finden sich interessanterweise Parallelen in beiden zentralen Gebersprachen Afrikaans und Englisch, nämlich zum afrikaansen laat wees und dem englischen to be late. In beiden Fällen ist das bloße Adjektiv mit einem Kopulaverb kombiniert, was auf einen strukturellen Transfer als Basis spezifisch für das namibischdeutsche Muster spät sein hinweisen könnte. Der Gebrauch von spät kommen könnte dann eine Ausweitung dieses Musters im Zuge einer weiteren Integration in das Deutsche reflektieren. Ein solches Szenario wird durch die Korpusdaten gestützt: Bei Kombination mit sein finden wir mehr als doppelt so viele bloße Verwendungen (spät sein) wie solche mit Gradpartikel (zu spät sein), nämlich 19 gegenüber 6 Funden; bei Kombination mit kommen ist die Verteilung dagegen (noch? ) spiegelbildlich, mit nur halb so vielen bloßen Verwendungen (spät kommen) wie solchen mit Gradpartikel (zu spät kommen), nämlich 8 gegenüber 16 Funden. Wir könnten es hier demnach mit einem Fall von strukturellem Transfer als Grundlage für die Verwendung eines Lexems (spät) zu tun haben, der gleich auf zwei typologisch verwandte Gebersprachen zugreifen kann und im Deutschen 284 Heike Wiese/ Yannic Bracke ein Muster stützt, das dann noch ausgeweitet wird. Interessanterweise finden sich hier alle Belege in den Produktionsdaten aus der formellen Bedingung. Dies ist wesentlich dem Set-up geschuldet: Wie oben beschrieben, wurde der Gesprächsanlass in der formellen Bedingung so definiert, dass der/ die Sprecher(in) den Unfall erwähnen sollte, um der Gesprächspartnerin (Lehrerin) zu erklären, warum er/ sie zu einem vereinbarten Termin zu spät käme. Entsprechend wurden nicht nur die nichtkanonischen, sondern auch die kanonischen Fälle für (zu) spät kommen/ sein sämtlich in der formellen Bedingung produziert, und es ist daher kein Vergleich mit informellen Produktionen möglich. Der Anteil nichtkanonischer Fälle gegenüber kanonischen Fällen zeigt jedoch, dass diese Option grundsätzlich auch im formellen Register zur Verfügung steht. 3.3 Lexikon/ Grammatik: weh/ seer kriegen Ein Beispiel für ein kontaktsprachliches Phänomen an der Schnittstelle Lexikon/ Grammatik ist das nichtkanonische Muster weh/ seer kriegen. Die folgenden Korpusbelege illustrieren dies mit einem Beispiel aus der formellen (14) und einem aus der informellen Bedingung (15); in beiden Fällen geht es um die bei dem Unfall gestürzte Frau: (14) ich glaub, die hat nich weh gekriegt [NAM091W1] (15) aber ich glaub nich, sie hat seer gekricht [NAM086M1] Das Element seer weist auf eine Entlehnung aus dem Afrikaans, das mit der Konstruktion seer kry eine Vorlage bietet. Die afrikaanse Konstruktion basiert auf einer Verbphrase mit dem Kopf kry ‚bekommen, kriegen, erhalten‘ und der adjektivischen Ergänzung seer ‚weh, wund, schmerzhaft‘. Das namdeutsche Muster weh/ seer kriegen hat entsprechend die Bedeutung „Verletzung(en)/ Schmerzen erleiden“ und liefert damit eine semantische Konstellation, die das Standarddeutsche in Deutschland in dieser Form nicht bietet: Die namibiatypische kontaktsprachliche Neuerung integriert, wie das afrikaanse Original, die Konzepte „Verletzung“ und „Schmerzen“ und eröffnet eine Leerstelle für ein Patiens, das prominent als Subjekt realisiert wird. Mit weh tun ist im umgangssprachlichen Deutschen in Deutschland eine verwandte Konstruktion verfügbar, die jedoch anders als weh/ seer kriegen atelisch ist und im Subjekt die Quelle/ Source oder das Agens ausdrückt, während die Patiens-Rolle mit einer Dativ- Ergänzung verknüpft ist, die nur im zweiten Fall obligatorisch besetzt werden muss (vgl. etwa fakultatives Patiens bei Subjekt=Source: „Die Verletzung tut (ihm) weh“ vs. obligatorisches Patiens bei Subjekt=Agens: „Du tust ihm weh“). Die Varianten mit weh bzw. seer sind im Korpus unterschiedlich verteilt. Insgesamt ist weh kriegen häufiger: Das Korpus liefert 13 Belege, während seer kriegen insgesamt nur 4 Mal auftritt. Dabei findet sich weh kriegen sowohl in den Daten aus der informellen als auch in denen aus der formellen Bedingung - Registerdifferenzierung im Namdeutschen 285 nämlich 8 Mal in den informellen Daten und 5 Mal in den formellen Daten -, seer kriegen wird in den Korpusdaten dagegen ausschließlich in informellen Gesprächen verwendet. Standarddeutsche Pendants, nämlich sich verletzen, verletzt werden/ sein, eine Verletzung haben und sich weh tun, kommen entsprechend in erster Linie in den formellen Gesprächen vor, während sie in den informellen kaum vertreten sind. Tabelle 2 fasst die Verteilungen zusammen. informell formell weh kriegen 8 5 seer kriegen 4 0 standarddeutsche Pendants 3 12 Tab. 2: Anzahl nichtkanonischer Belege für weh kriegen vs. seer kriegen und stan- darddeutsche Pendants in informellen vs. formellen Bedingungen Diese Befunde liefern damit weitere Hinweise auf eine Registerdifferenzierung nicht nur für standarddeutsche vs. namibiadeutsche Varianten, sondern auch innerhalb der namibiadeutschen nichtkanonischen Muster, und hier insbesondere für die stärkere Assoziation von lexikalischem Transfer mit informellem Sprachgebrauch. 3.4 Syntax/ Semantik: nichtkanonisches haben-Perfekt Im Bereich der Tempusbildung finden sich in den Daten einige Belege für eine nichtkanonische Wahl des Hilfsverbs im Perfekt, die auf ein Phänomen an der Syntax-Semantik-Schnittstelle hinweist: Wie die beiden Beispiele in (16) und (17) illustrieren, wird das Auxiliar haben z. T. auch bei Bewegungsverben verwendet, bei denen im Standarddeutschen in Deutschland stattdessen das Auxiliar sein gewählt würde. (16) eine old Tannie hat jetz am auf_n Bodn gefalln [NAM068M1] (17) die hat in der Straße gelaufn [NAM066M1] Im Standarddeutschen gibt es zwar einige intransitive Verben, die je nach Aktionsart das Perfekt mit beiden Auxiliaren bilden können. Eine perfektive Lesart bedingt dabei den Gebrauch von sein, eine durative hingegen den von haben. Auf viele intransitive Bewegungsverben trifft diese Differenzierung nach Aktionsart allerdings nicht (mehr) zu, sie werden ausschließlich mit sein gebildet (vgl. Shannon 1988; Helbig/ Buscha 2001; Gillmann 2016). Wie die Beispiele zeigen, tritt das nichtkanonische haben-Perfekt in den untersuchten Daten demgegenüber sowohl in perfektiven (16) als auch in durativen (17) Sätzen auf. 8 8 Auch statistisch legen die Daten nicht nahe, dass die nichtkanonische Wahl von haben besonders bei durativer Aktionsart auftritt. Betrachtet man alle intransitiven 286 Heike Wiese/ Yannic Bracke Für den nichtkanonischen Gebrauch des haben-Perfekts könnten mehrere Dynamiken zusammenkommen. Eine kontaktsprachliche Stützung ergibt sich dadurch, dass sowohl im Afrikaans als auch im Englischen ausschließlich die lexikalischen Pendants zu haben für die Perfektbildung genutzt werden. Zudem stellt haben im Deutschen generell das Default-Auxiliar für die Perfektbildung dar, die Wahl von haben an Stelle von sein könnte somit auch binnenstrukturell motiviert werden. Für den spezifischen Fall der Bewegungsverben führt dies im Namdeutschen jedoch zu einer gegenläufigen Tendenz zum Standarddeutschen (s. o., zur Ausbreitung von sein für Bewegungsverben). Generell tritt das oben illustrierte nichtkanonische Muster vergleichsweise selten auf, mit 16 Belegen gegenüber 478 kanonischen Perfektbildungen mit sein, d. h. nur 3,2 % der Fälle, in denen im Standarddeutschen in Deutschland ein sein-Perfekt verwendet würde, sind in den Korpusdaten nichtkanonisch mit haben gebildet. 9 Die nichtkanonischen Fälle finden sich dabei registerübergreifend. (16) und (17) oben illustrieren dies: Wie die lexikalischen Transfers old und Tannie in (16) bereits signalisieren, handelt es sich um eine Produktion im informellen Register; der Beleg in (17) stammt dagegen aus der formellen Bedingung. Die Korpusbelege zu nichtkanonischem haben-Perfekt verteilen sich mit neun informellen und sieben formellen Belegen recht gleichmäßig auf die beiden Bedingungen (χ 2 = 0,7; p > 0,3); vgl. Tab. 3. informell formell kanonisches sein-Perfekt 217 261 nichtkanonisches haben-Perfekt 9 7 Tab. 3: Anzahl kanonischer und nichtkanonischer Auxiliar-Wahl in informellen vs. formellen Bedingungen Wir finden somit bei diesem Kandidaten für strukturellen Transfer ohne lexikalische Entlehnung (der noch binnenstrukturell gestützt sein könnte) in den bislang zur Verfügung stehenden Korpusdaten keine Registerdifferenzierung. 3.5 Morphosyntax: helfen mit Akkusativ-Komplement Ein weiteres Beispiel für einen solchen Gebrauch über formelle und informelle Register hinweg liefert die nichtkanonische Verwendung von helfen mit akku- Verbalphrasen, bei denen ein sein-Perfekt kanonisch wäre, ist unter den durativen der Anteil mit dem Auxiliar haben zwar etwas höher als bei den perfektiven (5,8 % vs. 2,5 %), signifikant ist dieser Unterschied jedoch nicht (χ 2 = 2,6; p > 0,1). 9 Dabei stammen allein fünf Belege von einer Sprecherin, die im informellen Gespräch das Perfekt ausschließlich mit haben bildete. In der formellen Bedingung verwendete diese Sprecherin hingegen das kanonische sein-Perfekt. Registerdifferenzierung im Namdeutschen 287 sativisch statt dativisch markierter nominaler Ergänzung, vgl. die folgenden Beispiele [(18): formeller, (19): informeller Kontext]: (18) und er hat die dann geholfn alles wieder aufzuhebn [NAM028W1] (19) dann kam so ein andrer Mann (0.4) un hat die geholfn [NAM058M1] Ähnlich wie im Beispiel der Auxiliarwahl könnte das nichtkanonische Muster auch hier binnenstrukturell auf einer Ausnahmen-Reduktion basieren: Grundsätzlich ist der Default-Kasus bei Verben mit nur einer Ergänzung der Akkusativ; durch die Dativ-Zuweisung weicht die standarddeutsche Konstruktion für helfen hiervon ab (vgl. etwa Blume 1998; vgl. Salmons 1994 zu entsprechenden Dynamiken in Sprachinsel-Varietäten). Im Deutschlanddeutschen findet sich daher auch das Muster mit Akkusativ - in der öffentlichen Diskussion etwa bekannt unter anderem durch die Werbung für eine Telefonauskunft mit der Moderatorin Verona Poth, „Da werden Sie geholfen“. In den Korpusdaten kommt dieses Muster relativ häufig vor, nämlich 29 Mal gegenüber 147 standardkonformen Belegen mit Dativ, d. h. in 16,5 % aller Fälle. Dennoch ist die Anzahl der standardkonformen Varianten deutlich höher, was noch einmal die Sonderstellung des Namdeutschen gegenüber Sprachinselvarietäten unterstreicht, die typischerweise von deutlichem Kasusabbau und dem Zusammenfall von Akkusativ und Dativ geprägt sind. 10 In den untersuchten Daten erweist sich das Muster helfen mit Akkusativ, wie die nichtkanonische Auxiliarwahl, als nicht registergebunden, mit 14 bzw. 15 Belegen in den informellen bzw. formellen Sprachproduktionen (χ 2 = 0,4; p > 0,5), vgl. Tab. 3. informell formell helfen + Dativ 80 67 helfen + Akkusativ 14 15 Tab. 3: Anzahl kanonischer und nichtkanonischer Kasusmarkierung für helfen-Komplemente in informellen vs. formellen Bedingungen Wir können hier somit im Bereich der Morphosyntax eine Tendenz zur Ausnahmen-Reduktion über Register hinweg beobachten. 10 Vergleiche etwa Riehl (2010) zum Verlust des Dativs in Sprachinselvarietäten generell; Salmons (1994) zum Dativ-Verlust besonders bei helfen; Boas (2009b) zum Texas German. Siehe auch Yager u. a. (2015), die Kasusschwund in mehreren Sprachinselvarietäten in Zusammenhang mit differentieller Objektmarkierung bringen. 288 Heike Wiese/ Yannic Bracke 4 Register und Gruppenidentitäten Die Befunde zum Sprachgebrauch passen zu einstellungsbezogenen Mustern, die sich in Daten aus soziolinguistischen Interviews zeigen, die ebenfalls Teil des DNam-Korpus sind (s. o., Abschnitt 2). Ein Blick auf erste Korpusdaten hierzu weist auf eine differentielle Stützung von Gruppenidentitäten durch informelle vs. formelle Register. Zum einen wird ein standardnaher Sprachgebrauch im Deutschen auch in Namibia durch Standardsprachideologien gestützt, wie sie etwa in dem Auszug in (20) deutlich werden. (20) letztendlich sprechen wir ja ein astreines Hochdeutsch […] null Dialekt [NAM168M3] Der Verwendung kontaktsprachlicher Entlehnungen aus dem Afrikaans und dem Englischen stehen zudem sprachpuristische Einstellungen entgegen, die der Abgrenzung einer ethnischen, „deutschen“ Identität innerhalb Namibias dienen können, vgl. (21): (21) wenn se jetz_n Englisch oder_n afrikaanses Wort mit reinmischn, sach ich, nein, wir sin deutsch; ihr redet bitte deutsch in eim Satz [NAM164W2] Dem entgegengesetzt steht jedoch die Abgrenzung gegenüber Deutschland im Sinne einer lokalen, „namibischen“ Identität (vgl. hierzu etwa auch Schmidt- Lauber 1998; Kellermeier-Rehbein 2015). Diese lokale Identifizierung kann Entlehnungen stützen, insbesondere solche, die stark mit lokalen Traditionen verknüpft sind, etwa braaien statt grillen; vgl. (22) und (23) (s. hierzu auch oben Anm. 1): (22) da ham wir aber auch schon wieder, denk ich, unsern unsern namibisch deutschn Stolz; wir, also wenn - wenn ein Fr/ Freund von mir jetz (0.3) da mit „grilln“ afängt, da würd ich sagen, was is mit dir los? [NAM155M2] (23) trotz dass (0.8) mein Vater immer zu mir gesacht hat [NAM164W2], spriech n anständiges deutsch, ähm, nich dieses Nämlisch. (0.5) Äh, aber bestimmte Worte gehörn einfach hier ins Land, und die werdn (1.2), wenn wenn die nicht im Wortschatz sind, (0.3) du guckst die Person an und denkst, Hallo, geht_s noch? (0.3) Was - was is hier los? [NAM164W2] Mehrsprachige Praktiken und die Sprachmischungen, die für sie typisch sind, werden somit auf der einen Seite zwar gebremst durch Standardsprachideologien und sprachpuristische Einstellungen zum Deutschen, auf der anderen Seite werden sie jedoch befördert durch die lokale Identifizierung mit einer multiethnisch und multilingual geprägten Gesellschaft. Dieser Gegensatz wird aufgelöst durch eine Registerdifferenzierung in formelle und informelle Varianten, Registerdifferenzierung im Namdeutschen 289 bei der insbesondere lexikalische Entlehnungen für informelle Register salient zu sein scheinen. Registerdifferenzierung wird somit auf soziolinguistischer Ebene ausgehandelt in der Interaktion von Standardsprachideologien und der Markierung unterschiedlicher, zueinander im Spannungsverhältnis stehender Gruppenidentitäten: der ethnisch-deutschen Identität gegenüber anderen ethnischen Gruppen in Namibia und der lokalen namibischen Identität gegenüber Deutschen in Deutschland. 5 Fazit und Ausblick Die hier vorgestellte Korpusstudie zu naturalistischen Sprachproduktionen deutschnamibischer Jugendlicher belegte die besondere Stellung, die das Deutsche in Namibia gegenüber anderen (post-)kolonialen Varietäten auf der einen Seite und gegenüber Sprachinselvarietäten des Deutschen auf der anderen Seite einnimmt. Zunächst fällt, gerade im Vergleich zu solchen Varietäten, die große Nähe zum Deutschen in Deutschland auf. Wie der systematische Vergleich des Sprachgebrauchs in formellen vs. informellen Gesprächssituationen dann zeigte, liegt eine weitere Parallele zum Deutschen in Deutschland in der deutlichen Registerdifferenzierung: Abweichungen vom Standarddeutschen in Deutschland zeigten sich besonders in informellen Gesprächen. Unsere Daten weisen dabei darauf hin, dass dies insbesondere für den lexikalischen Transfer aus den für das Deutsche in Namibia zentralen Kontaktsprachen Afrikaans und Englisch gilt: Entlehnungen aus diesen Sprachen treten weitaus häufiger in informellen als in formellen Gesprächssituationen auf; diese Häufigkeit kann damit als ein konstitutives Merkmal für informelle Register des Namdeutschen identifiziert werden. Dabei fanden sich einige lexemspezifische Unterschiede: So hatten stampen und Trolley einen vergleichsweise hohen Anteil von Vorkommnissen in den formellen Bedingungen, mit jeweils rund 20 % aller Vorkommnisse, gegenüber Anteilen von jeweils unter 10 % bei den anderen untersuchten häufigen Entlehnungen. Kellermeier-Rehbein (2016) diskutiert einige Entlehnungen, die auch in deutschnamibischer Zeitungssprache („Allgemeine Zeitung“) auftreten, und charakterisiert sie als „Namibismen“, die Teil einer nationalen namibischen Standardvarietät des Deutschen seien (vgl. auch Radke 2017). Die hier vorgefundenen Verteilungen weisen zwar auf eine stärkere Assoziation von lexikalischem Transfer mit informellen Registern hin. Die deutlichen Belege für eine Registerdifferenzierung stützen dabei aber zugleich die Annahme einer formellen, standardnahen Varietät des Deutschen in Namibia, und die Tatsache, dass wir in diesem formellen Register überhaupt kontaktsprachliche, namibiatypische Entlehnungen finden, ist ein Indiz für die Entwicklung einer solchen namibischen 290 Heike Wiese/ Yannic Bracke Standardvarietät des Deutschen, die sich von der in Deutschland durch lokale Charakteristika unterscheidet. Die vorliegende Studie konnte solche Charakteristika nicht nur auf lexikalischer, sondern auch auf struktureller Ebene aufdecken. So fand sich für das nichtkanonische Muster seer/ weh kriegen, das eine semantisch-konstruktionelle Lücke im Deutschen schließt, die Variante seer kriegen mit lexikalischer Entlehnung zwar nur im informellen Register; die Variante weh kriegen mit nativdeutschen Lexemen trat dagegen ebenso in der formellen Bedingung auf. Weitere, vom Standarddeutschen in Deutschland abweichende Phänomene, die sich im formellen Register zeigten, waren das vermutlich kontaktbasierte Muster spät sein/ kommen sowie zwei Entwicklungen im Bereich grammatischer Schnittstellen (Syntax-Semantik und Syntax-Morphologie), die zusätzlich durch binnenstrukturelle Dynamiken des Deutschen gestützt sein könnten, nämlich Verwendungen von haben anstelle von sein bei Perfektbildungen mit Bewegungsverben und Belege für helfen mit Akkusativ-Komplement. Für das letztere Muster, das auch aus Deutschland bekannt ist (helfen mit Akkusativ), müsste in weiteren Studien noch empirisch geprüft werden, ob das relativ häufige Auftreten in formellen Bedingungen auf eine namibiatypische Standardvarietät hinweist oder ob sich dies auch in vergleichbaren formellen Sprachproduktionen in Deutschland findet. Zusammengefasst finden wir damit zum einen eine deutliche Registerdifferenzierung für das Deutsche in Namibia, bei der insbesondere lexikalische Entlehnungen stärker mit informellen Gesprächen assoziiert sind, während das formelle Register nah am Standarddeutschen in Deutschland ist. Zum anderen finden sich jedoch auch im formellen Register noch namibiatypische Entlehnungen sowie grammatische Muster, die auf eine eigene namibische Varietät hinweisen. Wie ein erster Blick auf soziolinguistische Daten zeigte, passen die sprachlichen Befunde zu einstellungsbezogenen Mustern. Standardsprachideologien und sprachpuristische Einstellungen unterstützen hier einen Sprachgebrauch, der nah am Standarddeutschen ist, während eine lokale, „namibische“ Identität durch stärker nichtkanonische Sprachpraktiken ausgedrückt wird, die durch Entlehnung geprägt sind; informelle vs. formelle Register können hier einer differentiellen Stützung von Gruppenidentitäten dienen. Das Deutsche in Namibia erweist sich damit als besonders interessante Untersuchungsdomäne zur Erforschung von Registerdynamiken im Sprachkontakt und der Interaktion lexikalischer, grammatischer und einstellungsbezogener Tendenzen. Für zukünftige Studien ist geplant, die hier vorgestellten ersten Ergebnisse an breiteren Daten aus dem Namdeutsch-Korpus zu überprüfen. Weitere Untersuchungen sollen die Salienz und Bewertung der aufgefundenen lexikalischen und strukturellen Muster in formellen vs. informellen Gesprächssituationen testen. Registerdifferenzierung im Namdeutschen 291 Literatur Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin. Biber, Douglas/ Conrad, Susan (2009): Register, Genre, and Style. Cambridge. Blume, Kerstin (1998): A contrastive analysis of interaction verbs with dative complements. In: Linguistics 36. 2. S. 253-280. Boas, Hans C. (2009a): The Life and Death of Texas German. Durham. Boas, Hans C. (2009b): Case Loss in Texas German. 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Infolge der vor allem auf Kettenwanderung beruhenden Immigration kam es zur Gründung zahlreicher Siedlungen mit einer von der Herkunft ihrer Bewohner her äußerst homogenen Bevölkerung, was zur Folge hatte, dass das Niederdeutsche über vier und z. T. fünf Generationen die dominierende Sprache des Alltags blieb und die kontaktsprachlichen Phänomene mit dem Englischen sich auf wenige Lexeme außerhalb des Kernlexikons beschränkten. Dies änderte sich mit der zunehmenden Dominanz des Englischen und der damit einhergehenden Marginalisierung der Herkunftssprache, sodass sich heute bei den noch verbliebenen Sprechern der dritten, vierten und fünften Generation einschlägige kontaktsprachliche Erscheinungen auf allen linguistischen Ebenen nachweisen lassen. 1 Zur Geschichte der Einwanderung aus Norddeutschland in den Mittleren Westen der USA Im 19. Jahrhundert sind zwischen 1840 und 1890 um die sechs Millionen Deutsche in die USA ausgewandert. Geografischer Schwerpunkt der Einwanderung waren die Staaten des Mittleren Westens, welche bis heute von dieser Einwanderung unübersehbar geprägt sind, was besonders auf die ländlichen Regionen zutrifft. So waren im Jahre 1900 z. B. in Wisconsin über 30 % und in Minnesota, Iowa, Illinois und Nebraska jeweils um die 20 % der Einwohner deutscher Herkunft (vgl. Helbich u. a. [Hrsg.] 1988). Ein erheblicher Teil der Neusiedler stammte aus dem niederdeutschen Sprachgebiet, also dem Territorium nördlich der maken-machen bzw. der ik-ich-Isoglosse, sprach im Alltag ausschließlich Niederdeutsch und hatte bestenfalls rudimentäre Kenntnisse des Standarddeutschen. Von der Besiedlung aus Norddeutschland legen z. B. zahlreiche Toponyme deutschen Ursprungs ein Zeugnis ab, wie etwa New Minden (IL), 296 Jan Wirrer New Melle (MO), Reinbek (IA), Hannover (KS) und Holstein (MO). 1 Aber auch andere Ortschaften sind durch die Einwanderung aus Norddeutschland stark geprägt. Dazu zählen u. a. Golden (IL), das mit erstem Namen New Eastfriesland hieß, St. Libory (IL), Cole Camp (MO), New Haven (MO) sowie Manning (IA) und Walcott (IA). Bei den Auslösern von Migration - insbesondere wenn eine solche in großer Zahl erfolgt - unterscheidet man im Allgemeinen Push- Faktoren von Pull-Faktoren. Zu den Push-Faktoren gehörten im genannten Zeitraum an erster Stelle der Rückgang und schließlich der Untergang der Protoindustrie, wie z. B. das häusliche Leinengewerbe und die damit einhergehende Verarmung eines Großteils der ländlichen Bevölkerung. Zu den Pull-Faktoren sind zu zählen die sich entfaltende Wirtschaftskraft der USA und die Werbung um Einwanderung seitens einiger Bundesstaaten. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Staaten des Mittleren Westens wie Wisconsin oder Illinois und die westlich des Mississippi in der ehemaligen französischen Kolonie Oberlouisiana gelegenen Staaten wie beispielsweise Iowa, Missouri, Kansas oder Nebraska zu nennen, deren Territorien erst im Rahmen des Louisiana Purchase des Jahres 1803 den USA angegliedert wurden. 2 Diese Staaten, in denen die indigene Bevölkerung damals bereits vertrieben oder durch Epidemien stark reduziert war, waren sehr dünn besiedelt, weshalb gerade hier eine besonders aktive Werbung um Einwanderer betrieben wurde. 3 Voraussetzung für eine durch Migration entstehende Sprachinsel ist eine sprachlich und meist auch ethnisch homogene Bevölkerung. Dies war hinsichtlich der Einwanderer aus dem niederdeutschen Sprachgebiet in zahlreichen Orten und kleinflächigen Territorien des Mittleren Westens der Fall. Entsprechend sind im 19. Jahrhundert ganze Familienverbände und Nachbarschaften in den Mittleren Westen ausgewandert. So enthält eine in Bremen im Jahre 1844 ausgestellte Passagierliste 170 Namen von Auswanderern, von denen allein 62 aus Borgholzhausen in Ostwestfalen stammten, darunter allein 20 mit dem Familiennamen Scheer und sechs mit der Familie Scheer offenbar verschwägerte Mitglieder einer Familie Walkenhorst. Diese Auswanderer - oder zumindest doch deren Mehrheit - siedelten sich in New Haven (MO) und Umgebung an (vgl. Menke 1995). Hinzu kam das Phänomen der Kettenwanderung (vgl. Kamphoefner 2006; 2008). Mit der Emigration aus Deutschland brachen die Kontakte 1 Bei den Abkürzungen handelt es sich um die Postal Codes der jeweiligen Bundesstaaten. IL steht für Illinois, MO für Missouri, IA für Iowa und KS für Kansas. 2 Das französische Erbe schlägt sich in diesen Staaten durch einige Toponyme nieder wie z. B. Des Moines, der Hauptstadt Iowas, oder Fayette County, ebenfalls in Iowa gelegen. 3 Dies war nicht zuletzt auch eine Frage der Macht, die sich besonders im ehemaligen Oberlouisiana stellte, denn um ein Territorium, zumal ein neu erworbenes, zu beherrschen, bedarf es dort einer - loyalen - Bevölkerung. „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 297 zum ursprünglichen Heimatort sowie zur ursprünglichen Heimatregion nicht sogleich ab. Davon zeugt eine bemerkenswert umfangreiche Korrespondenz zwischen Auswanderern und daheimgebliebenen Familienmitgliedern und Freunden, die in einschlägigen Sammlungen gut dokumentiert sind, wie z. B. Helbich u. a. (Hrsg.) (1988) oder Kammeier (1983) sowie Kammeier (Hrsg.) (o. J. [1988]). Es ist unmittelbar einsichtig, dass diese Korrespondenz für Daheimgebliebene dazu beigetragen hat, ihren Verwandten und Freunden nachzuziehen und sich dort niederzulassen, wo diese bereits Fuß gefasst hatten. Wer waren die Auswanderer und welchen sozialen Schichten gehörten sie an? Die überwiegende Mehrzahl gehörte zur verarmten unteren Mittelschicht und der vorwiegend bäuerlichen Unterschicht und betraf Personen, die sich die recht teure Überfahrt gerade noch leisten konnten und/ oder von wohlhabenderen Verwandten unterstützt wurden. Der Anlass zur Auswanderung war bei diesen Personen, um die allein es in diesem Beitrag geht, vorwiegend - wenn nicht allein - ökonomischer Natur. Im Vergleich zu diesem Personenkreis fällt die Zahl der Auswanderer, die aus anderen, wie z. B. politischen Gründen, ihre Heimat verließen, gering aus. 4 2 Zu den inhaltlichen Schwerpunkten dieses Beitrags Wie aus dem Titel dieses Beitrags ersichtlich ist, stehen Sprachkontakterscheinungen im Mittelpunkt meiner Ausführungen. Soweit es das im Mittleren Westen der USA gesprochene Niederdeutsch (Nd.) betrifft, sind drei Phasen des Sprachkontaktes zu unterscheiden (vgl. Abschnitte 3-5): ein sehr früher Sprachkontakt zwischen Niederdeutsch und Standarddeutsch (Stdd.), ein etwas später einsetzender erster Sprachkontakt zwischen Niederdeutsch und Englisch, basierend auf nur sehr lückenhaften Englischkenntnissen der Einwanderer, was zu zahlreichen niederdeutschen Interferenzen im frühen Englisch der Einwanderer führte, und eine Jahrzehnte andauernde rezente Phase, zu welcher das Englische bereits die dominante Sprache und das Niederdeutsche lediglich in Domänen des Nahbereichs sowie im lokalen Umfeld in der Landwirtschaft präsent war bzw. in einem zunehmend geringeren Maße noch ist. Gerade in dieser Phase wurde das Niederdeutsche im Mittleren Westen auch bei Vollsprechern stark durch den Sprachkontakt mit dem Englischen geprägt, sodass es nahe- 4 In diesem Zusammenhang werden immer wieder die sog. 48er genannt, die infolge der nach 1848 einsetzenden Restauration Deutschland verließen und in die USA auswanderten - unter ihnen Carl (Karl) Schurz, der es dort bekanntlich bis zum Minister brachte. Zu weiteren prominenten Einwanderern aus Deutschland vgl. u. a. Schütte (o. J. [2005]). Zu den Motiven der Auswanderung und zur Auswanderung in den Mittleren Westen generell vgl. Jacob (2002), Kamphoefner (2006). 298 Jan Wirrer liegt, von einem American Low German (Amlg.) zu sprechen, das sich durch zahlreiche Spezifika von den in Norddeutschland beheimateten Varietäten unterscheidet. Trotz dieses Befundes erweisen sich zahlreiche Merkmale und Strukturen über mehrere Generationen hinweg als bemerkenswert stabil (vgl. Abschnitt 6). Kontakterscheinungen - wie die in diesem Beitrag dargestellten - werden von sprachwissenschaftlichen Laien oft als Fehler bzw. als Indiz für einen sprachlichen Verfall angesehen. Dabei sind sie nicht selten das Resultat eines kreativen Umgangs mit den sprachlichen Systemen, die den Sprechern zur Verfügung stehen. Die dabei zugrunde liegenden Prozesse lassen sich anschaulich auf der Basis einer mentalen Konstruktionsgrammatik modellieren (vgl. Abschnitt 7). 3 Früher Sprachkontakt Trotz der prägnanten Prägung zahlreicher Ortschaften und kleinerer Regionen durch die Auswanderer aus Norddeutschland kam es bereits früh zu - obwohl noch vergleichsweise wenigen - Kontakten mit der englischsprachigen Bevölkerungsmehrheit und demzufolge auch zu sprachlichen Kontakten. Darüber hinaus gab bereits vor dem Einsetzen der Immigration, um die es hier geht, Sprachkontakte anderer Art, welche der sprachlichen Situation im niederdeutschen Sprachraum im 19. Jahrhundert geschuldet sind. Diese ist stark gekennzeichnet durch die mediale Diglossie zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das dominierende und überwiegend auch ausschließliche Medium der mündlichen Kommunikation war bei den Auswanderern aus dem niederdeutschen Sprachgebiet das Niederdeutsche, das Medium der Schriftlichkeit hingegen das Standarddeutsche. Sofern sie überhaupt des Schreibens fähig waren, handelte es sich bei den Auswanderern zumeist um wenig routinierte Schreiber, in deren schriftlichen Zeugnissen - und dies sind zuvörderst die bereits erwähnten Briefe - zahlreiche Sprachkontakterscheinungen zwischen dem Niederdeutschen und dem Standarddeutschen nachzuweisen sind. Dazu nur folgendes Beispiel: (1) wier können dreist sagen, wier haben im unsern Lebend Solg ein frommes Kind nicht belebt. … ich habe seit 1854 Sohn die giegt … wir haben Sohn viels verdochtert aber doch alles vergeblich (Cincinnati, 12.11.1855: Engel Meyer an ihre Eltern in Reiningen [Lüneburger Heide]) (Kammeier o. J. [1988], 20; Hervorhebungen: J. W.) Die beiden semantischen Interferenzen aus dem Niederdeutschen, nämlich belebt und dreist, beruhen auf einer fehlerhaften semantischen Gleichsetzung phonetisch ähnlicher Lexeme, nämlich nd. beleven, was bekanntlich erleben bedeutet, mit stdd. beleben, was bekanntlich lebhaft(er) machen, anregen u. Ä. bedeutet. Des Weiteren hat die Briefschreiberin offensichtlich eine Intuition der häufig „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 299 zu belegenden Korrespondenzregel nd. inlautend v = stdd. inlautend b wie in nd. arven/ arvt vs. stdd. erben/ erbt. Der falschen semantischen Gleichsetzung von nd. driest (beherzt, unbekümmert) mit stdd. dreist beruht ebenfalls auf der intuitiven Kenntnis einer Korrespondenzregel, nämlich der neuhochdeutschen Diphthongierung (vgl. nd. min vs. stdd. mein). Solg und giegt (Gicht) sind das Resultat einer standarddivergenten Übergeneralisierung der g-Spirantisierung im absoluten Auslaut nach i (vgl. wenig), die dazu führt, dass die Schreiberin [ç] sowohl im absoluten also auch im gedeckten Auslaut mit dem Graphem g wiedergibt. Auf eine Übergeneralisierung einer Korrespondenzregel, nämlich der hd. Lautverschiebung (vgl. nd. maken vs. std. machen) ist schließlich verdochtert zurückzuführen. Darüber hinaus hat die Schreiberin Probleme im Umgang mit dem ihr fremden vierstufigen Kasus-System (… im unsern …). 5 Der - obgleich zunächst nur recht spärliche - Kontakt mit der englischsprachigen Mehrheit führte bereits relativ früh zu Versuchen, sich des Englischen zu bedienen. Erwartungsgemäß kam es dabei zu zahlreichen Interferenzen aus dem Niederdeutschen, der weiterhin dominanten Sprache der Einwanderer aus Norddeutschland. Die entsprechenden Sprachkontaktphänomene sind nur spärlich dokumentiert und basieren auf Erzählungen von befragten Gewährspersonen nachfolgender Generationen, was deren Authentizität und Repräsentativität nicht unerheblich einschränkt. Die folgenden, von mir jeweils anschließend kommentierten Beispiele frühen Sprachkontaktes sind Brauer/ Goossen (1989: 222) 6 entnommen und beziehen sich auf Überlieferungen aus Cole Camp (MO), dessen Bevölkerung sich in ihrer Mehrzahl auf Einwanderer aus dem Elbe- Weser-Dreieck zurückführt. Die Belege sind zeitlich nur schwer zu lokalisieren, dürften jedoch auf jeden Fall einer Zeit entstammen, zu der die Englischkenntnisse der Niederdeutsch sprechenden Bevölkerung des Mittleren Westens zumindest bei einigen Sprechern noch sehr rudimentär waren. Angesichts der Tatsache, dass die Angaben, gegen Ende der 1980er Jahre erhoben, auf Erinnerungen und ggf. auch auf Erinnerungsketten beruhen, dürften die Belege mehrheitlich um das Jahr 1900 +/ - 20 Jahre zu datieren sein. Über die jeweiligen Sprecher ist nichts Weiteres bekannt. 5 Die Schreibung Sohn für schon lässt sich vermittels eines Vergleichs mit dem Niederdeutschen nicht erklären. 6 Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um eine sehr informative und niveauvolle Laienpublikation unter Beteiligung von Laienlinguisten. Trotz dieser Einschränkung dürfte den Autoren eine solide Kenntnis der sprachlichen Verhältnisse in Cole Camp zu attestieren sein. Mit seinen umfangreichen Informationen zur Lokalgeschichte reiht sich dieser Band ein in die Tradition der Citizen Science, die von der Fachwissenschaft nicht selten allzu schnell ignoriert wird (vgl. Finke 2014; 2018). 300 Jan Wirrer (2) It’s a hot day, not? (korrekt: It’s a hot day, isn’t it? ) Tag-Question ersetzt durch (nieder-)deutsche Rückversicherungspartikel. (3) We live neighbors to them. (korrekt: We live next door to them.) Polylexikalische Adposition next door to offenbar nicht hinreichend bekannt, Versuch einer metaphorischen Nachbildung. (4) It wonders me. (korrekt: This surprises me.) Falscher Rückschluss von phonetischer Ähnlichkeit auf semantische Gleichheit. (5) What does it gif for dinner? (korrekt: What are we having for dinner? ) 1 : 1-Übersetzung einer (nieder-)deutschen Kollokation, bedeutungsgleiche englische Kollokation offenbar unbekannt. 4 Das Dokumentationsprojekt zum American Low German im Mittleren Westen Im Rahmen des Dokumentationsprojekts zum American Low German im Mittleren Westen wurden objektsprachliche, subjektsprachliche und perzeptionssprachliche Daten nebst zughörigen Metadaten von 82 Gewährspersonen in den Bundesstaaten Illinois, Iowa, Kansas, Missouri, Nebraska und Wisconsin erhoben. Dabei handelte es sich um Sprecherinnen und Sprecher - darunter auch Semisprecher und Sprachvergesser 7 - der dritten, vierten und z. T. fünften Auswanderergeneration. 8 Die Gewährspersonen wurden zunächst über Städte- 7 Meist wird nur zwischen Sprechern und Semi-Sprechern unterschieden. Die Sprachvergesser, d. h. im Prinzip kompetente Sprecher, welche die betreffende Sprache über einen längeren Zeitraum nicht angewendet haben, wird dabei häufig übersehen (vgl. Sasse 1992). Von mir im Mittleren Westen erhobene Daten zeigen, dass sich Sprachvergesser im Laufe des Interviews deutlich „verbessern“ (vgl. Wirrer 2009). 8 Zum Themenbereich ‚Deutsch in den USA‘ liegen zahlreiche Publikationen vor, wie z. B. Salmons ([Hrsg.] 1993), Mertens (1994), Kaufmann (1997), Jacob (2002; 2008), Keel (2003; 2006), Louden (2005; 2006; 2008), Boas (2009) und Roesch (2012). Unter diesen steht das von Auswanderern aus dem niederdeutschen Sprachgebiet gesprochene American Low German des Mittleren Westens nur selten im Mittelpunkt der Betrachtung mit Ausnahme von Mertens (1994) oder Jacob (2002; 2008). Das diesen Ausführungen zugrunde liegende Sprachkorpus dürfte das umfangreichste zum Niederdeutschen im Mittleren Westen sein. Dieses Korpus liegt inzwischen in digitalisierter Form vor. Es enthält neben den objektsprachlichen Daten die zugehörigen Metadaten, Hinweise zur Ortsgeschichte einzelner Erhebungsorte, ein einschlägiges Literaturverzeichnis, einen Überblick über die Erhebungsinstrumente sowie weitere einschlägige Materialien. Inzwischen ist das Korpus über die University of Wisconsin in Madison, über den Sprachatlas in Marburg und über das Leibniz-Institut für Deut- „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 301 partnerschaften, wie z. B. die Partnerschaft zwischen Melle, im Landkreis Osnabrück gelegen, und New Melle, St. Charles County (MO), und sodann per Schneeballsystem gewonnen. Daher sind die Erhebungen höchstens bedingt repräsentativ. Die hauptsächlichen Ziele des Projekts lagen in der Elizitierung von Daten zur sprachlichen Stabilität und Instabilität, zum Sprachkontakt, zur unterschiedlich oder ähnlich verlaufenen Sprecherbiografien und zum metasprachlichen Wissen der Gewährspersonen sowie zum Sprachwandel und zum Sprachwechsel in durch die Einwanderung aus Norddeutschland geprägten Ortschaften und Regionen. Die Daten wurden im Rahmen von vier Forschungsaufhalten erhoben, und zwar in den Jahren 1993, 1998, 2002 und 2007 9 . Da die Zahl der Niederdeutsch-Sprecher und und generell der Gebrauch des Niederdeutschen in den untersuchten Ortschaften stark zurückgeht, könnte ein Dokumentationsprojekt wie das hier Vorgestellte heute kaum noch durchgeführt werden. 10 Die Korpusdaten wurden vermittels unterschiedlicher Instrumentarien erhoben. 11 Im Mittelpunkt der Datenerhebung stand ein sprecherbiografisches Interview, erhoben auf der Grundlage eines nach Lebensphasen und entsprechenden kommunikativen Netzen gegliederten Gesprächsleitfadens (vgl. Wirrer 2017). Des Weiteren wurden die Gewährspersonen um eine kurze Erzählung in niederdeutscher Sprache gebeten - z. B. über den Arbeitsalltag oder über persönliche Erfahrungen mit Tornados. Daran schlossen sich ein Übersetzungstest Englisch → Niederdeutsch mit an den Wenkersätzen orientierten, aber auch auf Sprachkontakterscheinungen zielenden Testsätzen an. Schließlich wurden die Probanden um eine niederdeutsche Beschreibung einer Bildergeschichte gebeten, und mit einigen Gewährspersonen wurde ein Perzeptionstest 12 durchgeführt. sche Sprache (IDS) in Mannheim in dort archivierten elektronischen Kopien für wissenschaftliche Zwecke unter Beachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben zugänglich. 9 Vergleiche z. B. Wirrer (2008; 2015) und die dort angegebene Literatur. 10 Eine Ausnahme sind z. B. die mennonitischen Gemeinden im Westen von Kansas, wo sich das Plautdietsche, die von den Mennoniten gesprochen Varietät des Niederdeutschen, gestützt durch den religiösen Minderheitenstatus, als deutlich stabiler erweist als in den von mir untersuchten nicht-mennonitischen Ortschaften. 11 Zu Grundfragen der Korpuslinguistik vgl. Gessinger u. a. (Hrsg.) (2018). 12 Die Perzeptionstests wurden zur Klärung lediglich eines Problems durchgeführt. Auf die Frage, welche Sprache sie als Erstes in ihrer Kindheit gelernt hätten, antworteten etliche Gewährspersonen „Düütsch“ und meinten damit Niederdeutsch bzw. Plattdeutsch. Niederdeutschsprecher im Norden Deutschlands beantworten diese Frage, wenn denn das Niederdeutsche ihre Erstsprache ist, ausnahmslos mit „Plattdüütsch“ bzw. „Plattdeutsch“. Bei den Probanden aus dem Mittleren Westen, von denen die meisten des Standarddeutschen nicht mächtig sind, stellt sich die Frage, ob sie nicht in der Lage sind, Niederdeutsch und Standarddeutsch rein sprachlich zu unterscheiden, oder ob es bei ihnen keinen Differenzierungsbedarf gibt. Die Perzeptionstests, in denen hinsichtlich der hd. Lautverschiebung und der nhd. Diphthongierung vom Niederdeutschen abweichende Stimuli getestet wurden (z. B. 302 Jan Wirrer Lediglich auf dringende Bitten einzelner Gewährspersonen hin habe ich mich bei der Datenerhebung des Englischen bedient, ansonsten habe ich mit den Probanden Niederdeutsch gesprochen. Ein durchgängiger Gebrauch des Englischen hätte das Vorkommen von Sprachkontakterscheinungen aufgrund von Mikrosynchronisierungen (vgl. Schmidt/ Herrgen 2011), aber auch aus Gründen der Höflichkeit gegenüber dem Explorator, dem man u. U. nur eine passive und darüber hinaus eingeschränkte Niederdeutschkompetenz unterstellt hätte, wahrscheinlich erhöht. 5 Rezenter Sprachkontakt Die meisten authentischen rezenten Sprachkontakterscheinungen sind erwartungsgemäß in den Sprecherbiografien und den freien Erzählungen und in geringerer Zahl in den Beschreibungen der Bildergeschichte nachweisbar. Zwar lassen auch die Übersetzungen ins Niederdeutsche Sprachkontakterscheinungen erkennen, deren Grad an Authentizität ist jedoch wegen nicht auszuschließender Priming-Effekte zurückzustufen. Die im Folgenden aufgeführten Beispiele sind durchgängig mehrfach im Korpus - und z. T. auch anderswo - belegt. Es handelt sich also nicht um okkasionelle Bildungen, sondern um im American Low German fest integrierte, auf Sprachkontakt zurückzuführende Phänomene. Bekanntlich lassen sich im Lexikon besonders häufig Sprachkontakterscheinungen nachweisen - und hier zuvörderst im Bereich der Appellativa. Unter semantischen Gesichtspunkten sind bezüglich des American Low German zwei grundlegende Klassen zu unterscheiden: Bezeichnungen für Gegenstände i. w. S., die es zur Zeit der Auswanderung noch nicht gab bzw. außerhalb des Erfahrungshorizonts der Auswanderer lagen oder damals zumindest weniger verbreitet waren. Diese werden durchweg mit an den Varietäten der Herkunftsregion orientierten phonetischen, phonologischen und morphologischen Mustern angeglichenen englischsprachigen Lexemen bezeichnet. Neben typisch US-amerikanischen Gegenständen, wie z. B. Baseball, zählen dazu technische Geräte i. w. S., wie etwa Combine (stdd. Mähdrescher), für das es mit Meidröscher laut dem Sass’schen ‚Plattdeutschen Wörterbuch‘ (Kahl/ Thies [Bearb.] 2007) im hiesigen Niederdeutsch einen Neologismus gibt, und Air Conditioning (stdd. Klimaanlage). Angleichungen an das niederdeutsche Flexionssystem und phonetische Angleichungen zeigen die folgenden Beispiele: Kor/ pl.: Koren [k ɔ : ɐ ]/ [k ɔ : ɐ n] (stdd. Auto/ Pferd statt Peerd oder Haus statt Huus), ergaben, dass die Gewährspersonen die Unterschiede fast ausnahmslos wahrnehmen. Dieses Ergebnis spricht eindeutig für die zweite Alternative (kein Differenzierungsbedarf) (vgl. Elmentaler u. a. 2010). „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 303 Autos), Mailbox/ pl.: Mailboxen (stdd. Briefkasten/ Briefkästen) 13 sowie Gläser (nordnd.)/ Gliäser (westfälisch) (stdd. Brille). Hinsichtlich Air Conditioning, das innerhalb eines Testsatzes im Übersetzungstest vorkam, ergab sich zudem bei einigen Gewährspersonen ein bemerkenswerter Priming-Effekt. Während die weitaus meisten Probandinnen und Probanden Air Coditioning problemlos 1 : 1 ins niederdeutsche Satzgefüge einfügten, wichen Personen mit einem überdurchschnittlichen und überdies von Sprachpurismus geprägtem laikalen metasprachlichen Wissen, wie z. B. Lehrer oder Dialektfunktionäre, auf okkasionelle Bildungen wie Köhlige Luft aus, was im Übrigen eine semantisch unzutreffende Substitution ist, denn bekanntlich dienen Klimaanlagen dazu, die Temperatur innerhalb geringer Schwankungen konstant und nicht nur kühl zu halten. Andere in das Lexikon des American Low German integrierte und auf dem Englischen basierende Lexeme sind nicht zufällig bestimmten Domänen zuzuordnen. Dabei handelt es sich vor allem um solche, in denen ein Minimum an Englischkenntnissen von Beginn an erforderlich war. Dazu gehörten die Administration und vor allem die Ökonomie. So heißt Kreis im Sinne von territorialer Verwaltungseinheit durchweg County, Abteilung durchweg Department und Land im Sinne von Staat meistens Country, wobei im letztgenannten Fall Homonymenflucht ein zusätzlicher Auslöser sein könnte. Die Dominanz des englischen Vokabulars in der Domäne der Ökonomie zeigt sich interessanterweise durchweg in den Berufsbezeichnungen. Darunter sind solche Berufe, die es zur Zeit der Auswanderung noch nicht gab, wie z. B. Truck Driver (stdd. Lkw- Fahrer) und Contractor (stdd. Bauunternehmer), oder die zumindest nicht zum Lebensumfeld der meisten Auswanderer gehörten, wie etwa Secretary (stdd. Sekretär/ Sekretärin, Büroangestellter/ Büroangestellte), aber auch solche, welche im Lexikon des Niederdeutschen bereits enthalten waren, jedoch durch semantisch entsprechende englische Lexeme ersetzt wurden, wie Lehrer durch Teacher oder Timmermann durch Carpenter. Unter den Berufsbezeichnungen nimmt das im Korpus häufig nachweisbare Lexem Farmer eine Sonderstellung ein. Wie es scheint, wird mit Farmer der Eigentümer eines großflächigen Bauernhofes bezeichnet, wie es sie außerhalb der Landgüter in der alten Heimat nicht oder nur in sehr geringer Zahl gab, die im Mittleren Westen jedoch die Regel sind. Wenn dies so ist, dann hat sich das niederdeutsche Wortfeld im American Low German gewandelt: Farmer ist die Bezeichnung für einen Eigentümer eines großflächigen Bauernhofes, Buer für den eines kleinflächigen. Zwei häufige, auf dem Englischen beruhende Lexeme, die den obigen Kategorien nicht zugeordnet werden können, sind Trubel [tru: bl] und Kreek [kr ɪ k] oder [kre: k]. Die phonetische Ähnlichkeit zwischen trouble und Trubel dürfte 13 Zur Zeit der Auswanderung gab es in Deutschland bekanntlich kein derart flächendeckendes und derart komplexes Postsystem. 304 Jan Wirrer zu einem semantischen Transfer geführt haben, sodass im American Low German Trubel nur noch im Sinne engl. trouble verwendet wird. Etwas anders liegen die Verhältnisse im Falle von Kreek ← engl. creek (stdd. kleiner Flussarm), das als Lehnwort ins Lexikon des American Low German eingegangen ist. Dieser Prozess ist vermutlich speziellen Landschaftsformen des Mittleren Westens geschuldet und nicht zuletzt den zahlreichen Toponymen, in denen creek enthalten ist, wie z. B. Flat Creek, Indian Creek oder Ross Creek (alle in der Umgebung von Cole Camp [MO]). Auch im Bereich der Verben enthält das American Low German Neubildungen, die auf den Kontakt mit dem Englischen zurückzuführen sind. Diese Neubildungen sind ausnahmslos dem Flexionssystem des Niederdeutschen und dem niederdeutschen Wortakzent angeglichen. Ein prominentes Beispiel ist moven im Sinne von den Wohnort wechseln. Hier liegt eine partielle Homonymenflucht vor, wie eine Gegenüberstellung von nd. ümtrekken (stdd. umziehen) vs. sick ümtrekken (stdd. sich umziehen [die Kleidung wechseln]) deutlich zeigt. Das präfigierte Verb henmoven folgt dem Wortakzent der aufnehmenden Sprache (,X’XX). Entsprechendes gilt für överswitchen (,X’XX) und overchangen (,X’XX) - beides zu verstehen im Sinne von überwechseln. Ein häufig vorkommendes Verb, das an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben darf, ist glieken (nordniederdeutsch) bzw. gluiken (westfälisch) im Sinne von gern haben. Aufgrund der phonetischen Ähnlichkeit mit engl. like liegt die Vermutung nahe, dass auch dieses Verb des American Low German dem Sprachkontakt geschuldet ist. De facto handelt es sich jedoch um einen Archaismus. Noch in seinem Wörterbuch aus dem Jahre 1824, also keine zwei Jahrzehnte vor der großen Auswanderungswelle, führt Johan Gilges Rosemann genannt Klöntrup ein Lemma gliken=liken in der Bedeutung gefallen auf (vgl. Rosemann genannt Klöntrup 1982-1984). Während das Verb heute im Niederdeutschen Norddeutschlands ausgestorben ist, ist es im American Low German erhalten, wobei die Ähnlichkeit mit engl. like möglicherweise zur Stabilisierung beigetragen hat. 14 Auch aus dem Englischen übernommene Gradadverbien erweisen sich als integraler Bestandteil des American Low German. Gradadverbien wie well, originally, usually, really, pretty, exactly, even und - als Hybridbildung - meestly sind im Korpus häufig nachzuweisen. Die Resultate des Sprachkontakts Englisch → Niederdeutsch im American Low German betreffen mit Konjunktionen und Adpositionen auch grammatische Lexeme, also Lexeme, die in den Kernbereich der Grammatik fallen. Nicht-okkasioneller Sprachkontakt auf dieser Ebene wird nicht selten als Indiz für Sprachverfall gewertet. Ich möchte diese Frage hier offen lassen, gebe aber 14 Es handelt sich im Übrigen um ein altes, in verschiedenen Sprachen belegtes Verb: vgl. got. ga-leikan, an. lika, ae. lician, ahd. ga-lihhen, mhd. gelichen, and. likon, mnd. geliken. Vgl. auch gleichen = gern mögen im Pennsylvania German. „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 305 zu bedenken, dass die im Folgenden aufgeführten englischsprachigen Lexeme im Korpus sehr häufig auftreten und von den Gewährspersonen problemlos ohne Anzeichen von Verzögerung in den Redefluss integriert werden, sodass vieles dafür spricht, sie als integralen Bestandteil des Lexikons zu werten. Unter den Konjunktionen, um die es hier geht, sind diese besonders häufig vertreten: but, because, though, even though und unless. Soweit es zumindest das Korpus des American Low German des Mittleren Westens betrifft, haben diese die autochthonen niederdeutschen Konjunktionen vollständig ersetzt. So ist wiel dat (stdd. weil) im Korpus nicht ein einziges Mal belegt. - Für die Substitution der nd. Konjunktionen bieten sich eine grundlegende Erklärung und zumindest zwei ergänzende Erklärungen an. Die grundlegende liegt in der starken Dominanz des Englischen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass bei den Gewährspersonen auch dann, wenn sie sich des Niederdeutschen in unterschiedlichen Situationen bedienen, das Englische auf kognitiver Ebene im Hintergrund stets präsent ist. Dabei ist zu bedenken, dass Konjunktionen der koordinierenden und vor allem der subordinierenden Verknüpfungen von Propositionen dienen. Da solche Verknüpfungen stets mit relativ komplexen kognitiven Prozessen verbunden sind, liegt es nahe, dass die Verknüpfungsoperatoren zunehmend der dominierenden Sprache entnommen und so zu einem integralen Bestandteil des Lexikons der aufnehmenden Sprache werden. Des Weiteren spielt in einzelnen Fällen das Ökonomieprinzip eine wichtige Rolle. Dies gilt z. B. für unless (nd. wenn … nich), für das ein entsprechendes monolexikalisches Lexem im Niederdeutschen nicht vorliegt, wobei im Falle von wenn … nich wegen der Stellung der Negationspartikel unmittelbar vor dem rechten Rand der Satzklammer eine komplexere syntaktische Struktur erforderlich ist als im Falle von unless. Eine Besonderheit ergibt sich hinsichtlich engl. when, wo es häufig zu Verwechselungen mit nd./ stdd. wenn kommt und wenn daher das nd. as ersetzt. Ähnlich wie Konjunktionen dienen auch Adpositionen der Verknüpfung zwischen sprachlichen Entitäten, wobei es sich hier meist um Nominalphrasen handelt. Im Korpus belegt sind u. a. across, down und except/ except for. Dabei ist besonders except/ except for von Interesse. Das Niederdeutsche kennt als Äquivalent lediglich uter und uutbenamen. Beide Lexeme sind jedoch selten in Gebrauch und zahlreichen Sprechern vermutlich unbekannt. Wenn dies so ist, dann füllen die Sprecher mit except/ except for eine semantische Lücke. Monolexikalische konversationelle Partikel und polylexikalische konversationelle Einheiten begegnen im Korpus ausschließlich auf Englisch. Dies gilt für verbalisierte Planungspausen wie well, let me think, what did we say for, für Initialsignale wie alright, 15 für Hecken wie I would say oder Tag-Questions bzw. 15 Hier zeigt sich eine bemerkenswerte Parallele mit dem von der deutschsprachigen, in Ungarn ansässigen Minderheit gesprochen Deutsch, bei dem „ungarische Modalpartikel […] regelmäßig als Redeeinstieg“ fungieren (Földes 2005: 135). 306 Jan Wirrer polylexikalische Rückversicherungspartikel wie you know. Dies ist ein weiteres und vielleicht das anschaulichste Indiz für die Dominanz des Englischen und die Tatsache, dass, während die Gewährspersonen sich des Niederdeutschen z. B. bei Alltagserzählungen bedienten, das Englische stets im Hintergrund präsent war. Bekanntlich sind Kollokationen in ihrer Eigenschaft als hochgradig feste polylexikalische Einheiten ein integraler Bestandteil des Lexikons. Auch hier kommt es, zumal bei semantisch und syntaktisch weitgehend entsprechenden Kollokationen im American Low German, zum Sprachkontakt zwischen Niederdeutsch und Englisch. Dazu lediglich ein mehrfach im Korpus belegtes Beispiel: Statt na Kark gahn heißt es dort to Kark gahn (vgl. engl. to go to church), was ein weiteres Mal für die Dominanz des Englischen spricht. Erwartungsgemäß lassen sich im Korpus nicht selten syntaktische Interferenzen aus dem Englischen nachweisen. Oft handelt es sich dabei um Verstöße gegen die Zweitstellung des finiten Verbs im Hauptsatz, wobei diese mitunter durch eingefügte, ursprünglich englische Lexeme getriggert werden, wie z. B. Dat usually geiht in Engelsk (Antwort einer Gewährsperson aus Walcott [IA] auf die Frage, welcher Sprache sie sich im Alltag bediene). Weiterhin sind Vermeidungen der Satzklammer - Du schallst nich snacken Düütsch - und fehlerhafte Besetzungen des Mittelfeldes zu beobachten, wie z. B. Se hebbt na Huus brocht Tüten vun Cranberries. 16 6 Areallinguistische Aspekte: Siedlungsregion → Herkunftsregion Trotz des gestaltenden Einflusses des Englischen auf das American Low German erweist sich dieses, was den Bezug zu den Varietäten der Herkunftsregionen der ersten Einwanderergeneration betrifft, oft als bemerkenswert stabil. Dies soll im Folgenden am Beispiel von St. Libory (IL) demonstriert werden. St. Libory, im Süden von Illinois, etwa 30 Meilen südöstlich von East St. Louis gelegen, ist durch die zu einem sehr hohen Prozentsatz ursprünglich aus dem Norden Deutschlands stammende Einwohnerschaft geprägt, wofür die ethnische Zusammensetzung der 603 Einwohner zählenden Bevölkerung mit über 96,4 % ‚Whites‘ (Zensusdaten 2010, 2017) 17 in Kombination mit dort vorkommenden, historisch belegten Familiennamen ein Indiz ist. Gegenüber den ebenfalls durch die Einwanderung aus dem Norden Deutschlands geprägten Ortschaften in ihrem 16 Bei dem letzten Beispiel handelt es sich um ein per Übersetzungstest elizitiertes Datum. Es ist deshalb möglicherweise durch die syntaktische Struktur des Stimulus induziert. 17 Vergleiche http: / / www.city-data.com/ city/ St.-Libory-Illinois.html (19.05.2020). „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 307 näherem Umkreis wie z. B. New Minden und Hoyleton weist St. Libory eine Besonderheit auf, die, wie der Ortsname vermuten lässt, darin besteht, dass die Einwohner mehrheitlich katholisch sind. Die Mehrheitsbevölkerung lebt daher - wie ihre vor drei oder vier Generationen ausgewanderten Vorfahren - in einer Art Diaspora. 18 Wie in anderen Ortschaften des Mittleren Westens wurden auch in St. Libory objektsprachliche, subjektsprachliche und demografische Daten von dort ansässigen Sprechern des Niederdeutschen erhoben - und zwar von insgesamt acht Gewährspersonen. Unter diesen wurden drei als Semi-Sprecher eingestuft. Diese bleiben in der folgenden vergleichenden areallinguistischen Analyse unberücksichtigt. Die verbleibenden fünf Gewährspersonen wurden zwischen 1919 und 1932 geboren, waren zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen 65 und 78 Jahren alt und befanden sich im Ruhestand. Drei der Probanden gaben als Berufsbezeichnung ‚Farmer‘ an, einer ‚Viehhändler‘, die einzige weibliche Gewährsperson ‚Hausfrau‘. Alle fünf Gewährspersonen waren stets in St. Libory oder in der nahen Umgebung von St. Libory ansässig und durften somit als ortsfest gelten. Die Angaben zum Herkunftsort bzw. zur Herkunftsregion ihrer Vorfahren variierten von Ortsangaben wie Ostercappeln, im Landkreis Osnabrück an der Grenze zum Landkreis Vechta gelegen, bis hin zu größeren Regionen und Landschaften wie Oldenburg oder Hannover, womit im ersten Fall das Großherzogtum Oldenburg und im zweiten Fall das bis 1866 existierende Königreich Hannover gemeint sein dürfte. 19 Außerdem wird Cloppenburg als Herkunftsort bzw. Herkunftsregion genannt, wobei anzumerken ist, dass es sich bei der Region um Cloppenburg um eine norddeutsche katholische Diaspora handelt, was mit den konfessionellen Befunden in St. Libory kompatibel ist. Mitunter schwanken die Angaben jedoch und sind in sich widersprüchlich, wie z. B. Ostercappeln/ Kreis Paderborn. Der Name St. Libory lässt vermuten, dass die ersten Siedler aus dem Raum Paderborn stammten. Ob dies zutrifft, lässt sich neben den meist recht zuverlässigen Angaben der Gewährspersonen zum Herkunftsort bzw. zur Herkunftsregion ihrer Vorfahren anhand dialektologischer Daten überprüfen. Die Ausgangs- 18 Für einen kurzen Überblick zur Geschichte von St. Libory vgl. http: / / www.negenweb. net/ NEHoward/ stlibory.html (19.05.2020). 19 Die historische Tatsache, dass es sich bei der heutigen Landesgrenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen um die alte Grenze zwischen dem Königreich Hannover und Preußen handelt, ist bei Teilen der Bevölkerung beiderseits der Landesgrenze bis heute präsent (vgl. Botzet 2017). So äußert sich eine Gewährsperson aus Rödinghausen im Kreis Herford im Rahmen eines sprecherbiografischen Interviews u. a. wie folgt: „Es gibt ein hannoiverskes Platt, was wieder in diesen Niedersachsenbereich geht“ (Wirrer 2016: 256). Dabei bezieht sie sich auf das Niederdeutsche „achter’n Biarge“, also unmittelbar nördlich des Wiehengebirges in örtlicher Nachbarschaft zu Rödinghausen. 308 Jan Wirrer hypothese lautet also: St. Libory wurde von Einwanderern (ost-)westfälischer Herkunft besiedelt. Wie in den weitaus meisten Fällen, so stimmen auch in Westfalen Verwaltungs- und Landesgrenzen mit den sprachlichen Verhältnissen nicht überein. Insbesondere ragt das Westfälische nach Norden hin weit über den westfälischen Landesteil von Nordrhein-Westfalen hinaus und schließt das südliche Emsland mit ein, sodass unter dialektologischen Gesichtspunkten die Einwohner St. Liborys nicht zwingend von Einwanderern aus dem heutigen Westfalen abstammen. Daher zunächst einige Vorüberlegungen zur internen areallinguistischen Einteilung des Westfälischen. Das Westfälische lässt sich einteilen in ein kernwestfälisches, ein binnenwestfälisches und ein randwestfälisches Territorium. 20 Nach der in Tabelle 1 vorgenommenen Einteilung treffen auf das Kernwestfälische alle fünf genannten Kriterien zu, auf das Binnenwestfälische deren vier und auf das Randwestfälische lediglich eines. Territorium LINGUISTISCHE KRITERIEN Kernwestfälisch kein Zusammenfall von altlangem a (and. å) und tonlangem a (and. a: ) (a in offener Silbe) (sc ɔ : p vs. ma: k ə n) 21 westfälische Brechung (and. Kurzvokale → Kurzdiphthongen) (z. B. westf. iaten, altnd. etan) und westf. Rüe Binnenwestfälisch kein Zusammenfall von altlangem a (and. å)und tonlangem a (and. a: ) (sc ɔ : p vs. ma: k ə n) westfälische Brechung (z. B. westf. iaten, altnd. etan) oder westf. Rüe Randwestfälisch kein Zusammenfall von altlangem a (and. å) und tonlangem a (and. a: ) (sc ɔ : p vs. ma: k ə n) Tab. 1: Linguistische Kriterien Westfälisch Wendet man diese Tabelle auf die bei den fünf Gewährspersonen erhobenen einschlägigen Daten an und berücksichtigt darüber hinaus einige kleinregionale Befunde, so zeigt sich für St. Libory das in Tabelle 2 dargestellte Bild. 20 Die hier vorgeschlagene Einteilung weicht von der in der Dialektologie sonst üblichen Einteilung (vgl. Niebaum 1972 oder Goossens 1983) ab und dient lediglich zur Veranschaulichung und Interpretation der in Tabelle 2 aufgeführten Daten. 21 Im Gegensatz zum Westfälischen sind altlanges a und tonlanges a in den anderen niederdeutschen Varietäten zusammengefallen. „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 309 Gewährspersonen: 5 Vollsprecher des Niederdeutschen Daten Anzahl Befunde 22 Areale Zuordnung sk ᴐ : p 5 Kein Zusammenfall von altlangem a und tonlangem a Westfälisch (einschl. südliches Emsland) va: t ᵄ 5 ma: k ᵊ n 5 Wicht 5 nicht Luid nicht Ostwestfälisch Hund 4 nicht Rüe nicht Kernwestfälisch e ᴵ t ᵊ n 2 kein Brechungsdiphthong nicht Binnenwestfälisch → Randwestfälisch ik bün 4 nicht ik sin nw. Quakenbrück - Vechta → südl. Emsland se bünt 3 nicht se sünt/ sint zw. Papenbrück (N) und Quakenbrück (S) se sint 2 nicht se sünt/ bünt südl. Quakenbr. - Vechta (um 1800 weiter nördl.) ke ᴵ s ᵊ 5 nicht ke: s ᵊ Altkreis Aschendorf-Hümmling kle ᴵ t 5 nicht kle: t Altkreis Aschendorf-Hümmling Tab. 2: Vollsprecher des Niederdeutschen, St. Libory Aus Tabelle 2 ergibt ein sehr eindeutiger Bezug zur Herkunftsregion der fünf Sprecher. Bei dieser handelt es sich um den Altkreis Aschendorf-Hümmling, westlich von Cloppenburg gelegen, und nicht, wie der Ortsname vermuten lässt, um die Paderborner Region, was natürlich nicht ausschließt, dass einzelne in St. Libory ansässige Personen oder auch Familien aus Paderborn und Umgebung zugewandert sind. 23 Der Befund Altkreis Hümmling-Aschendorf entspricht im Übrigen auch weitgehend den o. g. Angaben der Gewährspersonen zur Herkunftsregion ihrer ausgewanderten Vorfahren. 22 Die in dieser Spalte aufgeführten Dateninterpretationen beziehen sich auf dialektale Charakteristika, die in der Forschung seit Langem bekannt sind (vgl. z. B. Mitzka 1955 oder Taubken 1985). 23 Auf der Basis des hier dargelegten Befundes mit objektlinguistischen Daten von fünf Gewährspersonen wird selbstverständlich keine Repräsentativität für den gesamten Ort beansprucht. Dennoch lassen diese - unter Berücksichtigung der Besiedlungsgeschichte - immerhin ein dialektologisches Profil erkennen. 310 Jan Wirrer 7 Argumente für eine mentale Konstruktionsgrammatik Auf diesen Punkt kann hier nur sehr kursorisch eingegangen werden. Daher in aller Kürze nur so viel: In diesem Beitrag war stets vom American Low German und nicht von Westfälisch, Nordniederdeutsch etc. in den USA die Rede. Mit American Low German soll jedoch, wie bereits vermerkt, kein homogener neuer Dialekt ohne Rücksichtnahme auf die verschiedenen Varietäten der Herkunftsregionen bezeichnet werden. Vielmehr ist zu unterscheiden zwischen einem American Low German auf westfälischer, nordniederdeutscher, pommerscher etc. Grundlage. 24 Wie deutlich sich die Herkunftsregionen trotz des intensiven Sprachkontakts mit dem Englischen erkennen lassen, zeigt das Beispiel St. Libory. Dennoch ist die Bezeichnung American Low German gerechtfertigt, weil der Kontakt mit dem Englischen bereits zu Veränderungen in Kernbereichen der Grammatik geführt hat, ohne das Niederdeutsche typologisch zu modifizieren, 25 was sich z. B. an der Ersetzung von niederdeutschen Konjunktionen zeigt. Alle Sprecher des American Low German verfügen heute über Kompetenzen in zumindest zwei Sprachsystemen, dem Englischen und dem American Low German, darüber hinaus verfügen wenige auch über eine standarddeutsche Kompetenz. Zahlreiche Daten belegen, dass die Sprecher mit ihrer Mehrsprachigkeit kreativ umzugehen vermögen, darunter das auf partielle Homonymenflucht zurückzuführende, aus dem Englischen abgeleitete Verb moven im Sinne von den Wohnort wechseln, die aus Gründen der Sprachökonomie erfolgte Ersetzung von wenn nich durch unless, die morphologische Integration von aus dem Englischen stammenden Lexemen ins niederdeutsche Flexionsparadigma wie in een Mailbox/ twee Mailboxen oder die phonetische Angleichung an das Niederdeutsche wie in Kreek. Die hier zugrunde liegenden mentalen Prozesse können am adäquatesten vermittels einer diasystematischen Konstruktionsgrammatik modelliert werden (vgl. Höder 2016). Dabei ist davon auszugehen, dass die beteiligten sprachlichen Systeme von den Sprechern nicht als vollkommen distinkt empfunden werden und sich prinzipiell als gegeneinander offen erweisen. Dies gilt besonders für genetisch eng verwandte und typologisch ähnliche Sprachen wie Niederdeutsch und Englisch. So dürften folgende - zugegebenermaßen konstruierte - Sätze aus dem Englischen einerseits und dem Niederdeutschen andererseits von heutigen Sprechern des American Low German trotz einiger struktureller Unterschiede noch immer als ähnlich und ineinander überführbar empfunden werden, wobei nicht selten das Ökonomie-Prinzip greift. Hinsicht- 24 Entsprechend ist bei Jacob (2008) von American Pommersch die Rede. 25 Dies ist zugegebenermaßen eine Ermessenssache. So wird nach englischsprachigen subordinierenden Konjunktionen gegen die Endstellung des finiten Verbs im Nebensatz verstoßen. Hier käme es darauf an, ob man die Stellung des finiten Verbs als ein zentrales oder eher als ein peripheres typologisches Merkmal einstuft. „It’s a hot day, not? - Du schallst nich snacken düütsch“ 311 lich unless wurde dies bereits oben dargestellt, ein anderer Fall ist never, das die im American Low German nicht belegte und vermutlich als befremdlich empfundene doppelte Verneinung nie nich durch ein gängiges Adverb ersetzt. Hinzu kommen durch die beiden ursprünglich englischen Lexeme ausgelöste Triggering-Effekte. Dazu die folgenden Beispiele: Engl.: I never speak Low German nowadays, unless I talk to my Grandma. Niederd.: Ik snack nie nich Platt vundag, wenn ik nich mit miene Grootmoder snacken do. Amlg.: → Ik snack never Platt vundag, unless ik snack mit miene Grootmoder. Tatsächlich kommen im Korpus des Öfteren ähnlich gelagerte Fälle vor, wobei es sich jedoch ausschließlich um gesprochene Sprache mit weniger klaren, z. B. durch Reparaturen gebrochene Strukturen handelt. So lautet die vollständige Äußerung des bereits zitierten Sprechers aus Walcott: Dat usually geiht in Engelsk, unless dat ik güng - so wie hüüt - ik go faken na Town. 26 Literatur Boas, Hans C. (2009): The Life and Death of Texas German. Durham. Botzet, Rolf (2017): Schmuggel, Krieg und gute Nachbarschaft. Wie sich eine Grenze auf das Leben der Menschren ausgewirkt hat. In: Historisches Jahrbuch des Kreises Herford 24. S. 9-35. Brauer, Leonard/ Goosen, Evelyn (Hrsg.) (1989): Hier Snackt Wi Plattdüütsch. Here We Speak Low German. Cole Camp, Missouri. Elmentaler , Michael/ Gessinger, Joachim/ Wirrer, Jan (2010): Qualitative und quantitative Verfahren in der Ethnodialektologie am Beispiel von Salienz. In: Anders, Ada Christina/ Hundt, Markus/ Lasch, Alexander (Hrsg.): Perceptual Dialectology. Neue Wege der Dialektologie. Berlin u. a. S. 111-149. Finke, Peter (2014): Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien. München. Finke, Peter (2018): Lob der Laien. 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Ein „Sprachtod“ (Mattheier 2003: 18) des Deutschen scheint sich also trotz abnehmenden Gebrauchs nicht abzuzeichnen. Um dies zu erklären, werden die Geschichte der deutschen Sprache in Chile und ihre gegenwärtige Situation im Hinblick auf sog. spracherhaltende Faktoren dargestellt. Dabei wird deutlich, dass Deutsch in Chile zwar als Umgangssprache von geringer Bedeutung ist, gleichzeitig aber über eine starke institutionelle Sicherung und ein hohes Prestige verfügt. Dadurch wird die - nicht nur in der Sprachinselforschung gängige - Gegenüberstellung einer fremden, einwandernden Kultur und einer aufnehmenden Kultur infrage gestellt, da sowohl die Deutschchilenen als auch ihr Sprachgebrauch einen Teil der heutigen lebensweltlichen Realität Chiles ausmachen. 1 Einleitung Wer sich mit „den Deutschen in Chile“ beschäftigt, dem fällt zunächst auf, wie präsent diese Gruppe nach wie vor ist: Diverse deutsche Einrichtungen wie Sportvereine, Feuerwehren und Burschenschaften zeugen ebenso davon wie deutsche Namen auf Straßenschildern, diverse deutsch anmutende Produkte in den Supermärkten und eine westeuropäisch geprägte Architektur, speziell im Süden Chiles. Hinzu kommt eine Vielzahl deutscher Schulen und Kulturinstitutionen sowie die landesweit beliebte deutschchilenische Gastronomie. Dieser Sichtbarkeit, die auf einen regen Gebrauch der deutschen Sprache schließen lassen könnte, stehen linguistische Arbeiten gegenüber, die allesamt den starken Rückgang des Gebrauchs des Deutschen bei den Deutschchilenen diagnostizieren (vgl. Grandjot/ Schmidt 1960; Burdach/ Vega 1996; 1998; Müller 2000). Nach Mattheier (2003) gehen die Deutschchilenen damit dem „Sprachinseltod“ entgegen: Was wir sehen, sind demnach die Reste einer ehemals lebendigen deutschen Sprachinsel 1 , die nun völlig in der Umgebungsgesellschaft aufzu- 1 Ich beziehe mich dabei auf die Sprachinsel nach der Definition Mattheiers: „Eine Sprachinsel ist eine durch verhinderte oder verzögerte sprachkulturelle Assimilation 316 Patrick Wolf-Farré gehen droht. Diese Prognose hat sich aber bisher nicht - oder zumindest nicht in der erwarteten Konsequenz - bewahrheitet. Es wird vielmehr deutlich, dass mit dem abnehmenden Gebrauch der Sprache und der fortschreitenden Eingliederung der Deutschchilenen in die chilenische Gesellschaft das deutsche Element zu einem festen Teil dieser Gesellschaft wird. Es stellt sich die Frage: Ist es überhaupt wahrscheinlich, dass es zu einer vollständigen Assimilation kommt, wenn das kulturelle und sprachliche Erbe der Deutschchilenen weiterhin derart präsent und institutionell etabliert ist? In diesem Artikel soll anhand des Beispiels der Deutschchilenen aufgezeigt werden, dass die Dichotomie e i n g e w a n d e rt e K u lt u r v s . a u f n e h m e n d e K u lt u r zu hinterfragen ist. Mit Dichotomie bezeichne ich die Prämisse, dass die Sprecher jeweils nur einem der beiden Extreme - e i n g e w a n d e rt e D e u ts c h e oder v o ll s t ä n di g i nt e g ri e rt e ( d e u t s c h s t ä m m i g e ) C h il e n e n - zuzuordnen sind bzw. sich auf dem Weg dorthin befinden. Dabei wird erstens außer Acht gelassen, dass die vermeintlichen Übergangsphasen von Dauer sein können, und zweitens, dass im Laufe dieses Vorgangs die aufnehmende Kultur selbst eine Veränderung erfährt. Eine offenere, auf die tatsächlichen Verhältnisse gerichtete Perspektive könnte hier zu neuen Erkenntnissen führen, die auch über den deutschchilenischen Einzelfall hinaus für Immigrationskontexte von Bedeutung wären. Zur besseren Einordnung gebe ich zunächst einen historischen Überblick, bevor ich auf die sprachliche Situation des Deutschen in Chile eingehe. 2 Zur Geschichte 2 Die deutschsprachige Einwanderung nach Chile fand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts statt, parallel zu den ungleich größeren Auswanderungsströmen nach Nordamerika. Auch innerhalb Lateinamerikas blieb die Zahl der deutschsprachigen Einwanderer nach Chile stets deutlich hinter der Brasiliens und Argentiniens, im Zeitraum 1840-1914 wanderten etwa 20.000 deutschsprachige Europäer nach Chile ein (vgl. Bernecker/ Fischer 1993: 205). Geografisch konzentrierte sich die Einwanderung zunächst auf die Region um den Llanquihue-See, welche durch die deutschen Siedler erst urbar gemacht und erschlossen wurde, entstandene Sprachgemeinschaft, die - als Sprachminderheit von ihrem Hauptgebiet getrennt - durch eine sprachlich/ ethnisch differente Mehrheitsgesellschaft umschlossen und/ oder überdacht wird, und die sich von der Kontaktgesellschaft durch eine die Sonderheit motivierende soziopsychische Disposition abgrenzt bzw. von ihr ausgegrenzt wird“ (Mattheier 1994: 334). 2 Der historische Überblick erfolgt hier nur knapp, ausführlichere Darstellungen finden sich in Blancpain (1974), Converse (1979) und Young (1974). Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 317 sowie auf die umliegenden Städte Osorno und Valdivia. Diese Region war zu jener Zeit nur spärlich besiedelt und erfuhr durch die deutsche Einwanderung eine „Wiederbelebung“, welche allerdings stark zulasten der dort ansässigen indigenen Bevölkerung ging (vgl. Almonacid 2009: 7f.). Dabei handelte es sich keineswegs um einen zufälligen Nebeneffekt: Die Einwanderung in dieses Gebiet (heutige Región de Los Ríos und Región de Los Lagos) fand gezielt statt, auf Anwerben des chilenischen Staates. Abgesehen davon gab es bereits seit dem frühen 19. Jahrhundert kaufmännische Einwanderung in die bedeutenden Handelszentren Chiles, nämlich v. a. die Hafenstädte Valparaíso, Concepción und die Hauptstadt Santiago. Somit sind bis heute zwei Zentren der Deutschchilenen erkennbar, nämlich das besagte Gebiet im Süden und das Zentrum, bestehend aus den Regionen Metropolitana und Valparaíso. Als „deutsch geprägt“ gilt im allgemeinen Verständnis aber speziell der Süden. Die deutschsprachige Einwanderung setzte sich fort bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte aber ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende schon erreicht. Bedeutende neue Siedlungen kamen zu den im späten 19. Jahrhundert etablierten nicht hinzu, in der Regel ließen sich deutsche Einwanderer in den bereits deutsch geprägten Orten oder in den großen Städten im Norden nieder. 3 Als wichtige Ortschaften wären hier neben den bereits erwähnten noch Temuco, Puerto Varas, Frutillar und Puerto Octay zu nennen. Die Einwanderung fand in kleinen und regional heterogenen Gruppen statt, in der ersten Phase 1845-1875 kamen die Siedler aus Hessen, Schlesien, Württemberg, Westfalen, Brandenburg, Sachsen, Hannover und Hamburg (vgl. Converse 1979: 310). Bereits 1854 wurde die erste deutsche Schule in Chile in Osorno gegründet, es folgten zahlreiche weitere, und bis heute ist Chile das lateinamerikanische Land mit den meisten deutschen Schulen. 3 Zur Sprachinsel Die beiden letztgenannten Faktoren, die Heterogenität der Herkunftsregionen und die frühe Einrichtung eigener Schulen, sind entscheidend für die sprachliche Entwicklung der damaligen Sprachinsel: Wenngleich sich für die Anfangszeit vereinzelt Zeugnisse vorherrschender Dialekte um den Llanquihue-See finden, 4 ist insgesamt davon auszugehen, dass die deutschsprachigen Siedler sich 3 Ausgenommen sind Einzelfälle wie die Ortschaft Puyuhuapi in der Región de Aysén und die Colonia Dignidad in der Región Maule. 4 Knoche schreibt 1930: „Auffallend ist, wie das Deutschtum Süd-Chiles seine Eigenart erhalten hat, die sich in dem hessischen und schwäbischen Dialekt besonders der Umwohner des Llanquihue noch heute bemerkbar macht“ (300f.). Schobert erwähnt etwas vage, dass sich die Dialekte „lange Zeit gehalten haben“ sollen (1983: 285). 318 Patrick Wolf-Farré früh einer hochsprachlichen Varietät bedienten, um die Verständigung zu gewährleisten. Mit den Schulen war dann ein Korrektiv vor Ort, welches Hochdeutsch lehrte und dialektale Merkmale sicherlich eher sanktionierte als sie zu fördern. Dass überhaupt eine Sprachinsel existierte, ist anzunehmen aufgrund der gemeinsamen deutschsprachigen Herkunft und der Siedlungsbedingungen in relativer Isolation. Allerdings muss hier ergänzt werden, dass die Isolation dieser Sprachinsel nie vollständig war - weder zur chilenischen Umgebungsgesellschaft noch zum deutschsprachigen Europa. Im Gegenteil konstatiert Blancpain, dass wirkliche Isolation einzelner Siedler oder kleinerer Gruppen eher zum Verlust der deutschen Sprache führte (vgl. Blancpain 1974: 566), da der Kontakt zu chilenischen Beamten und indigenen Arbeitskräften auf Spanisch stattfinden musste. Außerdem waren der Briefverkehr und die Reisetätigkeiten durchaus rege, sodass Deutsch nicht nur die Sprache der alten Generation war, sondern fortwährend „aktualisiert“ wurde. Wie sehr auch das Schulsystem über eine gute internationale Vernetzung funktionierte, beschreibt Penny: Thus even after the financial crises following World War I forced the Chilean state to discontinue its financial support for the schools, and despite the loss of German stature following Imperial Germany’s demise, German Chilean schools and their communities thrived during the interwar period. They did so, however, because it was never these nation-states, […] that made and nurtured these schools. It was the German communities themselves and the ties they retained with a diverse collection of locals in their host societies as well as other Germans, or variants of Germans tied together by ever-faster sea lanes, communications networks, international Germanlanguage press, and global pedagogical networks that, focused on the world outside the German nation-state since their inception in the 1880s, sustained German schools and their communities across radical political ruptures and geopolitical shifts, or helped to re-establish them in many cases (Penny 2017: 105). Hier spielt auch eine Rolle, dass Valdivia ein zentraler Hafenort war, da sämtliche Schiffe, die an die nord- oder südamerikanische Westküste fuhren, bis zum Bau des Panama-Kanals 1914 durch die Magellanstraße fahren mussten. Valdivia war der erste große Hafen nach der Meerenge und wurde entsprechend häufig frequentiert. Die Sprachinsel existierte sicherlich bis Ende des 19., vielleicht auch noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erreichte dann aber einen wichtigen Wendepunkt mit dem Bau der Eisenbahnlinie, die das dichter besiedelte Zentrum Chiles um die Hauptstadt Santiago mit den deutschen Siedlungen im Süden verband. Laut Young entsteht diese bereits 1895 (vgl. Young 1974: 116), Penny nennt 1912 als das Jahr, in dem die Eisenbahn sich ihren Weg durch Südchile bahnt (vgl. Penny 2017: 102). Man kann die Gruppe der Deutschchilenen also selbst zur Zeit der Sprachinsel nicht klar nach außen hin abgrenzen im Sinne einer Isolation vom restli- Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 319 chen Chile. Dasselbe gilt aber für die Innenperspektive, da es sich keineswegs um eine einheitliche Gruppe deutschstämmiger Siedler handelte: Indeed, the tens of thousands of Germans who lived in Chile by the turn of the century were never a unitary community. Much like those in Argentina, they were often fractured along class and confessional lines, and divided by political views, by the different immigration waves, even by their places of origin in German-speaking Europe (Penny 2017: 102). Die Schwierigkeiten der Abgrenzbarkeit der Gruppe verdeutlichen nur, dass es sich um einen natürlichen Migrationsverlauf handelt, der nicht der künstlichen Isolation religiöser Gemeinschaften wie etwa der Mennoniten entspricht. In diesem scheinbar unklaren Zwischenpunkt, an dem es sich weder ausschließlich um Chilenen noch ausschließlich um Deutsche handelt - was ohnehin zu hinterfragende Konzepte sind -, aber eben auch nicht einheitlich um Deutschchilenen handelt, befindet sich die Gruppe nach wie vor. Dass Mattheier für Sprachinseln eine unabwendbare Integration in die Umgebungsgesellschaft voraussetzt, lässt sich vielleicht daraus erklären, dass sein Hauptuntersuchungsgegenstand die Deutschen in Nordamerika sind. Somit ist sein Konzept des Sprachinseltods zumindest infrage zu stellen, wenn es auf andere Situationen angewandt werden soll. Die unterschiedliche Entwicklung beider Gruppen lässt sich schon aus den Ausgangsbedingungen erklären: Auswanderung in die USA bedeutete für deutschsprachige Europäer die Immigration in ein - zumindest dem damaligen nationalen Selbstverständnis nach - protestantisches, englischsprachiges und „weißes“ Land. Wenngleich die Integration auch hier verzögert stattfand und die deutsche Sprache über lange Zeit Alltags- und Umgangssprache in diversen Regionen der USA war, war es den Deutschamerikanern unter dem erhöhten Assimilationsdruck in der Zeit des Ersten Weltkrieges doch möglich, zu deutschstämmigen Amerikanern zu werden (vgl. hierzu Keel 2016). Was bleibt, sind viele deutsche Familien- und Ortsnamen und Sprachinselreste, wie das Texasdeutsch, sowie Sonderfälle intakter Sprachinseln, wie das Pennsylvania German. Es ist diese Entwicklung, die Mattheier beschreibt, wenn er den Sprachinseltod darstellt: das vollständige Aufgehen der deutschstämmigen Einwanderer in der Umgebungsgesellschaft, wie es in den USA größtenteils erfolgt ist. In den spanischbzw. portugiesischsprachigen, katholisch geprägten Ländern Lateinamerikas stellt sich dies, auch angesichts der Abstammung der Einwohner, anders dar: Ein deutschstämmiger, blonder Chilene ist ein gringo, auch wenn seine Vorfahren bereits vor vier Generationen nach Chile eingewandert sind. 5 5 Um nicht falsch verstanden zu werden: Das semantische Feld des Begriffs „gringo“ unterscheidet sich zwischen dem Gebrauch in Zentralamerika, v. a. Mexiko, und Südamerika, v. a. Argentinien und Chile. Hier sind erstens nicht automatisch Nordamerikaner gemeint, und zweitens ist der Begriff nicht zwingend abwertend gemeint, 320 Patrick Wolf-Farré Dass die Deutschchilenen heute keine Sprachinsel mehr bilden, ist also evident: Weder handelt es sich um eine klar von der Umgebungsgesellschaft trennbare Gruppe noch wird überwiegend Deutsch untereinander gesprochen, wie den Arbeiten zum Thema entnommen werden kann (besonders Müller 2000; Burdach/ Vega 1996 und 1998). Ausgehend davon sowie von den Befunden in Wolf-Farré (2017) können folgende Punkte festgehalten werden: 1. Die deutsche Sprache findet zusehends weniger Verwendung als Alltags- und Umgangssprache, die jüngste Generation spricht nur in wenigen Situationen noch Deutsch (allen voran die Schule), in den meisten Situationen überwiegt der Gebrauch des Spanischen. 2. Es gibt keine erkennbare „Sprachinselvarietät“ des Deutschen in Chile („Launa-Deutsch“ o. Ä.). Keine der genannten Arbeiten behandelt etwa die Unterschiede in Lexik, Syntax oder Phonologie. Aufgrund der heterogenen deutschsprachigen Einwanderung und der frühen Einrichtung deutscher Schulen handelt es sich bei dem Deutsch der Deutschchilenen um eine standardnahe Varietät mit gelegentlichen spanischen Interferenzen, derer sich die Sprecher meist bewusst sind. 3. Die Identifikation als „Deutschchilene“ hängt von vielen Faktoren ab, vor allem der Abstammung und des Sprachgebrauchs, ist aber letztlich eine Eigendefinition, die sich auch im Laufe des Lebens ändern kann. 4. Zugleich wird das Prestige der deutschen Sprache durchgehend als hoch eingestuft. Der Besuch einer deutschen Schule ist für Nachkommen deutschstämmiger Familien nach wie vor die Regel. 5. Mit zunehmendem Alter steigt der Gebrauch des Deutschen bei vielen Deutschchilenen an. Es finden sich mehr Anwendungsmöglichkeiten, und der praktische Mehrwert der Sprache tritt ebenso hervor wie die Identifikationsmöglichkeit als Deutschchilene. Es wird deutlich, dass Ansätze der Sprachinselforschung im Falle der Deutschchilenen zu kurz greifen. Was zu untersuchen ist, ist eine aus einer Sprachinsel hervorgegangene, schwer zu umreißende Gruppe, für die deutsche Abstammung, deutsche Sprache und deutsche bzw. deutschchilenische Kultur zentrale Identifikationsmerkmale sind, die sich aber als Teil Chiles versteht. Will man also die deutsche Sprache in Chile untersuchen, so muss dies in einem weiteren Rahmen geschehen, der sich nicht auf die ehemalige Sprachinsel beschränkt. wie in 4.1 deutlich wird. Dennoch markiert der Begriff die bezeichnete Person als nicht der Gruppe zugehörig. Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 321 4 Spracherhaltende Faktoren Im Folgenden möchte ich elf Faktoren nennen und beschreiben, die meiner Ansicht nach erklären, warum die deutsche Sprache und damit das deutschchilenische Erbe im weitesten Sinne in Chile nicht vollends in der Mehrheitsgesellschaft aufgehen, sondern einen Teil dieser Gesellschaft ausmachen. Mit spracherhaltend ist hier nicht gemeint, dass die Sprache in einem bestimmten Zustand bewahrt oder in nennenswertem Umfang gesprochen wird. Vielmehr soll dadurch ausgedrückt werden, dass die Sprache sichtbar bleibt und eine identitätsbezogene Rolle spielt - unabhängig davon, wie häufig sie gebraucht wird. 4.1 Positives Stigma Penny spricht von „Fluid Transnational German Spaces“ (2013: 392), in denen sich Deutschchilenen kulturell befinden und die einem Rückbezug auf die Ursprungsregion oder einem ständigen Abgleich mit dem deutschsprachigen Europa widersprechen. Hier bezieht er sich auch auf die Arbeit von Kerstin Hein (2006), die der zuvor erwähnten Stellung der Deutschchilenen als gringos einen entscheidenden Aspekt hinzufügt: Ihrer Untersuchung zufolge bringt es eher Vorteile, als deutschchilenisch identifiziert zu werden, da diese in der Regel als Mitglieder der „gebildeten chilenischen Mittelklasse“ (Hein 2006: 442) eingeordnet werden. Daraus folgert sie: Diese Situation widerspricht der weit verbreiteten Annahme, Menschen mit Migrationshintergrund befänden sich stets in einer minderwertigen und prekären Lage und verändert dadurch die Rahmenbedingung der Untersuchung hybrider kultureller Aktivitäten (Hein 2006: 443). In der Tat gilt die deutsche Abstammung nicht primär als negatives Stigma. Somit ist ein erster identitätserhaltender - und damit spracherhaltender - Faktor genannt: Deutschchilenen haben zwar oftmals Schwierigkeiten, aber häufig auch kein Interesse daran, in der Umgebungsgesellschaft aufzugehen, wie es die Deutschen in den USA zur Zeit des Ersten Weltkriegs hatten. Vielmehr wollen sie sich ihre „Sonderheit“ bewahren wegen des positiven Stigmas der deutschen Abstammung. 322 Patrick Wolf-Farré 4.2 Deutsche Schulen Ein zweiter spracherhaltender Faktor ist die Stabilität von Deutsch in der Schule, was daran erkennbar ist, dass es 27 PASCH-Schulen 6 in Chile gibt. Davon sind vier Deutsche Auslandsschulen (DAS), die von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen betreut werden; 16 sind Schulen im nationalen Bildungssystem, die das Deutsche Sprachdiplom (DSD) anbieten und ebenfalls von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen betreut werden; und sechs sind sogenannte Fit-Schulen im nationalen Bildungssystem, an denen Deutschunterricht aufbzw. ausgebaut wird, betreut vom Goethe-Institut. 7 Nun sprechen diese Zahlen natürlich nur für den Sprachgebrauch in der Schule, der in den letzten Jahren ebenfalls zurückgegangen ist. Penny verweist in diesem Zusammenhang auf Young (1974), demzufolge man 1973 noch Deutsch auf den Straßen von Osorno, Puerto Montt, Temuco und Valdivia hören konnte und die Schulausbildung vollständig auf Deutsch erfolgte (vgl. Penny 2013: 543). Letzteres ist heute nicht mehr der Fall, Ersteres äußerst selten. Eine hohe Anzahl deutscher Schulen bedeutet also nur, dass Deutsch gelehrt wird, nicht aber, dass es im Alltag tatsächlich gebraucht wird. Gleichwohl muss man angesichts des breiten schulischen Netzwerks eine konstante und gesicherte Präsenz der deutschen Sprache in Chile konstatieren. Eine ehemalige Sprachinselgesellschaft vollzieht hier, was Ammon als „Rückumstellung auf Deutsch als Fremdsprache“ bezeichnet: Die Eltern liefern den Kindern nur noch verarmten Sprach-Input, so dass sie sich aufgrund von Ausdrucksnot auf die Mehrheitssprache umstellen. Diese Entwicklung variiert in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren, wie ethnisch deutscher Identität […], Bildungsniveau, Kontakthäufigkeit mit der deutschen Sprache oder beruflichen Vorteilen der Spracherhaltung. Von solchen Faktoren, vor allem der Wahrung ethnisch deutscher Identität und den mit Deutschkenntnissen verbundenen Berufsperspektiven, hängt es auch ab, ob die nächste Generation sich dann Deutsch wieder als einer Art Fremdsprache zuwendet - als Zweitsprache nach Abfolge und Art des Lernens (erst in der Schule), zu der sie sich aber vielleicht als ihre zweite (oder womöglich sogar eigentliche) „Muttersprache“ bekennt (Ammon 2015: 272). 4.3 Deutsche Institutionen Neben der Schule sind weitere deutsche und deutschchilenische Institutionen zu nennen, die direkte Beziehungen zu Deutschland pflegen, wie das Lehrerbildungsinstitut Wilhelm von Humboldt, die Deutsch-Chilenische Industrie- und Handelskammer, das Goethe-Institut, der Deutsch-Chilenische Bund, die deut- 6 „PASCH steht für die Initiative ‚Schulen: Partner der Zukunft‘. Sie vernetzt weltweit mehr als 1.800 Schulen, an denen Deutsch einen besonders hohen Stellenwert hat“ (https: / / www.pasch-net.de/ de/ udi.html [25.01.2019]). 7 http: / / weltkarte.pasch-net.de/ (25.01.2019). Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 323 sche Klinik (allesamt in Santiago), diverse deutschchilenische Sportvereine, Burschenschaften, Feuerwehren und Kulturvereine. All dies trägt zum Fortbestehen des Austauschs zwischen Chile und dem deutschsprachigen Europa bei, wodurch das Erlernen 8 der deutschen Sprache einen lebensweltlichen Bezug jenseits des Schulunterrichts bekommt. 4.4 Schulaustausch Dies geschieht auch und besonders durch einen weiteren zentralen spracherhaltenden Faktor, nämlich den in vielen Schulen stattfindenden Schulaustausch mit Deutschland bzw. Österreich oder der Schweiz. Hierüber berichten Schüler, dass ihnen der Gebrauchswert der Sprache zum ersten Mal wirklich bewusst wird, da Deutsch nun nicht mehr nur mit Lernen und Prüfungen, sondern mit realer Kommunikation verbunden ist. Ein siebzehnjähriger Schüler beschreibt seine Erfahrungen entsprechend: G35: Manchmal ist es so, weil man hier in Chile immer in der Schule deutsch spricht mit deutschen Lehrern die da dich jedes minimale Sache korrigieren, man fühlt sich so, ein bisschen so, man will nicht sprechen weil man denkt, mh, jede Sache die du sagst wird bewertet, aber dort ist es anders. Dort sprichst du eigentlich. Da ist mehr frei (Wolf-Farré 2017: 108). 4.5 Gebrauchswert der Sprache Dieser Gebrauchswert der Sprache wird dann entscheidend, wenn die Sprecher nach Abschluss der Schule in die Situation kommen, Deutsch sprechen zu können, wenn sie es denn wollen, und dadurch ihre beruflichen Chancen zu erweitern. Ein Sprecher der in Wolf-Farré (2017) verwendeten Interviews beschreibt dies in einem unveröffentlichten Auszug: GT38: Heute hab ich so, die ganze Investition die ich vor Jahren mit den Sprachen gemacht hab hab ich heute meine, das Ergebnis sozusagen. […] Das is wa/ was ich meinen Kindern auch, beibringen will also es is, es is viel wichtiger, eine Sprache zu beherrschen als heute eine Karriere weiterzumachen. Also da, diese Wichtigkeit geb ich der Sprache. 8 Ich nenne hier bewusst das „Erlernen“, nicht die „Weitergabe“ der deutschen Sprache. Jede Generation muss erneut für sich die Entscheidung treffen, ob sie Deutsch lernen, anwenden und damit beibehalten will. Die Vermittlung durch die Eltern, die selbst größtenteils Spanisch sprechen, spielt dabei nicht die entscheidende Rolle. 324 Patrick Wolf-Farré 4.6 Status der Sprache Der Status des Deutschen als „supercentral language“ nach de Swaan (2001: 5) mit einer großen kulturellen Tradition ist ebenfalls ein spracherhaltender Faktor nach beiden Seiten: sowohl für die Deutschchilenen, die die Sprache somit als erhaltenswert erachten, als auch für die nicht-deutschstämmigen Chilenen, die in den deutschen Schulen eine kulturelle Bereicherung ihres Landes und Aufstiegschancen für ihre Kinder sehen. Somit ist auch der Erhalt der Deutschen Schulen auf lange Sicht wahrscheinlich, da sich diese von ehemals exklusiven Einrichtungen für Deutschchilenen zu heute prestigeträchtigen Privatschulen mit deutschem Schwerpunkt entwickelt haben, die prinzipiell allen Interessenten offenstehen. Hier greift auch eines der Merkmale, die Ammon als „dem Spracherhalt eher förderlich“ einstuft: „Mit Deutsch verfügen die deutschsprachigen Minderheiten über eine internationale Sprache“ (Ammon 2015: 262). 4.7 Sozialer Status Bereits angesprochen wurde der soziale Status der Deutschchilenen. Diese sind in aller Regel der oberen Mittelschicht angehörig, mit einigen Beispielen in der Oberschicht. 9 Rosenberg hierzu: „Die ‚Chilenen deutscher Abstammung‘ sind noch keine ‚Folklore‘-Minderheit. Dazu ist ihre soziale und ökonomische Stellung zu hoch und das Prestige des Deutschen zu ausgeprägt“ (Rosenberg 2018: 243). Dadurch ist die deutsche Sprache in Chile sozial eher positiv konnotiert. 4.8 Identifikation mit altem Deutschlandbild Wie in Abschnitt 2 bereits dargestellt, erlebte die deutsche Einwanderung nach Chile ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende. Dies verdeutlicht, warum viele Deutschchilenen sich nicht mit der Bundesrepublik sowie der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert identifizieren, sondern sich auf das Deutschland des 19. Jahrhunderts beziehen. Sie sehen sich damit als Nachkommen von Einwanderern, die vor den beiden Weltkriegen nach Chile gekommen waren und somit, nach Ansicht einiger Sprecher, auch noch ältere Werte vertraten. 10 9 Am prominentesten ist hier wahrscheinlich der Gründer der Supermarktkette „Jumbo“, Horst Paulmann Kemna. Die Erfolgsgeschichte des Milliardärs gilt, trotz der SS-Mitgliedschaft des Vaters, vielen als Paradebeispiel für deutsches Arbeitsethos (vgl. http: / / www.faz.net/ aktuell/ gesellschaft/ menschen/ chile-der-turmbau-zu-santiago- 12728482.html, https: / / www.forbes.com/ profile/ horst-paulmann/ #b3b25994ef12 (beide zuletzt aufgerufen am 25.01.2019). 10 Vergleiche hierzu auch „Das Deutschchilenentum im politischen Wandel des 20. Jahrhunderts“ bei Converse (1979: 352-358). Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 325 4.9 Deutsch in den Medien Wenig abzusehen ist bisher die Rolle, welche die deutsche Sprache in den Medien spielt und in Zukunft spielen wird. Als Erstes sind hier die einzige deutsche Zeitung Chiles Cóndor sowie der Fernsehsender Deutsche Welle (DW) zu nennen, da diese vor dem Internet die direkteste mediale Anbindung an die deutschsprachige Welt darstellten. Cóndor erscheint wöchentlich in einer Auflage von 7.000 Exemplaren, veröffentlicht die Artikel allerdings auch online 11 und könnte somit über eine weit größere Leserschaft verfügen, als die Auflagenzahl vermuten lässt. Durch das Internet gibt es hierfür sowie für das DW-Fernsehen direkte Alternativen. Deren Auswirkung ist bislang nicht erforscht, den Interviews zu Wolf-Farré (2017) lässt sich aber entnehmen, dass von der Möglichkeit Gebrauch gemacht wird, deutsche Radio- und Fernsehprogramme über das Internet zu empfangen. 4.10 Protestantismus Auch der konfessionelle Unterschied spielt in der deutschchilenischen Gruppe nach wie vor eine Rolle, somit ist der Protestantismus, der allerdings nicht die gesamte Gruppe betrifft, als spracherhaltender Faktor zu nennen. Hierbei geht es weniger um tatsächlichen Kirchenbesuch, zumal nur wenige Gottesdienste noch auf Deutsch gehalten werden, sondern um die Tatsache, dass protestantische Familien die deutsche Sprache länger bewahrt haben und dies - vielleicht aus Tradition, vielleicht unbewusst - immer noch tun. Schon für die protestantischen Einwanderer galt: „Luthertum ist Deutschtum“ und umgekehrt (Blancpain 1974: 569f.), während katholische deutsche Familien bald spanischsprachige Gottesdienste besuchten und auch früher Mischehen eingingen. Der Unterschied bleibt auch in späteren Untersuchungen deutlich (vgl. Grandjot/ Schmidt 1960; Müller 2000). 4.11 Deutsch im öffentlichen Raum (linguistic landscapes) 12 Schließlich ist die deutsche Sprache in Chile auch landschaftlich präsent, wobei mindestens zwei Ebenen zu unterscheiden sind. Zunächst gibt es eine sehr augenscheinliche Verwendung deutscher Begriffe und deutsch anmutender Symbole auf Firmenschildern und Reklametafeln, speziell im gastronomischen und pharmazeutischen Bereich. Hier steht ‚Deutsch‘ offensichtlich für Qualität, gutes Essen und Gemütlichkeit. Darüber hinaus gibt es aber die Vielzahl deutscher 11 http: / / www.condor.cl/ der-condor/ (10.09.2018). 12 Hierzu ausführlicher auch Wolf-Farré (im Druck). 326 Patrick Wolf-Farré Familiennamen, die teilweise auch hervorgehoben werden (etwa auf Firmenschildern), häufig jedoch schlicht zum Stadtbild gehören wie andere Namen auch, beispielsweise als Straßen- oder Gebäudenamen. Dies ist insofern bemerkenswert, als es verdeutlicht, dass das deutsche Element hier keinen Fremdkörper mehr darstellt, sondern einen Teil der Normalität Südchiles. Die Integration ist somit zumindest für einige Familiennamen und Begriffe schon vollzogen, ohne dass eine Assimilation ins Spanische stattgefunden hätte. 5 Fazit Diese Faktoren sind im Falle der deutschchilenischen Minderheit im bereits definierten Sinne als spracherhaltend einzustufen. Ob sie sich ohne Weiteres auf andere deutschsprachige Minderheiten übertragen lassen, bedarf genauer Untersuchung. 13 Absicht des vorliegenden Textes ist es nicht, eine allgemeingültige Liste spracherhaltender Faktoren zu bieten, sondern zu erklären, wie sich die deutsche Sprache in Chile entwickelt und warum. Ich möchte aus den hier aufgelisteten elf Faktoren zwei Ergebnisse herleiten. Erstens wird deutlich, dass ein vollständiger „Sprachtod“ des Deutschen, also dessen Verschwinden aus sämtlichen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens sowie der deutschchilenischen Kultur in Chile vorerst sehr unwahrscheinlich ist und auch nicht als langfristige Prognose aufrechterhalten werden kann. Überhaupt muss dieser Terminus, wie schon im Zusammenhang mit Mattheiers „Sprachinseltod“ erwähnt, kritisch in seiner Implikation gelesen werden, wenn als Gegenstück nur eine „lebendige“ Sprachinsel gelten kann. Hierzu hält Ammon bereits fest: „‚Sprachinseln‘, die von der umgebenden sprachlichen Mehrheit (weitgehend) abgeschnitten sind, gibt es heute nicht mehr […]“ (Ammon 2015: 266). Ich stimme diesem Befund zu und möchte auf eine weitere, mir bedenklich erscheinende Implikation der „Sprachinseltod“- Terminologie hinweisen: der Gedanke nämlich, dass es sich dabei um eine Gefahr handle, die durch den Einsatz des Sprachwissenschaftlers möglicherweise abzuwenden sei. Vielleicht unter dem Eindruck tatsächlich bedrohter Sprachen und Varietäten, die durch Linguisten untersucht, festgehalten und damit bewahrt werden können, entsteht so ein Duktus der Dringlichkeit, der mitunter zu ganzen Dissertationsschriften führt, die sich um den Erhalt einer vermeintlichen Sprachinselvarietät bemühen, wo keine solche vorhanden ist - wie im Falle der Deutschchilenen. Ein zweites Ergebnis ist, dass die eingangs erwähnte Dichotomie e i n g e w a n d e rt e K u lt u r v s . a u f n e h m e n d e K u lt u r infrage gestellt wird. Diejeni- 13 Ich danke meiner Gutachterin/ meinem Gutachter für diesen Hinweis. Spracherhaltende Faktoren bei den Deutschchilenen 327 gen Deutschchilenen, die sich als solche definieren, also beide Kulturen in sich vereint sehen, verstehen sich darüber hinaus stets als ein Teil Chiles, nicht etwa Deutschlands. Auch hierdurch wird die Frage nach dem „Überleben“ einer Kultur und Sprache als falsch entlarvt: Die deutsche Sprache ist, ebenso wie andere eingewanderte und indigene Sprachen, ein Teil der heutigen chilenischen Kultur, nämlich in den beschriebenen Funktionen und Institutionen. Die genannten Faktoren erhalten also die Sprache als einen solchen Teil der chilenischen Kultur und nicht als primäres Kommunikationsmedium der Deutschchilenen. Insofern handelt es sich um eine Veränderung der aufnehmenden Gesellschaft. Es handelt sich bei den Deutschchilenen, wie bei den meisten anderen deutschstämmigen Sprachminderheiten, um eine Sprechergruppe, die im Hier und Jetzt lebt, dieselben Kommunikationsmedien verwendet und über eine ebenso komplexe sprachliche Lebenswelt verfügt wie etwa Sprecher des Deutschen in Europa. Ein sprachwissenschaftlicher Blick, der mit der Absicht der Datenerhebung notwendigerweise reduzieren und vereinfachen muss, kann dem nie ganz gerecht werden. Die elf Faktoren können vielleicht einen Eindruck davon vermitteln, wie unabsehbar Entwicklungen sprachlicher Minderheiten bleiben, wenn all diese Elemente nur als „außersprachliche Faktoren“ gebündelt und zweitrangig - wenn überhaupt - behandelt werden. Tatsächlich ist ihre Auswirkung auf die Lebenswelten der Sprecher weit konkreter als etwa eine reduzierte Kasusflexion oder erhöhtes Vorkommen von Codeswitching. Gleichwohl sind strukturlinguistische Untersuchungen auch in diesem Bereich weiter wünschenswert. So steht eine strukturelle Analyse des Sprach- und Lautstandes für das Deutsche in Chile nach wie vor aus. Zu hoffen bleibt, dass die strukturlinguistischen und quantitativen Untersuchungen stets im Abgleich mit den qualitativen entwickelt werden und Vereinfachungen („der Sprecher“, „die Gruppe“, „die Deutschchilenen“) stets mit dem Bewusstsein angewendet werden, dass es sich um ebensolche handelt. Letztlich sind eingewanderte Sprechergruppen und ihre Nachkommen komplexe Gebilde aus einzelnen, noch weitaus komplexeren Persönlichkeiten - in Südamerika ebenso wie in Europa. Literatur Almonacid Zapata, Fabián (2009): El problema de la propiedad de la tierra en el sur de Chile (1850-1930). In: Historia (Santiago) 42. 1. S. 5-56. Ammon, Ulrich (2015): Die Stellung der deutschen Sprache in der Welt. Berlin u. a. Bernecker, Walther L./ Fischer, Thomas (1993): Deutsche in Lateinamerika. In: Bade, Klaus J. 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Hier wird schon ersichtlich, dass Namibia ein multilinguales und multikulturelles Land ist, in dem drei ganz bestimmte Sprachgruppen vertreten sind, nämlich Bantusprachen, Khoisansprachen und germanische Sprachen. Während der deutschen Kolonialzeit kam Deutsch besonders mit Herero und Khoekhoegowab in Berührung. Noch heute sind Merkmale dieser Kontakte zu erkennen, obwohl Deutsch schon lange den Status als Amtssprache verloren hat. Nach der Unabhängigkeit und der Einführung von Englisch als Amtssprache hat diese auch einen größeren Einfluss auf das in Namibia gesprochene Deutsch. In diesem Beitrag soll auf die besondere Rolle, die Deutsch in der namibischen Bevölkerung spielt, eingegangen werden. Dabei handelt es sich vor allem um eine Bestandsaufnahme. 2 1 Geschichte und Gesellschaft Im 19. Jahrhundert fühlen sich mehr und mehr europäische Missionare berufen, die Namastämme im Süden des Landes, die Hererostämme vor allem im Westen sowie die Bergdamastämme, die „Hai- ǁ om und Kalahari-Buschmänner, die im Nordosten und Osten von Südwestafrika ihre Jagdfelder hatten“, zu bekehren (Baumann 2002: 50). 1868 kommen die „ersten Basters, etwa 300 an der Zahl“ (Kube/ Kotze 2002: 260), aus Südafrika nach Südwestafrika. Diese lassen sich im zentralen Teil des Landes, dem heutigen Rehoboth, nieder. Mit den Stämmen, u. a. den Ovambo und Kavangos, die entlang des Kunene- und Okavangoflusses im Norden des Landes leben, haben die Missionare erst sehr viel später Kontakt. 1 Mit Afrikaaner wird hier die weiße Bevölkerungsgruppe gemeint, deren Muttersprache Afrikaans ist. 2 Angaben zu Land und Leuten erscheinen in ähnlicher Form in einem Artikel, der zur Publikation angenommen, jedoch noch nicht veröffentlicht ist. 332 Marianne Zappen-Thomson Während Großbritannien 1878 Walvis Bay annektiert (vgl. Kube/ Kotze 2002: 261), beginnt die deutsche Kolonialzeit offiziell 1884, nachdem am 7. August die deutsche Flagge in Angra Pequena, heute Lüderitz, gehisst worden war (vgl. Kube/ Kotze 2002: 264). Wie Wolfgang Werner (2002: 217) zeigt, hat die Gründung einer „Siedlerlandwirtschaft“ während der Kolonialzeit im großen Stil zu Landenteignungen geführt: Die Enteignung des Landes betraf vor allem die von der Weidewirtschaft lebenden eingeborenen Bevölkerungsgruppen Herero, Nama und Damara. […] Der rasche Bodenverlust war ein wesentliches Motiv für den Widerstandskampf der Nama und Herero gegen die deutschen Kolonialtruppen 1904, was zu einer massiven Ausrottung der Herero- und Nama-Weidebauern führte (Werner 2002: 217). Selbstverständlich beeinflusst dieser Krieg auch die Beziehungen zwischen Kolonisatoren und der einheimischen Bevölkerung im Land. Im Rahmen dieses Beitrags ist von Bedeutung, dass aufgrund der Ausrottung der Herero und Nama vor allem Oshiwambo-Männer aus der sogenannten Polizeizone, also dem Gebiet nahe der Grenze zu Angola, als Arbeitskräfte geholt werden. Wie noch zu sehen sein wird, wirkt sich die deutsche Sprache auch auf diese Bantusprache aus. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wird Deutsch-Südwestafrika C- Mandat der Union von Südafrika und heißt fortan Südwestafrika (vgl. Kube/ Kotze 2002: 283). Das bedeutet wiederum, dass nun auch vermehrt Afrikaaner aus Südafrika nach Südwestafrika ziehen. Nachdem die Nationale Partei 1948 in Südafrika an die Macht gekommen ist, werden auch in Südwestafrika die Apartheidgesetze eingeführt und die Bevölkerung in zwölf Gruppen unterteilt: Ovambos, Kavangos, Caprivianer, Twanas, Damaras, Hereros, Kaokovelder, Buschmänner, Farbige, Rehoboth Basters, Namas und Weiße. Damit ist die Segregation der Einwohner des Landes vollzogen, gegen die sich jedoch die SWAPO 3 , deren Mitglieder sich als Freiheitskämpfer verstehen, vehement wehrt. Es kommt zu dem Befreiungskampf zwischen der SWAPO und der Südafrikanischen Armee, der sich praktisch bis zur Unabhängigkeit 1990 hinzieht (vgl. Kube/ Kotze 2002: 294, 311). Die 1977 gegründete DTA (Demokratische Turnhallen-Allianz), „die Mitglieder aller […] Rassen des Landes in sich vereinigt“, wird zwar weder von der SWAPO noch von der UNO als Vertreter im Unabhängigkeitsprozess anerkannt, hat aber die Macht, „Gesetze des südafrikanischen Parlaments zu widerrufen oder zu ändern“ (Kube/ Kotze 2002: 306). Gemeint sind hier Gesetze, die z. B. gemischte Ehen nicht zulassen und das Wohnrecht einschränken. 4 Das 3 South West Africa Peoples Organisation - die Partei wurde 1960 von Sam Nujoma, dem späteren Präsidenten Namibias, gegründet. 4 Prohibition of Mixed Marriages Act, Act No 55 of 1949; Immorality Amendment Act, Act No 21 of 1950; amended in 1957 (Act 23 ); Group Areas Act, Act No 41 of 1950 (Apartheid Legislation in South Africa). Deutsch in Namibia - eine Sprache im Kontakt 333 bringt mit sich, dass die Trennung der Bevölkerung langsam rückgängig gemacht werden kann. 1990 ist es dann soweit: Namibia wird unabhängig, und die Menschen haben theoretisch die Möglichkeit, endlich zusammenzuwachsen. Namibia gehört zu den am dünnsten besiedelten Ländern der Welt. 824.292 Quadratkilometer groß, hat es eine Einwohnerzahl von ca. 2,2 Millionen. Als Nationalsprachen anerkannt und als Schulfächer eingeführt sind die folgenden Sprachen: Afrikaans, Englisch, Deutsch, Ju/ ‘Hoansi, Khoekhoegowab, Namibian Sign Language, Oshikwanjama, Oshindonga, Otjiherero, Rukwangali, Rumano, Thimbukushu, Setswana und Silozi (vgl. Namibia Statistics Agency [NSA] 2011). Die Mehrheit der Namibier(innen), nämlich 49 %, sprechen einen der Oshiwambo-Dialekte als Muttersprache, 11 % sind Khoekoegowabsprecher(innen), 10 % der Bevölkerung geben an, Afrikaans als Muttersprache zu sprechen, 9 % nennen Otjiherero als Muttersprache, und nur 3 % sprechen Englisch als Muttersprache (vgl. http: / / www.gov.na/ languages-spoken [18.05.2020]). 2 Deutsch im Bildungswesen Nach der Unabhängigkeit war der neuen Regierung klar, dass Namibia mit seiner geringen Einwohnerzahl allein nicht in der Lage sein würde, ein international anerkanntes Bildungswesen einzurichten; darum hat man sich dem University of Cambridge Local Examinations Syndicate (UCLES) angeschlossen. Die Lehrpläne wurden übernommen und die Schulabschlussprüfungen auf zwei unterschiedlichen Niveaus auch. Schon relativ früh ist allerdings deutlich geworden, dass die Inhalte sehr eurozentrisch sind (siehe Wahba 1997: 66 und Zappen-Thomson 2000 : 73), worauf man in Zusammenarbeit mit UCLES eine Namibisierung vorgenommen hat. Die Abschlussprüfungen werden seither in Namibia aufgestellt, und von UCLES überprüft, ob sie dem Standard entsprechen. Auf diese Art und Weise gewährleistet das namibische Bildungsministerium einen international anerkannten Schulabschluss in allen Fächern. Trotz dieser sehr positiven Entwicklung kann nicht negiert werden, dass die Abschlussnoten vieler Schüler(innen) nicht den Erwartungen entsprechen. Vor allem in Englisch, einem Fach, das für jedes Kind in Namibia ab dem ersten Schuljahr verpflichtend ist, sind Defizite offensichtlich, die u. a. von Experten wie Tötemeyer (2010), Harris (2011) und Kirchner u. a. (2014) kritisiert werden, da viele Kinder weder in ihrer Muttersprache noch in Englisch kompetent sind, infolgedessen die Schule nicht bestehen und häufig arbeitslos bleiben. Diese Kritik wurde ernst genommen, und die Sprachenpolitik wurde überarbeitet. Auf die Konferenz „The Language Policy Review Conference“ (Ministry of Education Annual Report 2014: 2), die im Juni 2013 stattfand, folgte eine weitere 2015. Das wichtigste Ergebnis dieser Konferenzen ist der Beschluss, den Mutter- 334 Marianne Zappen-Thomson sprachenunterricht bis in Klasse 5 beizubehalten, Klasse 6 und 7 gelten als Übergangsjahre, in denen mehr und mehr auf Englisch unterrichtet werden soll. Hinzu kommt, dass der Vorschulunterricht verpflichtend wird. Gegenwärtig findet dieser schon an 60 % der Schulen im Land statt. Im August 2017 genehmigt das Kabinett der Regierung der Republik Namibia die neue Sprachenpolitik, und die Bildungsministerin Katrina Hanse-Himarwa stellt die neuen Curricula im November 2017 der Öffentlichkeit vor (vgl. Nakale 2017; Cerezo 2017). Während Sprachen wie Afrikaans und Deutsch auf viele Lehrmaterialien zurückgreifen können, sieht es für die einheimischen Sprachen anders aus. Das Institut für Lehrplan- und Lehrmaterialienentwicklung (National Institute for Educational Development, NIED) hat die Aufgabe, diese vermehrt zu entwickeln. Obwohl nur 20.000 bis 25.000 der Namibier(innen) Deutsch als Muttersprache sprechen, ist Deutsch die Unterrichtsprache an acht Grundschulen und Fach an 5 Oberschulen und betrifft 1.500 Schüler(innen). Deutsch als Fremdsprache ist in den vergangenen Jahren in Namibia immer beliebter geworden und wird zurzeit an über 50 Schulen unterrichtet, d. h. von etwa 8.500 Schüler(inne)n gelernt (Mitteilung von Corinna Buhrt, Goethe-Institut Windhoek, und Monika Hoffmann, Arbeitsgemeinschaft Deutscher Schulvereine [AGDS], 2017). An der University of Namibia (UNAM) belegen rund 100 Student(inn)en das Fach, entweder als „German Studies“, das bedeutet, sie haben einen Schulabschluss in dem Fach, oder als „German as Applied and Business Language“. Im letztgenannten Fall haben sie keine Vorkenntnisse in Deutsch (vgl. Zappen-Thomson 2014). An der Namibia University of Science and Technology (NUST) wie auch an der International University of Mangagement (IUM) ist Deutsch ein studienbegleitender Kurs (vgl. Schlettwein 2013). Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die Sprachkurse des Goethe-Instituts in Windhoek. 3 Deutsch im namibischen Alltag Wie schon in unterschiedlichen Artikeln zu Deutsch in Namibia dargelegt, zum Teil ausführlicher als hier (vgl. u. a. Kroll-Tjingaete 2016; Shah/ Zappen-Thomson 2018), hat man in Namibia die Möglichkeit, nicht nur auf Deutsch seine Einkäufe erledigen zu können, sondern man kann auch die täglich erscheinende deutsche Allgemeine Zeitung (https: / / www.az.com.na) lesen. Außerdem gibt es neben dem staatlichen deutschen Radiosender Funkhaus Namibia (https: / / www.nbc.na) sowie dem privaten deutschen Hitradio Namibia (http: / / www. hitradio.com.na) auch ein umfangreiches Fernsehprogramm der Sateliogruppe (https: / / www.satelio.tv) aus Deutschland. Deutsch in Namibia - eine Sprache im Kontakt 335 Bei dem relativ kleinen Prozentsatz an Deutschnamibier(inne)n ist es schon erstaunlich, wie viel in diesem Land doch Deutsch geschrieben und gesprochen wird, vor allem in den Städten Windhoek, Swakopmund und Otjiwarongo. Das in Namibia gesprochene und auch geschriebene Deutsch unterscheidet sich von dem Deutsch, wie es in Deutschland, der Schweiz oder Österreich verwendet wird. Wie Ammon u. a. (2016) darlegen, kann man Deutsch in Namibia, das ja keine Amtssprache mehr ist, 5 als Viertelzentrum bezeichnen; einige typische, als Standard eingestufte Bezeichnungen, nämlich sogenannte Namibismen, sind im Variantenwörterbuch aufgenommen worden. Kellermeier-Rehbein (2016) legt in ihrem Artikel die verschiedenen Varietäten des Deutschen in Namibia dar, wobei hier kurz angemerkt werden soll, dass es sich bei NAM Släng (Ees) um Jugendsprache handelt (siehe dazu Zappen-Thomson 2013), während das von Deumert (2009) untersuchte Küchendeutsch heute in der von ihr beschriebenen Form fast nicht mehr vorkommt. Die Eigenarten des Namdeutschen kann man u. a. auf folgende Ursachen zurückführen: Erstens auf neue Realitäten, die sich grundlegend von denen in Europa unterscheiden, dann auf neue Techniken und Ideen, die sich in Namibia entwickelt haben. Als Beispiel für das, was in Deutschland unbekannt ist, soll hier Biltong angeführt werden, bei dem es sich um getrocknetes Fleisch handelt, das geknabbert wird. Mit Omajowa werden Pilze bezeichnet, die nach gutem Regen an Termitenhügeln wachsen und als Delikatesse gelten. Immer wieder wird die Befürchtung geäußert, dass das Deutsch in Namibia zu verfallen droht. Dem kann entgegengehalten werden, dass sich Sprachen ständig entwickeln, also verändern, so auch Deutsch in Namibia. Bei Gesprächen hört man z. B. oft, dass der Akkusativ phonetisch verschmilzt, also statt Ich schreibe einen Brief gesagt wird Ich schreib ein Brief. Heißt es im Standarddeutschen ein Leopard, viele Leoparden, ein Gepard, viele Geparde, hört man in Namibia grundsätzlich und ausschließlich ein Gepard, viele Geparden. Interessant ist, dass das, was von Namibier(inne)n als namibia-typischer Verfall bezeichnet wird, auch in Deutschland vorkommt. Wiese u. a. (2014) diskutieren in ihrem Artikel „Deutsch im mehrsprachigen Kontext: Beobachtungen zu lexikalisch-grammatischen Entwicklungen im Namdeutschen und im Kiezdeutschen“, ob tatsächlich alles, was in Namibia zu beobachten ist und nicht dem Standard- Deutschen entspricht, namibiaspezifisch sein muss. Anders verhält es sich mit dem Codeswitching (CS), von dem Özdil (2010: 21) sagt, es sei das „Umschalten von der einen Sprache zur anderen innerhalb eines Diskurses“. Aufgrund der Mehrsprachigkeit ist dies ein Sprachverhalten, das in Namibia in allen Sprachkonstellationen anzutreffen ist, bedingt vor allem durch 5 Während der Kolonialzeit war Deutsch selbstverständlich Amtssprache, ab 1980 in Südwestafrika nur noch auf der dritten Ebene, d. h. auf der amtlichen Ebene der „weißen“ Behörde (Kube/ Kotze 2002: 308). 336 Marianne Zappen-Thomson das Hinzukommen eines neuen Gesprächspartners. Auffallend ist die Leichtigkeit des CS, dessen wichtigste Funktion auf sozialer Ebene das Einschließen aller Gesprächspartner ist. Interessant ist, dass bei einigen Wörtern in Namibia eine Bedeutungsverschiebung zu beobachten ist. Das wohl bekannteste Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Wort basisch, das in Namibia nicht als Gegenteil zu „sauer“ benutzt wird, sondern „grundlegend“ bedeutet. Dies ist auf das englische Wort basically und das afrikaanse basies zurückzuführen (vgl. Kroll-Tjingaete 2016: 134). Ebenso bringen Namibier(innen) ihr Auto zur Reparatur nicht in die Werkstatt, sondern in die Garage (vgl. Kroll-Tjingaete 2016: 112). Auch hier sieht man den Einfluss des Englischen. Nach der Unabhängigkeit hat sich gezeigt, dass es zu neuen Entwicklungen, wie z. B. zur Benennung von Einrichtungen und sozialen Handlungen, gekommen ist, die im Deutschen keine Äquivalente haben. Dies hat besonders die Arbeit in den Medien erschwert, da man diese willkürlich und immer wieder unterschiedlich übersetzt hat. Um dem vorzubeugen, wurde ein Glossar mit dem Titel „English-German Glossary of Namibian Terms“ (Zappen-Thomson [Hrsg.] 2012) verfasst. Es wurden neue Begriffe geprägt, und zwar in Zusammenarbeit mit Vertreter(inne)n der Printsowie der Rundfunkmedien, wie z. B.: Programm zur Verbesserung des Schul- und Ausbildungsbereichs für Education and Training Sector Improvement Programme (ETSIP) oder aber Babyentsorgung für baby dumping. Auffallend ist ferner der Einfluss der deutschen Sprache auf einige der anderen Sprachen in Namibia. Hierbei handelt es sich um Lehnwörter, die zum Teil unverändert übernommen, zum Teil aber auch integriert wurden, wie z. B. ins Oshiwambo. Selbstverständlich ist dieser Umstand auf die Kolonialzeit zurückzuführen, als Gegenstände eingeführt wurden, die es bis dahin im Land gar nicht gab. Mit dieser Thematik setzt sich Johannes Uuschona in seiner an der University of Namibia eingereichten MA-Arbeit „An investigation into the phenological and morphological integration of German loanwords into Oshiwambo“ (2019) genauer auseinander. So heißt der Anzug auf Oshiwambo Oantsuhu, während das Geschäft das Ongeshefa ist. In Khoekhoegowab spricht man von tsubibels, wenn man Zwiebeln meint, und sagt sobitso, während die Deutschen sowieso sagen. Ist etwas billig, sagen Hereros ombiriha, und ihre Wäsche legen sie in den Oschranka (Mitteilung von Prof. Jekura Kavari, Dr. Levi Namaseb, Dr. Petrus Mbenzi, Windhoek 2017). Ein Wort, das von fast allen Namibier(inne)n konsequent benutzt wird, ist Brötchen (siehe dazu Radke 2018). Es ist bemerkenswert, dass sich hier kein englisches Wort durchgesetzt hat. Deutsch in Namibia - eine Sprache im Kontakt 337 4 Fazit Deutsch in Namibia, eine Sprache im Kontakt mit einer Reihe anderer Sprachen, wird selbstverständlich von diesen beeinflusst, beeinflusst ihrerseits aber auch diese. Der Einfluss zeigt sich in Bedeutungsverschiebungen, In- und Transferenzen, aber auch in Sprachökonomie und Analogie. Anhand des hier Dargelegten lässt sich zeigen, dass Deutsch in Namibia aufgrund seiner Einbettung in eine multilinguale und multikulturelle Umgebung Veränderungen unterworfen ist. Aus dieser Situation heraus ergibt sich die Chance, vor allem für Lehrer(innen), das eigene Sprachbewusstsein sowie das der Lernenden zu schärfen. Auf diese Art und Weise können Sprache bzw. Sprachunterricht in Namibia dazu beitragen, dass die Menschen sich aufeinander zubewegen. Deutsch in Namibia ist also eine Sprache im Kontakt und für den Kontakt. Literatur Ammon, Ulrich/ Bickel, Hans/ Lenz, Alexandra N. (Hrsg.) (2016): Variantenwörterbuch des Deutschen. Die Standardsprache in Österreich, der Schweiz, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Ostbelgien und Südtirol sowie Rumänien, Namibia und Mennonitensiedlungen. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Aufl. Berlin/ Boston. Baumann, Joseph (2002): Die Missionare - Europa kommt nach Afrika. In: Hess, Klaus A./ Becker, Klaus J. 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Aspekte von Deutsch im nicht-deutschsprachigen Ausland unter Berücksichtigung von Kontaktvarietäten im Bereich der Schriftlichkeit Germanismen und Slawismen im preußisch-litauischen Dialekt im Roman „Šaktarpio metas“ von Astrida Petraitytė Sigita Barniškienė (Kaunas) Zusammenfassung Das Ziel des vorliegenden Beitrags besteht darin, die im Roman „Šaktarpio metas“ („Die Zeit des Schaktarps“) von Astrida Petraitytė verwendeten Germanismen und Slawismen mit den Angaben in den einschlägigen Wörterbüchern und linguistischen Untersuchungen (Kazys Alminauskis, Christiane Schiller, Nijolė Čepienė, Indrė Brokartaitė- Pladienė u. a.) zu vergleichen, um feststellen zu können, ob diese Lexeme zum Idiolekt der aus dem ehemaligen Preußisch-Litauen stammenden Autorin gehören oder auch in den Wörterbüchern belegt sind. Zu den Aufgaben des Beitrags zählt auch der Versuch, die im Roman ausgewählten Germanismen und Slawismen in lexikalisch-semantische Felder zu gliedern und dadurch zu veranschaulichen, in welchen Lebensbereichen die Lehnwörter im preußisch-litauischen Dialekt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts benötigt und gebraucht wurden. 1 Einleitung Über die Rolle eines Dialekts in der heutigen Gesellschaft schreibt Siegfried Heusinger (2004) Folgendes: Besonders in Dorfgemeinschaften oder Gemeinschaften innerhalb eines Ortes ist der Dialekt heute vor allem ein Kommunikationsmittel mit ausgeprägt sozialer Funktion. Er identifiziert den Sprecher als Mitglied der Gemeinschaft und öffnet ihm Bewegungsspielräume, die dem Fremden verschlossen bleiben (Heusinger 2004: 112). Dem angeführten Zitat ist zu entnehmen, dass der Gebrauch eines Dialekts seinen Träger in erster Linie nicht als der Hochsprache nicht mächtigen charakterisiert, sondern seine Zugehörigkeit zu einer mit der bestimmten Region verbundenen Gemeinschaft hervorhebt und gleichzeitig andere als Fremde ausschließt. Wenn es keine Träger des Dialekts mehr gibt, hört er zu existieren auf, und das bedeutet für die Gesellschaft einen Verlust oder, anders gesagt, eine Verringerung der Vielfalt im Gebrauch der Sprachvarietäten. Solch ein Schicksal erlitt das Preußisch-Litauische, das von Christiane Schiller (2000a: 174) als regionale Umgangssprache definiert wird und das „bis 1945 in (Ost)preußen bzw. im Memelland sowohl im mündlichen als auch schriftlichen Gebrauch war.“ Weiter erläutert die deutsche Baltistin, dass das wichtigste Kennzeichen der preußisch-litauischen Schriftsprache die Verwendung der Fraktur anstatt 344 Sigita Barniškienė der lateinischen Antiqua in der litauischen Standardsprache war und dass die polnischen Digraphen <cz>, <sz>, <w>, <ź> in dieser Varietät üblich waren, während in der litauischen Standardsprache Schriftzeichen <č>, <š>, <v>, <ž> gebraucht wurden. Es ist wichtig anzumerken, dass Schiller auch als charakteristische Merkmale der preußisch-litauischen Umgangssprache „einen hohen Anteil an deutschem Lehngut“ und „eine Vielzahl von Slawismen, die anders als in der litauischen Standardsprache hier nicht getilgt und durch litauische Entsprechungen oder Neubildungen ersetzt wurden“ (Schiller 2000a: 174), herausstreicht. Die litauische Sprachforscherin Danguolė Mikulėnienė (2013) betrachtet das Ostpreußisch-Litauische als westaukschtaitischen oder aukschtaitischen Dialekt der Region Klaipėda. Das von den Mitarbeitern des Instituts für litauische Sprache durchgeführte soziolinguistische Projekt zur Erforschung des Stands der Dialekte in Westlitauen Anfang des 21. Jahrhunderts hat ergeben, dass der aukschtaitische Dialekt der Region Klaipėda stark von den nachbarschaftlichen žemaitischen Subdialekten geprägt worden ist. Die Autorinnen der Studie „Klaipėdos krašto aukštaičiai: tekstai ir kontekstai“ („Aukschtaiten der Region Klaipėda: Texte und Kontexte“), Rima Bakšienė und Daiva Vaišnienė (2014), stellen fest, dass die älteren Bewohner bei der Befragung ihre frühere bilinguale Situation und den Einfluss der deutschen Sprache sowie des lutherisch-evangelischen Glaubens auf ihre Identität hervorgehoben haben: Most of the informants provided comparable answers: the local residents who were interviewed stressed that German had been the main language of public communication when they were little. Many of the people polled said to have attended German school for a time, and to have lived in an environment dominated by the German language for a long time. By the way, German is still a preferred language for day-today human interaction in larger and stronger communities, such as Pagėgiai. Notably, speaking German (as well as being Evangelical Lutheran by faith) is perceived and indicated by many of the informants as a distinguishing feature of the local populace and a symbol of belonging to the same community (Bakšienė/ Vaišnienė 2014: 75). Zigmas Zinkevičius (1990: 312-314) führt zahlreiche deutsche Entlehnungen im preußisch-litauischen Dialekt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an, z. B. giriktas (‚Gericht‘), gizecas (‚Gesetz‘), pustas (‚Post‘), elmis (‚Helm‘), dyneris (‚Diener‘), ceitunga (‚Zeitung‘), zakas, žakas (‚Sack‘), pliūmė (‚Pflaume‘), špielė (‚Spiel‘). Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs flüchten viele Bewohner des Memellandes nach Deutschland; infolgedessen verschwindet der preußisch-litauische Dialekt aus der Region und wird immer weniger verwendet. Über die Flucht der Bevölkerung verschiedener Nationalitäten vor der Sowjetarmee schreibt Harry Stossun Folgendes: Im Frühjahr und Sommer 1944 rückten die Kampfhandlungen immer näher an das ehemalige litauische Staatsgebiet heran, und es setzte eine Fluchtbewegung von Litauern und Rücksiedlern ein, die ähnlich verlief wie in anderen Gebieten des Ostens. Germanismen und Slawismen im Roman „Šaktarpio metas“ von A.Petraitytė 345 Die Spur der litauendeutschen Rücksiedler verliert sich in den Jahren 1944 und 1945 in der Masse der nach Westen fliehenden Menschen. […] Daß es mit der Ruhe in Litauen vorbei sein würde, zeigte sich bereits in den ersten Monaten des Jahres 1944, als viele Menschen vor der herannahenden Front in Richtung Westen flüchteten und auf litauischem Gebiet eintrafen (Stossun 1993: 223). Nur schriftsprachliche Zeugnisse wie evangelische Gesangbücher, deutschlitauische Wörterbücher oder die in Memel oder Tilsit herausgegebenen Zeitungen „Nauja lietuviška ceitunga“ (1890-1923) und „Naujasis Tilžės keleivis“ (1924-1940) bleiben als Dokumente der preußisch-litauischen Sprachvarietät erhalten. Anhand von Artikeln aus diesen Zeitungen lassen sich morphologische, semantische und soziolinguistische Besonderheiten von Germanismen untersuchen, wie Brokartaitė-Pladienė (2004: 44) belegt. In ihrem Beitrag „Wege der deutschen Entlehnungen in die ostpreußische Zeitung Naujasis Tilžės keleivis (1924-1940)“ weist sie nach, dass die früheste Quelle von Germanismen der Siedeldialekt Niederpreußisch oder Ostpreußisch sei und als jüngere Entlehnungsvarietäten deutsche Schriftsprache und deutsche Standardsprache gelten (Brokartaitė-Pladienė 2006: 33f.). Der litauische Sprachhistoriker Zigmas Zinkevičius (2002: 396) vertritt die Meinung, dass die wichtigste Quelle für viele Lehnwörter „nicht die deutsche Gemeinsprache, sondern das Plattdeutsche“ war, und führt dafür mehrere Beispiele an. Christiane Schiller (1999: 228) äußert ihre Überzeugung, dass man sich bei der Analyse des Preußisch-Litauischen nicht auf die „vermeintlich litauischen Formen und Elemente“ beschränken sollte, sondern es als Varietät des Litauischen zu betrachten wäre, „deren Spezifik maßgeblich aus den Folgen des Sprachkontakts resultiert“. Das Vorhaben, lexikalische Elemente aus dem verschwundenen preußischlitauischen Dialekt anhand eines fiktionalen Werkes zu beschreiben, kann problematisch sein, weil die Sprache des Romans individuelle Besonderheiten des Sprachgebrauchs durch die Autorin widerspiegeln kann. Aber bei Untersuchungen zu Sprach- und Kulturkontakten werden zur Korpuserstellung außer den spontanen und gesteuerten Gesprächen und Befragungen auch schriftliche Texte herangezogen, wie Claudia Maria Riehl (2014: 53) bemerkt: „Als Datenbasis lassen sich auch schriftliche Quellen heranziehen, im Bereich des historischen Sprachkontakts sind sie sogar das alleinige Quellenmaterial.“ 2 Zum Roman „Šaktarpio metas“ von Astrida Petraitytė Die Schriftstellerin, Publizistin und Journalistin Astrida Petraitytė wurde 1952 in Šilutė (Heydekrug) geboren. Sie studierte Psychologie, arbeitete als Lektorin im Lehrerfortbildungsinstitut in Vilnius, im Fernsehen und Rundfunk sowie in der Kulturwochenzeitung „Literatūra ir menas“ als Journalistin. Sie hat mehrere Erzählungen und biografische Romane publiziert und forscht zu der Geschichte 346 Sigita Barniškienė und Kultur Preußisch-Litauens. In ihrem Roman „Šaktarpio metas“ (2005- 2006) hat sie sich vorgenommen, Fragmente aus dem Leben eines Mädchens und der erwachsenen verheirateten Frau Marta Liepienė aus dem Memelland von 1908 bis 1944 im preußisch-litauischen Dialekt wiederzugeben. Der Titel des Romans bedeutet ins Deutsche übersetzt „Die Zeit des Schaktarps“, wobei unter Schaktarp die Zeit im Frühling oder im Herbst im Memelland verstanden wird, wenn der Verkehr zwischen den Ortschaften wegen des Hochwassers verhindert ist. Da die mundartliche Literatur für den heutigen litauischen Leser nicht ganz verständlich sein kann, hat die Schriftstellerin Entlehnungen aus dem Deutschen, Polnischen oder Russischen im Text kursiv geschrieben und ihre Erläuterungen im Glossar am Ende beider Bände des Romans angeführt. In meinem Beitrag versuche ich, einige semantische Felder der im Roman benutzten Entlehnungen hervorzuheben, sie mit den Lehnwörtern im Wörterbuch „Die Germanismen des Litauischen“ von Kazys Alminauskis (1934) zu vergleichen und die vorherrschenden Tendenzen in der Wortbildung des Lehnguts im preußisch-litauischen Dialekt herauszufinden. 3 Germanismen im Roman „Šaktarpio metas“ Die deutsche Baltistin Christiane Schiller (2000b) hat nachgewiesen, dass die fiktionale Literatur eine Möglichkeit zur Analyse der soziolinguistischen Phänomene, wie z. B. des Bilingualismus, der Interferenz, des Sprachwechsels, der Sprachmischung und der fremdsprachigen Elemente in der Figurenrede, bieten kann. Sie untersuchte diese Erscheinungen in Hermann Sudermanns „Litauische Geschichten“ und im Roman „Vilius Karalius“ von Ieva Simonaitytė. Über ihr Forschungsvorhaben äußert sich Schiller folgendermaßen: Obwohl die dargestellte fiktive bilinguale Sprachsituation nicht als Abbild der realen bilingualen Sprachsituation Preußisch-Litauens zu Beginn des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann und insofern kein soziolinguistisches Dokument darstellt, soll hier der Versuch unternommen werden, sie mit Hilfe der Terminologie der Soziolinguistik zu beschreiben (Schiller 2000b: 19). In Anlehnung an diese Tradition versuche ich, in meinem Beitrag ein anderes linguistisches Phänomen - Germanismen und Slawismen - im Roman von Astrida Petraitytė zu analysieren. Da Deutsch in Šilutė Anfang des 20. Jahrhunderts die Unterrichtssprache in den Schulen war, kann man annehmen, dass viele Entlehnungen aus dem Deutschen auch im mündlichen Gebrauch des preußisch-litauischen Dialekts vorkamen. Über Entlehnungen in verschiedenen Kontaktsprachen schreibt Claudia Maria Riehl Folgendes: Ob eine mehrsprachige Gemeinschaft viele oder wenige Entlehnungen in ihrem allgemeinen Sprachgebrauch hat, hängt vom kommunikativen Verhalten (wird oft zwi- Germanismen und Slawismen im Roman „Šaktarpio metas“ von A.Petraitytė 347 schen den Sprachen gewechselt oder nicht), vom Prestige der Kontaktsprache und von den sozialen Netzwerken ab (Riehl 2014: 41). In einem der ersten Buchkapitel geht es um die Einschulung von Marta und ihre schmerzlichen Erfahrungen, weil sie schlecht Deutsch spricht und ihr der Lehrer deswegen Vorwürfe macht. Die Schule wird šuilė genannt, d. h. im entlehnten Wort gebraucht man anstatt des langen „u“ den Diphthong „ui“, der auch in den Ableitungen šuilokai (‚die Schüler‘), šuiliškas (Adj. in der Wortverbindung šuiliška knygikė - ‚Schulbüchlein‘) beibehalten wird. Es ist ersichtlich, dass die Entlehnungen litauische Suffixe -okim Substantiv und -iškim Adjektiv erhalten. Im Wörterbuch von Alminauskis (1934: 26) findet man zwei phonetische Varianten dieser Entlehnung: šiuilė und šiūlė. Fybelis ist auch eine Entlehnung vom Wort die Fibel (‚Elementarbuch‘), das im Preußisch-Litauischen das männliche Genus und die entsprechende Flexion des männlichen Genus -is erhält. Bei Alminauskis (1934: 50) wird das Wort als Femininum fibelė, fybelė und als Pluraletantum pybelės angeführt. Die Wortverbindung mit dem Genitivattribut motinos kalba ist eine Lehnübersetzung des Kompositums die Muttersprache, während in der litauischen Hochsprache die Wortverbindung mit dem Adjektiv gimtoji kalba (‚die Geburtssprache‘) verwendet wird. Marta erzählt auch über ihre Familie, wodurch ein anderes lexikalisch-semantisches Feld 1 mit mehreren Germanismen entsteht: familija (‚die Familie‘), papa (‚der Papa‘), onkelis (‚der Onkel‘), tantė (‚die Tante‘), opapa (‚der Opa‘), omama (‚die Oma‘), kuzinė (‚die Kusine‘), švogeris (‚der Schwager‘). Die Schriftweise und litauische Flexionen unterscheiden diese Wörter von den deutschen; auch die Verdoppelung der Silben in den Entlehnungen omama, opapa gehört zu ihren Eigentümlichkeiten, doch das Lautbild bleibt im Allgemeinen erhalten. Es fällt auf, dass nicht alle erwähnten Germanismen aus dem lexikalisch-semantischen Feld der Familienmitglieder im Wörterbuch von Alminauskis enthalten sind: famylija (phonetische und orthografische Variante mit langem -y-) und švogaris, švogeris ‚Schwager, der Bruder des Ehemannes oder der Ehefrau‘ kann man im Wörterbuch finden, doch onkelis, tantė, opapa, omama, kuzinė fehlen. Daraus kann man schließen, dass sie in den von Alminauskis untersuchten Quellen - in dem litauisch-preußischen Dialekt, in den Zeitungen des Memellandes, in den Wörterbüchern von Friedrich Kurschat, Walther Ziesemer, Kazys Būga u. a. - nicht vorkamen, doch in der von Astrida Petraitytė beherrschten Varietät des Preußisch-Litauischen gebraucht wurden. Dass die Listen von Germanismen in verschiedenen Untersuchungen variieren und dieselben Entlehnungen auch phonetische Varianten aufweisen, davon zeugt auch die neuere Forschung von 1 Unter lexikalisch-semantischem Wortfeld verstehe ich mit Monika Schwarz und Jeannette Chur„eine Reihe von Wörtern, die sich inhaltlich ähnlich sind, d. h. gemeinsame semantische Merkmale besitzen und die einen gemeinsamen Referenzbereich haben“ (Schwarz/ Chur 2007: 60). 348 Sigita Barniškienė Nijolė Čepienė. In dem von ihr zusammengestellten Verzeichnis der Germanismen, die Personen bezeichnen und die in den preußisch-litauischen Mundarten vorkommen, findet man švėgeris (‚der Schwager‘), tantė (‚die Tante‘), unkulis (‚der Onkel‘) (vgl. Čepienė 2006: 161f.). Im Bereich der Kulinaristik kann man nicht wenige Germanismen im Buch von Petraitytė finden, z. B. plincai (‚die Plinsen‘), šmanta (‚der Schmant‘), šlagzanė (‚die Schlagsahne‘), kafija (‚der Kaffee‘), zupa (‚die Suppe‘), šmekiuoti (‚schmecken, kosten‘). Die genannten Bezeichnungen von Gerichten, außer šlagzanė, sowie das Verb šmekiuoti sind im Wörterbuch von Alminauskis auch nachgewiesen. Im Duden online-Wörterbuch (https: / / www.duden.de/ rechtschreibung [28.02.2018]) findet man beim Wort die Plinse die Erläuterung, dass das Substantiv in ostmitteldeutschen und ostniederdeutschen Dialekten gebraucht werde, der Schmand, Schmant sei dagegen vor allem ein westmitteldeutsches oder nordostdeutsches Wort. Friedrich Kluges „Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache“ (1995) enthält die Anmerkung, dass das Wort der Schmant aus dem Tschechischen und die Plinse aus dem Sorbischen entlehnt worden ist. Nach den Forschungen der litauischen Sprachwissenschaftler waren deutsche Entlehnungen in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in den westlichen Dialekten Litauens der Niederlitauer und der Hochlitauer bis zu 10 %-11 %, im ehemaligen Memelland bis zu 18 %-23 % verbreitet (vgl. Brokartaitė- Pladienė 2004: 42). Man kann mit großem Wahrscheinlichkeitsgrad annehmen, dass mit dem Generationenwechsel viele Germanismen aus dem mündlichen Gebrauch verschwinden, weil sie durch normierte Entsprechungen der litauischen Standardsprache ersetzt werden. Das bestätigt auch das lexikalisch-semantische Feld der Monatsbezeichnungen im Roman von Petraitytė: januaris, fėbruaris, mercas, aprilis, mejis, junijus, julijus, augustas, oktoberis, novemberis, decemberis sind inzwischen völlig durch litauische Benennungen verdrängt. Das Wortfeld von Entlehnungen, die Institutionen, Gesetzgebung und Verordnungen der Regierung bezeichnen, bilden solche Wörter wie bažnyčrotė (‚der Kirchenrat‘), landrotas (‚der Landrat‘), lyveriuoti (‚liefern‘), melduoti (‚melden‘), ordnungas (‚die Ordnung‘), peticijonas (‚die Petition‘), rentė (‚die Rente‘), regimentas (‚das Regiment‘), šmugelis (‚der Schmuggel‘), šteliuoti (‚bestellen‘), študėruoti (‚studieren‘), urlaupas (‚der Urlaub‘). Wie man sehen kann, sind die Wortformen an die litauischen Regeln angepasst: Substantive werden mit den litauischen Flexionen -as, -is, -ė verwendet, Verben bekommen litauische Suffixe -(i)uoti. Die Schriftweise ist auch litauisch - die Entlehnungen enthalten die Buchstaben ė, š, j. Das Kompositum bažnyčrotė ist eine hybride Bildung, weil das Bestimmungswort ein litauisches Wort ist, während das Grundmorphem -rotaus dem Deutschen stammt. Im Wort Rat wird der Vokal -ain den Entlehnungen zu -o-. Nach Čepienė (2006: 226), ist dieser Unterschied damit verbunden, dass die betreffenden Germanismen aus den ostpreußischen deutschen Dialek- Germanismen und Slawismen im Roman „Šaktarpio metas“ von A.Petraitytė 349 ten übernommen wurden, in denen der Laut o anstatt des standardsprachlichen a ausgesprochen wurde. Viele von den angeführten Germanismen sind im Wörterbuch von Alminauskis belegt, wie z. B. landrotas, lyveriuoti, šmugelis, urlaupas, doch andere fehlen: bažnyčrotė, melduoti, ordnungas, peticijonas, rentė, regimentas, šteliuoti, študėruoti. Daraus kann man schließen, dass es in der Mundart der Bewohner von Šilutė (Heydekrug) Anfang des 20. Jahrhunderts mehr Germanismen gab, als Alminauskis in seinem Wörterbuch erfasst hat. Noch ein lexikalisch-semantisches Wortfeld von Germanismen lässt sich im Roman unterscheiden, und zwar Benennungen von Kleidungsstücken: ancūgas (‚der Anzug‘), jakas (‚die Jacke‘), kleidė (‚das Kleid‘), mantelis (‚der Mantel‘), naktemdžiai (‚das Nachthemd‘), šiuršas (‚die Schürze‘), šlipsas (‚der Schlips‘). Im Wörterbuch von Alminauskis fehlen von den genannten Germanismen nur das Wort ancūgas (‚der Anzug‘) und die Zusammensetzung naktemdžiai (‚das Nachthemd‘), andere Wörter weisen meistens einige Varianten auf, in denen morphologische oder phonetische Unterschiede vorkommen; z. B. hat das Substantiv jakas, jakė unterschiedliche Flexionen, die darauf hinweisen, dass es männlichen oder weiblichen Geschlechts sein kann. Verschiedene Endungen im Wort kleida, kleidė dagegen sind beide für litauische Feminina typisch, sodass sich das grammatische Genus nicht verändert. Bei diesem Wort wird die Definition aus dem „Wörterbuch der litauischen Sprache“ von Friedrich Kurschat (1. Teil 1870, 2. Teil 1883, Halle/ Saale) zitiert: „ein Damenkleid im Unterschiede von geringeren und auch nationalen Frauenkleidern“ (Alminauskis 1934: 67). Zum Wort šiuršas (‚die Schürze‘) führt Alminauskis mehrere Varianten mit unterschiedlichen litauischen Flexionen und Suffixen an: šiuršė (ein Femininum), šiuršis, šiurštas, šiurštokas, šiurštolius (Maskulina) sowie deren phonetische Varianten mit dem ersten stimmhaften Konsonanten [ Ʒ ]: žiurstas, ziurštas, žiurštokas, žiurštolius. Der Germanismus šlipsas (‚der Schlips‘) ist im Wörterbuch „Die Germanismen des Litauischen“ in der gleichen Form wie im Roman von Petraitytė eingetragen: Litauisches Graphem š und die Flexion der maskulinen Sustantive -as sind typische Veränderungen und Integrationsmerkmale von Germanismen im Litauischen. Dieses Substantiv wird auch heute in der litauischen Alltagssprache verwendet und ist allgemein verständlich. 4 Entlehnungen aus dem Russischen und Polnischen im Roman „Šaktarpio metas“ Dass zahlreiche Slawismen das Litauische zu verschiedenen Zeiten durchdrungen haben, kann man durch historische Verhältnisse und Entwicklungsumstände des Litauischen Großherzogtums erklären. Seit der Lubliner Union 1569 mit dem Königreich Polen wurde der Einfluss und die Herrschaft des Polnischen im gan- 350 Sigita Barniškienė zen Territorium des Staates selbstverständlich. Wie der litauische Sprachforscher Zigmas Zinkevičius (1988: 113) schreibt, war der litauische Adel gezwungen, Polnisch zu gebrauchen, weil gemeinsame Staatsangelegenheiten, gemeinsamer Sejm und Senat, auch Verwandtschaftsbeziehungen das von ihnen erforderten. Nach der Dritten Teilung Polens 1795 geriet Litauen unter Herrschaft des russischen Zaren, sodass das Russische das öffentliche Leben und die Bildung prägte. Das Preußisch-Litauische war nicht direkt von der Russifizierung betroffen, aber auch in dieser Sprachvarietät, die sich im Roman widerspiegelt, sind zahlreiche Slawismen zu finden. Man kann dies durch den Einfluss des Litauischen aus dem Gebiet Groß-Litauen oder Russisch-Litauen, erklären. Bestimmte lexikalisch-semantische Felder lassen sich bei den Slawismen im Roman schwer unterscheiden, weil diese Entlehnungen ganz verschiedene Referenzbereiche bezeichnen. Im Unterschied zu den Germanismen sind die meisten Slawismen noch heute für litauische Sprachträger verständlich und werden manchmal in der Umgangssprache benutzt. Das betrifft folgende Russizismen: čystas (russ. čistyj, ‚sauber, rein‘), kytrumas (russ. hitrost’, ‚die Schlauheit‘), griekas (russ. greh, ‚die Sünde‘), razbaininkas (russ. razbojnik, ‚der Räuber‘), rubežius (russ. rubež, ‚die Grenze‘), syla (russ. sila, ‚die Kraft‘), storotis (russ. storatsja, ‚sich bemühen‘), tavoras (russ. tovar, ‚die Ware), viernas (russ. vernyj, ‚treu‘), kupčius (russ. kupec, ‚der Kaufmann‘, ‚der Händler‘) u. a. Polonismen benennen auch ganz diverse Gegenstände und Handlungen: budavoti (poln. budovać, ‚bauen‘), nedėldienis (poln. niedziela, ‚Sonntag‘), kvietkai (poln. kwiat, ‚Blume‘), koroti (poln. karać, ‚bestrafen‘), patrova (poln. potrawa, ‚die Speise‘, ‚das Gericht‘), veselė (poln. wesele, ‚die Hochzeit‘), skarbas (poln. skarb, ‚das Vermögen, ‚der Nutzen‘), žegnotis (poln. żegnać, ‚segnen, sich bekreuzigen‘), šliūbas (poln. ślub, ‚die kirchliche Trauung‘), pasoga (poln. posag, ‚die Aussteuer‘). Aus den angeführten Polonismen kann man schließen, dass sie auf die Dinge des alltäglichen Gebrauchs sowie auf die Eheschließung und Trauung referieren. Die Struktur der Russizismen und Polonismen zeugt davon, dass sie litauische Endungen, Suffixe oder Präfixe erhalten und nach den litauischen Paradigmen dekliniert oder konjugiert werden. 5 Schlussfolgerungen Die Analyse von Entlehnungen im Roman „Šaktarpio metas“ hat gezeigt, dass im Preußisch-Litauischen Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Germanismen gebraucht wurden, die heute als archaisch und unverständlich gelten. Die untersuchten Germanismen ließen sich in folgende lexikalisch-semantische Felder gliedern: Schulwesen, Bildung, Familienbeziehungen, Speisen, Monatsbezeichnungen, Gesetzgebung, Verordnungen der Regierung, Kleidungsstücke. Germanismen und Slawismen im Roman „Šaktarpio metas“ von A.Petraitytė 351 Die meisten von den angeführten Germanismen sind im Wörterbuch von Alminauskis belegt. Slawismen, die durch Russizismen und Polonismen vertreten sind, prägen auch den preußisch-litauischen Dialekt. Slawische Entlehnungen referieren auf unterschiedliche Wirklichkeitsbereiche, daher lassen sich aus den im Roman vorkommenden Wörtern keine größeren Wortfelder bilden. Sowohl für Germanismen als auch für Slawismen ist es typisch, dass fremde Wurzeln mit litauischen Endungen, Suffixen, Präfixen kombiniert und an das litauische phonetische und orthografische System angepasst werden. Auf diese Weise sind Hybridbildungen entstanden, die im Preußisch-Litauischen und in der litauischen Umgangssprache funktionierten, aber durch die Normierung der litauischen Standardsprache und wegen der Flucht und Vertreibung der Bewohner des Memellandes nach Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängt wurden. Germanismen und Slawismen im Preußisch-Litauischen können auch anhand von erhalten gebliebenen Zeitungen und anderen Schrifterzeugnissen analysiert werden. 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S. 393-399. Deutsch und Jiddisch im Kontakt Jüdische Sprachvarietäten im Umkreis Franz Kafkas im Spannungsfeld von Ethnolekt, Literatur- und Lernersprache Boris Blahak (Pilsen/ Plzeň) Zusammenfassung Als Franz Kafka 1911 in Prag auf eine Theatergruppe aus Lemberg traf, löste dies bei ihm eine intensive Beschäftigung mit dem Ostjiddischen aus. Hierbei glaubte er, sich die Sprache allein aufgrund seiner jüdischen Wurzeln aneignen zu können - in einem ungesteuerten Lernprozess, der auf Zuhören und Mitschrift basierte. Bei der Entwicklung seiner rezeptiven Spracherwerbstheorie spielte eine Anzahl interlingual verständlicher deutsch-jiddischer Kontaktvarietäten eine Rolle, die zu dieser Zeit in Kafkas Umfeld auftraten: Die ostjüdischen Schauspieler sprachen eine I n t e r i m s v a r i e t ä t des Deutschen mit jiddischen Transferenzen; ihre Schauspiele waren in einer deutsch überformten li t e r a r i s c h e n V a r i e t ä t des Jiddischen abgefasst; Kafka selbst sprach im Alltag eine ostmittelbairische T r a n s f e r e n z v a r i e t ä t mit ethnolektalen Relikten des Westjiddischen; und schließlich machen seine Handlungsparaphrasen zu den von ihm besuchten Schauspielen auch seine L e r n e r v a r i e t ä t des Jiddischen fassbar. Der Beitrag skizziert das formale Profil der beteiligten Kontaktvarietäten, rekonstruiert die Dependenz und Wechselwirkung zwischen ihnen und bestimmt ihre Bedeutung für Kafkas jüdische Spracherwerbstheorie. 1 „weil wir Juden sind“ - Franz Kafkas rezeptive Spracherwerbstheorie des Jiddischen Wos mir seinen, seinen mir/ Ober jueden seinen mir (Kafka 1990a: 362). 1 (Wir sind, was wir sind - immer aber Juden; Übersetzung: B. B.) Als Franz Kafka Ende Januar 1912 diese ostjiddischen Verse in sein Tagebuch schrieb, ging für ihn gerade ein viermonatiger Lebensabschnitt zu Ende, in dem er, der lange geglaubt hatte, keinen „festen jüdischen Bode[n]“ (Kafka 1958: 404) unter den Füßen zu haben, die Hoffnung schöpfte, doch noch eine ,echte‘ jüdische Identität ausbilden zu können. Das Zitat findet sich in einem von Kafka 1 Zitate aus Kafkas Briefen und Tagebüchern, die normwidrige Orthografie und Zeichensetzung aufweisen, entsprechen dem Autograf und erfolgen (soweit herausgegeben) nach der Kritischen Kafka-Ausgabe. 354 Boris Blahak angelegten Exzerpt von Meyer Isser Pinès’ Histoire de la littérature judéoallemande (Pinès 1911: 72), „die er gierig, wie […] bei ähnlichen Büchern niemals“ (Kafka 1990a: 360), gelesen hatte. Unübersetzt und unkommentiert, steht diese trotzige Bejahung einer kollektiven jüdischen Identität eigentümlich isoliert unter den deutschen Notizen Kafkas aus Pinès’ Literaturgeschichte. Am Ende eines Spracherwerbsexperiments, das hier untersucht werden soll, scheint sich Kafka durch die Niederschrift nochmals einer Erkenntnis versichert zu haben, die er am 4. Oktober 1911 im Prager Café Savoy gemacht und auch damals schriftlich fixiert hatte. Als er dort das erste einer Reihe ostjiddischer Schauspiele einer Theatertruppe aus Lemberg sah, glaubte Kafka erstmals Juden vor sich zu haben, die ihre ,eigene‘ Sprache verwendeten. Wie tief ihn dieses Erlebnis emotional berührte, ist in seinem Tagebuch nachzulesen: Ihm sei bei „der Aussprache ,jüdische Kinderloch‘ […] ein Zittern über die Wangen“ gegangen, angesichts einer Schauspielerin, die, „weil sie Jüdin ist uns Zuhörer weil wir Juden sind an sich zieht“ (Kafka 1990a: 59). Gemeinsam ist beiden Einträgen, dass sie das Bekenntnis, Jude zu sein, an die jiddische Sprache koppeln - der erste, indem er jüdische Identität auf Jiddisch artikuliert, der zweite, indem er festhält, wie das Jiddische jüdische Identität evoziert. Zugleich fügen sich beide Zitate in das sprachnationale Denkmuster des 19. Jahrhunderts, die Überzeugung, dass Muttersprache und ethnische Herkunft aufs Engste miteinander verknüpft seien. Da Kafka diese Sicht grundsätzlich teilte, 2 rührte er zugleich an das Dilemma, das sich hieraus für das deutsch-assimilierte jüdische Bürgertum Prags ergab. Denn wollte er die Attribute ,deutsch‘ und ,jüdisch‘ für seine Person in Einklang bringen, musste er sich zugleich über seine ethnische Herkunft und seine durch Sozialisation erworbene Muttersprache definieren, als „Jude und überdies deutsch“ (Kafka 1958: 430). Diese provisorische, unbefriedigende Strategie wandte er auch auf andere Mitglieder seines sozialen Milieus an: Seine Verlobte Julie Wohryzek z. B. beschrieb er als „[n]icht Jüdin und nicht Nicht-Jüdin, […] nicht Deutsche, nicht Nicht-Deutsche“ (Kafka 2013: 70). Angesichts solcher Notbehelfe musste Kafka das Fehlen einer ,jüdischen Sprache‘ in seiner Sprachbiografie als widersprüchliches Defizit auffassen. Es gehörte zu dem „Nichts vom Judentum“ (Kafka 1992a: 186), das er von seinem assimilierten Vater an sich selbst vermittelt sah. Dieses Judentum, so die Vorhaltung im Brief an den Vater, „vertropfte zur Gänze während Du es weitergabst“ (Kafka 1992a: 188f.). Umso mehr elektrisierte Kafka die unmittelbare Begegnung mit dem Ostjiddischen. Sein Tagebuch dokumentiert, dass er hier „eine 2 So verortete er etwa das deutschsprachige Prag „in Deutschland“, zählte das italienischsprachige Lugano (Schweiz) zu „Italien“ und teilte die Bewohner der Schweiz nach Sprachgebieten in „Deutsche, […] Franzosen u. Italiener“ ein (Kafka 1990a: 102, 956, 984). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 355 Art Teleskop der kulturellen Distanzüberbrückung“ (Müller 2007: 160) zu erkennen glaubte, zu einem Judentum, „in dem die Anfänge des meinigen ruhen und die sich zu mir hin entwickeln und dadurch in meinem schwerfälligen Judentum mich aufklären und weiterbringen werden“ (Kafka 1990a: 349). Mit der psychologischen Selbstdiagnose, die Bezeichnung Mutter habe zeitlebens die Liebe zu seiner jüdischen mame beeinträchtigt, schrieb er dem ,Jargon‘ 3 mit einem Mal mehr Intimität zu als seiner durch „christliche Kälte“ (Kafka 1990a: 102) geprägten Muttersprache. Kafkas jüdisches ,Erweckungserlebnis‘ im Café Savoy, die sich anschließende intensive Auseinandersetzung mit dem ostjiddischen Theater und dessen literarischer Niederschlag in seiner Prosa sind bereits ausführlich beschrieben worden (s. z. B. Torton Beck 1971; Massino 2007). Dass Kafka diesen Prozess nach vier Monaten wieder abbrach, wurde in der Forschung bisher vornehmlich auf die von ihm letzten Endes erkannte mangelnde literarische Qualität der dilettantisch dargebotenen, formal heterogenen Schauspiele zurückgeführt (vgl. u. a. Torton Beck 1971: 207, 215; Müller 2007: 168; Braese 2010: 254-256). Unbeachtet geblieben ist hierbei allerdings die Rolle einer rezeptiven Spracherwerbstheorie des Jiddischen, die Kafka in jenen Wochen entwickelte und praktisch umzusetzen versuchte. In einem Einleitungsvortrag über Jargon, den er am 18. Februar 1912 anlässlich eines Rezitationsabends ostjiddischer Lyrik im Prager jüdischen Rathaus hielt, versuchte Kafka, die „Angst vor dem Jargon“ zu zerstreuen, die er seinem deutsch-jüdischen Prager Publikum anzusehen meinte, und versicherte seinen Zuhörern, „wie viel mehr Jargon Sie verstehen als Sie glauben“. Abgesehen davon, dass die „äußere Verständlichkeit des Jargon von der deutschen Sprache gebildet“ werde, sei jeder Jude allein aufgrund seiner ethnischen Herkunft auch ohne Vorkenntnisse in der Lage, Jiddisch zu verstehen: „Ganz nahe kommen Sie schon an den Jargon, wenn Sie bedenken, daß in Ihnen außer Kenntnissen auch noch Kräfte tätig sind und Anknüpfungen von Kräften, welche Sie befähigen, Jargon fühlend zu verstehen“ (Kafka 1993a: 188, 192f. [Hervorhebung: B. B.]). Tatsächlich zeugen Kafkas Aktivitäten an der Jahreswende 1911/ 12 von einem intensiven Bemühen, sich das Ostjiddische anzueignen - im Unterschied zu seiner bisherigen, v. a. schulisch bestimmten Sprachlernbiografie 4 allerdings ohne Lehrwerk, Wörterbuch oder Grammatik; dergleichen, so Kafkas Überzeugung, hätten Juden nicht nötig. Stattdessen entschied er sich für eine Lernstra- 3 Mit diesem auch von Kafka (1990a: 979) verwendeten Terminus bezeichnete man das Jiddische zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. z. B. Loewe 1911: 61). 4 Neben seiner (ungesteuert und schulisch erlernten) Zweitsprache Tschechisch hatte Kafka zu dieser Zeit Kenntnisse in Altgriechisch und Latein sowie in Französisch, Italienisch und Englisch, die er (in der Schule oder durch Privatunterricht) mit den klassischen Hilfsmitteln des Fremdsprachenunterrichts erworben hatte. 356 Boris Blahak tegie, die dem ungesteuerten Erstsprachenerwerb nachempfunden war. Sie bestand in bloßem, intensivem Zuhören, wenn man will: einem rezeptiven ,Aufsaugen‘ der Sprache, begleitet von detaillierten Mitschriften des Bühnengeschehens, die in seinem Tagebuch überliefert sind. 5 Die Entwicklung dieser rezeptiven Theorie und Kafkas Spracherwerbsexperiment vollzogen sich dabei in einem besonderen Glossotop, 6 das sich im Herbst 1911 durch das zeitgleiche Aufeinandertreffen einer Anzahl deutsch-jiddischer Kontaktvarietäten bzw. ihrer Sprecher in Kafkas unmittelbarem Umfeld gebildet hatte. Diese kurzzeitige, aber folgenreiche Wechselwirkung ist bisher nicht untersucht worden. Mithilfe fehler-, kontakt- und varietätenlinguistischer Verfahren soll im Folgenden daher das formale Profil der beteiligten kontaktbedingten Varietäten skizziert, die Dependenz zwischen ihnen rekonstruiert und ihre Bedeutung für Kafkas Spracherwerbstheorie bestimmt werden. 2 Savoy, Herbst 1911: deutsch-jiddische Kontaktvarietäten in Franz Kafkas Umfeld 2.1 „er schreibt. Über wem? “ Kafkas e t h n o l e kt a l e T r a n s f e r e n z v a ri e t ä t des Deutschen Zunächst ergab sich die angesprochene „äußere Verständlichkeit“ bereits aus der engen genetischen Verwandtschaft des Jiddischen mit dem Deutschen. Sie zeigt sich in der Dominanz ostmitteldeutscher und bairischer Strukturen, v. a. im Lautstand und Formenbau. 7 Die interlinguale Verständlichkeit, die Kafka beim Sprachkontakt auffiel, galt für die deutschsprachige Bevölkerung Prags sogar in besonderem Maße; denn vor Ort war eine Stadtmundart ostmittelbairischer Prägung verbreitet (vgl. Blahak 2015: 544-548), die folglich große Überschneidungen mit dem Jiddischen aufwies. Im Fall der deutsch-assimilierten Prager Juden potenzierte sich diese sprachstrukturelle Nähe noch durch eine weitere Komponente, die Kafka in seinem Einleitungsvortrag ansprach, als er 5 Siehe Kafka (1990a: 57-69, 74, 79-83, 96, 195-198, 208f., 227-231, 265, 290f., 301-303, 319f., 349-351, 360). 6 Der auf Sprecher(gruppen) bezogene Terminus ‚Glossotop‘ beschreibt „die Gesamtheit der Regularitäten (und damit der kommunikativen Reichweiten), die den lokalen Gebrauch der sprachlichen Varietäten in einer bestimmten lebensweltlichen Gruppe […] steuern“. Er erfasst „die varietätengebundenen kommunikativen Gewohnheiten sowohl der Gruppenmitglieder untereinander als auch die zwischen Gruppenmitgliedern und eher locker verbundenen oder ganz außenstehenden Sprecher(inne)n“ (Krefeld 2004: 25f.). 7 So wurde das Jiddische in der Forschung (diachron) auch immer wieder als Varietät des Deutschen betrachtet (vgl. z. B. Bin-Nun 1973: 78f., 83; Krogh 2001: 7f.). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 357 sein deutsch-jüdisches Publikum auf eine kollektive sprachbiografische Gegebenheit hinwies: „[V]or nicht langer Zeit erschien die vertrauliche Verkehrssprache der deutschen Juden […] wie eine fernere oder nähere Vorstufe des Jargons, und Abtönungen sind noch viele geblieben“ (Kafka 1993a: 192). Diese Aussage gehört in den Kontext anderer Bemerkungen Kafkas, in welchen er andeutete, unter den Prager Juden sei ein Deutsch verbreitet, das mit ethnolektalen Relikten des im 19. Jahrhundert kollektiv aufgegebenen Westjiddischen behaftet sei, ein „Deutsch, das wir von unsern undeutschen Müttern noch im Ohre haben“ (Kafka 2005: 343). 8 Dass dieses prägnante sprachliche Bild nicht (nur) einer literarischen Selbstinszenierung entsprang, offenbart ein Blick in Kafkas Prosa-Handschriften in der Kritischen Kafka-Ausgabe; 9 denn in der hier dokumentierten Schicht seiner Autokorrekturen lassen sich zahlreiche west- und gesamtjiddische Merkmale identifizieren, von welchen im Folgenden nur diejenigen genannt seien, 10 die Kafkas Transferenzvarietät 11 des Deutschen mit dem Ostjiddischen teilte. Auf phonetischer Ebene etwa deuten die fehlerlinguistischen Indizien darauf hin, dass Kafka die Affrikata [ts] im Wortauslaut als stimmloses [s] aussprach: Gerich(s>t)sdiener (Pv.89/ 9-10), Gerichsdiener (Pv.89/ 20(1); Pe.139/ 4), je{t}(s>z)t (Sv.98/ 15), Schmu(ss>tz) (N1v.320/ 27), Existen(s>z) (N2v.525/ 17), Existens (N2e.623/ 8), nich(s>t)s (N2v.628/ 4), Fußpi[ß]{tz}en (Dv.297/ 1), Trape(s>z) (Dv.319/ 26-320/ 13,2*). Andere Varianten machen deutlich, dass er die Affrikata [pf] im Anlaut als stimmlosen labiodentalen Reibelaut [f], im In- und Auslaut dagegen als Fortis- Plosiv [p] realisierte: Bett(f A >p)fosten (Pv.247/ 22), (F>P)ferd (Vv.74/ 23), ge{p}flastert (Vv.287/ 5), emp(h>f)ohlen (Vv.318/ 17-18), [Ein blonder gef A ] […] de(s>r) blonde[n] […] gepflegte[n] Vollbarts (Vv.401/ 17-20(2)), ge(f>p){f}legten (N1v.387/ 1), Einp(ha>fä)hlen (N2v.32/ 14-15), kramp(h>fh)aft (N2v.474/ 27). 8 Zu ähnlichen Anspielungen s. Kafka (1958: 337; 2013: 72, 359). 9 Seiten-/ Zeilen-Angaben erfolgen nach Kafka (1983) (abgek. S), Kafka (1990b) (abgek. P), Kafka (1992a-b) (abgek. N2), Kafka (1993a-b) (abgek. N1), Kafka (1994/ 1996) (abgek. D) und Kafka (2002) (abgek. V). Ein ‚e‘ vor der Angabe verweist auf editorische Eingriffe, ein ‚v‘ bezeichnet Varianten Kafkas, wiedergegeben durch die Zeichen [a]: Streichung, {b}: Einfügung, (e>i): Überschreibung, c A : Ansatz. Textzitate erfolgen kursiv. 10 Angeführt werden im Folgenden nur Direktanzeigen; zu den mit diesen korrespondierenden aussagekräftigen hyperkorrekten Schreibungen s. Blahak (2015: 34, 56f.). 11 Zu diesem Varietätentyp unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit s. Földes (2005: 72). 358 Boris Blahak In beiden Fällen wurden offensichtlich jiddische Lautungsphänomene verschriftlicht (vgl. Beranek 1965: 60-63, 66f.; Weissberg 1988: 101, 107, 110; Krogh 2001: 7). 12 Weitere Auffälligkeiten lassen sich in der Morphologie von Kafkas Deutsch erkennen: vom Gericht anerk(e>a)nnt (Pv.177/ 27), da er […] die Flöhe in seinem Pelzkragen [(er>ke)nn] erkannt hat (Pv.294/ 5-7), der […] dies noch nicht erk(a>e)nnt hatte (Sv.479/ 1), man hatte […] Euer ehrliches Streben anerkennt (N1e.214/ 7-8), [dass ich bisher nicht einmal als Bett erk(enn>ann)t hatte] (N2v.287/ 24). Die Partizip-II-Bildung des Verbs kennen ohne Rückumlaut ist zwar nicht nur für das Jiddische (vgl. Beranek 1965: 224; Weissberg 1988: 144), sondern auch für die oberdeutschen Dialekte generell charakteristisch (vgl. Bruch 1953: 117). Doch lassen sich Verwechslungen der Verben kennen und können eindeutig auf das Jiddische zurückführen, denn hier steht kenen für beide Bedeutungen (vgl. Jacobs 2005: 216f.): Ich k(a>e)nne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht sehr genau (Pv.85/ 6-7), er erkannt natürlich die Verdienste an (N1e.253/ 18-19), [Nein Böhmen k([ann]>enne) {ich} allerdings nicht] (N1v.383/ 21), Wir k(o>e)nnen in dieser Hinsicht keinen Unterschied (Sv.411/ 4-5). 13 Anhand weiterer morphologischer Erscheinungen lässt sich zudem verdeutlichen, dass sich Kafka der jiddischen Relikte in seiner Primärsprache bewusst war. So neigte er dazu, in zusammengesetzten Richtungsadverbien einseitig herals zeigende Komponente zu verwenden. Da ein Einwirken des Niederdeutschen, das die Richtung zum Sprecher wie die Gegenrichtung durch die Formen her-, rbezeichnet (vgl. Niebaum 1977: 90; Stellmacher 1981: 113), auf das Deutsche in Prag ausgeschlossen ist (vgl. Kretschmer 1918: 386), lässt sich in Kafkas Normverstößen ein jiddisches Sprachrelikt identifizieren; denn das Jiddische kennt als zeigende Komponente ebenfalls nur ein Erstglied, nämlich ar-, r- (arayn ,herein, hinein‘), um Richtung wie Gegenrichtung zu bezeichnen (vgl. Lockwood 1995: 59). Auf diese primärsprachlich induzierte Schwäche in der Schriftsprache müssen Kafka spätestens die redaktionellen Eingriffe des Leipziger Kurt Wolff Verlags in seine Schriften aufmerksam gemacht haben, die - wie etwa bei der 12 Zur Diskussion der normwidrigen z- und pf-Realisierungen Kafkas s. Blahak (2015: 256-260, 267-271). 13 Dieses jiddische kenen ‚können‘ findet sich nicht zuletzt in einem Brief Kafkas an Felice Bauer: „[D]as wirst Du als Kinderfreundin besser beurteilen kennen als ich“ (Kafka 1999a: 253). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 359 Drucklegung der Verwandlung - Richtungsadverbien ausschließlich von (normwidrigem) herzu (korrektem) hinkorrigierten: Zuerst wollte er mit dem unter{e}n Teil seines Körpers aus dem Bett (herauskommen>hinauskommen) (Dv.121/ 19-20), sie […] trug ihn (heraus>hinaus) (Dv.147/ 2-4), schob die Schwester […] irgendeine beliebige Speise i(ns>n) Gregors Zimmer (herein>hinein) (Dv.177/ 14-15), um sie […] mit einem Schwenken des Besens (herauszukehren>hinauszukehren) (Dv.177/ 15-18), die Tür ein wenig zu öffnen und zu Gregor (hereinzuschaun>hineinzuschauen) (Dv.179/ 16), in dieses Zimmer [zu werfen] (hereinzustellen>hineinzustellen) (Dv.180/ 20-21), So wie die Speisen hereinkamen, sind sie wieder (herausgekommen>hinausgekommen) (Dv.195/ 17-18), trat [die Familie] {Herr} Samsa […] auf den Vorplatz (heraus>hinaus) (Dv.197/ 17-18). 14 Da niederdeutsche Einflüsse ausgeschlossen sind, kann auch Dativ-Flexiven bei maskulinen Interrogativpronomen im Akkusativ Sg. nur das jiddische vem(en) (es vertritt dt. ,wem‘ und ,wen‘) zugrunde liegen (vgl. Lockwood 1995: 65): K. verstand nicht genau we(m>n) er meinte (Pv.273/ 26-27), we(m>n) begrüßt Ihr(,>? ) (Sv.313/ 24), we(m>n) es betreffe (Sv.318/ 3-4), We(m>n) suchst Du? (Sv.366/ 21), An we(m>n) sollen wir denn denken? (Sv.381/ 19), um we(m>n) es sich handelt (Vv.28/ 20), We(m>n) kennst Du? (Vv.319/ 19), We(n>m) kann man sonst anrufen (N2v.441/ 13), We(m>n) besuchst Du (N2v.526/ 21-22), we(m>n) nicht (sein>der) eigene Verstand dazu führt (N2v.553/ 23-554/ 1), an we(m>n) er gerichtet ist (N2v.557/ 14-15). 15 Ein ,Bekenntnis‘ zu dieser jiddischen Pronominalform hinterließ Kafka 1921 in verschlüsselter Form in einem Brief an Max Brod; in diesem gab er Sprachproben aus Karl Kraus’ Satire Literatur oder Man wird doch da sehn (1921) wieder, die das Deutsche mit jiddischer Tönung angeblich trefflich illustrierten. Es spricht Bände, dass Kafka ausgerechnet das Zitat „,er schreibt. Über wem? ‘“ (Kafka 1958: 337) - und so beiläufig ein Merkmal seines eigenen Deutsch - unter die ausgewählten Beispiele einreihte. Die hier beschriebenen ethnolektalen Merkmale stellen gruppenspezifische Relikte des Jiddischen dar, die in der Erstsprache deutsch-jüdischer Kreise Prags zu Kafkas Lebzeiten offenbar noch lebendig waren. Sie dokumentieren das letzte Stadium eines kollektiven Sprachwechsels, bei dem eine ursprüngliche Hauptsprache vollständig durch eine andere ersetzt wurde, in dieser jedoch Spu- 14 Zur Diskussion der Richtungsadverbien in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2015: 469-479). 15 Zur Diskussion der Interrogativpronomen in Kafkas Prosa-Handschriften s. Blahak (2015: 439-441). 360 Boris Blahak ren hinterließ. 16 Angesichts der demografischen Entwicklung Böhmens überrascht dieser Befund nicht: Im Jahrzehnt vor Hermann Kafkas Zuzug (1880) war die Prager jüdische Gemeinde um 31,4 % gewachsen (vgl. Cohen 1981: 78). Die Neubürger stammten v. a. aus tschechischen Landgemeinden (vgl. Kestenberg- Gladstein 1969), einem Milieu, in dem deutsch, tschechisch und wohl auch noch jiddisch gesprochen worden war. So dürften viele Prager Juden der Generation Hermann Kafkas eine vergleichbare sprachliche Sozialisierung durchlaufen haben, die über die innerfamiliäre Kommunikation auf ihre Kinder nachwirken konnte. 17 Angesichts seiner schriftstellerischen Ambitionen muss das Wissen um die ethnolektale Prägung seiner Primärsprache bei Kafka zwar immer wieder Befürchtungen ausgelöst haben, das antisemitische Verdikt des ,latenten Mauschelns‘ 18 womöglich in seiner Prosa zu bestätigen und damit - v. a. für die umworbene reichsdeutsche Leserschaft - ,unlesbar‘ zu sein. 19 Unter dem Eindruck des ostjiddischen Theaters konnte dieses Wissen im Herbst 1911 aber auch Hoffnungen nähren, sprachstrukturelle Anknüpfungspunkte für eine Wiederaneignung der aufgegebenen Gruppensprache Jiddisch bereits in sich zu tragen - jene „Anknüpfungen von Kräften“, die er in seinem Einleitungsvortrag ansprach. 2.2 Das ,Unten-Mitklingen‘ des ,Jargons‘: Löwys I n t e ri m s v a ri e t ä t des Deutschen Mit Blick auf seine Situation muss Kafka bereits bei seinem ersten Theaterbesuch im Café Savoy eine literarische jüdische Figur aufgefallen sein, der es trotz eines Sprachwechsels zum Deutschen nicht gelingt, das Jiddische vollends abzulegen: Der skrupellose Konvertit Seidemann in Josef Latejners Der meschumed bemüht sich seit 20 Jahren „den Jargon zu vergessen, der freilich ohne Absicht in seiner Rede unten mitklingt“ (Kafka 1990a: 61). In diesem Haftenbleiben von Jargonrelikten dürfte Kafka ein verbindendes Element zu den Lemberger Schauspielern erkannt haben, das bei diesen im Vergleich zu ihm selbst noch wesentlich ausgeprägter auftrat. Denn Jizchak Löwy, seine Hauptbezugsperson, sprach 16 Vergleiche die Begriffsbestimmung von ‚Ethnolekt‘ bei Clyne (2000: 86). 17 Auch die Prager Schulstatistik weist auf ein deutsch-jüdisches Milieu mit gemeinsamem soziolinguistischem Hintergrund hin: Bei Kafkas Einschulung (1889) betrug der Anteil jüdischer Kinder in seiner 1. Klasse 67 %; bei seinem Übertritt ans Gymnasium (1893/ 94) waren 76 % der Primaner deutsch deklarierte Juden, ein Anteil, der bis auf 83 % (1898/ 99) zunahm (vgl. Stöhr 2010: 431-441). 18 Zu den judenfeindlichen Sprachkonzepten im frühen 20. Jahrhundert s. Kremer (2007). Mit ‚Mauscheldeutsch‘ wurden um 1900 Varietäten des Deutschen mit jiddischen Anklängen oder auf jiddischem Substrat bezeichnet (vgl. Althaus 2002: 293). 19 Zu diesen Bedenken Kafkas s. im Detail Blahak (2017). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 361 zwar deutsch, doch handelte es sich laut Kafka um eine Varietät, die „zwischen Jiddisch und Deutsch schwankt[e]“ (Kafka 2005: 336). Am Deutsch der Schauspielerin Mania Tschissik fielen Kafka die „großen aber natürlichen Vokale ihrer Aussprache“ (Kafka 1990a: 232) auf, und auch in Löwys Prosodie stellte er „Tempelmelodien im Tonfall“ fest, die dieser „von Finger zu Finger wie über verschiedene Register“ (Kafka 1990a: 90f.) führe. Nicht zuletzt streuten die Lemberger jiddische Lexik in ihr Deutsch ein, Tschissik etwa „parnusse“ (Kafka 1990a: 238), 20 Löwy „bocher“ (Kafka 1990a: 100) und „trefe“ (Kafka 1993a: 425) 21 - eine sprachliche Praxis, die Kafka sogar aus seinem eigenen Prager Umfeld kannte: Sein Vater z. B. beschimpfte Max Brod als „,meschuggenen ritoch‘“ (Kafka 1990a: 214), 22 seine Tochter Elli als „,breite Mad‘“ (Kafka 1992a: 163), 23 und Julie Wohryzek verwendete sogar laufend die „frechsten Jargonausdrücke“ (Kafka 2013: 71). Einen Eindruck von der Interimsvarietät des Deutschen mit jiddischen Anteilen, mit der es Kafka in jenen Wochen zu tun hatte, vermitteln Auszüge aus zwei Briefen Löwys von 1912 und 1913, die sich als Abschriften in Kafkas Korrespondenz erhalten haben. In einem heißt es: „Gott ist groß, wenn er gebt, so gebt er von alle Seiten“ (Kafka 1999b: 161), im anderen: „Von Alexander Platz ziht sich eine lange, nicht belebt Straße, Prenzloer Straße, Prenzloer Allee. Welche hat viele Seitengäßchen. Eins von diese Gäßchen ist das Immanuel. Kirchstraß. Still, abgelegen, weit von den immer roschenden Berlin. Das Gäßchen beginnt mit eine gewenliche Kirche. Wi sa wi steht das Haus Nr 37 ganz schmall und hoch. Das Gäßchen ist auch ganz schmall. Wenn ich dort bin, ist immer ruhig, still und ich frage ist, das noch Berlin? “ (Kafka 1999a: 213). Eine weitere Schriftprobe Löwys aus einem 1913 an Kafka adressierten Brief überlieferte Max Brod in seiner Kafka-Biografie: Denken Sie, wie tief gesunken ich bin, das sogar mit Ihnen habe ich das verbindung aufgehoben […]. Und wie fehlen mir Ihre Briefe? ! Von allen bin ich schon längst abgerüssen, keine Freunde mehr, keine Eltern, kein Familie […] und den liebsten von allen, den Dr. Kafka auch verloren […]. Auf diesen Verlust habe ich nie geahnt […]. Sie waren doch der Einziger was war so gutt zu mir […] der einzige was hat zu meiner Seele gesprochen, der einzige was hat mich halbe Wegs verstanden. Und Ihnen mußte ich leider auch verlieren […]. Sie dürfen leider an mich nicht schreiben. Sie dürfen nicht sein gut zu mir. Ich bitte halten Sie mich nicht für „Wahnsinnig“, ich bin normal kalt wie der Todt. […] Was habe ich zu erwarten? Noch ein Morfiumeinspritzung […] (Brod 1954: 140). 20 Jiddisch parnoße ‚Lebensunterhalt, Verdienst‘ (vgl. Lötzsch 1990: 141). 21 Jiddisch bocher ‚Junggeselle, Bursche‘, trejfe ‚nicht koschere Speise‘ (vgl. Lötzsch 1990: 51, 172). 22 Jiddisch meschugn ‚verrückt‘, ritoch ‚Hitzkopf‘ (vgl. Brod 1951: 700). 23 Jiddisch mad, maud ‚Mädchen, Magd, Jungfer‘ (vgl. Wolf 1962: 141). 362 Boris Blahak Eine fehlerlinguistische Analyse fördert zahlreiche Transferenzen aus Löwys Primärsprache zutage: Auf lautlicher Ebene finden sich Reflexe des Jiddischen etwa in der Apokopierung der auf -e auslautenden Substantive (vgl. Beranek 1957: 1968; Krogh 2001: 8) (Kirchstraß) und der Entrundung der mhd. gerundeten Umlaute (vgl. Beranek 1957: 1965; Bin-Nun 1973: 256) in Form von Direktanzeige 24 (gewenliche) und hyperkorrekter Schreibung 25 (abgerüssen). Daneben lassen sich Fälle normwidriger Silbenschärfung ausmachen, markiert durch den Ausfall eines Längenzeichens (ziht sich) oder Konsonanten-Doppelung (schmall, gutt), zurückführbar auf das Fehlen distinktiver Vokallängen im Ostjiddischen, das (bis auf wenige positionsbedingte Ausnahmen) nur kurze bzw. halblange Vokale kennt (vgl. Weissberg 1988: 85; Krogh 2001: 23f.). In der Morphologie macht sich Löwys Erstsprache u. a. in der Form der Artikelwörter bemerkbar: So lässt sich das Fehlen des Artikels an der Textstelle Von Alexander Platz darauf zurückführen, dass der unbetonte Definitartikel dem im Jiddischen nach Präpositionen, die auf -n enden, einer enklitischen Totalassimilation unterliegt (jidd. fun + dem > funem > fun) (vgl. Jacobs 2005: 174). Da das jiddische Negationswort kejn in allen Genera, Kasus und Numeri unflektiert auftritt (vgl. Lötzsch 1990: 198), lässt sich der Ausfall des Kasusmorphems an der Textstelle kein Familie ebenfalls als Jiddisch-Direktanzeige einstufen. ,Defekte‘ Kasusmorpheme bei femininen Indefinitartikeln im Dativ/ Akkusativ Sg. (mit eine gewenliche Kirche, ein Morfiumeinspritzung) dürften hingegen als Ergebnis einer Kontrastverschiebung 26 auf den femininen Sg.-Einheitsartikel a zurückgehen, der im Ostjiddischen in allen Kasus steht (vgl. Lötzsch 1990: 198). Denn offenbar erkannte Löwy den Kontrast a - eine/ r nicht richtig und ging fälschlich von einem Kontrast a - ein/ e aus (vgl. Blahak 2015: 345). Im Weiteren lässt sich der Ausfall eines nicht referenziellen es (ist › ‹ 27 immer ruhig) durch eine enklitische Totalassimilation des zu s verkürzten Pronomens (jidd. is + s > is-s > is) (vgl. Jacobs 2005: 190) erklären, während das Relativpronomen was auf die unflektierbare Partikel woß zurückgeht, mit der im Jiddischen Relativsätze eingeleitet werden (vgl. Krogh 2001: 46): der Einziger was war 24 Durch Kontrastnivellierung, d. h. das Ignorieren des Kontrastes zwischen Erst- und Fremdsprache, kommt es zur Verwendung der erstsprachlichen Form im fremdsprachlichen Text (vgl. Kalau 1984: 43). 25 Zu dieser Form von Kontrastübertreibung führt die Annahme eines Kontrastes zwischen Erst- und Fremdsprache, obwohl tatsächlich keiner vorliegt. Eine bekannte kontrastive Regel wird auf einen Bereich übertragen, für den sie keine Gültigkeit hat (vgl. Kalau 1984: 44). 26 Zu dieser kommt es aufgrund mangelnder Kenntnis des tatsächlich bestehenden Kontrasts, wobei weder die erstsprachliche noch die fremdsprachliche Form verwendet wird (vgl. Kalau 1984: 44). 27 Fehlende obligatorische Textbestandteile werden im Folgenden durch nach außen gekehrte Winkelklammern (› ‹) gekennzeichnet. Deutsch und Jiddisch im Kontakt 363 so gutt zu mir […] was hat mich halbe Wegs verstanden. Schließlich hat sich auch in der Adjektivflexion immer wieder der jiddische Hintergrund des Schreibenden durchgesetzt: Das Flexiv -er im Nominativ Maskulinum Sg. nach Definitartikel (der Einziger) entspricht jiddischer Formenbildung ebenso wie das Dativ-Pluralsuffix -e bei Feminina (von alle Seiten), das im Jiddischen in allen Genera und Kasus auftritt (vgl. Birnbaum 1979: 241). Auffällig sind nicht zuletzt syntaktische Muster des Jiddischen, etwa der Nullrahmen, bei dem beide Prädikatsteile unmittelbar nebeneinanderstehen (vgl. Weissberg 1988: 152): Sie dürfen nicht sein gut zu mir, oder die Zweitstellung des Verbs in Nebensätzen, die im Jiddischen für alle Satztypen gilt (vgl. Jacobs 2005: 232): das sogar mit Ihnen habe ich das verbindung aufgehoben, Prenzloer Allee. Welche hat viele Seitengäßchen etc. Dass das von Löwy gesprochene Deutsch dem Jiddischen sprachstrukturell noch nähergestanden haben muss als die von ihm verschriftlichte Interimsvarietät, liegt auf der Hand. Aufgrund der interlingualen Verständlichkeit dürfte Kafka die regelmäßige Kommunikation mit den Lembergern latent eine ,sprachpraktische‘ Vertiefung seiner rezeptiven Jiddisch-Kenntnisse suggeriert haben. Kafka hörte Löwy gewissermaßen zugleich jiddisch und deutsch sprechen, wiederholt auftretende Merkmale seiner Zielsprache prägten sich ihm ein und schienen seine jüdische Spracherwerbstheorie zu bestätigen. 2.3 ,Dajtschmerisches‘ Bühnenjiddisch: Goldfadens lit e r a ri s c h e V a ri e t ä t des Jiddischen Schließlich unterschied sich die Literatursprache, die Kafka auf der improvisierten Bühne des Café Savoy zu hören bekam, beträchtlich vom authentischen zeitgenössischen Ostjiddisch. Darauf hat erstmals Kazuo Ueda hingewiesen, der dem Desiderat einer lesbaren Textedition der von Kafka gesehenen Schauspiele in den 1990er Jahren Rechnung trug, indem er die im Tagebuch vermerkten Bühnenstücke zusammentrug, in lateinische Schrift transkribierte und veröffentlichte. Hierbei gewann er den Eindruck, die von Kafka gehörte Sprache sei „anders als das übliche Ostjiddische, dem Deutschen ziemlich nahe“ und „mit ,Dajtschmerismus‘ tief verwoben.“ 28 Und in der Tat finden sich auf allen sprachlichen Ebenen der Spieltexte konzeptionell eingeführte Germanismen. Awrom Goldfaden räumte im Vorwort zu seinem von Kafka am 13. Oktober 1911 besuchten Schauspiel Schulamiss oder Bass-Jeruscholajim (Goldfaden 1886) sogar selbst ein, „,schechotossi‘ mit di etliche dajtsche werter woss warfen sich 28 Der jiddische Terminus ‚dajtschmerisch‘ (,zu sehr wie im Deutschen‘) wurde in kritischer Absicht geprägt, um Bestrebungen, Germanismen ins Jiddische aufzunehmen, zu bezeichnen (vgl. Ueda 1992: XII). 364 Boris Blahak durch in dem ssejfer beschojgeg“ (Goldfaden 1992: 2) („dass ich ,gesündigt habe‘ mit einigen deutschen Wörtern, die sich in das Buch unversehens eingefügt haben“; Übersetzung n. Ueda 1992: XIVf.). Dass dieses unter ostjiddischen Autoren verbreitete Verfahren das Ziel verfolgte, das Jiddische durch Annäherung an die Prestigesprache Deutsch stilistisch zu ,veredeln‘, bestätigte nicht zuletzt Löwy, der das literarische Ergebnis als „deutsch-jiddisch zwar, aber doch jiddisch, ein besseres, schöneres Jiddisch“ (Kafka 1993a: 435) bewertete. Unterzieht man den Dramentext von Schulamiss einer varietätenlinguistischen Analyse, so lassen sich in ihm zahlreiche für das Ostjiddische untypische Merkmale des Deutschen nachweisen. Im Bereich der Lexik wurde Wortgut hebräisch-aramäischer, aber auch slawischer und romanischer Herkunft durch deutsche Äquivalente ersetzt: Berojscht 29 (GS: 30 14), Ess segent 31 (GS: 52), ferwirt 32 (GS: 36), prisster 33 (GS: 33), thir 34 (GS: 42), tugend 35 (GS: 46), verurthejlter 36 (GS: 49), werend 37 (GS: 34), wirklich 38 (GS: 29), wisste 39 (GS: 6), zoiber 40 (GS: 12). Daneben passte Goldfaden die phonetische Gestalt zahlreicher Wörter an das Deutsche an. So erscheint jidd. ej regelmäßig monophthongiert als langes e bzw. ‹e›, ‹ee›, ‹eh› im Text: „gehen“ (GS: 13), „scheh[n]“ (GS: 15), „schtehn“ (GS: 61), „seelin“ (GS: 45), „sehr“ (GS: 33), „Weh“ (GS: 56), „wenig“ (GS: 61). 41 Anderenorts wurde die für das Jiddische charakteristische e-Apokope bei Substantiven zugunsten standarddeutscher Lautung aufgehoben: Jidd. kaz, schpiz, schtim, schtrof und sind ,Sünde‘ (vgl. Lötzsch 1990: 100, 158, 160, 163; Wolf 1962: 164, 179) begegnen demgemäß als „kaze“ (GS: 18), „schpize“ (GS: 23), „schtime“ (GS: 56), „schtrafe“ (GS: 44) und „sinde“ (GS: 46). Weitere Adaptionen im Bereich des Vokalismus betreffen jidd. a (> dt. e) und u (> dt. o), sodass es „herz“ (GS: 18), „herzen“ (GS: 64) statt harz, harzen (vgl. Lötzsch 1990: 86) und „sonder- 29 ,berauscht‘, jidd. schiker (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 154). 30 Im Folgenden wird GS als Abkürzung für Goldfaden (1992) verwendet. 31 ,segnen‘, jidd. benschen (rom.) (vgl. Lötzsch 1990: 49). 32 ,verwirren‘, jidd. plontern (slaw.) (vgl. Lötzsch 1990: 144). 33 ,Priester‘, jidd. galech (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 78). 34 ,Tier‘, jidd. chaje (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 54). 35 ,Tugend‘, jidd. znieß (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 186). 36 ,verurteilen‘, jidd. farmischpetn (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 70). 37 ,während‘, jidd. bejß, beschaß (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 48f.). 38 ,wirklich‘, jidd. beemeß (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 48). 39 ,Wüste‘, jidd. midber, midborjeß (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 120). 40 ,Zauber‘, jidd. kischef (hebr.) (vgl. Lötzsch 1990: 102). 41 Jiddisch gejn, schejn, schtejn, sejl, sejer, wej, wejnik (vgl. Lötzsch 1990: 79, 153, 158, 161, 179; Wolf 1962: 163). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 365 bar“ (GS: 8) statt sunderbar (vgl. Wolf 1962: 165) heißt. In „pfajlin“ 42 (GS: 45) und „empfangen“ 43 (GS: 26) schließlich wurde die dem Jiddischen fremde Affrikata [pf] 44 verschriftlicht. Auch in der Morphologie von Goldfadens Bühnenjiddisch lassen sich ,Dajtschmerismen‘ identifizieren: Unter den Substantiven finden sich etwa Pluralformen nach deutschem Muster, so z. B. „lorberkranze“ (GS: 32) statt jidd. -krenz (vgl. Makosz 2007: 326). Diminution erfolgt fallweise mit dem deutschen Suffix -chen, statt mit jiddischem -l (vgl. Jacobs 2005: 162f.), sodass jidd. mejdl (vgl. Lötzsch 1990: 117) in Schulamiss in der Form „mejdchen“ (GS: 12), „mejdchin“ (GS: 46) oder „medchin“ (GS: 44) auftritt. Weiter wurden die jiddischen Verbalpräfixe ba-, der-, far-, zesowie das Negationspräfix uman die deutschen Äquivalente be-, er-, ver-, zer- und unangeglichen; Beispiele hierfür sind u. a.: begajsstert (GS: 14), beglikt (GS: 62), beschtroft (GS: 54), bestimt (GS: 28), betribt (GS: 49), 45 erfilt (GS: 13), erfrischin (GS: 54), erklehren (GS: 39), erschreken (GS: 57), erwartet (GS: 28), 46 ferkojfen (GS: 40), ferlejgen (GS: 34), ferlieren (GS: 31), ferlofin (GS: 45), fertrinken (GS: 11), 47 zerschtrejen (GS: 57), 48 unglikliche (GS: 48), unschuldig (GS: 31). 49 Im Bereich der Verbalflexion gehört das Flexionsmorphem -e in der 1. Person Sg. - „Ich blonse“ (GS: 7) - zu den Kennzeichen des Deutschen, im Jiddischen bliebe das Verb endungslos (ich blons) (vgl. Lötzsch 1990: 200); und auch Partizip-II-Formen wie „bekannt“ (GS: 15) und „unbekant“ (GS: 13) weichen vom jiddischen Flexionsparadigma ab, das den Rückumlaut nicht durchführt (bakent, unbakent). Daneben lässt sich in der Syntax des Schauspieltexts ein Einfluss deutscher Satzstrukturen ausmachen: Reflexive Verben haben im Jiddischen unter slawischem Einfluss ihre Form vereinheitlicht, sodass das Pronomen sich in allen Personen erscheint (vgl. Weissberg 1988: 147). Bei Goldfaden finden sich allerdings zahlreiche Belege für die rückbezüglichen Pronomen mir, mich, dich und euch, z. B.: Ich ken ess mir nit erklehrin (GS: 28), ich hob mich gerangelt (GS: 13), ich los mich arop (GS: 14), Ich ker mich um (GS: 16), as ich dermohn mich 42 ,Pfeile‘, jidd. fajln (vgl. Lötzsch 1990: 65). 43 ,empfangen‘, jidd. ufnemen (vgl. Lötzsch 1990: 147). 44 Sie wird jidd. im Anlaut als f, im In- und Auslaut als pp realisiert (vgl. Beranek 1965: 60-63; Krogh 2001: 7). 45 Jiddisch bagajstert, baglikt, baschtrofn, baschtimt, batribt (vgl. Makosz 2007: 268, 271f.). 46 Jiddisch derfiln, derfrischn, derklern, derschrekn, derwartn (vgl. Makosz 2007: 286). 47 Jiddisch farkojfn, farlejgn, farlirn, farlojfn, fartrinkn (vgl. Lötzsch 1990: 66, 69f., 73). 48 Jiddisch zeschtrejn (vgl. Lötzsch 1990: 183, 185). 49 Jiddisch umgliklech, umschuldik (vgl. Makosz 2007: 382). 366 Boris Blahak (GS: 42), Sez dich mit uns do derwajl ojssrihen (GS: 53), Derwajl ruh dich ojss (GS: 54), Hit ajch (GS: 37), entschliesst ajch (GS: 31). Auch den für die jiddische Syntax charakteristischen Nullrahmen vermied Goldfaden immer wieder zugunsten des im Deutschen üblichen Vollrahmens: wen er hot in der wisste kejn trinken gehat (GS: 7), ess sol chotsch far ire ojgen nischt dergehn (GS: 7), hosstu mir dem kwal wasser zugeschikt (GS: 12), hot dir fiel recht ojf majn dankbar harz gegebin (GS: 15), wi ich bin mit majn knecht ojf dem weg gewen (GS: 46), er sol si kennen fun dem meschuggass ojsshejlin (GS: 53). Weitere Auffälligkeiten erkennt man bei der Wortfolge von Infinitivgruppen: Im Jiddischen erfolgt die Stellung des Infinitivs normalerweise „nach linearem Grundsatz am Anfang der Gruppe“ (Weissberg 1988: 155), im Deutschen dagegen - und so auch in Schulamiss - nach rekursivem Grundsatz am Ende: um di wahre dankbarkajt in liebe zu erhitzen (GS: 15), Kejn man wet nit wagen majn hand zu bejtin (GS: 30), wer ken doss glik hoben ejbig zu sajn (GS: 31), Her ojf mit dajne werter majn ferwundet harz zuschpaltin (GS: 45), ich […] hob mich gilosst kejn Jeruscholajim ahejm zu gehen (GS: 46), Ich schem sich poschet jetzt ojf di berg arojfzugehn (GS: 57). 2.4 Verstanden, geraten, gefehlt: Kafkas L e r n e r v a ri e t ä t des Jiddischen Über Kafkas tatsächliche Jiddisch-Kompetenz hat es in der Forschung zwar immer wieder Spekulationen gegeben (z. B. Wagenbach 1958: 209; Nekula 2016: 86), Untersuchungen wurden bislang allerdings nicht vorgelegt. Dabei erlauben Kafkas Handlungsparaphrasen zu den von ihm besuchten Theaterstücken durchaus präzisere Rückschlüsse auf seine Fähigkeit, Jiddisch zu verstehen. Als geeignetste Grundlage eines Versuchs, Kafkas rezeptive Lernervarietät des Jiddischen auf Basis seiner Tagebuchnotizen zu rekonstruieren, bietet sich erneut Goldfadens Schulamiss an; denn im Zuge seiner Mitschrift notierte sich Kafka (in deutscher Übersetzung) eine Anzahl von Direktzitaten des Gehörten, die mit dem Original verglichen werden können. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Textstellen, die keine Hebraismen enthalten, wurden von Kafka weitgehend fehlerfrei und getreu dem Originaltext auf Deutsch wiedergegeben. Deutsch und Jiddisch im Kontakt 367 Goldfaden × Kafka majn tajere, majn liebsste, / majn schejner briliant, gefunen in der wisste! (GS: 20) „meine Teuere, meine Liebst, mein Brillant gefunden in der Wüste“ (KT: 50 79) messig dajn gewejn! (GS: 47) „Mäßige Dein Gewein“. (KT: 80) Her ojf mit dajne werter majn ferwundet harz zuschpaltin! (GS: 45) „Hör auf mit Dein Wort mir mein Herz zu spalten“. (KT: 80f.) Doss iberige wel ich dir schpeter derzejlen (GS: 61) „Das übrige Vater werde ich Dir schon später erzählen“. (KT: 81) Gelegentlich lassen sich deutlichere Abweichungen in der Formulierung feststellen, die aber nicht sinnentstellend wirken und Kafkas prinzipielles Verständnis belegen: Goldfaden × Kafka majn wilen is a fesstung, majn harz mach ich zum ajsen! (GS: 30) „Mein Wille ist von Eisen, mein Herz mach ich zur Festung“. (KT: 80) fun judische heldin der schtarksste mann! (GS: 31) „ich bin der stärkste jüdische Held“ (KT: 80) Weh is zu majn lebin! (GS: 56) „Wehe o meine alten Jahre“. (KT: 81) Hier ist anzumerken, dass Kafka seine Handlungsprotokolle nicht unmittelbar im Zuschauerraum, sondern in einem gewissen zeitlichen Abstand ins Tagebuch eintrug, in der Regel (so auch im Falle von Schulamiss) erst am Tag nach der Aufführung (vgl. Kafka 1990a: 57, 79, 96, 195, 225, 301, 319, 349). Aufgrund der bisher konstatierten hohen Übereinstimmung zwischen dem Original und seiner Wiedergabe, deren genauer Wortlaut kaum eine Nacht lang im Gedächtnis behalten werden konnte, müssen Direktzitate aus den Spieltexten bereits im Café Savoy auf behelfsmäßigen Schriftträgern (Notizzettel, Programme o. Ä.) notiert worden sein und wurden erst am folgenden Tag ins Tagebuch geschrieben. Dieses Vorgehen lässt sich auch anhand der Tatsache belegen, dass Kafka die Reihenfolge einiger Zitate aus Schulamiss durcheinanderbrachte und diese (offenbar im Nachhinein) den falschen Handlungsabschnitten zuordnete. 51 50 KT wird im Folgenden als Abkürzung für Kafka (1990a) verwendet. 51 So ordnete er das Zitat „,Hör auf mit Dein Wort mir mein Herz zu spalten‘“ (Kafka 1990a: 80f.) irrtümlich der Klage Awigails über das Geständnis ihres Mannes zu, sein Herz sei seit Langem Sulamit versprochen. Es stammt jedoch aus Awigails Klage über den Tod ihres Kindes, die einem früheren Handlungsabschnitt von Goldfaden (1992: 45) angehört. 368 Boris Blahak Wo Kafka versuchte, grammatische Formen des Jiddischen zu reproduzieren, es also auch produktiv zu verwenden, gelang ihm dies allerdings nicht: Goldfaden × Kafka ich bejt dich, du grojsser schtarker got (GS: 7) „ich bet Dir großer starker Gott“ (KT: 79) Weiter ist auffällig, dass Kafka Hebraismen nicht ins Deutsche übertrug, sondern sie - soweit (akustisch) identifiziert - unverändert in seine deutschen Zitate integrierte: Goldfaden × Kafka Fiel menschen gehn kejn Jeruscholajim, kumen zurik bescholem (GS: 28) „Viele Menschen gehen nach Jeruscholajim und kommen beschulim“. (KT: 80) Un efscher is beemess ojf jener ojch a rachmoness? (GS: 50) Auch Sulamit verdient Rachmones. (KT: 81) Dieser Befund legt den Schluss nahe, dass diese Zitierweise maßgeblich durch die Unkenntnis der Hebraismen motiviert wurde. Dass sich Kafka ostjiddische Lexik auch notierte, weil er die Sprache eben nicht problemlos verstehen konnte, belegen explizite (gemäß Kafkas ,Publikumsinstruktionen‘ für Juden ja an sich überflüssige) Übersetzungen einzelner Wörter, die er im Gespräch mit den Lembergern oder von galizischen Flüchtlingen in Prag aufgeschnappt hatte, deren Bedeutung ihm aber zunächst unklar blieb: „Schmatten (Hadern)“ (Kafka 1990a: 699) 52 und „Belfer (Hilfslehrer)“ (Kafka 1990a: 316). 53 Wenn selbst jiddische Wörter slawischer oder sogar deutscher Herkunft schriftliche Verständnisstützen erforderten, dann muss dies umso mehr für Hebraismen gegolten haben, denn vor 1917 kann von Hebräisch-Kenntnissen Kafkas kaum die Rede sein. In Kafkas Jugendjahren bestand die Prager jüdische Gemeinde bereits überwiegend aus ,Vier-Tage-Juden‘, die ihren Glauben nur noch an den drei höchsten religiösen Festtagen und am Geburtstag des Kaisers ausübten. Zu ihnen gehörte auch Hermann Kafka (vgl. Kafka 1992a: 186). Wie viele religiöse Traditionen waren auch die unter älteren gebildeten Juden noch verbreiteten Hebräisch-Kenntnisse inzwischen weitgehend geschwunden (vgl. Binder 1979: 216f.). Vor diesem Hintergrund war auch Kafkas Bar Mizwa nur auf eine „lächerlich[e] Prüfungsleistung“ (Kafka 1992a: 187) hinausgelaufen: Mit 13 Jahren musste er „im Tempel ein mühselig eingelerntes Stück vorbeten, […] dann zuhause eine 52 Jiddisch schmate (poln.) ‚Fetzen, Lappen‘ (vgl. Lötzsch 1990: 155). 53 Jiddisch bahelfer, belfer ‚Helfer des Schullehrers‘ (vgl. Wolf 1962: 94). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 369 kleine (auch eingelernte) Rede halten“ (Kafka 2013: 301). Nach Max Brods Jugenderinnerungen folgte die Hebräisch-Unterweisung, die im Religionsunterricht an Prager Schulen üblich war, einem pädagogisch zweifelhaften Verfahren, das kaum zu nennenswerten Lernerfolgen führte: Acht Jahre hin, wöchentlich zwei Stunden, wurden ausgewählte Stücke aus der hebräischen Bibel gelesen, aber so, daß erfolgreich jedes Verständnis der einzelnen Worte und Satzteile verhindert wurde. […] Die zerrende Langeweile […] machte uns den Gegenstand, obwohl er an sich nicht allzu viel Mühe verlangte (von der des Buchstabierens der hebräischen Zeichen etwa abgesehen), zu einem der verhaßtesten (Brod 1952: 90f.). So lässt sich mit Blick auf die (fehlenden) Hebraismen in den beiden obigen Zitaten Kafkas aus Schulamiss Folgendes festhalten: Während das Verständnis von Jeruscholajim wohl nicht zur Debatte steht, muss bezweifelt werden, dass Kafka bescholem ,in Frieden‘ (vgl. Lötzsch 1990: 50) wirklich verstand; denn durch die Auslassung von zurik veränderte bzw. entstellte er die jiddische Redensart (,Viele Menschen gehen nach Jerusalem und kommen › ‹ [wohin? ] in Frieden‘), deren übertragene Bedeutung 54 er offenbar nicht kannte. 55 Beim zweiten der beiden Zitate fällt auf, dass Kafka zwar das hebräische rachmanut in der gehörten jiddischen Form 56 niederschrieb, die beiden anderen Hebraismen des Satzes - efscher ,etwa, vielleicht‘ (vgl. Lötzsch 1990: 63) und beemess ,wirklich‘ (vgl. Lötzsch 1990: 48) - dagegen ausließ. Auch die Wiedergabe des Fragesatzes als Aussagesatz, wohl durch die jiddische Verbzweitstellung provoziert, spricht für ein partielles Missverstehen. Eindeutig lässt sich ein solches anhand zweier weiterer Zitate aufdecken: Goldfaden × Kafka Lejder is emess, woss ich sog. (GS: 46) „Leider ist alles Eines, was ich sage“. (KT: 81) Er, der fajner, sol mir untraj weren? (GS: 28) „Er der Feiner will mir untreu werden! “ (KT: 80) Kafkas Reproduktion von emeß ,Wahrheit‘ (vgl. Lötzsch 1990: 64) als „alles Eines“ macht deutlich, dass er das hebräisch-jiddische Wort nicht kannte, sich deshalb auf Grundlage des vermeintlichen Sinnzusammenhangs und phonetischer Assonanz aufs Raten verlegte - und sich dabei irrte. Im zweiten der beiden Zitate gab Kafka das jiddische Modalverb solen im Deutschen als wollen 54 ,Sie kommen als ganze Menschen wieder‘ (vgl. Koch u. a. 1990: 32). 55 Seine mangelnde Vertrautheit mit jiddischer Phraseologie zeigte Kafka auch, als er die Redensart „toire is die beste schoire“ mit „die Thora ist die beste Ware“ (Kafka 1990a: 282) (eigentlich ‚Wissen ist die beste Investition‘) übersetzte (vgl. Nekula 2007: 113). 56 Jiddisch rachmoneß (hebr.) ‚Mitleid, Barmerzigkeit‘ (vgl. Lötzsch 1990: 147). 370 Boris Blahak wieder - und beging auch hier einen Fehler, denn jidd. er sol entspricht im Deutschen ,er soll, sollte‘ (vgl. Birnbaum 1979: 268). Zugleich belegt die Umformung der Frage zu einem Ausrufesatz erneut die Unkenntnis jiddischer Syntax. Kafkas (rezeptive) Jiddisch-Kompetenz, so das Fazit, war demnach beschränkt und lässt sich letztlich auf den deutschen Bestandteil der Sprache eingrenzen. Wo er auf Hebraismen stieß, dürfte ihm sein sprachliches Defizit immer wieder vor Augen geführt worden sein - und damit letztlich auch die Tatsache, dass die Vorstellung, sich als Jude eine ,jüdische Sprache‘ allein durch Zuhören aneignen zu können, illusionär war. 3 Bedingungen und Folgen eines gescheiterten jiddischen Spracherwerbsexperiments Bald nach der Abreise der Lemberger stellte Kafka das Spracherwerbsexperiment ein. Wie bereits angesprochen, deuten Stellen im Tagebuch darauf hin, dass dieser Schritt viel mit den dramaturgischen Schwächen der anspruchslosen Repertoirestücke zu tun hatte, in welchen tragische Themen, melodramatisch umgesetzt, nicht selten in unfreiwillige Komik mündeten, die durch unbeholfene Statisten und technische Pannen noch verstärkt wurde. 57 So hatte sich Kafka - ungeachtet seiner emotionalen Ergriffenheit - bereits nach dem ersten Theaterbesuch gewünscht, „ein großes jiddisches Theater zu sehn, da die Aufführung doch vielleicht an dem kleinen Personal und ungenauer Einstudierung leidet“ (Kafka 1990a: 68); und im Januar 1912, nach über einem Dutzend besuchter Aufführungen, stellte er ernüchtert fest: „Die Eindrucksfähigkeit für das Jüdische in diesen Stücken verläßt mich, weil sie zu gleichförmig sind und in ein Jammern ausarten, das auf vereinzelte kräftigere Ausbrüche stolz ist“ (Kafka 1990a: 349). Doch dürfte, wie hier gezeigt werden sollte, der Abbruch seiner Jiddisch-Studien eben auch im Zusammenhang mit der Einsicht stehen, dass seine rezeptive Spracherwerbstheorie nicht den erhofften Erfolg erzielt hatte. Die Interdependenz der deutsch-jüdischen Kontaktvarietäten, welche die Genese und Widerlegung dieser Theorie mitbestimmten, sei daher nochmals verdeutlicht: Als ,uneigentliche Fremdsprache‘ hoffte Kafka sich das Ostjiddische aufgrund seiner ethnischen Herkunft in einem rezeptiven, den ungesteuerten Erstsprachenerwerb nachahmenden Lernprozess aneignen zu können. Bestärkt haben dürfte ihn dabei der Umstand, dass er das Jiddische, auf das er im Savoy traf, beim ersten Hören scheinbar gut verstand. Begünstigt wurde dies durch folgende Faktoren: Der deutsche Grundbestand der Sprache stellte für ihn als Sprecher einer ostmittelbairischen Stadtmundart keine große Verständnisbarri- 57 Siehe hierzu bes. Kafka (1990a: 81-83, 96, 229f., 361). Deutsch und Jiddisch im Kontakt 371 ere dar. Die ethnolektalen Relikte des Westjiddischen, die Kafkas T r a n s f e r e n z d i a l e k t darüber hinaus aufwies, schienen ihm zudem Anknüpfungspunkte zu einer Wiedergewinnung der abgelegten Gruppensprache zu bieten. Auch die Kommunikation mit den Lemberger Schauspielern, die eine I n t e ri m s v a ri e t ä t des Deutschen mit ostjiddischen Transferenzen sprachen, suggerierte ihm eine graduelle Annäherung an seine Zielsprache. Im Theater wiederum traf Kafka auf eine ,dajtschmerisch‘ überformte lit e r a ri s c h e V a ri e t ä t des Jiddischen, die einem deutschsprachigen Publikum rezeptiv entgegenkam. Kafkas L e r n e r s p r a c h e , die sich in seinem Tagebuch manifestiert, macht gleichwohl deutlich, dass ihm die Hebraismen des Ostjiddischen bis zuletzt unzugänglich blieben und sich auch keine produktiven Sprachkenntnisse einstellten, was ihm die Unhaltbarkeit seiner ,jüdischen Spracherwerbstheorie‘ vor Augen führte und sein Experiment beendete. Die Erkenntnis aus dem gescheiterten Lernprozess veranlasste Kafka, seinen sich ab 1917 anschließenden zweiten Versuch, eine jüdische Sprache (das Neuhebräische) in seine Sprachbiografie einzufügen, mit den klassischen Hilfsmitteln des Fremdsprachenunterrichts (Lehrwerk, Wörterbuch, Vokabellisten) anzugehen (s. hierzu Binder 1967). Literatur Althaus, Hans Peter (2002): Mauscheln. Ein Wort als Waffe. Berlin/ New York. Beranek, Franz J. (1957): Jiddisch. In: Stammler, Wolfgang (Hrsg.): Deutsche Philologie im Aufriß. 2. Aufl. Berlin. S. 1955-1998. Beranek, Franz J. (1965): Westjiddischer Sprachatlas. Marburg. 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Die Realität zeigt, dass sich die deutsche Sprachkompetenz der Schüler 1 im Kontext einer extrem zusammengeschrumpften deutschsprachigen Minderheit deutlich verändert hat. Durch die Zugehörigkeit der meisten Schüler zur rumänischen Kommunikationsgemeinschaft sowie durch den geringen außerschulischen Kontakt mit der deutschen Sprache kann man eher von Deutsch als Zweitsprache (DaZ) sprechen. Im folgenden Aufsatz untersuchen wir sprachliche Erscheinungen in Schüleraufsätzen der Sekundarstufe I (Klassen 5-7), die darüber Aufschluss geben, inwieweit man noch von Deutsch als Muttersprache sowohl im Unterricht als auch bezüglich der Sprachkompetenzen der Schüler sprechen kann. 1 Vorbemerkungen Schuldeutsch 2 geht in Siebenbürgen auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, als die Siebenbürger Sachsen auf dem ihnen zugewiesenen Königsboden, in dem Gebiet zwischen Broos (Orăștie) und Draas (Drăușeni) angesiedelt und Voraussetzungen für deutsche Schulen in Siebenbürgen geschaffen werden. 3 1 Im vorliegenden Aufsatz wird der Textflüssigkeit halber die männliche Form Schüler durchgängig verwendet. 2 Unter Schuldeutsch verstehen wir die deutsche Sprache der Schüler in einem institutionellen Rahmen, z. B. in der Schule. Es handelt sich sowohl um die gesprochene als auch um die geschriebene Sprache der Schüler. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich hauptsächlich mit Aspekten der Schriftsprache von Schülern an deutschen Schulen in Rumänien. 3 Im 12. Jahrhundert wurden Siedler hauptsächlich aus dem Rhein-Moselgebiet von König Andreas II. gerufen, das Gebiet Siebenbürgens zu kolonisieren. Sie kamen nicht als Eroberer, sondern ihnen wurden durch den sogenannten Goldenen Freibrief besondere Rechte gewährt; sie kamen „‚ad retinendam coronam‘ - zum Schutze der Krone, also des Landes - und der König erhoffte sich von ihnen wesentlich höhere 376 Delia Cotârlea Für den Unterricht in deutscher Sprache spielt die Reformation durch Johannes Honterus eine bedeutende Rolle, als 1542/ 43 das Reformationsbüchlein in deutscher Sprache herausgegeben und eine neue Kirchenordnung vorgelegt wird, wodurch vor Ort die deutsche Sprache einen neuen Stellenwert gewinnt (vgl. Wagner 1990: 50). Die Kirchen und Schulen werden sowohl im städtischen als auch im ländlichen Bereich neu gestaltet, eine solide sozialpolitische Grundlage für die Weiterentwicklung des muttersprachlichen Deutschunterrichts wird geschaffen. In den siebenbürgischen Schulen wird ursprünglich kein Standarddeutsch gepflegt, der „Lehrer sprach im Unterricht sächsisch, genauso wie der Pfarrer von der Kanzel sächsisch predigte.“ (Bottesch 1997: 6) Erst nach 1948 wird die „(neu)deutsche Aussprache des Schriftdeutschen in Kirche und Schule“ (Bottesch 1997: 6) eingeführt, im privaten Umfeld wird aber weiterhin in der Mundart verkehrt. Eine bedeutende Etappe stellt die Zwischenkriegszeit dar, als 1918 Siebenbürgen an Großrumänien angegliedert wird und der Unterricht in deutscher Sprache als Unterricht für Minderheiten verstanden wird. Dieser Status wird nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten, der deutsche Sprachgebrauch beginnt jedoch durch die Auswanderung kontinuierlich abzunehmen (vgl. Wagner 1990: 104f.). Folglich ist die deutsche Minderheit bemüht, den muttersprachlichen Unterricht auf allen Ebenen zu fördern. Für die einst autonome Siedlungsgruppe bedeutet der Unterricht in der Muttersprache die Bewahrung kollektiver Identität, sodass Schule und Lehre oft in deutschsprachigen Publikationen 4 nach 1945 thematisiert werden; es gibt sogar Seiten, die sich der Sprachpflege widmen (vgl. Bottesch 1997: 8). An den rumänischen Universitäten werden Studiengänge für Deutschlehrer aufgebaut, bei der zunehmenden Aussiedlung der Siebenbürger Sachsen wird aber der Lehrermangel noch vor der Wende 1989 spürbar. Nach dem politischen Umbruch von 1989 schrumpft die deutsche Minderheit in Rumänien durch Massenauswanderungen drastisch zusammen, zahlreiche Dorfschulen verschwinden. Schwierig war und ist es immer noch, ausgebildete Lehrer für die deutschen Schulen zu finden. Der gesetzliche Rahmen fördert Steuern, bessere Methoden des Ackerbaus, gute Handwerker und eine Belebung des Handels.“ (Wagner 1990: 15) 4 Im Neuen Weg gab es die Rubrik Unsere Sprachenecke, in der Aspekte der Sprachpflege angesprochen wurden. Die Tageszeitung Neuer Weg wurde 1949 gegründet, sie war ein inoffizielles Sprachrohr der Rumänischen Kommunistischen Partei. Seit 1992 verwandelte sich der Neue Weg in die Allgemeinte Deutsche Zeitung für Rumänien (ADZ), die heute weiterhin als Tageszeitung der deutschen Minderheit erscheint. Auch andere lokale Publikationen, z. B. die Karpatenrundschau, veröffentlichten Artikel zum damaligen Stand des Deutschunterrichts, des Germanistikstudiums in Rumänien sowie zum Stellenwert der deutschen Sprache als Minderheitensprache. Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 377 das Schulwesen in den Minderheitensprachen bzw. in der deutschen Sprache. „Das Fach Deutsch hat an den deutschsprachigen Schulen das gleiche Gewicht wie das Fach Rumänisch.“ (Bottesch 2014: 7) Leider wird man sich schnell des Gegensatzes zwischen „dem gesetzlich Erlaubten und dem praktisch Durchführbaren“ bewusst (vgl. Bottesch 2014: 7). Es mangelt nicht an Schülern, sondern an Sprachkenntnissen und an Lehrern. Heutzutage stammen die Schüler der deutschsprachigen Schulen überwiegend aus rumänischen Familien, und der Gebrauch der deutschen Sprache ist meist auf den Unterricht beschränkt. Deutschlehrer mit Deutsch als Muttersprache sind ebenfalls eine Ausnahme. Gehörten vor 1989 die Schüler der deutschen Klassen zum Großteil der deutschen Minderheit an, so dass die wenigen rumänischsprachigen Schüler die Sprache auch (oder vor allem) im Umgang mit ihren Mitschülern erlernten, so ist gegenwärtig die von den Schülern untereinander verwendete Sprache Rumänisch. Außerdem war es allgemein üblich, dass die Lehrer, die auf Deutsch unterrichten, diese Sprache im Umgang mit den Schülern auch außerhalb des Klassenzimmers gebrauchen, nicht nur im Schulhof, sondern auch auf der Straße, auf Ausflügen usw. (Bottesch 2014: 9). Eine Statistik des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR) aus dem Jahr 2017 gibt 15.078 Schüler der 5. bis 8. Klassen an deutschen Abteilungen und Schulen in Rumänien für das Schuljahr 2016/ 17 an. Landesweit lebten 2011 26.557 Angehörige der deutschen Minderheit mit der Muttersprache Deutsch. Betrachtet man die Zahlen, wird es klar, dass die Mehrheit der Schüler aus rumänischen Familien oder aus Mischehen stammt und deutschsprachige Schulen besucht, um die deutsche Sprache zu beherrschen; denn: Eines steht fest: Nichtmuttersprachliche Schüler und Schülerinnen beherrschen im Prinzip die deutsche Sprache viel besser als eine Fremdsprache, weil sie schon von klein auf mit fachsprachlichen (natur- und geisteswissenschaftlichen) Terminologien konfrontiert werden, was im kommunikativ gestalteten Zwei-Wochenstunden-Fremdsprachenunterricht meistens nicht geschehen kann, zumal da meistens nur der Alltagswortschatz wie Schule, Freizeit und Hobbys, Im Museum, Im Hotel, Auf der Post, Essen und Trinken u. Ä. geübt wird (Lăzărescu 2013: 385). Das Interesse an der deutschen Sprache nimmt zu. Durch Investoren aus den deutschsprachigen Ländern hat Deutsch den Ruf einer Prestigesprache erworben und ist von Vorteil in der Karriere (vgl. Lăzărescu 2013: 385). Der Andrang bei den Schuleinschreibung ist groß, es gibt Konkurrenz schon bei der Aufnahme in die Null-Klasse 5 , die Sprachkompetenz der zukünftigen Schüler wird getestet, und aufgrund der daraus resultierenden Hierarchie werden die gebührenfreien Plätze der deutschsprachigen Klassen belegt. 5 Vorschulklasse. 378 Delia Cotârlea In diesem Kontext haben wir 82 Arbeiten von Schülern untersucht, 6 um der Frage nachzugehen, ob sich bestimmte, rekurrente sprachliche Erscheinungen bezüglich der deutschen Sprache der Schüler feststellen lassen. Fragen der Didaktik und Methodik der Sprachvermittlung werden nicht behandelt, da diese Aspekte den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen würden. 2. L1 oder L2 an deutschen Schulen in Rumänien? Der knapp umrissene Kontext zeigt, dass wenige Schüler an den deutschen Schulen und deutschen Abteilungen in Rumänien Deutsch als Erstsprache verwenden. Wilhelm Grießhabers Behauptungen über die tiefgreifenden Veränderungen in der Auslandsgermanistik lassen sich auf die Situation in Rumänien übertragen: Jugendliche Zweitsprachlernende beginnen im Elementar- und Primarbereich, in dem die kognitive Erschließung von Sprachregeln kaum möglich ist, während die anderen erst im Sekundarbereich und weiter entwickelten kognitiven Fähigkeiten einsteigen. Sie haben sogar oft Englisch als erste Fremdsprache gelernt (Grießhaber 2014: 2). Somit erscheint uns die Unterscheidung zwischen Erst-, Zweit- und Fremdsprachen von äußerster Wichtigkeit, da die Erwerbsforschung gezeigt hat, dass bei der Sprachvermittlung nicht in einer beliebigen Reihenfolge vorgegangen werden kann, sondern dass es im Deutschen bestimmte syntaktische aufeinanderfolgende Muster gibt, die auf bestimmte Erwerbsstufen schließen lassen (vgl. Grießhaber 2014: 2). Der Erwerb der Erstsprache beginnt von Geburt an, von Zweitsprache spricht man dagegen, wenn der Spracherwerb ab dem dritten Lebensjahr beginnt. In dieser Studie handelt es sich überwiegend um Schüler, die Deutsch als Zweitsprache, also in der Elementarwie Primarstufe 7 erworben bzw. erlernt haben. In jedem Jahrgang gibt es wenige Erstsprachler, die aus Familien der deutschen Minderheit oder aus Mischehen stammen. In der Fachliteratur (vgl. Bausch/ Kasper 1979) wird ausgehend von der Beziehung zwischen Erst- und Zweitsprache von drei großen Hypothesen bezüglich des Zweitspracherwerbs gesprochen: der Kontrastiv-, Identitäts- und Inter- 6 Es handelt sich hierbei um Schüleraufsätze zu Bildergeschichten im Fach Muttersprache Deutsch an der Kronstädter Honterusschule sowie an der deutschen Abteilung der Zeidner Schule Ioan Pascu in der Sekundarstufe I (Klassen 5-7), das Alter der Schüler beträgt zwischen 11 und 14 Jahren. Die Arbeiten wurden bei zwei Deutschlehrerinnen der oben genannten Schulen in Auftrag gegeben, die in ihren Deutschstunden die Schüler dazu aufgefordert haben, zu mehreren Bildergeschichten Aufsätze zu verfassen. 7 Im Kindergarten und in den Klassen 1 bis 4. Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 379 language-Hypothese. Betrachtet man Zweitspracherwerb aus der Perspektive der Kontrastivhypothese, so findet laut Bausch/ Kasper ein Vergleich zwischen der ersten und zweiten Sprache statt, wobei identische Sprachphänomene leicht, unterschiedliche aber schwieriger zu lernen sind. Letztere generieren auch Fehler (vgl. Bausch/ Kasper 1979: 5). Die Identitätshypothese hingegen betrachtet den Zweitspracherwerb als Erstspracherwerb einer zweiten Sprache, sodass Parallelitäten und nicht Unterschiede zwischen dem L1- und L2-Erwerb deutlich werden, da Regeln und Elemente in der L2 nach derselben Abfolge wie in der L1 erworben werden (vgl. Bausch/ Kasper 1979: 9). Eine logische Konsequenz davon ist, dass Fehler im L1-Erwerb von der Struktur der L1 bzw. der Grundsprache her bedingt sind, wobei Fehler beim L2-Erwerb von der Struktur der Zweitsprache determiniert werden (vgl. Bausch/ Kasper 1979: 9). Die Interlanguage-Hypothese hat mittlerweile die Kontrastiv- und Identitätshypothese verdrängt. Dieser Ansatz besagt, dass bei Erwerb einer Zweitsprache Interlanguages entstehen, die nicht als Teil der Zielsprache verstanden werden können, „sondern auch Sprachformen enthalten, die weder in der Zielsprache noch in der Erstsprache vorkommen“ (Rösch 2011: 12). Spracherwerb setzt Kreativität des Lerners voraus, unabhängig davon, ob es sich um Erst- oder Zweitspracherwerb handelt. Kreativität lässt eine Lernersprache bzw. Lernervarietät entstehen, Lerner bilden ihre eigene Sprache, in der sie schöpferisch mit Strukturen umgehen. Bausch/ Kasper beschreiben dieses Phänomen folgendermaßen: Beim Erwerb einer zweiten Sprache bildet der Lerner ein spezifisches Sprachsystem (Interlanguage) heraus, das Züge von Grund- und Zweitsprache sowie eigenständige, von Grund- und Zweitsprache unabhängige sprachliche Merkmale aufweist. Das Zusammenwirken verschiedener lernerspezifischer Prozesse, Strategien und Regeln bestimmt die Dynamik der Interlanguage, die als variabel und systematisch zugleich charakterisiert werden kann (Bausch/ Kasper 1979: 15). Systematizität, Variabilität und Instabilität gelten als Hauptmerkmale der Interlanguage. Das bedeutet, die Lernersprache weist ein System mit spezifischen Strukturen, Fehlern und sogenannten defekten Formen auf, entwickelt sich individuell und nicht konstant und ist von dem Müdigkeitsgrad des Anwenders abhängig (vgl. Apeltauer 2010: 835). Durch den Spracherwerb sowohl von L1 als auch von L2 schaffen Lernende sprachliche Formen (,Fehler‘), die nicht mit der Nachahmung von Äußerungen anderer Sprecher in ihrer Umwelt erklärt werden können: Das zeigt, dass Lernende nicht nur imitieren, sondern auch sprachliche Strukturen eigenständig entdecken und weiterentwickeln (Riemer 2002: 49). Folglich befindet sich die Lernersprache in einem permanenten Wandel, wobei sie dazu tendiert, sich der Zielsprache anzunähern (vgl. Rösch 2011: 12). Normabweichungen sind als Lernleistung zu erkennen, als Zwischenstadien der Lernersprache, die Erkenntnisse über den Verlauf des Zweitspracherwerbs zulassen. 380 Delia Cotârlea Die Profilanalyse nach Wilhelm Grießhaber ist ein inzwischen standardisiertes Verfahren, Sprachkenntnisse von Schülern mit Deutsch als Zweitsprache zu untersuchen. Grießhaber systematisiert die Progression im Bereich der Syntax, indem er sich auf die Wortstellungsmuster der deutschen Sprache stützt, genauer auf die Stellung des finiten Verbs. Es wird dabei zwischen sieben Erwerbsstufen (0-6) unterschieden, die von den Lernern nacheinander durchlaufen werden. Die Spannbreite der Stufen reicht von bruchstückhaften Äußerungen (Stufe 0) bis zur Endstellung des Verbs im Nebensatz (Stufe 4) bzw. in der Sekundarstufe bis zum erweiterten Partizipialattribut (Stufe 6) (vgl. Grießhaber 2014: 4 und Grießhaber 2005: 14). Die Interlanguage-Hypothese kann als „Weiterentwicklung beziehungsweise Revision der Identitätshypothese betrachtet werden“ (Rösch 2011: 25), da Vorwissen aus dem Erstspracherwerb zum Zweitspracherwerb genutzt wird, sodass man sowohl von Parallelitäten als auch Interferenzen zwischen L1 und L2 im Erwerbsvorgang sprechen kann. Die Interdepenzhypothese hingegen wird als „Weiterentwicklung beziehungsweise Revision der Kontrastivhypothese betrachtet“ (Rösch 2011: 25). Die Interdependenzhypothese bezieht sich nicht nur auf Zweitspracherwerb, sie befasst sich auch mit zweisprachiger Sozialisation. Den aktuellen Umständen entsprechend kann sie in Rumänien nur eingeschränkt zur Anwendung kommen, da in wenigen Familien und Alltagssituationen die Kommunikationssprache Deutsch ist. Eine zentrale Rolle in der Interlanguage-Hypothese nimmt auch die Fossilisierung ein, denn partiell Erlerntes kann sich verfestigen, versteinern, fossilisieren. Durch die Fossilisierung bestimmter Elemente können unterschiedliche Erwerbsstadien erklärt werden. 2.1 Sachlage in Rumänien Für die überwiegende Mehrheit der Schüler ist Deutsch eine Zweitsprache (L2), wobei als Muttersprache (L1) das Rumänische oder Ungarische fungiert, sodass die Schüler der Sekundarstufe I an deutschen Schulen in Siebenbürgen oft multikulturelle Gruppen bilden. Der Lernort spielt eine wichtige Rolle im Spracherwerb, und hier bietet Siebenbürgen bzw. Rumänien, gerade durch die noch erhaltene deutschsprachige Minderheitentradition, gute Voraussetzungen für den Erwerb des Deutschen als L2. Es gibt ein traditionell überliefertes Modell von Mehrsprachigkeit; da wäre es heutzutage lohnend, die Mobilität und Flexibilität zwischen L1 und L2 im Unterricht und im außerschulischen Bereich (wenn auch beschränkt) zu fördern. Leider gibt es in Rumänien noch kein differenziertes Unterrichtsangebot für Deutsch als Zweitsprache. Noch wurden keine Studien zu Spracherwerbsstufen an den deutschen Schulen in Rumänien durchgeführt, sodass der Unterricht nach der Progression von Strukturen bei Schülern außer Diskussion steht. Der Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 381 Unterricht verläuft, zumindest laut offiziellen Vorgaben, nach muttersprachlichem Prinzip. Anbei ein Beispiel aus dem Schulpensum für die fünfte Klasse im Fach Deutsch, Schwerpunkt schriftliche Kommunikation: Texte mit gegebenem Aufbau zu einem bestimmten Thema verfassen: einen Brief persönlichen Inhalts verfassen, eine Personenbeschreibung verfassen, eine Bilder- oder Reizwortgeschichte schreiben. […] Beim Verfassen von Texten einen angemessenen Wortschatz gebrauchen. Einen gelesenen Text strukturiert nacherzählen, […] einen Text in Sinnabschnitte einteilen, Hauptgedanken formulieren, eine Nacherzählung verfassen. Kurze Texte nach bestimmten inhaltlichen und strukturellen Vorgaben verfassen, einen Textinhalt aus verschiedenen Erzählperspektiven wiedergeben, den Text sinnvoll fortsetzen, ein Lesetagebuch führen (Curriculare Vorgaben 5. Klasse 2016, hier nach: Grecu u. a. 2017: 9). Die Vorgaben sind komplex, sie können nur zum Teil auf den Deutschunterricht abgestimmt werden, da die sprachlichen Kompetenzen der Schüler nicht ausreichen. DaZ-Unterricht ist nicht vorgesehen. Zum Thema Sprachbetrachtung sind aber umfangreiche Schwerpunkte im Curriculum vorgesehen: Wortbildung: Wortfamilien, Synonyme, Antonyme, Redewendungen; Syntax: Satzarten nach Redeabsicht; Satzglieder: Subjekt und Prädikat - einteilig, mehrteilig, Stellung im Satz; Morphologie: Verb: Einteilung (Grundformen, stark/ schwach/ gemischt, Vollverb - Hilfsverb); Zeitstufen und Verwendung der Zeitformen Präsens/ Perfekt/ Imperfekt/ Plusquamperfekt/ Futur I; Substantiv und Artikel: Numerus, Genus, Deklination mit Schwerpunkt Dativ und Akkusativ; Adjektiv: Bildung, Steigerung und Verwendung im Satz; Pronomen: Personal-, Possessiv- und Höflichkeitspronomen; Partikel; Gebrauch der Präpositionen mit dem richtigen Fall; Rechtschreibung: Dehnung der Vokale (Dehnungs-h, Verdoppelung, -ie-, -ih-, -ieh-), Verdoppelung der Konsonanten, Schreibung des [s]-Lautes, Schreibung gleich klingender Konsonanten (Curriculare Vorgaben 5. Klasse 2016, hier nach: Grecu u. a. 2017: 9). Den Stoff nach curricularen Vorgaben durchzunehmen, bedeutet, Deutsch als Muttersprache bzw. als Erstsprache vorauszusetzen. Die Forschungen im Bereich der Erwerbsstufen haben aber gezeigt, dass sich Erwerbssequenzen nicht verändern lassen. Um einen Lernzuwachs zu sichern, müssen Erwerbsstufen berücksichtigt werden; die Abfolgen lassen sich nicht manipulieren oder variieren, effizienter Unterricht „muss genau auf die individuellen Entwicklungsstufen abgestimmt sein“ (Aguado 2008: 54). Die Ergebnisse der Erwerbsstufenstudien können dazu dienen, Grammatikprogressionen zu erstellen, die die Grenzen der Lehr- und Lernbarkeit berücksichtigen und eine erfolgreiche Instruktion zum Ziel haben. Hier setzt die vorliegende Untersuchung an, indem sie durch eine empirische Studie herausarbeitet, dass eine deutliche Kluft zwischen den Sprachkompetenzen der Schüler und dem bestehenden Curriculum im Fach Deutsch als Muttersprache besteht, die sich hemmend auf den Lernerfolg auswirkt. 382 Delia Cotârlea Die hier vorgenommene Untersuchung setzt die Ergebnisse einer Analyse von 72 Semesterarbeiten an Kronstädter Schulen voraus; 8 hierbei hatte sich unsere Vermutung bestätigt, dass der Deutschunterricht in der Sekundarstufe I (Klassen 5-7) nach L1-Vorgaben nicht mehr tragfähig ist. Die 2017 analysierten Semesterarbeiten stehen als Beweis für die Existenz einer Lernersprache. Zusätzlich wurde eine klischeehafte inhaltliche und sprachliche Gleichschaltung in den Aufsätzen bemerkt, die unser Erachtens den negativen Washback-Effekt bestimmter institutionalisierter Testformate in Rumänien dokumentiert. Die Schüler werden spätestens ab der 6. Klasse nach dem Modell der zentralen Abschlussprüfung Ende der 8. Klasse (der sogenannten nationalen Evaluation) getestet. In dieser Stufenprüfung werden im Fach Deutsch L1-Anforderungen gestellt. 9 Die Aufnahme in die Oberstufe (in das Lyzeum) ist von dem Ergebnis bei der nationalen Evaluation abhängig, sodass Kreativität und Kommunikation zugunsten des Prüfungsformats eingebüßt werden, Erwerbsstufen kommen nicht infrage. Für die vorliegende Untersuchung wurden Bildergeschichten verwendet, um ein bekanntes Aufgaben- oder Testformat, zu dem die Schüler meist auswendig gelernte Inhalte und Sprachklischees verwenden, zu meiden. Die Ergebnisse sind zweifelsohne in eine weiter gefächerte Skala einzuordnen, die Befunde sprechen für die L2-These im sogenannten muttersprachlichen Deutschunterricht. 3 Das Deutsch der Schüler Nach der Untersuchung von 82 Aufsätzen haben sich mehrere Kategorien von rekurrenten Spracherscheinungen ergeben. Die Ausdrücke der Schüler sind keine „germanisierten rumänischen Wörter“, obwohl sie manchmal durch Übersetzungen aus dem Rumänischen entstehen (vgl. Lăzărescu 2013: 385). 10 Fehl- 8 Vergleiche Cotârlea, Delia: Zum heutigen Gebrauch der deutschen Sprache in siebenbürgischen Schulen am Beispiel von Kronstadt/ Brașov. Vortrag gehalten am 06.10.2017 bei der IV. JAHRESTAGUNG des FZ DiMOS, Kronstadt, Rumänien. 9 Die Lehrer richten sich bei der Formulierung von Aufgabenstellungen für Semesterarbeiten nach dem Format des Abschlusstests, weil der Erfolg ihrer Schüler meistens ausschließlich an den Ergebnissen in der zentralen Abschlussprüfung Ende der 8. Klasse gemessen wird. Dadurch werden Inhalte sowie Sprachbausteine bis zum Überdruss auswendig gelernt, die dann den Erfolg in der Prüfung sichern. Bei vielen Schülern aber wird die Sprachkompetenz nicht wirklich erweitert. Beispielsweise können Schüler einen Satz in die indirekte Rede oder ins Passiv setzen, beherrschen also Strukturen bei bestimmten Übungen; bei freier Anwendung gibt es jedoch große Unsicherheiten, es treten Fehler auf. 10 Die Schüler und Lehrer sind mit den typischen Fehlbildungen vertraut, diese werden kollektiv gebraucht: der Katalog - Zensurenregister, rum. catalog; Kontrollarbeit Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 383 bildungen in der Auffassung Lăzărescus (2008: 175) konnten nicht festgestellt werden. In den Arbeiten sind keine Beispiele des Rumäniendeutschen 11 anzutreffen, dafür aber Rückübersetzungen bzw. -übertragungen aus dem Rumänischen einerseits, die von Sprachinterferenzen im Bereich des L2-Erwerbs zeugen, andererseits Fehler, die die Existenz einer Interlanguage bestätigen. 3.1 Fehlerhafte vs. zielsprachennormgerechte Formulierungen Eines Tages Johnny geht bei Paradisul Acvatic im Kronstadt. Dort sieht er eine Sprungbrett, und er wollte von dort springen. Er denkte, dass es ist nicht so schwer von dort zu springen. Johnny kletterte auf die Sprungbrett. Wenn er auf die Sprungbrett war, sah er eine Maus. Er erschreckte sich und geht unter. Danach geht er nach Hause. Am nächsten Tag wollte er wieder springen und kletterte er sich wieder auf das Sprungbrett. […] Er schaute unter und sah wie groß die Sprungbrett war. Er war sehr erschreckt und er konnte nicht mehr von dort springen. Er sitzte dort bis er einschlief. Johnny sitzte der ganze Nacht auf die Sprungbrett. […] Am Morgen wenn er sich aufweckte, hatt er gesehen dass er noch auf die Sprungbrett ist. Er wollte springen, aber er hatte noch angst. Er wollte unten schauen aber er fell. Er sagte bei seinen Freunden dass er gesprungt hatt aber er fell nur (Schüleraufsatz Eine Nacht auf die Sprungbrett, 7. Klasse, 04.12.2017). Das Beispiel zeigt typische Formulierungen für Deutsch als Zweitsprache. Die Stufe vier nach Grießhaber (2005: 14) könnte als erreicht betrachtet werden, da in den Nebensätzen das Verb die Endstellung einnimmt. Die falsche Stellung des Finitums im ersten Satz (Stufe drei) zeugt von der Instabilität der Interlanguage, in der unter bestimmten Umständen wie Müdigkeit oder mangelnde Konzentrationsfähigkeit oft normgerechte und fehlerhafte Formen nebeneinander verwendet werden. Der fast konsequent falsch verwendete Artikel - die Sprungbrett - deutet auf eine Übernahme aus der L1, da im Rumänischen das entsprechende Nomen weiblich ist. Der Schülertext dokumentiert die Instabilität, möglicherweise auch die Variabilität der Lernersprache, denn einmal wird das Nomen Sprungbrett mit seinem richtigen Genus verwendet. Der falsche Gebrauch des Artikels ist ein häufiger Interferenzfehler, er entspringt dem Wissen über die rumänische Sprache und wird aus dieser transferiert. In weiteren Schüleraufsätzen können zahlreiche derartige Transferfehler festgestellt werden: der Maus, die Tag, das Park, die Brett, das Teppich - in den geben - Klausur schreiben, rum. a da lucrare de control; das Konsilium - Lehrerbesprechung, rum. consiliu; das Bankett - Abschlussparty, rum. banchet; u. a. (vgl. Lăzărescu 2013: 381). 11 Das Rumäniendeutsche wird als eine Varietät des Deutschen betrachtet, trotz der fehlenden Amtssprachlichkeit; es handelt sich dabei um keine Lernervarietät, sondern „um ein gelerntes Deutsch im Munde von Deutschen in Rumänien“ (Lăzărescu 2013: 371). 384 Delia Cotârlea angeführten Beispielen sind die falsch attribuierten Genera das Resultat eines Transfers aus dem Rumänischen. Ein weiterer Fehler im obigen Schülertext ist die Verwechslung von wenn und als. Dieser Fehler kommt in zahlreichen Arbeiten vor. Im Rumänischen gibt es für das im Deutschen ausgedrückte Zeitverhältnis mit wenn oder als nur eine Konjunktion - când, sodass zwischen den beiden schwer zu unterscheiden ist. Zahlreiche Inkonsequenzen treten auch bei den Verbformen auf, starke Verben werden mit schwachen Formen verwendet: gehte, denkte, sitzte, fell; in anderen Arbeiten: fällte, schreite, läufte, schließte, schwimmte. Nicht nur um eine falsche Verbform, sondern auch um einen Bedeutungstransfer aus dem Rumänischen handelt es sich im Satz Er sitzte dort. Das Verb a sta bedeutet im Rumänischen sowohl bleiben als auch sitzen. Sicher war vom Schüler dort bleiben gemeint, durch die Interferenz mit dem Rumänischen ist aber die Variante sitzte dort entstanden. Außerdem alternieren die Schüler in ihren Aufsätzen Präteritum mit Präsens. Nach den Beispielen zu urteilen, geschieht das eher willkürlich und nicht nach bestimmten stilistischen Vorgaben. Instabilität und Variabilität plädieren auch hier für die DaZ-These: Die Schüler beherrschen die Tempusformen zwar in der bewussten Anwendung der Regel, im freien Sprachgebrauch kommt es aber zu Fehlern. Eine weitere Erscheinung der L2 sind falsch verwendete Lokal- und Richtungsadverbien: geht unter, wodurch hinunter gemeint wird, er schaut unter/ unten also hinunter. In zahlreichen Aufsätzen findet sich dieser Fehler wieder: er ging dort, er guckte unten, er konnte nicht unten kommen, er ist unten gegangen, er ging draußen. In den Aufsätzen ist die Formulierung er stieg die Treppe öfter anzutreffen, wobei es sich erneut um einen Transfer aus dem Rumänischen handelt: Das rumänische Verb a urca - im Deutschen steigen - beinhaltet die Bedeutung der Partikel hinauf, sodass von vielen Schülern zwischen steigen und hinaufsteigen nicht unterschieden wird. Der Hund Rums Irgendwann war auf den Boden eingeschlafen. Auf einmal sah er eine Katze am Fenster. Rums rufte seinen Besitzer um draußen zu gehen. Sie gingen draußen. Der Besitzer Tom blieb im Garten um die Schnee zu fägen. Rums war zum Metzgerei gegangen. Er guckte am Fenster - Er wollte auch Fleisch haben. Der Metzger kam draußen um den Hund sagen, dass er sollte weggehen. Der Hund war ins Haus aber er hatte die Tür offen gelassen. Der Besitzer hatte die Tür mit vielen Nerven geschlossen und deshalb fällte ihm die Schnee im Kopf. Auch dieses Beispiel zeigt typische Formulierungen für DaZ. Die Stufe vier nach Grießhaber könnte als erreicht betrachtet werden, die Satzklammer sowie die Endstellung in den Nebensätzen werden größtenteils eingehalten. Das Fehlen des Subjekts im ersten Satz sowie die falsche Position im Objektsatz - dass er sollte weggehen - zeugen von der Instabilität der Interlanguage, in der unter bestimmten Umständen normgerechte und fehlerhafte Formen nebeneinander Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 385 verwendet werden. Die Endstellung des Verbs variiert in vielen Aufsätzen, was darauf schließen lässt, dass bei den meisten Schülern die vierte Stufe nach Grießhaber noch nicht gesichert ist. 12 Im oben angeführten Schülertext ist die Genus-Übernahme aus dem Rumänischen belegbar: Der Schnee ist weiblich im Rumänischen, sodass sich die zweifache Verwendung des Nomens als Femininum, die Schnee, dadurch erklären lässt. Wissen aus der L1 wird auf die Zielsprache übertragen; wie in dem ersten Schülertext ist auch im zweiten der Transferfehler der falschen Zuordnung bei Genera auffällig. Für Deutsch als Zweitsprache spricht auch die häufig anzutreffende Gleichschaltung von Akkusativ und Dativ bei direktiven und situativen Verben, Wechselpräpositionen werden meist fehlerhaft eingesetzt. Im Rumänischen gibt es keine Wechselpräpositionen, es ist für die rumänischen Schüler schwer verständlich, warum man dieselbe Präposition mit unterschiedlichen Kasus verwendet. Das wird im zweiten Schülertext deutlich: Er war auf den Boden eingeschlafen. […]. Er guckte am Fenster. […] Der Hund war ins Haus. […] fällte ihm die Schnee im Kopf. Außer den grammatischen Interferenzen gibt es zahlreiche Übernahmen rumänischer Wendungen, die sowohl aus grammatischer als auch aus lexikalischer Sicht als fehlerhaft zu betrachten sind. Wo es dem Sprecher an deutschem Wortschatz und deutschen Strukturen mangelt, wird der rumänisch formulierte Gedanke ins Deutsche übersetzt. Es entstehen dadurch meist skurrile, weniger logische Ausdrücke bzw. Sätze: Nächsten Tag, wenn die Sonne scheint, Klaus bekam Mutig und sprang von der hoche Sprungbrett und alle plauderten ihm und schreiten von allen Kräften „Hurra, hurra! “. Die Bedeutung des englischen Verbs become wird auf das deutsche Verb bekommen übertragen, sodass der Fehlausdruck bekam Mutig entsteht. Von allen Kräften schreien ist eine direkte Übersetzung aus dem Rumänischen - a striga din toate puterile. Beim Wort plauderten handelt es sich wahrscheinlich um applaudieren, das im Rumänischen ähnlich klingt - a aplauda. Vergleichbare Fehler sind auch im nächsten Beispiel anzutreffen: Der Besitzer hatte die Tür mit vielen Nerven geschlossen und deshalb fällte ihm die Schnee im Kopf. Der Ausdruck mit vielen Nerven, der deutschen Sprache nicht eigen, entsteht durch den Transfer aus dem Rumänischen - cu mulți nervi, der ganze Satz bedeutet eigentlich die Tür hinter sich zuschlagen - in der DaZ-Formulierung - die Tür mit vielen Nerven geschlossen. Der nächste Beispielsatz beinhaltet, nebst falscher Verbform und Genustransfer, einen wei- 12 Anbei ein weiteres Beispiel: auf einmal alle Menschen begannen zu rufen, er dachte, dass er kann auch springen, weil es war eine sehr große Höhe. Stufe vier nach Grießhaber ist hier noch nicht erreicht, die Voranstellung adverbialer Ausdrücke ist ebenfalls nicht gesichert. 386 Delia Cotârlea teren Interferenzfehler - fällte ihm die Schnee im Kopf. Im Rumänischen heißt es umgangssprachlich în cap/ im Kopf, die Bedeutung der Präposition în wird mit in/ im gleichgesetzt, wobei im Deutschen auf adäquat gewesen wäre. Zu Verwechslungen kommt es oft bei den Präpositionen bei, zu, nach, da es sich im Rumänischen in den meisten Fällen um eine einzige Präposition handelt - la. Die zahlreichen Fehler in den angeführten Beispielen aus den untersuchten Schüleraufsätzen sind als Beweis für die Existenz des Deutschen als Zweitsprache in Rumänien anzusehen. Und obwohl es „paradox klingen mag: Ein vermehrtes Auftreten von fehlerhaften Lerneräußerungen kann ein Anzeichen für Lernfortschritt sein, der dann dazu führt, dass ein neues Plateau erreicht wird und sich die Lernersprache stabilisiert“ (Aguado 2008: 54). Die Deutschlehrer(innen) im Unterricht betrachten aber Fehler eher als negativ. Deshalb kann sich die Einsicht, dass in Rumänien überwiegend Deutsch als Zweitsprache unterrichtet und gelernt wird, positiv auf die Umgestaltung des Curriculums und des Unterrichts auswirken. Das Ziel des Unterrichts an deutschen Schulen in Rumänien sind C1-Sprachfertigkeiten, die durch den Einsatz vom DaZ-Prinzipien nur gestärkt werden können. 4 Deutsch als Politikum Ioan Lăzărescu äußert sich ebenfalls zum Thema des L1bzw. L2-Sprachgebrauchs an deutschen Schulen in Rumänien und behauptet, es handle sich dabei um eine „gehobene Fremdsprachlichkeit“ (Lăzărescu 2008: 178). Zum einschlägigen Thema nimmt man eher ungern Stellung, denn: „Das deutschsprachige Schulwesen ist ein Bestandteil des Minderheitenschulwesens in Rumänien“ und: „Gemäß der gültigen Gesetzgebung versteht man unter muttersprachlichem Schulwesen jene Form des Unterrichts, in der alle Fächer außer dem Fach Rumänische Sprache und Literatur in der Muttersprache unterrichtet werden können.“ (Cosmatu 2013: 7) Der muttersprachliche Unterricht ist für die Identitätsstärkung der Minderheiten von großer Bedeutung: Das Fach Muttersprache, bzw. Geschichte und Traditionen der Minderheit sind wichtige Bestandteile der Identitätsfindung und -bewahrung für alle Minderheiten. Schulwesen in den Sprachen der Minderheiten ist von Bedeutung für die Förderung der Kooperation und der interkulturellen Kommunikation, trägt zum Austausch von Werten und zur Verständigung bei. Jugendliche aus den Reihen der Minderheiten haben Zugang zur Bildung in ihrer Muttersprache (Cosmatu 2013: 7). Das Curriculum für Deutsch bestätigt den L1-Ansatz - Literatur wird gattungsmäßig unterrichtet, es werden literaturtheoretische Kenntnisse (Märchen, Fabel, Kurzgeschichte, Ballade, Landschaftsgedicht) gefordert und abgeprüft, in Grammatik werden Morphologie und Syntax auf der Ebene der Sprachbetrachtung Zum heutigen Gebrauch des Schuldeutsch in Rumänien 387 unterrichtet. Tradierte Unterrichtsformen und institutionalisierte Formate zu brechen, stellt für jede Lehrkraft eine Herausforderung dar. Lehrer klagen über mangelnde Sprachkenntnisse ihrer Schüler, kommen aber vom muttersprachlichen Pfad aus Routine und politischen Gründen nicht ab. 5 Fazit Die hier angeführten Interferenzerscheinungen sind einerseits auf den Kontakt zur rumänischen Sprache zurückzuführen, sie zeugen aber auch davon, dass die deutsche Sprache der Schüler deutliche Merkmale einer Interlanguage bzw. Lernersprache aufweist. Die Transferfehler sowie die Instabilität und Variabilität der Interlanguage bestätigen die These, dass es sich an deutschen Schulen und in deutschen Schulabteilungen in Rumänien um Deutsch als Zweitsprache handelt. Die vielen Beispiele in den Schüleraufsätzen sind ein Beweis für die dringende Notwendigkeit, in den L1-Unterricht an deutschen Schulen in Rumänien auch Methoden der Zweit- und Fremdsprachendidaktik zu übernehmen und das Curriculum dementsprechend umzugestalten. Sprachkompetenz kann langfristig nicht vorwiegend durch Schematismen, Prüfungsformate und Auswendiglernen gefördert und gesichert werden. Dass der Lehrer den Lernstoff vorträgt, wie es noch immer weit verbreitet ist, und die Schüler das Vorgetragene lernen, ist für die Förderung von Sprachkompetenz nicht optimal. De facto ist der Unterricht in deutscher Sprache im heutigen Rumänien für die meisten Schüler Unterricht in einer Fremdsprache. Er unterscheidet sich jedoch vom klassischen Fremdsprachenunterricht dadurch, dass mehrere Fächer in deutscher Sprache unterrichtet werden. Der Unterricht erfolgt nach Lehrplänen, die so verfasst sind, als ob Deutsch Muttersprache wäre. Dass dadurch eine bessere Sprachkompetenz als über das Fremdsprachenmodell erzielt wird, ist leicht verständlich und wurde durch die Praxis bewiesen (Bottesch 2011: 8). Der Unterricht in deutscher Sprache schwankt zwischen der L1-Didaktik und der L2-Realität. Zugleich ist er abhängig von der zentralisierten Bildungspolitik des rumänischen Staates. Ein Vorteil für den Gebrauch der deutschen Sprache an Schulen in Rumänien bleibt der externe Faktor der Motivation rumänischer Familien, ihre Kinder in deutscher Sprache ausbilden zu wollen. Der Unterricht in deutscher Sprache boomt in Rumänien. Trotz des drastischen Schrumpfens der deutschen Minderheit in Rumänien kann von Sprachtod noch nicht die Rede sein (vgl. Lăzărescu 2013: 387). Die deutsche Sprache erfährt Veränderungen zugunsten der Zwei- und Mehrsprachigkeit und nimmt unser Erachtens im Unterricht eine Zwitterstellung zwischen L2-Kompetenzen und L1-Didaktik ein. 388 Delia Cotârlea Literatur Aguado, Karin (2008): Wie beeinflussbar ist die lernersprachliche Entwicklung? Theoretische Überlegungen, empirische Erkenntnisse, didaktische Implikationen. In: Fremdsprache Deutsch 38. S. 53-58. Apeltauer, Ernst (2010): Lernersprache(n). In: Krumm, Hans-Jürgen/ Fandrych, Christian/ Hufeisen, Britta/ Riemer, Claudia (Hrsg.): Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Ein internationales Handbuch. Berlin/ New York (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft; 35.1). S. 833-842. Bausch, Karl-Richard/ Kasper, Gabriele (1979): Der Zweitspracherwerb. Möglichkeiten und Grenzen der drei ‚großen‘ Hypothesen. In: Linguistische Berichte. H. 64. S. 3-35. Bottesch, Martin (1997): Deutsch sprechen in siebenbürgischen Schulen. Hermannstadt. 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Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext Mehrsprachigkeit als kultureller und ökonomischer Faktor bei bairischen und alemannischen Sprachsiedlungen im italienischen Alpenraum Nicole Eller-Wildfeuer (Regensburg) Zusammenfassung Obwohl die meisten deutschbasierten Minderheitensprachen nach drei Sprechergenerationen nicht mehr tradiert werden (siehe hierzu die drei Generationen-Regel nach Mattheier 1994: 334), existiert im italienischen Alpenraum eine Vielzahl an bairischen (z. B. im Fersental/ Valle dei Mòcheni, in Lusern/ Luserna, Plodn/ Sappada, Zahre/ Sauris) und walserdeutschen (alemannischen) Sprachsiedlungen (z. B. in Greschòney/ Gressoney-la-Trinité, Greschòney/ Gressoney-Saint-Jean, Im Land/ Alagna, Èischeme/ Issime). Diese Siedlungen bestehen seit vielen Jahrhunderten, und es werden zum Teil nach wie vor Kinder in den deutschbasierten Minderheitensprachen sozialisiert. Der intendierte, soziolinguistische Beitrag hat folgende Zielsetzungen: Zunächst werden die auch sprachlich sehr heterogenen Siedlungen hinsichtlich ihrer historischen und rezenten Situation kurz vorgestellt. Danach wird der Sachverhalt, in welchem Ausmaß visuelle Mehrsprachigkeit als kultureller und ökonomischer Faktor von Relevanz ist, beleuchtet. 1 Hinführung „We live in visual times […]“ (Gorter 2012: 9). Diese Aussage Gorters kann in Bezug auf die deutschen Minderheitensprachensiedlungen im italienischen Alpenraum bestätigt werden. Denn auf Schritt und Tritt begegnen dem Besucher Ortstafeln, Schilder in Museen, offizielle Gebäudeaufschriften oder auch Ankündigungen in der jeweiligen Sprache der Minderheit. Vor allem im italienischen Alpenraum existiert seit vielen Jahrhunderten eine Vielzahl an bairischbasierten (z. B. im Fersental/ Valle dei Mòcheni, in Lusern/ Luserna, in Plodn/ Sappada, in Zahre/ Sauris) und walserdeutschen (alemannischen) Sprachsiedlungen (z. B. in Greschòney/ Gressoney-la-Trinité, Greschòney/ Gressoney-Saint-Jean, Im Land/ Alagna, Èischeme/ Issime). Der intendierte, soziolinguistische Beitrag hat folgende Zielsetzungen: Zunächst werden die auch sprachlich sehr heterogenen Siedlungen hinsichtlich ihrer historischen und rezenten Situation kurz vorgestellt. Danach wird der Sachverhalt, in welchem Ausmaß Mehrsprachigkeit als kultureller und ökonomischer Faktor von Relevanz ist, beleuchtet. Prinzipiell soll herausgefunden werden, 392 Nicole Eller-Wildfeuer ob kulturelle und ökonomische Faktoren zu einer vitalen Mehrsprachigkeit beitragen. Intention des vorliegenden Beitrags ist es unter anderem, auch die nachfolgende Aussage von Marten, Van Mensel und Gorter (2012: 1) auf den Prüfstand zu stellen: „Being visible may be as important for minority languages as being heard.“ 2 Vorstellung der alemannischen (walserdeutschen) und bairischen Siedlungen im Alpenraum Die folgende Abbildung 1 des Einheitskomitees der historischen deutschen Sprachinseln in Italien bietet zunächst einen geografischen Überblick über alle deutschen Sprachsiedlungen im norditalienischen Alpenraum. Abb. 1: Überblick über alle Sprachsiedlungen im italienischen Alpenraum (Die Abbildung ist abrufbar unter: https: / / www.isolelinguistiche.it/ de/ unseresprachinseln.html [30.07.2018].) 2.1 Die alemannischen walserdeutschen Sprachsiedlungen Abbildung 2 bietet einen Überblick über die im nordwestlichen Teil Italiens gelegenen alemannischen walserdeutschen Siedlungen Greschòney/ Gressoney-la- Trinité, Greschòney/ Gressoney-Saint-Jean, Issime/ Éischeme, Campello Monti/ Kampel, Rimella/ Remmalju, Carcoforo/ Chalchoufe, Alagna Val Sesia/ Im Land und Formazza/ Pumatt. Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 393 Abb. 2: Überblick über die alemannischen walserdeutschen Sprachsiedlungen im italienischen Alpenraum (Die Abbildung ist ein Ausschnitt aus der unter https: / / www.isolelinguistiche.it/ de/ unsere-sprachinseln.html abrufbaren Gesamtübersicht [30.07.2018].) Wie bereits die Bezeichnung Walser vermuten lässt, wurden die Siedler nach ihrer Herkunftsregion, dem Schweizer Wallis, benannt (siehe Eufe/ Mader 2018: 113). Eufe und Mader datieren die ersten „Siedlungswellen über den Monte Rosa hinweg […], aus denen vor allem Gressoney und Issime im Aostatal hervorgingen, ferner […] Alagna, Rima, Rimella und andere im Piemont“, auf circa das 13. Jahrhundert (Eufe/ Mader 2018: 113). Auch die Hymne der Walser gibt einen Hinweis auf die Herkunft der Vorfahren der walserdeutschen Minderheitensprecherinnen und -sprecher: Vor vélle, vélle hòndert jòaré, sindsch òber d'pass en d'fremdé gfòaret, hein ériò heimattal verloat, òn witt e wägŝché nédergloat. Doch walser art òn walserbluet bewarend schéen der fremdé guet, bewarend schéen der fremdé guet, bewarend schéen der fremdé guet (zit. nach Couic/ Roux 2011: 82). Zürrer (1982: 3) spricht in Bezug auf das Aostatal, worauf sich die nachfolgenden Ausführungen auch beziehen, von einem klassischen „Valle trilingue“, in 394 Nicole Eller-Wildfeuer dem Deutsch, vielmehr titsch in Greschòney/ Gressoney-la-Trinité und Gressoney- Saint-Jean und töitschu in Issime/ Éischeme verwendet werden, zudem Italienisch und eine französische Varietät. Amtssprachen sind Italienisch und Französisch (siehe hierzu auch Couic/ Roux 2011: 163). Der nachfolgende, gekürzte Wörterbuchauszug veranschaulicht einerseits die Sprachenvielfalt in dem dreisprachigen Tal, verdeutlicht aber andererseits auch die linguistische Disparität zwischen Titsch und Töitschu, den beiden Ausprägungen des im Aostatal existenten Walserdeutschen. Abb. 3: Wörterbuchauszug (aus: Couic/ Roux 2011: 174 [gekürzt]) Der UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger 1 führt für Töitschu, welches in Issime/ Éischeme als Kommunikationsmittel verwendet wird, den Status „severely endangered“ als dritte von fünf Gefährdungsstufen an und erläutert diese folgendermaßen: „language is spoken by grandparents and older generations; while the parent generation may understand it, they do not speak it to children or among themselves.“ 2 Laut Aussage des walserdeutschen Informanten N. V., der der mittleren Generation aus Greschòney entstammt, werden vereinzelt durchaus noch Kinder mit der walserdeutschen Varietät Titsch als Erstsprache erzogen (Stand: Mai 2017). 1 Abrufbar unter http: / / www.unesco.org/ languages-atlas/ index.php (03.08.2018). 2 Abrufbar unter http: / / www.unesco.org/ new/ en/ culture/ themes/ endangered-languages/ atlas-of-languages-in-danger/ (03.08.2018). Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 395 2.2 Die bairischen Sprachsiedlungen Abbildung 4 liefert zunächst einen Überblick über die geografische Lage der im Beitrag behandelten bairischen Siedlungen Bersntol/ Valle dei Mòcheni und Plodn/ Sappada. Abb. 4: Überblick über die bairischen Sprachsiedlungen im italienischen Alpenraum (Die Abbildung ist ein Ausschnitt der unter https: / / www.isolelinguistiche.it/ de/ unsere-sprachinseln.html abrufbaren Gesamtübersicht [30.07.2018].) Während Plodn aus einer Ansiedlung von benachbarten Weilern besteht, ist das Bersntol in die vier Ortschaften Eichleit (ital. Roveda/ Oachlait), Florutz (ital. Fierozzo/ Vlarotz), Gereut (ital. Frassilongo/ Garait) und Palai (ital. Palù del Fèrsina/ Palai) zu unterteilen, in denen - gemäß einer Befragung der Provinz Trient aus dem Jahr 2001 - sich 947 Personen als „Mòcheni“ 3 bezeichnen und sich damit zur Minderheitensprache bekennen, weitere 1.331 „Mòcheni“ leben über die Provinz Trient verstreut (vgl. Rowley 2013: 111). Das „Mòchenische“, von Rowley als „ein konservativer südbairischer Dialekt, der eher dem Tirolischen als dem Zimbrischen ähnelt“ (2013: 111) beschrieben, existiert seit dem Jahr 1300 in Norditalien und genießt qua Gesetz Minderheitensprachenschutz. 3 Mòcheno ist eine auf dem italienischen Dialekt im Trentino basierende Bezeichnung für die Minderheitensprecherinnen und -sprecher im Fersental, die vermutlich auf den frequenten Gebrauch des Lexems machen im deutschen Dialekt rekurriert (vgl. Rowley 2013: 111). 396 Nicole Eller-Wildfeuer Der UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger führt für das Mòchenische den Status „definitely endangered“ an, die zweite Gefährdungsstufe auf einer Skala von fünf. Für die Siedlung Plodn und das benachbarte Zahre erläutert Geyer, „dass ihre Besiedlungsgeschichte nicht genau gesichert ist bzw. nicht genau datierbar ist, ab wann die Dauerbesiedlung dieser hochgelegenen Dorfgemeinschaften vom benachbarten angrenzenden Oberkärnten und Osttirol aus erfolgt ist“ (Geyer 2018: 95). 4 Es ist jedoch von einer Gründung im 13. bzw. 14. Jahrhundert auszugehen (vgl. hierzu Geyer 2018: 108). Laut Aussage der Kulturbeauftragten Marcella Benedetti sprechen in Plodn noch einige Hundert Personen der mittleren und älteren Generation die deutsche Minderheitensprache. Vereinzelt scheinen auch noch jüngere Sprecherinnen und Sprecher zu existieren, allerdings erfolgt keine Primärsozialisation mehr in der bairischen Varietät. Von enormer Relevanz scheint nach Aussage von Informanten 5 die Großeltern-Enkelkind-Kommunikation zu sein, da viele Großeltern Wert darauf legen, die bairische Minderheitensprache an die Enkelkinder zu tradieren. Franz führt in Bezug auf das Verhältnis von Sprache und Identität bei der älteren und mittleren Generation aus: Das Plodarische wird von SprecherInnen der älteren Generation häufig als Kulturgut und als konstitutives Merkmal für das Plodarsein aufgefasst. In der mittleren Generation bleibt diese Vorstellung für das eigene Selbstkonzept aufrechterhalten. […]. Den befragten SprecherInnen aus der ältesten Generation ist die südbairische Mundart wichtig bis (sehr) wichtig; […]. In der mittleren Generation nimmt diese Wichtigkeit etwas ab; die SprecherInnen beurteilen das Plodarische für sich als (eher) wichtig; sie sind (sehr) froh, Kenntnisse in der Minderheitensprache zu haben (Franz 2018: 229). Die bairische Minderheitensprache wird von der mittleren Generation zudem gelegentlich als Kommunikationsmittel in den neuen Medien, zum Beispiel in der WhatsApp-Kommunikation, gebraucht. Im UNESCO Atlas of the World’s Languages in Danger erfolgt kein Hinweis auf die bairische Minderheitensprache in Plodn. Interessant ist sowohl in den bairischen als auch in den unter 2.1 thematisierten alemannischen Sprachsiedlungen die vorherrschende Mehrsprachigkeitssituation, da jeweils die von Mattheier (1994: 334) skizzierte Drei-Generationen- Regel nicht greift: In einer derartigen soziolinguistischen Konstellation [= Minderheitensprachenkontext, Anm. N. E.-W.] […], erwartet man im Normalfall die sprachliche (und kulturelle) Assimilation der Minderheit innerhalb von wenigen, in der Regel von drei Generationen (Mattheier 1994: 334). 4 Siehe hierzu auch die Ausführungen bei Franz (2018). 5 Mündlicher Hinweis von Sebastian Franz. Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 397 Die beschriebenen alemannischen und bairischen Sprachsiedlungen existieren jeweils seit mehreren Jahrhunderten. Um dieser Besonderheit der jahrhundertelangen Existenz der bairischen und alemannischen Sprachsiedlungen im norditalienischen Alpenraum Rechnung zu tragen und mögliche Erklärungsansätze zu finden, sind für den Beitrag im Folgenden drei dezidierte Fragestellungen relevant: 1.) Existiert ein Zusammenhang zwischen Linguistic Landscape und sprachlicher Vitalität? 2.) Können kulturelle und ökonomische Faktoren zum Erhalt einer Minderheitensprache beitragen? 3.) Welchen Beitrag leistet die Sichtbarkeit einer Minderheitensprache? 3 Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 3.1 Definitionen Als Erstes ist zu klären, wie der Terminus „Linguistic Landscape“ (LL) definitorisch zu fassen ist. Landry und Bourhis verstehen unter dem Konzept Folgendes: The language of public road signs, advertising billboards, street names, place names, commercial shop signs, and public signs on government buildings combines to form the linguistic landscape of a given territory, region, or urban agglomeration. The linguistic landscape of a territory can serve two basic functions: an informational function and a symbolic function (Landry/ Bourhis 1997: 25). Zusätzlich führen Landry und Bourhis aus: „The most basic informational function of the linguistic landscape is that it serves as a distinctive marker of the geographical territory inhabited by a given language community […]“ (1997: 25). Sie fassen also unter dem Terminus die Sichtbarkeit von Sprache auf öffentlichen und kommerziellen Zeichenträgern im öffentlichen Raum zusammen. Backhaus geht in seiner Monografie einen Schritt weiter und intendiert auch, den Nutzen von LL zu inkludieren: It [the study, Anm. N. E.-W.] aims to show that the study of language on signs can provide valuable insights into the linguistic situation of a given place, including common patterns of language and script use, official language policies, prevalent language attitudes, power relations between different linguistic groups, and the longterm consequences of language and script contact, among others (Backhaus 2007: 11). Am treffendsten fassen Shohamy und Waksman das Konzept und die Zielsetzung von LL zusammen, indem auch Aussagen über die virtuelle Welt und die Ökologie getroffen werden: Research on Linguistic Landscape (LL) refers to the study of language and its uses all around us - in public spaces, in the virtual world and in the ecology at large. It focuses mostly on various forms of language - verbal, visual and semiotic, which are displayed in public spaces such as markets, shops, schools, neighborhoods and cities (Shohamy/ Waksman 2012: 110). 398 Nicole Eller-Wildfeuer Backhaus leitet seine Monografie zum urbanen Multilingualismus in Tokyo mit folgendem Satz ein: „The city is a place of language contact“ (2007: 1). Diese Feststellung ist natürlich korrekt. Allerdings ist bei der Sichtung der entsprechenden Forschungsliteratur offensichtlich (vgl. hierzu exemplarisch Backhaus 2007 und Shohamy u. a. [Hrsg.] 2010), dass sich die einschlägigen Studien in erster Linie auf urbane Verhältnisse konzentrieren. Die durchaus interessanten und relevanten Verhältnisse von ruralen Minderheitensprachensituationen wurden bisher nur marginal berücksichtigt. Für die sprachlichen Verhältnisse in den untersuchten norditalienischen Minderheitensprachensiedlungen ist daher der Aussage von Hélot u. a. durchaus zuzustimmen, wenn sie LL bezeichnen als „linguistic mirror of the dynamics of our globalised society“ (2012: 17). 3.2 Differenzierung der „Texte“ im multilingualen Minderheitensprachenraum Bevor der Fokus auf die Arten visueller Mehrsprachigkeit und deren Funktionen im Minderheitensprachenkontext gerichtet wird, ist es im Vorfeld nötig, kurz die existenten Arten von Texten im multilingualen Raum anzuführen, wobei auf eine Textdefinition an sich verzichtet wird. Tobiasz differenziert zwischen top-down- und bottom-up-Texten: Bei den top-down-Texten handelt es sich um offizielle Zeichen und Schilder, deren Gebrauch nicht selten die sprachpolitischen Regulierungsmaßnahmen der Regierung bzw. der Lokalverwaltung widerspiegelt. Die Autoren der bottom-up-Texte sind dagegen Privatpersonen wie z. B. Inhaber von Geschäften oder Schöpfer der kommerziellen Werbung (Tobiasz 2013: 238). Als Sondergruppe führt Tobiasz (2013: 238) zudem auch noch Graffiti an, die er als „transgressive Texte“ deklariert, deren Urheberschaft allerdings oftmals ungeklärt bleibt. Für die vorliegende Untersuchung sind jedoch nur top-down-Texte (z. B. zweisprachige Wanderwege oder Ortsschilder, Willkommens- oder Verabschiedungsgrüße in der Minderheitensprache) und bottom-up-Texte (z. B. Gaststätten und Hotelnamen) von Relevanz, da keine Graffitis beigebracht werden konnten. 3.3 Arten visueller Mehrsprachigkeit und ihre Funktionen im Minderheitensprachenkontext In den alemannischen und bairischen Sprachsiedlungen finden sich unterschiedliche Arten visueller Mehrsprachigkeit, die im Folgenden exemplarisch aufgelistet werden: Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 399 - Ortstafeln (Bezeichnungen für Ortschaften oder Ortsteile, Flurnamen, Gruß- oder Verabschiedungsformeln): z. B. Oberteil, Mettelteil, Éischeme (jeweils Greschòney), Plodn, Guet kemmen in Garait (Bersntol) - Offizielle Gebäudeaufschriften: Gemeindeämter, Hotel- und Gaststättennamen: Gamoa'Haus (Bersntol), Gasthaus Lysjoch (Greschòney), Hotel Bladen (Plodn), Gressoney Walser Schpisiè, Hotel Stadel, Residence Oberteil (jeweils Greschòney), Plodar Kelder (Plodn) - Straßenschilder/ Wandertafeln: Greschmatto Waeg, Lyskamm Weg, Obre Platz (jeweils Greschòney), Gruab va Hardimbl, òlt Palai (jeweils Bersntol) - Zweisprachige Schilder in Museen (z. B. im Bersntoler Kulturinstitut) - Inoffizielle Gebäudeaufschriften/ Hinweise: Plodar Vosenocht, Berufsbezeichnungen auf Plodarisch - (kleine) Informationsschilder: z. B. Baum- und Blumennamen in der Minderheitensprache in Plodn (Abb. 5) - Bekanntmachungen/ Aushänge in der Minderheitensprache im Bersntol (Abb. 6) Abb. 5: Bezeichnungen für Baumnamen (Plodn/ Sappada) 400 Nicole Eller-Wildfeuer Abb. 6: Bekanntmachung in Palai en Bersntol/ Palù del Fèrsina Die umfassende Auflistung der vielfältigen Arten von visueller Mehrsprachigkeit in den bairischen und alemannischen Sprachsiedlungen widerlegt die Aussage Auers: Es scheint etwa nicht weiter erklärungsbedürftig, dass in ländlichen Regionen weniger Schriftzeichen zu sehen sind als in städtischen. Selbst in alten, stark vom Menschen geformten, aber dennoch ruralen Kulturlandschaften wird der Raum lediglich durch Wege, Landmarken und manchmal auch nicht-sprachliche Zeichen […] strukturiert (Auer 2010: 274). Zumindest für die norditalienischen Minderheitensprachenregionen ist die Erkenntnis Auers nicht zutreffend. Den unterschiedlichen Demonstrationen von visueller Mehrsprachigkeit können verschiedene Funktionen zugewiesen werden. Landry und Bourhis führen zwei Hauptfunktionen an: „The linguistic landscape of a territory can serve two basic functions: an informational function and a symbolic function“ (1997: 25). Auer hingegen hält insgesamt fünf Funktionen, die charakteristisch für Schrift im öffentlichen Raum sind, fest: „1) Benennen und Charakterisieren, 2) Zugehörigkeit markieren, 3) Gebrauchsweisen vorschlagen oder verbieten, 4) Wege weisen sowie 5) Ermahnen und Gedenken“ (2010: 290). Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 401 Was jedoch sowohl Landry und Bourhis (1997) als auch Auer (2010) vernachlässigen, ist die Tatsache, dass vor allem in den untersuchten Minderheitensprachenkontexten der visuellen Mehrsprachigkeit auch eine Demonstrationsfunktion zukommt. Auer erwähnt (mit einem Hinweis u. a. auf Giddens 1984), dass visuelle Mehrsprachigkeit „eine spezifische Sichtweise auf den Raum als Möglichkeit spezifischen Handelns“ eröffnet (2010: 274). Räume konstituieren somit „die Möglichkeit bestimmter Aktionsbzw. Interaktionsroutinen“ (Auer 2010: 275). In Bezug auf indexikalische (ortsgebundene) Zeichen verweist Auer ebenfalls darauf, dass „die öffentliche Schrift durch den Ort, an den sie angebracht ist, Wissensbestände, die für die Interpretation des Schriftzeichens unabdingbar sind“, eröffnet (2010: 279). Dieser Aussage ist uneingeschränkt zuzustimmen, da vor allem im Minderheitensprachenkontext der Platzierung von visueller Mehrsprachigkeit enorme demonstrative, aber auch symbolische Funktion zukommt, die ohne entsprechendes Wissen über die Minderheitensprachen ihre Wirkung nicht entfalten könnten. Um der Komplexität von LL gerecht zu werden, bedarf es unterschiedlicher und interdisziplinärer Zugänge. Gorter (2006: 86) führt beispielsweise linguistische, soziologische, soziolinguistische, psychologische und geografische Perspektiven an. Diese Auflistung Gorters soll im Folgenden um die ökonomische Perspektive erweitert werden. 4 Mehrsprachigkeit als ökonomischer und kultureller Faktor? 4.1 Mehrsprachigkeit als ökonomischer Faktor Bei einem Interview im Mai 2017 in Plodn hebt die Informantin F. P. R. (mittlere Generation) den Sonderstatus von Plodn als Minderheitensprachsiedlung, in der Plodarisch gesprochen wird, für den Tourismus hervor: (1) Knödel kriegst du überall in den Alpen, Plodarisch gibt es nur hier. (F. P. R., * 1969) F. P. R. weist der Minderheitensprache somit eine Schlüsselrolle zu, indem sie die Minderheitensprache als Besonderheit für den Tourismus erachtet. Bei einem Blick auf die Homepages von Plodn 6 / Sappada 7 fällt auf, dass die offizielle Homepage zu Sappada wahlweise auf Italienisch und Deutsch abgerufen werden kann. Auf der Homepage zu Plodn werden zumindest wichtige Begriffe auch auf Plodarisch wiedergegeben (s. Abb. 7). 6 Abrufbar unter http: / / www.plodn.info/ index.php (08.08.2018). 7 Abrufbar unter http: / / www.sappadadolomiti.com/ deu/ (08.08.2018). 402 Nicole Eller-Wildfeuer Abb. 7: Auszug aus der Homepage von Plodn (http: / / www.plodn.info/ index.php [08.08.2018]). Auf beiden Homepages wird explizit auf die Minderheitensprache als Alleinstellungsmerkmal für Plodn/ Sappada hingewiesen. Auch das offizielle Tourismusportal des Aostatals 8 , das neben zahlreichen anderen Sprachen auch auf Deutsch abrufbar ist, weist bei der Ortschaft Gressoney- La-Trinité ausdrücklich auf die walserdeutsche Varietät Titsch, die dort nach wie vor gesprochen wird, hin. Die Homepage des Bersntoler Kulturinstituts/ Istituto Culturale Mòcheno 9 wird neben Italienisch und Deutsch komplett auch in der Minderheitensprache angeboten. Es ist deshalb Leeman und Modan zuzustimmen, wenn sie behaupten: In the symbolic economy, cultural symbols play a significant role in the selling of products and services, and entrepreneurs invest in projects that rely on cultural symbols to attract consumers (Leeman/ Modan 2010: 185). Die Minderheitensprache fungiert, diesen Eindruck erweckt zumindest die Durchsicht der jeweiligen Onlineauftritte, für die untersuchten Sprachsiedlungen als Werbeträger bzw. wird als solcher eingesetzt. Dass Sprachsiedlungen bzw. ehemalige Sprachinseln mit der Besonderheit einer Minderheitensprache werben, beweist die Homepage der norditalienischen Gemeinde Cansiglio, einer (ehemaligen) zimbrischen Siedlung, die mit dem Zimbrischen, versehen mit dem Zu- 8 Abrufbar unter http: / / www.lovevda.it/ de/ datenbank/ 3/ ortschaften/ aostatal/ gressoneyla-trinite/ 391 (08.08.2018). 9 Abrufbar unter http: / / www.bersntol.it/ cms-01.00/ articolo.asp? IDcms=33&s=462&l=BE (09.08.2018). Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 403 satz „für Touristen“, wirbt (siehe Abb. 8), obwohl schon lange keine aktiven Sprecherinnen und Sprecher mehr existieren. 10 Abb. 8: Auszug aus der Homepage von Cansiglio (http: / / cimbridelcansiglio.it/ la-lingua/ il-cimbro-per-i-turisti/ [09.08.2018]). 4.2 Mehrsprachigkeit als kultureller Faktor Ein besonderes kulturelles Highlight in Plodn ist zweifellos die Plodar Vosenòcht, ein Faschingsbrauch, der nach Mitteilung der Informantin F. P. R. an den drei Sonntagen vor dem Aschermittwoch stattfindet und unterteilt wird in Bettlersonntag (Pèttlar Sunntach), Bauernsonntag (Paurn Sunntach) und Herrensonntag (Hearn Sunntach), an denen sich die Bevölkerung entweder als Bettler, Bauern oder Herren verkleidet und durch den Ort zieht. Besonderer Wert wird auf die Tatsache gelegt, dass die Maskierten die Minderheitensprache Plodarisch sprechen können. Eine besondere Funktion kommt dabei dem sogenannten R o ll a t 11 zu. In diese Schlüsselrolle darf allerdings nur ein junger Mann schlüpfen, der Plodarisch noch aktiv sprechen kann. Die Informantin hebt die Relevanz der Kompetenz des Rollat im Plodarischen in den Interviews deutlich 10 Mündlicher Hinweis von Prof. Dr. Ermenegildo Bidese (University of Trento). 11 Auf das Spektakel der Plodar Vosenòcht wird auch auf der Homepage hingewiesen: http: / / www.sappadadolomiti.com/ deu/ reisefuhrer/ traditionen-kunst-und-kultur/ derkarneval/ und http: / / www.plodn.info/ carnevale_sappada.php (09.08.2018). 404 Nicole Eller-Wildfeuer hervor und gibt an, dass man sowieso generell Plodarisch sprechen können solle, wenn man in den Karneval gehen will; ein Rollat, der nicht Plodarisch sprechen kann, sei nur ein halber Rollat. Sie führt diesbezüglich zur Verdeutlichung und Untermauerung ihrer These auch die Oper an, die klassischerweise auf Italienisch gesungen werden muss - auf Chinesisch wäre es dagegen keine Oper mehr. Ein weiterer kultureller Marker ist die Tendenz zur Umlautung, welche im Fersental - und dort scheinbar in erster Linie unter den jüngeren Sprecherinnen und Sprechern - beobachtet werden kann: Insbesondere jüngere Sprecher in Eichleit und Palai sprechen diese Laute mit so ausgeprägter Zentralisierung, dass für alle drei [die Kurzvokale e, i, o, Anm. N. E.-W.] der Höreindruck des ö entsteht, obwohl es sich noch deutlich um unterschiedliche Vokale handelt (Rowley 2017: 33). Auch der ehemalige Kindergarten 12 von Palai/ Palù del Fèrsina trägt beispielsweise neben der italienischen Bezeichnung zusätzlich die in der Minderheitensprache: K ö n d ö r g o rt n . Auffällig an der deutschen Aufschrift ist die zweimalige Umlautung. Rowley ordnet das Phänomen folgendermaßen ein: Durch die Hervorhebung dieser als ‚deutsch‘ empfundenen Besonderheit der eigenen Muttersprache bekennen sich in den Gemeinden, in denen die Sprachinselmundart noch allgemein üblich ist, gerade die jüngeren Fersentaler klar und deutlich als Mòcheni, als Mitglieder der Sprachinselgemeinschaft. Gleichzeitig distanzieren sie ihre Muttersprache vom Trentinischen und betonen ein auffälliges Merkmal, das allgemein als ‚deutsch‘ empfunden wird (Rowley 2005: 151). In Anlehnung an Spitzmüller, der bei der Verwendung von Umlauten in Bandnamen vom sogenannten „[f]oreign Branding“ spricht (2010: 111; [Kursivsetzung im Original]), wird für die Umlautungen im Bersntol der Terminus c u lt u r a l b r a n di n g eingeführt. Als letztes Beispiel soll die Zeitschrift LEM angeführt werden, die vom Bersntoler Kulturinstitut/ Istituto Culturale Mòcheno regelmäßig mit Beiträgen auf Italienisch, Deutsch und Mòchenisch herausgegeben wird und in der der Minderheitensprache ebenfalls eine kulturelle Schlüsselrolle zukommt. 13 Die angeführten Aspekte sind exemplarisch zu verstehen und nur einige wenige Beispiele dafür, dass Mehrsprachigkeit vor allem in dem untersuchten Minderheitensprachenkontext auch in kultureller Hinsicht von nicht zu vernachlässigender Relevanz ist. 12 Laut schriftlichem Hinweis von Leo Toller (Mitarbeiter am Bersntoler Kulturinstitut/ Istituto Culturale Mòcheno) ist der Kindergarten in Palai nicht mehr in Betrieb, das Gebäude trägt aber noch die Aufschrift aus den 1990er Jahren. Der aktuelle Kindergarten befindet sich in Florutz und trägt den Schriftzug K i n d e r g u r t n H i m b l r i n g . 13 Siehe hierzu die Erläuterungen unter http: / / www.bersntol.it/ cms-01.00/ articolo.asp? IDcms=292&s=535&l=BE (09.08.2018). Linguistic Landscape im Minderheitensprachenkontext 405 5 Resümee Abschließend sollen nun die zu Beginn des Beitrags vorgestellten Forschungsfragen beantwortet werden. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen LL und sprachlicher Vitalität lässt sich ganz klar mit einem Nein beantworten, was auch von Barni und Bagna untermauert wird: [T]here is no direct relationship between the presence of a language in an area, its vitality and its visibility. […] [the] relationship depends on numerous linguistic, extralinguistic and contextual factors (Barni/ Bagna 2010: 15). In der deutschböhmischen Sprachsiedlung in New Ulm/ Minnesota beispielsweise existieren zahlreiche Formen von visueller Mehrsprachigkeit, nichtsdestotrotz wurde die Minderheitensprache nicht an die nachfolgende Generation tradiert. Leeman und Modan führen für das kanadische Ontario den Terminus „marketing of heritage tourism“ an (2010: 191), was für New Ulm und sicherlich auch für zahlreiche weitere (ehemalige) Sprachsiedlungen zutreffend ist. Die Frage, ob kulturelle und ökonomische Faktoren zum Erhalt einer Minderheitensprache beitragen können, lässt sich nicht klar beantworten. Dass die Existenz der Minderheitensprache als Werbeträger eingesetzt wird, ist offensichtlich. Die Bedeutung des Tourismus wird exemplarisch für Plodn auch von Geyer (2018: 97 und 102) unterstrichen und lässt sich sicherlich auf die anderen im Fokus stehenden Minderheitensprachensituationen übertragen, wie die Untersuchung der entsprechenden Webauftritte verdeutlicht hat. Der kulturelle Faktor der Mehrsprachigkeit scheint ebenfalls wesentlich zu sein, auch wenn die Maßnahmen (wie z. B. die Voraussetzung von Minderheitensprachenkompetenz für die Teilnahme an Faschingsritualen) auf längere Sicht sicherlich nicht maßgebend für den Spracherhalt sein können. Welchen Beitrag die Sichtbarkeit einer Minderheitensprache zu leisten vermag, lässt sich ebenfalls nicht eindeutig benennen; dass dadurch jedoch das Bewusstsein für die Existenz der Minderheitensprachen geschärft wird, liegt sicherlich auf der Hand. Literatur Aiestaran, Jokin/ Cenoz, Jasone/ Gorter, Durk (2010): Multilingual Cityscapes: Perceptions and Preferences of the Inhabitants of the City of Donostia-San Sebastián. In: Shohamy, Elana/ Ben-Rafael, Eliezer/ Barni, Monica (Hrsg.): Linguistic Landscape in the City. Bristol u. a. S. 219-234. Auer, Peter (2010): Sprachliche Landschaften. Die Strukturierung des öffentlichen Raums durch die geschriebene Sprache. In: Deppermann, Arnulf/ Linke, Angelika (Hrsg.): Sprache intermedial. Stimme und Schrift. Bild und Ton. 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Hierbei bleibt weitgehend unberücksichtigt, dass sich in einigen Sprachinseln zumindest zeitweise ein Druckwesen mit einer lebhaften Zeitungslandschaft etablieren konnte. In der jüngeren Forschung zur Plurizentrik dagegen haben vor allem Korpora aus Regionalzeitungen einen prominenten Platz in der empirischen Erforschung von Variation im Standarddeutschen erfahren. Dieser Beitrag schlägt die Brücke zwischen den beiden Forschungsdiskursen und fragt, ob das Modell des plurizentrischen Deutschen in seiner historischen Dimension einer Erweiterung um tote Zentren bedarf. Darauf aufbauend zeigt er anhand zweier deutschsprachiger texanischer Zeitungen, dass sich bereits um 1900 im gedruckten Texasdeutschen kontaktsprachliche Einflüsse auf der Ebene der Lexik finden lassen. Ob dies hinreichend für die Annahme einer spezifisch texasdeutschen Standardvarietät ist, ist in weiteren Untersuchungen empirisch zu ergründen. 1 Einleitung Dieser Beitrag verbindet zwei Themenbereiche, die bisher nur selten miteinander in Zusammenhang gebracht wurden: die Sprachinselforschung und Deutsch als plurizentrische Sprache. Am Beispiel des texasdeutschen Druckwesens diskutiert er die Möglichkeit, das auf die Gegenwartsverhältnisse hin entworfene Modell des Deutschen als plurizentrischer (oder pluriarealer) Sprache um eine historische Dimension zu erweitern und historische Standardvarietäten anzunehmen, die sich auf dem Weg in die Gegenwart aufgelöst haben. Den theoretischen Überlegungen folgt eine exemplarische Untersuchung anhand zweier in Texas auf Deutsch gedruckter Zeitungen aus der Zeit um 1900, die Hinweise darauf sammelt, dass sich dort bereits früh sprachliche Innovationen durchgesetzt haben, die Texasdeutsch von anderen Standardvarietäten der Zeit unterscheiden. Der Beitrag beginnt mit einer kurzen Diskussion des Deutschen als plurizentrischer Sprache, die insbesondere die Bedeutung von (regionalen) Zeitungen für die Theorie und Empirie der Plurizentrik herausstellt. Dem folgen ein knapper Abriss der Geschichte des Texasdeutschen sowie ein Überblick über die begrenzte Forschung zur texasdeutschen Schriftlichkeit. Ausgehend von dieser 410 Matthias Fingerhuth Diskussion präsentiert der Beitrag schließlich Belege für lexikalische Innovationen aus zwei texasdeutschen Zeitungen, der Freien Presse für San Antonio und dem Bellville Wochenblatt, die erste Hinweise darauf bieten, dass sich in Texas innerhalb weniger Jahrzehnten im gedruckten Standarddeutsch eigene Charakteristika entwickelt haben. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein Ausblick auf die Implikationen der Funde für weitere Forschung bilden den Abschluss des Artikels. 2 Plurizentrizität: Theorie und Empirie Der Begriff plurizentrisch hat sich in den vergangenen Jahrzehnten etabliert, um eine Sicht der deutschen Standardsprache zu erfassen, die diese nicht als monolithisch und uniform ansieht, sondern die parallele Existenz verschiedener arealer Standarvarietäten annimmt. Angewandt wurde er jedoch in der Mehrzahl der Fälle nur auf die Gegenwartssprache und auf das geschlossene deutsche Sprachgebiet in Mitteleuropa. Ferner ist er auch nicht konkurrenzlos oder unumstritten. Deswegen erscheint für die hier verfolgte Frage nach dem Status des historischen Texasdeutschen in der Theorie der Plurizentrik eine einleitende Diskussion sinnvoll. Zumindest anfänglich war das Verständnis des Begriffs Plurizentrik eng an die verschiedenen (zumindest in Teilen) deutschsprachigen Nationalstaaten gebunden. In der Folgezeit wurde die Bindung von Standardvarietäten an Staatsgrenzen jedoch infrage gestellt und etwa die Bedeutung von grenzüberschreitenden Dialekträumen hervorgehoben. Um diese Sicht hervorzuheben, wird von Teilen der Forschung der Begriff pluriareal verwendet. Die Diskussion um die Termini wurde zeitweise kontrovers geführt (vgl. Scheuringer 1996; Wolf 1994) und ist auch in Teilen bis in die Gegenwart noch nicht zum Stillstand gekommen (siehe z. B. Dollinger 2019). 1 In der Praxis haben beide Termini eine durchaus ähnliche Forschungspraxis bezeichnet. Auf der einen Seite steht die Arbeit des Variantenwörterbuchs, das mit der Bezeichung plurizentrisch als ein grenzüberschreitendes Projekt die lexikalische Variation im Standarddeutschen erkundet hat (Ammon u. a. 2016). Auf der anderen Seite erforscht die Variantengrammatik grammatische Variation unter dem Begriff Pluriarealität (Dürscheid u. a. 2015). Trotz der unterschiedlichen Terminologie finden sich in der Praxis große Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ansätzen. Das Variantenwörterbuch etwa identifiziert auch kleinräumige Varianten wie etwa „Tanse“ als nur im Osten der Schweiz gebräuchliche Be- 1 Für Abrisse des Entstehens der Begrifflichkeit und der frühen Kontroversen siehe z. B. Ammon (1995: 35-60) oder auch Fingerhuth (2017: 30-42). Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 411 zeichnung eines Rückentragegefäßes für Trauben, Milch und andere Dinge (Ammon u. a. 2016: 132). Dieser Beitrag verwendet im Weiteren den Begriff plurizentrisch. Damit bezieht er aber nicht Position für eine Sicht von an Nationalstaaten gebundenen Varietäten. Vielmehr folgt dieser Gebrauch der weiteren Lesart, die ihn als einen Oberbegriff für jegliche räumlich bedingte Variation in der Standardsprache - sei sie an Staatsgrenzen gebunden, über diese hinausgehend oder auf Teile von Nationalstaaten beschränkt - versteht, wie es praktisch bereits im Variantenwörterbuch umgesetzt worden ist. Dieser Verwendung des Begriffs kann zwar eine gewisse Unschärfe vorgeworfen werfen. Für eine solche Unschärfe spricht aber das tatsächlich existierende Nebeneinander von Mustern des Variantengebrauchs, der teils an Staatsgrenzen haltmacht, der aber auch ebenso grenzüberschreitend ist oder kleinräumiger innerhalb von Nationalstaaten auftritt. 2 Die Konzepte von Plurizentrik und Pluriarealität sind mit Blick auf gegenwartssprachliche Verhältnisse hin entworfen und entwickelt worden, wie sich auch die Forschungspraxis ganz wesentlich auf die Gegenwartssprache konzentriert. Als eine Ausnahme kann Peter von Polenz (1989: 15) gelten, der bereits recht früh in der Debatte um Plurizentrik einen Vorschlag zu monozentrischen und plurizentrischen Tendenzen in der Entwicklung des Standarddeutschen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gemacht hat. Am Anfang steht dabei die Etablierung einer bürgerlichen Bildungssprache, die in vielerlei Hinsicht überregional ist. Allgemein erscheint jedoch die Periode um 1800 immer wieder als eine Zäsur, deren Veränderungen auf die Gegenwart hinweisen, wenn sich auch im Verlaufe des 19. Jahrhunderts noch weitere Veränderungen einstellten, die von sprachgeschichtlicher Relevanz sind (vgl. Polenz 1989: passim). Als Verwaltungsakt legen die Vereinheitlichung der deutschen Rechtschreibung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie die darauf hinführenden Prozesse (siehe dazu Schlaefer 1980; 1982) ferner nahe, dass um die Jahrhundertwende wesentliche Homogenisierungsprozesse abgeschlossen sind. Die Frage, bis zu welchem Grad in dieser sich etablierenden Standardsprache noch areale Variation vorhanden ist, ist aber erst in jüngerern Arbeiten explizit gestellt und empirisch aufgegriffen worden (vgl. Elspaß/ Niehaus 2014; Fingerhuth 2017). Diese Arbeiten zeigen im Detail unterschiedliche Entwicklungsverläufe verschiedener Varianten auf, liefern aber noch keine abschließenden Antworten. Sie demonstrieren jedoch über 2 Als weiteren Alternativbegriff schlägt Niehaus (2015: 164) regiozentrisch vor, um beide Perspektiven zu vereinen. Während der Autor diesen neuen Begriff grundsätzlich begrüßt, sieht er an dieser Stelle von der Übernahme ab, da er bislang nicht allgemein etabliert erscheint und somit vom bestehenden Forschungsdiskurs fortführt. Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht die Einordnung des in Texas verwendeten Standarddeutschen innerhalb des pluri-/ regiozentrischen/ -arealen Deutschen, nicht aber die räumliche Gliederung des deutschsprachigen Raumes in Mitteleuropa. 412 Matthias Fingerhuth die Rückverfolgung der Standardsprachentwicklung bis in die Zeit um die Jahrhundertwende, dass sich das Konzept der Plurizentrizität durchaus auch historisch anwenden lässt. Neben der Übertragung des Plurizentrizitätskonzeptes in die Vergangenheit ist ferner seine Ausweitung auf die Sprachgemeinschaften abseits des Kerngebiets erwähnenswert. Die Rolle des Standarddeutschen in Texas wird im folgenden Abschnitt zum Texasdeutschen selbst genauer betrachtet werden. An dieser Stelle geht es vielmehr um das räumliche Ausdehnen des Plurizentrizitätsbegriffs. Auch für diese gibt es Präzedenz. Spätestens mit der 2. Auflage des Variantenwörterbuchs hat sich die Plurizentrizitätsforschung für Sprachinselvarietäten bzw. Regionen, in denen Deutsch den Status einer Minderheitssprache trägt, geöffnet, indem auch Varianten aus Rumänien, Namibia sowie den Mennonitenkolonien auf dem amerikanischen Kontinent aufgenommen wurden. Diese Sprachgemeinschaften sind hinsichtlich ihrer Siedlungsgeschichte und ihrer gegenwärtigen Situation divers, werden aber durch ihre räumliche Trennung vom Kerngebiet des Deutschen mit dem Texasdeutschen verbunden. Für diese Gebiete wird im Variantenwörterbuch die Bezeichnung Viertelzentrum verwendet, die es in früheren Entwürfen des plurizentrischen Modells nicht gibt (vgl. etwa Ammon 1995) und die wie folgt charakterisiert ist: Deutsch ist Minderheitensprache und nicht staatliche Amtssprache, und die nationalen Varianten sind dort nicht kodifiziert. Ferner sind die Varianten dort 1.) spezifisch für die entsprechende Minderheit, 2.) kommen sie regelmäßig in örtlichen Modelltexten vor, was vor allem Zeitungen sind, und 3.) werden sie von den dortigen Sprachnormautoritäten, vor allem Lehrkräften, als korrekt anerkannt (vgl. Ammon u. a. 2016: VII). Diese für eine synchrone Untersuchung entworfenen Kriterien lassen sich natürlich nicht ohne Weiteres auf eine Untersuchung des historischen Sprachstands übertragen. Die Frage nach der Akzeptanz von Varianten durch Sprachnormautoritäten ist für die Sprachgeschichte allenfalls unter großen Aufwand zu betreiben und steht vor dem Problem, dass womöglich erhaltene Dokumente, die etwa Antwort auf das Korrekturverhalten von Lehrkräften in Texas geben könnten, nicht erschlossen sind. Dieses Problem ist jedoch nicht für Texas oder andere Sprachinseln spezifisch, sondern ist vorrangig der historischen Ausrichtung der Untersuchung geschuldet und stellt sich der historischen Standardsprachforschung ganz allgemein. Für die Empirie rückt deshalb im vorliegenden Beitrag der zweite Aspekt in den Mittelpunkt: das Auftreten von Varianten in Modelltexten, als welche bereits das Variantenwörterbuch Zeitungen hervorhebt. 3 3 Wie das Variantenwörterbuch stellt auch die Variantengrammatik regionale Zeitungen ins Zentrum der empirischen Arbeit. Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 413 Auf das Kriterium der Spezifizität texasdeutscher Varianten wird in Kürze im Kontext der empirischen Untersuchung weiter eingegangen werden. Im Kontext der Theorie der Plurizentrizität ist jedoch hervorzuheben, dass es Hinweise darauf gibt, dass Texas historisch über einem Viertelzentrum einzustufen ist. Als Vollzentren gelten nach dem Variantenwörterbuch diejenigen Länder und Regionen, in denen die Besonderheiten der Standardvarietät in Sprachkodices festgehalten sind (vgl. Ammon u. a. 2016: XXXIX). Dies kann für Texas wohl guten Gewissens ausgeschlossen werden. Das Kriterium für Halbzentren ist jedoch, dass Deutsch in diesen Amtssprache ist (vgl. Ammon u. a. 2016: XXXIX). Dieses Kriterium müsste für Texas im historischen Kontext detaillierter diskutiert werden, was hier übergangen werden soll. Als Ausblick sei jedoch festgehalten, dass es Indizien gibt, die für den amtssprachlichen Status von Deutsch zumindest in Teilen von Texas sprechen. Zunächst ist dies die staatlich offiziell bestimmte Veröffentlichung von Gesetzen in deutscher Sprache. Über den Status von Deutsch im Alltag der texanischen Administration existieren nach Kenntnis des Autors keine Studien. Angesichts des erdrückenden Anteils deutschsprachiger Bevölkerung in regionalen Gerichtszentren wie etwa Neu Braunfels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Teile der Bevölkerung ohne Englischkenntnisse gelebt haben, erscheint es jedoch zumindest plausibel, dass Deutsch auch vor Gericht verwendet wurde. Zu welchem Grad Texas letztlich ein Zentrum des plurizentrischen Deutschen gewesen ist, soll an dieser Stelle aber nur als Frage aufgeworfen bleiben und ist an anderer Stelle gesondert zu diskutieren. Der folgende Abschnitt widmet sich dagegen der Grundbedingung dafür, dass Texas überhaupt als ein Zentrum infrage kommen kann: der Existenz spezifischer Varianten innerhalb von Modelltexten, die in anderen Teilen des deutschsprachigen Raums nicht im Druck erscheinen. 4 3 Forschung zum Texasdeutschen Obwohl dezentral und vielfältig entstanden, hat sich die Sprachinselforschung in großer Nähe zur Dialektologie entwickelt, und im Einklang damit hat ihr vorderstes Interesse traditionell der gesprochenen Sprache gegolten (vgl. Boas/ Fingerhuth 2018). 5 Die Forschung zum Texasdeutschen stellt hiervon keine Aus- 4 Für eine Diskussion, die für die Übertragbarkeit des Plurizentrizitätsgedankens auf historische Kontexte, im Besonderen anhand von Zeitungssprache, spricht, sei auf Niehaus (2016: 19-29) verwiesen. 5 Zu dieser Regel gibt es natürlich Ausnahmen. Neben den im Folgenden diskutierten Beiträgen zur Schriftsprache in Texas gibt es auch Beiträge zur Schriftlichkeit in anderen deutschsprachigen Gemeinschaften, etwa in Ungarn (vgl. Földes 2015: 173). 414 Matthias Fingerhuth nahme dar. Dies beginnt bei den frühesten Arbeiten von Fred Eikel, der methodisch auf die dialektgeografische Arbeit von Carroll E. Reed und Lester W. Seifert rekurriert (vgl. Eikel 1966: 15-16). Noch deutlicher wird es in der Arbeit von Glenn G. Gilberts, die in den umfangreichen Linguistic Atlas of Texas German mündete (Gilbert 1972). Auch in den jüngsten Arbeiten zum Texasdeutschen im Rahmen des Texas German Dialect Project (http: / / www.tgdp.org) liegt der Fokus auf der Dokumentation und Erforschung der gesprochenen Sprache. Im Gegensatz dazu ist die Schriftlichkeit praktisch unerforscht. Es gibt zwar bereits aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Arbeiten, die die literarische Tätigkeit der Texasdeutschen dokumentieren (vgl. Metzenthin Raunick 1929), von der sprachwissenschaftlichen Forschung ist die texasdeutsche Schriftlichkeit jedoch nur vereinzelt untersucht worden. Hervorzuheben ist die Arbeit von Salmons und Lucht (2006), die dokumentiert, wie schnell und umfassend sich in Texas ein deutschsprachiges Zeitungswesen entwickelt hat. Dies soll im Folgenden kurz umrissen werden. 6 Obwohl es bereits in den 1830er-Jahren vereinzelt deutsche Siedler in Texas gab, begann die erste große Welle der deutschen Besiedlung erst in den 1840er Jahren (vgl. Boas 2009: 33). Nach Salmons und Lucht (2006: 173) gab es bereits 1846 die Galveston Zeitung, es folgten 1852 die Neu-Braunfelser Zeitung, 1853 die San Antonio Zeitung sowie eine Vielzahl weiterer regelmäßiger Publikationen in den folgenden Jahren. Dass dies keine kurzlebige Entwicklung war, geht aus ihren weiteren Ausführungen hervor (vgl. Salmons/ Lucht 2006: 173-177). Die Jahre 1904 und 1907 markieren mit 29 zeitgleich erscheinenden Publikationen einen Höhepunkt im texasdeutschen Druckwesen, doch selbst nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschienen im Jahr 1919 noch 15 Publikationen parallel. In den folgenden Jahrzehnten reduzierte sich die Zahl jedoch weiter, bis die Neu- Braunfelser Zeitung im Jahr 1957 als Letzte aufhörte, auf Deutsch zu publizieren. Trotz dieses Wissens um das Druckwesen in Texas ist die eigentliche Sprache des gedruckten Texasdeutschen kaum untersucht. Salmons und Lucht (2006: 167) kommentieren, dass Texas dem Wandel von orthografischen Konventionen um 1900 langsam folgte, gehen jedoch nicht detailliert auf etwaige Abweichungen des geschriebenen texanischen Standarddeutschen ein. Die wahrscheinlich einzige Veröffentlichung, die sich mit der Form dieser Schriftlichkeit befasst, ist ein Artikel von Joseph B. Wilson, in dem er basierend auf einer Ausgabe des Giddings Deutsches Volksblatt aus dem Jahr 1935 das folgende Fazit zieht: From these newspaper samplings, we can see that we are talking about standard German, naturally influenced by English. This is quite in contrast to Pennsylvania 6 An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass ungeachtet dieser Dokumentation die Bedeutung des Standarddeutschen unter den Siedlern und damit auch seine Auswirkung auf die Entwicklung des Texasdeutschen umstritten ist (vgl. Boas/ Fuchs 2018: 289-294). Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 415 German, which is basically Palatinate dialect (Pfälzisch) and which is almost as different as Dutch from standard German. The language of this Giddings newspaper is indistinguishable from that of the famous Neu-Braunfelser Zeitung, the oldest German newspaper in the state, which was founded in 1852 and published in German for over a hundred years, until 1954 (Wilson 1977: 50). Im direkten Vergleich mit Pennsylvaniadeutsch erscheint Wilsons Einschätzung durchaus zutreffend, jedoch fehlt es ihr an Gespür für Nuancen, und sie verstellt den Blick auf überaus interessante Fragen. Zum einen wäre es interessant zu ergründen, auf welchen Ebenen sich der englischsprachige Einfluss konkret bemerkbar macht oder ob es auch unabhängig vom Englischen sprachliche Innovationen im gedruckten Texasdeutsch gegeben hat. Weiters bietet das gedruckte Material eine bedeutende Quelle für die Beurteilung der Sprachdaten jüngerer Sprecher des Texasdeutschen. Vor dem Hintergrund des Sprachwechsels, in dem Englisch Deutsch als dominante Sprache abgelöst hat, stellt sich die Frage, ob das sprachliche Verhalten der gegenwärtigen Sprecher ein Ergebnis von Attritionsprozessen ist oder ob es muttersprachlich gelerntem Texasdeutsch entspricht, das sich bereits vor der Zeit der Sprecher als Gesamtes unter dem Einfluss der englischen Sprache gewandelt hat. Während auch die Untersuchung der überlieferten Zeitungen hier wohl keine letzte Gewissheit verschaffen kann, so kann sie doch maßgeblich dabei helfen, die Geschwindigkeit einzuschätzen, mit der sich Texasdeutsch entwickelt hat. 7 Es versteht sich, dass dies ein umfangreiches Projekt darstellt, das im Rahmen dieses Beitrags nicht einmal im Ansatz untergebracht werden kann. Die weiter unten folgende exemplarische Auswertung zweier Zeitungen soll jedoch demonstrieren, dass die Quellen insofern ergiebig sind, als dass sie Positivbelege für den Einfluss von Englisch als Kontaktsprache enthalten, die sich bereits um 1900 so weit durchgesetzt haben, dass sie in Zeitungstexten sichtbar werden. Der folgende Abschnitt baut der theoretischen Relevanz dieser praktischen Arbeit vor, indem er den jüngsten Stand der Plurizentrizitätsforschung anreißt und die Bedeutung insbesondere von Zeitungstexten für diese herausstellt. 4 Texanismen in Zeitungen des 19. Jahrhunderts Im Folgenden wird nun die aufgeworfene Frage nach spezifisch texanischen Varianten empirisch untersucht. Die bis in die heutige Zeit erhaltenen texasdeutschen Zeitungen sind bislang nicht auf eine Weise erschlossen, die sie einer groß angelegten korpuslinguistischen Untersuchung zugänglich machen würde. 7 Weitere wichtige Schritte hierzu wären die Untersuchung handschriftlicher Quellen sowie die erneute Auswertung alter Aufnahmen, etwa des umfangreichen von Glenn G. Gilbert gesammelten und bis heute erhaltenen Materials. 416 Matthias Fingerhuth Die Untersuchung bedient sich deshalb der im Briscoe Center an der University of Texas at Austin auf Mikrofilm existierenden Bestände. Die Zeitungen wurden zu PDF-Dateien digitalisiert, sind jedoch in dieser Form noch nicht im Volltext durchsuchbar. Die vorliegende Untersuchung ist deshalb nicht als quantitativ und erschöpfend zu verstehen, sondern hat einen sondierenden Charakter. Die Zeitungsausgaben wurden händisch auf Belege durchsucht, die auffällig erschienen. Aus pragmatischen Gründen lag der Fokus dabei auf lexikalischen Auffälligkeiten, die sich auf den Sprachkontakt mit Englisch zurückführen lassen. Die Hauptlast der Untersuchung trägt die Freie Presse für Texas, die erstmalig 1865 in San Antonio erschienen ist. Um zumindest einen Ausblick auf die Verhältnisse im weiteren Texas zu ermöglichen, wurde das Bellville Wochenblatt als weitere Quelle durchsucht, das ab 1891 im ländlicheren Bellville erschien. Für die Freie Presse wurden bis zu vier, an nah beeinanderliegenden Tagen veröffentlichte Ausgaben aus den Jahren 1881, 1891 und 1901, für das Bellville Wochenblatt weitere vier Ausgaben aus dem Jahr 1891 durchgesehen. Die Auswahl fällt in einen Zeitraum, den man als Blüte der deutschen Siedlung in Texas bezeichnen kann, und versucht durch den zeitlichen Abstand potenziell mehr Variation einzufangen, erfolgt aber innerhalb dieser Jahrgänge mit einem gewissen Grad an Willkür, wobei die Lesbarkeit der auf Mikrofilm reproduzierten Ausgaben ein entscheidender Faktor war. Um dagegen das Urteil über die Spezifizität der gefundenen Belege nicht vollständig der Willkür zu überlassen, wurde anhand der Referenz- und Zeitungskorpora des DWDS (Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache) überprüft, ob sich für den Zeitpunkt von 1830 bis 1930 im europäischen Deutsch entsprechende Belege mit gleicher Verwendung finden lassen. Bei einer großen Menge von Belegen wurden exemplarisch 200 Belege durchgesehen, wobei abweichende Orthografien berücksichtigt wurden. Wie bei allen Korpusuntersuchungen ist die Abwesenheit von Belegen kein Beleg für die Abwesenheit der entsprechenden Form, kann aber als ein Hinweis für deren Ungebräuchlichkeit gewertet werden. Um über ein reines Sammeln von Belegen zumindest in gewissem Maße hinauszugehen, sind die im Folgenden aufgeführten Belege in drei thematische Gruppen eingeteilt: Texanismen der Verwaltungsterminologie, des Alltagslebens und des Konsums sowie solche aus dem Bereich der Landwirtschaft. 5 Texanismen in der Freien Presse für San Antonio und im Bellville Wochenblatt Die frühesten untersuchten Ausgaben der Freien Presse für San Antonio stammen aus dem Jahr 1881. Bereits zu dieser Zeit finden sich vielfältige Belege für eine Übernahme englischer Begriffe aus dem Bereich der Verwaltung, insbesondere Amtsbezeichnungen. In (1) ist dies etwa die Bezeichnung Generallandcomissioner, Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 417 in (2) die Position Stadtmarschall. Zwar finden sich im DWDS Belege für Kommissionär (in verschiedenen orthografischen Varianten), jedoch verweisen diese, soweit bestimmbar, vorwiegend auf Kommissionäre im Kontext von Handelstätigkeiten. Solche Belege, die auf eine Verwaltungsfunktion hinweisen, erscheinen als Zitate, der Generallandcomissioner im Speziellen ist im DWDS jedoch nicht belegt. In ähnlicher Weise ist zwar auch Marschall im DWDS belegt, jedoch tritt auch hier nur die militärische Bedeutung auf, nicht jedoch die polizeiliche Bedeutung, die der Funktion des Stadtmarschalls entspricht. (1) Der Generallandcomissioner hat 50,000 Acker reservierter und vermessener Capitolländereien zum Verkauf ausgeboten (Freie Presse für Texas, 1881-01-04, S. 2). (2) Weimar: Ausschreitungen, wie sie gewöhnlich an Weihnachtstagen stattfinden, sind nicht zu verzeichnen, was viel dem vor kurzem angestellten Stadtmarschall G. Allen zuzuschreiben ist, dessen unerschrockenes und energisches Wesen den krakehlenden Boys [im Original durch Antiqua von der allgemein verwendeten Fraktur hervorgehoben] gewaltigen Respekt einflößt (Freie Presse für Texas, 1881-01-04, S. 4). Innerhalb der Wahlankündigung in (3) findet sich gleich eine Vielzahl von Belegen aus dem Verwaltungswesen. Für den Terminus Mayor finden sich im DWDS in verschiedenen Textsorten des 19. Jahrhunderts Belegstellen, sodass man diesen nicht als speziell für Texas auffassen kann. Gleiches gilt für Recorder, und auch Alderman erscheint in verschiedenen Publikationen der Periode ohne Hervorhebung. Für Straßen-Comissioner wiederholt sich jedoch die bei Generallandcomissioner beobachtete Abwesenheit, und auch Collector tritt fast ausschließlich im Kontext physikalischer Texte auf. Die Ausnahme bilden ein historiografischer Text sowie ein Lexikoneintrag, aufgrund derer jedoch weniger als in den oben genannten Fällen davon ausgegangen werden kann, dass sie eine weitere Verbreitung hatten. (3) Wahl=Proclamation. Mayors Office, San Antonio 18. December 1880 Gemäß der mir durch den städtischen Charter und Ordinanzen verliehenen Gewalt ordne ich, James H. French, Mayor der Stadt San Antonio, eine Wahl an, welche am zweiten Montag im Januar 1881 (Montag 10. Januar) abgehalten werden soll, um folgende Beamten zu erwählen: Mayor, Recorder, Collector, Straßen-Comissioner, und einen Alderman für jede Ward, um Vacanzen zu füllen, die durch den Ablauf des Amtstermins folgender Aldermänner entstehen: […] (Freie Presse für Texas, 1881-01-06, S. 2). In (4) zeigt sich mit Bill ein weiterer möglicher Texanismus. Zwar finden sich im DWDS verschiedene Belege für Bill im Sinne von Gesetzestext. Sofern die Korpussuche dort jedoch den Kontext erkennen lässt, verweisen diese in sämtlichen Fällen auf Gesetze in der englischsprachigen Welt. Im vorliegenden Beleg ist dies jedoch gerade umgekehrt, und der Bericht verweist ausdrücklich auf 418 Matthias Fingerhuth Ereignisse im Deutschen Reich. Hier lässt sich also eine Generalisierung der Verwendung von Bill in Texas annehmen. (4) Deutsche Politik. Der deutsche Reichstag hat sich am 9. Mai vertagt, nachdem er mit 159 gegen 126 Stimmen die neue Zucker-Bill angenommen hat. Die Session wurde bis zum 1. November vertagt, nachdem die üblichen drei Hochrufe auf den Kaiser ausgebracht worden waren. […] Die Arbeiter=Schutz=Bill, welche das Haus seit einem Jahre beschäftigt, wurde mit großer Majorität angenommen. Nur die Socialdemokraten stimmten dagegen, und zwar aus dem Grunde, weil ihnen die in der Bill enthaltenen Maßregeln zum Schutze der Arbeiter und ihrer Interessen nicht weitgehend genug erschienen. Die Zucker=Bill führte noch zu guter Letzt zu ziemlich lebhaften Auseinandersetzungen. Das hatte seinen Grund darin, daß das Centrum noch zuletzt ein Amendement zu dem Zuckersteuer=Gesetz beantragt hatte (Freie Presse für Texas, 1891-05-11, S. 2). Diese Belege deuten an, dass sich in der texasdeutschen Schriftlichkeit bereits vor 1900 für Texas spezifische Begriffe aus dem Bereich der Administration konventionalisiert haben. Als weiterer Themenbereich lässt sich darüber hinaus der des täglichen Lebens und des Konsums ausmachen. (5) und (6) bieten Belege für die Verwendung von Office. Eine vergleichbare Verwendung lässt sich im DWDS für die untersuchte Periode nicht nachweisen. Zwar findet sich das Wort, jedoch stets nur in Verbindungen wie Foreign Office oder in englischsprachigen Inseraten, die im DWDS auftreten. Die freie Verwendung im Sinne von „Büro“ kann damit als texanische Besonderheit eingestuft werden. Ebenfalls auffällig ist die Verwendung von Clerk in (6). (5) Gesucht wird ein gutes deutsches Mädchen für eine kleine Deutsche Familie. Nachzufragen in der Office der Freien Presse (Freie Presse für Texas, 1881-01-04, S. 4). (6) In Dallas erbrachen Diebe die Office des Agenten für McCormicks Mähmaschinen, erweckten den im Store schlafenden Clerk und zwangen ihn, den eisernen Geldschrank zu öffnen. Sie fanden $ 212 baares Geld darin, welches sie nahmen und sich dann entfernten (Freie Presse für Texas, 1881-01-05, S. 1). In (6) sowie in (7) zeigt sich weiterhin die Verwendung von Store im Sinne von Ladenlokal. Auch diese kann man als für Texas spezifisch annehmen. Vergleichbar verwendet finden sich im DWDS lediglich zwei Belege, diese stammen jedoch zum einen aus einem Reiseroman (Ferdinand Kürnbergers Der Amerika- Müde) und erscheinen im zweiten Fall glossiert, sodass die Allgemeinsprachlichkeit des Begriffs dadurch eher infrage gestellt werden kann. In Texas dagegen wird es auch in Komposita wie dem Dry Goods Store in (8) verwendet, wobei Dry Goods eine separate Übernahme aus dem Englischen darstellt. Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 419 (7) In Climax, Mich., explodirten in einem Store 100 Pfund Pulver. Zwölf Personen wurden dabei verwundet, und der ganze Store zerstört (Freie Presse für Texas, 1881-01-13, S. 2). (8) J. Joske und Söhne Alamo Plaza, gegenüber der Post-Office Dieser beliebteste aller Dry=Goods Store hiesiger Stadt bietet für die Winter-Saison eine vorzügliche Auswahl von Dry=Goods, Schuhen, Shawls, Tüchern, Fancy=Artikeln etc. und fertigen Herren und Knaben=Anzügen zu sehr billigen Preisen (Freie Presse für Texas, 1881-01- 06, S. 1). Dass derweil deutsche Begriffe für Geschäfte zu dieser Zeit nicht verdrängt waren, illustriert im Gegenzug die Verwendung von Geschäftslokale in (10). Im gleichen Beleg deutet im Gegenzug Square auf eine weitere Übernahme aus dem Englischen hin. Zwar finden sich für Square Belege im DWDS, diese erscheinen jedoch in Zeitungen nur als Adressangabe. In literarischen Werken dagegen bezeichnet der Begriff entweder spezifische Orte, wie etwa den Washington Square, oder der Begriff wird erläutert, was wieder als Indiz für seine Ungebräuchlichkeit gelesen werden kann. (9) In Lockhart brannte beinahe die ganze Nordseite des Square ab. Fünf Geschäftslokale wurden zerstört (Freie Presse für Texas, 1881-01-05, S. 1). Neben Dry Goods enthält (8) ferner den Begriff Fancy Artikel. In Verbindung mit dem Beleg Fancy Waren in (10) scheint es, dass Fancy-Güter als eigene Warenkategorie im Texasdeutschen Verbreitung gefunden haben. Im DWDS ist der Begriff nur in der Reiseliteratur belegt, wo er erläutert wird, was abermals auf seinen besonderen Status hinweisen mag. Die Erwähnung von Clothing in (11) deutet eine weitere solche Übernahme an, ebenso Groceries in (12). Beide sind im DWDS nicht belegt. (10) Die größte Auswahl von Fancy-Waaren in der Stadt! (Freie Presse für Texas, 1881-01-04, S. 4). (11) Pancoast & Sohn haben diese Saison eine ungewöhnlich feine Auswahl in Clothing. Niemand verkauft seine Anzüge billiger (Freie Presse für Texas, 1891-05-11, S. 2). (12) Was ein Mann ißt, das ist er! Sie werden die Wahrheit dieses Sprüchworts einsehen, wenn Sie in Zukunft Ihre Groceries und Ihr frisches Fleisch von uns beziehen! Kneeland & Co (Freie Presse für Texas, 1901-01-10 S. 5). Als drittes thematisches Gebiet soll zuletzt auch das der Landwirtschaft besprochen werden. Als einziger Beleg wird hier (13) aufgeführt, in dem sich jedoch gleich mehrere Belege finden. Zunächst ist dies die Verwendung von Fenz mit der Bedeutung von Zaun. Dies erscheint im DWDS-Korpus abermals ausschließlich in Kürnbergers Roman Der Amerika-Müde sowie in einem Beitrag 420 Matthias Fingerhuth der Allgemeinen Auswanderungs-Zeitung, die beide nicht als repräsentativ für das europäische Deutsch gelten müssen. Darüber hinaus tauchen auch das Begriffspaar Cottongin und Ginner sowie der Begriff Kuhpenn auf, die sämtlich nicht im DWDS-Korpus belegt sind. (13) Vor 25 Jahren bestellten die Farmer in Catspring und Umgegend ihren Sandboden 4-5 Jahre und war derselbe dann ausgetragen, so wurde ein neues Stück Sandprärie umgepflügt, und die Fenz von dem ersten Stück Land auf das 2. gelegt, nach 4 Jahren dasselbe; […] Jetzt fuhr unser Böhme auf die Cottongin und holte von dort den Saamen auf sein Feld, welcher dem Ginner im Wege lag, und wieder steigerte sich der Ertrag seines Feldes. Das folgende Jahr kaufte er sich eine Mähmaschine und schickte nun seine Söhne damit in die Prärie und ließ sie das alte Gras mähen und in seine Kuhpenn werfen, wo das Vieh mit Baumwollensaamen gefüttert wurde. Aus dem armen Böhmen ist jetzt ein wohlhabender Mann geworden; seine Söhne sind selbstständig und besitzen jeder eine Farm von einigen 100 Ackern, […] (Freie Presse für Texas, 1881-01-06, S. 4). Wie bereits eingangs diskutiert, sind die aufgeführten Belege nur exemplarisch und belegen noch keineswegs die weite Verbreitung der Wörter im gesamten texasdeutschen Sprachraum. Zu diesem Zweck wäre eine weit umfassendere Untersuchung notwendig, die im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann. Um aber zumindest einen Ausblick auf eine mögliche Verbreitung zu bieten, gehe ich im Folgenden in aller Kürze auf die Belege einer weiteren Zeitung ein, dem Bellville Wochenblatt. In (14) und (15) zeigt sich, dass auch in dieser Zeitung aus dem Englischen stammende Verwaltungsterminologie in Form von Tax Collector und Comptroller übernommen wurde. Mit Storegebäude und Clerk finden sich in diesen Belegen weiterhin sogar zwei Begriffe aus dem Bereich des Alltagslebens, die bereits in der Freien Presse für San Antonio aufgefallen waren. (14) Wie wir hören beabsichtigt unser Tax Collector Herr C. Langhammer bald seine Storegebäude bedeutend durch einen Anbau, ebenfalls aus Backstein zu vergrößern (Bellville Wochenblatt, 1891-09-17, S. 3). (15) Der erste Comptroller des Schatzamtes, Matthews, hat soeben aufgedeckt welche Corruption bei den föderalen Gerichten herrscht. Die Richter ernennen ihre Verwandten und Clerks zu einer ganzen Anzahl verschiedener Stellen (Bellville Wochenblatt, 1891-10-29, S. 1). (16) Verschiedener Veränderungen halber in dem großen Dry Goods Establishment der Herren A. & H. Harrison, Brenham, offeriren sie ihr großes Lager, bestehend aus Drygoods, Stoffen für Damen Kleider, Anzügen für Herren und Kinder, Schuhen, Hüten, Koffern und tausend andere in ihr Fach schlagende Artikel zum Kostenpreise (Bellville Wochenblatt, 1891-10-29, S. 1). Texas - ein totes Zentrum des plurizentrischen Deutschen? 421 In (16) findet sich zudem Dry Goods, welches ebenfalls bereits in der Freien Presse für San Antonio belegt war. Damit gibt es bereits in diesen wenigen Belegen Hinweise darauf, dass es sich bei den in der Freien Presse beobachteten Lexemen nicht um Einzelbelege handelt, sondern dass sie in Texas bereits zu dieser Zeit weitere Verbreitung erfahren hatten. 6 Konklusion und Ausblick Die vorgestellten Belege zeigen, dass bereits bei einer kursorischen händischen Suche einzelne Begriffe - zeitlich und räumlich voneinander getrennt - wiederholt in texasdeutschen Zeitungen auftreten, die nach der hier vorgenommenen Korpusrecherche nicht zum allgemeinen Wortschatz des Standarddeutschen der Zeit zählen. Das bietet nach den eingangs diskutierten Kriterien für Zentren des Deutschen eine Grundlage dafür, für Texas in der Zeit um 1900 anzunehmen, dass sich dort zumindest neue Varianten in der Standardsprache eingebürgert haben. Ob diese Varianten ausreichen, um eine texanische Standardvarietät des Deutschen anzunehmen, und ob Texas vielleicht sogar historisch mehr als ein Viertelzentrum gewesen sein könnte, soll hier nur als Frage in den Raum gestellt sein, die einer gesonderten Beantwortung bedarf. Zur Erörterung wäre zum einen eine breitere empirische Basis zum gedruckten Texasdeutschen nötig, zum anderen aber auch ein eingehenderer Vergleich mit den Verhältnissen in den gegenwärtigen Viertelzentren des Deutschen. Die Erstellung eines entsprechenden digitalen Korpus wurde bereits an anderer Stelle angeregt (vgl. Boas/ Fuchs 2018: 287-289) - die hier gesammelten Beobachtungen können vielleicht erste Evidenzen dafür bieten, dass eine solche Arbeit lohnenswert wäre, und somit kann dieser Beitrag vielleicht zur weiteren theoretischen und empirischen Auseinandersetzung sowohl mit Sprachinseln als auch mit der Plurizentrik des Deutschen beitragen. 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B. den jeweiligen gesetzlichen Rahmen der Bildungssysteme in den historischen Epochen. Im vorliegenden Beitrag werden die in der Minderheitenforschung eher selten untersuchten schriftlichen kommunikativen Praktiken der ungarndeutschen Minderheit unter die Lupe genommen. Es werden Ausschnitte von geschriebenen dialektalen alltagssprachlichen Dokumenten privater Art von ungarndeutschen Sprecherinnen und Sprechern aus den 1970er, 1990er und 2000er Jahren untersucht. Die Analyse will einige charakteristische soziolinguistische und linguistische Merkmale dieser geschriebenen Dialektdokumente herausarbeiten, wodurch ein Einblick in das sprachliche Wissen und die Schreibkompetenz der Autoren unter Rücksicht auf den individuell-subjektiven und/ oder gesellschaftlichen Hintergrund gewonnen werden kann. 1 Zielstellung und kommunikative Praktiken in Minderheitensituation In der traditionellen dialektologischen Forschung in Ungarn wurde lange Zeit auf die Dokumentation und Untersuchung der ältesten Sprachstufen fokussiert, unter denen man die in Ungarn heimischen Misch- und Basisdialekte ländlicher Prägung versteht. Zur Analyse dieser Sprachformen wurden vor allem die ältesten ortsansässigen, wenig mobilen Gewährspersonen 1 in einem ruralen Umfeld mit einer noch ausgeprägten dialektalen Basis als Muttersprache herangezogen und befragt. So konnte über die ortsüblichen Sprachgewohnheiten der Dialektsprecher bzw. über den von ihnen verwendeten Dialekt ein authentischer Eindruck gewonnen werden, wobei naturgemäß die gesprochen-sprachliche Form dieser Dialekte jeweils im Mittelpunkt ihrer kommunikativen Praktiken stand. 1 Die über 70-Jährigen, vgl. Knipf-Komlósi zum Konzept der Generationen 2011: 47. 426 Elisabeth Knipf-Komlósi Die mündlichen Sprachhandlungsformen von Minderheiten werden oft mit dem allgemeinen, mit definitorischen Unsicherheiten verbundenen Begriff ‚Minderheitensprache‘ bezeichnet, welcher an sich ein ziemlich heterogenes Gebilde darstellt. Er umfasst ein ziemlich breites Spektrum an unterschiedlichen Sprachgebrauchsformen bei Minderheiten, die im Nähebereich bei allen Generationen unter dem Druck eines fortwährenden Assimilationsprozesses und aufgrund von weiteren Ursachen 2 nur noch eingeschränkt gebraucht werden. In diesem breiten Spektrum des Begriffs der Minderheitensprache können folgende Formen von Sprachausprägungen genannt werden, die weder in der Aussprache und Orthografie noch auf den sonstigen sprachlichen Ebenen normiert und kodifiziert sind, sondern lediglich durch den gewohnheitsmäßigen und über Generationen tradierten Sprachgebrauch dieser Minderheit zu einem laikalen Gebrauchswissen wurden: 1.) die außerhalb des deutschen Sprachraumes in verschiedenen Ländern der Welt noch vorhandenen, nur gesprochen-sprachlich existenten deutschen Ortsdialekte, 2.) jene Substandardvarietäten, die von den nicht auf dem deutschen Sprachgebiet sozialisierten und lebenden Individuen deutscher Abstammung (als Muttersprache oder als funktionale Zweitsprache) noch verwendet werden, 3.) ein Set von Dialekt- und Sprachkontakterscheinungen und landessprache-induzierten Mischvarietäten, die ein spezifisches Spektrum von Sprachlagen ergeben (vgl. Földes 2005), die von diesen Sprechern als Kommunikationsmittel in ihrem Alltag - wenn auch nur gelegentlich - noch gebraucht werden. Die traditionelle Vorgehensweise bei der Dokumentation von gesprochenen dialektalen Texten ungarndeutscher Sprecher verfolgte das Ziel, die objektiven Sprachdaten von Gewährspersonen zu dokumentieren, diese dialektologisch einzuordnen und aus dialektologischer sowie sozio-, später auch kontaktlinguistischer Sicht zu analysieren (vgl. Földes 2016: 169). In dieser Vorgehensweise bekamen die erst in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in den Fokus gelangten subjektiven Sprachdaten als wichtige Elemente und als Erklärungsgrundlage der objektiven Daten (Sprachdaten) nun eine wichtige Rolle. Es geht z. B. um die Sprachbewusstheit der Sprecher, ihre Einstellung zu ihren Sprachen, die Konzeptualisierung ihrer Identitätskonstitution, ihre sozio- und psycholinguistisch determinierte Sprachwahl. Erleichtert und angespornt wurde dieser methodische Fortschritt in der Erforschung von Minderheiten durch die auf den deutschsprachigen Sprachgebieten erschienenen und gebrauchten Methoden der empirischen 2 Vergleiche zu Veränderungen in der Minderheitensprache Knipf-Komlósi (2012: 66). Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 427 Sprachforschung in der Dialektologie und Soziolinguistik der letzten Jahrzehnte, u. a. die technische Entwicklung, die Ausgereiftheit und Verbreitung entsprechender technischer Geräte zur Konservierung und Dokumentierung mündlicher Kommunikation, des Weiteren die Entwicklung der vielfältigen Methoden in der Erforschung der Gesprochenen-Sprache u. v. a. m. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, die in einem schriftlichen Sprachgebrauch von dialektsprechenden Laien auftretenden salienten Merkmale ihrer Varietät vor dem Hintergrund einer empirischen, gebrauchsbasierten Linguistik zu analysieren, den möglichen und annehmbaren Hintergrund der Schreibweise der Autoren dieser Texte aufzudecken und zu explizieren. 3 Ein kurzes Fazit schließt diesen Beitrag ab. 2 Empirische Basis und methodische Ansätze Bei der Erforschung der Sprache(n) von Sprachminderheiten ist grundsätzlich von einer Oralität auszugehen, die als die primäre kommunikative Praxis für einen Großteil der auf dem Lande (z. B. in Südungarn) lebenden deutschen Minderheit zu betrachten ist. Kommunikative Praktiken sind ein Sammelbegriff für abgrenzbare und eigenständige kommunikative Formen - geschrieben oder gesprochen -, die zweckbezogen und teilweise vorgeformt sind (vgl. Fiehler 2006: 1180). In der Gesprochensprachlichkeit steht der Prozess der Interaktion im Mittelpunkt, denn das Gespräch entsteht letztendlich in einer zeitlichen Abfolge, wohingegen die Schriftlichkeit produktorientiert ist und mit anderen Beschreibungskategorien und Einheiten arbeitet als die gesprochene Sprache. Es ist anzunehmen, dass die Palette der kommunikativen Praktiken von Minderheitensprechern im Alltag seit etwa den letzten 30 bis 40 Jahren nicht so breit angelegt ist, da in der Gegenwart der Gebrauch der Minderheitensprache in einem eingeschränkten Kommunikationsradius bei einem gewaltigen Domänen- und Funktionsverlust der Minderheitensprache typisch ist. Aus Sicht der Medialität dialektaler Varietäten taucht daher die Frage auf, ob überhaupt und wann Ortsdialekte in den deutschen Sprachinseln Ungarns geschrieben wurden bzw. werden. Bei der älteren Generation ist die mündliche Gebrauchsweise die fast ausschließliche, bei der mittleren und der jüngeren Generation spielt aufgrund ihrer mangelnden Dialekt-, aber relativ stabilen DaF-Kompetenzen (verbunden mit ihrer beruflichen Karriere in einer modernen Lebensweise, E-Mail-Kommunikation 3 Die Analyse ergänzend wurden die teils vorhandenen sprachbiografischen Angaben der Autoren bzw. auch Abfragen (Text 3) im Nachhinein herangezogen. Zur Erstellung eines Modells zur Verschriftlichung der ungarndeutschen Minderheitensprache sind weitere Recherchen und Analysen dringend notwendig. 428 Elisabeth Knipf-Komlósi etc.) ein schriftlicher Sprachgebrauch des Standarddeutschen bereits eine unübersehbar bedeutsamere Rolle. Überblickt man die Domänen eines möglichen schriftlichen Sprachgebrauchs bei der älteren Generation, so lassen sich dafür in der Minderheitensprache vier Domänen ausmachen: 1.) der Bereich der privaten Korrespondenz 4 , 2.) eine Reihe von (schwer auffindbaren) privaten Aufzeichnungen von Einzelpersonen (z. B. Familiengeschichten, große historische, soziale Wenden im Leben der Familie 5 , Erinnerungen), 3.) Wunschkonzertkarten, die ab den 1970er Jahren in Südungarn in deutscher Sprache an den (einzigen) deutschsprachigen Rundfunk in Pécs/ Fünkirchen geschrieben wurden, 4.) geschriebene Mundarttexte, die sich in den letzten 2 bis 3 Jahrzehnten erfreulicherweise immer mehr auch in verschiedenen lokalen Zeitungen, Zeitschriften (z. B. Neue Zeitung, Batschkaer Spuren, Deutscher Kalender etc.) in Ungarn 6 vermehren und die überwiegend auf die Textsorte von verschriftlichten humorvollen Erzählungen beschränkt sind. Im vorliegenden Beitrag werden drei der oben erwähnten, inhaltlich unterschiedlichen und in einem ungarndeutschen Dialekt abgefassten Textbelege einer Analyse unterzogen: Textbeleg 1 umfasst einen Ausschnitt aus einer längeren sprachbiografischen Beschreibung einer Einzelperson aus den 1970er Jahren, Textbeleg 2 zeigt eine kleine Auswahl von an den deutschsprachigen Rundfunk von Ungarndeutschen geschickten Wunschkonzertkarten, Textbeleg 3 untersucht exemplarisch Zeitungstexte von zwei mundartsprechenden Deutschlehrern in Südungarn. Ein erster oberflächlicher Eindruck über die untersuchten Textbelege lenkt die Aufmerksamkeit vor allem auf die Schreibweise, in der auffallende Abweichungen von einer schriftsprachlichen Norm ins Auge fallen. Die vorliegenden geschriebenen Sprachbelege aus den 1970er, 1990er und 2000er Jahre lassen keine eindeutige sprachliche Normbefolgung erkennen, weder in deutscher noch in ungarischer Sprache, sie weisen vielmehr eine bunte Mischung orthografischer Regeln aus beiden Sprachen auf. Die schreibenden Personen dieser Texte 4 Hierzu zählt die Korrespondenz mit Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden, die durch die historischen Umwälzungen in den deutschen Sprachraum ausgesiedelt wurden. 5 Die dialektalen Aufzeichnungen in den Gebetbüchern rechne ich nicht hierher, da in diesen überwiegend nur Geburts- und Sterbedatum oder das Datum der Taufe angegeben sind, ferner Daten zu Verwandten, aber keine zusammenhängenden Texte. 6 Die ungarndeutsche Literatur wird nicht in der Mundart, sondern in Standarddeutsch geschrieben. Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 429 gehören mehreren Generationen mit unterschiedlichen Sozialisationsprozessen und unterschiedlichem sozialen Status an, doch ist es eindeutig, dass es um mehrsprachige Individuen mit einer typischen und üblichen sprachlichen Konfiguration ihrer Schreibweise geht. Diese ist geprägt durch eine auffallende, willkürlich anmutende Mischung substandardsprachlicher und dialektaler Merkmale, sowohl im orthografischen, lexikalischen als auch im morphosyntaktischen Bereich. Im Laufe der Analyse soll beleuchtet werden, aus welchem sprachlichen Repertoire die Schreibenden ihre sprachlich-figurativen und grammatischen Strukturen schöpfen können, auf welche Ressourcen sie im Schreibprozess zurückgreifen und inwiefern diese Merkmale auf den Einfluss der von den Sprecher(inne)n als Hochdeutsch bezeichneten Sprachlage hinweisen. 3 Analyse der Textbelege: Sprachliches Wissen und die Normfrage In unseren Textbeispielen haben wir es mit geschriebenen Belegen unterschiedlicher Textsorten von Laien zu tun, die als Schreiber dieser Texte das laikale Wissen von Durchschnittssprechern 7 dieser Minderheit widerspiegeln. Das laikale Wissen 8 besteht aus Elementen der persönlichen Spracherfahrungen der Sprecher selbst oder basiert auf der Mitteilung anderer über ihre Spracherfahrungen (z. B. Familienmitglieder, Freunde, Bekannte), aber es kann auch aus sonstigen sprachbezogenen Erlebnissen stammen, wie z. B. das gewohnheitsmäßige Lesen von schriftsprachlichen Texten 9 . Nicht zuletzt konnte dieses laikale Wissen auch durch persönliche Kontakte, durch Gespräche mit Muttersprachlern bereichert werden kann. Wie oben bereits angedeutet, verteilt sich die Häufigkeit des Schriftlichen in den einzelnen Generationen der Ungarndeutschen - genauso wie auch ihr Sprachgebrauch - sehr unterschiedlich. Die Mundart als sprechsprachliche Entität galt bis in die 1970er Jahre bei der älteren Generation der deutschbewohnten Ortschaften Ungarns im Alltag als die orale Tradition ihrer Kommunikation, die jedoch - aus diversen Gründen 10 - nicht mehr durchgängig und konsequent 7 Keuch und Wirrer (2014: 66-67) unterscheiden zwischen einem impliziten metasprachlichen laikalen Wissen, dem ‚Gebrauchswissen‘, und dem expliziten ‚Rezeptwissen‘. 8 In der Trias linguistisches Expertenwissen, laienlinguistisches Wissen und laikales Wissen ist Letzteres am schwierigsten zu fassen (vgl. Antos 1996 zur Laien-Linguistik; Keuch/ Wirrer 2014: 68). 9 Zum Beispiel das Lesen von heiligen Schriften oder auch die Lektüre von Romanen (z. B. Liebesromane). 10 Teils aus historischen (durch radikale Dezimierung der deutschen Minderheitenangehörigen nach 1945), teils aus sozialen Gründen (Stigmatisierung der deutschen 430 Elisabeth Knipf-Komlósi an die jüngeren Generationen weitertradiert wurde. Tatsache ist auch, dass es bei der ungarndeutschen Bevölkerung keine dringende Notwendigkeit gab, ihre orale mundartliche Tradition zu verschriftlichen, sodass sich eigentlich nie eine Verschriftlichungsregelung oder -tradition für die ungarndeutschen Dialekte herausgebildet hat. 11 Sprachliches Wissen stellt nicht eine statische Größe dar, sondern ist zu jedem Zeitpunkt der Kommunikation ein dynamisches Wissen mit mannigfaltigen Erscheinungsformen und Kontextbedingungen (vgl. Behrens u. a. [Hrsg.] 2015: 3), jedoch ist auch zu betonen, dass sprachliches Wissen explizite und implizite Formen hat, die sich bei den Sprecher(inne)n/ Schreiber(inne)n in unterschiedlicher Weise manifestieren können. So gesehen ist eine Beschreibung und Analyse der schriftlichen Repräsentation des sprachlichen Wissens äußerst komplex, denn sprachliches Wissen und dessen mündliche wie geschriebene Aktualisierungen sind auch durch die Interaktionspartner(innen) mehrfach eingebettet, und zwar auf folgenden Ebenen: 1.) es ist eingebunden in den konkreten kommunikativen und gesellschaftlichen Kontext der Entstehungszeit des Textes (kommunikative Situation), 2.) das sprachliche Wissen der Sprechenden/ Schreibenden beruht zu jedem Zeitpunkt auf seiner individuellen, akkumulierten Spracherfahrung, anders ausgedrückt auf seiner Sprachbiografie, 3.) das aktualisierte sprachliche Wissen der Sprechenden/ Schreibenden ist geleitet von seinen konkreten, für die Situation relevanten Intentionen, Dispositionen. Nun taucht die Frage auf, was für linguistische Schlüsse aus den hier zu analysierenden geschriebenen Dialektdokumenten abgeleitet werden können, die uns einen Einblick in das Funktionieren des laikalen Wissens gewähren können. Durch die Wortwahl und die syntaktische Formulierung bekommen wir eine Vorstellung von der Sprachkompetenz der Schreiber(innen); auch ist es möglich, Hinweise auf ein Sprachbewusstsein der Schreiber(innen) herauszuarbeiten, jedoch kann über die Einstellung zur Sprache oder zur Identität eigentlich nichts in Erfahrung gebracht werden. Dialekte in Ungarn bis in die 1960er Jahre), aber aus dem Aspekt der Kosten- Nutzen-Rechnung (soziale Aufstiegschancen nur mit der ungarischen Sprache) und vielleicht auch aus Bequemlichkeitsgründen (vgl. Knipf-Komlósi 2011: 33ff.). 11 Zum wissenschaftlichen Zweck der Transkription dialektaler Tonaufnahmen wurde von Claus Jürgen Hutterer ein Verschriftlichungsmodus ausgearbeitet (vgl. Hutterer 1959: 335), der aber kaum rezipiert wurde. Ähnliches gilt z. B. für das Pennsylvaniadeutsche (vgl. Tomas 2018: 161). Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 431 In diesem Analyserahmen steht die konkrete geschriebene sprachliche Ausdrucksweise im Vordergrund, die deshalb von Interesse ist, weil es um schreibende Personen geht, die mangels einer Verschriftlichungstradition der Ungarndeutschen selbst Entscheidungen zu treffen hatten, wie sie ihre Gedanken in deutscher Sprache formulieren und Lösungen auf den einzelnen Sprachebenen (Orthografie, Wortwahl, Morphosyntax) finden, damit ihre Intentionen (Erinnerungen, Wünsche, Gedanken), in Texten formuliert, verstanden werden. Bei dieser Analyse spielt auch die Frage der Norm, der Normbewusstheit bzw. das Verhältnis zwischen einer Norm und der Schreibweise der jeweiligen Gewährsperson eine wichtige Rolle. Die Normfrage kann vor dem Hintergrund der Umstände betrachtet werden, dass Sprachinseldialekte in Ungarn nicht kodifiziert sind, die deutsche Standardsprache auf allen Ebenen der schulischen Sozialisation als die sprachliche Norm in der Schriftsprache galt und gilt (falls die Mitglieder der Minderheit diese auf schulischem Wege erlernt haben) und die Landessprache als funktional erste Sprache und als (in einem ungarischen Schulsystem erlernte) Dachsprache die kommunikativen Praktiken auch für die Minderheit bestimmt. Text 1: Ausschnitt aus einer sprachbiografischen Beschreibung einer Frau 432 Elisabeth Knipf-Komlósi Im Original: einer fon dena Mäner hat sich angezogen als Pfarer und hat die Hochzeitgäste gut underhalten. mit einer sönen lustigen Bretig, dan haben sich als bis 20 frauen angezogen als Nonen, und haben den nonendanz getanzt das var auch lustig dan haben sie noch mer ene so lustige stiglein getanct, aber sagte unser Grosmutter, es var halt imer cu snel rum. Grosmutter ihr Jüngen fon ihre Bruter hate sich fom fater verlangt, er vil in die sulen gehen etvas cu lernen, der fater hat es em auch erlaubt. dan ist er Advogat gevorten damals sagte man nur fiskal, er hate auch sein amt begleitet ist in die statd gekomen, ist ihm auch gut gegangen und ein Bruder ist cigelofenbrener geworten, hate auch file cigel hergestelt. […] Hochdeutsch: einer von diesen Männern hat sich angezogen als Pfarrer und hat die Hochzeitsgäste gut unterhalten mit einer schönen lustigen Predigt, dann haben sich als bis 20 Frauen angezogen als Nonnen und haben den Nonnentanz getanzt, das war auch lustig, dann haben sie noch mehr ihnen so lustige Stücklein getanzt, aber sagte unsere Großmutter, es war halt immer zu schnell rum. Großmutter ihr Jungen von ihrem Bruder hatte sich vom Vater verlangt, er will in die Schule gehen etwas zu lernen, der Vater hat es ihm auch erlaubt. Dann ist er Advokat geworden, damals sagte man nur Fiskal, er hatte auch sein Amt bekleidet, ist in die Stadt gekommen, ist ihm auch gut gegangen und ein Bruder ist Ziegelofenbrenner geworden, hatte auch viele Ziegel hergestellt. […] Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 433 3.1 Analyse von Textbeleg 1 Es wird hier ein Ausschnitt aus einer sprachbiografischen Erzählung einer ungarndeutschen Frau präsentiert. Die Frau, Jahrgang 1897, sprach als Muttersprache einen rheinfränkisch-pfälzischen Dialekt in Südungarn und beherrschte auch die ungarische Sprache sehr gut, hat in beiden Sprachen gelesen und fließend gesprochen. Das vorliegende Schriftstück entstand Anfang der 1970er Jahre, als die Frau Mitte 70 und geistig und physisch noch bei voller Kraft war. In der Verschriftlichung der Schreiberin erscheinen auf der Ebene der Orthografie exemplarisch folgende Merkmale. Es liegt ein handgeschriebener, relativ schön geordneter, überschaubarer Text vor, mit einem dieser Generation eigenen, sehr uneinheitlichen Schriftbild vor: Die vermutlich von der Schreiberin angestrebte lateinische Schrift ist durchsetzt mit kleineren und größeren Teilen, manchmal nur Buchstabenteilen einer Frakturschrift (selbst innerhalb eines Wortes). Das Schriftbild entspricht der Altersgruppe dieser Generation (Jahrgang 1897), die sich im Laufe ihres Lebens überwiegend der Frakturschrift bediente. Diese war der Schreiberin als primäre Schriftart vertraut, da auch die Bibel und die Gebetbücher in Frakturschrift geschrieben waren. Die Laut-Graphem-Korrespondenz ist im ganzen Text durchgängig inkonsequent und problematisch, denn diese Generation hat in ihrer schulischen Sozialisation keine deutsche Orthografie erlernt, d. h. es fehlt ihr eine Alphabetisierung in L1 (deutsche Muttersprache). Der in der Mundart realisierte Lautwert wird in den meisten Fällen in ungarischer Orthografie wiedergegeben; so werden ungarische Grapheme den einzelnen Phonemen des deutschen Dialektes zugeordnet wie in: (1) tis - Tisch, Sbinrad - Spinnrad, svarc - schwarz, undervese - Unterwäsche, vil - will etc., woraus zu schließen ist, dass die Matrixsprache auf der orthografischen Ebene der Schreiberin das Ungarische ist (ung. s = dt. sch, ung. v = dt. w). Der Lautwert der Konsonanten wird meistens auch durch das ungarische Graphem repräsentiert (dt. z = ung.: c): (2) cum - zum, cigelofen - Ziegelofen, släfrig - schläfrig, snel - schnell, sönen - schönen. Allgemein gilt, dass die Differenz zwischen stimmhaft und stimmlos bei der ältesten Generation der Minderheitenangehörigen in ihrem ungarischen mündlichen Sprachgebrauch problematisch ist, so auch hier insbesondere in Wörtern, wo ein Switchen vom Dialekt zur standardsprachlichen Form erfolgt: (3) jeten - jeden, stug - Stück, obergleid - Oberkleid, underhalten - unterhalten, stuglein- Stücklein, geworten - geworden. Die Diphthonge werden der dialektalen Oralisierungsnorm entsprechend geschrieben, hier sehen wir noch ein Beispiel für eine lexikalische Pluralbildung: (4) mansleit - Mannsleute, weibsleit - Weibsleute. 434 Elisabeth Knipf-Komlósi Bei den Nomen wird der große Anfangsbuchstabe nicht konsequent ausgeführt. Das Lesen des Textes wird durch die durchgängig vorherrschende, auffallende orthografische Unsicherheit und durch die fehlende Interpunktion erschwert. Der Textverlauf folgt einer der Erzählform entsprechenden linearen Anordnung, stellenweise mit einem Themensprung (konzeptionell mündliche Formulierung). Auf der grammatischen Ebene ist besonders auffällig, dass die Satzformulierungen keinen dialektalen Mustern folgen, sondern auf einen „hochdeutschen“ Einfluss hinweisen und eine Orientierung an dem sog. „noblen Deutsch“ 12 zeigen; so werden z. B. die Flexionsformen der Verben ohne Apokopierung geschrieben: (5) ist Advokat geworden (in der Mundart hieße es: er is Advokat wore), sie haben den ganzen Winter müssen in der früh morgens um 3 aufstehen für Hanf spinnen (in der Mundert: hen messe ufsteh u hanf spinne). Selbst zu+Infinitiv-Konstruktionen, die in der betreffenden Mundart völlig unüblich sind, kommen vor: (6) in die Schulen etwas zu lernen. Teils sind auch die Konjunktionen und Partikel dem Hochdeutschen entnommen: (7) dann, auch, aber, immer (in der Mundart heißen diese: no, a, awer, allweil). Die Genitivkonstruktionen sind in der dialektalen Form umschrieben: (8) Grosmuter ihr Jungen von irem Bruder (die Jungen des Bruders von der Großmutter). Die hier verwendete Kollokation: (9) ein Amt begleiten - ein Amt bekleiden ist in der untersuchten Mundart völlig unbekannt, im Text erscheint der Ausdruck in völliger Selbstverständlichkeit in korrekter Bedeutung. Der Präteritumschwund in Dialekten (auch in den deutschen Dialekten Ungarns) ist eine bekannte Erscheinung, doch erscheint er hier im geschriebenen Text: (10) unser Grosmuter sagte, ehna fater vehbte das duch (unsere Großmutter sagte, ihr Vater webte das Tuch) Die Pronominalflexion bleibt in der Mundart behalten (unser Grosmuter - unsere Großmutter), ehna fater (ihr Vater). 12 Zur vertikalen Schichtung des Wortschatzes der Ungarndeutschen vgl. Knipf-Komlósi (2011: 146ff.). Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 435 Die Wortwahl zeigt eindeutige Züge einer hochdeutschen Formulierung: (11) damals sagte man, aber sagte unser Grosmuter es var halt imer zu snel rum […]. Diese geschriebenen Formen weisen darauf hin, dass der Schreiberin die Distinktion der zwei Varietäten zwischen ihrer basisdialektalen Varietät und einer gehobenen Varietät, dem ‚noblen Deitsch“, wohl bekannt ist und sie damit bei ihren Formulierungen sehr bewusst umzugehen wusste, was auch als Zeichen ihrer Sprachbewusstheit zu deuten ist. Die Formulierungsmuster zeigen aber auch, dass die Schreiberin auf bestimmte Ressourcen zurückgreifen konnte, die in ihrer Spracherfahrung verankert waren, entweder durch Lesen oder durch sonstige hochsprachliche Einflüsse, evtl. auch durch den Kontakt mit den Verwandten aus Deutschland, mit denen sie in regem Briefkontakt stand und die sie in Ungarn oft besucht haben. Es wurde von anderen über die Gewährsperson erzählt, dass sie sehr viele deutsche Bücher gelesen hatte, darunter auch viele Bücher sakralen Inhalts in Frakturschrift. 3.2 Analyse von Textbeleg 2: Auswahl von Wunschkonzertkarten 436 Elisabeth Knipf-Komlósi Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 437 Über die Absender dieser Wunschkonzertkarten an den Rundfunk ist aus sprachbiografischer Sicht (Alter, Geschlecht, Muttersprache etc.) fast nichts bekannt. Es kann aufgrund der Kenntnis dieses speziellen Kontextes angenommen werden, dass sie ungarndeutscher Abstammung und eifrige Hörer der Wunschkonzerte des deutschsprachigen Rundfunks sind; zudem stammen sie mutmaßlich aus der südungarischen Region. Die Wahl des Liedwunsches ist ein ausgeprägtes Zeichen ihrer Identität, ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit, denn in den meisten Fällen werden bekannte Lieder und Musikstücke von ungarndeutschen Chören, Musikkapellen, meistens auch Blasmusik sowie Schlagerlieder aus den deutschsprachigen Ländern der 1970er und 1980er Jahre gewählt. Von der Schriftform, die nach Altersgruppen äußerst unterschiedlich ist, lässt sich nichts Genaues ableiten, manchmal meint man jüngere Schriftzüge zu erkennen, manchmal ältere, die nicht schreibbeflissen sind. Die schriftliche Ausdrucksweise spiegelt grundsätzlich einen konzeptionell mündlichen, informellen Sprachmodus wider, der eine Vertrautheit und Nähe mit den Redakteuren signalisiert. In diesen meist kurz formulierten Wünschen, der Textsorte ‚Wunschkonzertkarte‘ entsprechend mit einem konkreten Anliegen, herrscht eine höchst variable orthografische Mischform vor, die eine große Ähnlichkeit mit denen der Schreiberin von Text 1 zeigt. Es werden fast durchgehend ungarische Grapheme für deutsche Lautwerte gebraucht, was darauf hinweist, dass die orthografische Regel in ungarischer Sprache verankert ist: (12) wüncsen - wünschen, cum - zum, hercen - Herzen. Obwohl diese Textsorte (Wunschkonzertanliegen) relativ wenig frei formulierte Sätze enthält, größtenteils geht es ja um Wünsche zu einem bestimmten Anlass (Namenstag, Geburtstag, Hochzeitstag, Jubiläum etc.), so lässt der Text eigentlich wenig Freiraum für sonstige Mitteilungen zu. Diese orthografische Mischform zwischen ungarischer und deutscher Sprache (z. B. merz - März) schlägt sich auch auf der Wort- und Satzebene nieder. So sehen wir auf der grammatischen Ebene eine bruchstückhafte deutsche Flexion (in mein Namen), in vielen Fällen einen Kasusabbau (von die Kinder) mit angestrebter deutscher Wortfolge: (13) sie in mein Namen, cum iren Geburtsztag, die Grüsse kommen von die Kinder und von die Enkelkindern […]. In den Wünschen werden viele für die Textsorte typische kommunikative Formeln nach vorgefertigten Mustern eingesetzt, wahrscheinlich bekannt aus den im Rundfunk in den Wunschkonzertsendungen gehörten Formulierungen 13 : (14) noch fiehle söne Jahre im greisze deiner lieben Familie - noch viele schöne Jahre im Kreise deiner Familie, 13 Vergleiche dazu „Rezept- oder Gebrauchswissen“ bei Keuch/ Wirrer (2014: 68). 438 Elisabeth Knipf-Komlósi (15) bitte sie meinen Wunsch recht liebend anzunehmen - letztere Formel aus dem Ungarischen übersetzt, (16) wir wüncsen noch fülle glückliche tage - wir wünschen noch viele glückliche Tage. Auch auf diesen Karten ist eine nicht dem Dialekt nahestehende Varietät ersichtlich. Man versucht - soweit es die Sprachkompetenz der Schreibenden zulässt - hier auch z. B. ohne Apokopierungen, aus der Standardsprache entlehnten Lexemen, wenn auch manchmal mit kleineren morphosyntaktischen Ungenauigkeiten, doch mit einem eindeutigen Streben nach einem wie auch immer gearteten Hochdeutsch, einer von den Ungarndeutschen „nobles Deitsch“ genannten Varietät, zu formulieren: (17) wir bitten nachtröglich zum fergangenen Anna Tag … - wir bitten nachträglich zum vergangenen Anna-Tag. Vor dem Hintergrund dieser zwei unterschiedlichen Texte, die bei den Mustern der Verschriftlichung viel Ähnlichkeit auf der orthografischen Ebene zeigen (Textbeleg 1 und Textbelege 2), taucht verständlicherweise die Frage der Norm auf. Da keine Tradition zur Verschriftlichung von Dialekten für die ungarndeutschen Mundarten vorliegt, greift man auf die in der ungarischen Sprache bekannte, gut eingeprägte und in der ungarischen Orthografie funktionierende Laut-Graphem-Korrespondenz zurück. Auf der lexikalischen und syntaktischen Ebene sehen wir eindeutig eine Anlehnung an eine nicht dialektale Varietät des Deutschen, vielleicht an ein Alltagsdeutsch, das im Leben dieser Schreiberinnen eine Rolle hatte oder heute noch hat, selbst ohne eine erlernte Standardsprache. An dieser Stelle kann auch das Bewusstsein des bilingualen Sprachmodus 14 erkannt werden, denn die Schreiberinnen wissen wohl, dass die Redakteure, die diese Wunschkonzertkarten lesen, beider Sprachen (und auch beider deutscher Varietäten) mächtig sind und keine Deutungsschwierigkeiten bei den orthografisch deutsch-ungarisch vermengten verschriftlichten Formen haben. Diese häufig gebrauchten Mischformen (diesmal schriftlich) werden nur gruppenintern und generationenbedingt gebraucht, sie können als eigene und typische Handlungsformen, auch als Schreibformen dieser Gemeinschaft betrachtet werden. 14 Vergleiche dazu Grosjean (2001) und Knipf-Komlósi (2011: 90). Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 439 3.3 Analyse von Textbeleg 3: Briefwechsel im Dialekt zwischen zwei mundartkundigen Lehrern in einem Lokalblatt (aus: Batschkaer Spuren Dezember 2017) Nach der Wende entstanden allmählich zahlreiche Lokalblätter landesweit in den Kommunen, die die nötige Infrastruktur und den finanziellen Hintergrund dafür aufbringen konnten. So hatten auch Minderheitenkommunen 15 die Möglichkeit dazu, entweder selbstständige, in der Minderheitensprache geschriebene Zeitungen (nicht Tageszeitungen, sondern Monats- oder Vierteljahreszeitungen) herauszugeben. Für die deutsche Minderheit in Ungarn gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass in den ungarischsprachigen Lokalblättern Beilagen einer Minderheitensprache für die Minderheiten der Gegend herausgebracht werden. Die untersuchte Zeitung „Batschkaer Spuren“ 16 besteht seit 2005, eine Regionalzeitung mit der 50. Ausgabe vor allem für die Ungarndeutschen in Südungarn (Batschka mit der Kreisstadt Baja/ Frankenstadt), die für eine eifrige und begeisterte Leserschaft nun schon landesweit, sogar im Ausland gelesen wird. 15 In Ungarn werden derzeit 13 sprachliche/ ethnische Minderheiten anerkannt, die laut Verfassung geschützt sind im Gebrauch und in der Pflege ihrer Minderheitensprache und -kultur. 16 Die Zeitung wird überwiegend aus Privatspenden oder beantragten Projektgeldern finanziert. 440 Elisabeth Knipf-Komlósi In beiden Texten geht es um einen in Dialekt verfassten Briefwechsel für das Lokalblatt in einer Kleinstadt (Baja) von zwei Lehrern, Normautoritäten in ihrer näheren und weiteren Umgebung, deren Ziel damit ist, die Leser zum Dialektgebrauch zu ermutigen, ihre dialektale Identität zu wecken oder aufrechtzuerhalten. Beide Lehrer sind identitätsbewusste, für die Minderheit engagierte Lehrer an einem städtischen Gymnasium. Die Autoren repräsentieren zwei Generationen der ungarndeutschen Intelligenz, der ältere mit der Unterschrift „Stephanvettr“ 17 , der jüngere mit der Unterschrift „ManFred Mischke“. Bei der Verschriftlichung gehen beide Gewährspersonen, aufgrund ihrer Ausbildung so vor, dass die basisdialektalen Phoneme mit Lautwerten der deutschen Standardsprache wiedergegeben werden. Die Texte sind kohärent, logisch aufgebaut, der Text der älteren Gewährsperson ist medial schriftlich und konzeptionell mündlich gestaltet. Der Text der jüngeren Gewährsperson ist medial schriftlich, man kann jedoch an vielen Stellen anhand des syntaktischen Aufbaus und der Wortwahl schlussfolgern, dass der Text konzeptionell ein Übergang zwischen mündlich und schriftlich ist. 17 Der Ältere (75 J.) ist Lehrer für naturwissenschaftliche Fächer, der Jüngere (56 J.) ist Lehrer für Deutsch an einem deutschsprachigen Gymnasium der Ungarndeutschen. Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 441 So werden im Text z. B. überwiegend standarddeutsche Konstruktionen gebraucht, wie (18) 20 Joahre spätr - 20 Jahre später (im Dialekt wird eher die Form: noch 20 Joahr - nach 20 Jahren) gebraucht oder in Beispielen: (19) hen die Nazis ihr Unwesen getriewe (haben die Nazis ihr Unwesen getrieben), an tr Berliner Tour teilnehme, so kenne die Touriste sich in tr Vrgangenheit orientiere (so können die Touristen sich in der Vergangenheit orientieren), vun tei Reise berichte (von deiner Reise berichten). Weitere Beispiele enthalten Mehrworteinheiten, Funktionsverbgefüge etc., die in den ungarndeutschen Dialekten nicht gebräuchlich sind. Auch kommen im Text viele Synsemantika des Hochdeutschen vor: sondern, nämlich, sogar. Der ältere Lehrer gebraucht im Vergleich zum jüngeren viel häufiger basisdialektale Wörter und Ausdrücke, basierend auf seiner ersten Sprache (Muttersprache), einem Basisdialekt, der in der konkreten kommunikativen Situation (Dialekt schreiben) 18 als Kontextualisierung fungieren kann, da durch den Einsatz und überhaupt durch den schriftlichen Gebrauch dieser Sprachform auch deren soziale Bedeutung für die Leserschaft mitgetragen wird (vgl. Soukup 2015: 64), wie etwa in Beispiel (21): (20) hot uns fort’gstewrt (hat uns fortgetrieben), hew ich mr vorknomma (habe ich mir vorgenommen), iwr tie Kuchl un tes vieli Essa will ich gar net redte (über die Küche und das viele Essen will ich gar nicht reden). Wenn es bei der älteren Person um die Beschreibung einer modernen Begebenheit geht, wird zwischen Mundart und Umgangssprache gewechselt, sowohl in der syntaktischen Gestaltung als auch in der Wortwahl: (21) to kannscht pewunre, was ter menschlichi Vrstand, Geist, Tatkraft und Fleiß gschaffe hot (da kannst du bewundern, was der menschliche Verstand, Geist, Tatkraft und Fleiß geschaffen hat. 18 Das Schreiben im Dialekt ist für Lehrer selbst eine seltene Form des Mundartgebrauchs, doch wissen sie beide aufgrund ihres metasprachlichen Wissens (Unterschied zwischen Dialekt und Hochdeutsch), die Schreibsituation zum Zweck des Dialektgebrauchs zu nutzen. 442 Elisabeth Knipf-Komlósi 4 Fazit Die drei Textbelege veranschaulichen einen Querschnitt durch die Vielzahl der Möglichkeiten der Verschriftlichung von Dialekttexten von verschiedenen Generationen mit verschiedenen schulischen und beruflichen Voraussetzungen. Es ist auch eindeutig ersichtlich, welche Schreiberinnen und Schreiber auf ihre bisherigen Spracherfahrungen, Leseerlebnisse etc. als Ressourcen in diesen Schreibprozessen zurückgreifen können. Die Texte sind medial schriftlich, konzeptionell mündlich gestaltet, mit einem kohärenten Aufbau, doch hinsichtlich der sprachlichen Ausdrucksform recht ungewöhnlich, mindestens sind sie in kein orthografisches Regelsystem der beiden Sprachen eindeutig einzuordnen. Für die Beantwortung weitergehender Fragen, etwa welche Form des Code-Switching in diesen Fällen vorliegt, wie sich die Mischformen auf der orthografischen Ebene klassifizieren lassen und was für charakteristische Merkmale diese Mischvarietät hervorbringt, bedarf es allerdings eines größeren Korpus. Es scheinen uneinheitliche und recht unterschiedliche Lösungsvorschläge zu entstehen, doch bei einem näheren Betrachten kann für diese Lösungen eine Erklärungsgrundlage gefunden werden, wenn man den Schreiberinnen und Schreibern entsprechende sprachbiografische Angaben und, soziolinguistisch formuliert, sprachlich und soziokulturell relevante subjektive Daten zuordnen kann, die die Lösungen und die Umstände dieser Schreibprozesse näher beleuchten. So operieren fast alle drei Generationen mit der Sprachbewusstheit des bilingualen Sprachmodus, alle folgen einem pragmatischen und zweckbestimmten gebrauchsorientierten Agieren beim Schreiben ihres Dialektes (sie sollen verstanden werden), indem sie den üblichen, ihnen bekannten Schreibkonventionen und orthografischen Regeln (der ungarischen Sprache) folgend ihre Gedanken in ihrem deutschen Dialekt zu Papier bringen. In diesem Prozess scheinen die subsistenten Normen (d. h. die verdeckten, jedoch von der Gemeinschaft akzeptierten Normen) eine wichtige Rolle zu spielen, die nicht den gesetzten Normen folgen, die verpflichtend, doch unseren Schreiber(inne)n nicht bekannt sind. Bei der ältesten Generation (Text 1) fehlt aufgrund der schulischen Sozialisation der Schreiberin im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ein Biliteralismus in beiden Sprachen (Ungarisch und Deutsch), ein strukturiertes Konzept von Norm, ein Normbewusstsein bei der Verschriftlichung eines deutschen Dialektes. Die Schreiberin bedient sich bei der Laut-Graphem-Korrespondenz der ihr bekannten Lautwerte der ungarischen Sprache, die sie für die Orthografie als Matrixsprache gebraucht, wobei sie auf den übrigen sprachlichen Ebenen (Wortwahl, Satzbau, Morphosyntax) ihre deutsche Dialektkompetenz, teils auch ihre Kenntnis über die Distinktion zwischen Dialekt und ‚noblem Deutsch‘ (Varietätenwissen) gut einsetzen kann. Merkmale von alltagssprachlichen Texten bei der ungarndeutschen Minderheit 443 Auch bei den Wunschkonzertkarten (Text 2) sind die unbekannten Schreiber(innen) der Texte - mangels einer Normbewusstheit - durch die orale Norm der ungarischen Sprache beeinflusst, wobei Texte entstehen, teils auch mit vorgefertigten situativ gebundenen Formeln bestückt, die auf der Rezeptionsseite nur von Leser(inne)n beflissen im bilingualen Sprachmodus (Doppelkompetenz in Ungarisch und Deutsch) verstanden und interpretiert werden können. Die Autoren der Zeitungstexte besitzen aufgrund ihrer Sozialisationsprozesse eine Normbewusstheit von zwei Sprachen, sie sind biliteral sozialisiert, doch ist es für sie auch eine linguistische Herausforderung, ihre dialektale Varietät den Regeln der deutschen Norm anzupassen. Dies tun sie z. B., indem sie lockerere Formulierungen und aus der deutschen Umgangssprache übernommene Elemente in ihren Text einbinden. Auf diese Weise entsteht eine dialektal geschriebene Schriftvariante, die leichter verständlich und lesbar, sehr variabel und noch nicht ausgebaut ist, die jedoch unter gegebenen Umständen und mithilfe entsprechender Erklärungsgrundlagen soziolinguistisch zu interpretieren ist. Literatur Antos, Gerd (1996): Laien-Linguistik. Studien zu Sprach-und Kommunikationsproblemen im Alltag am Beispiel von Sprachratgebern und Kommunikationstrainings. Tübingen. Behrens, Heike u. a. (Hrsg.) (2015): Sprachgebrauch und Sprachbewusstsein. Implikationen der empirischen Linguistik für die Sprachtheorie. Berlin/ Boston. Cuonz, Christina/ Studler, Rebekka (Hrsg.) (2014): Sprechen über Sprache. Perspektiven und neue Methoden der Spracheinstellungsforschung. Tübingen. Duden. Die Grammatik (2006): 7., völlig neu erarbeitete u. erw. Aufl. Mannheim u. a. Felder, Ekkehard (2003): Das Spannungsverhältnis zwischen Sprachnorm und Sprachvariation als Beitrag zu Sprach(differenz)bewusstheit. In: Wirkendes Wort 53. 3. S. 473-498. Fiehler, Reinhard (2006): Gesprochene Sprache. In: Duden. Die Grammatik. 7., völlig neu erarbeitete u. erw. Aufl. Mannheim u. a. S. 1175-1256. Földes, Csaba (2005): Kontaktdeutsch. Zur Theorie eines Varietätentyps unter transkulturellen Bedingungen von Mehrsprachigkeit. Tübingen. Földes, Csaba (2016): Ungarndeutsche Sprachvariation und Mehrsprachigkeit. Ein Korpusprojekt auf der Basis von empirischer Feldforschung und Online-Sprachdokumentation. In: Sprachtheorie und germanistische Linguistik 26. 2. S. 167-190. Grosjean, Francois (2001): The bilingual’s language modes. In: Nicol, Janet L. (Hrsg.): One mind, two languages: Bilingual language processing. Oxford. S. 1-22. Hutterer, Claus Jürgen (1959): Randbemerkungen zu Eberhard Kranzmayers Historischer Lautgeographie des gesamten bairischen Dialektraumes. In: Acta Linguistica Hungarica 9. S. 320-344. 444 Elisabeth Knipf-Komlósi Keuch, Sarah/ Wirrer, Jan (2014): „Da saßen zwei so ’ne alte Friedrichskooger neben mir auf der Bank. Da hab ich mir gedacht: Das hast du lange nicht gehört, also wirklich so extrem breites und tiefes Plattdeutsch“. Laikale metasprachliche Wissensbestände und Sprechertypologie. In: Cuoz, Christine/ Studler, Rebekka (Hrsg.): Sprechen über Sprache. Perspektiven und neue Methoden der Spracheinstellungsforschung. Tübingen. S. 65-107. Knipf-Komlósi, Elisabeth (2011): Wandel im Wortschatz der Minderheitensprache. Stuttgart (ZDL Beihefte; 145). Knipf-Komlósi, Elisabeth (2012): Wortschatzdynamik im Sprachkontakt (Am Beispiel der deutschen Minderheitensprache in Ungarn). In: Knipf-Komlósi, Elisabeth/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.): Kontaktvarietäten des Deutschen synchron und diachron. Wien. S. 61-75. Soukup, Barbara (2015): Zum Phänomen ‚Speaker Design‘ im österreichischen Deutsch. In: Lenz, Alexandra N./ Glauninger, Manfred (Hrsg.): Standarddeutsch im 21. Jahrhundert: Theoretische und empirische Ansätze mit einem Fokus auf Österreich. Göttingen (Wiener Arbeiten zur Linguistik; 1). S. 59-81. Tomas, Adam (2018): Pennsylvaniadeutsch. In: Plewnia, Albrecht/ Riehl, Claudia Maria (Hrsg.): Handbuch der Sprachminderheiten in Übersee. Tübingen. S. 153-171. Einstellungen von jüngeren und älteren Ungarndeutschen zur deutschen Sprache und zu ihren Sprechern Réka Miskei/ Márta Müller (Budapest) Zusammenfassung Folgender Beitrag behandelt und vergleicht miteinander Einstellungen zweier Generationen von Deutschen in Ungarn gegenüber der deutschen Sprache und ihren Sprechern. Anhand von Ergebnissen einer Fragebogenerhebung sowie gesteuerter Interviews wird exemplarisch dargestellt, welche Einstellungen in der Sprach- und Sprecherbeurteilung die Probanden - allesamt linguistische Laien - zeigen, wie sie sich mit der Vielfalt der deutschen Sprache und ihren Sprechern identifizieren oder sich gegebenenfalls von ihnen distanzieren. Es wird den Fragen nachgegangen, welches Deutsch die Ungarndeutschen schöner und verständlicher finden, mit welchen Attributen sie die Bundesdeutschen und Österreicher verbinden und schließlich: welches Gewicht sie der deutschen Sprache zukünftig in Europa und in Ungarn beimessen. 1 Komponenten von Einstellungen, Einstellungsobjekte Die Wurzeln der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Einstellungen finden sich in der Psychologie bzw. Sozialpsychologie (vgl. Allport 1935; Aronson 1994). Mit der Evaluation von Sprachen, Sprachvarianten und Sprechern setzt sich die Soziolinguistik seit den 1980er Jahren systematisch auseinander (vgl. Ryan/ Giles [Hrsg.] 1982; Zahn/ Hopper 1985: 113-123). Einstellungen bestehen aus Überzeugungen, Wertungen, und Verhaltensweisen, die durch primäre und sekundäre (Familie, Schule, Freunde, Arbeitsplatz), inzidentell oder gesteuert ablaufende Sozialisationsprozesse geprägt werden. Einstellungen ergeben sich aus drei Komponenten (vgl. Deprez/ Persoons 1987; Siebenhaar 2000: 28; Schoel u. a. 2012: 165; Schmidlin 2013: 32-34): Erstens aus dem subjektiven Wissen (auch Pseudowissen) der Probanden über das Einstellungsobjekt (einen Gegenstand oder eine Person) bzw. darüber, wie man dieses Wissen anwendet. Diese kognitive Komponente umfasst jene Annahmen und Überzeugungen, die dem Einstellungsgegenstand zugeordnet werden (vgl. Güttler 2000: 100). Zweitens aus Affekten gegenüber dem Einstellungsobjekt, d. h. mit welchen positiven oder negativen Gefühlen Probanden Einstellungsobjekte verbinden. Drittens schließlich aus der konativen Komponente, d. h. welche (intentionalen) Verhaltensabsichten, -vorhersagen oder -erwartungen Probanden in Bezug auf ein Einstellungsobjekt haben bzw. äußern (vgl. Glogner 2006: 63). Einstellungen (oder Attitüden, attitudes) sind nicht gleichzusetzen mit 446 Réka Miskei/ Márta Müller Stereotypen und Vorurteilen. Letztere bilden nur einen Teil der sich langsam oder gar nicht verändernden sozialen Einstellungen; sie seien, so Fischer und Wiswede, auf Auseinandersetzungen zweier (gesellschaftlicher) Gruppen zurückzuführen (vgl. Fischer/ Wiswede 2009: 335). Einstellungen werden in der Fachliteratur einerseits Persistenz und Resistenz zugeschrieben, dennoch können sie sich - etwa durch objektive Umstände ([Sprach-]Politik, öffentlicher Diskurs, Wirtschaft) und durch subjektive Lebenserfahrungen - ändern (vgl. Lenz 2003: 265-266). Aus der Dualität von Stabilität und Flexibilität von Einstellungen lässt sich folgern, dass Einstellungsmessungen nicht nur in synchroner, sondern auch in longitudinaler Auswertung ertragreich sein können. Soziolinguistische Einstellungsobjekte werden nach Casper (2002: 157) nach dem Sprecher (Einstellungen zum Sprecher), Sprache/ Varietät/ Stil und Sprachverhalten (Mehrsprachigkeit, Sprachunterricht, Sprachgebrauch) kategorisiert. Messungen von Gesamteinstellungen müssen wegen ihrer Mehrdimensionalität (zu den Mikro-, Meso- und Makrokontexten vgl. Tophinke/ Ziegler 2006: 203-222) valide zusammengestellt werden - d. h. alle drei Komponenten müssen durch Fragen und stumme Karten elizitiert werden. Durch den Einsatz von stummen Karten wird die Wahrnehmung der Sprachräume durch die Probanden abgebildet, indem man sie bittet, auf den topografisch stark reduzierten Karten regionale Varietäten, Dialekträume oder im Falle der vielfältigen ungarndeutschen Mundarten die Siedlungsräume 1 zu markieren. Der Frage z. B. nach der Beurteilung von regionalen Varietäten soll nämlich die Frage vorangehen, was sich die Probanden unter Nord-, Mittel- und Süddeutsch oder unter Bairisch, Schwäbisch, Fränkisch vorstellen und wie sie diese topografisch lokalisieren. Bei der Konzipierung des Messinstruments soll nämlich auch der Umstand vor Augen gehalten werden, dass Bewertungen nur dann möglich sind, wenn die Probanden den Gegenstand kennen, ihn differenziert wahrnehmen. 1 Neben den ostmittel- und südbairischen Regionen (Umgebung von Budapest, Ungarisches Mittelgebirge, öst.-ung. Grenze) zeigt die Sprachlandschaft in Südungarn ein recht buntes Bild. In vielen Ortschaften werden westmitteldeutsche (rheinfränkische) Mundarten gesprochen, es gibt im nördlichen Teil Südungarns eine hessische Mundartregion (an der Grenze zwischen den Komitaten Tolnau und Branau) und eine „fuldische“ im südlichen. In der Batschka/ Bácska findet man pfälzische Mischmundarten. Schwäbisch sind nur einige Dörfer wie Hajosch/ Hajós (vgl. dazu Földes 2005), Dewel/ Tevel, Kleindorog/ Kisdorog und Sumpau/ Zomba (vgl. Müller 2016: 16-22). Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 447 2 Forschungsfragen Vorliegender Beitrag wertet jene expliziten Einstellungen von Ungarndeutschen aus, die dem affektiven und konativen Bereich zugeordnet werden können und sich auf das Deutsch in Deutschland und Österreich bzw. ihre Sprecher beziehen. 2 Die zentralen Forschungsfragen unserer Erhebung waren die folgenden: 1. Einstellungen zur Sprache: Welche Varietät des Deutschen empfinden die Probanden als schön bzw. verständlich? 2. Einstellungen zu den Sprechern: Welche Sprecher empfinden die Probanden als freundlicher bzw. gebildeter? Welche positiven und negativen Eigenschaften schreiben sie den typischen bundesdeutschen und österreichischen Sprechern zu? Was assoziieren sie im Zusammenhang mit der deutschen Kultur? 3. Positionierung des Deutschen in der Zukunft: Warum lernen ihrer Meinung nach ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch? Welche Rolle wird die deutsche Sprache zukünftig in Ungarn bzw. in Europa spielen? Aus Platzgründen werden die Ergebnisse der Erhebung im vorliegenden Beitrag nur im Hinblick auf die Variable Alter miteinander verglichen. 3 Darstellung der verwendeten Messinstrumente und Sozialdaten der Probanden Die der Einstellungsmessung zugrunde liegenden Sprachdaten wurden mithilfe eines direkt abgefragten Fragebogens erhoben, der 26 offene und geschlossene Fragen zu den Sprechern und Varietäten des Deutschen in Deutschland, Österreich, in der Schweiz und Ungarn beinhaltete. Angeregt wurde die Fragebogenkonzipierung durch Plewnia und Rothe (2011: 215-253). Bei der Auswahl der geeigneten Probanden spielte jener Umstand eine ausschlaggebende Rolle, dass sie im Sinne von Lüdi (1996: 234), Földes (2005: 47ff.), Knipf-Komlósi (2011: 45- 116) und Riehl (2014: 161-167) als zweisprachige Minderheitensprecher des Deutschen galten. Die Stichprobe der älteren Generation bestand aus 63 Personen im Ruhestand. Knapp zwei Drittel waren Frauen, ein Drittel Männer, die eine Hälfte der älteren Probanden lebt in der Stadt, die andere Hälfte im Dorf. Die konkreten Erhebungsschauplätze der älteren Generation waren Vereine, Chöre 2 Die Erhebung beinhaltete auch Einstellungsfragen in Bezug auf die Schweiz, die Deutschschweizer und das Schweizerdeutsche. 448 Réka Miskei/ Márta Müller und Stammtische in Wetsches/ Vecsés (südöstlich von Budapest), Werischwar/ Pilisvörösvár (nordwestlich von Budapest), Baja (im Süden an der Donau) und in Ödenburg/ Sopron (an der österreichisch-ungarischen Grenze). Die eine Hälfte der älteren Generation hat Deutsch, die andere Hälfte Ungarisch als Muttersprache angegeben. Ein Viertel der älteren Generation hat weniger als vier Jahre lang Deutsch (d. h. die Hochsprache) in der Schule gelernt, etwa die Hälfte vier bis acht Jahre lang und ein Drittel mehr als neun Jahre lang. Die junge Generation wurde an zweisprachigen Minderheitengymnasien (in Budapest, Werischwar/ Pilisvörösvár, Fünfkirchen/ Pécs, Baja, Wesprim/ Veszprém und Sopron/ Ödenburg) erreicht: insgesamt 54 Personen zwischen 17 und 19 Jahren (Abiturientenklassen), drei Viertel weiblichen, ein Viertel männlichen Geschlechts. 83 % der jungen Probanden leben in einer Stadt, 17 % auf dem Dorf. Die dominante Sprache der Jugendlichen ist bereits das Ungarische, aber alle lernen seit der ersten Grundschulklasse Deutsch. 3 Im Anschluss an die Fragebogenerhebungen wurden mit den Probanden Interviews durchgeführt, um aufzudecken, wie sie subjektiv die deutsche Sprache in den Zielländern konzeptualisieren. Die junge Generation gewinnt ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit Sprache und Sprechern durch den zweisprachigen Unterricht, vor allem durch die Schulfächer, in denen etwas über die deutschsprachigen Länder gelernt wird, ferner durch die deutschsprachigen Gastlehrer, akzidentell durch Ausflüge und Urlaubsaufenthalte im deutschsprachigen Raum. Die ältere Generation kam mit der deutschen Sprache durch ihre Auslandsaufenthalte in Österreich und Deutschland (meistens durch Besuche bei Verwandten, durch Urlaubsreisen oder Pilgerfahrten, selten dienstlich bedingt) in Berührung 4 ; es wurde aber immer wieder betont, dass sie sich mit den verschiedenen Varietäten und Dialekten des Deutschen schwergetan haben: In Karlsruhe pä te Fewaundtn hob i ksokt: laungsaum! I hob si näd feschtaundn. (E. G., 65 J. alt über den süd-rheinfränkisch-badischen Dialekt in Karlsruhe.) In ta Schui hama Täätsch kleant wie Täätsch in Täätschlaund. Owa täis is åås Osttäätschlaund kuma. (L. W., 71 J. alt, über die in der Grund- und Mittelschule gelernte, DDRorientierte deutsche Hochsprache in den 1950er, 1960er Jahren.) 3 Zum Zeitpunkt der Erhebung haben sie in mindestens 20 Wochenstunden deutschsprachigen Fachunterricht erhalten (vgl. Müller 2010: 96-117; 2015: 116-127). 4 Die in den Interviews mit den älteren Probanden am häufigsten genannten Städtenamen waren Wien und Mariazell. Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 449 Mi haam füü Lääd khod, füü Täätschi ts Håås. Houchtäätsch hob i näd feschtaundn. (E. W., 71 J. alt, über Austauschprogramme vor der politischen Wende 1989/ 1990, die meistens durch Sing- und Tanzvereine organisiert wurden.) 4 Einstellungen zu der Sprache Das Konzept der dualen Einstellungen unterscheidet zwischen impliziten und expliziten Einstellungen (vgl. Degner/ Wentura 2008: 149-158). Die im Weiteren dargestellten Ergebnisse geben die bewusst entwickelten und gesteuerten, expliziten Einstellungen der Probanden wieder (vgl. Mayerl 2009: 28), auch wenn sich hinter manchen Antworten v. a. der älteren Generation tiefe emotionale Erfahrungen verbergen können. 4.1 Wo spricht man das schönste Deutsch? Unsere Erfahrungen im Umgang mit älteren und jüngeren Ungarndeutschen zeigen, dass der Frage, wo man das schönste Deutsch spreche (im Hinblick auf Artikulation, Wortwahl usw.), in Gesprächen über den Gebrauch der deutschen (Standard-)Sprache ohne Rücksicht auf Generationszugehörigkeit viel Gewicht beigemessen wird. Die Probanden mussten eine Reihenfolge aufstellen, in welchem Land ihrer Meinung nach das schönste Deutsch gesprochen wird. 90 % der älteren Probanden meinten, in Deutschland werde das schönste Deutsch gesprochen, nur 10 % der Älteren setzten Österreich vor Deutschland an die erste Stelle. 78 % der älteren Probanden meinten, Deutsch in Österreich stehe im Hinblick auf seine Schönheit nach Deutschland an zweiter Stelle. 12 % behaupteten, Deutsch in Österreich sei weniger schön als Deutsch in Deutschland und in der Schweiz. Die Meinung der Jugendlichen über die Heimat der schönsten deutschen Sprache stimmt mit der Meinung der älteren Befragten überein: Es ist Deutschland. Ebenfalls etwa 10 % meinten, dass das Deutsch in Österreich das schönste sei - der gleiche Wert wie bei den älteren Probanden. 60 % der Jugendlichen, d. h. weniger als die älteren Probanden, behaupteten, dass das Deutsch in Österreich weniger schön sei als in Deutschland. Etwa 30 % der jüngeren Probanden waren der Ansicht, Deutsch in Österreich sei weniger schön als Deutsch in Deutschland und in der Schweiz. 450 Réka Miskei/ Márta Müller 4.2 Wie gut verstehen Sie die deutsche Sprache in …? Die Verständlichkeitsfrage wollte aufdecken, wie es um die differenziertere Wahrnehmung des Deutschen bestellt ist; zu den Antwortoptionen wurden auch die ungarndeutschen Mundarten hinzugenommen. Die ältere Generation versteht selbstverständlich die eigenen, ungarndeutschen Mundarten am besten. Die deutsche Sprache in Österreich und Süddeutschland wurde nach den ungarndeutschen Mundarten an zweiter Stelle der Verständlichkeitsskala genannt. Deutsch in Mitteldeutschland versteht man eher schlecht, die schlechtesten Bewertungen erhielt jedoch das Deutsch in Norddeutschland. Abb. 1: Wie gut verstehen Sie die deutsche Sprache in … (ältere Generation) Die junge Generation behauptete, man verstehe das Norddeutsche am besten. Dies lässt sich mit dem Umstand erklären, dass im Laufe des Lehramtsstudiums die angehenden Deutschlehrer in Ungarn mit der Entwicklung der Aussprache der deutschen Sprache vertraut gemacht werden. Die Kenntnis dessen, dass im 19. Jahrhundert die norddeutsche Aussprache durch Theodor Siebs kodifiziert wurde (1969), findet durch die Lehrer Eingang auch in den schulischen Deutschunterricht. Durch die deutschen Sprachbücher wird ebenfalls überwiegend die standarddeutsche Aussprache vermittelt, den Schülern fällt also das Verstehen der standarddeutschen Artikulation am leichtesten, welche sie mit dem Norddeutschen verbinden. Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 451 Als relativ gut verstandene Sprachform wurde das Deutsch in Mitteldeutschland empfunden. Beim Deutsch in Süddeutschland schieden sich die Geister: Ein Drittel der jungen Probanden stufte es als die am besten verständliche Sprache ein, auf der anderen Seite waren aber 39 % der Ansicht, dass das Süddeutsche nur mäßig verstanden wird. Das Deutsch in Österreich hat ein wenig mehr als die Hälfte der jungen Probanden als schwer verständlich bewertet. Und noch negativer als das Deutsch in Österreich wurden von der jungen Generation nur die ungarndeutschen Mundarten eingestuft. 5 Einstellungen zu den Sprechern 5.1 Wie freundlich finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? Die folgenden Diagramme stellen dar, wie die Probanden den typischen Bundesdeutschen und Österreicher hinsichtlich der Eigenschaften Freundlichkeit und Gebildetheit beurteilen. Abb. 2: Wie freundlich finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? (ältere Generation) 452 Réka Miskei/ Márta Müller Abb. 3: Wie freundlich finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? (junge Generation) Die Ergebnisse zeigen, dass die ältere Generation die Österreicher freundlicher findet. Die Werte der Kategorien sehr freundlich und freundlich zusammen sind bei den Österreichern um 2 % höher als bei den Bundesdeutschen, wobei die Werte der Kategorie (sehr) unfreundlich bei den Bundesdeutschen mehr als 3 % geringer sind als bei den Österreichern. Im Fall der jungen Generation kann man ähnliche Tendenzen feststellen. Die Werte von (sehr) freundlich bzw. (sehr) unfreundlich sind allerdings generell höher, gleichzeitig ist der Unterschied zwischen den zwei Nationalitäten kleiner. Folgende Ergebnisse sind der Tabelle zu entnehmen: Österreicher 58 %, Bundesdeutsche 57 % für Freundlichkeit bzw. Österreicher 6 %, Bundesdeutsche 4 % für Unfreundlichkeit. Außerdem ist ersichtlich, dass die ältere Generation eher geneigt war, die Antwort teils-teils zu markieren. Bei beiden Nationalitäten beträgt der Unterschied zwischen den Generationen ungefähr 16 %. 5.2 Wie gebildet finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? Das Bild der Probanden über die Gebildetheit zeigt zum Teil andere Tendenzen. Man kann die Bundesdeutschen als Sieger dieser Kategorie betrachten. Die Mehrheit der alten und der jungen Generation findet den typischen Bundesdeutschen gebildet. Im Vergleich zu den Österreichern sind die Werte bei beiden Generationen 10 % höher. Wenn man den anderen Pol der Skala betrachtet, wird aus den Antworten deutlich, dass nur ein sehr geringer Teil der Probanden die deutschsprachigen Sprecher für ungebildet hält. Die ältere Generation findet eher die Österreicher (1,7 %), die junge eher die Bundesdeutschen ungebildet (1,9 %). Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 453 Abb. 4: Wie gebildet finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? (ältere Generation) Abb. 5: Wie gebildet finden Sie den typischen Bundesdeutschen/ Österreicher? (junge Generation) 454 Réka Miskei/ Márta Müller 5.3 Positive und negative Eigenschaften der typischen Bundesdeutschen/ Österreicher Die Probanden wurden gebeten, die Sprecher außer den vorgegebenen Kategorien durch weitere Eigenschaften zu charakterisieren. Die folgenden zwei Tabellen geben Auskunft über die Merkmale, die von mindestens zwei Probanden genannt wurden. 5 Tab. 1: Positive und negative Eigenschaften der typischen Bundesdeutschen Tab. 2: Positive und negative Eigenschaften der typischen Österreicher 5 Die Ziffern in runden Klammern nach den Eigenschaften zeigen die Anzahl der Nennungen. Kursiv gesetzt sind die Charakteristika, die von beiden Generationen erwähnt wurden. Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 455 Zusammenfassend kann behauptet werden, dass die ältere Generation in der Lage war, mehr Eigenschaften aufzulisten. Das Bild, das über die zwei Sprechergruppen anhand der Reflexionen der älteren Generation entsteht, ist einerseits differenzierter wegen der Anzahl der genannten Eigenschaften, andererseits einheitlicher wegen der Anzahl der Nennungen bestimmter Eigenschaften. Besonders markant erscheinen die folgenden Eigenschaften bei den Bundesdeutschen: präzise, freundlich, hilfsbereit, pünktlich bzw. distanziert, eingebildet und steif. Einige davon sind klischeehaft, allerdings kann man auch auf Antworten treffen, die wohl von konkreten Erlebnissen zeugen. 6 Generell lässt sich feststellen, dass die Probanden die Österreicher einerseits mit weniger Eigenschaften beschrieben haben, andererseits ist die Anzahl der Gemeinsamkeiten in der Beschreibung der zwei Generationen auch geringer. Die gemeinsamen Elemente sind ohne Ausnahme positive Eigenschaften. Viele der Merkmale wurden auch für die Bundesdeutschen verwendet, aber es gibt auch neue Aspekte, die durch die Eigenschaften traditionsbewusst, religiös, hartnäckig angedeutet werden. 5.4 Was verbinden Sie mit der deutschen Sprache und Kultur? Die Probanden haben auch die Aufgabe bekommen, ihre Assoziationen im Zusammenhang mit der deutschen Sprache und Kultur mitzuteilen. Im Weiteren werden wieder nur jene Antworten angeführt, die von mindestens zwei Probanden erwähnt wurden. Aus den Antworten der älteren Generation geht hervor, dass sie vor allem Aspekte verbalisiert haben, die mit der primären Sozialisation verbunden sind. Die Familie im Zusammenhang mit der deutschen Sprache und Kultur wird von neun Probanden betont, aber auch Veranstaltungen wie Feste, Bälle bzw. Tätigkeiten wie Tanzen, Musik/ Singen, Sprechen lassen sich mit der Familie in Beziehung setzen. Die junge Generation hebt an der ersten Stelle die Gastronomie hervor - bei dieser Frage zählten die jüngeren Probanden eine Reihe von Speisen und Getränke auf wie Brezel, Sauerkraut, Wurst, Bier usw. Mit Gastronomie sind auch Feste - vornehmlich das Oktoberfest und seine ungarndeutschen Pendants - verbunden. Über die Schauplätze der primären Sozialisation hinaus wird in den Antworten der Probanden der sekundären Sozialisation, d. h. der Schule, ferner der Arbeit und im Allgemeinen dem 6 „[B]eim Gespräch achten sie mehr aufeinander. Sie gehen mehr aufeinander zu, sagen ihre Meinung.“ / „Ich will keine Typen darstellen. Es gibt genauso freundliche Menschen unter den Deutschen als auch unfreundliche. Es gibt gut gebildete und ungebildete auch. Im Allgemeinen kann ich hervorheben, dass die deutsche Regierung (und nicht nur die Regierung) kluge Gesetze herausgibt, gute Ideen hat, z. B. sie schützen ihre Industrie usw.“ - Im zweiten Zitat reflektiert der Proband über die Schwierigkeit der Aufgabenstellung und weigert sich, typische Eigenschaften zu nennen. 456 Réka Miskei/ Márta Müller Deutschen, in der Zukunft eine große Bedeutung zugeschrieben. Bemerkenswert ist der Umstand, dass das ansonsten sehr sachlich anmutende Thema Minderheit, Identität bzw. ungarndeutsche Traditionen von sieben Probanden aus der jungen Generation ausdrücklich und differenziert angesprochen wird. 6 Positionierung des Deutschen in der Zukunft Um die prospektiven Vorstellungen der Probanden hinsichtlich der Positionierung des Deutschen aufzudecken, wurde der älteren Generation die Frage gestellt, warum ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch lernen. Die junge Generation wurde dagegen nach den eigenen Zielen im Zusammenhang mit dem Deutschen befragt. Tab. 3: Warum lernen ihre Kinder und Enkelkinder Deutsch? (ältere Generation) Tab. 4: Was sind Ihre Ziele mit der deutschen Sprache in der Zukunft? (junge Generation) Einstellungen von Ungarndeutschen zur deutschen Sprache 457 Die ältere Generation legt auf das Studium den größten Akzent: 57 % der Probanden hält diesen Aspekt für den wichtigsten. Bei der jungen Generation steht jedoch das Berufsleben an der ersten Stelle der Wichtigkeitsskala. Die ältere Generation hatte zum Teil schon aus historischen Gründen wesentlich weniger Chancen, zu studieren, deshalb wird die Möglichkeit des Studiums ihrerseits als besonders wichtig dargestellt. Fasst man die Werte der Kategorien sehr wichtig und wichtig bei beiden Generationen zusammen, dann beträgt der Unterschied zwischen den zwei Antwortoptionen (Berufsleben vs. Studium) nur noch weniger als 5 %. Die Ergebnisse der zwei Generationen in der Kategorie Berufsleben sind beinahe gleich: Ungefähr 77 % beider Probandengruppen schätzen diesen Aspekt als (sehr) wichtig ein. Die Rolle der deutschen Sprache in Europa betrachten beide Probandengruppen äußerst positiv. Beide Gruppen halten sie nach wie vor für eine wichtige Welt- und Arbeitssprache. Fast die Hälfte der älteren Generation ist der Meinung, dass Deutsch sogar wieder im Kommen ist. Bei der jungen Generation wird diese Meinung nur von 22 % vertreten. 33 % der älteren Probanden gehen davon aus, dass Englisch mittlerweile wichtiger ist als Deutsch. Im Vergleich dazu ist die junge Generation überraschenderweise optimistischer: Nur 20 % vertreten diese Ansicht. Was die zukünftige Bedeutung der deutschen Sprache in Ungarn anbelangt, sind beide Generationen zuversichtlich: Die ältere Generation schreibt in erster Linie dem Tourismus, die junge Generation aber dem Schulwesen und dem Berufsleben die größte Bedeutung zu. 7 Zusammenfassung Einstellungen dienen - durch ihre Vereinfachung komplexer Phänomene - der Orientierung des Einzelnen in der Wirklichkeit. Durch die Konstruktion von Hetero- und Autostereotypien tragen sie dazu bei, dass das Ich sich selbst in einem sozialen Umfeld möglichst vorteilhaft positionieren und die fremde und eigene Identität bewerten kann (vgl. Deprez/ Persoons 1987: 129-130). Im Hinblick auf unsere Spracheinstellungsmessung lässt sich feststellen, dass die Probanden das in Deutschland gesprochene Deutsch für ein wenig schöner halten als das Deutsch in Österreich. Die Verständlichkeit der Varietäten haben die Generationen unterschiedlich beurteilt: Vertreter der älteren Generation verstehen - womöglich auch wegen der vielen ostmittelbairischen Ortsmundarten, die sie noch als Erstsprache erlernt haben - die süddeutschen, österreichischdeutschen Varietäten besser. In Bezug auf die Sprecher fallen die Beurteilungen für Freundlichkeit in beiden Probandengruppen sehr ähnlich aus: Deutsche (egal ob Bundesdeutsche oder Österreicher) sind eindeutig freundlich. Hinsichtlich 458 Réka Miskei/ Márta Müller der Gebildetheit werden im Allgemeinen die Bundesdeutschen ein wenig positiver wahrgenommen bzw. die junge Generation ist in dieser Hinsicht positiver ihnen gegenüber eingestellt als die ältere Generation. Bei der Charakterisierung der prototypischen Sprecher wurden immer mehr positive als negative Attribute im Zusammenhang mit den Bundesdeutschen und Österreichern genannt, wobei Bundesdeutsche differenzierter (deswegen auch kritischer) wahrgenommen werden: Bundesdeutsche sind demnach fleißig und hilfsbereit, aber distanziert und steif, Österreicher hilfsbereit und freundlich, aber eingebildet und laut. Die eindeutig gute bis sehr gute Tendenz der Beurteilung des Bundesdeutschen und des österreichischen Deutschen lässt die Folgerung zu, dass die Probanden sowohl die Sprache bzw. die Sprachvarietäten als auch ihre Sprecher prestigeträchtiger erachten als sich bzw. ihre Umgebung. Im Bereich der konativen Einstellungen hebt die ältere Generation die Bedeutung des Studiums, die junge Generation die des Berufslebens im Hinblick auf ihre Ziele hervor. Da die Möglichkeit eines Studiums vielen älteren Probanden verwehrt blieb, wird die Wichtigkeit des Deutschen im Studium bzw. das Studieren selbst u. E. von der älteren Generation überschätzt. Nichtsdestoweniger halten beide Generationen Deutsch für eine wichtige Welt- und Verkehrssprache, deren Bedeutung in den kommenden Jahren sowohl in Europa als auch in Ungarn eindeutig positiv beurteilt wird. Literatur Allport, Gordon Willard (1935): Attitudes. In: Murchison, Carl (Hrsg.): Handbook of social psychology. Worcester, Mass. S. 798-844. Aronson, Elliot (1994): Sozialpsychologie. Menschliches Verhalten und gesellschaftlicher Einfluss. Heidelberg u. a. Baßler, Harald/ Spiekerman, Helmut (2001): Dialekt und Standardsprache im DaF-Unterricht. Wie Schüler urteilen - wie Lehrer urteilen. 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Im Rahmen der interaktionalen Soziolinguistik untersucht der Beitrag die durch vernetzte Mehrsprachigkeit entstandenen Schreibmuster der deutsch-namibischen Diaspora und ihrer Onlinecommunity, wozu u. a. inter- und intrasententielles Code-Switching, typische Entlehnungen im namibischen Deutsch und Lehnübersetzungen aus dem Englischen und Afrikaans gehören. Diese Sprachkontaktphänomene werden sowohl aus einer funktionalen als auch aus einer grammatisch-formalen Perspektive beleuchtet, wodurch die Struktur mehrsprachiger Schreibmuster sowie ihre Rolle innerhalb des Diskurses verdeutlicht werden. Mithilfe einer soziografischen Metadatenanalyse wird die Bedeutung von CVK als Organisations- und Kommunikationsplattform dargelegt und ihr Beitrag für die Gruppenkohäsion der deutsch-namibischen Diaspora besprochen. 1 Einleitung Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Dynamik computervermittelter Kommunikation (CVK) innerhalb der deutsch-namibischen Diaspora und ihrer Onlinecommunity (nachfolgend Community genannt) seit dem großflächigen Aufkommen der Internetkommunikation um die Jahrtausendwende. Er untersucht einerseits die Position von CVK als Quelle zur Analyse kontaktsprachlich bedingter Phänomene im Namdeutschen und andererseits die Rolle von CVK als Äußerungsform und Gestaltungsmöglichkeit für Kontaktphänomene. Dabei gibt er einen diachronen Einblick in die digitale, deutsch-namibische Organisationsstruktur anhand soziografischer Daten wie Geschlechterverhältnis, Mitgliederwachstum und Nutzeraktivität bei einschlägigen Kommunikationsplattformen. Zudem wird die Rolle von CVK für vernetzte Mehrsprachigkeit innerhalb der deutsch-namibischen Diaspora und ihrer Community besprochen. Der Beitrag analysiert die darin verwendeten Schreibmuster, die u. a. Entlehnungen, Lehnübersetzungen, inter- und intrasententielles Code-Switching sowie semantischen Transfer enthalten. Diese Sprachpraxis weist Parallelen zu anderen Diaspora- Gruppen in Deutschland auf, wie die der griechischen und türkischen Onlinecommunitys, für die Androutsopoulos und Hinnenkamp (2001: 31) konstatie- 462 Henning Radke ren, dass „die beiden Gemeinschaften über eine Vielzahl von Ressourcen verfügen - Sprachen, Varietäten, Register, Medienzitate […]“ und somit „ein starkes medienspezifisches Aushandlungspotenzial in sich bergen […, das] nur durch qualitative, sequenzanalytisch und interpretativ orientierte Studien aufgedeckt werden [kann]“. Gegenstand dieses Beitrags ist es, eine Fallanalyse zu dem linguistischen Aushandlungspotenzial der deutsch-namibischen Diaspora in Deutschland und ihrer Community vorzulegen. Somit schließt der Beitrag an aktuelle Forschungsrichtungen über Mehrsprachigkeit im Internet an (vgl. Danet/ Herring [Hrsg.] 2007; Georgakopoulou/ Spilioti 2015; Lee 2016) und bezieht sich dabei auf den Diaspora-Zweig innerhalb der CVK-Forschung (vgl. Herring u. a. 2013), in dem u. a. die Beziehung von Sprachwahl, Genre und Struktur mehrsprachiger Onlineplattformen im Fokus steht (Androutsopoulos/ Hinnenkamp 2001; Androutsopoulos 2006; 2007; 2009; 2015). Zudem zieht er Parallelen zum DFG-Projekt Namdeutsch: Die Dynamik des Deutschen im mehrsprachigen Kontext Namibias (Universität Potsdam, Freie Universität Berlin, University of Namibia), das Spracheinstellungen und grammatische Innovation im gesprochenen Namdeutsch untersucht (Wiese u. a. 2014; 2017). Der vorliegende Beitrag bezieht sich ergänzend auf die Schriftsprache, die in ihrer vernetzten Form nach Issa-Salwe die Möglichkeit verleiht, „to communicate, regroup, share views, help their groups at home, and organize activities“, sodass ein „sense of belonging and sharing“ entsteht (Issa-Salwe 2008: 54; 65). Diese Beobachtung wird im vorliegenden Beitrag weitergeführt, indem die Rolle von CVK für die Gruppenkohäsion der deutsch-namibischen Diaspora in Deutschland untersucht wird. 2 Die doppelte Minderheit Mit ca. 22.000 Muttersprachlern stellt die deutsche Sprachgemeinschaft etwas weniger als 1 % der insgesamt knapp 2,5 Millionen Einwohner 1 Namibias dar, wodurch sie innerhalb ihres Heimatlandes zu einer der sprachlichen und kulturellen Minderheiten zählt (vgl. Dück 2018: 120). Dabei ist die deutsche Sprache eine von 13 anerkannten Nationalsprachen Namibias mit regionalen Sprachrechten (vgl. Prochner u. a. 2016: 63), wobei Englisch als alleinige, nationalweite Amtssprache fungiert. Zielländer der deutsch-namibischen Diaspora sind zum einen Südafrika wegen der geografischen Nähe sowie Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten und zum anderen Deutschland, das von 1884 bis 1915 Kolo- 1 Die am meisten gesprochenen Muttersprachen sind Oshivambo (48,9 %), Nama/ Damara (11,3 %) und Afrikaans (10,3 %), wobei Afrikaans vor allem im Süden als Lingua Franca weiter Teile der namibischen Bevölkerung dient. Quelle: https: / / www.cia.gov/ library/ publications/ the-world-factbook/ geos/ wa.html (30.07.2018). Die Rolle computervermittelter Kommunikation 463 nialmacht von Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, war. Obwohl in Deutschland lebende Namibier formal die Muttersprache der Mehrheitsgesellschaft sprechen und ihre Vorfahren (teilweise) aus Deutschland stammen, befinden auch sie sich in einer Minderheitsposition, da sie in einem afrikanischen Land mit einer anderen kulturellen, geschichtlichen, geo-klimatischen und sprachlichen Umgebung sozialisiert worden sind. In den von deutschsprachigen Namibiern verwendeten Begriffen für Deutsche (Deutschländer, Gerrys von engl. German) sowie deren Herkunftsland (Gerrybay, Gerryland) manifestiert sich daher eine identitätsstiftende Abgrenzung zu Deutschland. Im mehrsprachigen Kontext Namibias hat sich während des 20. Jahrhunderts zudem eine eigene kontaktsprachliche Varietät des Deutschen entwickelt, die sich durch Entlehnungen aus Afrikaans, Englisch und zu geringerem Teil aus anderen, indigenen Sprachen Namibias auszeichnet und unter dem Namen Namdeutsch bekannt ist (vgl. Wiese u. a. 2014: 7; vgl. Kellermeier-Rehbein 2016: 229; Wiese u. a. 2017: 1; Dück 2018: 120). Somit hat die deutsch-namibische Diaspora zwar eine zum großen Teil identische Standardsprache mit der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland (vgl. Kellermeier-Rehbein 2016: 225), jedoch keinen gemeinsamen Substandard, da dieser explizit namibisch, jedoch nicht (deutschland-)deutsch ist. Demnach zeichnet sich die deutsch-namibische Gemeinschaft durch einen doppelten Minderheitenstatus im Heimatland wie in der Diaspora aus, wodurch CVK in sozialen Medien eine Doppelfunktion als Plattform zum transnationalen Austausch innerhalb der Gemeinschaft und über Landesgrenzen hinweg zukommt. CVK erhöht dabei den Organisations- und Vernetzungsgrad der Gemeinschaft, unterstützt ihre Gruppenkohäsion und ist somit ein wichtiger, identitätsfördernder Faktor, wie die Dialogauszüge 1-3 in Abschnitt 5 (Digitale Sprachmuster) zeigen. Zuvor erfolgt jedoch eine Metadatenanalyse der vier großen Onlineplattformen in Abschnitt 4 (Zur Dynamik der digitalen Vernetzung) sowie eine Beschreibung des methodischen Vorgehens in Abschnitt 3. 3 Methode Für die vorliegende Analyse wurde Web Scraper verwendet, das als Browser- Erweiterung die automatisierte Erfassung von Webinhalten ermöglicht. Hierzu werden die URL der Zielseite im Programm gespeichert und die gewünschten Elemente auf der Seite ausgewählt. Kommt ein Elementtyp mehrfach vor, wählt das Programm bei zweimaliger, manueller Auswahl desselben Elementtyps alle anderen Elemente automatisch aus. Weiterhin werden verlinkte Unterseiten mit dem gewünschten Element erfasst. Nach Extrahierung und Übertragung der Daten in ein Spreadsheet wurden diese automatisch geordnet, gezählt und als Diagramm dargestellt, sodass sich u. a. quantitative Angaben zum Mitglieder- 464 Henning Radke wachstum, Geschlechterverhältnis und zur Nutzeraktivität erstellen lassen. Im Folgenden werden diese Ergebnisse vorgestellt. 4 Zur Dynamik der digitalen Vernetzung 4.1 Plattformen der deutsch-namibischen Diaspora und ihrer Community Die analysierten Plattformen unterteilen sich in die Seite www.namibier.de, die u. a. ein Gästebuch und Forum zum synchronen Informationsaustausch bietet, sowie in das soziale Netzwerk Facebook mit den beiden Gruppen Namibianer in Deutschland und NAMSA 2018. Dabei stellt sich heraus: je jünger eine Plattform, desto höher ihre Mitgliederanzahl. Tabelle 1 zeigt das stetige Wachstum über die Plattformen hinweg, das mit dem allgemeinen Trend zur weltweit wachsenden Digitalisierung übereinstimmt: Anzahl Mitglieder Plattform Webseite Aktiv seit 362 Gästebuch www.namibier.de 02/ 2002 641 Forum www.namibier.de 07/ 2006 1.169 Namibianer in Deutschland Facebook 07/ 2011 1.183 NAMSA 2018 Facebook 02/ 2014 Tab. 1: Angemeldete Mitglieder bei deutsch-namibischen Plattformen (Juni 2018) Das Gästebuch von www.namibier.de ist die älteste Plattform und verfügt über die geringste Nutzerzahl. Anders als bei jüngeren Plattformen besteht hier keine Registrierungsmöglichkeit. Daher dient als Referenzpunkt die Zahl der Autoren (362), die mindestens einen Eintrag hinterlassen haben. 2006 wurde die Webseite erweitert und neben dem Gästebuch ein Forum implementiert, das die Möglichkeit zur Registrierung bietet, die 641 Mitglieder nutzten (Stand: Juni 2018). Die vorherige, durch Webseite und Gästebuch bedingte Vernetzung führte bereits am 1. Tag des Forums zu einem Anstieg der Mitglieder von 0 auf 338. Die Rolle computervermittelter Kommunikation 465 Grafik 1: Mitgliederwachstum der ersten elf Tage auf www.namibier.de Bis zum Ende des Jahres stieg die Zahl der registrierten Mitglieder nur geringfügig auf 381. Sie erhöhte sich 2007 um 103 auf 484 und im darauffolgenden Jahr um 58 auf 542 Mitglieder. Danach stellte sich ein nur sehr begrenztes Wachstum ein. Somit griff das Forum von Anfang an auf eine bestehende digitale Infrastruktur und deren vitale Community zurück, die bereits am ersten Tag in einer beträchtlichen Zahl zum neuen Medium wechselte. 2011 entsteht die Facebook-Gruppe Namibianer in Deutschland, die mit 1.169 registrierten Mitgliedern etwa 45 % mehr User verzeichnet als ihr Vorgänger. Von diesen Mitgliedern sind 621 (52,4 %) männlich und 557 (47,6 %) weiblich (Stand: 11. Juni 2018). 2014 wird zudem die Facebook-Gruppe NAMSA 2014 (mit jährlich angepasster Jahreszahl, aktuell: NAMSA 2018) gegründet, die derzeit 1.183 Mitglieder verzeichnet (Stand: Juni 2018) und als Organisationsplattform für das gleichnamige, einmal jährlich an wechselnden Orten stattfindende Treffen dient, das alle „Namibier und Südafrikaner, die zur Zeit in Deutschland leben“, einlädt. 2 Somit steht diese Plattform beispielhaft für die Gruppenkohäsionswirkung deutsch-namibischer CVK, die virtuelle Kommunikation mit realen Ereignissen in der Diaspora verbindet. Personelle Schnittmengen zwischen www.namibier.de und den beiden Facebook-Gruppen liegen nahe und werden durch auf die jeweils andere Seite verweisende Posts verstärkt: also, freiwillige voraus; ) allerhand info unter namibier.de oder hier FB-Gruppe Namibianer in Deutschland, Januar 2014 Rechnet man die Nutzer heraus, die in beiden Facebook-Gruppen gleichzeitig Mitglied sind (425), so ergibt sich eine Gesamtzahl von 1.927 einzelnen Mitgliedern (unique members), die beide Gruppen auf sich vereinen (Stand: Juni 2018). Diese Zahl entspricht in etwa 10 % der in Namibia ansässigen deutschsprachi- 2 Vergleiche http: / / www.namibier.de/ namsa (22.06.2018). 466 Henning Radke gen Gemeinschaft und zeigt somit den hohen Vernetzungsgrad innerhalb der Gruppe. Auffallend ist jedoch, dass sie fast drei Mal so hoch ausfällt, wie die Zahl der in Deutschland gemeldeten Namibier, die das Statistische Bundesamt für das Jahr 2017 mit 680 angibt (2017: 145) und bei denen davon auszugehen ist, dass nur ein Teil der deutschsprachigen Minderheit angehört. Die Gründe für die unterschiedlichen Zahlen sind vielseitig: Zum einen besitzen einige Namibier die deutsche Staatsangehörigkeit, sodass sie bei Einreise nach Deutschland nicht als namibische, sondern als deutsche Mitbürger erfasst werden. Zudem wirken sich eventuelle Einbürgerungen von in Deutschland lebenden Namibiern senkend auf die offizielle Statistik aus. Es ist daher davon auszugehen, dass mehr Menschen mit Namibia als Geburtsund/ oder Herkunftsland in Deutschland wohnen als die Zahl von 680 impliziert. Zugleich sind nicht alle Mitglieder der Facebook-Gruppen in Deutschland lebende Namibier. So zeigt eine quantitative Metadatenanalyse von 240 aktiven Profilen der Gruppe NAMSA 2018, dass 168 Mitglieder angeben, in Deutschland zu wohnen (70 %) und 44 in Namibia (18 %), wozu auch aus Deutschland zurückgekehrte Namibier und in Namibia lebende Deutsche zählen. Zudem geben 28 der 240 aktiven Profile an, in anderen Ländern zu wohnen (12 %), darunter in Österreich, Südafrika, Großbritannien und Australien. Obgleich die meisten aktiven Mitglieder in Deutschland wohnen, betont der relativ hohe Anteil von 30 % nicht in Deutschland lebender Mitglieder den transnationalen Charakter der Onlineplattform. Damit bildet die Gruppe eine offene Onlinecommunity, die sich mit Themen der namibischen Diaspora in Deutschland identifiziert und eine ganz eigene In-Group formt, auf die dieser Beitrag mit dem allgemeinen Begriff der deutsch-namibischen Community verweist. Diese besteht zwar nicht ausschließlich, aber zum größten Teil aus der deutsch-namibischen Diaspora in Deutschland. 4.2 Der Bedeutungsgewinn von CVK für die namibische Diaspora Das in 4.1 beschriebene Mitgliederwachstum der deutsch-namibischen Onlineplattformen manifestiert sich in einer über die Jahre hinweg steigenden Nutzungs- und Interaktionsrate, die Grafik 2 anhand der Vergleichszeiträume 2002 bis 2011 und 2011 bis 2018 verdeutlicht, wobei der Übergang zwischen beiden Zeiträumen durch die Implementierung der ersten FB-Gruppe Namibianer in Deutschland im Jahre 2011 markiert wird. Die Rolle computervermittelter Kommunikation 467 Grafik 2: Traffic der deutsch-namibischen CVK 2002-2018 Die Zahl von 1.224 Posts in Zeitraum 1 (9 Jahre) hat im Vergleich zu Zeitraum 2 (7 Jahre) um den Faktor 7,7 auf 9.468 zugenommen, wobei sich dieser Anstieg ausschließlich durch den Aktivitätszuwachs der Facebook-Gruppe Namibianer in Deutschland begründet und nahelegt, dass die technischen Neuerungen der vernetzten Kommunikation eine wesentliche Rolle beim CKV-Zuwachs der deutschnamibischen Diaspora und ihrer Community gespielt haben. Da das Diagramm die Facebook-Gruppe NAMSA 2018 nicht berücksichtigt, liegt der tatsächliche Traffic im zweiten Zeitraum noch höher, woraus sich die gestiegene Bedeutung von CVK für die deutsch-namibische Gemeinschaft ablesen lässt. Die Themen der Community reichen von der Organisation gruppenspezifischer Veranstaltungen, logistischer Hilfe beim Umzug und Transport von Gütern bis hin zu Neuigkeiten aus Deutschland und Namibia. Dabei erfüllt die Schreibpraxis der deutsch-namibischen Gemeinschaft alle Bedingungen der vernetzten Mehrsprachigkeit (networked multilingualism), die Androutsopoulos wie folgt definiert: Networked multilingualism encompasses everything language users do with the entire range of linguistic resources within three sets of constraints: mediation of written language by keyboard-and-screen technologies […], access to network resources […], and orientation to networked audiences (Androutsopoulos 2015: 188). Vernetzte Mehrsprachigkeit betont dabei sprachliche Fluidizität, die Unvorhersehbarkeit der Sprachwahl sowie den digitalen Wechsel zwischen mono- und multilingualer Sprachpraxis (vgl. Androutsopoulos 2015: 201) und wurde bereits für die griechische und türkische Diaspora in Deutschland belegt (vgl. Androutsopoulos/ Hinnenkamp 2001; Androutsopoulos 2006; 2007; 2009; 2015). 468 Henning Radke Die folgende qualitative Analyse bezieht das Konzept der vernetzten Mehrsprachigkeit auf die multilinguale Praxis innerhalb deutsch-namibischer CVK, die sowohl aus einer funktionalen als auch aus einer grammatisch-formalen Perspektive beleuchtet wird. Hierzu dient exemplarisch ein Dialog aus der Facebook- Gruppe Namibianer in Deutschland. 5 Digitale Sprachmuster Die am häufigsten verwendete Varietät ist geschriebenes Standarddeutsch mit typischen CVK-Merkmalen wie dem teilweisen Bedeutungsverlust von Interpunktion und nominaler Großschreibung. Neben Standarddeutsch finden sich auch kontaktsprachliche Merkmale, die vereinzelnd in hoher Dichte auftreten und der Gruppe eine namibia-spezifische, mehrsprachige CVK-Praxis verleihen. Hierzu gehören inter- und intrasententielles Code-Switching, also der Sprachwechsel innerhalb von bzw. zwischen einzelnen Sätzen sowie Entlehnungen und Lehnübersetzungen aus dem Englischen und Afrikaans. Der folgende CVK- Dialog vom Februar 2012 verdeutlicht diese Phänomene; er stellt ein Gespräch zwischen anfänglich zwei Personen dar, an dessen Gesamtverlauf 12 weitere Personen aktiv teilnehmen. Im Eingangspost des Dialoges wird um Vorschläge für einen Veranstaltungsort für NAMSA gebeten, eines jährlichen Treffens von Namibiern und Südafrikanern in Deutschland. Der darauffolgende Dialog lässt sich thematisch in drei Abschnitte gliedern: In Auszug 1 geht es um die Bedeutung des Akronyms NAMSA, woraufhin in Auszug 2 Vorschläge für einen Veranstaltungsort diskutiert werden. In Auszug 3 wird der gewählte Veranstaltungsort bekanntgegeben und besprochen. Auszug 1 zeigt zunächst den einleitenden Abschnitt des Gespräches, an dem drei Personen teilnehmen: Auszug 1: Dreisprachigkeit deutsch-namibischer CVK-Sprachmuster User 1 Miskien.Perhaps,vielleicht, may bee….its raining ? Ich suche ein Plek für NAMSA.Bitte melden ? User 2 vielleicht bin ich nur dumm or so but can u pls be so nett and tell me was NAMSA ist? ive been trying to figure it out aber trotzdem..i have no idea User 1 Julle kyk google NAMSA User 2 ok, baie dankie User 1 Wo sind meine MAATS ? User 3 NAMSA - is short for "NAMibia & SA (South Africa) its a big party in Europe every year! Auszug 1 zeigt, dass die Sprachwahl zwischen Deutsch, Englisch und Afrikaans auf Ebene des Gesamtdialogs, zwischen unterschiedlichen und denselben Usern sowie innerhalb einzelner Kommentare variiert und somit sprachliche Fluidizi- Die Rolle computervermittelter Kommunikation 469 tät in allen diskursiven Bereichen vorhanden ist. Auf Kommentar-Ebene zeigt sich diese Tatsache in der viergliedrigen Tautologie miskien, perhaps, vielleicht und maybe (im Original may bee), mit der der Dialog eröffnet wird. Sie stellt eine spielerische Wiederholung desselben Wortes in verschiedenen Sprachen dar und steht somit exemplarisch für das erhöhte linguistische Ausdrucksrepertoire und Aushandlungspotenzial, über das die deutsch-namibische Gemeinschaft in ihrer Dreisprachigkeit verfügt. Durch die fehlende Matrixsprache und dem damit einhergehenden Fehlen einer morphosyntaktischen Struktur innerhalb der Tautologie (vgl. Myers-Scotton 2006), das sich in ihrem mehrsprachigen Aufzählungscharakter begründet, kann das Wort miskien sowohl als Afrikaans (vgl. Niederländisch: misschien) als auch als afrikaans-basiertes Lehnwort im namibischen Deutsch analysiert werden, das sich in Form von mischin bereits 1901 in der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung nachweisen lässt (vgl. Nöckler 1963: 53) und sowohl im Wörterbuch von Pütz (1984) als auch in Sell (2011) Erwähnung findet. Es ist daher von einer etablierten Entlehnung auszugehen, die in der Anfangsphase der deutschen Besiedlung des heutigen Namibias ihren Ursprung hat. Auch der Begriff maybe kann durch die fehlende Matrixsprache innerhalb der Tautologie zwei verschiedenen Sprachen zugeordnet werden: als Entlehnung im Deutschen oder als lexikalischer Bestandteil des Englischen. Zwar verweist Sell darauf, dass maybe im namibischen Deutsch fast häufiger vorkommt als miskien (vgl. Sell 2011: 115), jedoch wird das Wort bei Nöckler (1963) und Pütz (1984) gar nicht erst gelistet; eine Tatsache, die zumindest darauf hindeutet, dass Frequenz und Bedeutung des Wortes in einer späteren Phase zugenommen haben, wenngleich nicht gänzlich auszuschließen ist, dass es zum Erscheinungszeitpunkt der beiden Referenzwerke bereits gelegentlich Verwendung fand. Die Wiederholung der vier inhaltlich synonymen Wörtern miskien, perhaps, vielleicht und maybe nutzt nicht nur semantische Redundanz als Stilmittel, sondern steht exemplarisch für die sprachliche Fluidizität namibischer CVK-Schreibmuster auf Kommentar-Ebene. Gleichzeitig dient sie zusammen mit der sich anschließenden rhetorischen Frage als Hinführung zum eigentlichen Thema: die Standortsuche für NAMSA. 3 Fluide, mehrsprachige Muster können in der CVK-Praxis von Triggerwörtern ausgelöst werden: So findet sich im zweiten Kommentar die deutsche Ad-Hoc-Entlehnung „(so) nett“ innerhalb einer englischen Phrase, wobei „so“ den Übergang zum deutschen Begriff „nett“ triggert, da es im Lexikon beider Sprachen vorkommt. Der weitere Verlauf des Dialogs zeigt nicht nur fluide Mehrsprachigkeit innerhalb einzelner Kommentare, sondern auch zwischen den Beiträgen unterschiedlicher Nutzer. So eröffnet User 1 den Dialog mit einem Kommentar auf 3 Den Schlüsselbegriff Standort deutet der User dabei mit der namibia-typischen Entlehnung Plek an (von Afrikaans plek: Platz, Ort), die in Auszug 2 des Dialoges eine besondere Bedeutung für die sprachliche Fluidizität erlangen wird. 470 Henning Radke Englisch und Deutsch, wobei das Hauptanliegen auf Deutsch formuliert wird. User 2 führt den Dialog in derselben Sprache fort und wechselt für sein Hauptanliegen, das auf die Bedeutung des Akronyms NAMSA zielt, ins Englische. User 1 reagiert daraufhin mit einem komplett auf Afrikaans gehaltenen Kommentar und führt somit eine dritte Sprache ein: „Julle kyk google NAMSA“ (sucht mal bei google das Stichwort NAMSA, wörtlich: ihr schaut google NAMSA), woraufhin User 2 diese Sprache übernimmt und sich darin bedankt. Die Sprachpraxis von User 1 erinnert an das Konzept des Language Crossing (Rampton 1995), das den Wechsel in eine andere Sprache beschreibt, „as a means to negotiate ethnic and class relations“ (Androutsopoulos 2015: 186; vgl. Blommaert 2010). In diesem Falle geht der Wechsel von User 1 zum Afrikaans mit der Nicht- Beantwortung der zuvor von User 2 gestellten Frage nach der Bedeutung des Akronyms NAMSA einher und spiegelt somit dessen Verhalten, da User 2 mit seiner Frage ebenfalls nicht direkt auf die ursprüngliche Bitte nach Standortvorschlägen von User 1 reagiert. Eine inhaltliche Antwort auf die Frage nach der Begriffsbedeutung von NAMSA liefert schließlich User 3, der hierfür wieder ins Englische wechselt und somit den ersten Abschnitt beendet. Die beschriebene Sprachpraxis impliziert, dass die User von einer gegenseitigen rezeptiven Dreisprachigkeit in Afrikaans, Deutsch und Englisch ausgehen und somit Sprachwechsel auf inter-kommentarlicher Ebene ermöglichen. Im Dialog zeigt sich kontaktsprachliche Konvergenz bei einigen für den namibischen Kontext typischen Entlehnungen und ihrer Etymologie. So fragt User 1: „Wo sind meine MAATS? “, wobei maats ein im namdeutschen Substandard etabliertes Lehnwort aus dem Afrikaans ist (Afrikaans Singular: die maat, Plural: die maats), das wiederum mit dem Englischen mate verwandt ist. Mit dieser Frage leitet User 1 den Übergang zum zweiten Abschnitt des Dialogs ein, der sich über vier Wochen entspannt, in denen sieben User den Dialog fortführen, verschiedene Veranstaltungsorte vorschlagen und dabei deren Vor- und Nachteile diskutieren. Auszug 2: lexikalisches Ausdruckspotenzial und grammatische Merkmale User 4 [fügt einen Link ein] maybe ist das ein Platz für NamSA. User 5 Sieht nicht schlecht aus, aber ist vom ort her für viele weit zu fahren User 6 Der Plek ist doch allright - darf auch nicht zu nah bei von der Lokasi sein User 7 jeder plek is für den ein oder anderen zu weit sei denn der is Center in Deutschland! User 8 Ich will auch mitkommen…will be the first time..muss checken wie ich arbeiten muss… User 9 poste jetzt mal so alles was ich finde: User 5 Das sieht doch mooi aus User 1 Ich höre es sind Leute auf Pleksuche ! Mooi man ! Die Rolle computervermittelter Kommunikation 471 Eine fluide Ausdrucksform auf Wortebene findet sich im multilingualen Verweis auf den Schlüsselbegriff der Diskussion, der über verschiedenen Kommentare hinweg von unterschiedlichen Usern als Plek, Platz, Ort oder Lokasi bezeichnet wird. Diese Synonyme spiegeln die lexikalischen Variationsmöglichkeiten wider, die der deutsch-namibischen Gemeinschaft durch ihre gesellschaftliche Mehrsprachigkeit zur Verfügung stehen. Während Ort die standarddeutsche Variante darstellt, ist Plek ursprünglich eine Entlehnung aus dem Afrikaans (von Niederländisch: plek) und kommt häufig bei informeller Onlinekommunikation innerhalb von deutsch-namibischer CVK vor. Der Begriff dient dabei sogar als Erstglied des Kompositums Pleksuche, das im europäischen Standarddeutsch als mehrsprachiges Kompositum (Afrikaans + Deutsch) gelten würde. Durch die hohe Frequenz und Akzeptanz innerhalb der deutsch-namibischen Gemeinschaft kann es jedoch als etabliertes Lehnwort der namdeutschen Non-Standard-Varietät angesehen werden. Neben Plek findet das Wort Platz Verwendung, das zwar ebenso wie der Begriff Ort Bestandteil des standarddeutschen Lexikons ist, jedoch im konkreten Beispiel „maybe ist das ein Platz für NamSA“ einer semantischen Besonderheit unterliegt: Während ein Platz im Standarddeutschen 4 eine umbaute Fläche im Stadtbild beschreibt oder als Fläche eines Spielfeldes fungiert, ist der geografische Begriff Ort 5 weiter gefasst, ohne feste Grenzen und nicht auf städtebauliche Einheiten beschränkt. Für die Durchführung von Veranstaltungen in der Natur eignet sich im Standarddeutschen daher nur der Begriff (Veranstaltungs-)Ort. Der in Auszug 2 verwendete Begriff Platz als Synonym für Ort weist semantische Ähnlichkeiten mit seinem englischen Kognat place auf, das je nach Kontext mit Platz oder mit Ort übersetzt werden kann. Die Vermutung liegt nahe, dass Platz hier einem semantischen Transfer vom englischen place unterliegt, zumal der User seine Nähe zur englischen Sprache bereits am Anfang des Satzes durch die Verwendung des Lehnwortes maybe kenntlich macht. (1) zeigt die analoge Verwendung des englischen Wortes place und des im Originalsatz verwendeten Begriffs Platz: (1) Original: maybe ist das ein Platz für NamSA. Englisch: maybe this is a place for NamSA. Standarddeutsch: Vielleicht ist das ein (Veranstaltungs-)Ort für NamSA. 4 Weitere Bedeutungen von Platz sind Sitzfläche, Verstau- oder Aufenthaltsraum (im Sinne von Platz haben, Platz einnehmen) oder abstrakter im Sinne von Stellung und Position (Dudenredaktion 2010: 716f.), so z. B. der Platz in der Hierarchie. Für die Analyse von Bedeutung ist Platz im Sinne einer größeren, geografischen Einheit. 5 Der Begriff Ort kann auch auf eine kleinere Siedlung oder eine kleinere Stadt hinweisen (vgl. Dudenredaktion 2010: 699). Für die Analyse ist der geografische Ort im Sinne von Stelle von Bedeutung. 472 Henning Radke Die semantische Erweiterung des Wortes Platz ist im namibischen Deutsch nicht neu, was Nöckler anhand eines Beleges der Deutsch-Südwestafrikanischen Zeitung vom 06. November 1901 zeigt, in dem es heißt: „Wenn man ‘nen Platz hier kaufen will“, wobei Platz weniger in der Bedeutung von „Ort“ verwendet wird, als vielmehr eine Farm meint, die sich vom afrikaansen Ausdruck plaas ableitet (Nöckler 1963: 55). Nöckler führt diese semantische Erweiterung auf Sprachkontakt mit dem Afrikaans zurück, indem er schreibt: „Platz, Subst., (m) ‚Plaats ist die südafrikanische Bezeichnung für eine menschliche Niederlassung […]‘“ (Nöckler 1963: 55). 6 Somit zeigt sich, dass das Wort Platz schon in den ersten zwei Jahrzehnten nach der offiziellen Kolonisierung des heutigen Namibias durch das Deutsche Reich einem semantischen Transfer durch den dynamischen Sprachkontakt zwischen Deutsch, Englisch und Afrikaans unterlag. Die durch die vernetzte Mehrsprachigkeit bedingten Entlehnungen in Auszug 2 finden dabei auf rein lexikalischem Niveau statt, wie der erste Satz des Abschnittes zeigt, in dem die Topikalisierung des englischen Adverbs maybe eine Inversion von Subjekt und finitem Verb zugunsten der Verbzweitstellung (V2) im deutschsprachigen Satzteil auslöst. V2 im deklarativen Hauptsatz ist ein typisches Merkmal der deutschen Syntax. Bei einem syntaktischen Einfluss von maybe auf das Verbalsystem der Phrase wäre V2 aufgelöst worden, da im Englischen bei Topikalisierung einer Satzkonstituente keine Inversion zwischen Subjekt und finitem Verb stattfindet, sodass das finite Verb an dritter Stelle steht. (2) Deutsch: Vielleicht ist das ein Platz für NamSA. Original: maybe ist das ein Platz für NamSA. Englisch: Maybe that is a place for NamSA. Im Vergleich zeigt sich, dass die Entlehnung von maybe im Originalsatz keinen Einfluss auf die Verbalsyntax der deutschen Matrixsprache hat und somit auf rein lexikalischem Niveau stattfindet. Ähnliche Äußerungen finden sich auch in anderssprachigen Kontexten, in denen V2-Sprachen mit Nicht-V2-Sprachen in Kontakt stehen, wie ein Beispiel aus einem surinamischen CVK-Beitrag zeigt. Dabei verhalten sich die involvierten Sprachen Niederländisch (V2-Sprache) und Sranantongo (keine V2-Sprache) syntaktisch analog zu Deutsch und Englisch. Dient die englisch-basierte Kreolsprache Sranantongo nun als Matrixsprache, in der eine niederländische Entlehnung topikalisiert wird, so hat diese Topikalisierung keinen Einfluss auf die Verbalsyntax des Sranantongo. Da diese anders 6 Das afrikaanse Lehnwort Plaas im Sinne von Farm ist ebenso gebräuchlich. Pütz umschreibt die Fläche einer Plaas mit den Worten: „ein 40 bis 400 qkm grosser Spielplatz für Städter“ (Pütz 2001: 53), wohingegen Sell bemerkt, dass „alles unta 2 ein halb tausend Hekta […] bikkie zu klein für ne Plaas [ist], da sagt man eher ‚Plott‘ zu“ (Sell 2011: 144). Die Rolle computervermittelter Kommunikation 473 als Niederländisch keine V2-Sprache ist, findet keine Inversion von Subjekt und Verb statt: (3) Original: volgende dag mi mek wang lijst […]. 7 Niederländisch: de volgende dag maak ik een lijst […]. Deutsch: Am nächsten Tag mache ich eine Liste. (3) zeigt, dass das niederländische Beispiel bei Topikalisierung einer Satzkonstituente wie ihr deutsches Pendant die Inversion von Subjekt und finitem Verb und somit den Erhalt der Verbzweitstellung zur Folge hat. Im Originalsatz besteht keine Inversion, sodass das Verb an dritter Stellte steht. Daraus folgt, dass die anderssprachige Topikalisierung sowohl in (3) als auch in (2) auf rein lexikalischem Niveau, nicht aber auf syntaktischem Niveau stattfindet. Neben isolierten, lexikalischen Entlehnungen sind auch Lehnübersetzungen Teil der vernetzten Mehrsprachigkeit innerhalb der Community, wie (4) anhand des Sprachvergleichs zwischen Deutsch und Afrikaans zeigt: (4) Original: darf auch nicht zu nah bei von der Lokasi sein. Afrikaans: moenie te naby aan die lokasie wees nie. Deutsch: darf auch nicht zu nah an dem Ort (dran) sein. Die Lehnübersetzung nah bei wird durch die phonetische und etymologische Nähe der involvierten Sprachen Afrikaans und Deutsch begünstigt: So lassen sich aus deutscher Sicht die Konstituenten na und by in der afrikaansen Konstruktion naby segmentieren und etymologisch auf die deutschen Pendants nah und bei zurückführen. Obwohl sich die afrikaanse Gesamtkonstruktion nicht wörtlich ins Standarddeutsche übertragen lässt, ist sie ob der phonetischen, strukturellen und semantischen Ähnlichkeit der einzelnen Segmente mit ihren deutschen Pendants transparent und nachvollziehbar und somit als kontaktsprachliche Alternative zu standardsprachlichen Ausdrücken wie in der Nähe von oder nahe gegeben. Es finden sich daher weitere Beispiele dieser Lehnübersetzung im Korpus. So schreibt eine Userin des Forums Namibianer in Deutschland im Februar 2012, dass sie „nah-bei Köln“ wohne (Afrikaans: naby Keule). Von den acht Beiträgen in Auszug 2 enthalten zwei Kommentare keine kontaktsprachlichen Eigenschaften aus dem namibischen Kontext. Sie stehen exemplarisch für ganzheitlich monolinguale Beiträge, die selbst innerhalb von Dialogen mit hoher, sprachlicher Fluidizität vorkommen. Diese Beobachtung stimmt mit Androutsopoulos’ Analyse zur griechischen Diaspora überein, deren multilinguale CVK-Sprachpraxis durch viele „monolingual moments“ gekennzeichnet ist (2015: 201) und somit Parallelen zum Konzept des Metrolingualismus 7 https: / / www.culturu.com/ forum/ roddels-konkru-sma-tori/ 127/ tori-oso/ 11591/ (27.06.2018). 474 Henning Radke aufweist, das laut Otsuji und Pennycook (2010) das Zusammenspiel von „fluidity and fixity“ in den Mittelpunkt rückt (vgl. Androutsopoulos 2015: 201). Androutsopoulos überträgt dieses Zusammenspiel auf den CVK-Kontext der griechischen Diaspora, mit dem sich ebenfalls die deutsch-namibische digitale Sprachpraxis beschreiben lässt: Participants maintain asymmetrical preferences and at the same time smoothly shift from language to language in their moment-to-moment orientations to networked publics and network resources (Androutsopoulos 2015: 201). Einer der beiden einsprachigen Beiträge stammt von User 9 („poste jetzt mal so alles, was ich finde“); der andere von User 5 („Sieht nicht schlecht aus, aber ist vom ort her für viele weit zu fahren“). In einem weiteren Kommentar verwendet User 5 das aus dem Afrikaans entlehnte Wort mooi (von nld. mooi = schön) und stellt somit einen sprachlichen Bezug zu Namibia her, den es in seinem ersten Beitrag nicht gibt. Er wechselt zwischen neutral gehaltener Chatsprache und namibia-typischem Sprachgebrauch und zeigt somit intrapersonelle sprachliche Fluidizität. User 1 greift diesen Namibia-Bezug in einem Exklamativsatz auf, indem er die verschiedenen Vorschläge zur Standortsuche mit „Mooi man! “ kommentiert, und übernimmt somit den sprachlichen Namibia-Bezug. Mit dieser Aussage endet der zweite Abschnitt des Dialogs, auf den 10 Tage später eine Ankündigung über die Wahl des Veranstaltungsortes folgt, die den dritten Abschnitt einleitet. Auszug 3: deutsch-namibische Sprachmuster im Diskurs User 10 So, Plek ist gefunden mit allem drum und dran … Infos folgen demnächst … NamSa findet statt! User 5 Yes ja! User 6 Oh Baas, da kommt Sonne in mein Herz… User 11 [fügt einen Link ein; Anmerkung Autor] User 12 […] bist du wieder am start mit eventmaster oder wie? ? User 13 well done boys! ! shot fuer den effort… User 12 auja und wie is da smit der gruppe…ich lebe mos nicht in duitsland : ) User 10 hey Bayern-Bosluis, ein paar Oukies aus München haben die Gees und organizen es dieses Jahr … Für Euch nicht Gerries: [fügt einen Link zur Organisationsgruppe ein; Anmerkung Autor] User 14 beste. thanx man Die namibia-typischen Entlehnungen können in diesem Abschnitt diskursstrategischen Funktionen vernetzter Mehrsprachigkeit zugeordnet werden (vgl. Gumperz 1982). Lob wird demnach auf Englisch ausgedrückt („Yes ja! “/ „well done, boys! Shot für den Effort“); für pejorativen Sprachgebrauch bedient sich User 10 hingegen des Afrikaans, indem er das mehrsprachige Kompositum Bayern- Die Rolle computervermittelter Kommunikation 475 Bosluis als Anrede wählt, wobei das afrikaans-basierte Rechtsglied Bosluis (wörtlich Waldlaus) zu Deutsch Zecke bedeutet. Dieser kommunikative Akt der Begrüßung wird von Powers und Glenn (1979) als devious communication demand oder friendly insult greeting bezeichnet, der sich direkt am afrikaansen Sprachgebrauch anlehnt, in dem eine Person umgangssprachlich mit bosluis bezeichnet werden kann, ohne sie dabei direkt zu beleidigen. Folgt User 10 mit seinem Kommentar dem Kooperationsprinzip, wonach er seinen Beitrag so gestaltet, „daß er den Zweck der Konversation fördert“ (Meggle 1993: 506), dann ist sein Ziel demnach nicht die Beleidigung der Gruppe durch eine pejorative Anrede, sondern die Bekanntgabe einer neu eingerichteten Facebook-Gruppe als Organisationsplattform, wobei ein friendly insult greeting dieser Botschaft zusätzliche Aufmerksamkeit verleiht. Eine ernst gemeinte, pejorative Äußerung würde den Zweck der Botschaft jedoch konterkarieren und erscheint somit unwahrscheinlich. Dieser Sprachgebrauch spiegelt den sprachspielerischen Aspekt vernetzter Mehrsprachigkeit wider, den Androutsopoulos wie folgt beschreibt: [L]anguage resources can be appropriated, combined, juxtaposed and displayed to a networked audience ‚for fun‘ and ‚for show‘, that is, in playful and poetic ways, which both replicate and transcend ordinary conversational practices (Androutsopoulos 2015: 191). In diese Kategorie des Sprachspiels fallen auch die afrikaanse Entlehnung Duitsland (von nld. Duitsland) und das englisch-basierte Lehnwort Gerries (von engl. Germans), mit denen zugleich eine identitätsstiftende Abgrenzung zu Deutschland und den Deutschen kreiert wird. Somit finden in der CVK auch immer wieder sprachlich-kulturelle Aushandlungsprozesse statt, die die Funktion der Onlinemedien als Organisationsplattform ergänzen. 6 Zusammenfassung und Ausblick Der vorliegende Beitrag analysiert die digitalen Schreibmuster der deutschnamibischen Diaspora und ihrer Community. Er belegt den quantitativen Bedeutungsgewinn computervermittelter Kommunikation für diese Gruppe, die CVK seit der Jahrtausendwende zunehmend als Organisations- und Kommunikationsplattform zur Ausbildung und Förderung ihrer Gruppenkohäsion nutzt. Durch die Quasi-Dreisprachigkeit in Deutsch, Afrikaans und Englisch sowie den doppelten Minderheitsstatus im Heimat- und Zielland vereint die Gemeinschaft eine einzigartige Kombination von Sprache und Identität im Zusammenspiel mit den neuen Medien auf sich. Diese Dynamik bietet Ansatzpunkte für medien-, variations- und soziolinguistische Forschung. Die digitale Schreibpraxis von deutsch-namibischer CVK erfüllt dabei alle Voraussetzungen der vernetzten Mehrsprachigkeit (networked multilingualism), die Androutsopoulos mit einem Dreiklang an Bedingungen angibt: Vermittlung schriftbasierter Sprache durch 476 Henning Radke Tastatur-und-Bildschirm-Technologien, Zugang zu Netzwerkressourcen und Orientierung hin zu einem vernetzten Publikum (vgl. Androutsopoulos 2015: 188). Obwohl Standarddeutsch mit CVK-Merkmalen wie die Tendenz zur Kleinschreibung und zu fehlender Interpunktion die meistverwendete Varietät auf deutsch-namibischen Plattformen ist, entspannen sich regelmäßig multilinguale Dialoge, die mit dem Wechsel von einsprachiger Stabilität und mehrsprachiger Fluidizität Kernmerkmale des Metrolingualismus aufweisen (vgl. Androutsopoulos 2015: 201) und zugleich Parallelen zum Language crossing (Rampton 1995) ziehen, das den Sprachwechsel als Mittel zur Aushandlung von ethnischen und klassenbezogenen Beziehungen betont (vgl. Blommaert 2010; Androutsopoulos 2015: 186). Kontaktsprachliche Merkmale reichen von der Verwendung namibia-typischer Entlehnungen (mooi man! ), über Ad-hoc-Entlehnungen (Pleksuche), sprachspielerische Komposita (Bayern-Bosluis) und Lehnübersetzungen (nah bei von die Lokasi) bis hin zu intra- und intersententiellem Code-Switching und dem Verfassen kompletter Kommentare auf Deutsch, Englisch und Afrikaans mit abgegrenzter Diskursfunktion (z. B. Lob, Kritik) innerhalb desselben Dialoges. Ein erhöhtes, lexikalisches Ausdruckspotenzial spiegelt sich in der Verwendung synonymer Lehnwörter aus den involvierten Sprachen wider (z. B. Plek, Ort, Platz, Lokasi oder miskien, perhaps, vielleicht, maybe), wobei die letztgenannte Gruppe im konkreten Fall als tautologische Stilfigur dient. Dabei gehen Gesprächsteilnehmer offenbar von einer generellen rezeptiven Dreisprachigkeit als sprachliches Minimalcharakteristikum der Gruppenmitglieder aus. Die multilingualen Schreibmuster in vernetzter Kommunikation sind zudem Bestandteil der deutschnamibischen Identität und erinnern an die digitale Sprachpraxis der griechischen und türkischen Diaspora in Deutschland, die Androutsopoulos untersucht (vgl. 2015). Die Metadatenanalyse in Abschnitt 4 zeigt einen deutlichen Bedeutungsgewinn von CVK für die Community: Lagen die Mitgliederzahlen für die beiden ältesten, deutsch-namibischen Plattformen noch bei 362 Einträgen und 641 Mitgliedern (beide auf www.namibier.de), so haben die aktuellen Facebook-Gruppen Namibianer in Deutschland und NAMSA 2018 bereits 1.169 bzw. 1.183 Mitglieder (Stand: Juni 2018). Dieser Anstieg manifestiert sich in einer steigenden Aktivität, die sich von 2011 bis 2018 im Vergleich zum Vorgängerzeitraum 2002 bis 2011 um den Faktor 7,7 auf 9.468 Posts, Kommentare und Reaktionen erhöht hat, woran technische Innovation der sozialen Medien den größten Anteil hatte. Daraus lässt sich die Erwartung auf einen weiteren Bedeutungsgewinn von CVK für deutschsprachige Namibier in Deutschland und deren Community ableiten, sodass dieses Thema auch zukünftig von aktuellem Belang sein wird. Die Rolle computervermittelter Kommunikation 477 Literatur Androutsopoulos, Jannis (2006): Multilingualism, diaspora, and the Internet: Codes and identities on German-based diaspora websites. In: Journal of Sociolinguistics 10. 4. S. 520-547. Androutsopoulos, Jannis (2007): Neue Medien - Neue Schriftlichkeit? In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes, Januar. S. 72-97. Androutsopoulos, Jannis (2009): ‚Greeklish‘: Transliteration Practice and Discourse in the Context of Computer-Mediated Digraphia. In: Georgakopoulou, Alexandra/ Silk, Michael (Hrsg.): Standard Languages and Language Standards: Greek, Past and Present. Farnam, UK. S. 221-249. Androutsopoulos, Jannis (2015): Networked multilingualism: Some language practices on Facebook and their implications. 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Ebenso sollen auch Entwicklungen untersucht werden, vornehmlich im Bereich der deutschen Familiennamengebung auf kroatischem Gebiet, weil unterschiedliche politische Systeme auf sie einwirkten, woran sich das Schicksal der deutschsprachigen Siedler, die sich in mehreren großen Migrationswellen in Kroatien ansiedelten, nachvollziehen lässt. Ziel des Beitrages ist es, aufgrund der Untersuchung zu zeigen, dass das Deutsche die kroatische Lexik nicht nur in Form von zahlreichen evidenten und latenten Entlehnungen beeinflusst hat, sondern auch dauerhafte Spuren in der kroatischen Namenlandschaft hinterlassen hat. 1 Einführung Die geopolitische Lage Kroatiens macht es zu einer Region zwischen zwei breiten Zivilisationsräumen: dem Mittelmeer und Mitteleuropa. So kam es in der Vergangenheit zu verschiedenen Kontakten und reziproken Einflüssen, die auch heute noch von der traditionsreichen Kultur und bewegten Geschichte dieses Raumes zeugen (vgl. Stojić/ Pavić Pintarić 2017: 13). Die Spuren davon zeigen sich in allen Lebensbereichen, vor allem aber in der Sprache. Das bezeugen auch die Familiennamen in Kroatien, die beispielsweise folgende Formen aufweisen: Šnajder, Žnjidar; Szabo, Sabo; Terzija, Terzić; Sartori; Krajči usw. (vgl. Šimunović 2008: 68). Alle diese Namen gehen auf die Berufsbezeichnung Schneider in den jeweiligen Gebersprachen, also Deutsch, Ungarisch, Türkisch, Italienisch und Tschechisch, zurück. Die kroatische Übersetzung krojač ist die standardsprachliche appellativische Variante dieser Berufsbezeichnung, allerdings als Familienname äußerst selten im Gegensatz zu seinen exogenen Varianten. Ähnlich verhält es sich mit den Formen der Familiennamen Šustar, Varga und Kalegari, die in Kroatien sehr verbreitet sind (vgl. Šimunović 2008: 68), während das kroatische Standardäquivalent postolar überhaupt nicht als Familienname verwendet wird. Die ungarische Variante Varga wie auch die deutsche Variante Šuštar bzw. Šoštar, Šoštarić zählen jedoch zu den häufigen 480 Aneta Stojić Familiennamen in Kroatien (vgl. Šimunović 2008: 269f.). Da die ersten Familiennamen in Kroatien schon im 12. Jahrhundert nachgewiesen wurden 1 und Familiennamen in ihrer Form relativ stabil, unveränderlich und erblich sind (vgl. Šimunović 1997: 149), ist davon auszugehen, dass die oben angeführten exogenen Berufsbezeichnungen zum Zeitpunkt der Namensgebung als Formativ gängiger als das einheimische Äquivalent waren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch native Appellativa als Formativ für Familiennamen fungierten. Beim älteren Beruf Schmied überwiegt im Kroatischen beispielsweise die einheimische Form als Formativ (= kovač), so dass heute der Familienname Kovač (-ić, -ević, -ec) nach seiner Häufigkeit an zweiter Stelle der kroatischen Familiennamen steht (vgl. Šimunović 2008: 251). Familiennamen entstehen darüber hinaus im Familienkreis und bieten deshalb sehr wichtige mundartliche Daten. Im Unterschied zu den Toponymen, die an einen bestimmten Ort gebunden sind, sind Familiennamen auch Zeugnisse für Migrationen. In den kroatischen mundartlichen Landschaften helfen uns die Familiennamen, zeitliche und räumliche, altansässige und neuansässige sprachliche und ethnische Elemente festzustellen (vgl. Šimunović 1997: 149). Deshalb kann auch davon ausgegangen werden, dass die alloglotten Formen von Familiennamen in Kroatien auf die Familiennamen der Siedler, die sich in Kroatien ansiedelten, zurückzuführen sind. Bezogen auf die deutschen Familiennamen in Kroatien betrifft das insbesondere diejenigen Formen, die nicht auf deutsche Entlehnungen im Kroatischen zurückführbar sind und eine Familiennamenbildung aufweisen, die eher im Herkunftsland üblich ist. Familiennamen diesen Typs wie Eisenreich, Niedermann, Unterberger u. Ä. sind vor allem in Nordkroatien anzutreffen und gelten, laut Šimunović (2008: 102), als „k. u. k. Familiennamen“, weil sie nicht nur in Kroatien, sondern auch in anderen Ländern der Habsburgermonarchie vorkommen. Auch ihre Verbreitung in Kroatien lässt darauf schließen, dass es sich um Familiennamen deutschsprachiger Siedler in Nordkroatien handelt. Da sie, wie die statistischen Angaben in Dobrovšak (2015: 208ff.) 2 belegen, in einigen Ortschaften die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten, kam es durch die An- 1 Die Entwicklung der kroatischen Familiennamen erfolgte in drei Perioden: Die ältesten Familiennamen entstanden im 12. und 13. Jahrhundert unter den Adligen in den dalmatinischen Städten, die als Kleinstaaten organisiert waren. Der zweite wichtige Moment war das Konzil von Trient im 16. Jahrhundert (1545-1563), mit dem der Familienname verpflichtend in den Pfarrämtern registriert wurde, um schließlich durch das sogenannte josephinische Patent aus dem Jahre 1780 allgemein auf staatlicher Ebene eingeführt und für alle obligatorisch und gesetzlich vorgeschrieben zu werden. 2 Laut Dobrovšak (2015: 218) bildeten die deutschsprachigen Siedler die Mehrheit der Bevölkerung in den Gebieten in Syrmien sowie in den Städten Virovitica, Požega, Zemun und Osijek. Diese Angaben beruhen auf den amtlichen Verzeichnissen aus den Jahren 1880, 1890, 1900 und 1910, die die Gebiete des damaligen Zivilkroatiens Slawoniens und der Militärgrenze umfassen. Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 481 siedlung deutschsprachiger Siedler auch zu Veränderungen in der Ortsnamenbezeichnung. Der vorliegende Beitrag möchte diese Prozesse näher beleuchten und die Auswirkungen der deutsch-kroatischen Sprachkontakte auf das onomastische Inventar im Kroatischen untersuchen. Um dieses empirisch zu erfassen, wurden zwei Enzyklopädien mit Familiennamen in Kroatien (Maletić/ Šimunović: Hrvatski prezimenik, 2008; Grgić: Enciklopedija hrvatskih prezimena, 2018), historische und gegenwärtige geografische Karten sowie einschlägige Literatur zum Thema gesichtet. Ziel der Untersuchung ist es, Formen und Funktionen des onomastischen Inventars, das auf deutsche Übernahmen zurückgeht, festzulegen, um daraufhin Rückschlüsse auf den Einfluss der deutschen Sprache auf das kroatische onomastische Inventar ziehen zu können. 2 Eigennamen deutscher Herkunft im Kroatischen Bei der Untersuchung der Eigennamen deutscher Herkunft im Kroatischen sind unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen: zunächst die soziolinguistischen Voraussetzungen bzw. die (österreichisch-)deutsch-kroatischen Sprachkontakte. Daraufhin die diachronen und dialektalen Gegebenheiten in Geber- und Nehmersprache. Da die Kontakte nämlich über einen sehr langen Zeitraum bestanden, gelten als Formativ für die Übernahme diejenigen Formen und Inhalte, die zum Zeitpunkt des Sprachkontaktes in beiden Sprachen üblich waren. Außerdem ist zu beachten, dass die räumliche Schichtung der Übernahmen nicht überall gleich ist, was bedeutet, dass sich die Formen der Gebersprache an die arealen sprachlichen Gegebenheiten angepasst haben. Der dritte wichtige Aspekt bezieht sich auf dianormative Gegebenheiten in Nehmersprache bzw. auf die funktionale Schichtung der Übernahmen im heutigen Kroatisch, da sie nämlich nicht alle den gleichen Status haben (vgl. Stojić 2006: 47). Eine solche Vorgehensweise führt zu einer typologischen Darstellung der Eigennamen deutscher Herkunft im Kroatischen, die in den nachfolgenden Unterkapiteln unter Bezugnahme auf die sprachlichen Prozesse näher dargestellt werden. 2.1 Onymisierung allslawischer Germanismen Der erste Typ betrifft die ältesten Übernahmen, die noch auf die germanischslawischen Kontakte zurückgehen und sich in den gemeinslawischen Germanismen 3 manifestieren, die im Gegenwartskroatisch den Status von eingebür- 3 Es ist bekannt, dass die slawischen Völker noch vor der Völkerwanderung in ihr Idiom einige hundert germanische Entlehnungen übernommen haben (vgl. Stojić/ Turk 2017: 22). Das sind deutsche Lehnwörter, d. h. germanische Wörter, die in alle slawischen Sprachen entlehnt wurden. Gemeinslawische Germanismen sind in der Slawistik eines 482 Aneta Stojić gerten deutschen Lehnwörtern haben. Einige von ihnen wurden ebenso wie auch kroatische oder andere alloglotte Appellativa zu Eigennamen. Der Ortsname Čabar geht auf das Appellativum čabar ‚Wanne‘ zurück, das eigentlich einen gemeinslawischen Germanismus darstellt: kro. čabar < ahd. zubar/ zuibar, nhd. Zuber 4 (vgl. Skok 1971/ I: 285; Žepić 1996: 212). Das Lexem gredelj ‚Kiel‘ < ahd. grintil, nhd. Grendel (vgl. Skok 1971/ I: 614) bildete die Basis für mehrere Arten von Onymen. So finden wir es in unterschiedlichen Regionen Kroatiens als Familiennamen: Grédelj - Zagorien, Gredéljević, Grèdičāk - Donja Stubica, Hydronym: Gréda, Gréde, Grèdnica und Ortsnamen: Gréda - Sisak, Vrbovec, Gréda Brèškā - Ivanić Grad, Gréda Sùnjskā - Sisak, Gredénec - Krapina, Grédice - Klanjec. 5 Das Beispiel javor ‚Ahorn‘ (kro. javor < germ. *ahurna, ahd. Ahorn) zeigt darüber hinaus noch eine weitere Tatsache hinsichtlich der gemeinslawischen Germanismen in der Funktion von Eigennamen auf, nämlich ihre hohe Produktivität und auch ihre weite Verbreitung. So finden wir es als Vornamen (Javor, Javorka), als Basis für Familiennamen (J ȁ vor - Zadar, Lika, J ȁ vora - Požega, J ȁ vorac - Rijeka, J ȁ voran - Insel Rab, J ȁ vorček - Našice, J ȁ vorčić - Split, J ȁ vorek - Slavonski Brod, J ȁ vorić - Pregrada, Zagreb, J ȁ vorina - Gospić, J ȁ vōrnīk - Pregrada, Banovina, Javórović - Lika, Javòrskī - Kutina, Rijeka, J ȁ voršćāk - Ozalj, J ȁ voršek, J ȁ vurek - Garešnica, Bjelovar) und auch als Ortsnamen (J ȁ vor - Jastrebarsko, J ȁ vorek - Zagreb, J ȁ vōrje - Crikvenica, J ȁ vōrnīk - Dvor, J ȁ vorovac - Koprivnica) im gesamten kroatischen Raum, also auch an der Küste, wo die romanischen Einflüsse intensiver als die deutschen waren (vgl. Stojić/ Pavić Pintarić 2017: 35). 6 Wie die Beispiele belegen, weisen die einzelnen Formen der Onyme dialektale Charakteristika auf, insbesondere in morphematischer und phonologischer Hinsicht. Demnach ist die Verteilung der Eigennamen auf den der meistuntersuchten Themen und wurden zuerst von Hermann Hirt 1898 im Werk Zu den germanischen Lehnwörtern im Slawischen und Baltischen sowie von Adolf Stender-Petersen 1927 im Werk Slavisch-germanische Lehnwortkunde und Valentin Kiparsky in der Dissertation Die gemeinslawischen Lehnwörter aus dem Germanischen 1934 untersucht. 4 Die Etymologie der in diesem Beitrag angeführten deutschen Modelle wurde jeweils in den zwei folgenden Quellen überprüft: Kluge (2011) und Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Version, https: / / www.dwds. de/ wb/ dwb/ (02.12.2018). Die Überprüfung der Etymologie der jeweiligen kroatischen Replik erfolgte im Etymologischen Wörterbuch der kroatischen Sprache von Skok (1971). 5 Die Belege der in diesem Beitrag angeführten Anthroponyme und Toponyme in Kroatien entstammen der folgenden Quelle: Hrvatski jezični portal, http: / / hjp.znanje.hr (16.04.2018). 6 Die romanischen Einflüsse prägten in unterschiedlichen Phasen und in unterschiedlichen Erscheinungsformen die gesamte östliche Adriaküste: vom Dalmatischen über das Venezianische in Istrien und Dalmatien und das Toskanische als Kultursprache in Dubrovnik bis zum Italienischen entlang der Küste in der Neuzeit (Stojić/ Pavić Pintarić 2017: 35). Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 483 kroatischen Raum durch die Wortstämme, Endungen und Strukturtypen erkennbar (vgl. Šimunović 1997: 152). Die Eigennamen deutschen Ursprungs sind sprachlich vollständig an die Nehmersprache, also das Kroatische, angepasst, sodass aus heutiger Perspektive die deutsche Herkunft überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. 2.2 Onymisierung eingebürgerter deutscher Lehnwörter Zum zweiten Typ gehören ebenfalls eingebürgerte deutsche Entlehnungen, allerdings aus dem Althochdeutschen. Im 8. und 9. Jahrhundert kam es nämlich zur Christianisierung der Kroaten durch fränkische Missionare. Dies führte zur Übernahme von Lexik aus dem Bereich des Christentums, wie die Ausdrücke kloštar ‚Kloster‘ < ahd. klōstar < lat. claudere, nhd. Kloster und pop ‚Priester‘ altslaw. popъ < ahd. phaffo < griech. papas, nhd. Pfaffe belegen (vgl. Žepić 1996: 213). 7 Ebenfalls kam es zur Übernahme von Gebrauchsgegenständen und ihren deutschen Bezeichnungen (vgl. Talanga 1990: 130), z. B. kotar ‚Bezirk‘ < ahd. kataro < nhd. Gatter (dij. Kotter), mlin ‚Mühle‘ < ahd. muli(n) < lat. molina, nhd. Mühle, pehar ‚Kelch‘ < ahd. behhari < mlat. bicarium < griech. bikos, nhd. Becher, žaga ‚Säge‘ < ahd. saga, nhd. Säge. Diese Lexeme sind auch heute noch als Appellativa im Kroatischen in Gebrauch und wurden als Basis für Eigennamen genommen. Das Lexem kotar finden wir heute im Namen für die Gebirgsregion Gorski kotar, pehar als Formativ für den Familiennamen Pehar, žaga im Familiennamen Žagar, mlin in Mlinar usw. Besonders produktiv zeigt sich das Formativ pop, das in ganz Kroatien in unterschiedlichen dialektalen Varianten als Familienname und Ortsname vorkommt: - Familiennamen: P ȁ p (Vukovar), Pàpec (Varaždin, Zagreb), Pàpeš (Zagreb, Krapina, Zagreb), Pàpež (Koprivnica, Ivanić Grad, Ogulin, Pokuplje), Páponja (Požega, Ðakovo, Slawonien, Dalmatien), Papòušek (Pakrac, Požega), Papp (Osijek, Varaždin, Slawonien), P ȍ p (Bjelovar, Slawonien), Pòpāč (Sesvete), Pòpadić (Vukovar, Slawonien, Imotski), Pòpek (Zagreb, Donja Stubica, Slawonien), Pópić (Slavonski Brod, Metković, Slawonien), Popìnjač (Kutina, Zagreb), Pòpov (Šibenik, Dalmatien, Kroatisches Küstenland, Istrien), Pòpovac (Dalmatien), Pòpovačkī (Duga Resa), Pòpōvčić (Turopolje, Banovina), Pòpović (Knin, Lika, Kordun, Slawonien, Dalmatien), Popòvskī (Zagreb, Istrien, Kroatisches Küstenland). 7 Während der fränkischen Herrschaft verwendeten die Kroaten auch im Gottesdienst die lateinische Sprache. In dieser Zeit gelangte deshalb nur eine geringe Zahl deutscher Lehnwörter ins Kroatische. Eigentlich handelt es sich um lateinische oder griechische Entlehnungen, die das Deutsche ins Kroatische vermittelte. Die fränkische Obrigkeit an der kroatischen Küste hinterließ demnach keine größeren Spuren in der kroatischen Sprache (vgl. Stojić/ Turk 2017: 39). 484 Aneta Stojić - Ortsnamen: Pòpova Lúka (Dubrovnik), Pòpovac (Slatina), Pòpovac Sùbockī (Novska), Pòpovača Pazàriškā (Gospić), Pòpovci (Pakrac), Pòpovec K ȃ lničkī (Križevci), Pòpović B ȑ do (Karlovac), Pòpovići (Dubrovnik, Benkovac), Pòpovo Sèlo (Ogulin). Nach dem Sprachkontakt mit den Franken kommt es zu weiteren deutsch-kroatischen Sprachkontakten, und zwar im Zuge der Kroatisch-Ungarischen Union oder auch Personalunion genannt. Auf Beschluss des ungarischen Königs Stephan I. kamen die ersten deutschen Siedler im frühen Mittelalter als hospites bzw. Königsgäste nach Kroatien, was den Beginn der kontinuierlichen Verbindung Kroatiens zum deutschsprachigen Raum darstellte. Die Kolonisten besiedelten vorrangig die nordwestlichen Teile Kroatiens und nahmen an der Gründung der ersten städtischen Siedlungen im Gebiet zwischen den Flüssen Save, Drau und Donau teil (vgl. Raukar 1997: 141). Ihre wahre Herkunft ist nicht immer einfach zu bestimmen. Zu ihrem Vornamen tragen die Kolonisten in der Regel das Attribut Teutonicus, Alemannus oder den Namen der Stadt, aus der sie stammen (vgl. Geiger 2005: 277). Die älteste deutsche Siedlung in Kroatien befindet sich in Varaždin. Die deutschen Siedler hatten auch ihre eigenen Institutionen: eine Zeche, eine eigene bewaffnete Stadtverteidigung, eigene Schulen und einen eigenen Richter, den die deutschen Siedler rihtar nannten (vgl. Gabričević 2002: 28). Im Privilegium von Vukovar aus dem Jahre 1231 sind folgende Zuwanderer angeführt: Deutsche, Sachsen, Ungarn und Slawen. Mit der Entwicklung dieser beiden Städte ging auch die Entwicklung der Städte Virovitica, Petrinja, Samobor, Zagreb, Križevci, Koprivnica u. a. unter Zuwanderung vieler Deutsche einher. Dazu trug vor allem die Goldene Bulle von König Bela IV. bei, der nach den Verwüstungen der Tataren im Jahre 1242 mit zahlreichen Privilegien Handwerker vor allem aus deutschen Ländern zur Zuwanderung bewegte. Aus diesen Siedlungen wurden schnell freie Königsstädte, so Gradec bei Zagreb (1242), Samobor (1242), Križevci (1252), Petrinja (1257), Jastrebarsko (1257) und andere (vgl. Antoljak 1994: 61). Mit diesen Privilegien stieg das Vasallentum auf. Kolonisten, Handwerker und Händler haben als Träger der deutschen Sprache und Kultur nicht nur an der Gründung von Städten in den nordwestlichen Gebieten Kroatiens teilgenommen, sondern durch ihre Präsenz auch die wirtschaftlichen und sprachlichen Kontakte mit dem deutschsprachigen Raum gefestigt. Eine große Zahl deutscher Entlehnungen kam auf direktem Wege in die kroatische Sprache (vgl. Talanga 1990: 132). Nachfolgend sind nur einige Beispiele von Lexemen angeführt, die in Eigennamen zu finden sind: grof ‚Graf‘ < ung. gróf < mhd. grāve, nhd. Graf, mužar ‚Mörser‘ < ung. mozsár < ahd. morsari < nhd. Mörser, rit ‚Ried‘ < ung. rit, ret < ahd. (h)riot < nhd. Ried, pintar ‚Fassbinder‘ < mhd. pinter, nhd. Fassbinder, plac ‚Platz‘ < frühnhd. plaz < frz. place, nhd. Platz, purger ‚Einwohner der Stadt Zagreb‘ < mhd. burgaere, nhd. Bürger (dial. Purger), rihtar ‚Richter‘ < mhd. rihtaere, nhd. Richter, šostar ‚Schuster‘ < mhd. schuo(ch)ster, nhd. Schuster, tišljar ‚Tischler‘ < mhd. tischler, nhd. Tischler, žlahta ‚Geschlecht‘ < mhd. slahte (dial. Schlachter), Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 485 nhd. Geschlecht. An den Formen lässt sich erkennen, dass es sich um Übernahmen aus dem Mittel- und Frühneuhochdeutschen handelt. Auch diese Entlehnungen haben im Kroatischen den Status von eingebürgerten, also sprachlich vollkommen assimilierten Lehnwörtern. Der Ausdruck šoštar diente noch im 13. Jahrhundert als Toponym für die neue deutsche Siedlung am Fuß der Stadtmauern von Gradec, die die Siedler Schusterdorf (später: Šoštarska) nannten. Es findet sich auch in Familiennamen, und zwar in unterschiedlichen Formen, so Šoštar, Šoštarić, Šustar usw. Überhaupt erweist sich sehr oft die Berufsbezeichnung als Benennungsmotiv von Eigennamen wie die folgenden Beispiele bezeugen: pintar (Pìntāč - Novi Marof, Zwischenmuhrgebiet, P ȉ ntār - Podravina, Zwischenmuhrgebiet, Zagorien, Umgebung von Zagreb, Pintárec - Koprivnica, Ðurđevac, Pìntarek - Ðurđevac, Pìntarič - Zwischenmuhrgebiet, Pìntarić - Zwischenmuhrgebiet, Zagorien, Podravina, Pìntek - Zagorien, P ȉ nter - Slawonien, Pìnterić - Slawonien, Pintérović - Slawonien, P ȋ ntić - Križevci), rihtar (R ȉ htār - Zagreb, Krapina, Zagorien, Prigorien, Rihtárec - Zwischenmuhrgebiet, Rìhtarić - Zlatar Bistrica, Podravina, R ȉ hter - Zagreb und Umgebung, Slawonien) und tišljar (T ȉ šlār - Zagreb, Zaprešić, Zagorien, Bjelovar, Tìšlarić - Zwischenmuhrgebiet, Zagreb, T ȉ šler - Zagreb, Zwischenmuhrgebiet, Koprivnica, Tìšlerić - Varaždin, Rijeka, Zwischenmuhrgebiet, T ȉ šljār - Zagreb, Zagorien, Ðurđevac, Zaprešić, Tišljárec - Ðurđevac, Vrbovec, Bjelovar, Pula, Tìšljarić - Zwischenmuhrgebiet, Zagreb, Podravina, T ȉ šljer - Zagreb, Slawonien, Kutina). Rit findet sich in der Bezeichnung für den Naturpark in Slawonien Kopački rit wieder. Plac steht stellvertretend für das Toponym Dolac, den größten Marktplatz im Zentrum von Zagreb. Der Germanismus purger (< Bürger) bezeichnet in der kroatischen Umgangssprache die Einwohner der Stadt Zagreb. Interessant ist auch das Wort žlahta, das heute in dieser Form nicht mehr verwendet wird. Im Zuge der postintegrativen Anpassung bezeichnet es heute nur noch die Weinsorte žlahtina, aus dem sich auch der Markenname Žlahtina entwickelt hat. Die oben genannten Familiennamen, die einen Beruf bezeichnen, werden als Appellativa in der kroatischen Sprache nur noch im Substandard und regional verwendet. Durch diesen Onymisierungsprozess konnten sich diese deutschen Entlehnungen als petrifizierte Form erhalten. 2.3 Namengut autochthoner Prägung Im Zuge weiterer Migrationsprozesse sowie politischer Gegebenheiten, insbesondere aber durch die Wahl des Habsburgers Ferdinand I. zum kroatischen König im Jahre 1527 und durch die Errichtung der sog. Militärgrenze im 17. Jahrhundert, die die Habsburger als Schutz gegen die vordringenden Türken gründeten und innerhalb derer Deutsch Amts-, Kommando- und Unterrichtssprache war, entwickelte sich in Kroatien ein funktionaler deutsch-kroatischer Bilingualismus. Dieser hielt bis zum Ende der Doppelmonarchie Österreich- 486 Aneta Stojić Ungarn an. In dieser Zeitspanne war der soziolinguistische Kontext für intensive sprachliche Beeinflussung im Zusammenleben kroatischer und deutscher Sprecher auf einem Gebiet gegeben. Die deutschen Zuwanderer nennen sich selbst Volksdeutsche, die Kroaten umgangssprachlich Švabe 8 nach dem Ethnonym Schwaben (vgl. Geiger 1991: 320). Sie siedelten sich in Nordkroatien an der Grenze zu Ungarn und Serbien an. Der Hauptstrom der Zuzügler kam aus Vorderösterreich (Schwaben), aber auch aus anderen Teilen des Deutschen Reiches (Rheinland, Luxemburg). Gerade die Schwaben bildeten in den Städten Slawoniens zusammen mit den k. u. k. Militärs entlang der Militärgrenze zum damaligen Osmanischen Reich seit dem 18. Jahrhundert eine bürgerliche Schicht, die auf moderne Strömungen in der kroatischen Gesellschaft großen emanzipatorischen Einfluss ausübte. Die erste große Welle der deutschsprachigen Kolonisten kam Ende des 17. Jahrhunderts, als die Habsburger 1687 die Türken aus den östlichen Teilen des heutigen Kroatien vertrieben. Die langjährigen Kriege gegen die Türken verwüsteten große Teile Kroatiens. Viele Kroaten kamen im Kampf gegen die Türken ums Leben, viele flüchteten in andere Teile Kroatiens (hauptsächlich an die Küste), und ein großer Teil wurde islamisiert. Die zweite große Ansiedlungswelle („zweiter Schwabenzug“) fand während der Herrschaft der Habsburger Erzherzogin Maria Theresia in der Zeit von 1748 bis 1771 statt. In der neuen Heimat wurden jährlich mehr als 1.000 und im Jahr 1770 mehr als 3.000 deutsche Familien ansässig. Den dritten Schwabenzug führte von 1784 bis 1787 Joseph II., der Sohn von Maria Theresia, weiter (vgl. Geiger 1991: 321). Die Siedler kamen meistens nach Slawonien, Syrmien und Baranja, wo im Jahr 1910 ca. 134.000 Deutsche auf engem Gebiet mit den Kroaten zusammenlebten (vgl. Geiger 1991: 322). Im Banat, in der Batschka und der Baranja, die bis zum Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie unter ungarischer Verwaltung standen, waren die Deutschen die größte Minderheit der südslawischen Deutschen. Auch an der Küste kam es zur Zuwanderung deutschsprachiger Siedler. Die Hafenstadt Pula in Istrien wurde auf Beschluss des Wiener Hofes im Jahre 1857 zum wichtigsten Kriegshafen der k. u. k. Monarchie erklärt, was die Ansiedlung österreichischer Offiziere und Meister im Arsenal sowie ihrer Familienangehörigen, Ende des 19. Jahrhunderts auch anderer Unternehmer, Beamter und Freiberufler zur Folge hatte (vgl. Levak 2015: 314). Ihre Zahl beläuft sich vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges auf ca. 10.000. Die Kolonisten in Kroatien waren nicht nur Handwerker und Händler, sondern auch Landarbeiter, die bald ihre 8 Ein Grund, weshalb die Kroaten die Deutschen auch heute noch als Švabe bezeichnen, liegt wahrscheinlich darin, dass sich ihre Sprache wesentlich von der der anderen deutschen Siedler unterschied. Außerdem haben sich die Donauschwaben vor allem in abgeschiedenen, homogenen Dörfern angesiedelt. Die anderen Zuwanderer kamen meistens einzeln und siedelten sich kontinuierlich in städtischen Zentren an und wurden von der einheimischen Bevölkerung schnell angenommen (vgl. Žepić 2002: 215). Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 487 eigenen Manufakturen und Fabriken gründeten und somit den Kern des wachsenden Bürgertums bildeten (vgl. Gabričević 2002: 74). Die deutschen Zuwanderer, die aus unterschiedlichen deutschsprachigen Teilen in größeren Gruppen kamen, hatten keine ausgeprägte nationale oder politische Identität oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieses wuchs erst nach ihrer Ansiedlung, insbesondere wegen der sprachlichen und kulturellen Distanz gegenüber den Einheimischen und Siedlern aus dem nicht-deutschsprachigen Raum. Dies führte zu einer engen Gemeinschaft der deutschsprachigen Siedler gleich zu Beginn, die untereinander deutsch sprachen und für eine lange Zeit die gleichen Bräuche und Lebensweisen praktizierten. Auf diese Weise widerstanden sie der Assimilation und bewahrten ihre Sprache und Kultur noch viele Jahre nach ihrer Zuwanderung (vgl. Geiger/ Kučera 1995: 88). 9 Ende des 19. Jahrhunderts kam es verbreitet zur Kroatisierung und allmählichen Assimilation der deutschsprachigen Zuwanderer, insbesondere in den Städten (vgl. Geiger 2005: 281). 2.3.1 Toponyme Die deutschsprachigen Siedler bildeten in den neu angesiedelten Gebieten in Slawonien häufig eine Mehrheit, was sich auch auf die Benennung der Toponyme auswirkte. Es lassen sich fünf Prozesse erkennen: 1. Kroatische Ortsnamen werden beibehalten: Darda (Darda). 2. Kroatische Ortsnamen werden ins Deutsche übersetzt (Ableitung oder wörtliche Übersetzung): Eichendorf (Hrastovac), Neudorf (Novo Selo). 3. Dem kroatischen Ortsnamen wird ein deutscher hinzugefügt: Kula- Josefsfeld (Kula), Sarwasch-Hirschfeld (Sarvaš) oder die Bezeichnung Deutsch wird vorangesetzt: Deutsch Bresnitz (Našička Breznica), Deutsch Oreschatz (Orešac). 4. Ein Element eines mehrteiligen kroatischen Ortsnamens wird übersetzt, der andere eingedeutscht: Oberjosefsdorf-Krawitz (Josipovac-Kravice). 5. Kroatische Ortsnamen werden sprachlich (phonologisch und orthografisch) an das Deutsche angepasst: Esseg (Osijek). Einen Sonderfall bilden das Toponym Nijemci im kroatischen Teil von Syrmien, was wörtlich als „Deutsche“ übersetzt wird, und der Ortsname Tajčarje in Gorski 9 Drei Faktoren begünstigten die Bewahrung der Identität der deutschsprachigen Zuwanderer: Der erste Faktor war die langfristige Verbreitung der deutschen Sprache in Schulen und öffentlichen Ämtern und die Dominanz der deutschen Literatur, wissenschaftlicher, technischer und populärer Gattungen; der zweite Faktor war die Kirche, die ihre Tätigkeiten in deutscher Sprache verrichtete und christliche Literatur auf Deutsch veröffentlichen ließ; der dritte Faktor war das Zeitungswesen in deutscher Sprache, das in mehreren kroatischen Städten sehr stark entwickelt war (vgl. Beus Richembergh 2010: 188). 488 Aneta Stojić kotar, was eine dialektale Anpassung des Attributes „deutsch“ darstellt. Außer diesen haben alle Ortsnamen, die nach den oben genannten Prozessen gebildet wurden, heute in der offiziellen Verwendung ihre ursprüngliche Form, die deutschen Formen existieren nur noch als Exonyme. Zu ihrer Verbreitung trugen insbesondere die systematischen Ausarbeitungen von Landkarten im Auftrag der Kaiser Franz I. und Franz Joseph I. bei, weil auf den österreichischen Landkarten die Toponyme i. d. R. zweisprachig aufgeführt wurden (vgl. Faričić 2017: 153): für das Küstengebiet neben Kroatisch auch Venetisch (Split/ Spalato, Zadar/ Zara, Rijeka/ Fiume), für das Binnenland neben Kroatisch auch Deutsch (Zagreb/ Agram, Osijek/ Esseg, Gornji Daruvar/ Oberdarowar). In Istrien, dessen zentrale Gebiete über mehrere Jahrhunderte von österreichischen und venezianischen Herrscherfamilien verwaltet wurden (vgl. Ćutić Gorup 2017: 41), bildete sich im Mittelalter sogar eine dreisprachige Toponymie heraus. Die ältesten Belege deutscher Varianten kroatischer Toponyme finden sich im Urbar der Grafschaft Mitterburg aus dem Jahre 1571, das in gotischer Schrift auf Deutsch verfasst wurde und Toponyme auf Kroatisch, Deutsch und Italienisch aufführt, so beispielsweise kro. Kašćerga, ital. Caschierga, dt. Chaisersfelt; kro. Kožljak, ital. Cosliacco, dt. Wachsenstein; kro. Kringa, ital. Corridico, dt. Krinck; kro. Lupoglav, ital. Lupogliano, dt. Mährenfels; kro. Paz, ital. Passo, dt. Pasberg; kro. Pazin, ital. Pisino, dt. Mitterburg usw. (vgl. Ujčić 2015: 286). Auch in deutschsprachigen Texten der österreichischen Zentralbehörde blieb es üblich, die italienischsprachige Form kroatischer Ortsnamen der Küstenregion zu verwenden (vgl. Stojić/ Pavić Pintarić 2017: 24). Dies erklärt, warum auch heute noch insbesondere im österreichischen Deutsch für die meisten kroatischen Toponyme deutsche und italienische Exonyme verwendet werden. Innerhalb der Militärgrenze kam es auch zum Ausbau wichtiger Straßenverbindungen von Karlstadt zur Küste. Die Straßen wurden, wie der Hauptstützpunkt der Militärgrenze Karlstadt, heute Karlovac (nach dem Gründer Karl VI.), nach Mitgliedern der österreichischen Herrscherfamilie benannt: 1. Karolina: Die Karolinenstraße führt von Karlovac nach Bakar und Rijeka, bekam ihren Namen nach Karl III. und wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erbaut. 2. Jozefina: die Josephinenstraße führt von Karlovac nach Senj. Sie wurde Ende des 18. Jahrhunderts fertiggestellt und bekam ihren Namen nach Joseph II. 3. Lujzijana: Es folgte der Bau der Luisenstraße, die von Karlovac nach Rijeka führt und ihren Namen der Tochter von Joseph II., Maria Luise, verdankt. Sie wurde Anfang des 19. Jahrhunderts erbaut. 4. Rudolfina: Die Rudolfstraße wurde nach dem Sohn von Franz Joseph I., Rudolf, benannt. Alle vier Straßennamen sind dem Kroatischen angepasst und noch heute in dieser assimilierten Form in Gebrauch. Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 489 2.3.2 Anthroponyme Was die Anthroponyme betrifft, so kam es durch die deutschen Siedler zu einer großen Anzahl deutscher Familiennamen in Kroatien. In diesem Bereich lassen sich vier Prozesse bestimmen: 10 1. Familiennamen behalten ihre ursprüngliche Form bei: Baumgartner, Braut, Graf, Gruber, Hofer, Keller, Wolf. 2. Familiennamen werden sprachlich (phonologisch und/ oder orthografisch) an das Kroatische angepasst: Aušperger (< Ausperger), Bišof (< Bischof), Bohm (< Böhm), Cimerman (< Zimmermann), Šenoa (< Schönoa) 11 , Švogor (< Schwager). 3. Deutschen Familiennamen werden kroatische Übersetzungen beigefügt: Pavao Ritter Vitezović, Adolf Weber Tkalčević. 4. Deutsche Vor- und Familiennamen werden ins Kroatische übersetzt: Vatroslav Lisinski (Ignaz Fuchs), Franjo Ksaver Kuhač (Franz Xaver Koch). Der Grund für den letztgenannten Prozess liegt in der kroatischen Wiedergeburt, d. h. dem Bestreben zur Festigung der kroatischen Nation, in der sich die Kraft des nationalen Widerstandes und des kroatischen Patriotismus äußerte. Diese Bewegung richtete sich vornehmlich gegen das Deutsche, das im 19. Jahrhundert einen sehr hohen Status genoss. Der wohlhabende Adel, Militäroffiziere und Händler, die die dominante Schicht der städtischen Bevölkerung bildeten, nahmen sich zu dieser Zeit Wien als Vorbild und übernahmen Deutsch als Verkehrssprache der alltäglichen Kommunikation. Deutsch war somit die Prestigesprache der oberen Schicht und wurde schnell zur Konversationssprache der Intellektuellen, des Handels und der Wirtschaft, des guten Tons und der Literatur (vgl. Kessler 1986: 72). Dies unterstützte auch die Herausgabe deutscher Zeitungen, die in Zagreb erschienen (Luna, Kroatischer Korrespondent, Agramer Zeitung u. a.). Von 1749 bis 1860 wurden die Theaterstücke ausschließlich auf Deutsch aufgeführt. Die Einwohner Zagrebs, die sich selbst als purgeri (< dt. Bürger) bezeichnen, nennen ihre Stadt auf Deutsch Agram. Die wichtigsten Vertreter der kroatischen Nationalbewegung waren deutsche Zuwanderer, wie beispielsweise die Komponisten Jakob Frass und Ignatius Fuchs, die beide ihre Namen ins Kroatische übersetzten, oder aber kroatische Intellektuelle, die im deutschsprachigen Raum studiert hatten und deshalb gut Deutsch konnten. 10 Die angeführte Klassifikation ergeht aus der Analyse deutscher Familiennamen nach Angaben aus Maletić/ Šimunović (2008) und Grgić (2008). 11 August Šenoa ist deutsch-tschechischer Abstammung und einer der bedeutendsten kroatischen Schriftsteller, der Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Werken den Kampf von kroatischen Bauern und Adeligen gegen die Fremdherrschaft der Venezier, Österreicher und Ungarn vom 15. bis 18. Jahrhundert beschreibt. 490 Aneta Stojić In ihren Bemühungen zur Schaffung einer kroatischen Standardsprache kam es deshalb vor allem zur Lehnübersetzung deutscher Wörter im Kroatischen, was zu einer Großzahl latenter deutscher Entlehnungen im Kroatischen führte, die auch heute noch im Standard gebraucht werden (vgl. Stojić/ Turk 2017). Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie im Jahre 1918 kommt es im Zuge der beiden Weltkriege zur massenhaften Auswanderung der Kroatiendeutschen. In Istrien, das zwischen den zwei Weltkriegen zu Italien gehörte, wurden alle Familiennamen, so auch diejenigen deutschen Ursprungs, durch das Dekret vom 7. April 1927 italienisiert: dt. Albrecht - ital. Alberti, fr. Auber - ital. Abberi oder Alberi, dt. Brauer - ital. Braveri, dt. Eller - ital. Ellero und Elleri usw. (vgl. Ujčić 2015: 292). In den anderen Teilen Kroatiens entschlossen sich die meisten deutschsprachigen Siedler zur Rückkehr in ihre Ursprungsländer, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, als im sozialistischen Jugoslawien das Deutsche anathematisiert wurde. Die Zahlen der Volkszählungen belegen das ebenfalls. Waren es laut Volkszählung im Jahre 1931 noch 98.990 Deutsche, so fiel die Zahl nach Ende des Zweiten Weltkrieges laut Angaben der Volkszählung im Jahre 1948 auf 10.144. Die neugegründete Regierung Jugoslawiens erklärte im Jahre 1944 die Angehörigen der deutschen Minderheit kollektiv zu Schuldigen, sodass allein aus Kroatien ca. 90.000 Kroatiendeutsche flohen. Etwa 19.100 Deutschstämmige blieben auf dem Gebiet Kroatiens zurück (vgl. Sundhaussen 1995: 343). Die Ethnonyme Nijemac (Deutscher), Švabo, Podunavski Švabo (Donauschwabe), Folksdojčer u. Ä., wie die Nachfolger der deutschsprachigen Kolonisten von der einheimischen (slawischen) Bevölkerung genannt wurden, erhalten aufgrund der ausgesprochen antideutschen Stimmung im Land eine negative Bedeutung. Diejenigen deutschsprachigen Siedler, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt sind, versuchten ihre deutsche Abstammung formal unkenntlich zu machen, indem sie ihre deutschen Namen kroatisierten und sich zu Jugoslawien bekannten. Einige von ihnen bekannten sich Anfang der 1950er Jahre wieder zur ursprünglichen Herkunft, weil den Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit zu dieser Zeit ermöglicht wurde, aus Jugoslawien auszureisen und in die Herkunftsländer umzusiedeln. Das belegen auch die Zahlen der Volkszählung im Jahre 1953, nach der sich 11.248 als Deutsche und 749 als Österreicher bekennen. Tatsächlich kam es wieder zu einer großen Auswanderungsbewegung. Nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens erklärten sich in der kroatischen Volkszählung von 2001 nur noch 2.902 Personen als Deutsche und 247 als Österreicher. 12 Sie bilden eine nationale Minderheit in Kroatien, nennen sich Kroatiendeutsche und pflegen ihre deutsche Tradition. Der Zahl der deutschen Familiennamen in Kroatien nach, gemäß der 12 Vergleiche https: / / www.dzs.hr/ Hrv/ censuses/ census2011/ results/ htm/ H01_01_04/ h01_01_ 04_RH.html (16.04.2018). Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 491 Analyse der Enzyklopädie der Familiennamen in Kroatien von Šimunović (2008), die sich insgesamt auf ca. 300 beläuft, gibt es jedoch noch mehr Kroatiendeutsche, die Geiger (1991: 330) Kriptodeutsche nennt. Das belegen auch die Formen der deutschen Familiennamen, die größtenteils assimiliert sind. 13 Mit ihrem Herkunftsland verbindet die Kroatiendeutschen heute nur noch der deutsche Familienname und ein Teil der Bräuche (vgl. Dobrovšak 2015: 218). Der häufigste Familienname deutscher Herkunft in Zagreb ist Meyer bzw. seine assimilierte Variante Majer, der häufigste Familienname deutscher Herkunft in Osijek ist Schmidt bzw. seine assimilierten Varianten Schmit, Schmid und Šmidt (vgl. Šćukanec 2009: 164, 166). Was die Toponyme betrifft, so erhielten die durch die deutschen Siedler modifizierten und verdeutschten Ortsnamen wieder ihre ursprüngliche Form zurück. Spuren der deutschen Sprache im Bereich der Toponyme finden wir ausschließlich in Formen, die von deutschen Lehnwörtern abgeleitet wurden. 3 Deonymisierung deutscher Familienamen Einen festen Platz in der kroatischen Standardsprache haben Eponyme deutschen Ursprungs. Sie wurden schon in deonymisierter Form ins Kroatische übernommen und lassen sich drei Sachbereichen zuordnen: 1. Erfindungen oder Entdeckungen: cepelin < Zeppelin, dizel < Diesel, herc < Hertz, mauzer < Mauser, rentgen < Röntgen, volfram < Wolfram; 2. Zeitepochen in der Geschichte, Literatur, Kunst und Philosophie: jozefinizam < Josephinismus, bidermajer < Biedermeier, marksizam < Marxismus; 3. Weltanschauungen: luteran < Lutheraner. Deonymisierung deutscher Eigennamen im Kroatischen stellt die Appellativierung dar. Ein Beispiel für diesen Prozess bietet das Lexem kralj, ein Nomen Appellativum für „König“, das sich aus dem Namen des damaligen Frankenkönigs und späteren römischen Kaisers Karl dem Großen ableitet. Ein weiteres Beispiel ist das Lexem štoverak, das „Würfelzucker“ bedeutet. Es geht auf den Namen der deutschen Zuckerraffinerie Stowellwerke zurück, die im 18. Jahrhundert in der nordadriatischen Hafenstadt Rijeka tätig war. Das Appellativum wird auch heute noch in der Regionalsprache der nordadriatischen Küste zur Bezeichnung des Produktes selbst gebraucht. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Appellativum milikerac in den nordadriatischen Ortssprachen, das vom Fabriknamen Milly Kerzen abgeleitet wurde und noch heute die Bedeutung von Stearinkerze hat. Im ganzen kroatischen Sprachraum verbreitet ist das Appellativum singerica, das vom Herstellernamen Singer abgeleitet ist 13 Zur ausführlichen Darstellung der sprachlichen Anpassung deutscher Familiennamen in Kroatien s. Šćukanec (2009). 492 Aneta Stojić und Nähmaschine bedeutet. Während solche Belege für den Einfluss deutscher Eigennamen auf die kroatische Sprache eher seltene Erscheinungen in der Diachronie darstellen, sind sie in der Gegenwart weit verbreitet: Produkt-, Marken-, Firmen- und Bankennamen sind heute die häufigsten Formen deutscher Eigennamen in Kroatien. Sie zeugen vom intensiven deutsch-kroatischen Kontakt im Bereich des Handels: Kaufland, Lidl, Spar, Bipa, dm, Volksbank, Erste Steiermärkische Bank, Volkswagen, Kinder-jaje 14 , Kinderschnitte u. v. m. Sie sind im ganzen kroatischen Sprachraum verbreitet und zeigen teilweise sprachliche Assimilierung auf, wie der Beispielsatz Idem u dm (wörtlich: Ich gehe zu dm) belegt. Er bedeutet ‚Ich gehe in die Drogerie‘, was zeigt, dass der deutsche Firmenname durch Metonymie appellativiert wurde. Den umgekehrten Prozess zeigen in jüngerer Zeit einige Beispiele von deutschen Lehnwörtern, die für die Benennung von kroatischen Musikbands dienen: Haustor, Laufer. Interessant sind auch die kreativen Bildungen Shooster < šuster < Schuster als Name für eine Schuhladenkette, Shpizza < špica < Spitze als Name einer Pizzeria, Beertija < birtija < Wirtshaus als Name eines Pubs u. v. m. Wie die letzten Beispiele klar belegen, sind trotz der Tendenz des Schwindens deutscher Lehnwörter aus dem aktuellen Sprachgebrauch, insbesondere der jüngeren Generationen, gewisse deutsche Lehnwörter noch immer aktiv und produktiv an unterschiedlichen sprachlichen Prozessen beteiligt. Das bedeutet, dass die deutschen Entlehnungen vollkommen in die kroatische Lexik integriert sind und sich wie native Wörter verhalten. 4 Schlussfolgerung In mehr als 600 Jahren deutsch-kroatischen Sprachkontaktes kam es zur sprachlichen Interferenz und Übernahme deutschen Wortgutes in die kroatische Sprache, sowohl auf appellativischer als auch auf onymischer Ebene. Zahlreiche deutsche Lehnwörter sind nicht nur Teilbestand der standard- und substandardsprachlichen Lexik, sondern auch fester Bestandteil des kroatischen onomastischen Inventars. Wie die Untersuchung gezeigt hat, hat die deutsche Sprache in der kroatischen Namenlandschaft nicht nur dauerhafte Spuren hinterlassen, sondern ist mit ihren eingebürgerten Entlehnungen an unterschiedlichen sprachlichen Prozessen beteiligt. Hinsichtlich der Formen und Funktionen gilt, dass appellativische eingebürgerte deutsche Lehnwörter zu Eigennamen geworden sind und zu den ältesten Familien- und Ortsnamen in Kroatien zählen. 14 Der Name Kinderjaje stellt eine hybride Entlehnung dar, die sich aus den Bestandteilen Kinder, ellidiert aus der Form Kinderei, und dem Lexem jaje (dt. Ei) als Suffixoid zusammensetzt. Das deutsche Element in der kroatischen Namenlandschaft 493 Was die deutschen Familiennamen betrifft, so haben sie sich als Eigennamen erhalten und sind im unterschiedlichen Grad assimiliert oder als latente Form verborgen. Für viele kroatische Ortsnamen existieren deutsche Exonyme. Als jüngster Prozess im Bereich der Eigennamen deutschen Ursprungs im Kroatischen ist der „Durchbruch“ deutscher Markennamen in Kroatien zu verzeichnen, womit nachweislich der deutsch-kroatische Sprachkontakt auch weiterhin Einfluss auf die kroatische Lexik ausübt. Literatur Antoljak, Stjepan (1994): Pregled hrvatske povijesti. 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Im jüdischen Exil in China entstand schnell eine deutschsprachige Infrastruktur, zu der die Gelbe Post an prominenter Stelle gehörte. Die Analyse umfasst quantitative und topikalische Aspekte, bevor auf die werbesprachlichen Charakteristika fokussiert wird. Hierzu gehören Mehrsprachigkeit, die Perspektive sich selbst bewerbender Flüchtlinge, die Frage, wie Werbung mit Blick auf die Flüchtlinge als Zielgruppe versprachlicht wird, sowie die Verwendung von Hochwert- und Schlüsselwörtern. 1 Einführung und Forschungsfragen Das Thema „Deutsch in China“ ist aktuell wie historisch relevant (vgl. Szurawitzki 2017). Der vorliegende Text leistet einen weiteren Beitrag zur Erforschung der historischen Dimension des Gebrauchs der deutschen Sprache im Reich der Mitte. Hierbei wird Werbesprache von und für Exilant(inn)en im Shanghai der 1930er Jahre, überliefert im dort in dieser Zeit entstandenen Periodikum Gelbe Post, analysiert. Bisherige Forschungen zu der genannten Phase fokussieren aus germanistischer Perspektive eher auf literaturwissenschaftliche Aspekte (v. a. Wei 2015) in Romanen wie z. B. Vicki Baums Hotel Shanghai oder Ursula Krechels Shanghai fern von wo. Für die Germanistische Linguistik und den Bereich DaF/ DaZ tun sich mit Blick auf das Deutsche in Shanghai (chin. 上海 ) auch gegenwartssprachlich Möglichkeiten der Erforschung auf 1 die hier jedoch nicht vertiefend dargestellt werden können. Mit unserem historischen Fokus wird den folgenden Forschungsfragen nachgegangen, die sich aus dem Umfeld, in dem die vorliegende Studie angesiedelt ist, ergeben bzw. ableiten lassen: - Übergeordnet wird gefragt: Wie funktioniert Werbesprache auf Deutsch im speziellen, besonders internationalen und vielsprachigen Shanghaier 1 Vergleiche zur Möglichkeit der Existenz einer Varietät des ‚Shanghaideutschen‘ im multilingualen Setting der Stadt - historisch wie gegenwärtig Szurawitzki (2017: 12-15). 496 Michael Szurawitzki Exilkontext der 1930er und 1940er Jahre? Hierzu wird ein Korpus aus dem Exilperiodikum Gelbe Post untersucht. - Spezieller wird daran anschließend die Frage gestellt, welche Werte bei den o. g. persuasiven Sprachgebräuchen aus dem Untersuchungskorpus zugrunde gelegt werden (speziell Hochwertwörter, vgl. Janich 2010: 169ff.). - Aus dem Korpus ergibt sich außerdem, da Flüchtlinge einerseits Dienste anbieten, andererseits aber v. a. Zielgruppe der untersuchten Werbung sind, folgende Fragestellung: Wie werben Flüchtlinge 2 selbst (in Kleinanzeigen) und wie wird für Flüchtlinge geworben? Zu diesem Zweck ist der Beitrag wie folgt aufgebaut: Es schließen sich an die Einführung als Hintergrund kurze Abschnitte zum deutschen Engagement in Shanghai in Geschichte und Gegenwart (2) sowie zum jüdischen Exil (3) an. Es folgen Bemerkungen zum Korpus (4) und zur Methode (5), bevor die Analyse der benutzten Werbesprache in der Gelben Post dokumentiert wird (6). Zunächst wird hierbei auf quantitative und topikalische Aspekte fokussiert, wonach die zur Persuasion gebrauchten sprachlichen Mittel in den Blick genommen werden. Abschließend erfolgt eine Zusammenfassung der Resultate (7). 2 Hintergrund I: Deutsches Engagement in Shanghai in Geschichte und Gegenwart Zur geschichtlichen Einordnung der ersten deutschen Aktivitäten in Shanghai schreibt Szurawitzki (2017): Deutsche Spuren in 上海 Shanghai manifestieren sich in historischen Quellen spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Hierzu muss bemerkt werden, dass es um diese Zeit signifikantere Zentren deutschen Wirkens in China gab, allen voran 青岛 Qingdao (Tsingtau), dessen Architektur und die von Deutschen begründete Brauerei bis heute weit über China hinaus bekannte Zeichen der Etablierung deutscher Kultur und Lebensart darstellen. Auch in 天津 Tianjin (Tientsin) und später in 南京 Nanjing (Nanking) - letzteres vielen Deutschen bekannt durch den Kinofilm John Rabe (2009) mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle des deutschen Handelsvertreters, der zahlreiche Menschen vor Gräueltaten der japanischen Besatzer bewahrt - war das Engagement vieler Deutscher sichtbar (Szurawitzki 2017: 4). 2 Flüchtlinge, Emigrant(inn)en und Expatriates werden hier für die betrachtete Zeit als synonyme Begriffe für in Shanghai befindliche Deutschsprachige verwendet, um abzubilden, dass individuell teils enorm unterschiedliche Lebensbedingungen herrschten - von bettelarm bis reich, von todkrank bis gesund etc. Ein einzelner Sammelbegriff wird den teils diametral differierenden Bedingungen kaum gerecht. Umworbene Flüchtlinge 497 Schon 1907 existierten etwa Geldscheine der Deutsch-Asiatischen Bank. Obwohl es deutsch-chinesische Beziehungen gab, wurde die Bedeutung der deutschen Sprache nicht etwa wichtiger, weil die Wirtschaft florierte, sondern weil Shanghai aufgrund der Visumsfreiheit ein willkommenes Auffangbecken für jüdische Flüchtlinge aus Europa darstellte. So flohen zwischen 1933 und 1941 über 10.000 Flüchtlinge aus dem deutschsprachigen Raum, v. a. aus Österreich, vorwiegend per Schiff unter strapaziösen Bedingungen nach China und speziell nach Shanghai (vgl. unten Abschnitt 3). Shanghai hatte den Status einer designated area für staatenlose Flüchtlinge, die aufgrund der ethnischen und politischen Verfolgung zumeist ihre alten Staatsangehörigkeiten hatten aufgeben müssen (vgl. Szurawitzki 2017: 5). Nach dem Zweiten Weltkrieg löste sich die deutschsprachige Infrastruktur relativ schnell auf, da die Flüchtlinge zumeist bestrebt waren, baldmöglichst in ihre Heimatländer zurückzukehren. Mit der Gründung der Volksrepublik China 1949 schottete sich das Reich der Mitte (chin. 中国) sehr schnell gegenüber ausländischem Engagement aller Art ab. Erst in den späten 1970er Jahren erfuhren im Rahmen der sog. Öffnungspolitik die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen eine Wiederbelebung, die sich über das Engagement der Automobil- und Zuliefererindustrie als bis heute nachhaltige Erfolgsgeschichte liest. Mit dieser wirtschaftlichen Aktivität einher ging eine steigende Migration deutschsprachiger Führungskräfte nach China und v. a. auch nach Shanghai, sodass vonseiten der Firmen ein Interesse daran bestand bzw. besteht, deutschsprachige Infrastruktur zu etablieren. Der Aufbau fand sukzessive statt. Heute hat Shanghai eine signifikante deutschsprachige Community mit ca. 15.000 muttersprachlichen Sprecher(inne)n, von denen die meisten aufgrund des Engagements der deutschen Wirtschaft aus Deutschland stammen; die Gruppen österreichischer, schweizerischer und Luxemburger Sprecher(innen) sind vergleichsweise klein. Alle genannten Nationen haben heute Generalkonsulate in Shanghai. Es gibt eine gut etablierte deutschsprachige Infrastruktur: von der Deutschen Schule über die Außenhandelskammer bis hin zu Ärzten, Bäckereien, Kirchengemeinden etc. (vgl. Szurawitzki 2017: 6-9). 3 Hintergrund II: Jüdisches Exil Unser Fokus liegt auf einer speziellen Zeit für Shanghai, nämlich dem Zeitraum von 1933 bis 1941, als aufgrund der Visumsfreiheit zahlreiche jüdische Flüchtlinge, v. a. Wiener Juden, vor der nationalsozialistischen Verfolgung und dem Holocaust eine neue Heimat in China fanden. Das Shanghai Jewish Refugee Museum zeigt in seiner Dauerausstellung viele Exponate aus der genannten Zeit. Bei der Betrachtung der zahlreichen Artefakte, die in diesem Museum (vgl. Shanghai Jews 2016) ausgestellt sind, fällt auf, dass die Exilant(inn)en schnell 498 Michael Szurawitzki bemüht waren, sich ein Zuhause fern der eigentlichen Heimat aufzubauen. Dies geschah trotz zahlreicher Widrigkeiten wie dem für Europäer ungewohnten subtropisch-heißen Klima mit hoher Luftfeuchtigkeit (Schimmelbildung in den Wohnungen), gepaart mit schwierigen hygienischen Bedingungen, zahlreichen damit verbundenen Krankheiten und beengtem Wohnraum, der westlichen Standards nur selten entsprach. Hinzu kam oft eine finanziell prekäre Lage, sodass viele Flüchtlinge darauf angewiesen waren, entweder mitgebrachte Wertgegenstände zu versetzen oder von Gelegenheitsarbeiten zu leben. Man erfährt von Tanzveranstaltungen, deutschsprachige Urkunden dokumentieren Trauungen (vgl. United States Memorial Museum [2016]), Geburten etc., es gibt Speisen wie Bratwurst, Backwaren usw. Es ist bei derartigen Bemühungen nicht verwunderlich und nur eine Frage der Zeit, bis die ersten von insgesamt ca. 30, von den Exilanten herausgegebenen Zeitschriften erscheinen, die sich in unterschiedlichen Sprachen an das internationale Lesepublikum richten. Über das Jüdische Museum Berlin (2016) erfährt man, dass auf Deutsch mindestens die folgenden Titel existierten, nämlich die Shanghaier Morgenpost, das Acht Uhr Abendblatt, die Shanghai Post und das Jüdische Nachrichtenblatt. Diese Zeitschriften sind, wenn sie überhaupt archiviert sind, nach meinen Recherchen nicht ohne Weiteres zugänglich, im Gegensatz zur hier betrachteten Gelben Post, die im folgenden Abschnitt näher vorgestellt wird. 4 Korpus: Die Gelbe Post Die Gelbe Post erschien im Jahr 1939 im Zeitraum von Mai bis Juli zweiwöchentlich - also als Halbmonatsschrift - und enthielt kulturelle, teils kontrastiv deutsch-chinesische Abhandlungen bis hin zu Überlebenstipps für Emigranten 3 im Wortsinne. Neben dem evidenten Fokus auf China wurden auch andere Themen behandelt, z. B. die Psychoanalyse in Europa. Dieses Thema lag dem Gründer der Gelben Post, Adolf Josef Storfer (1888-1944), der von 1925 bis 1932 Direktor des Internationalen Psychoanalytischen Verlages und darüber hinaus Herausgeber der Gesammelten Schriften Sigmund Freuds gewesen war, besonders am Herzen. Insgesamt umfasst das hier betrachtete Korpus alle erschienenen sieben Halbmonatshefte von 1939 (die Zeitschrift wurde danach aus finanziellen Gründen sowie wegen der angeschlagenen Gesundheit Storfers eingestellt), die insgesamt 160 Seiten umfassen und als Nachdruck im Jahre 2000 im Wiener Verlag Turia + Kant erschienen sind. Insgesamt liegen im Korpus 86 Anzeigen mit insgesamt 20.676 Zeichen Text vor. Durchschnittlich ist eine Anzeige somit ca. 240 Zeichen lang. Die Zeichen- 3 Zwecks besserer Lesbarkeit wird ab hier nur noch das generische Maskulinum verwendet, schließt natürlich aber weibliche Personen mit ein. Umworbene Flüchtlinge 499 zahl variiert von 28 Zeichen (UB Beer) bis 2.311 Zeichen (Benno Schwabe & Co. Verlag, „Seelischer Gesundheitsschutz“). Der größte Teil der Anzeigen (76) besteht ausschließlich aus Text und enthält keinerlei Bilder. Man kann die Anzeigen aus dem Korpus topikalisch in zwei Bereiche unterteilen, und zwar in beworbene Produkte sowie beworbene Dienstleistungen. Zu den beworbenen Produkten gehören Lebensmittel, Publikationen, Schreibwaren und Antiquitäten, Gesundheits- und Pflegeprodukte, Mode, Einrichtungsgegenstände und Automobile. Im Bereich der Dienstleistungen werden Druckdienste, Gastronomie und Beratungsangebote beworben. Hinzu kommen Arbeitsgesuche. Insgesamt kann ein relativ breites Spektrum an Produkten und Dienstleistungen, für die geworben wird, konstatiert werden. 5 Methode Methodisch ist bei der Untersuchung folgendermaßen vorgegangen worden: Zunächst wurden alle 86 Werbeanzeigen (durchschnittlich ca. 12 Anzeigen pro Heft à ca. 25 Seiten) aus dem Korpus isoliert, quantitativ erfasst und thematisch systematisiert. Hiernach erfolgte (vgl. unten Abschnitt 6) die Analyse der verwendeten sprachlich-persuasiven Strategien im Einklang mit den eingangs formulierten Forschungsfragen. Speziell in den Blick kamen hierbei Hochwert- und Schlüsselwörter, die augenfällig schon bei oberflächlicher Lektüre eine zentrale Rolle einnehmen. Im Zuge der Analyse der persuasiven Strategien fiel auf, dass es unterschiedliche Perspektivierungen gab, nämlich in Richtung der Flüchtlinge als Werbenden einerseits und als Rezipienten andererseits. Auf diesen Aspekt wird daher gesondert eingegangen. 6 Analyse Vorbemerkung In den nachfolgend untersuchten Werbeanzeigen wird zumeist Deutsch verwendet, vereinzelt finden sich Englisch (u. a. in Kombination mit Deutsch) und Chinesisch (hier in Kombination mit dem Englischen und dem Deutschen). 6.1 Sprachliche Charakteristika Im Folgenden werden die sprachlichen Charakteristika der Anzeigen untersucht, beginnend mit Internationalität und Mehrsprachigkeit. Dann liegt der Fokus auf den Flüchtlingen als Werbetreibenden. Daran schließt sich die lingu- 500 Michael Szurawitzki istische Analyse, wie speziell für Flüchtlinge geworben wird, an. Hochwert- und Schlüsselwörter stehen danach im Mittelpunkt der Analysen. 6.2 Internationalität und Mehrsprachigkeit Typische Fälle von mehrsprachigen Anzeigen treten bei Adressennennungen und Firmennamen in englischer Sprache und einem sonstigen Anzeigentext auf Deutsch auf. Deutsche Straßennamen wie etwa in der Kolonie Qingdao (Tsingtau) gab es in Shanghai nicht. Belege für englischsprachige Adressen und Firmennamen aus dem Korpus sind: (1) 465 Bubbling Well Road, Shanghai (S. 21) (2) Atlantis Stamp Co. (S. 21) (3) „Vienna“ Food Produce (S. 47) Eine mehrsprachige Bezeichnungspraxis von Straßen ist im sehr internationalen Shanghai auch heute weiterhin gegeben (Chinesisch und Englisch), auch wenn es 2016 in den chinesischen Massenmedien Gerüchte gab, die Shanghaier Stadtregierung würde die englischsprachigen Straßenschilder abschaffen und zu ausschließlich chinesischsprachiger Beschilderung übergehen. Eine Kombination englisch- und chinesischsprachiger Headlines innerhalb derselben Anzeige liegt in einer ansonsten englischsprachigen Werbung für das Bier EWO LAGER vor (vgl. auch unten Abb. 1): (4) Here’s luck! (S. 26) (5) 壽 多 福 多 (S. 26) shòu duō fú duō [gelesen v. r. n. l., alte Konvention]: Viel Glück und ein sehr langes Leben Bei der Übersetzung der englischsprachigen Headline ins Chinesische fällt auf, dass im Chinesischen eine eher freie Übersetzung gewählt wurde, die Aussage ist zudem semantisch komplexer als im Englischen. Bei derlei Übersetzungen kann häufig für chinesische Versionen erwartet werden, dass Abweichungen zu den anderssprachigen Kommunikaten vorliegen. In einer weiteren Anzeige für Bier, diesmal für UB Beer, ist die Headline in englischer Sprache: (6) BEER AT ITS BEST (UB BEER, S. 50 [Hervorhebung: im Original]) Der sonstige Anzeigentext ist in deutscher Sprache, im Logo der Brauerei sind auch chinesische Zeichen enthalten. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Mehrsprachigkeit innerhalb der untersuchten Anzeigen nicht durchgehend und systematisch aufscheint, sondern Umworbene Flüchtlinge 501 mit Ausnahme von Adressennennungen und Firmennamen eher selten praktiziert wird. Die tatsächlich mehrsprachigen Anzeigen sind aus Gründen der Mehrfachadressierung in Chinesisch und Englisch konzipiert; für Expatriates mit der entsprechenden Sprachkompetenz im Englischen und Chinesischen mag sich auch ein Gefühl von Empathie bzw. kultureller Verbundenheit einstellen. Mit Blick auf die eingangs formulierte Fragestellung zeigt sich an dem diskutierten Material, dass das Deutsche im Anzeigenkontext bei der Nennung von Firmennamen und Adressen in englischer Sprache mit Blick auf den topikalischpersuasiven Inhalt der Anzeige natürlich relevant bleibt, aber bei den mehrsprachigen englisch-chinesischen Anzeigen für Bier, isoliert betrachtet, keine Rolle spielt. Der Kotext jedoch (Zeitschrift Gelbe Post) liegt in deutscher Sprache vor, so dass wir hier von einer genuinen, im gegebenen Exilkontext charakteristischen Mehrsprachigkeit sprechen können. 6.3 Flüchtlinge als Werbende Im vorliegenden Abschnitt betrachten wir Kleinanzeigen, in denen einzelne Flüchtlinge selbst als sich (Be-)Werbende auftreten, im Gegensatz zu den herkömmlichen Anzeigen, die von Unternehmen geschaltet sind. Hierfür finden sich im Korpus insgesamt zwei Belege, die somit nur eine begrenzte Aussagekraft haben. Die erste Anzeige stammt vom BUREAU fuer Schreibmaschinen-Arbeiten Carstens: (7) Fehlerfreie Uebersetzungen. 30 Jahre Praxis. (BUREAU fuer Schreibmaschinen-Arbeiten Carstens, S. 60) Hier wird mit der Qualität der angebotenen Dienstleistung und mit der einschlägigen, langjährigen Erfahrung geworben. Der Erfahrungsfaktor spielt auch in der zweiten relevanten Anzeige eine Rolle: (8) WIENER DENTIST 34 jährig, sucht Betätigung in seinem Fach. Zuschriften unter Chiffre „Langjährige Praxis“ an die „Gelbe Post“ (S. 97) 6.4 Wie wird speziell für Flüchtlinge geworben? Die Flüchtlinge, für die im hier untersuchten Korpus geworben wird, sind generell keine Armutsflüchtlinge, die vor katastrophalen finanziellen und existenziellen Bedingungen fliehen mussten, sondern vielmehr oft politisch Verfolgte, die in ihren deutschsprachigen Heimatländern (speziell Österreich) nicht selten privilegierte Stellungen genossen. In kurzer Zeit mussten sie ihr Hab und Gut zu Geld machen, um fliehen zu können. Luxus und Annehmlichkeiten waren sie in den Herkunftsländern gewöhnt; dies muss man bei den folgenden Analysen im Blick behalten. 502 Michael Szurawitzki Shanghai ist auch heute noch aus westlicher Perspektive ein exotischer Ort. In Ostasien hatte Shanghai in der hier betrachteten Zeit einen Ruf als Sündenpfuhl, ähnlich wie das Berlin der 1920er Jahre. Insofern verwundert es nicht, dass der Konsum des alkoholischen Rauschmittels Bier mit potenziellem Sündigen bzw. mit Versuchungen auch explizit verknüpft wird, wie die nachstehende Abbildung zeigt: Abb. 1: (9) Werbung für EWO LAGER-Bier (S. 26) In der bereits oben zitierten Werbung ist als optischer Blickfang eine Chinesin in einem klassisch schönen, eleganten sog. Qipao-Kleid abgebildet, die auf einem Sofa hinter einem Beistelltisch aus Glas sitzt und einen Bierkrug gewissermaßen einladend bzw. zuprostend erhoben hält. Diese sexualisierte Situation soll zum Bierkauf und -konsum anregen, da sich - siehe Headline - dann auch Glück (bei Frauen? ) einstellen soll. Neben der exotischen Dimension, die, mehr als Fantasie gemeint, sicher nicht dem Lebensalltag der Emigranten im Shanghai der 1930er Jahre entsprochen haben dürfte, aber dennoch die Vorstellungen von einem vorerst vergangenen, aber oft doch bekannten Luxusleben womöglich reaktivieren kann (s. o.), Umworbene Flüchtlinge 503 finden sich im Korpus einige Belege, die zeigen, dass die Nennung von niedrigen Preisen als persuasive Strategie genutzt wird: (10) von 1 Dollar an (The Standard Co. Reinigung, S. 58) (11) zu den günstigsten Preisen (Philip Chu orientalische Teppiche, S. 119) (12) niedrige Miete (Fandry/ Willow Pattern Press - Makler, S. 199) (13) die niedrigsten Preise in Shanghai (Egal & Cie Getränke, S. 118) (14) in Tuben nur 25 cts (Eau de Cologne, S. 85) (15) Für Emigranten ermässigte Preise (Malkischer Schuheinlagen, S. 96) (16) Maessige Preise (Restaurant The Palm Garden, S. 91) Wie die Belege zeigen, werden einerseits konkrete Preise genannt, wie in (10) oder (14), andererseits gehen aus den Attributen, die entweder als Positiv (12, 15, 16) oder Superlativ stehen (11, 13), die attraktiven Preisgestaltungen hervor. Mit der Ausnahme von (11), wo für Teppiche geworben wird, wenden sich die Anzeigen, aus denen die hier angeführten Belege entnommen sind, an Emigranten mit wenig Geld. Jedoch werden auch Kunden mit mehr Geld, die ein Auto suchen, mit dem Argument, den (17) BILLIGSTE[N] VIER-PERSONEN-WAGEN IN CHINA zu kaufen, UM ZU SPAREN, zum Kauf animiert, wie in der unten abgedruckten Opel-Anzeige zu sehen ist: Abb. 2: (17) Anzeige von Opel/ Triangle Motors (S. 96) 504 Michael Szurawitzki Eine weitere persuasive Strategie ist die Adressierung der Prävention von Krankheiten, wie wir sie in einer Werbung für Urisal Schmerzmittel (S. 47) vorfinden: (18) Achtet auf die Nieren! Urisal stillt raschestens den Schmerz, beseitigt Rheuma, Gicht, Beinschmerzen, Nervosität, Steifheit, Hexenschuss, allgemeine Schwäche. Verlieret keine Minute! Urisal ist harmlos, von angenehmen [sic] Geschmack und hilft Millionen. Machet Euch den Gebrauch von Urisal zur täglichen Gewohnheit [Hervorhebung: im Original] Hierbei fällt der wiederholte Gebrauch des Imperativs auf (Achtet - Verlieret - Machet), zwei Mal mit auch in jener Zeit bereits veralteten grammatischen Formen (vgl. Zifonun u. a. 2011 online, o. S.). Die formale Analogie zu Wehret den Anfängen, gerade im Kontext der Flucht der Exilanten vor der NS-Verfolgung, wird m. E. deutlich. Weiter kann man das Attribut raschestens als erwartbar persuasiv mit Blick auf schnelle Wirkung herausheben. Weniger erwartbar scheint hingegen harmlos; diese hier positive Attribuierung dürfte in Abgrenzung zu sehr starken, vielleicht auch lokal im subtropischen Shanghaier Milieu grassierenden Krankheiten gemeint sein. Auch ein besonders gutes Sortiment kann einen Kaufreiz auslösen, sodass (19) sämtliche Lebensmittel (We Ka Provision Store, S. 97) genannt werden, damit Kunden den Werbetreibenden aufsuchen. Auch hier scheint der wohlhabende Hintergrund vieler Shanghaier Flüchtlinge wieder auf, die oft in ihrer Heimat ein reichhaltiges Sortiment gewöhnt waren oder vielleicht gar als Selbstverständlichkeit betrachteten. 6.5 Hochwertwörter Nina Janich definiert in ihrer Monografie Werbesprache. Ein Arbeitsbuch Hochwertwörter wie folgt: Als HOCHWERTWÖRTER können […] alle diejenigen Ausdrücke bezeichnet werden, die ohne die grammatische Struktur eines Komparativs oder Superlativs geeignet sind, das damit Bezeichnete (bei Substantiven) oder näher Bestimmte/ Prädizierte (bei Adjektiven) aufgrund ihrer sehr positiven Inhaltsseite aufzuwerten (Janich 2010: 169 [Hervorhebung: im Original]). Im gesamten Korpus lassen sich unterschiedliche Verwendungen von Hochwertwörtern als persuasive sprachliche Mittel feststellen. Insofern entsprechen die Ergebnisse für den Shanghaier Exilkontext im Prinzip auch weit moderneren gegenwartssprachlichen, werbesprachlichen Strategien: So wirbt die Pride Dry-Reinigung (S. 118) mit den Hochwertwörtern (20) Sorgfalt und Qualitaet, wie im eigenen Haushalt, mit der gereinigt wird, und nennt sich selbst ergänzend hochwertig positiv attribuiert (21) DAS HAUS DER HOCHQUALIFIZIERTEN KLEIDERREINIGUNG (S. 118 [Hervorhebung: im Original]). The China Press (S. 95) Umworbene Flüchtlinge 505 wirbt für sich im Fließtext einerseits mit einem superlativischen Attribut als die (22) zeitgemässeste Zeitung Shanghais, andererseits mit dem in der Headline gebrauchten Hochwertwort (23) Voran gehe (dies wird drei Mal für die Lokalberichterstattung, für Auslands-/ Inlandsnachrichten sowie für das Feuilleton wiederholt). Bei diesen Beispielen zeigt sich, dass die Hochwertwörter nicht unbedingt isoliert stehen, sondern dass im Kotext ggf. weitere positive Attribuierungen parallel eine verstärkende Wirkung entfalten. Leichter auch für sich stehend eingesetzt werden kann (24) Pretiosen (Bijoux Beraha Juwelen, S. 124). Den Einsatz des Partizips I im Kontext von Hochwertwörtern sieht man bei (25) Eau de Cologne wirkt desinfizierend, erfrischend, belebend (Parfuemerie Favel, S. 118). Eine kopulative Struktur wie beim Eau de Cologne liegt ebenfalls bei (26) SELTENE ALTE BUECHER (The Book Mart, S. 121 [Hervorhebung: im Original]) vor. In der Anzeige für Tissot Uhren (S. 71) findet man eine Häufung von Hochwertwörtern vor: So werden die Uhren als (27) Wertgeschenke von (28) Qualität, (29) Preiswürdigkeit sowie (30) Zuverlässigkeit beworben. Sie gereichten (31) Dem Beschenkten zur Freude/ dem Geber zur Ehre. Die (32) Qualitäts-antimagnetische Uhr wird in vielfacher Hinsicht als hochwertig präsentiert. 6.6 Schlüsselwörter Nach den Hochwertwörtern betrachten wir nun die Schlüsselwörter. Janich (2010) definiert Schlüsselwörter fußend auf Römer (1980) folgendermaßen: SCHLÜSSELWÖRTER haben demgegenüber [gegenüber Hochwertwörtern, M. S.] nicht nur aufwertende Funktion, sondern sie nehmen auch anzeigen- und produktübergreifend „eine Schlüsselstellung im Gedanken- und Sprachfeld der Werbung“ ein (Römer 6 1980: 132). […] [Sie bieten] eine[n] entscheidenden Beitrag zur Argumentation und zur Formulierung des Zusatznutzens eines Produkts (Janich 2010: 169 [Hervorhebung: im Original]). Im hier untersuchten Korpus lässt sich klar ein in diesem Sinne zuzuordnender Bereich eingrenzen; dies ist die explizite Herstellung eines Bezugs zu Wien. Der Wiener Kontext ist für die Mehrheit der im Shanghaier Exil befindlichen Deutschsprachigen, die von dort herstammen (vgl. oben Abschnitt 3), derart positiv besetzt, dass mit ihm entsprechend geworben wird. Das Restaurant José (S. 47) verspricht (33) BESTE WIENER KUECHE ([Hervorhebung: im Original]), die Firma „Vienna“ Food Produce Oskar Weiss (S. 47) führt den englischen Namen Wiens nicht nur im Firmennamen, sondern wirbt auch damit, dass ihre Produkte (34) nach Wiener Originalrezepten (S. 47) hergestellt werden. Die Firma Baroukh’s (S. 50) produziert Anzüge, die von einem (35) FACHKUNDIGE[N] WIENER ZUSCHNEIDER (Hervorhebung: im Original]) vorbereitet werden. Auch im Bereich Zahnbehandlung wird auf die heimatliche Expertise gesetzt: (36) WIENER DENTIST 34 jährig, sucht Betätigung in seinem Fach. Zuschriften unter 506 Michael Szurawitzki Chiffre „Langjährige Praxis“ an die „Gelbe Post“ (S. 97; vgl. [8]). In einem vergleichsweise kleinen Korpus wie dem hier untersuchten ist die mehrfache Nennung des Wiener Kontextes sehr auffällig, zumal Verweise auf deutsche, schweizerische o. ä. Kontexte komplett ausbleiben. 7 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass für die analysierten sprachlichen Charakteristika Aspekte gefunden wurden, die im Expat-Setting Shanghais auch heute vorkommen, auch wenn heute kein Flüchtlingsleben in der Diaspora mehr stattfindet. Dazu gehört auch die hier exemplarisch an einigen Belegen gezeigte aufscheinende Mehrsprachigkeit und somit auch die Mehrfachadressierung innerhalb von Anzeigen, die Shanghai neben der bereits erwähnten Kolonie Qingdao (Tsingtau) zu einem in China sehr besonderen, internationalen Standort (mit Blick auf das Deutsche) macht, analog vergleichbar vielleicht nur mit den früher unter britischer bzw. portugiesischer Herrschaft stehenden Sonderverwaltungszonen Hongkong und Macao, in denen jedoch im Gegensatz zu Shanghai das Deutsche keine bedeutende Rolle spielte. Blicken wir auf die pragmatische Dimension der untersuchten Anzeigen: Flüchtlinge als sich selbst Bewerbende setzen in den wenigen vorliegenden Fällen bei ihren persuasiven Strategien auf Erfahrung und Qualität ihrer Arbeit und nutzen somit Werte, die innerhalb der Flüchtlingscommunity kulturell etabliert sind. Für Flüchtlinge wird auf der anderen Seite z. B. mit niedrigen Preisen und praktikablen Produkteigenschaften wie etwa dem im Shanghaier Setting wichtigen Desinfektionseffekt geworben; eine untergeordnete Rolle spielen Sortimentsfragen und die asiatische Exotik, punktuell auch Luxusgüter wie Uhren oder Autos. Bei den festgestellten Hochwertwörtern lässt sich auf die Wortart bezogen eine Variation v. a. zwischen Substantiven und Adjektiven beschreiben; insgesamt existiert eine relativ breite Palette solcher Wörter. Als Schlüsselwörter können die Referenzen auf den Wiener Kontext verstanden werden; so entsteht sprachlich, mental und kulturell im besten Fall, d. h. einer erfolgreichen Werbung, ein Stück Heimat fern der Heimat. In der betrachteten Zeit, den 1930er Jahren, herrschte bei den Flüchtlingen ein von materiellen, körperlichen und mentalen Schwierigkeiten geprägter Alltag vor; die Werbeanzeigen aus der Gelben Post reflektieren diesen zumindest teilweise. Ein Aspekt des historischen Shanghai und der ,deutschsprachigen Phase‘, in der v. a. Wiener Emigranten in der Stadt waren, lebt auch heute noch in den Gruppen der Expatriates fort, nämlich der Wunsch, einen konkreten Bezug zur Heimat zu haben, und zwar v. a. über Essen und Bier aus der Heimat. Der diametrale Unterschied zu damals ist heute jedoch, dass zumeist Executives global agierender Firmen aus den deutsch- Umworbene Flüchtlinge 507 sprachigen Ländern nach Shanghai kommen, um dort einige Jahre im Luxus zu verbringen. Die weite Entfernung zur Heimat setzt jedoch nahezu allen zu, Geld allein kann dem Heimweh nicht abhelfen. Literatur Janich, Nina (2010): Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 5. vollst. überarb. u. erw. Aufl. Tübingen (Narr-Studienbücher). Römer, Ruth (1980): Die Sprache der Anzeigenwerbung. 6. Aufl. Düsseldorf. Szurawitzki, Michael (2017): Deutsch in Shanghai gestern und heute. In: Zielsprache Deutsch 44.2. S. 3-17. 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Herausgeber und Beiträger(innen) Prof. Dr. Christiane Andersen | Universität Göteborg, Institut für Sprachen und Literaturen, Box 200, 405 30 Göteborg, Schweden; E-Mail: christiane.andersen@sprak.gu.se Prof. Dr. Sigita Barniškienė | Vytautas-Magnus-Universität Kaunas, Lehrstuhl für Fremdsprachen, Literatur und Translationswissenschaften, V. Putvinskio 23-315, 44243, Kaunas, Litauen; E-Mail: sigita.barniskiene@vdu.lt Edgar Baumgärtner, M.A. | Europa-Universität Viadrina Frankfurt/ Oder, Lehrstuhl für Sprachgebrauch und Sprachvergleich, Große Scharrnstraße 59, 15230 Frankfurt (Oder), Deutschland; E-Mail: baumgaertner@europa-uni.de Prof. Dr. Nina Berend | Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, R 5, 6-13, 68161 Mannheim, Deutschland; E-Mail: berend@ids-mannheim.de Dr. Boris Blahak, M.A. | Westböhmische Universität Pilsen, Lehrstuhl für Germanistik und Slawistik, Riegrova 11, 306 14 Pilsen/ Plzeň, Tschechien; E-Mail: bblahak@kgs.zcu.cz Prof. Dr. Hans C. Boas | The University of Texas at Austin, Department of Germanic Studies, 2505 University Ave, C3300, Burdine Hall 336, TX 78712-1088, USA; E-Mail: hcb@austin.utexas.edu Yannic Bracke, M.A. | Universität Potsdam, Department Linguistik, Karl-Liebknecht-Str. 24-25, 14476 Potsdam, Deutschland; E-Mail: ybracke@uni-potsdam.de Dr. Delia Cotârlea | Transilvania-Universität Brașov/ Kronstadt, Department für Literatur- und Kulturwissenschaften, B-dul Eroilor nr. 25, 500030 Braşov, Rumänien; E-Mail: delia.cotarlea@unitbv.ro PD Dr. Nicole Eller-Wildfeuer | Universität Regensburg, Institut für Germanistik, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg, Deutschland; E-Mail: nicole.eller@ur.de Dr. Eva Duran Eppler | University of Roehampton London, Department of Media, Culture and Language, Roehampton Lane London, SW15 5PJ, Vereinigtes Königreich; E-Mail: e.eppler@roehampton.ac.uk 510 Herausgeber und Beiträger(innen) Dr. Matthias Fingerhuth, M.A. | Universität Duisburg-Essen, Universitätsbibliothek, Universitätsstr. 9, 45141 Essen, Deutschland; E-Mail: matthias.fingerhuth@uni-due.de Prof. Dr. Dr. Csaba Földes | Universität Erfurt, Lehrstuhl für Germanistische Sprachwissenschaft, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt, Deutschland; E-Mail: csaba.foeldes@uni-erfurt.de Sebastian Franz, M.Ed. | Universität Augsburg, Professur für Variationslinguistik und DaZ/ DaF, Universitätsstr. 10, 86159 Augsburg, Deutschland; E-Mail: sebastian.franz@philhist.uni-augsburg.de Elena Frick, M.A. | Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, R 5, 6-13, 68161 Mannheim, Deutschland; E-Mail: frick@ids-mannheim.de Prof. Dr. Christoph Gabriel | Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Romanisches Seminar, Jakob-Welder-Weg 18, 55128 Mainz, Deutschland; E-Mail: chgabrie@uni-mainz.de Jonas Grünke, M.A. | Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, Romanisches Seminar, Jakob-Welder-Weg 18, 55128 Mainz, Deutschland; E-Mail: jgruenke@uni-mainz.de Dr. Ralf Heimrath, Senior Lecturer | University of Malta, Department of German, Guzè Cassar Pullicino Building 100C, Msida MSD 2080, Malta; E-Mail: ralf.heimrath@um.edu.mt Prof. Dr. Elisabeth Knipf-Komlósi | Loránd-Eötvös-Universität Budapest, Germanistisches Institut, Rákóczi út 5, 1088 Budapest, Ungarn; E-Mail: knipfe@freemail.hu Prof. Dr. Sebastian Kürschner | Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft, Universitätsallee 1, 85072 Eichstätt, Deutschland; E-Mail: sebastian.kuerschner@ku.de Lucas Löff Machado, Doktorand | Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, 85072 Eichstätt, Deutschland; E-Mail: lucas.loeffmachado@ku.de Prof. Dr. Alexander Minor | Staatliche Tschernyschewski-Universität, Lehrstuhl für Deutsch und Deutschdidaktik, Astrachanskaja-Str. 83, 410012 Saratow, Russland; E-Mail: a-minor27@yandex.ru Herausgeber und Beiträger(innen) 511 Réka Miskei, M.A., Doktorandin | Loránd-Eötvös-Universität Budapest, Kiss János altábornagy u. 40, 1126 Budapest, Ungarn; E-Mail: miskei.reka@tok.elte.hu Dr. habil. Márta Müller | Loránd-Eötvös-Universität Budapest, Germanistisches Institut, Rákóczi út 5, 1088 Budapest, Ungarn; E-Mail: muller.marta@btk.elte.hu Dr. Angélica Prediger | Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Lehrstuhl für Deutsche Sprachwissenschaft, Hornthalstr. 2, 96047 Bamberg, Deutschland; E-Mail: angelica.prediger@uni-bamberg.de Henning Radke, M.A. | Universiteit van Amsterdam, Duitsland Instituut Oude Hoogstraat 24, 1012 CE Amsterdam, Niederlande; E-Mail: h.radke@uva.nl Prof. Dr. Claudia Maria Riehl | Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsch als Fremdsprache, Ludwigstr. 27, 80539 München, Deutschland; E-Mail: riehl@daf.lmu.de Prof. Dr. Aneta Stojić | Universität Rijeka, Abteilung für Germanistik, Sveučilišna avenija 4, 51000 Rijeka, Kroatien; E-Mail: astojic@ffri.hr Prof. Dr. Michael Szurawitzki | Beijing Institute of Technology, School of Foreign Languages, 5 Zhongguancun St, Haidian District, Beijing, 100811, China; E-Mail: mszurawi@gmail.com Dr. Adam Tomas | Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstr. 10, 80799 München, Deutschland; E-Mail: adam.tomas@gmx.de Prof. Dr. Heike Wiese | Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Linguistik, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Deutschland; E-Mail: heike.wiese@hu-berlin.de Prof. Dr. Alfred Wildfeuer | Universität Augsburg, Professur für Variationslinguistik und DaZ/ DaF, Universitätsstr. 10, 86159 Augsburg, Deutschland; E-Mail: alfred.wildfeuer@philhist.uni-augsburg.de Prof. Dr. Jan Wirrer | Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Postfach 100 131, 33501 Bielefeld, Deutschland; E-Mail: jan.wirrer@uni-bielefeld.de Dr. Patrick Wolf-Farré | Universität Duisburg-Essen, Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, Universitätsstr. 12, 45141 Essen, Deutschland; E-Mail: patrick.wolf-farre@uni-due.de 512 Herausgeber und Beiträger(innen) Prof. Dr. Marianne Zappen-Thomson | University of Namibia, Department of Language and Literature Studies, 340 Mandume Ndemufayo Ave, Windhoek, Namibia; E-Mail: mzappen@unam.na B EITRÄGE ZUR I NTERKULTURELLEN G ERMANISTIK (BIG) Hrsg. von Csaba Földes ISSN 2190-3425 Bd. 1: Földes, Csaba (Hrsg.): Deutsch in soziolinguistischer Sicht. Sprachverwendung in Interkulturalitätskontexten. 2010 (BIG-Sammelbände); VIII + 158 S.; ISBN 978-3-8233-6571-6. Bd. 2: Németh, Attila: Dialekt, Sprachmischung und Spracheinstellungen. Am Beispiel deutscher Dialekte in Ungarn. 2010 (BIG-Monographien); VI + 246 S.; ISBN 978-3-8233-6572-3. Bd. 3: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik im Aufbruch. Das Verhältnis von Theorie, Empirie und Methode. 2011 (BIG-Sammelbände); VIII + 359 S.; ISBN 978-3-8233-6682-9. Bd. 4: Fáy, Tamás: Sekundäre Formen des Foreigner Talk im Deutschen aus übersetzungswissenschaftlicher Sicht. 2012 (BIG-Monographien); VIII + 176 S.; ISBN 978-3-8233-6714-7. Bd. 5: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturalität unter dem Blickwinkel von Semantik und Pragmatik. 2014 (BIG-Sammelbände); IX + 279 S.; ISBN 978-3-8233-6905-9. Bd. 6: Burka, Bianka: Manifestationen der Mehrsprachigkeit und Ausdrucksformen des ‚Fremden‘ in deutschsprachigen literarischen Texten. Exemplifiziert am Beispiel von Terézia Moras Werken. 2016 (BIG-Monographien); XI + 230 S.; ISBN 978-3-8233-8013-9. Bd. 7: Földes, Csaba (Hrsg.): Zentren und Peripherien - Deutsch und seine interkulturellen Beziehungen in Mitteleuropa. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 305 S.; ISBN: 978-3-8233-8075-7. Bd. 8: Földes, Csaba (Hrsg.): Interkulturelle Linguistik als Forschungsorientierung in der mitteleuropäischen Germanistik. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 285 S.; ISBN: 978-3-8233-8076-4. Bd. 9: Földes, Csaba/ Haberland, Detlef (Hrsg.): Nahe Ferne - ferne Nähe. Zentrum und Peripherie in deutschsprachiger Literatur, Kunst und Philosophie. 2017 (BIG-Sammelbände); IX + 223 S.; ISBN: 978-3-8233-8077-1. Bd. 10: Földes, Csaba (Hrsg.): Themenfelder, Erkenntnisinteressen und Perspektiven in der Germanistik in Mitteleuropa. 2018 (BIG-Sammelbände); IX + 252 S.; ISBN: 978-3-8233-8078-8. Bd. 11: Földes, Csaba (Hrsg.): Sprach- und Textkulturen - interkulturelle und vergleichende Konzepte. 2018 (BIG-Sammelbände); IX + 330 S.; ISBN: 978-3-8233-8086-3. Bd. 12: Tóth, József: Ereignisse als komplexe Ganze in der Vorstellungs- und Erfahrungswelt: ereignisstrukturbasierte grammatisch-semantische Analysen im deutsch-ungarischen Sprachvergleich. 2018 (BIG-Monographien); XIII + 172 S.; ISBN: 978-3-8233-8214-0. Bd. 13: Földes, Csaba/ Nefedova, Lyubov (Hrsg.): Deutscher Wortschatz - interkulturell. 2019 (BIG-Sammelbände); VIII + 232 S.; ISBN: 978-3-8233-8087-0. Bd. 14: Földes, Csaba (Hrsg.): Kontaktvarietäten des Deutschen im Ausland. 2020 (BIG-Sammelbände); XII + 512 S.; ISBN: 978-3-8233-8304-8. Beiträge zur Interkulturellen Germ anistik, Band 14 ISSN 2190-3425 ISBN 978-3-8233-8304-8 Der Band geht auf die gleichnamige Tagung zurück, die als dritte Konferenz der ‚German Abroad‘-Reihe (nach Wien 2014 und Austin/ Texas 2016) im März 2018 an der Universität Erfurt stattfand. Der inhaltliche Schwerpunkt der Beiträge liegt auf aktuellen Kontaktkonstellationen, in denen Varietäten des Deutschen mit anderen Sprach(varietät)en außerhalb des zusammenhängenden deutschen Sprachgebiets koexistieren und interagieren. Ein zentrales Ziel ist es, charakteristische Merkmale solcher Kontaktvarietäten der deutschen Sprache aufzuzeigen, zu beschreiben und zu interpretieren, wobei der Aspekt der Interkulturalität eine vorrangige Rolle spielt. Somit kommt z. B. dem Kommunikationsverhalten deutschsprachiger Gruppen/ Minderheiten in traditionellen „Sprachinseln“ und in sonstigen interbzw. transkulturellen Konfigurationen wie in Migrationskontexten eine hohe Relevanz zu. Fokussiert wird dabei sowohl auf Sprachstrukturen und Sprachverwendungsaspekte als auch auf sozialpsychologische Faktoren. ISBN 978-3-8233-8304-8